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1 Yom X. Internationalen Psychoana- |
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- Internationale Zeitschrift =
für Psychoanalyse
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
= Girindrashekhar Bose A.A. Brill Jan van Einden - Paul Federn Ernest one
Kalkutta | New York Haag | Wien London
3. W. Kannabich Rene Laforgue Philipp Sarasin Ernst Simmel
Moskau Paris Basel Berlin
| redigiert von Kr
M Eitingon, S. Ferenczi, Sandor Rado =
Berlin Budapest | Berlin =
Iytischen Kongreß ın Innsbruck: Bee
Anna Freud: Zur Theorie der Kindleranalyse / Sachs: Über einen
Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ichs / Harnik: Die ökonomischen
Beziehungen zwischen Schuldgefühl und weiblichem Narzißmus / Reich:
Über Charakteranalyse
ein Ferenczi: Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 7 Pfeifer:
Über neurotische Dauerlust / Kirschner: Analyse einer zwangsneurotischen Ä =
- Arbeitshemmung / Wulff: Psychiatrisch-neurologische Untersuhung bei | ee =
Chauffeuren / Fenichel: Isolierung / Bewegung / Referate / Korrespondenzblatt |
Internationaler Pehoinalsticher Verlag
Wien, I. Börsegasse 11
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' Internationaler Pychosmahtuisdier Verlag
Be Wien; I. Börsegasse 11
2 Die in Se „Internationalen Zeitschrift für. Psychoanalyse“ veröffentlichten ‚Beiträge werden
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2) Die Autoren von Öriginalbeiträgen, -sowie von Mitteilungen und Referaten im Umfange
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TEE 32 m 25 ER 45:—5 » 750 „ ” 05.—
Mehr als 50 Separata werden nicht angefertigt.
7) Alle-obigen Bedingungen gelten auc für die Zeitschrift „Im ago“.
Alle diese Zeitschrift berreffenden äktienehn Zuschriften Sendungen bitte zu richten an.
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Das Vene es hön nee der ‚Internationalen Piischräft für Psycho-
analyse“ (4 Hefte jährlich) beträgt M. a (Preis des Einzelheftes M.- 7. 50).
Das Jahresabonnement der im gleichen Verlage erscheinenden „Imago, a
für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- ‚und Geisteswissenschaften“ Z
(herausgegeben von Sigm. Freud) beirdgt 23,5
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Zagreb 40.900 — W arszawa 101.250. ER
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_ = Diesem _ Heft ist ein Prospekt des „Hippökrates-Verlag“ in Stuttgart, sowie Vorlesungs-
uch verzeichnisse des. Berliner Psychoanalytischen Instituts und des Lehrinstituts der ner
= Psychoanalytischen Vereinigung beigelegt.
De ge
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
XIV. Band I928 .- Heft 2
_ Zur Theorie der Kinderanalyse
Fortrag auf dem X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Innsbruck
am 3. September 1927
Von
Anna Freud
Wien
Meine Damen und Herren!
Wenn Sie auf diesem Kongreß gleich drei Vorträge über Kinderanalyse
zu hören bekommen, anstatt, wie bisher üblich, nur einen, so ist das nur
ein Anzeichen dafür, wieviel Raum dieses Thema im Laufe der letzten
Jahre innerhalb der Internationalen Vereinigung für sich gewonnen hat.
Ich meine, die Kinderanalyse erwirbt sich dieses gesteigerte Interesse durch
drei Leistungen. Sie bringt willkommene Bestätigungen für die Vor-
stellungen über das Seelenleben des Kindes, die sich die psychoanalytische
Theorie im Laufe der Jahre rückschließend aus den Analysen an Erwachsenen
gebildet hat; sie liefert — wie der Vortrag von Frau Klein es eben
demonstriert hat — neue Aufschlüsse, Ergänzungen zu diesen Vorstellungen
aus der direkten Beobachtung; und sie bildet schließlich die Überleitung
zu einem Anwendungsgebiet, das, wie viele behaupten, in der Zukunft
zu einem der wichtigsten für die Psychoanalyse werden soll: zur
Pädagogik.
Auf dieses dreifache Verdienst gestützt, nimmt sich die Kinderanalyse
aber auch allerlei Freiheiten und Selbständigkeiten heraus. Sie verlangt
nach einer neuen Technik. Diese Forderung wird ihr gerne zugestanden ;
auch der Konservativste ist bereit einzusehen, daß ein geändertes Objekt
geänderte Angriffsmethoden verlangt. So entsteht die Spieltechnik Melanie
Kleins für die Frühanalyse, später die von mir vertretenen Vorschläge zur
Analyse der Latenzperiode. Aber manche Vertreter der Kinderanalyse —
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse. XIVi2 11
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
154 Anna Freud
wie Sie in mir einen sehen — gehen noch weiter. Sie fangen an, sich
Gedanken darüber zu machen, ob die Vorgänge in einer Kinderanalyse
theoretisch immer völlig mit denen der Erwachsenenanalyse übereinstimmen
und ob die beiden sich, soweit es sich um die Ziele und Absichten
handelt, auch vollkommen decken. Sie erheben die Forderung, daß der
Kinderanalytiker — der Sonderstellung des Kindes entsprechend — neben
der analytischen Schulung und Einstellung noch eine zweite besitzen
sollte: die pädagogische. Ich meine, wir sollten nicht vor diesem Wort
erschrecken und eine solche Vermengung zweier Einstellungen nicht von
vorneherein als etwas Herabsetzendes für die Analyse ansehen. Es lohnt
die Mühe, an Hand von einigen Fällen nachzuprüfen, ob eine solche
Forderung überhaupt Existenzberechtigung besitzt oder ob es das Richtige
ist, sie als eine illegitime von der Hand zu weisen.
Ich wähle zu diesem Zwecke als Beispiel zuerst ein Bruchstück aus
der Analyse eines elfjährigen Knaben. Sein Wesen, als er in Behandlung
kam, war feminin-masochistisch, seine ursprüngliche Objektbeziehung zur
Mutter ganz von der Identifizierung mit ihr überlagert. Seine ursprüng-
liche männliche Aggression machte sich nur gelegentlich in feindseligen
Handlungen gegen die Geschwister und isolierten Dissozialitäten Luft, die
dann wieder von heftigen Reueausbrüchen und Verstimmungen gefolgt
wurden. Ich greife hier eine Zeit seiner Analyse heraus, in der er sich ın
zahlreichen Gedanken, Phantasien und Träumen mit dem Problem des
Todes, richtiger des Tötens, beschäftigte.
Eine seiner Mutter sehr nahestehende Freundin war gerade damals
schwer krank, die Mutter wurde durch ein Telegramm von der Gefahr
verständigt. Er griff dieses Ereignis auf, um es in seiner Vorstellung
weiterzuspinnen. Ein neues Telegramm, phantasierte er, kommt an und
meldet: Sie ist gestorben. Die Mutter kränkt sich sehr. Da kommt wieder
ein Telegramm: Sie lebt wieder, es war nur ein Irrtum. Die Mutter
freut sich darüber. Und jetzt läßt er die Telegramme in rascher Folge
erscheinen, eines immer, das den Tod, ein nächstes, das ihre Wieder-
belebung meldet. Den Schluß der ganzen Phantasie bildet eine Nachricht,
die sagt: das Ganze war nur ein Spaß, den man sich mit der Mutter
gemacht hat. Die Phantasie ist nicht schwer zu deuten; wir sehen seine
Ambivalenz, den Wunsch, die von der Mutter geliebte Person zu töten
und seine Unfähigkeit, die Absicht wirklich durchzuführen, deutlich daraus
hervorgehen.
Kurz darauf erzählt er mir folgende Zwangshandlung: Wenn er auf
dem Klosett sitzt, dann muß er einen Knopf, der sich auf der einen Seite
an der Wand befindet, dreimal mit der Hand berühren, gleich darauf
Zur Theorie der Kinderanalyse | 155
EEE ET TE TE ————————n
aber dasselbe an einem Knopf der anderen Seite wiederholen. Die Handlung
scheint zuerst unverständlich, bis sie in den nächsten Tagen durch eine
in anderem Zusammenhang erzählte Phantasie ihre Aufklärung findet. Er
stellt sich den lieben Gott als einen alten Mann vor, der im Himmelssaal
auf einem großen Thron sitzt. Rechts und links von ihm sind Knöpfe
oder Taster an der Wand angebracht. Drückt er auf die Knöpfe der einen
Seite, dann stirbt ein Mensch, drückt er auf einen Knopf der anderen
Seite, dann kommt ein Kind auf die Welt. Ich glaube, die Zusammen-
stellung der Zwangshandlung mit dieser Tagesphantasie macht die weitere
Deutung überflüssig. Die Zahl drei läßt sich wahrscheinlich durch die
Anzahl seiner Geschwister erklären.
Kurz darauf erkrankt ein Freund der Familie, der seiner Mutter nahe-
steht, der Vater eines seiner Spielgefährten. Er hört, während er zur
Analysenstunde geht, das Telephon läuten und bildet nun bei mir folgende
Phantasie: Man hat die Mutter verständigt, daß sie in das Haus des
Erkrankten kommen soll. Sie geht hin, tritt in das Krankenzimmer ein,
geht zum Bett hin und will mit dem Patienten sprechen. Aber er gibt
ihr keine Antwort und sie merkt, daß er tot ist. Sie erschrickt sehr. In
diesem Augenblick tritt der kleine Sohn des Verstorbenen herein. Sie ruft
ihn und sagt: Komm her, schau, dein Vater ist gestorben. Der Junge
tritt zum Bett und spricht zu seinem Vater. Da lebt der Vater und gibt
ihm Antwort. Er wendet sich zur Mutter meines Patienten und sagt: Was
willst du, er lebt ja. Da spricht sie wieder zu ihm, er gibt wieder keine
Antwort und ist tot. Wie aber der Junge wieder hereintritt und spricht,
lebt der Vater von neuem.
Ich hätte diese Phantasie hier nicht mit solcher Ausführlichkeit vor-
gebracht, wenn sie nicht so instruktiv und durchsichtig wäre und die
Deutung der beiden vorhergehenden gleich mit in sich enthalten würde.
Wir sehen, der Vater ist tot in seiner Beziehung zur Mutter, er lebt,
soweit es sich nur um die Beziehung zum Sohne handelt. War in den
bisherigen Phantasien die Ambivalenz — der Wunsch zu töten und der
entgegengesetzte, leben zu lassen oder wiederzubeleben — derselben Person
gegenüber nur in zwei verschiedene Handlungen zerlegt, die sich gegen-
seitig wieder aufheben mußten, so gibt diese Phantasie durch die Hinzu-
fügung einer Spezialisierung der bedrohten Person (als Mann einerseits,
als Vater andererseits) die historische Erklärung der doppelten Einstellung.
Die beiden Strebungen entstammen offenbar verschiedenen Entwicklungs-
phasen des Knaben. Der Todeswunsch gegen den Vater als den Rivalen
um die Liebe der Mutter entspringt der normalen Ödipusphase mit der
seither verdrängten positiven Objektliebe zur Mutter. Hier wendet sich
11*
156 Anna Freu
seine männliche Aggression gegen den Vater, er soll beseitigt werden, um
ihm den Weg frei zu machen. Die andere Strebung aber, der Wunsch,
sich den Vater zu erhalten, kommt einerseits aus der frühen Periode der
rein bewundernden und liebenden Einstellung zum Vater, noch ungestört
durch die Konkurrenz des Ödipuskomplexes; andererseits aber — was hier
die größere Rolle spielt — aus der Phase der Identifizierung mit der
Mutter, die die normale Ödipuseinstellung abgelöst hat. Aus Angst vor
der vom Vater drohenden Kastration hat der Knabe seine Liebe zur Mutter
aufgegeben und sich in die weibliche Einstellung drängen lassen. Von
hier aus muß er sich den Vater als Objekt seiner homosexuellen Liebe zu
erhalten trachten.
Es wäre verlockend, weiterzugehen, den Übergang zu schildern, der in
dem Knaben von diesem Wunsch zu töten, dann zu einer abendlich
auftretenden Todesangst führt, und von hier aus einen Eingang in den
komplizierten Aufbau dieser Neurose der Latenzperiode zu finden. Aber
Sie wissen, daß das an dieser Stelle nicht meine Absicht ist. Ich habe
Ihnen diesen Ausschnitt nur vorgeführt, um mir von Ihnen meinen Ein-
druck bestätigen zu lassen, daß dieses Stück Kinderanalyse sich in nichts
von der Analyse eines Erwachsenen unterscheidet. Wir sollen ein Stück
seiner männlichen Aggression und seiner Objektliebe zur Mutter aus der
Verdrängung und von der Überlagerung durch seinen jetzt feminin-
masochistischen Charakter und die Mutteridentifizierung befreien. Der
Konflikt, um den es sich dabei handelt, ist ein innerer. Hat ihn auch
ursprünglich die Angst vor dem wirklichen Vater in der Außenwelt zur
Verdrängungsleistung getrieben, so wird der Erfolg dieser Leistung jetzt
doch von inneren Kräften aufrecht gehalten. Der Vater ist verinnerlicht
und das Über-Ich der Vertreter seiner Macht geworden, die Angst vor ihm
wird vom Knaben als Kastrationsangst empfunden. Jedem Schritt, den die
Analyse auf dem Wege zur Bewußtmachung der verdrängten Ödipus-
tendenzen machen will, stellen sich Ausbrüche dieser Kastrationsangst als
Hindernis entgegen. Nur die langsame historisch-analytische Zersetzung
dieses Über-Ich ermöglicht ein Fortschreiten meiner Befreiungsarbeit. Sie
sehen also, die Arbeit und die Einstellung des Behandelnden ist, soweit
es sich um dieses Stück der Aufgabe handelt, eine rein analytische. Für
die pädagogische Einmengung ist hier kein Platz.
Hören Sie dagegen ein anderes Beispiel an. Es entstammt der Analyse
einer sechsjährigen weiblichen Patientin, aus der ich schon an anderer
Stelle und in anderer Absicht einiges veröffentlicht habe. Auch hier
handelt es sich — wie immer — um die Strebungen des Ödipuskomplexes
und auch hier spielt das Verhältnis zum Töten eine gewisse Rolle, Das
|
A _
Zur Theorie der Kinderanalyse 157
kleine Mädchen hatte, wie die Analyse aufdeckt, eine frühe und leiden-
schaftliche Liebe zum Vater durchgemacht und war in der gewöhnlichen
Weise durch die Geburt der nächsten Geschwister von ihm enttäuscht
worden. Ihre Reaktion darauf war eine außerordentlich starke. Sie gab die
kaum erreichte genitale Phase zugunsten einer vollen Regression zum
analen Sadismus auf. Sie wendete ihre Feindseligkeit gegen die neu-
angekommenen Geschwister. Sie machte einen Versuch, sich den Vater,
von dem ihre Liebe sich fast völlig abgewendet hatte, wenigstens durch
Einverleibung zu erhalten. Aber die Bemühungen, sich als Mann zu
fühlen, scheiterten an der Konkurrenz mit einem älteren Bruder, von
dem sie erkannte, daß er körperlich besser für diese Aufgabe ausgerüstet
war. Das Resultat war jetzt eine intensive Feindseligkeit gegen die Mutter:
Haß gegen sie, weil sie ihr den Vater weggenommen hatte; Haß, weil
sie sie nicht zum Knaben gemacht hatte; und Haß schließlich, weil sie
die Geschwister geboren hatte, die die Kleine gerne selbst zur Welt
gebracht hätte. Aber an dieser Stelle — etwa im vierten Lebensjahre des
Kindes — geschah etwas Entscheidendes. Sie erkannte dunkel, daß sie
auf dem Weg war, durch diese Haßreaktionen jede gute Beziehung zu
der aus der ersten Kindheit doch sehr geliebten Mutter zu verlieren. Und
um sich die Liebe zu ihr und noch viel mehr das Geliebtwerden durch
sie, ohne das sie nicht leben konnte, zu retten, machte sie eine gewaltige
Anstrengung, „brav“ zu werden. Sie trennte plötzlich wie mit einem
Schnitt all diesen Haß und mit ihm ihr ganzes, aus analen und sadistischen
Handlungen und Phantasien bestehendes Sexualleben von sich ab und
stellte es ihrer eigenen Person als etwas Fremdes, nicht mehr Dazu-
gehöriges, etwas „Teuflisches“ gegenüber. Was zurückblieb, war nicht viel:
eine kleine eingeschränkte Person, die ihr Gefühlsleben nicht voll zur
Verfügung hatte, und deren große Intelligenz und Energie damit beschäftigt
waren, den „Teufel“ in der ihm aufgezwungenen Verdrängung zu
erhalten. Für die Außenwelt blieb dabei nicht viel übrig als eine große
Interesselosigkeit und laue Gefühle von Zärtlichkeit und Zuneigung zur
Mutter, die nicht stark genug waren, um auch nur die geringste Belastung
auszuhalten. Aber noch mehr als das: die Trennung ließ sich auch bei
großem Energieaufwand nicht anhaltend durchführen. Der Teufel über-
wältigte sie gelegentlich auf kurze Zeit, so daß Zustände entstanden, wo
sie sich ohne rechten äußeren Anlaß auf den Boden hinwarf und schrie,
in einer Weise, wie man sie früher wohl als Besessenheit gekennzeichnet
hätte; oder wo sie sich plötzlich ihrer anderen Seite überließ und mit
vollem Genuß in sadistischen Phantasien schwelgte, sich etwa vorstellte,
wie sie das Haus ihrer Eltern vom Dachboden bis zum Keller durch
ee en u
158 Anna Freud
wanderte, alle Möbel und Gegenstände, die sie vorfand, zerstückelte und
zum Fenster hinauswarf, und allen Personen, die sie antraf, kurzerhand
den Kopf abschlug. Solche Überwältigungen des Teufels waren dann immer
wieder von Angst und Reue gefolgt. Aber das abgetrennte Böse hatte
noch eine weitere, noch gefährlichere Art, sie zu durchdringen. Der
„Teufel“ liebte Kot und Schmutz; sie selbst fing allmählich an, eine
besondere Ängstlichkeit im Einhalten von Reinlichkeitsvorschriften zu
entwickeln. Für den Teufel war das Kopfabschlagen eine Lieblings-
beschäftigung; sie mußte zu gewissen Zeiten morgens zu den Betten der
Geschwister schleichen, um nachzusehen, ob alle noch am Leben waren.
Der Teufel überschritt jedes menschliche Gebot mit Energie und Vergnügen;
sie aber entwickelte abends vor dem Einschlafen eine Erdbebenangst, da
jemand ihr beigebracht hatte, das Erdbeben sei die wirksamste Form, wie
der liebe Gott die Menschen auf der Erde zu bestrafen pflege. So machte
ihr tägliches Leben alle Anstalten, sich mit Ersatz-, Reue- und Buß-
handlungen für die Taten des abgetrennten Bösen zu erfüllen. Wir würden
sagen: der großartig angelegte Versuch, sich die Liebe der Mutter zu
erhalten, sozial und „brav“ zu werden, war kläglich gescheitert; es war
nichts daraus geworden als eine Zwangsneurose.
Ich habe aber auch für diese infantile Neurose Ihr Interesse nicht
wegen ihres schönen Aufbaues und der für dieses frühe Alter ungewöhnlich
klaren Umgrenztheit der Symptome in Anspruch genommen. Was mich
bewogen hat, sie Ihnen zu schildern, war ein besonderer Umstand, der
mir während der therapeutischen Arbeit auffiel.
In dem eben geschilderten Fall. des elfjährigen Knaben, war — wie Sie
sich erinnern — der Motor der Verdrängung die auf den Vater bezogene
Kastrationsangst gewesen; natürlich war es auch die Kastrationsangst, die
ich in der Analyse als Widerstand zu spüren bekam. Aber hier war etwas
anders. Die Verdrängung oder vielmehr die Spaltung der kindlichen
Persönlichkeit hatte sich unter dem Druck der Angst vor dem Liebes-
verlust vollzogen. Die Angst muß unserer Vorstellung nach sehr intensiv
gewesen sein, um eine so das ganze Leben störende Wirkung zu haben.
Aber gerade diese Angst war in der Analyse nicht ernsthaft als Widerstand
zu spüren. Unter dem Eindruck meines gleichbleibenden freundlichen
Interesses fing die kleine Patientin an, ihre bösen Seiten in aller Ruhe
und in aller Naturtreue vor mir auszubreiten. Sie werden mir antworten,
das sei nichts Auffälliges. Ich weiß, wir treffen oft genug erwachsene
Patienten, die ihre Symptome mit bösem Gewissen ängstlich vor aller
Welt geheimhalten, und erst in der gesicherten und von Kritik freien
Atmosphäre der Analyse beginnen sie preiszugeben, ja oft selbst hier erst
nn A RE Er rn ER En a a ren,
Zur Theorie der Kinderanalyse 159
ihren wirklichen Wortlaut kennen lernen. Aber das bezieht sich doch
immer nur auf die Schilderung der Symptome; das freundliche Interesse
und das Ausbleiben der erwarteten Kritik reichen doch niemals dazu aus,
Verwandlungen an ihnen vorzunehmen. Gerade das aber war es, was sich
hier vollzog. Als zu meinem Interesse und dem Mangel an Verurteilung
von meiner Seite auch noch eine Herabsetzung der strengen Anforderungen
im Elternhause dazutrat, da geschah es, daß sich unter den Augen der
Analyse plötzlich eine Angst in den dahinter versteckten Wunsch, eine
Reaktionsbildung in den abgewehrten Trieb, eine Vorsicht in die dahinter
liegende Morddrohung verwandelte. Die Angst vor dem Liebesverlust aber,
die sich doch in starken Ausbrüchen einer solchen Umstellung entgegen-
setzen sollte, meldete sich fast gar nicht. Der Widerstand von dieser Seite
war geringer als der von irgend einer anderen. Es war, als ob das kleine
Mädchen sagen würde: „Wenn du es nicht so arg findest, dann finde ich
es auch nicht so arg.“ Und in dieser Verminderung ihrer Forderungen
an sich selbst vollzog sie mit dem Gang der Analyse fortschreitend
allmählich wieder die Einverleibung all der Strebungen, die sie vorher
mit solchem Kraftaufwand von sich gewiesen hatte: der inzestuösen Liebe
zum Vater, den Männlichkeitswunsch, die Todeswünsche gegen die
Geschwister, die Anerkennung ihrer kindlichen Sexualität, und stockte nur
mit dem einzig ernsthaften Widerstand eine Weile vor dem, was ihr als
das Böseste von allem erschien, der Anerkennung des direkten Todes-
wunsches gegen die Mutter.
Das aber ist nicht das Benehmen, das wir von einem regelrechten Über-Ich zu
sehen gewohnt sind. Wir lernen doch am erwachsenen Neurotiker, wie unan-
greifbar durch die Vernunft das Über-Ich ist, wie es sich jedem Versuch der
Beeinflussung von außen standhaft widersetzt und wie es sich in seinen
Forderungen nicht herabmindern läßt, ehe wir es nicht in der Analyse
historisch zersetzt und jedes einzelne Gebot und Verbot auf die Identi-
fizierung mit einer der in der Kindheit wichtigen und geliebten Personen
zurückgeführt haben.
Meine Damen und Herren, ich meine, wir sind hier auf den wichtigsten
prinzipiellen Unterschied zwischen der Erwachsenenanalyse und der
Kinderanalyse gestoßen. Wir befinden uns in der Situation der Erwachsenen-
analyse, wo das Über-Ich seine von der Außenwelt unbeeinflußbare Selb-
ständigkeit bereits erreicht hat. Hier haben wir nichts anderes zu tun, als
alle dem Es, dem Ich und dem Über-Ich angehörigen Strebungen, die an
der Bildung des neurotischen Konflikts beteiligt waren, durch Bewußt-
machung auf das gleiche Niveau zu heben. Auf diesem neuen Niveau des
Bewußten wird dann der Kampf in neuer Weise ausgetragen und zu einem
—
er Be |
160 Anna Freud
anderen Ende geführt. Zur Kinderanalyse aber müssen wir alle jene Fälle
rechnen, bei denen das Über-Ich noch keine rechte Selbständigkeit erlangt
hat, noch allzu deutlich seinen Auftraggebern, den Eltern und Erziehungs-
personen zuliebe arbeitet -und in seinen Forderungen alle Schwankungen
des Verhältnisses zu diesen geliebten Personen wie auch alle Veränderungen
in deren eigenen Ansichten mitmacht. Auch hier arbeiten wir wie in der
Erwachsenenanalyse rein analytisch, soweit es sich darum handelt, schon
verdrängte "Teile des Es und des Ich aus dem Unbewußten zu befreien.
Die Arbeit am kindlichen Über-Ich aber ist eine doppelte: analytisch in
der historischen Zerlegung von innen her, soweit das Über-Ich schon
Selbständigkeit erlangt hat, aber außerdem erzieherisch beeinflussend von
außen her durch Veränderungen im Verhältnis zu den Erzieherpersonen,
durch die Schaffung neuer Eindrücke und durch die Revision der An-
forderungen, die von der Außenwelt an das Kind gestellt werden.
Kehren wir hier noch einmal zu meiner kleinen Patientin zurück.
Wäre sie nicht als sechsjähriges Kind in Behandlung gekommen, dann
wäre ihre infantile Neurose vielleicht wie so viele andere in eine Spontan-
heilung ausgelaufen. Als ihr Erbe hätte sich dann allerdings ein strenges
Über-Ich aufgerichtet, das dem Ich starre Forderungen präsentiert und
sich jeder späteren Analyse als schwer überwindlicher Widerstand entgegen-
gesetzt hätte. Aber ich meine: dieses strenge Über-Ich steht am Ausgang
und nicht am Anfang der kindlichen Neurose.
Ich beziehe mich zur Erläuterung des hier Gesagten noch auf eine
Mitteilung, die Dr. M. W. Wulff gerade gleichzeitig in unserer Zeit-
schrift macht.! Er berichtet dort über phobische Angstanfälle bei einem |
eineinhalbjährigen Mädchen. Die Eltern dieses Kindes waren offenbar zu
früh mit Reinlichkeitsanforderungen an es herangetreten. Die Kleine konnte
diesen Ansprüchen nicht nachkommen, begann verstört zu werden, und
fürchtete sich, man könnte sie fortschicken. Ihre Angst steigerte sich zu
Anfällen, wenn es dunkel wurde, bei fremden Geräuschen, z. B. wenn
jemand an die Türe klopfte. Sie wiederholte immer wieder die Frage, ob
sie auch gut sei, und die Bitte, man solle sie doch nicht weggeben. Die
besorgten Eltern wendeten sich an Dr. Wulff um Rat.
Ich meine, das Interessante an dieser frühen Krankheitserscheinung ist,
daß die Angst der Kleinen, die Dr. Wulff auch sofort als Angst vor
dem Liebesverlust bezeichnet, sich in nichts von der Gewissensangst eines
erwachsenen Neurotikers unterscheidet. Sollen wir aber in diesem Fall an
eine so frühe Entwicklung des Gewissens, also des Über-Ichs, glauben?
ı) Internationale Zeitschrift f. PsA., Band XIII, Heft 3 (19>7).
Zur Theorie der Kinderanalyse 161
Dr. Wulff erklärt den Eltern, daß das kleine Mädchen offenbar die
Anforderung der Reinlichkeit aus irgend einem Grund noch nicht ver-
tragen kann, und rät ihnen, die Erziehung in dieser Hinsicht noch etwas
aufzuschieben. Die Eltern sind verständig genug, nachzugeben, sie setzen
dem Kind auseinander, daß sie es auch lieb behalten, wenn es sich naß
macht, und versuchen es, so oft das Nässen vorkommt, immer wieder mit
Liebesversicherungen zu beruhigen. Der Erfolg ist, wie Dr. Wulff
schreibt, frappant; nach einigen Tagen ist das Kind ruhig und angstfrei.
Eine solche Therapie ist natürlich nur sehr selten und nur bei sehr
kleinen Kindern möglich; ich möchte nicht den Eindruck bei Ihnen er-
wecken, daß ich sie als die einzig mögliche empfehle. Aber Dr. Wulff
hat hier die therapeutische Probe gemacht, die einzige, die uns Aufschluß
über das Kräftespiel geben kann, das der Angst zugrunde liegt. Wäre das
Kind wirklich an einer zu strengen Forderung des Über-Ichs erkrankt
gewesen, so hätten die Versicherungen der Eltern ja gar keinen Einfluß
auf sein Symptom haben können. Wenn aber die Ursache seiner Angst
die reale Furcht vor dem Mißfallen der wirklich in der Außenwelt vor-
handenen Eltern — nicht ihrer Imagines — war, dann ist es leicht ver-
ständlich, daß sich seine Krankheit beseitigen ließ. Dr. Wulff hatte eben
ihre Ursache aus der Welt geschafft.
Eine ganze Anzahl anderer kindlicher Reaktionen läßt sich in gleicher
Weise nur aus dieser Beeinflußbarkeit des Über-Ichs in frühen Jahren
erklären. Durch Vermittlung von Dr. Ferenczi erhielt ich Einblick in die
Aufzeichnungen einer Lehrerin an einer der modernen Schulen Amerikas,
der Walden School. Diese psychoanalytisch gebildete Lehrerin schildert,
wie neurotische Kinder aus strengem Milieu, die noch im Kindergarten-
alter in ihre Schule eintreten, sich nach einer mehr oder weniger kurzen
Zeit der erstaunten Zurückhaltung in die außerordentlich freie Atmosphäre
einleben und allmählich ihre neurotischen Symptome, meist Reaktionen
auf die Onanieabgewöhnung, verlieren. Wir wissen, ein ähnlicher Effekt
wäre beim erwachsenen Neurotiker unmöglich. Je freier das Milieu ist,
in das er sich versetzt fühlt, desto mehr steigert sich seine Angst vor
dem Trieb und mit ihr seine neurotischen Abwehrreaktionen, seine Symptome.
Die Forderungen, die sein Über-Ich an ihn stellt, sind durch das ihn
umgebende Milieu nicht mehr beeinflußbar. Das Kind dagegen, das ein-
mal mit der Herabminderung seiner Forderungen anfängt, ist viel eher
geneigt, darin sehr weit zu gehen, sich mehr zu erlauben, als sogar die
freieste Umwelt ihm zu gestatten bereit ist. Auch in diesem Punkt kann
es dann die Beeinflussung von außen nicht entbehren.
Und nun zum Schluß noch ein sehr harmloses Beispiel. Ich hatte vor
162 Anna Freud
kurzem Gelegenheit, das Gespräch eines fünfjährigen Jungen mit seiner
Mutter zu belauschen. Dem Kleinen war es eingefallen, sich ein lebendiges
Pferd zu wünschen; die Mutter sträubte sich aus guten Gründen, ihm
diesen Wunsch zu erfüllen. „Es macht nichts”, sagte er darauf, gar nicht
niedergeschlagen. „Dann wünsche ich es mir eben zum nächsten Geburts-
täg.“ Die Mutter versichert, auch da werde er es nicht bekommen. „Dann
wünsche ich es mir zu Weihnachten“, meint er, „da bekommt man doch
alles.“ Nein, nicht einmal zu Weihnachten, versucht die Mutter ihn zu
enttäuschen. Er denkt einen Augenblick nach. „Und es macht doch nichts“,
sagt er dann triumphierend. „Dann kaufe ich es mir eben selbst. Denn
ich erlaube es mir.“ Sie sehen, meine Damen und Herren, schon
zwischen dieser inneren Erlaubnis und dem von außen aufgezwungenen
Verbot entsteht der Konflikt, der dann alle möglichen Ausgänge nehmen
kann: in Auflehnung und Dissozialität, in Neurose, glücklicherweise auch
häufig in Gesundheit.
Jetzt aber noch ein Wort über die pädagogische Einstellung des Kinder-
analytikers. Wenn wir erkannt haben, daß die Mächte, mit denen wir bei
der Heilung der kindlichen Neurose zu kämpfen haben, nicht nur innere
sind, sondern zum Teil auch äußere, dann haben wir auch ein Recht
zu fordern, daß der Kinderanalytiker die äußere Situation, in der das Kind
steht, richtig einzuschätzen versteht, ebenso wie wir verlangen, daß er die
innere Situation des Kindes zu erfassen vermag. Für diesen Teil seiner Aufgabe
aber braucht der Kinderanalytiker die theoretische und praktische pädagogische
Kenntnis. Sie ermöglicht es ihm, die Erziehungseinflüsse, unter denen das
Kind steht, zu durchschauen, zu kritisieren und — wenn es sich als not-
wendig erweist — den Erziehern des Kindes für die Dauer der Analyse
ihre Arbeit aus der Hand zu nehmen, um sie selbst zu verrichten.
|
Über einen Antrieb bei der Bildung des
weiblichen Über-Ichs
Vortrag auf dem X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Innsbruck am I. September 1927
Von
Hanns Sachs
Berlin
Das Material, an welchem ich die im Folgenden geschilderten Eindrücke
und Erfahrungen gewonnen habe, ist insofern eigenartig, als es nicht eine
Mischung verschiedenartiger weiblicher Typen enthält, sondern — als natürliche
Folge meines Berufes als Lehranalytiker — sich fast ausschließlich aus Frauen
zusammensetzt, die sogenannten männlichen Berufen angehörten oder sich
darauf vorbereiteten, und bei denen unzweifelhaft sowohl eine überdurch-
schnittliche Intelligenz als auch eine besonders weit gediehene Charakter-
entwicklung gegeben war. Man kann darin eine Fehlerquelle erblicken
und vermuten, daß das, was ich als weibliche Charakteristika zu finden
geglaubt habe, in Wirklichkeit männliche Eigenschaften seien, die nicht
der Frau im allgemeinen, sondern ausschließlich diesem besonders gearteten
Frauentypus zukomme. Dem gegenüber darf ich darauf verweisen, daß
ich für mein Material nur solche Analysandinnen berücksichtigt habe, die
in ihrem Wesen und in ihrer Lebensweise nichts auffällig Viriles zeigten,
die auch weder in Bezug auf Neurose noch auf Perversion, insbesondere
auch nicht in der Intensität ihrer unbewußten Homosexualität eine
erhebliche Abweichung von der Norm des modernen Kulturmenschen
zeigten. Besonderes Gewicht habe ich darauf gelegt, daß das Liebesleben
ausnahmslos mit normal weiblichen Gefühlsreaktionen ausgestattet war.
Ich darf daher wohl annehmen, daß die Sonderart meines Materials nicht
als Fehlerquelle zu werten ist, sondern daß vielmehr gerade dieses
Material eine besonders günstige, anderen Analytikern nicht im selben Maß
zugängliche Möglichkeit darstellt, das weibliche Über-Ich dort zu studieren,
wo es besser ausgebildet und daher leichter erforschbar ist, als dies bei
164 Hanns Sachs
der neurotisch erkrankten oder bei der normalen Durchschnittsfrau der
Fall ist."
Ich stelle die an mehreren Fällen erworbenen Eindrücke nur an einem
einzigen dar, der als Musterbeispiel dienen kann, nicht nur weil das
betreffende Phänomen an ihm deutlich hervortritt, sondern auch weil er
durch die Konzentrierung auf den Abschluß der Analyse eine so klare und
übersichtliche Darstellung ermöglicht, wie dies bei der analytischen Technik
nur ausnahmsweise der Fall ist. Es handelt sich um eine junge, noch nicht
5ojährige Frau von besonderer Intelligenz und vielseitiger Begabung, die
mit hervorragenden Charaktereigenschaften Hand in Hand gehen. Ein sehr
hervorstechender Zug an ihr ist die besondere Anspruchslosigkeit und
Bedürfnislosigkeit. Sie verlangt für sich weder schöne Kleider noch Schmuck,
noch bequeme Wohnung, ist gegen die Qualität ihres Essens und Trinkens
vollkommen gleichgültig, kurzum, sie ist mit allen zufrieden, sobald es
hinreicht, um ihre außerordentlich anstrengende Tätigkeit ohne Gesund-
heitsschädigung zu ermöglichen. Dieser Verzicht ist ihr vollkommen
natürlich und selbstverständlich, er bedarf keines inneren Kampfes und
keiner Selbstüberwindung, geschieht ohne Affektation und Überheblichkeit,
auch ohne daß sie an dem entgegengesetzten Verhalten anderer ungünstige
Kritik übt. Von ihrer Familiengeschichte ist hier nur so viel von Interesse,
daß sie eine zwei Jahre und zwei Monate jüngere Schwester und einen
etwa fünf Jahre jüngeren Bruder hat. Die Darstellung dessen, was die
Analyse zu unserem Problem beigetragen hat, dreht sich ausschließlich
um einen Iraum, den die Analysandin am Tage vor der letzten Analysen-
stunde geträumt hat, und um dessen Vor- und Nachgeschichte.
Am Traumtage verspürte sie schon von morgens an einen guten
Appetit und eine bei ihr ganz ungewöhnliche Aufmerksamkeit auf die
Qualität des Essens. Sie war mitdem, was sie vorgesetzt erhielt, unzufrieden
und gab diesem Gefühl wiederholt entschiedenen, wenn auch scherzhaft
eingekleideten Ausdruck. Besonders ärgerlich war sie über die Bevorzugung,
ı) Meine Beobachtungen berühren sich an einem Punkte mit der Darstellung
der weiblichen Sexualität durch Helene Deutsch. Die Beziehung zwischen der
Entwicklung der Genitalität und der Oralerotik hat Rank (Zur Genese der
Genitalität, diese Zeitschrift, Band XI, ı925) dargestellt, doch unterscheidet sich
meine Auffassung erheblich von der seinen, da er diese Beziehung bei Knaben und
Mädchen als gleich bedeutungsvoll ansieht, während hier die Ansicht vertreten wird,
daß sie beim Mädchen sehr viel inniger ausfällt und für die Charakterbildung
besondere Bedeutung behält. Meine Darstellung bezieht sich auch im Wesentlichen
auf die Epoche des Unterganges des Ödipuskomplexes, nicht auf die von Rank
rekonstruierte Urzeit. Mit der Arbeit von Müller-Braunschweig (diese Zeit-
schrift, Band XII, ı926), die sich mit demselben Thema beschäftigt, hat die meinige
kaum irgendwelche Berührungspunkte.
Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ichs 165
die eine Hausgenossin, die vor wenigen Wochen ein Kind bekommen
hatte und es selber nährte, in Bezug auf die Nahrung genoß. Diesem
Neid gab sie natürlich keine Worte, aber sie empfand ihn deutlich und
wunderte sich selbst darüber. Am Abend war sie mit ihrem Manne und
der erwähnten Hausgenossin bei einem Ehepaar eingeladen, das ebenfalls
seit kurzer Zeit ein Kind hatte, welches aber mit der Flasche ernährt
wurde. Natürlich drehte sich das Gespräch der beiden Mütter hauptsächlich
um die Ernährung ihrer Kinder. Auch bei diesem Besuch empfand sie
lebhaften Appetit und aß, da ihr das Essen dort besonders gut schmeckte,
mehr als sonst. Nach Hause gekommen, suchte sie die Toilette auf, hatte
eine Stuhlentleerung, welche sie mit ungewöhnlichem Interesse besichtigte,
wobei sie Befriedigung bezüglich Quantität, Konsistenz und Farbe empfand.
Sie sprach diese Befriedigung gleich nachher auch ihrem Manne gegenüber
aus. Ich muß hier einfügen, daß die Verdrängung des Analen, und zwar
insbesondere das Schamgefühl hinsichtlich des Aussprechens aller dahin
gehörigen Dinge, bei dieser Analysandin ganz ungewöhnlich stark betont
war, so daß es in der Analyse jedesmal die größten Kämpfe setzte, wenn
sie einen derartigen Einfall gehabt hatte und berichten sollte. Diese sonst
so mächtige Reaktionsbildung war an jenem Abend plötzlich außer Tätigkeit
gesetzt. In der Nacht hatte sie folgenden Traum:
„Ein Raum, von dessen Einrichtung mir etwas wie ein großer, vielleicht
länglicher Tisch in Erinnerung ist. Dieser Tisch steht zwischen mir und
meiner Mutter. Ich sehe jedenfalls nur die obere Körperhälfte meiner
Mutter, vielleicht, daß sie am Tisch sitzt. Ich sehe auch, daß sie eine Art Hemd-
bluse anhat, wie man sie früher trug, aber mit zurückgeschlagenem, weit
geöffnetem Kragen, so daß ich ihren Hals und auch etwas von der Brust
sehe, weniger deutlich die Brust, mehr die Brustbeingegend. Ich selbst
komme mir klein, also nicht erwachsen vor. Ich verlange von ihr: ‚Gib mir
von der Milch.“ Es schwebt mir dabei etwas wie eine Flasche vor, in der
Milch ist. Jedenfalls weiß ich aber deutlich, daß es sich um die Milch
handelt, die für meine jüngere Schwester bestimmt ist. Meine Mutter lehnt
meine Bitte ab, mit der Begründung, die Milch sei für meine Schwester.
Darauf gerate ich in eine kolossale Wut. Ich schimpfe, wobei ich deutlich
das Gefühl habe, ich schimpfe mich in die Wut hinein, ich betone und
steigere bewußt meinen Arger. ‚Was, — sage ich ungefähr, — ‚die muß
also alles haben? Ich wollte ja eigentlich gar nicht die Milch selbst, ich
wollte nur sehen, ob du eine gute Mutter bist. Nun weiß ich Bescheid,
Alles wird in die andere hineingestopft, obwohl sie schon dick genug ist.
Und mir, wo ich so viel arbeite und eine Erholung brauchte, eönnst du
nicht einen Schluck Milch.“ Während ich so schimpfe, und zwar sehr laut
166 Hanns Sachs
und energisch, werde ich immer empoörter, habe das Gefühl dabei, im Recht
zu sein, etwas wie eine große Gemeinheit entdeckt zu haben. Schließlich
greife ich etwas auf, was mir gerade in die Hände fallt, und schleudere
es mit ganzer Kraft gegen meine Mutter. Was es ist, weiß ich nicht,
etwas wie ein schwerer Gegenstand. Ich weiß aber, daß es meine Mutter
etwa in der Magengegend trifft, und zwar an einer entblößten Körperstelle.
Ich bin damit ganz zufrieden, es tut mir überhaupt nicht leid, sie vielleicht
verletzt zu haben, im Gegenteil, ich freue mich darüber,“
Nach dem Erwachen fühlte die Analysandın Magenschmerzen, die sie
auf das viele Essen vom Vorabend zurückführte, und beschloß an diesem
Tage zu fasten, resp. nur flüssige Nahrung zu sich zu nehmen. Sie wollte
gegen das Magendrücken ein Glas Rum trinken, verschüttete aber den
Inhalt desselben beim Austrinken zum größten Teil auf ihr Kleid. Nicht
besser ging es ihr mit einem Kognakbonbon. Sie ging dann aus und es
fiel ihr plötzlich ein, sich Sahne statt der sonst üblichen Milch zu kaufen.
Sie tat dies auch, kam damit nach Hause, aber als sie die Sahne in den
Kaffee schütten wollte, war sie wiederum ungeschickt und überschüttete
den größten Teil.
Der Traum scheint auf den ersten Blick ein einfacher „Bestätigungs-
traum“ zu sein, der das, was man lange in mühsamer Arbeit ans Licht
gebracht hat, vollkommen klar und rückhaltslos ausspricht. Die nähere
Betrachtung beweist aber, daß die Traumentstellung hinsichtlich des
wichtigsten Elementes doch wirksam war, denn die darin enthaltene orale
Enttäuschung und die dazugehörigen Affekte gelten im letzten Grunde
nicht der Mutter, sondern dem Vater.
In dieser Hinsicht ist es vor allem beweiskräftig, daß der Traum vor
der letzten Analysenstunde geträumt wurde und unzweifelhaft die Reaktion
auf das Ende der Analyse darstellt, das mit einer oralen Enttäuschung der
Infantilzeit identifiziert wird. In der ganzen, mehr als zweijährigen Analyse
hatte die Analysandin eine außerordentlich deutliche, unverkennbare Vater-
übertragung gezeigt, so daß es als ausgeschlossen gelten darf, daß darin
am letzten Tage eine grundlegende Änderung eingetreten sein sollte.
Auch hatte die bisherige Übertragungsform es schon deutlich werden lassen, daß
dabei auf den Vater gerichtete orale Wünsche eine entscheidende Rolle
spielten. Unter den zärtlichen Übertragungsphantasien war eine besonders
deutlich hervorgetreten, die darin bestand, vom Analytiker auf den Schoß
genommen zu werden und den Kopf an seine Brust zu legen und dort
zwischen Rock und Weste zu verbergen. In der Analyse hatte sie es in
Zeiten besonders zärtlicher Übertragung manchmal nicht über sich gebracht,
der analytischen Grundregel zu gehorchen und ihre Einfälle auszusprechen,
Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ichs | 167
sondern war öfters eine Weile lang schweigend dagelegen, um sich ganz
einem angenehmen Gefühl zu überlassen, für das sich ihr als stereotype
Bezeichnung die Worte „warm und süß“ aufdrängten, — eine Bezeichnung,
die ja deutlich genug auf die nach der Muttermilch strebenden oralen
Wünsche hinweist. Gelegentlich war als Einfall mit „Unwirklichkeits-
charakter“ der Wunsch aufgetaucht, vom Analytiker gefüttert zu werden.
Besonders bedeutsam war, daß die Analysandin der letzten Stunde der
Analyse noch ein Nachspiel gab, durch das die analytische Arbeit erst
eigentlich beendet wurde. Auf dieses Nachspiel, das die Analysandin später
selbständig deutete, kann ich hier leider nicht eingehen. Nur das eine
sei bemerkt, daß es darin gipfelte, daß sie dabei schließlich das Gefühl
hatte, sie habe durch ihre Handlungsweise den Analytiker gequält, und
darüber Befriedigung empfand. Sie mußte offenbar die Rachegelüste, die
sie im Traum gegen die Mutter losließ, in Wirklichkeit am Vater-Analytiker
befriedigen. Auch außerhalb der Übertragung, im sonstigen Leben der
Analysandin, finden sich Tatsachen, aus denen hervorgeht, daß die oralen
Wünsche ‚und deren Enttäuschung in einer höchst bedeutungsvollen
Epoche der Infantilzeit am Manne erlebt worden waren. Dahin gehört vor
allem die Art ihrer Liebeswahl. Während sie als Studentin von einem
Kameraden auf das Examen vorbereitet wurde, war zwischen ihnen ein
Streit vorgefallen, infolgedessen der Betreffende ihr erklärte, daß er den
Umgang mit ihr aufgeben wolle. Von da an verliebte sich das viel-
umworbene Mädchen aufs heftigste in den abweisenden Mann und brachte
es nach Überwindung großer Widerstände dahin, daß er ihre Liebe er-
widerte und sie heiratete. Dieser Mann hatteaußerordentlich strenge Grundsätze,
durch die viele, sonst als harmlos geltenden Genüsse verpönt wurden,
und stellte an die ohnehin äußerst bedürfnislose Frau immer neue
Ansprüche der Entsagung. Sie sollte z. B. keine Schuhe, sondern nur
Sandalen, Mäntel nur von Loden tragen usw. Sie fügte sich im allgemeinen,
und wenn sie widersprach, geschah dies ohne Affektaufwand. Nur einmal
gab es ganz unerwartet eine heftige Szene. Der Mann hatte sie zwingen
wollen, in einer kleinen, wenig appetitlichen Kneipe mit minderwertigem
Essen Vorlieb zu nehmen. Sie sprang entrüstet auf und lief davon und
der Mann mußte ihr nacheilen, um sie zu versöhnen. Am Essen lag ihr,
wie schon erwähnt, im allgemeinen gar nichts, es war offenbar die ihr
vom Manne aufgenötigte orale Versagung, gegen welche sie sich empört
hatte.
In der Analyse hatte eine am Vater erlebte Enttäuschung schon
lange eine große Rolle gespielt. Sie war immer wieder von ihr agiert und
mit Benützung der dabei hervortretenden Einzelheiten von uns rekonstruiert
Eee U u
168 Hanns Sadıs
worden; teilweise waren auch direkte Erinnerungen aufgetaucht. Das
Wichtigste aber hatte bis zum Schluß gefehlt und konnte erst durch die
Deutung dieses Traumes der Analyse eingefügt werden.
Daß das Saugen an der Mutterbrust, resp. das Trauma der Entwöhnung
dem Phänomen zugrunde liegt, wurde bereits hervorgehoben. Wie aus den
mitgeteilten Einzelheiten hervorgeht, handelt es sich dabei nicht etwa um
eine Totalregression zur Mutter, im Gegenteil, die Libido bleibt im Sinne
des normalen (positiven) Ödipuskomplexes ganz eindeutig beim Vater ver-
ankert und bedient sich — unter dem Druck der erzwungenen Entsagung —
der regressiven Ausdrucksform des frühesten und eindrucksvollsten oralen
Erlebnisses. Diese, ausschließlich auf den Vater bezogene Wiederbelebung
des oralen Stadiums ist in dem geschilderten Fall besonders deutlich und,
wie ich glaube, für die Frau überhaupt typisch, weil sie bei ihr regel-
mäßiger eintritt und für ihre Charakterentwicklung besonders folgenschwer
wird.
Dieser Hartnäckigkeit und stürmischen Kraft der auf den Vater gerichteten
oralen Wünsche bin ich immer wieder und wieder bei normalen Frauen
begeenet. Sie war fast stets tief in der Verdrängung vergraben und konnte
erst durch die Analyse an das Tageslicht gebracht werden. Der Weg der
Entwicklung scheint regelmäßig derselbe zu sein. Wenn das kleine Mädchen
die Tatsache der Kastration akzeptiert hat und infolgedessen die Klitoris-
masturbation als unbefriedigend empfindet; wenn auch der genitale Wunsch
nach dem Vater, resp. nach dem Kind, das der Vater schenken sollte,
gescheitert ist, dann macht das kleine Mädchen eine letzte Anstrengung,
um am Ödipuskomplex, d. h. also an der Vaterfixierung festzuhalten, indem
es die ursprünglich an der Brustwarze der Mutter befriedigten oralen
Wünsche mit großer Intensität auf den Vater überträgt. Besonders deutlich
ist diese Phase natürlich in denjenigen Fällen, wo, wie in dem hier
geschilderten, zur kritischen Zeit ein jüngeres Geschwister erscheint und
von der Mutter gestillt wird. Jedenfalls nimmt sich diese orale Regression
den Vater, nicht die Mutter zum Sexualobjekt. Es kann natürlich nicht
übersehen werden, daß die Verschiedenheiten der Sexualkonstitution und
des frühkindlichen Erlebens auch hier eine große Rolle spielen und daß
nach Maßgabe dieser Faktoren auch andere, insbesondere anale
Komponenten. hineinspielen. Der von Radö aufgestellte „alimentäre
Orgasmus“ dürfte gleichfalls eine bedeutsame Rolle spielen. Die unbewußten
Phantasien, in die diese Phase ausmündet, können dementsprechend sehr
verschieden sein. Nach meiner Erfahrung handelt es sich bald um das
Saugen am Penis des Vaters, bald um das Abbeißen desselben, gelegentlich
um das Verschlucken von Samen, in einem Fall sehr deutlich um die
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- — ps =
Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Obericht 169
Phantasie der oralen Aufnahme von Kot und in einem anderen — aller-
dings bei einem neurotischen Mädchen — um das Trinken von Urin. Die
übrigen Partialtriebe spielen natürlich auch hinein und durch sie werden die
oralen Phantasien in der mannigfaltigsten Weise modifiziert und variiert,
eventuell auch durch einen von ihnen — am ehesten durch den Wunsch, dem
Vater ein Kind zu schenken — ganz ersetzt. Meine Aufstellung will nur
besagen, daß diese Regression aufs Orale bei gleichzeitigem Festhalten am
Ödipusobjekt bei der Frau häufig besonders intensiv ausfällt und für ihre
Charakterentwicklung entscheidende Bedeutung gewinnen kann.
Die Vermutung liegt nahe, daß die intensive Tendenz, sich den
Vater auf oralem Wege einzuverleiben, eine Folge der in dieser Zeit zum
erstenmal dunkel auftretenden vaginalen Sensationen ist, die, weil sie sich
an der noch unentdeckten Vagina nicht durchsetzen können, auf den
Mund verschoben werden. Man könnte darin ein Stück der Entwicklung
sehen, das einem Teil der phallischen Phase beim Knaben, die vom Mädchen
unter dem Druck des Penismangels nicht mehr mitgemacht werden kann,
entspricht. Mögen diese Vermutungen nun berechtigt sein oder nicht, die
Tatsache, auf die sie sich gründen, stammt aus der mehrfach überprüften
Erfahrung, daß diese oralen Wünsche ein Stück der Entwicklung zur
Weiblichkeit enthalten, das beim Manne ohne Schaden fehlen kann. Ich
habe derartig intensive orale Triebziele und die sie ausdrückenden Phantasien
niemals bei annähernd normalen Männern gefunden, sondern nur bei
solchen, die in sehr erheblichem Maße abnorm — sei es neurotisch oder
pervers — waren. Am stärksten bei einem Masochisten, bei dem, als die
Analyse seine masochistische, d. h. passiv-feminine Einstellung erschüttert
hatte, Perioden einer Art oralen Taumels auftraten, die einen plötzlichen
Durchbruch oraler ubw Phantasien zur Aktion bedeuteten; während eines
solchen Stadiums verschluckte er einmal zum Zwecke sexueller Befriedigung
seinen Samen und ein anderesmal seinen Kot.
An diesen, auf den Vater gerichteten oralen Wünschen des Mädchens,
in welche der Ödipuskomplex ausklingt, und die deshalb die Vertretung
für den gesamten Affektinhalt des Ödipuskomplexes zu übernehmen im-
stande sind, findet die Über-Ich-Bildung des Mädchens einen wichtigen
Anknüpfungspunkt. Der versagende Vater wird introjiziert und so der Wunsch,
den Vater in sich aufzunehmen, doch noch befriedigt. Auf diesem Wege
ermöglicht sich das Mädchen die Ablösung vom realen Vater. Zu einer
wirklichen Über-Ich-Bildung kommt es also nur dort, wo die Versagung
eingetreten ist und den endgültigen Verzicht auf den Vater zur F olge
gehabt hat. Dies war in dem bisher geschilderten Falle sehr deutlich, denn
die Analysandin hatte in Bezug auf ihre Mutter eine starke Affekteinste]-
Int. Zeitschr, f. Psychoanalyse, XIVia. 12
170 Hanns Sadıs
lung, und zwar mit voller Ambivalenz, beibehalten. Der Vater hingegen war
ihr vollkommen gleichgültig geworden, sie fühlte sich außerstande, für ihn
Zärtlichkeit oder Haß zu empfinden. In der analytischen Übertragung lebte
der Ödipuskomplex allerdings wieder auf und erwies sich insofern als noch
erhalten; sein wichtigstes Ziel war aber — wie aus dem Mitgeteilten her-
vorgeht — nicht die genitale, sondern die orale Befriedigung. Wo der
Ödipuskomplex an dieser Versagung nicht zugrunde gegangen ist, sondern,
wie dies so häufig geschieht, eine durchs Leben dauernde Bindung der
Tochter an den Vater erhalten blieb, kann eine selbständige Über-Ich-
Bildung nicht stattfinden. Das Über-Ich solcher Frauen ist sehr oft hoch
entwickelt und mächtig, aber es liegt eigentlich kein eigenes, sondern ein
durch Identifizierung mit dem Vater erworbenes, von ihm kopiertes Ich-
ideal vor, wobei allerdings zuzugestehen ist, daß eine gute Kopie mehr
wert sein kann als ein schlechtes Original.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem hier geschilderten Beitrag
zur Entstehung des weiblichen Über-Ichs und dem analogen Vorgang beim
Manne liegt darin, daß das Über-Ich des Mannes aus der Kastrationsdrohung
hervorgeht und deshalb dauernd den Charakter des Drohenden („du mußt
so wie der Vater sein —“ oder „du darfst nicht wie der Vater sein —
sonst... .“) behält, während das Über-Ich der Frau sich vielmehr auf
die Forderung der Entsagung gründet. Der Unterschied ist allerdings nicht
leicht festzustellen, denn die Drohung des männlichen Über-Ichs hat ja
auch keinen anderen Zweck, als eine Entsagung zu erzwingen. Später soll
an sozialen Phänomenen wo nicht ein Beweis, so doch wenigstens eine
Illustrierung dieser Unterscheidung versucht werden.
Nun zurück zu der Analysandin. Ihr Charakter hatte sich schon sehr
frühzeitig, etwa vom fünften Jahr an, in der geschilderten Art der Ent-
sagungsbereitschaft ausgebildet. Wenn sie zugleich mit ihren Geschwistern
beschenkt wurde und als Älteste die Wahl haben sollte, so verzichtete sie
gerne auf dieses Vorrecht. Wenn die anderen Geschwister sich um irgend
ein Spielzeug balgten, so war sie stets bereit, ihr Anrecht darauf aufzugeben.
Als ihre Eltern in Geldschwierigkeiten waren, verwendete sie heimlich das Geld,
das sie zu ihrem Frühstück bekam, zur Anschaffung von Schulheften. Alles
dies erschien ihr, wie gesagt, selbstverständlich, und mit eben dieser
Selbstverständlichkeit stellte sie als kaum Erwachsene ihr Leben ganz in
den Dienst einer Idee, der zuliebe sie nicht nur auf alle möglichen
Annehmlichkeiten des Lebens verzichtete, sondern sogar auf den Beifall
und die Anerkennung, die ihre mannigfache Begabung sonst gefunden hätte.
Auch ihre Ansprüche auf Geldentlohnung beschränkte sie prinzipiell auf
das für das Leben Notwendige. Diese Frau, deren ganzes Leben eine einzige
Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblihen Über-Ics 171
selbst auferlegte und bereitwillig getragene Entsagung war, zeigte in der
Analyse eine unnachgiebig fordernde Form der Übertragung, die dem Typus
nahestand, den Freud als nur „für Suppenlogik und Knödelargumente“
zugänglich bezeichnet hat. Ein stärkerer Kontrast als der zwischen dem
Verhalten im Leben, das vom Über-Ich gelenkt war, und der Reaktion in
der Analyse, die vom Unbewußten ausging, läßt sich nicht denken. Die
stürmisch fordernde Übertragung setzte sehr bald nach dem Beginn der
Analyse ein und hielt mit geringen Intervallen, in welchen die Verwand-
lung der unerwidert gebliebenen Liebe in Haß vergeblich versucht wurde,
bis zum Ende der Analyse an.
Der Einfluß des Über-Ichs, der in der Übertragung vollkommen aus-
geschaltet zu sein schien, kam in zwei Momenten doch noch voll zum
Ausdruck. Einerseits darin, daß sich die Analysandin, so stürmisch ihre
Gefühle und Wünsche waren, von jeder Zudringlichkeit, insbesondere von
der leisesten Andeutung einer realen Aggression weit entfernt hielt und
überhaupt dem von Freud geschilderten Typus insoferne nicht entsprach,
als sie auch im stärksten Affekt die Einsicht nicht verlor und der Analyse
dauernd zugänglich blieb. Andererseits — und dies ist wohl das bedeutsamere
Moment — darin, daß diese Phantasien, die sie durch zwei Jahre lang fast
unausgesetzt beschäftigten, doch durchaus verschwommen, ohne deutlichen,
für das Bewußtsein faßbaren Inhalt blieben. Ausgenommen davon war nur
die schon erwähnte Phantasie, den Kopf an die Brust des Analytikers zu
lehnen, Im übrigen blieb alles undeutlich, nur das eine wurde dem
Bewußtsein zugänglich, daß es sich dabei nicht um den Sexualakt, sondern
um Formen infantiler Zärtlichkeit handelte, wie gestreichelt, auf den Schoß
genommen und geküßt zu werden.
Ich gehe nun zur Verdeutlichung meiner These zu einem entgegen-
gesetzten Iypus über; während ich bisher mich mit dem Frauentypus be-
schäftigt habe, der ein überdurchschnittlich stark entwickeltes Ichideal
zeigt, will ich zur Gegenüberstellung denjenigen Typus heranziehen, bei
dem dieses Ichideal besonders unentwickelt, in den ersten, primitiven
Anfängen stecken geblieben ist. Ich habe keine Frau dieses Typus analysiert,
aber Gelegenheit gehabt, einige durch längere Zeit und in entscheidenden
Augenblicken ihres Lebens genau zu beobachten. Die Frauen, die ich hier
meine, sind fast immer äußerlich ungewöhnlich reizvoll und auch
menschlich, im persönlichen Verkehr ganz besonders angenehm — wenigstens
für Männer, während sie zu anderen Frauen meist keine rechten Beziehungen
zu finden wissen. Sie haben die Fähigkeit, auf die Eigenart, die Interessen,
die Gedankenwelt des Mannes, mit dem sie sich gerade unterhalten, einzu-
gehen, so daß dieser sich durchaus verstanden und dementsprechend stark
12”
angezogen fühlt. Man bemerkt auch mit Erstaunen, daß eine solche Frau,
obwohl sie niemals einen abgeschlossenen Bildungsgang gehabt, auch nicht
irgendwelche ernstere Studien getrieben hat, über eine Anzahl oft recht
schwieriger Themen außerordentlich gut Bescheid weiß. Dem feineren
Ohre wird es aber bald deutlich, daß das, was sie sagt, nicht von ihr
stammt, sondern nur das Echo irgendeines Mannes bildet, dem sie ihre
Kenntnisse und Anschauungen entlehnt hat. Man kann für jeden der
Gegenstände, über die sie spricht, sei es nun Kunst oder Wissenschaft,
Sport oder Religion, eine bestimmte Epoche ihres Lebens und einen be-
stimmten Mann feststellen, von dem ihre Anschauungen herstammen. Sie
hat auch gar nicht das Bestreben, diese Auffassungsweisen zu über-
arbeiten und eine Einheit daraus herzustellen, sie behält vielmehr die
individuelle Ausdrucksform der verschiedenen Männer einfach bei und
stößt sich auch nicht daran, widersprechende Urteile, wenn sie verschie-
dener Herkunft sind, einfach nebeneinander aufzustellen. Bis hierher ist
an diesem Frauentypus nichts Merkwürdiges, man findet ja auch, wenn
auch seltener, Männer, deren Anschauungen in ähnlicher Weise leicht auf
verschiedene Autoritäten zurückzuführen sind. Ich glaube aber nicht, daß
ein solcher Mann je das Bedürfnis hat, mit einer, für ihn eine derartige
Autorität bildenden Person, auch wenn sie dem anderen Geschlechte an-
gehört, in sexuelle Beziehungen zu treten. Bei diesen Frauen ist gerade das
jedoch mit zwingender Regelmäßigkeit der Fall. Man kann vollkommen
sicher damit rechnen, daß sie von allen den Männern, welche später einen
Beitrag zu ihrem zusammengesetzten und unvollständigen Über-Ich ger
liefert haben, verführt worden ist, oder daß sie, wo dies nicht möglich
war, diese Männer verführt hat. Mit sexueller Bedürftigkeit ist dies nicht
zu erklären, weil diese Frauen fast immer frigid sind. Ich hatte mir früher
die Auskunft zurecht gemacht, daß die Ursache in dem nach dieser
Form der Anerkennung verlangenden Narzißmus liege, mußte mir aber
schon damals sagen, daß diese Erklärung unzureichend sei, weil die Tatsache
des Sexualaktes keineswegs bei allen Männern als Beweis der Verehrung an-
gesehen werden kann, ja manchmal geradezu von dem Gegenteil ab-
hängig ist. Die richtige Erklärung finde ich darin, daß diese Frauen
in einer primitiven Form der Über-Ich-Bildung steckengeblieben sind und
einen Mann offenbar nur dann zum Über-Ich erheben können, wenn sie
ihn vorher ganz real durch die Vagina (wohl als Ersatz der oralen Ein-
verleibung) in sich aufgenommen haben. Eine solche Über-Ich-Bildung
bleibt natürlich immer auf einer niedrigen Stufe stehen, sie ist nicht
entpersönlicht und ohne wirklichen Einfluß auf das Ich.
Es soll nun versucht werden, darzustellen, wie sich die hier vertretene
y
- a
Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ics 173
Behauptung zur bisherigen psychoanalytischen Erkenntnis verhält. Es stimmt
gewiß gut dazu, daß die Zwangsneurose, in welcher die Desexualisation
infolge des regressiven Ausweichens vor der Kastrationsdrohung eine so
hervorragende Rolle spielt, wesentlich die Neurosenform des Mannes ist,
während die Konversionshysterie die eigentliche Neurose der Frau genannt
werden kann. Wir wissen, daß die Konversionshysterie eine fast voll-
ständige Erreichung der Genitalorganisation zur Voraussetzung hat. Hier
trifft sie nun mit der Entsagungsforderung des weiblichen Über-Ich zu-
sammen, die ihr die restlose Ausbildung zur dGenitallust versagt. Die
Libido bleibt dann gewissermaßen eingekeilt, da ihr auf der einen Seite
die Möglichkeit der Regression ins anal-sadistische Stadium bereits abge-
schnitten ist, während der Fortschritt zur vollen Genital-Organisation
durch die Besonderheit des weiblichen Über-Ich gehindert wird.
Unsere Anschauung kann auch dazu dienen, einen bisher ungelosten
Widerspruch aus der Welt zu schaffen. Wie wir wissen, ist die Frau im
Durchschnitt stärker narzißtisch als der Mann (Freud, Einführung des
Narzißmus). Es ist nicht einzusehen, warum bei einer stärker narzißtischen
Organisation der Liebesverlust als Krankheitsursache eine größere Rolle
spielen sollte (Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S. 91), Man
sollte im Gegenteil meinen, daß sie den Objektverlust besser verträgt.
Dies wird besser verständlich, wenn wir annehmen, daß dort, wo der
Ödipuskomplex des Knaben an der Kastrationsdrohung scheitert, beim
Mädchen der Versuch gemacht wird, am Vater festzuhalten, sei es durch
den Kindeswunsch, sei es — wie oben ausgeführt — durch orale Regression.
Objektversagung wird daher — außer bei jenen Frauen, die sie für die
Über-Ich-Bildung übernommen haben — durch das stärkere F esthalten
am Narzißmus nicht aufgewogen.
Hingegen hat die Entsagungsforderung des Über-Ich die bekanntlich
bei der Frau viel stärker ausgeprägte Hemmung der Sexualität zur Folge,
die sich häufig bis zur vollkommenen Frigidität steigert. Dabei ist das
Verhalten vieler Frauen zu ihrer Frigidität durchaus bezeichnend: sie sind
dagegen gleichgültig und finden sich leicht damitab, den Sexualakt als etwas
Indifferentes oder Unangenehmes über sich ergehen zu lassen und zeitlebens
auf das Erlebnis der vollen sexuellen Lust zu verzichten.
Der Unterschied zwischen dem weiblichen und männlichen Ichideal,
der für die Beobachtung so schwer zugänglich ist, läßt sich vielleicht am
ehesten an sozialen Phänomenen und Typen illustrieren, wozu wieder
ein Gegensatzpaar die beste Möglichkeit bietet: die Revolutionärin und
die Heilige.
Alle großen Theoretiker und Organisatoren der Revolution, von Robes-
174 Hanns Sadıs
VE EEE EEE nn
pierre bis Lenin, waren Männer. Wenn es aber wirklich losgehen
soll, wenn es darauf ankommt, die Massen davon zu überzeugen, daß die Zeit
der Entsagung und des Verzichtes vorüber ist, wenn es sich darum handelt,
loszuschlagen und zuzuschnappen, dann ist bisher stets eine Frau — oder
Frauen — in der ersten Reihe gestanden. So war es in der französischen
Revolution, von der Schiller mit unbewußtem Verständnis des oralen
Momentes gesungen hat: „Da werden Weiber zu Hyänen“, so war es bei der
Pariser Kommune mit Louise Michel, so war es bei den sogenannten Nihilisten
in Rußland (Vera Figner) und so wird es auch bei jeder künftigen Revolution
sein. Hinsichtlich des religiösen Typus sei anstatt langwierigen historischen
Materials auf die Darstellung in Anatole France’s genialem Meisterwerk
„Thais“ hingewiesen. Dort schildert der Dichter auf der einen Seite
Paphnuce und seine Genossen, die auf dem Wege der schwersten
Selbstmarterung, durch Geißelung, Säulenstehen und andere ausgesuchte
Folterqualen nach der Heiligkeit streben. Wie anders sieht dagegen die
Askese der Frauen aus, ob sie nun zur Gruppe der „Marthes“ oder der
„Maries“ gehören. Hier gibt es keine gräßlichen Seelenkrisen, keine
Marterwerkzeuge, hier besteht die ganze Kasteiung in der Entsagung, die
sich allerdings auf alle Güter des Lebens erstreckt und das ganze Dasein
mit ihrer milden Eintönigkeit ausfüllt. Dieser Typus ist auch in der
späteren Kirchengeschichte bei vielen weiblichen Heiligen und ekstatischen
Nonnen anzutreffen.
Zum Schlusse ist es unerläßlich, darauf hinzuweisen, daß die Begriffe
„Männlich“ und „Weiblich“ im Psychologischen von außerordentlich
unsicherem Inhalt sind (Freud), so daß die Einteilung so komplizierter
Bildungen, wie es das Über-Ich ist, nach männlichen und weiblichen
Formen immer etwas Mißliches haben wird. Zur Rechtfertigung dieser
Ausführungen darf ich aber darauf hinweisen, daß sie den organischen
Verschiedenheiten zwischen Mann und Frau entsprechen. Das Über-Ich
des Mannes entsteht aus Furcht vor der Drohung, ein von ihm narzißtisch
hochgeschätztes Stück seines Körpers zu verlieren; das weibliche Über-Ich
wird nur dort erreicht, wo der notwendige Verzicht auf die Erlangung
dieses Stückes zu einer dauernden Entsagungsforderung führt.
Die ökonomischen Beziehungen zwischen dem Schuld-
gefühl und dem weiblichen Narzißmus
Vortrag auf dem X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Innsbruck am 1. September 1927
Von
J. Harnik
Berlin
Meine Damen und Herren!
In meiner vor Jahren erschienenen Arbeit „Schicksale des Narzißmus
bei Mann und Weib“* habe ich, auf Freud und Ferenczi fußend, den
narzißtischen Körperstolz der Frau aus dem Kastrationskomplex, bzw.
Penismangel derselben abgeleitet. Seither hat uns Freud die Erkenntnisse
über den strukturellen Aufbau des seelischen Apparates geschenkt und
gelehrt, daß die endgültige Gestaltung desselben durch die Aufrichtung des
Über-Ichs, nach dem Untergang des Ödipuskomplexes sich vollzieht. Die
narzißtische Besetzung des Ichs bezeichnete er als eine sekundäre, aus
den aufgegebenen Objektbeziehungen entstandene. Hieraus ergeben sich
neue Fragestellungen, besonders nach den Wechselwirkungen, die sich
abspielen zwischen dem narzißtischen Verhalten des Ichs und den durch
die Gewissensfunktion wirkenden Anforderungen des Über-Ichs. Die Erwar-
tung wird rege, daß im weiblichen Seelenleben diese Relationen deutlicher
und klarer zutage treten werden; wiederum verspricht hier das Studium
krankhafter Veränderungen bestimmte Aufschlüsse.
Angeregt wurde ich zu diesen Untersuchungen durch folgende Beobach-
tung: Eine Frau, die sonst sehr narzißtisch ist, auf Kleidung und Körper-
pflege sehr viel gibt, hatte in der Analyse auf eine außerordentliche Bes-
serung ihrer vaginalen Empfindungsfähigkeit ‚mit intensivstem Häßlichkeits-
gefühl (sagen wir also „Häßlichkeitswahn“) reagiert. Ein schwieriges und
bedeutsames Stück Analyse zeigte, daß solches Ausmaß an sexueller Lust
für ihr Unbewußtes (d. h. für ihr Über-Ich) „zu viel“ war, und führte
A EP
ı) Diese Ztschr., Bd. IX, 1923.
176 J. Harnik
dieses Schuldgefühl zunächst auf inzestuöse Erlebnisse der Pubertätszeit
zurück. Der psychische Konflikt endete für die Patientin damals so, daß
sie gezwungen war, die beginnende Genitalbereitschaft zu verdrängen und
dafür gewisse, für ihr Ich wertvolle narzißtische Rekompensationen einzu-
tauschen. Ich versichere Ihnen, daß die erwähnte Einschätzung des größeren
sexuellen Genusses absolut unbewußt war, und daß die historische Zurück-
führung in einer Analysenphase gelang, in der zeitweise Zustandsbilder
auftraten, wie wir sie sonst nur aus den hypnotisch-kathartischen Behand-
lungen kennen. Man könnte mir da entgegenhalten, solche Reaktion der
Patientin wäre ein Anzeichen dessen, daß sie noch nicht genügend analysiert
sei. Sie müsse weiter behandelt werden, damit sie schließlich Befriedigung
ertragen kann, ohne unter die Wirkung der Schuldgefühle zu geraten.
Gewiß ist das so, die Analyse ging auch weiter und in viel tiefere Schichten,
aber das ändert nichts an der vorgefundenen und zu untersuchenden Tatsache.
Machen wir hier lieber Halt, um die Frage aufzuwerfen, inwieferne
man die sich von selbst ergebende Schlußfolgerung verallgemeinern kann.
Da liegt es jaauf der Hand: das Strafbedürfnis fordert sexuelle Entbehrung,
der Gehorsam diesem Gebot gegenüber ermöglicht eine kompensatorische
Steigerung des narzißtischen Selbstgefühls. Nun, den Zusammenhang
zwischen der Einschränkung der sexuellen Befriedigung und dem erhöhten
weiblichen NarziBmus hat vor einiger Zeit Alice Sperber! erkannt und
behauptet und an schönen Beispielen aus der Weltliteratur eindrucksvoll
illustriert. Empirische Beobachtungen bei möglichst viel Frauen dürften
diesen Tatbestand auch immer wieder zeigen. Allerdings beginnt die
tiefere Forschung erst mit dieser Deskription. Die sexuelle Beschränkung
ist der Ausfluß eines Strafbedürfnisses, Woher stammt dieses und warum
wird im Falle des Ungehorsams gerade die Empfindung des Häßlichwerdens
zum Ausdruck des Schuldgefühls? Ferner, ist der dargestellte Sachverhalt
etwas für die weibliche Psyche Typisches?
Die Frage nach der Herkunft des Schuldgefühls ist uns heute theoretisch
nicht nur im geschilderten Falle, der ja (zufolge der Inzestbeziehung) gleich
besonders kraß zu liegen schien, leicht zu beantworten. Diese Kranken-
geschichte hat aber außerdem den Vorteil, Auskunft auch betreffs des
zweiten Problems zu geben und dadurch weiterzuführen. Unsere Patientin
hatte, soweit ihre (bewußte) Erinnerung zurückreicht, also seit dem Beginn
der Latenzjahre, einen außerordentlichen Stolz auf ihr Aussehen und auf
5 Körper entwickelt. Sie war natürlicherweise immer sehr auf Be
ı) $S. „Seelische eacen des Alterns, der Togandlichkeit und der Schönheit.“
Imago, Bd. XL, 1925.
1 —- .
Die ökonom. Beziehungen zwischen dem Schuldgefühl u. d. weibl. Narzißmus 177
Körpers an. Sie ging bei diesen Verrichtungen in der Wohnung nackt
herum, denn sie hatte nichts zu verbergen, sie empfand sich rein und
schön.! Die Mutter dagegen war inihren Augen häßlich und schmutzig
und mußte ihren Leib unter der vielen nachlässigen Kleidung verbergen.
Es stellte sich heraus, daß die Mutter „häßlich“ war, vor allem weil sie
menstruierte, also sinnlich-schmutzig war im Urteil des die Ödipuswünsche
verdrängenden Kindes.” Das kleine Mädchen hatte in seiner späteren Kind-
heit eine einzige Phase, in der essich vernachlässigte, sich um sein Äußeres
nicht, wie bis dahin, kümmerte. Für die Analyse erwies es sich, daß diese
Periode unmittelbar eingeleitet, d. h. verursacht wurde durch die Tatsache,
daß die Kleine einmal von der Mutter bei der Onanie ertappt und schwer
bestraft wurde. Sie tat da dasselbe, wie die Mutter, und mußte dafür sofort
so „häßlich“ werden wie diese. Früher dagegen, als sie selbst auf die
Befriedigung der spezifisch-weiblichen Wünsche (auf den Wunsch nach
dem Penis des Vaters, auf den Wunsch nach dem Kind, auf die sinnlich-
häßliche Befriedigung, die die Mutter empfing) verzichten konnte, durfte
sie sich rein, schön, bewunderns-, ja begehrenswert empfinden.3
Meine Damen und Herren! Ich möchte hier die Bemerkung nicht
unterdrücken, daß die aufgezeigte ökonomische Relation offenbar maßgebend
bleibt für die Objektbeziehungen, die sich aus der narzißtischen Libido-
position (nach dem Typus der narzißtischen Objektwahl) weiterhin ergeben.
Eine Frau kann etwa einen sonst nicht untadeligen Geschlechtsverkehr mit
einem nicht oder nicht tiefer geliebten Manne zulassen, weil er ihn so
sehr begehrt, — wobei er ja die Schuld oder einen Teil der’ Schuld auf
sich nimmt, — vor allem aber, weil sich dabei für sie selbst kein Genuß,
jedenfalls keine volle Befriedigung ergibt. Ebenso kann wohl die häufig
so maßlose, die Neigung zum Manne völlig in den Hintergrund drängende
Liebe der Mutter zum Kinde vielfach so üppig gedeihen, gerade ihres ziel-
gehemmten, vom Schuldgefühl nicht belasteten Charakters wegen.
Kehren wir aber zu dem uns beschäftigenden Hauptproblem zurück.
Es wäre ein leichtes, auch aus dem Material meines Falles den Nachweis
ı) Die Darstellung vernachlässigt absichtlich die Wiederkehr des Verdrängten und
die offenkundig statthabenden Beziehungen zu den Objekten; sie beschränkt sich auf
die Untersuchung des narzißtischen Verhaltens.
2) In den tieferen psychischen Schichten übernimmt alles Anale die Vertretung
für das Häßliche. Schön kann nur sein, was nicht an das anstößige oder anstößig
gewordene Anale erinnert.
3) Schwierigkeiten für unser Verständnis, oder vielleicht nur für die Darstellung
zeigen sich hier, wenn ich erwähne, daß die Masturbation des Mädchens schon längst
eine zwanghafte war und eigentlich die ganze Latenzzeit beherrschte. Nichtsdesto-
weniger ist es so, daß die erörterte Schuldreaktion sich erst einstellte, nachdem ihr
Tun entdeckt wurde.
178 J. Harnik
zu führen, daß der aus dem Untergang des Ödipuskomplexes resultierende
sekundäre Narzißmus der Frau in jeder Hinsicht ein Seitenstück zu ihrem
so gut studierten Männlichkeitskomplex bildet. Diesen hat Horney
gelegentlich als Erben des Ödipuskomplexes bezeichnet, da er seine letzte
Prägung gleichfalls durch das Ringen um die Erledigung des Ödipus-
komplexes erhält. Die narzißtische Besetzung des eigenen Körpers erscheint
aber für die Norm ichgerechter, weil sie sich der Grundtendenz des Ichs,
in der Richtung der Weiblichkeit zu vereinheitlichen, leichter unterordnet.
Diese Tatsache läßt daran denken, daß der weibliche Narzißmus eine
Fundierung haben muß, die tiefer hinunterreicht, ontogenetisch älter ist
als die Kämpfe um den Ödipuskomplex. Ich bin in der Lage, diese Behaup-
tung an einem bisher zurückgehaltenen Stück aus der mehrfach zitierten
Analyse meiner Patientin, bei der wohl diese Momente besonders gut zu
studieren waren, beweiskräftig zu illustrieren. Diese Frau hatte im Alter
von ungefähr vier Jahren einen schweren Ödipuskonflikt zu bestehen, der
für sie mit einer schmerzvollen Niederlage endete. Sie mußte einsehen,
daß sie gezwungen ist, auf den Besitz des Vaters zu verzichten. Die
betreffenden Vorgänge spielten sich in einem Seebade ab. Eine Erinnerung
aus dieser Zeit zeigte sie nun, wie sie, in einem Strandkorb sitzend, von
zwei jugendlichen Kavalieren getragen wurde und als allgemein anerkanntes
entzückendes Kindchen, nach allen Seiten hin winkend, sich vom Publikum
freudig bewundern ließ. Die Geschichte demonstriert nicht nur mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit den hier geschilderten Mechanismus, sie
zwingt förmlich die Erklärung auf, daß die libidinösen Energien einer
derartig fertigen, echten narzißtischen Weiblichkeit noch aus einer prä-
formierten Quelle fließen mußten.
Wir besinnen uns jetzt, dieses Reservoir kann nur die erhöhte narziß-
tische Besetzungsmenge bilden, die sich aus dem Kastrationskomplex, aus
dem Verzicht auf einen eigenen Penis ergab. Die zu Anfang unserer Aus-
führungen zitierte, gleichsam aus der psychobiologischen Tiefe geholte
Erkenntnis besteht weiterhin zu Recht und macht nun einige Ergänzungen
erforderlich. Die Verwandlung von Penislibido in narzißtische Körper-
besetzung, korrekter ausgedrückt, die rekompensatorische Ersetzung des
vermißten Gliedes durch Überbewertung der äußeren Erscheinung, muß
bereits in der frühesten Kindheit stattfinden. Das Weib ist somit von früh-
auf mehr auf das Körperganze und nicht in dem Maße genital zentriert
wie der Mann.! Mit einem Wort gesagt, die weibliche Eitelkeit, der Stolz
ı) Der Bruch in der Genitalorganisation der Frau ist übrigens eine der ersten Ein-
sichten der analytischen Sexualtheorie gewesen; auf ihn führte ja Freud die größere
Disposition des Weibes zur Hysterie zurück,
4
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Die ökonom. Beziehungen zwischen dem Schuldgefühl u. d. weibl. Narziömus 179
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auf Körperschönheit und Kleidung," gehört mit zu den „psychischen Folgen
des anatomischen Geschlechtsunterschiedes“, auf die uns Freud aufmerk-
sam gemacht hat.” Andererseits können diese Feststellungen als mittel-
bare Bestätigungen der Freudschen Aufstellung über die Herkunft der
Weiblichkeit und des weiblichen Ödipuskomplexes in Anspruch genommen
werden. Unsere Ergebnisse zusammenfassend: Das spätere, von uns heute
ins Auge gefaßte narzißtische Verhalten der Frau verdankt seine Genese
und seine Stärke einem Regressionsvorgang, einer regressiven Verstärkung
des frühen Narzißmus. Der frühe Narzißmus des Mädchens bildet den
Fixierungspunkt, auf den die aus den Enttäuschungen und Versagungen
des Ödipuskomplexes zurückströmende Libido regrediert.
Zum Schlusse mag die Vermutung erwähnt werden, daß bestimmte
Charaktere des weiblichen Über-Ichs letzten Endes auch auf diese Zusammen-
hänge zurückzuführen sein werden. Freud hat bekamntlich in der
eben erwähnten Arbeit hervorgehoben, daß das Über-Ich der Frau niemals
so unpersönlich, so konsequent, man könnte sagen, so intransigent wird,
wie dasjenige des Mannes, und leitete diese Verschiedenheiten aus den
Abweichungen in der Entstehungsgeschichte der beiden ab.5 Aus unseren
entwicklungsgeschichtlichen Erörterungen wäre zu folgern, daß das weibliche
Über-Ich — ökonomisch gedacht — nicht mit so großen narzißtischen
Libidoquantitäten besetzt werden kann wie beim Manne, da ausgiebige
Beträge dieser Libido seit jeher am Ich haften geblieben sind. Hiefür
spricht wohl auch der Umstand, daß die positiven Erfüllungen aus dem
Ichideal für die Frau nicht die hervorragende Bedeutung haben, wie für
den Mann.* Man könnte fragen, wie diese Ansicht mit der stärkeren Ver-
drängungsneigung, mit der größeren Versagungstendenz der Frau — wovon
ja der hier geschilderte Fall auch ein deutliches Bild gegeben hat — ın
Einklang zu bringen sei. Vielleicht ist es so, daß auch ein lockerer
organisiertes Über-Ich leichtes Spiel hat dem kastrierten Wesen gegenüber.
ı) Die Kleidung kommt zu dieser wichtigen Rolle dadurch, daß sie dazu dient,
die Blößen zu verdecken, d.h. den Penismangel unsichtbar zu machen; die libidinöse
Besetzung, die ursprünglich dem ersehnten Penis galt, strömt gewissermaßen teil:
weise auf die Kleidung über.
2) Diese Zeitschrift, Bd. Äl. (1925).
7) Diese Zschr., Bd. XI, 1925, S. 409.
4) Es sei hier zugegeben, daß obiger Satz eine weitgehende Schematisierung
enthält und den von Freud (loc. cit.) erwähnten Vorbehalten unterliegt. Doch ist
solch isolierte Verfolgung seelischer Differenzierungen unerläßlich, wenn man Unter-
schiede, die vorhanden sind, wahrnehmen will.
Über Charakteranalyse'
Von
Wilhelm Reich
Wien
| l
Unsere Patienten sind selten von vornherein analysefähig, die wenigsten
sind geneigt, die Grundregel zu befolgen und sich dem Analytiker völlig
zu eröffnen. Abgesehen davon, daß sie ihm als einem Fremden nicht
sofort das nötige Vertrauen entgegenbringen können, haben jahrelange
Krankheit, dauernde Beeinflussung durch ein neurotisches Milieu, schlechte
Erfahrungen mit den Nervenärzten, kurz, die gesamte sekundäre Verzerrung
des Ichs eine Situation geschaffen, die der Analyse entgegentritt. Die
Beseitigung dieser Schwierigkeit wird eine Vorbedingung der Analyse und
ginge wohl leicht vonstatten, wenn sie nicht unterstützt würde durch
die Eigenart, wir dürfen ruhig sagen: den Charakter des Kranken, der
selbst zur Neurose gehört und sich auf neurotischer Basis entwickelt hat.
Es gibt nun prinzipiell zwei Wege, diesen Schwierigkeiten, insbesondere
der Auflehnung gegen die Grundregel, beizukommen. Der eine, wie mir
scheint gewöhnlich geübte, ist die direkte Erziehung zur Analyse durch
Belehrung, Beruhigung, Aufforderung, Ermahnung, Zureden und ähnliches
mehr. In diesem Falle trachtet man durch Herstellung einer entsprechenden
positiven Übertragung den Patienten im Sinne der analytischen Aufrichtigkeit
zu beeinflussen. Gehäufte Erfahrungen haben aber gelehrt, daß dieser
erzieherische oder aktive Weg sehr unsicher ist, von unbeherrschbaren
Zufälligkeiten abhängt und der sicheren Basis der analytischen Klarheit
entbehrt; man ist allzusehr den Schwankungen der Übertragung ausgesetzt
und bewegt sich mit seinen Versuchen, den Patienten analysefähig zu
machen, auf unsicherem Terrain.
ı) Nach einem Vortrag am X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in
Innsbruck im September ı927. (Diese Arbeit ist ein Auszug aus einer in Vorbereitung
begriffenen Broschüre über Charakteranalyse, die die theoretischen Grundlagen der
Technik der Charakteranalyse ausführlich behandelt.)
U ee a > = Bü m lo
Über Charakteranalyse 181
Der andere Weg ist umständlicher, derzeit auch noch nicht bei allen
Patienten gangbar, aber weitaus sicherer; er besteht darin, daß man
versucht, die erzieherischen Maßnahmen durch analytische
Deutungen zu ersetzen. Das ist ja gewiß nicht immer möglich,
bleibt aber das ideale Ziel der analytischen Bemühungen. Statt also den
Patienten durch Zureden, Ratschläge, Übertragungsmanöver usw. zur
Analyse zu bringen, wird in mehr passiver Haltung das Hauptaugenmerk
der Frage zugewendet, welchen aktuellen Sinn das Benehmen des
Kranken hat, warum er zweifelt, zu spät kommt, hochtrabend oder
verworren spricht, nur jeden dritten Gedanken mitteilt, die Analyse
kritisiert oder ungewöhnlich viel und tiefes Material bringt. Man kann
also etwa einen narzißtischen, hochtrabend in zerminis technicis sprechenden
Patienten entweder zu überzeugen versuchen, daß sein Gehaben der Analyse
schädlich sei und er besser daran täte, es sich abzugewöhnen, keine
termina zu gebrauchen, seine Abgeschlossenheit aufzugeben, weil sie der
Analyse im Wege stehe; oder man verzichtet auf jede Überredung und
wartet, bis man versteht, warum sich der Patient so und nicht anders
benimmt. Man wird dann vielleicht erraten, daß er ein Minderwertigkeits-
gefühl vor dem Analytiker auf diese Weise kompensiert, und ihn durch
konsequente Deutung des Sinnes dieses Verhaltens beeinflussen. Die zweite
Maßnahme entspricht im Gegensatz zur ersten ganz dem analytischen
Prinzip.
Aus diesem Bestreben, womöglich alle durch die Eigenart des Patienten
notwendig werdenden erzieherischen oder sonstigen aktiven Maßnahmen
durch reine analytische Deutung zu ersetzen, ergab sich ungesucht und
unerwartet ein Weg zur Analyse des Charakters.
Die Grundlage der Charakteranalyse war gegeben, als Freud die
bekannte kardinale Änderung der analytischen Technik vornahm, indem
er an Stelle der bis dahin geübten unvorbereiteten Deutung des Symptom-
sinnes die Beseitigung der Widerstände zur analytischen Hauptaufgabe
machte. Jene Technik wird heute nur noch von Stekel und seinen
Anhängern ausgeübt. Die Technik der Widerstandsanalyse in der heute
so weit entwickelten Form verdient die Bezeichnung Charakteranalyse
bereits mit vollem Recht. Warum aber dann diese neue Bezeichnung,
wenn uns die andere: „Widerstandsanalyse“ gewohnter ist? Dieser Einwand
verdiente sehr, beachtet zu werden, wenn uns nicht ein besonderer Umstand
zwänge, für die Bezeichnung „Charakteranalyse“ einzutreten.
Gewisse klinische Rücksichten nötigen uns, unter den Widerständen,
denen wir bei der Behandlung unserer Kranken begegnen, eine besondere
Gruppe als „Charakterwiderstände" zu unterscheiden, Sie
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182 Wilhelm Reich
erhalten ihr besonderes Gepräge nicht durch ihren
Inhalt, sondern von der spezifischen Wesensart des
Analysierten. Der Zwangscharakter entwickelt formal spezifisch andere
Widerstände als der hysterische Charakter, dieser wieder andere als der
genital-narzißtische, triebhafte oder neurasthenische Charakter. Die Form
der Reaktionen des Ichs, die je nach dem Charakter bei gleich-
bleibenden Erlebnisinhalten verschieden ist, läßt sich ebenso auf
kindliche Erlebnisse zurückführen wie der Inhalt der
Symptome und Phantasien.
II
Woher stammen die Charakterwiderstände ?
In jüngster Zeit hat sich Glover um die Unterscheidung von Charakter-
neurosen und Symptomneurosen bemüht. Auch Alexander operiert auf
der Basis dieser Unterscheidung; ich bin ihr in früheren Arbeiten gefolgt,
aber beim genauen Vergleich der Fälle ergab sich, daß diese Unterscheidung
nur insofern Sinn hat, als es Neurosen mit umschriebenen Symptomen und
Neurosen ohne solche gibt: jene wurden dann „Symptomneurosen“, diese
„Charakterneurosen“ genannt; bei jenen fallen begreiflicherweise die
Symptome mehr auf, bei diesen die neurotischen Charakterzüge. Aber gibt
es denn Symptome ohne eine neurotische Reaktionsbasis, mit anderen
Worten, ohne einen neurotischen Charakter ? Der Unterschied zwischen den
Charakter- und den Symptomneurosen ist nur der, daß bei diesen der
neurotische Charakter auch noch Symptome produzierte, sich sozusagen in
solchen konzentriert hat. Daß der neurotische Charakter das eine Mal in
umschriebenen Symptomen exazerbiert, das andere Mal andere Wege zur
Entlastung von der Libidostauung findet, bedarf noch eingehender Unter-
suchung. Erkennt man aber den Tatbestand an, daß die Grundlage der
Symptomneurose immer ein neurotischer Charakter bildet, so ist auch klar,
daß wir in jeder Analyse mit charakterneurotischen Widerständen zu tun
haben; die einzelnen Analysen werden sich nur durch die verschiedene
Bedeutung unterscheiden, die man der Charakteranalyse im Einzelfalle bei-
messen muß. Ein Rückblick auf die analytischen Erfahrungen warnt aber
davor, diese Bedeutung in irgend einem Falle zu unterschätzen.
Vom Standpunkt der Charakteranalyse verliert die Unterscheidung von
Neurosen, die chronisch sind, das heißt seit der Kindheit bestehen, und
solchen, die akut sind, also spät auftraten, jede Bedeutung; denn es ist
nicht so bedeutungsvoll, ob die Symptome früh oder spät aufgetreten sind,
als daß der neurotische Charakter, die Reaktionsbasis für die Symptom-
Über Charakteranalyse 183
neurose, sich wenigstens in den Grundzügen bereits mit dem Abschluß der
Ödipusphase gebildet hat. Ich erinnere bloß an die klinische Erfahrung,
daß sich die Grenze, die der Patient zwischen Gesundheit und Krankheits-
ausbruch zieht, in der Analyse stets verwischt.
Da uns die Symptombildung als deskriptives Unterscheidungsmerkmal
im Stiche läßt, müssen wir uns nach anderen umsehen. Als solche kommen
in erster Linie die Krankheitseinsicht und die Rationalisie-
rungen in Betracht.
Fehlende Krankheitseinsicht ist zwar kein absolut verläb-
liches, aber doch ein wesentliches Zeichen der Charakterneurose. Das
neurotische Symptom wird als Fremdkörper empfunden und erzeugt ein
Krankheitsgefühl. Der neurotische Charakterzug hingegen, etwa der über-
triebene Ordnungssinn des Zwangscharakters oder die ängstliche Scheu des
hysterischen Charakters, ist in die Persönlichkeit organisch eingebaut. Man
beklagt sich vielleicht darüber, daß man scheu ist, aber man fühlt sich
deshalb nicht krank. Erst wenn sich die charakterologische Scheu zum
krankhaften Erröten, oder wenn sich der zwangsneurotische Ordnungssinn
zum Zwangszeremoniell steigert, wenn also der neurotische Charakter
symptomatisch exazerbiert, fühlt man sich krank.
Freilich, es gibt auch Symptome, für die keine oder nur geringe
Krankheitseinsicht besteht und die vom Kranken wie schlimme Gewohn-
heiten oder hinzunehmende Gegebenheiten betrachtet werden (z. B.
chronische Obstipation, leichte ejaculatio praecox) ; manche Charakterzuge
wieder werden gelegentlich als krankhaft empfunden, wie etwa heftige
Zornausbrüche, die einen überrumpeln, oder krasse Unordentlichkeit, Neigung
zum Lügen, Trinken, Geldausgeben und ähnliches mehr. Trotzdem empfiehlt
sich die Krankheitseinsicht als wesentliches Kriterium des neurotischen
Symptoms, ihr Fehlen als Kennzeichen des neurotischen Charakterzuges.
Der zweite praktisch wichtige Unterschied besteht darin, daß die Symptome
niemals so vollständige und glaubwürdige Rationalisierungen auf
weisen wie der neurotische Charakter. Weder das hysterische Erbrechen
oder die Abasie, noch das Zwangszählen oder Zwangsdenken lassen sich
vationalisieren. Das Symptom erscheint sinnlos, während der neurotische
Charakter rational genügend motiviert ist, um nicht krankhaft oder sinnlos
zu erscheinen.
Ferner gibt es für neurotische Charakterzüge eine Begründung, die sofort
als absurd abgelehnt würde, wenn man sie für Symptome verwendete;
es heißt oft: „Es ist halt so.“ Dieses „ist halt so“ will besagen, da
Betreffende sei so geboren, das ließe sich nicht ändern, das sei „halt“ sein
Charakter. Und doch ist diese Auskunft unrichtig, denn die Analyse der
Wilhelm Reich
184
gun _ 2m en
Entwicklung zeigt, daß der Charakter aus bestimmten Gründen so und
nicht anderes werden mußte, er ist also prinzipiell ebenso wie das Symptom
analysierbar und änderbar.
Gelegentlich haben sich Symptome im Laufe der Zeit derart in die
Gesamtpersönlichkeit eingenistet, daß sie Charakterzügen ähnlich werden.
So etwa, wenn sich ein Zwangszählen nur im Rahmen des Ordnungs-
strebens auswirkt oder ein Zwangssystem sich der Tageseinteilung bedient;
das gilt besonders für den Arbeitszwang. Solche Verhaltungsweisen gelten
dann mehr für absonderlich, übertrieben als für krankhaft. Wir sehen also,
daß der Krankheitsbegriff ein durchaus fließender ist, daß es vom Symptom
als isoliertem Fremdkörper über den neurotischen Charakterzug und die
„üble Gewohnheit“ bis zum realitätstüchtigen Handeln alle Übergänge
gibt; da wir aber mit diesen Übergängen nichts anfangen können, empfiehlt
sich die Unterscheidung zwischen Symptom und neurotischem Charakter
auch hinsichtlich der Rationalisierungen, trotz des Künstlichen aller Ein-
teilung.
Unter diesem Vorbehalt fällt uns noch ein Unterschied im Aufbau des
Symptoms und des neurotischen Charakterzuges auf. Bei der analytischen
Zergliederung zeigt es sich, daß das Symptom, was seinen Sinn und seine
Herkunft anlangt, im Vergleich zum Charakterzug sehr einfach gebaut ist.
Gewiß, auch das Symptom ist überdeterminiert; aber je tiefer wir in seine
Begründungen eindringen, desto mehr entfernen wir uns aus dem eigent-
lichen Symptombereich, desto reiner tritt die charakterologische Grundlage
zutage. So kann man — theoretisch — von jedem Symptom aus die
charakterologische Reaktionsbasis entwickeln. Das Symptom ist unmittelbar
nur von einer begrenzten Zahl unbewußter Haltungen begründet; das
hysterische Erbrechen hat etwa einen verdrängten Fellatio- und einen
Kindeswunsch zur Grundlage. Beide wirken sich auch charakterologisch
aus, jener in einer gewissen Kindlichkeit, dieser in einer mütterlichen
Haltung ; aber der das hysterische Symptom begründende hysterische Charakter
ruht auf einer Vielheit — zum großen Teil antagonistischer — Strebungen
und drückt sich meist in einer spezifischen Haltung oder Wesens-
art aus. Die Haltung läßt sich lange nicht so einfach zerlegen wie das
Symptom, ist aber prinzipiell ebenso wie dieses aus Trieben und Erleb-
nissen abzuleiten und zu verstehen. Während das Symptom nur einem
bestimmten Erlebnis, einem umgrenzten Wollen entspricht, stellt der
Charakter, die spezifische Wesensart eines Menschen, einen Ausdruck der
gesamten Vergangenheit dar. Ein Symptom kann daher auch ganz plötzlich
entstehen, während jeder einzelne Charakterzug viele Jahre zu seiner Aus-
bildung braucht. Dabei vergessen wir aber nicht, daß auch das Symptom
? Über Charakteranalyse 185
nicht hätte plötzlich entstehen können, wenn seine charakterologische, bzw.
neurotische Reaktionsbasis nicht bereits vorhanden gewesen wäre,
Die Gesamtheit der neurotischen Charakterzüge erweistsich nun in der Ana-
lyse als kompakter Schutzmechanismus gegen unsere therapeutischen
Bemuanngen, und wenn wir die Entstehung dieses charakterologischen
„Panzers“ analytisch verfolgen, zeigt es sich, daß er auch eine bestimmte ökono-
mische Aufgabe hat: Er dient nämlich einerseits dem Schutze gegen die Reize
der Außenwelt, andererseits erweist er sich als ein Mittel, der aus dem
Es ständig vordrängenden Libido Herr zu werden, indem in den neurotischen
Reaktionsbildungen, Kompensationen und so weiter libidinöse und sadi-
stische Energien aufgezehrt werden. In den Prozessen, die der Bildung
und der Erhaltung dieses Panzers zugrunde liegen, wird ständig Angst
gebunden, in der gleichen Weise, wie etwa nach der Beschreibung Freuds
Angst in den Zwangssymptomen gebunden wird. Da aber die Mittel, die
der neurotische Charakter verwendet, um die Angst zu binden, wie etwa
die Reaktionsbildung und die prägenitale Befriedigung, auf die Dauer nicht
ausreichen, kommt es schließlich zu einem Durchbruch der überschüssigen
Angst, beziehungsweise der gestauten Libido, und jetzt setzt die Symptom-
bildung ein als Zeichen der Bestrebung des Ichs, auch dieses Überschusses
Herr zu werden. So erklärt sich das Symptom auch ökonomisch als Aus-
druck einer Exazerbation des neurotischen Charakters.
Da der neurotische Charakter in seiner ökonomischen Funktion als
schützender Panzer ein gewisses, wenn auch neurotisches Gleich-
gewicht hergestellt hat, bedeutet die Analyse eine Gefahr für dieses
Gleichgewicht. Von diesem narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs
gehen daher die Widerstände aus, die der Analyse des Einzelfalles ihr
besonderes Gepräge verleihen. Wenn sich aber die Verhaltungsweise als
ein analysier- und auflösbares Resultat der gesamten Entwicklung darstellt,
so haben wir auch die Möglichkeit, die Technik der Charakteranalyse
daraus abzuleiten.
II
Zur Technik der Analyse des Charakterwiderstandes
Neben den Träumen, den Einfällen, den Fehlleistungen, den übrigen
Mitteilungen der Patienten verdienen ihre Haltungen, das heißt die Art
und Weise, wie sie ihre Träume erzählen, Fehlleistungen begehen, Ein-
fälle bringen und Mitteilungen machen, besondere Beachtung. Die Befolgung
der Grundregel ist ein seltenes Kuriosum, und es bedarf monatelanger
charakteranalytischer Arbeit, um den Patienten zu einem halbwegs aus-
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV/z 13
186 Wilhelm Reic
Zn =
reichenden Maß an Aufrichtigkeit zu bringen. Die Art des Patienten, zu
sprechen, den Analytiker anzusehen und zu begrüßen, auf dem Sofa zu liegen,
der Tonfall der Stimme, das Maß an konventioneller Höflichkeit, das
eingehalten wird, und so weiter, sind wertvolle Anhaltspunkte für die
Beurteilung der geheimen Widerstände, die der Patient der Grundregel
entgegensetzt, und ihr Verständnis ist das wichtigste Mittel, sie durch Deutung
zu beseitigen. Das „Wie“ steht als zu deutendes „Material“ gleichberechtigt
neben dem, was der Patient sagt. Man hört oft Analytiker klagen, die
Analyse gehe nicht, der Patient bringe kein „Material“. Darunter wird
gewöhnlich nur der Inhalt der Einfälle und Mitteilungen verstanden. Aber
die Art des Schweigens oder etwa der sterilen Wiederholungen ist ebenfalls
„Material“, das auszuwerten ist. Es gibt wohl kaum eine Situation, in der
der Patient „kein Material“ brächte, und wir müssen uns sagen, daß es
an uns liegt, wenn wir das Verhalten des Analysierten nicht als „Material“
auswerten können.
Daß auch das Benehmen und die Form der Mitteilungen analytische
Bedeutung haben, ist ja nichts Neues. Aber daß sie uns den Zugang zur
Analyse des Charakters in einer ganz bestimmten und relativ vollkommenen
Weise eröffnen, soll hier behandelt werden. Böse Erfahrungen, die man
bei der Analyse mancher neurotischer Charaktere macht, lehren, daß es
bei solchen Fällen zunächst immer mehr auf die Form als auf den
Inhalt der Mitteilungen ankommt. Wir erwähnen nur andeutungsweise
die geheimen Widerstände, die die affektlahmen, die „braven “ die über-
höflichen und korrekten Patienten produzieren, ferner die Kranken, die
stets eine täuschende positive Übertragung zeigen, oder gar die, die stürmisch
immer gleichartig Liebe fordern, diejenigen, die die Analyse spielerisch
auffassen, die stets „Gepanzerten“, die innerlich über alles und jeden
lächeln; man könnte beliebig fortfahren und ist daher auf die mühevolle
Arbeit vorbereitet, die aufzuwenden sein wird, um den unzähligen
individuellen technischen Problemen beizukommen.
Nehmen wir, vorläufig zum Zwecke alleemeiner Orientierung und um
das Wesenhafte der Charakteranalyse im Gegensatze zur Symptomanalyse
besser hervortreten zu lassen, zwei Vergleichspaare vor; wir hätten gleich-
zeitig in analytischer Behandlung zwei Männer mit ejaculatio praecox;
der eine wäre ein passiv-femininer, der andere ein phallisch-aggressiver
Charakter. Wir hätten ferner zwei Frauen etwa mit Eß-Störung in Behand-
lung; die eine wäre ein Zwangscharakter, die andere eine Hysterika.
Nehmen wir nun weiter an, daß die ejaculatio praecox der beiden
männlichen Patienten den gleichen unbewußten Sinn hat: Angst vor dem
in der Scheide des Weibes vermuteten (väterlichen) Phallus. Beide brächten
Über Charakteranalyse 187
nun in der Analyse auf Grund der Kastrationsangst, die das Symptom
begründet, eine negative Vaterübertragung zustande. Beide würden den
Analytiker (Vater) hassen, weil sie in ihm den lusteinschränkenden Feind
erblickten, und beide hätten den unbewußten Wunsch, ihn zu beseitigen.
In diesem Falle wird der phallisch-sadistische Charakter die Kastrationsgefahr
durch Beschimpfen, Herabsetzen und Drohungen abwehren, während der
passiv-feminine Charakter in dem gleichen Falle immer zutraulicher,
passiv-hingebender, freundlicher werden wird. Bei beiden ist der Charakter
zum Widerstand geworden: Jener wehrt die Gefahr aggressiv ab, dieser
geht ihr durch Opfer an persönlicher Haltung, durch täuschendes Wesen
und Hingabe aus dem Wege. Natürlich ist der Charakterwiderstand des
Passiv-Femininen gefährlicher, weil er mit geheimen Mitteln arbeitet: Er
bringt reichlich Material, erinnert infantile Erlebnisse, scheint sich glänzend
zu fügen — aber im Grunde täuscht er über einen geheimen Trotz und
Haß hinweg; er hat, solange er diese Haltung beibehält, gar nicht den
Mut, sein wahres Wesen zu zeigen. Geht man, ohne diese seine Art zu
beachten, nur auf das ein, was er bringt, so wird — erfahrungsgemäß —
keine analytische Bemühung oder Klärung seinen Zustand ändern. Er
wird vielleicht sogar seinen Haß gegen den Vater erinnern, aber er wird
ihn nicht erleben, wenn man ihm nicht in der Übertragung konsequent
den Sinn seiner täuschenden Haltung deutet, ehe man mit der tiefen
Deutung des Vaterhasses einsetzt. |
Beim zweiten Vergleichspaar wäre, so wollen wir annehmen, der Fall
einer akuten positiven Übertragung eingetreten. Der zentrale Gehalt dieser
positiven Übertragung wäre bei beiden der gleiche wie der des Symptoms,
nämlich eine orale Fellatiophantasie. Aus dieser inhaltlich gleichartigen
positiven Übertragung ergibt sich aber ein formal ganz verschiedener Über-
tragungswiderstand: Die Hysterika wird etwa ängstlich schweigen und
sich scheu benehmen, die Zwangsneurose wird trotzig schweigen oder
dem Analytiker ein kaltes, hochfahrendes Benehmen zeigen. Die Abwehr
der positiven Übertragung bedient sich verschiedener Mittel, hier der
Aggressivität, dort der Angst. Wir werden sagen, das Es habe bei beiden
den gleichen Wunsch übertragen, während das Ich verschieden abwehrt.
Und die Form dieser Abwehr wird bei beiden Patientinnen stets die gleiche
bleiben; diese Hysterika wird stets ängstlich, die zwangsneurotische Patientin
wird stets aggressiv abwehren, welcher Inhalt des Unbewußten immer im
Begriffe sein wird, durchzubrechen; das heißt, der Charakterwider-
stand bleibt bei ein und demselben Patienten stets gleich
und verschwindet erst mit den Wurzeln der Neurose.
Was folgt nun aus diesen Tatbeständen für die analytische Technik der
135
a
188 Wilhelm Reich
Charakteranalyse? Gibt es wesenhafte Unterschiede zwischen ihr und der
gewöhnlichen Widerstandsanalyse ?
Es gibt Unterschiede und sie betreffen
. a) die Auswahl bei der Reihenfolge des zu deutenden Materials,
5b) die Technik der Widerstandsdeutung selbst.
ad a) Wenn wir von „Auswahl des Materials“ sprechen, haben wir
einen wichtigen Einwand zu gewärtigen: Man wird sagen, jede. Auswahl
widerspreche den psychologischen Grundprinzipien, man habe dem Patienten
zu folgen, sich von ihm führen zu lassen und laufe bei jeder Auswahl
Gefahr, seinen eigenen Neigungen zu verfallen. Dazu ist zunächst zu
bemerken, daß es sich bei dieser Auswahl nicht etwa um Vernachlässigung
von analytischem Material handelt, sondern lediglich um die Wahrung
einer der Struktur der Neurose entsprechenden — gesetzmäßigen
Reihenfolge bei der Deutung. Alles Material kommt zur Deutung
dran, nur ist das eine Detail momentan wichtiger als ein anderes. Man
muß sich auch klar machen, daß der Analytiker immer auswählt, denn
man hat schon eine Auswahl getroffen, wenn man einen Traum nicht der
Reihe nach analysiert, sondern einzelne Details heraushebt. Man hat
natürlich auch parteiisch Auswahl getroffen, wenn man nur den Inhalt,
nicht aber die Form der Mitteilungen beachtet. Man ist also allein durch
die Tatsache, daß der Patient in der analytischen Situation Material ver-
schiedenster Art bringt, gezwungen, eine Auswahl des zu deutenden
Materials zu treffen; es kommt nur darauf an, daß man der analytischen
Situation entsprechend richtig auswähle. Man kann die Führung dem
Patienten nur in widerstandsfreien Phasen überlassen, auf seinen Geständnis-
zwang darf man sich nicht allzusehr verlassen; im allgemeinen neigen die
Patienten dazu, immer nur das harmloseste Material in den Vordergrund zu
schieben, was natürlich als Widerstand entlarvt wird.
Bei Patienten, die infolge einer besonderen Charakterentwicklung die
Grundregel konsequent nicht befolgen, wie überhaupt bei jedem charaktero-
logischen Hindernis der Analyse wird man genötigt sein, den ent-
sprechenden Charakterwiderstand ständig aus der Fülle
des Materials herauszuheben und analytisch durch
Deutung seines Sinnes zu bearbeiten, Das bedeutet natür-
lich nicht, daß man das übrige Material vernachlässigt oder nicht beachtet;
im Gegenteil, alles ist wertvoll und willkommen, was uns über den Sinn
und die Herkunft des störenden Charakterzuges Aufklärung gibt; man
schiebt nur die Zergliederung und vor allem die Deutung des Materials,
das nicht unmittelbar zum Übertragungswiderstand gehört, auf, bis der
Charakterwiderstand wenigstens in den Grundzügen verstanden und durch-
Über Charakteranalyse 189
brochen wurde. Welche Gefahren damit verbunden sind, bei unauf-
gelösten Charakterwiderständen tiefgehende Deutungen zu geben, habe ich
in meiner Arbeit „Zur Technik der Deutung und der Widerstandsanalyse“
klar zu machen versucht.
ad 2) Wir wollen uns nun einigen besonderen Fragen der charakter-
analytischen Technik zuwenden. Vor allem müssen wir einem drohenden
Mißverständnis vorbeugen. Wir sagten, die Charakteranalyse beginne mit
der Heraushebung und konsequenten Analyse des Charakterwiderstandes.
Das heißt nicht, daß man den Patienten etwa auffordert, nicht aggressiv
zu sein, nicht zu täuschen, nicht verworren zu sprechen, die Grundregel
zu befolgen und so weiter. Das wäre nicht nur unanalytisch, sondern vor
allem fruchtlos. Es kann nicht genug betont werden, daß das, was wir
hier beschreiben, mit Erziehung oder dergleichen nichts zu tun hat. Wir
legen uns bei der Charakteranalyse die Frage vor, warum der Patient
täuscht, verworren spricht, affektabgesperrt ist usw., versuchen sein Interesse
für seine Charaktereigenheiten zu wecken, um mit seiner Hilfe analytisch
deren Sinn und Herkunft aufzuklären. Wir heben also bloß den Charakter-
zug, von dem der kardinale Widerstand ausgeht, aus dem Niveau der
Persönlichkeit heraus, zeigen dem Patienten, wenn möglich, die ober-
flächlichen Beziehungen zwischen dem Charakter und den Symptomen,
überlassen es aber natürlich im übrigen ihm, ob er seine Erkenntnis auch
zur Änderung seines Charakters benützen will. Wir verfahren dabei prinzipiell
ja nicht anders als bei der Analyse eines Symptoms; bei der Charakter-
analyse kommt nur hinzu, daß wir den Charakterzug dem Patienten
wiederholt isoliert vorführen müssen, solange, bis er Distanz
gewonnen hat und sich dazu so einstellt wie etwa zu einem quälenden
Zwangssymptom. Denn durch die Distanzierung und Obj ektivierung des
neurotischen Charakters bekommt dieser etwas Fremdkörperhaftes, und
schließlich bildet sich auch eine Krankheitseinsicht heraus.
Bei dieser Distanzierung und Objektivierung des neurotischen Charakters
zeigt sich überraschenderweise, daß sich die Persönlichkeit — zunächst
vorübergehend — verändert, und zwar taucht bei fortschreitender Charakter-
analyse automatisch diejenige Triebkraft oder Wesensart unverhüllt auf,
aus der der Charakterwiderstand in der Übertragung hervorging. Um beim
Beispiel vom passiv-femininen Charakter zu bleiben: Je gründlicher der
Patient seine Neigung zur passiven Hingabe objektiviert, desto aggressiver
wird er. War doch sein feminines, täuschendes Wesen in der Hauptsache
eine energische Reaktion gegen verdrängte aggressive Impulse. Mit der
ı) Internat. Ztschr. f. PsA., Bd. XIII (1927).
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190 Wilhelm Reidı
Aggressivität stellt sich aber auch die infantile Kastrationsangst ein, die
seinerzeit die Wandlung vom Aggressiven zum Passiv-Femininen bedingte.
So gelangen wir mit der Analyse des Charakterwiderstandes direkt zum
Zentrum der Neurose, zum Ödipuskomplex.
Man darf sich aber keinen Illusionen hingeben; die Isolierung und
Objektivierung sowie die analytische Durcharbeitung eines solchen Charakter-
widerstandes brauchen gewöhnlich viele Monate, erfordern viel Mühe und
vor allem ausdauernde Geduld. Allerdings, wenn der Durchbruch einmal
gelungen ist, so pflegt von da ab die analytische Arbeit flott, getragen
von affektiven analytischen Erlebnissen, vorwärts zu schreiten. Läßt
man hingegen solche Charakterwiderstände unbearbeitet, geht man dem
Patienten bloß in seinem Materiale, ständig alle Inhalte deutend, nach, so
bilden sie mit der Zeit einen kaum mehr zu beseitigenden Ballast. Man
bekommt dann im Laufe der Zeit das sichere Gefühl, daß jede Inhaltsdeutung
verschwendet war, daß der Patient nicht aufhört, an allem zu zweifeln,
oder zum Scheine zu akzeptieren oder innerlich alles zu belächeln. In späteren
Stadien der Analyse, wenn die wesentlichsten Deutungen des Ödipuskomplexes
bereits gegeben wurden, steht man dem hilflos gegenüber, wenn mit der Auf-
räumung dieser Widerstände nicht gleich im Anfang begonnen wurde.
Ich habe bereits in meiner früher zitierten Arbeit den Einwand zu
widerlegen versucht, daß man Widerstände nicht angehen könne, ehe man
ihre infantile Determinierung kennt. Wesentlich ist, daß man zunächst
nur den aktuellen Sinn des Charakterwiderstandes durchschaut, wozu
man das infantile Material nicht immer benötigt. Dieses brauchen wir zur
Auflösung des Widerstandes. Begnügt man sich zunächst damit, den
Widerstand dem Patienten vorzuführen und seinen aktuellen Sinn zu
deuten, so stellt sich sehr bald auch das infantile Material dazu ein, mit
dessen Hilfe wir dann den Widerstand auch beseitigen können.
Wenn man eine bisher vernachlässigte Tatsache hervorhebt, ruft man
ungewollt den Eindruck hervor, als ob man dadurch das Übrige seiner
Bedeutung beraubte. Wenn wir hier die Analyse der Reaktions weise
so sehr betonen, so bedeutet das weder eine Vernachlässigung der Inhalte
noch eine Abänderung der bisherigen Technik; wir fügen nur etwas hinzu,
was bisher zu wenig beachtet wurde. Unsere Erfahrung lehrt, daß die
Analyse charakterologischer Widerstände allem anderen vorangestellt werden
muß; das heißt aber nicht, daß man etwa bis zu einem bestimmten
Datum nur den Charakterwiderstand analysiert, dann mit der Inhalts-
deutung beginnt. Die zwei Phasen, Widerstandsanalyse und Analyse der
frühinfantilen Erlebnisse, überdecken einander zum größten Teile; es handelt
sich lediglich um ein Überwiegen der Charakteranalyse im Beginne, das
Über Charakteranalyse | 191
heißt um „Erziehung zur Analyse durch Analyse“, während in späteren
Stadien der Hauptakzent auf das Inhaltliche und Infantile fällt. Das ist
aber gewiß keine starre Regel, sondern ergibt sich aus der Verhaltungs-
weise der einzelnen Patienten. Bei dem einen wird die Deutung des infantilen
Materials früher, beim anderen später einsetzen. Grundsätzlich betont muß
nur die Regel werden, tiefgehende analytische Deutungen auch bei an
sich klarem Material zu vermeiden, so lange die Patienten nicht reif sind,
sie zu verarbeiten. Das ist zwar nichts Neues, aber es kommt offenbar bei
der Verschiedenheit analytischer Arbeitsweisen sehr darauf an, was man
unter ‚reif zur analytischen Deutung“ versteht. Wir. werden dabei wohl
auch jene Inhalte unterscheiden müssen, die unmittelbar zum Charakter-
widerstand gehören, und die, die anderen Erlebnissphären angehören. Der
Normalfall ist der, daß der Analysand im Beginne zur Kenntnisnahme der
ersteren, nicht aber für die letzten reif ist. Im ganzen bedeutet ja unser
charakteranalytischer Versuch nichts anderes als das Streben, größtmögliche
Sicherheit bei der Vorbereitung der Analyse und bei der Deutung des
infantilen Materials zu gewinnen. Hier erwächst uns die wichtige Aufgabe,
die verschiedenen Formen der charakterologischen Übertragungswiderstände
zu studieren und systematisch zu beschreiben. Ihre Technik ergibt sich
dann von selbst aus ihrer Struktur.
IV
Deutung der Ich-Abwehr
Es ist nicht schwer, das, was wir hier als Charakteranalyse beschreiben,
in die Freudsche Theorie der Widerstandsbildung und -lösung einzu"
ordnen. Wir wissen, daß jeder Widerstand aus einer Es-Regung besteht,
welche abgewehrt wird, und aus einer Ich-Regung, welche abwehrt. Beide
Regungen sind unbewußt. Es steht nun bei der Deutung prinzipiell frei,
entweder die Es-Strebung oder die Ichstrebung zuerst zu deuten, Ein
Beispiel: Wenn sich eın homosexueller Widerstand in Form von Schweigen
gleich im Beginne einer Analyse einstellt, so kann man die Es-Strebung
angehen, indem man dem Patienten sagt, er beschäftige sich jetzt in zärt-
licher Absicht mit der Person des Analytikers; man hat ihm seine positive
Übertragung gedeutet, und wenn er nicht die Flucht ergreift, wird es lange
dauern, bis er sich mit dieser verpönten Vorstellung befreundet. Man muß
es daher vorziehen, die dem bewußten Ich näherliegende Seite des Wider-
standes, die Abwehr des Ichs, zuerst anzugehen, indem man dem
Patienten zunächst nur. sagt, er schweige, weil er „ausirgend einem
Grunde“ — also ohne Berührung der Es-Strebung — die Analyse ablehne,
192 | Wilhelm Reich
vermutlich weil sie ihm in irgend einer Hinsicht gefährlich geworden sei. -
Dort hat man die Es-Seite (in diesem Falle eine Liebesstrebung), hier die
Ichseite des Widerstandes, die Ablehnung, deutend angegriffen.
Bei diesem Vorgehen erfassen wir zugleich sowohl die negative
Übertragung, in die jede Abwehr schließlich ausläuft, als auch den Charakter,
den Panzer des Ichs. Ich habe an anderer Stelle klarzumachen versucht,
daß die oberflächliche, dem Bewußtsein nähere Schichte jedes Widerstandes
notwendigerweise eine negative Einstellung zum Analytiker sein muß,
gleichgültig, ob die abgewehrte Es-Strebung Haß oder Liebe ist, Das
Ich projiziert seine Abwehr gegen die Es-Strebung auf den Analytiker,
der gefährlich, ein Feind geworden ist, weil er durch die unangenehme
Grundregel Es-Strebungen provoziert und das neurotische Gleichgewicht
gestört hat. Das Ich bedient sich bei seiner Abwehr uralter Formen
ablehnender Haltungen; es ruft zu seinem Schutze in der Not Haßregungen
aus dem Es zu Hilfe, auch wenn es eine Liebesstrebung abzuwehren hat.
' Wenn wir also die Regel einhalten, Widerstände von der Ichseite
anzugehen, so lösen wir damit immer auch ein Stück negativer Übertragung,
einen Betrag an Haßaffekien, auf und entgehen dadurch der Gefahr, die
sehr oft vorzüglich versteckten destruktiven Tendenzen zu übersehen; gleich-
zeitig wird die positive Übertragung gefestigt. Der Patient begreift auch die
Ichdeutung leichter, weil sie sein bewußtes Empfinden bessertrifft als die
s-Deutung, und ist dadurch auf diese, die später folgt, besser vorbereitet.
Die Ichabwehr hat, welcher Art immer die verdrängte Es-Strebung
auch sei, stets die gleiche, dem Charakter der Persönlichkeit entsprechende
Form; und die gleiche Es-Strebung wird bei verschiedenen Fällen
verschieden abgewehrt. Wir lassen also den Charakter unangetastet, wenn
wir nur die Es-Strebung deuten, beziehen aber auch den neurotischen
Charakter in Analyse ein, wenn wir die Widerstände grundsätzlich von
der Abwehr, von der Ichseite, angehen. Dort sagen wir sofort, was der
Analysand abwehrt, hier aber machen wir ihm zuerst klar, daß er „etwas“
abwehrt, dann wie er es tut, welcher Mittel er sich dabei bedient
(Charakteranalyse), und erst zuletzt, wenn die Analyse des Widerstandes
genügend weit vorgeschritten ist, erfährt oder findet er selbst, wogegen
sich die Abwehr richtet. Auf diesem langen Umwege zur Deutung der
Es-Strebungen sind alle dazugehörigen Haltungen des Ichs analytisch
zerlegt worden und die große Gefahr, daß der Patient etwas zu früh
erfährt oder affektlos, unbeteiligt bleibt, ist ausgeschaltet.
Analysen, bei denen den Haltungen soviel analytische Aufmerksamkeit
geschenkt wird, dauern nicht weniger lang als andere; wir können uns
also nicht rühmen, einen Weg zur Abkürzung der analytischen Behandlung
il
Über Charakteranalyse "193
angegeben zu haben, aber Vergleiche haben gezeigt, daß sie geordneter
und zielsicherer verlaufen, ohne daß die theoretische Forschungsarbeit im
geringsten darunter litte. Man erfährt nur die wichtigen Ereignisse der
Kindheit später als sonst; das wird aber reichlich wett gemacht durch die
affektive Frische, mit der das infantile Material nach der analytischen
Bearbeitung der Charakterwiderstände hervorquillt.
Wir dürfen aber gewisse unangenehme Seiten der konsequenten
Charakteranalyse nicht unerwähnt lassen. Die Patienten werden von der
Analyse seelisch weitaus mehr belastet, sie leiden viel mehr, als wenn
man den Charakter unberücksichtigt läßt. Das hat zwar den Vorteil einer
Auslese: Wer es nicht aushält, hätte auch sonst keinen Erfolg erzielt, und
es ist besser, die Erfolglosigkeit stellt sich nach vier oder sechs Monaten
als nach zwei Jahren heraus. Gibt der Charakterwiderstand nicht nach,
so darf erfahrungsgemäß auf einen befriedigenden Erfolg nicht gerechnet
werden. Das gilt besonders für Fälle mit geheimen Widerständen. Über-
winden des Charakterwiderstandes heißt nicht, daß der Patient seinen
Charakter verändert hat; das ist natürlich erst nach der Analyse seiner
infantilen Quellen möglich. Er muß ihn bloß objektiviert und analytisches
Interesse an ihm gewonnen haben; ist es einmal so weit, dann ist ein
günstiger Fortgang der Analyse sehr wahrscheinlich.
V
Die Erschütterung des narzißtischen Schutzapparates
Wir sagten, der wesentlichste Unterschied zwischen der Analyse eines
Symptoms und der eines neurotischen Charakterzuges bestehe darin, daß.
jenes von vornherein isoliert und objektiviert ist, dieser hingegen in der
Analyse ständig herausgehoben werden muß, damit der Patient zu ihm die
gleiche Einstellung gewinne wie zum Symptom. Das geht nur selten leicht
vonstatten. Es gibt Patienten, die nur eine geringe Neigung zur Objek-
tivierung des Charakters zeigen; in solchen Fällen liegt die Furcht,
„mit sich selbst bekannt zu werden“, in verstärktem Maße vor. Geht es
doch um die Erschütterung des narzißtischen Schutzmechanismus, um die
Herausarbeitung der Libido-Angst, die in ihm gebunden ist. Wenn die
Deutung dieses Verhaltens keine Abhilfe schafft,. so ist man genötigt,
den Analysanden vor die Alternative zu stellen, entweder die Analyse
aufzugeben oder aber sich einverstanden zu erklären, daß der Analytiker
an seiner Stelle den fraglichen Charakterzug ständig hervorhebt, was mit
der Zeit sehr unangenehm für den Patienten wird.
Wenn etwa ein Patient stets affektlos und gleichgültig bleibt, was immer
U U m 7/7), a EESEEIEREEEEREEEEE
194 Wilhelm Reich
er an Material vorbringt, so hat man mit der gefährlichen Affektsperre
zu tun, deren Analyse man allem anderen voranstellen muß, wenn man
nicht riskieren will, daß alles Material und die Deutungen alfektlos ver-
puffen und der Kranke zwar ein guter analytischer Theoretiker wird, aber
im übrigen der Alte bleibt. Zieht man es in einem solchen Falle nicht
vor, die Analyse wegen des „starken Narzißmus“ aufzugeben, so kann man
mit dem Patienten den Vertrag schließen, daß man ihm seine Affekt-
lahmheit ständig vor Augen führen wird, daß er aber natürlich jederzeit
aufgeben könne. Im Laufe der Zeit — es dauert erfahrungsgemäß viele
Monate (in einem Falle währte es sogar eineinhalb Jahre) — empfindet
der Kranke das ständige Hervorheben seiner Affektlahmheit und ihrer
Gründe als lästig; denn man hat allmählich genügende Anhaltspunkte
gewonnen, um den Angstschutz, den die Affektsperre darstellt, zu unter-
graben. Der Kranke empört sich schließlich gegen die nunmehr von der
Analyse drohende Gefahr, die Schutzinstitution des seelischen Panzers zu
verlieren und seinen Trieben, insbesondere seiner Aggressivität, ausgeliefert
zu sein; aber indem er sich gegen die „Schikane“ empört, erwacht auch
seine Aggressivität, und es dauert dann nicht lange, bis der erste Affekt-
ausbruch im Sinne einer negativen Übertragung, in Form eines Haßanfalles
erfolgt. Ist es einmal so weit, ist das Spiel gewonnen. Sind die aggressiven
Impulse zum Vorschein gekommen, so ist die Affektsperre durchbrochen
und der Patient wird analysierbar. Die Analyse verläuft dann in gewohnten
„ Bahnen. Die Schwierigkeit besteht darin, die Aggressivität hervorzulocken.
Das Gleiche ist der Fall, wenn narzißtische Patienten zufolge ihrer
charakterologischen Eigenheit ihren Widerstand sprachlich ausleben ; sie
sprechen etwa hochtrabend, in terminis technicis, oder immer streng gewählt
oder verworren. Diese Art des Sprechens bildet eine undurchdringliche
Mauer, es kommt zu keinem echten Erleben, bis man die Art des Ausdrucks
selbst zum Gegenstand der Analyse macht. Auch hier bewirkt die konsegente
Deutung des Verhaltens eine Empörung des Narzißmus, denn der Patient
hört nicht gerne, daß er so gewählt, hochtrabend oder in terminis spreche,
um sein Minderwertigkeitsgefühl vor sich und dem Analytiker zu verbergen,
oder daß er verworren spreche, weil er besonders gescheit scheinen wolle,
seine Gedanken aber nicht in einfache Form bringen könne. Auf diese
Weise hat man das feste Terrain des neurotischen Charakters an einer
wesentlichen Stelle aufgelockert und einen Zugang zur infantilen Begründung
des Charakters und der Neurose geschaffen. Es genügt natürlich nicht,
daß man das eine oder andere Mal auf das Wesen des Widerstandes hin-
weist, sondern man muß ihn um so konsequenter deuten, je hartnäckiger
er ist. Analysiert man gleichzeitig die dadurch hervorgerufenen negativen
Über Charakteranalyse 195
Haltungen gegen den Analytiker, so besteht keine nennenswerte Gefahr,
daß der Patient die Behandlung abbricht.
In anderen Fällen wieder hat sich der Charakter als eine feste Schutz-
mauer gegen das Erlebnis der (infantilen) Angst aufgerichtet und in dieser
Funktion, wenn auch unter großer Einbuße an Lebensfreude, bewährt.
Kommt der Betreffende dann wegen irgend eines Symptoms in die analytische
Behandlung, so bewährt sich diese Schutzmauer auch in der Analyse
erfolgreich als Charakterwiderstand, und man sieht sehr bald ein, daß
nichts zu erreichen ist, ehe der charakterologische Panzer, der die infantile
Angst verdeckt und aufzehrt, zerstört ist. Das ist zum Beispiel der Fall
bei der moral insanity und bei manischen, narzißtisch-sadistischen Charak-
teren. Man ist in solchen Fällen oft vor die schwierige Frage gestellt, ob
das bestehende Symptom eine tiefgreifende Charakteranalyse rechtfertigt.
Denn man muß sich darüber klar sein, daß speziell bei Fällen mit relativ
guter charakterologischer Kompensation, wenn die Charakteranalyse die
Kompensation zerstört, vorübergehend ein Zustand geschaffen wird, der
einem Zusammenbruch des Ichs gleichkommt. Ja in manchen extremen
Fällen ist ein solcher Zusammenbruch unvermeidlich, ehe die neue realitäts-
tüchtige Ichstruktur sich entwickelt; wenn man sich auch sagen muß,
daß der Zusammenbruch früher oder später von selbst gekommen wäre, —
war doch die Entstehung eines Symptoms das erste Anzeichen dafür, — so
scheut man doch, wenn nicht dringende Indikation besteht, vor einem
Eingriff zurück, der mit einer großen Verantwortung verknüpft ist.
Es kann in diesem Zusammenhange auch nicht verhehlt werden, dab
die Charakteranalyse in jedem Falle, wo sie zur Anwendung kommt,
heftige Emotionen, ja oft gefährliche Situationen schafft, und daß man
technisch immer Herr der Situation sein muß. (Anfänger sollten daher den
Versuch einer konsequenten Charakteranalyse nicht unternehmen.) Eine
Zusammenstellung der diesbezüglichen analytischen Erfahrungen soll an
anderer Stelle vorgenommen werden. Vielleicht werden manche Analytiker
das Verfahren der Charakteranalyse aus diesem Grunde ablehnen; man
wird dann aber auch bei der analytischen Behandlung einer nicht geringen
Anzahl von Fällen auf keinen Erfolg rechnen dürfen. Manchen Neurosen
ist mit milden Mitteln eben nicht beizukommen. Die Mittel der Charakter-
analyse, die konsequente Hervorhebung des Charakterwiderstandes und die
hartnäckige Deutung seiner Formen, Wege und Motive sind ebenso mächtig
wie dem Patienten unangenehm. Das hat mit Erziehung nichts zu tun
und stellt ein streng analytisches Prinzip dar, Man tut aber gut daran,
den Patienten im Beginne auf alle voraussehbaren Schwierigkeiten und
Unannehmlichkeiten der Behandlung aufmerksam zu machen.
196 Wilhelm Reich 5
Inwieweit ist eine Änderung des Charakters in der Analyse überhaupt
nötig und in welchem Ausmaße ist sie zu erzielen ?
Auf die erste Frage gibt es prinzipiell nur die eine Antwort: Der
neurotische Charakter muß sich insoweit ändern, als er die charaktero-
logische Grundlage für neurotische Symptome abgibt, und insofern er
Störungen der Arbeits- und sexuellen Genußfähigkeit bedingt.
Die zweite Frage ist nur empirisch zu beantworten. Es hängt in jedem
Falle von einer Fülle von Faktoren ab, wie sehr sich der reale Erfolg
dem erwünschten nähert. Mit den heutigen Mitteln der Psychoanalyse
sind qualitative Änderungen des Charakters direkt nicht zu erzielen. Ein
/wangscharakter wird nie zum hysterischen, ein paranoider Charakter wird
nicht zum zwangsneurotischen, ein Choleriker wird nicht phlegmatisch
und ein Sanguiniker nicht melancholisch. Wohl aber lassen sich quanti-
tative Änderungen erzielen, die qualitativen gleichkommen, wenn sie ein
gewisses Maß erreichen. So steigert sich etwa die geringe feminine Haltung
der zwangsneurotischen Patientin während der Analyse immer mehr, bis
sie die Zeichen des hysterisch-femininen Wesens annimmt und die
männlich-aggressiven Haltungen werden geringer.
Dadurch wird der ganze Mensch in seinem Wesen „anders“, was
oft von Außenstehenden, die den Patienten selten sehen, eher bemerkt
wird als vom Analytiker. Der Befangene wurde freier, der Ängstliche
mutiger, der allzu Gewissenhafte wurde relativ skrupelloser, der Skrupellose
gewissenhafter; aber die gewisse undefinierbare „persönliche Note“ geht
nie verloren, sie schimmert durch alle Veränderungen hindurch durch.
Der früher übergewissenhafte Zwangscharakter wird etwa ein realitäts-
tüchtiger, gewissenhafter Arbeiter; der geheilte triebhafte Charakter wird
immer leichter handeln als jener; die geheilte „moral insanity“ wird das
Leben nie schwer nehmen und sich immer leicht fortbringen, während
der geheilte Zwangscharakter es wegen seiner Schwerfälligkeit stets schwer
haben wird. Aber diese Eigenschaften bleiben nach der gelungenen
Charakteranalyse in Grenzen, die die Bewegungsfreiheit im Leben nicht
so sehr einengen, daß die Arbeits- und sexuelle Genußfähigkeit darunter litte.
*
Man hat allen Grund, psychotherapeutischen Bestrebungen vorerst
mißtrauisch zu begegnen, auch den eigenen. Es sei der sachlichen Nach-
prüfung und Kritik vorbehalten, zu entscheiden, ob die Annahme berechtigt
ist, daß die systematische Charakteranalyse eine vielleicht nicht unwesentliche
Intensivierung unseres analytischen Könnens bedeutet.
Die Elastizität der psychoanalytischen Technik
Von
S. Ferenczi
Budapest!
Bemühungen, die Technik, die ich in meinen Psychoanalysen anzu-
wenden pflege, auch anderen zugänglich zu machen, brachten mich wieder-
holt auf das Thema des psychologischen Verständnisses überhaupt. Wäre
es wirklich wahr, was von so vielen behauptet wird, daß das Verständnis
für die Vorgänge im Seelenleben eines Dritten von einer besonderen
Fähigkeit abhängt, die man Menschenkenntnis nennt, die aber als solche
unerklärlich, daher unübertragbar sei, so wäre jede Bemühung, etwas von
dieser Technik anderen zu lehren, von vornherein aussichtslos. Zum Glück
ist es anders. Seit der Publikation von Freuds Ratschlägen zur psycho-
analytischen Technik besitzen wir die ersten Ansätze einer methodischen
Seelenuntersuchung. Jeder, der die Mühe nicht scheut, den Weisungen
des Meisters zu folgen, wird, auch wenn er kein psychologisches Genie
ist, bis zu ungeahnten Tiefen eines fremden, ob gesunden oder kranken
Seelenlebens eindringen können. Die Analyse der Fehlhandlungen des
Alltagslebens, der Träume, besonders aber der freien Assoziationen, wird
ihn. in den Stand setzen, so manches von seinen Nebenmenschen zu
erfahren, dessen Erfassen vorher vielleicht nur Ausnahmsmenschen möglich
war, Die Vorliebe der Menschen für das Wunderbare wird diese Um-
wandlung der Kunst der Menschenkenntnis in eine Art Handwerk mit
Mißvergnügen verfolgen. Insbesondere Künstler und Schriftsteller scheinen
dies als eine Art Eingriff in ihre Domäne zu betrachten und pflegen die
Psychoanalyse nach anfänglichem Interesse als eine sie wenig reizende mecha-
nische Arbeitsweise weit von sich zu weisen. Diese Antipathie nimmt uns kaum
wunder; die Wissenschaft ist ja eine fortschreitende Desillusionierung, sie setzt
an Stelle des Mystischen und Sonderbaren Erklärungen, immer und überall
dieselben unabwendbaren Gesetzmäßigkeiten, die in ihrer Einförmigkeit
1) Vortrag, gehalten in der Ungarländischen Psychoanalytischen Vereinigung
(Zyklus 1927/28).
a a a east
198 S. Ferenczi
leicht Langweile, in ihrer ehernen Zwangsläufigkeit Unlust hervor-
rufen. Zur teilweisen Beruhigung der Gemüter möge allerdings dienen,
daß es natürlich auch hier, wie in allen Handwerken, immer auch künst-
lerische Ausnahmen geben wird, von denen wir die Fortschritte und die
neuen Perspektiven erhoffen.
Vom praktischen Standpunkte gesehen, ist es aber ein unleugbarer
Fortschritt, daß die Analyse allmählich auch dem nur durchschnittlich
begabten Arzt und Gelehrten die Werkzeuge der feineren Menschen-
forschung in die Hand gibt. Es ist wie in der Chirurgie: vor der Ent-
deckung der Anästhesie und der Asepsis war es das Vorrecht einiger
weniger, die wundärztliche „Heilkunst“ auszuüben; nur diese konnten
„eito, tuto et Jucunde“ arbeiten. Wohl gibt es auch heute noch Künstler
der chirurgischen Technik, doch die Fortschritte ermöglichen all den
Tausenden von Durchschnittsärzten ihre nützliche, oft lebensrettende
Tätigkeit zu entfalten.
Allerdings sprach man auch außerhalb der Seelenanalyse von psychologischer
Technik; man verstand darunter die Meßmethoden der psychologischen
Laboratorien. Diese Art „Psychotechnik“ ist auch heute im Schwange,
sie mag auch für einzelne einfache praktische Aufgaben genügen. In der
Analyse handelt es sich um etwas viel Höheres: um die Erfassung der
Topik, Dynamik und Ökonomie des ganzen seelischen Betriebes, dies zwar
ohne die imponierende Apparatur der Laboratorien, doch mit stetig
wachsendem Anspruch auf Sicherheit und vor allem mit unvergleichlich
größerer Leistungsfähigkeit.
Immerhin gab und gibt es auch innerhalb der psychoanalytischen
Technik noch vieles, wovon man den Eindruck hatte, daß es sich dabei
um etwas Individuelles, mit Worten kaum Definierbares handle. Da war vor
allem der Umstand, daß der „persönlichen Gleichung“ bei dieser Arbeit
eine viel größere Wichtigkeit beizukommen schien, als wir sie in der
Wissenschaft auch sonst akzeptieren mußten. Freud selbst ließ in seinen
ersten Mitteilungen über die Technik die Möglichkeit offen, daß nebst
der seinen auch für andere Methoden der Arbeit in der Psychoanalyse
Spielraum zu gewähren sei. Diese seine Äußerung stammt allerdings aus
der Zeit vor der Herauskristallisierung der zweiten psychoanalytischen
Grundregel, der nämlich, daß jeder, der einen anderen analysieren
will, zuerst selber analysiert sein muß. Seit der Befolgung dieser Regel
schwindet immer mehr die Bedeutsamkeit der persönlichen Note des Analytikers.
Jeder, der gründlich analysiert wurde, der seine unvermeidlichen Schwächen
und Charaktereigenheiten voll zu erkennen und zu beherrschen gelernt
hat, wird bei der Betrachtung und der Behandlung desselben psychischen
Die Elastizität der psychoanalytischen Tedınik 199
Untersuchungsobjektes unvermeidlich zu denselben objektiven Feststellungen
gelangen und logischerweise dieselben taktischen und technischen Maß-
nahmen ergreifen. Ich habe tatsächlich die Empfindung, daß seit der
Einführung der zweiten Grundregel die Differenzen der analytischen
Technik im Schwinden begriffen sind.
Wenn man sich nun Rechenschaft über den noch immer ungelösten
Pest dieser persönlichen Gleichung zu geben versucht und wenn man in
der Lage ist, viele Schüler und Patienten zu sehen, die bereits von anderen
analysiert wurden, besonders aber, wenn man, wie ich, so viel mit den
Folgen eigener, früher begangener Mißgriffe zu kämpfen hatte, so maßt
man sich das Recht an, ein zusammenfassendes Urteil über die Mehrzahl
dieser Differenzen und Irrtümer zu fällen. Ich kam zur Überzeugung, daß
es vor allem eine Frage des psychologischen Taktes ist, wann und wie
man einem Analysierten etwas mitzuteilen, wann man das Material, das
einem geliefert wird, für zureichend erklären darf, um aus ihnen eine
Konsequenz zu ziehen; in welche Form die Mitteilung gegebenenfalls
gekleidet werden muß; wie man auf eine unerwartete oder verblüffende
Reaktion des Patienten reagieren darf; wann man schweigen und weitere
Assoziationen abwarten soll; wann das Schweigen ein unnützes Quälen des
Patienten ist, usw. Sie sehen, mit dem Worte „Takt“ gelang es mir nur,
die Unbestimmtheit in eine einfache und ansprechende Formel zu bringen.
Was ist überhaupt Takt? Die Antwort auf diese Frage fällt uns nicht
schwer. Takt ist Einfühlungsvermögen. Gelingt es uns mit
Hilfe unseres Wissens, das wir uns aus der Zergliederung vieler
menschlicher Seelen, vor allem aber aus der Zergliederung unseres Selbst
geholt haben, die möglichen oder wahrscheinlichen, aber ihm selbst noch
ungeahnten Assoziationen des Patienten zu vergegenwärtigen, so können
wir, da wir nicht, wie der Patient, mit Widerständen zu kämpfen haben,
nicht nur die zurückgehaltenen Gedanken des Patienten erraten, sondern
auch Tendenzen, die ihm unbewußt sind. Indem wir gleichzeitig
der Stärke des Widerstandes fortwährend gewärtig bleiben, wird es uns
nicht schwer fallen, die Entscheidung über die eventuelle Aktualität einer
Mitteilung und auch über die Form, in die sie gekleidet werden muß,
zu fällen. Diese Einfühlung wird uns davor hüten, den Widerstand des
Patienten unnötig oder unzeitgemäß zu reizen; das Leiden ganz zu ersparen,
ist allerdings auch der Psychoanalyse nicht gegeben, ja, ein Leid ertragen zu
lernen, ist eines der Haupterfolge der Psychoanalyse. Doch ein taktloses
Darauflosdrängen würde dem Patienten nur die unbewußt heiß ersehnte
Gelegenheit verschaffen, sich unserem Einflusse zu entziehen.
In ihrer Gesamtheit machen alle diese Vorsichtsmaßnahmen auf die
200 $. Ferenczi
Analysierten den Eindruck der Güte, auch wenn die Motive der Fein-
fühligkeit rein aus dem Intellektuellen des Analytikers stammen. In den
später folgenden Ausführungen werde ich aber auch diesen Eindruck des
Patienten in gewissem Sinne rechtfertigen müssen. Besteht doch im
Wesen kein Unterschied zwischen dem von uns geforderten Takt und der
moralischen Forderung, daß man keinem was antun soll, was man unter
den gleichen Verhältnissen selber nicht von anderen erfahren möchte.
Ich beeile mich, gleich hier einzufügen, daß die Fähigkeit zu dieser
Art „Güte“ bloß eine Seite des analytischen Verständnisses bedeutet. Bevor
sich der Arzt zu einer Mitteilung entschließt, muß er vorerst seine Libido
vom Patienten für einen Moment abziehen, die Situation kühl abwägen,
er darf sich also keinesfalls von seinen Gefühlen allein leiten lassen.
In den nun folgenden Sätzen will ich aphoristisch einzelne Beispiele
zur Illustrierung dieser allgemein gehaltenen Gesichtspunkte vorbringen.
*
Es ist zweckmäßig, die Analyse eher als einen Entwicklungsprozeß, der
sich vor unseren Augen abspielt, denn als das Werk eines Baumeisters
aufzufassen, der einen vorgefaßten Plan zu verwirklichen sucht. Man
lasse sich also unter keinen Umständen dazu verleiten, dem zu Analy-
sierenden mehr zu versprechen, als daß er, wenn er sich dem analytischen
Prozesse unterwirft, schließlich viel mehr von sich wissen und wenn er
bis zum Schlusse ausharrt, sich in erhöhtem Maße und mit richtigerer
Energieverteilung den unvermeidlichen Schwierigkeiten des Lebens wird
anpassen können. Man kann ihm allenfalls auch sagen, daß wir keine
bessere und gewiß keine radikalere Behandlung von psychoneurotischen
und Charakterschwierigkeiten kennen. Wir verheimlichen es vor ihm
durchaus nicht, daß es auch andere Methoden gibt, die viel raschere und
bestimmtere Aussichten auf Heilung versprechen, und sind eigentlich froh,
wenn uns dann die Patienten sagen, daß die bereits jahrelang suggestiv,
arbeitstherapeutisch oder mittels Methoden der Willensstärkung behandelt
worden sind; anderenfalls stellen wir es dem Patienten anheim, eine
dieser vielversprechenden Heilmethoden zu versuchen, bevor sie sich mit
uns einlassen. Den gewöhnlich erhobenen Einwand der Patienten aber,
daß sie an unserer Methode oder Theorie nicht glauben, lassen wir nicht
gelten. Wir erklären von vornherein, daß unsere Technik auf das unver-
diente Geschenk eines solchen antizipierten Vertrauens überhaupt ver-
‚zichtet; der Patient braucht uns nur dann zu glauben, wenn ihm die
Erfahrungen der Kur dazu berechtigen. Einen anderen Einwand, den
nämlich, daß wir auf diese Weise von vornherein jede Schuld am
Die Elastizität der psychoanalytishen Technik 201
eventuellen Mißlingen der Kur auf das Konto der Ungeduld des Patienten
setzen, können wir nicht entkräften und müssen es dem Patienten über-
lassen, ob er unter diesen schwierigen Bedingungen das Risiko der Kur
tragen will oder nicht. Sind diese Teilfragen nicht von vornherein in
diesem Sinne genau geregelt, so spielt man dem Widerstand der Patienten
die gefährlichsten Waffen in die Hand, die er früher oder später
gegen die Zwecke der Kur und gegen uns zu wenden nicht versäumen wird.
Man lasse sich dabei durch keine noch so erschreckende Frage von dieser
Basis abbringen. „Kann also die Kur auch zwei, drei, fünf, zehn Jahre
dauern?” wird mancher Patient mit sichtlicher Feindseligkeit fragen. „All
das ist möglich“ — werden wir ihm antworten. „Natürlich ist aber eine
zehnjährige Analyse praktisch gleichbedeutend mit einem Mißlingen der-
selben. Da wir in keinem Falle die Größe der zu überwindenden
Schwierigkeiten im vöraus abschätzen können, dürfen wir Ihnen nichts
Sicheres versprechen, und berufen uns nur darauf, daß in vielen Fällen
auch viel kürzere Zeiten genügen. Da Sie aber wahrscheinlich im Glauben
sind, daß Ärzte gerne günstige Prognosen stellen, da Sie ferner gewiß
schon manches Ungünstige über die Theorie und Technik der Psycho-
analyse gehört haben oder bald hören werden, ist es besser, wenn Sie,
von Ihrem Standpunkt aus, diese Kur als einen gewagten Versuch
betrachten, der Ihnen viel Mühe, Zeit und Geld kosten wird: Sie müssen
es also vom Grade ihres Leidens abhängig sein lassen, ob Sie trotz alledem
den Versuch mit uns machen wollen. Jedenfalls überlegen Sie sich genau,
bevor Sie anfangen, denn ein Beginnen ohne die ernste Absicht, auch
unvermeidlichen Verschlimmerungen zum Trotz auszuharren, wird Ihre
bisherigen Enttäuschungen nur um eine neue vermehren.“
Ich glaube, daß diese gewiß zu pessimistische Vorbereitung doch die
zweckmäßigere ist; jedenfalls entspricht sie der Forderung der „Einfühlungs-
regel“. Hinter der oft allzu laut zur Schau getragenen Glaubensseligkeit
der Patienten steckt nämlich fast immer eine starke Dosis Mißtrauen, das
der Kranke durch die von uns stürmisch geforderten Heilversprechungen
überschreien möchte. Charakteristisch ist z. B. die Frage, die oft an uns
gerichtet wird, auch nachdem wir uns etwa eine Stunde lang damit abge-
müht haben, dem Patienten beizubringen, daß wir im gegebenen Falle
eine Analyse für angezeigt halten: „Glauben Sie, Herr Doktor, daß mir
Ihre Kur auch wirklich helfen wird?“ Es wäre verfehlt, auf diese Frage
einfach mit einem „Ja“ zu antworten. Man sage lieber dem Patienten,
daß wir uns von einer neuerlichen Versicherung unsererseits nichts ver-
sprechen. Auch die noch so oft wiederholte Anpreisung der Kur kann in
Wirklichkeit den versteckten Verdacht des Patienten nicht aus der Welt
Int. Zeitschrift f. Psychoanalyse, XIV/a 14
[U
202 S. Ferenczi
schaffen, daß der Arzt ein Geschäftsmann ist, der seine Methode, d. h.
seine Ware, um jeden Preis an den Mann bringen will. Noch durch-
sichtiger ist der versteckte Unglaube, wenn der Patient etwa fragt: „Und
glauben Sie nicht, Herr Doktor, daß mir Ihre Methode auch schaden
kann?“ Gewöhnlich antworte ich mit der Gegenfrage: „Was ist Ihre
Beschäftigung?“ Die Antwort lautet etwa: „ich bin Architekt.“ „Nun,
was würden Sie jemandem antworten, der, nachdem Sie ihm den Plan
eines Neubaues vorlegten, Sie fragen würde, ob der Bau nicht zusammen-
stürzen wird?“ Gewöhnlich verstummen darauf die Forderungen nach
weiterer Versicherung, als Zeichen dessen, daß der Patient zur Einsicht
gekommen ist, daß man dem Fachmanne ein gewisses MaB von Vertrauen
bei jeder Art Arbeit kreditieren muß, wobei natürlich Enttäuschungen
nicht ausgeschlossen sind.
Es wird der Psychoanalyse oft vorgeworfen, daß sie sich auffällig viel
mit finanziellen Fragen beschäftigt. Ich glaube, immer noch viel zu wenig.
Auch der wohlhabendste Mensch gibt nur höchst ungern sein Geld an den
Arzt ab; etwas in uns scheint die ärztliche Hilfe, die tatsächlich in der
Kindheit zuerst von den Pflegepersonen geleistet wurde, als etwas uns selbst-
verständlich Zukommendes zu betrachten, und am Ende jeden Monats,
zur Zeit, wo die Patienten ihre Honorarrechnungen erhalten, löst sich
der Widerstand des Kranken nicht, bevor alles Versteckte oder unbewußt
rege gewordener Haß, Mißtrauen und Verdächtigung nochmals zur Sprache
gebracht wurde. Das charakteristischeste Beispiel für die Distanz zwischen
bewußter Opferwilligkeit und versteckter Unlust gab wohl jener Patient,
der am Beginn der ärztlichen Unterredung die Äußerung tat: „Herr
Doktor, wenn Sie mir helfen, schenke ich Ihnen mein ganzes Vermögen 1°
Der Arzt antwortete: „Ich begnüge mich mit dreißig Kronen per Stunde.“
„Ist das nicht etwas zu viel?“ war die unerwartete Antwort des Kranken.
Im Laufe der Analyse ist es gut, mit einem Auge stets nach ver-
steckten oder unbewußten Äußerungen des Unglaubens und der Ablehnung
zu spähen und sie dann schonungslos durchzusprechen. Es ist ja von
vornherein verständlich, daß der Widerstand des Patienten keine sich ihm
darbietende günstige Gelegenheit unbenützt läßt. Jeder Patient, ausnahms-
los, bemerkt die kleinsten Absonderlichkeiten im Benehmen, in der
äußeren Erscheinung, in der Sprechweise des Arztes, doch keiner ent-
schließt sich, ohne vorherige Aufmunterung, dazu, sie uns ins Gesicht zu
sagen, auch wenn er damit in gröblicher Weise gegen die analytische
Hauptgrundregel verstößt; es bleibt also nichts anderes übrig, als daß wir auf
Grund des eben vorausgegangenen Assoziationsmaterials immer’selber erraten,
wann etwa der Patient durch ein allzu lautes Nießen oder Nasenschneuzen
Die Elastizität der psychoanalytishen Tehnik 203
des Arztes in seinem ästhetischen Fühlen verletzt wurde, wann er an der
Form unseres Gesichtes Anstoß nahm oder unsere Statur mit anderen,
viel imposanteren vergleichen mußte. — Ich habe schon bei vielen anderen
Gelegenheiten darzustellen versucht, wie der Analytiker in der Kur oft
wochenlang sich zur Rolle des „Watschenmannes“ hergeben muß, an dem
der Patient seine Unlustaffekte ausprobiert. Wenn wir uns davor nicht nur nicht
hüten, sondern den allzu zaghaften Patienten dazu bei jeder sich darbietenden
Gelegenheit aufmuntern, so werden wir früher oder später den wohl-
verdienten Lohn unserer Geduld in der Form der sich meldenden positiven
Übertragung einheimsen. Jede Spur von Ärger oder Beleidigtsein seitens
des Arztes verlängert die Dauer der Widerstandsperiode; wenn aber der
Arzt sich nicht verteidigt, so wird der Patient des einseitigen Kampfes
allmählich müde; hat er sich genügend ausgetobt, so kann er nicht umhin,
auch die hinter der lauten Abwehr versteckten freundlichen Gefühle, wenn
auch mit Zaudern, zu bekennen, womit eventuell ein tieferes Eindringen
ins latente Material, insbesondere in jene infantilen Situationen ermög-
in cht wird, in denen die Grundlage zu gewissen maliziösen Charakterzügen
(gewöhnlich durch unverständige Erziehungspersonen) gelegt wurde.!
Nichts ist schädlicher in der Analyse, als das schulmeisterische oder
auch nur autoritative Auftreten des Arztes. Alle unsere Deutungen müssen
eher den Charakter eines Vorschlages, denn einer sicheren Behauptung
haben, und dies nicht nur, damit wir den Patienten nicht reizen, sondern
weil wir uns tatsächlich auch irren können. Das nach uralter Sitte des
Handelsmannes jeder Verrechnung angehängte Zeichen „S. E.“, (salvo errore)
d. h.: Irrtum vorbehalten, wäre auch bei jeder analytischen Deutung zu
erwähnen. Doch auch unser Vertrauen zu unseren Theorien darf nur ein
bedingtes sein, denn vielleicht handelt es sich im gegebenen Falle um die
berühmte Ausnahme von der Regel oder gar um die Notwendigkeit, an
der bisherigen Theorie etwas zu ändern. Es ist mir schon passiert, daß ein
ungebildeter, anscheinend ganz naiver Patient Einwände gegen meine
Erklärungen vorbrachte, die ich reflektorisch abzulehnen bereit war, doch
die bessere Überlegung zeigte mir, daß nicht ich, sondern der Patient im
Rechte war, ja, daß er mich mit seiner Einwendung zu einem viel
tieferen Erfassen des Gegenstandes im allgemeinen verhalf. Die
Bescheidenheit des Analytikers sei also nicht eine ein-
gelernte Pose, sondern der Ausdruck der Einsichtin die
Begrenztheit unseres Wissens. Nebenbei bemerkt, ist dies viel-
leicht der Punkt, an dem mit Hilfe des psychoanalytischen Hebels die
re EEE En
ı) S. dazu auch meinen Innsbrucker Kongreßvortrag „Das Problem der Beendigung
der Analysen“. Diese Zeitschr., Bd. XIII (1927).
14”
204 S. Ferenczi
Umwälzung in der bisherigen Einstellung des Arztes zum Patienten ein-
setzen wird. Man vergleiche nur mit unserer Einfühlungsregel die Über-
hebung, mit der bisher der allwissende und allvermögende Arzt sich dem
Kranken gegenüberzustellen pflegte.
Selbstverständlich meine ich nicht, daß der Analytiker überbescheiden
sei; er ist vollauf berechtigt, zu erwarten, daß sich in den allermeisten
Fällen früher oder später seine auf Erfahrung gestützte Deutung
bewahrheiten und der Patient sich vor den sich häufenden Beweisen
beugen wird. Jedenfalls aber muß man geduldig abwarten, bis die Ent-
scheidung vom Patienten gefällt wird; jede Ungeduld seitens des Arztes
kostet dem Patienten Zeit und Geld und dem Arzte eine Menge Arbeit,
die er sich ganz gut hätte ersparen können.
Ich akzeptiere den von einem Patienten geprägten Ausdruck von der
„Elastizität der analytischen Technik“. Man hat, wie ein elastisches Band,
den Tendenzen des Patienten nachzugeben, doch ohne den Zug in der
Richtung der eigenen Ansichten aufzugeben, so lange die Haltlosigkeit
der einen oder der anderen Position nicht voll erwiesen ist.
Keinesfalls darf man sich schämen, früher gemachte Irrtümer rück-
haltslos zu bekennen. Man vergesse nie, daß die Analyse kein Suggestiv-
verfahren ist, bei dem vor allem das Ansehen des Arztes und seine
Unfehlbarkeit zu wahren ist. Das einzige, worauf auch die Analyse
Anspruch erhebt, ist das Vertrauen zur Offenheit und Aufrichtigkeit des
Arztes, und diesem tut das offene Bekennen eines Irrtums keinen
Schaden an.
Die analytische Einstellung fordert vom Arzte nicht nur die strenge
Kontrolle des eigenen Narzißmus, sondern auch die scharfe Über-
wachung von Gefühlsreaktionen jeglicher Art. War man früher etwa
der Ansicht, daß ein allzu hoher Grad von „Antipathie“ eine Gegen-
anzeige gegen die Durchführung einer analytischen Kur abgeben kann, so
müssen wir nach tieferer Einsicht in die Verhältnisse eine solche Gegen-
ndikation von vornherein ausschließen und vom analysierten Analytiker
erwarten, daß seine Selbstkenntnis und Selbstkontrolle stärker ist, als daß
er sich vor Indiosynkrasien beugen müßte. Jene „antipathischen
Züge“ sind ja in den meisten Fällen nur Vorbauten, hinter denen sich
ganz andere Eigenschaften verstecken. Es hieße also dem Patienten auf-
zusitzen, ginge man auf solche Fallen ein; das Weggejagtwerden ist
oft der unbewußte Zweck des unausstehlichen Benehmens. Das Wissen um
diese Dinge befähigt uns, auch den unerquicklichsten oder abstoßendsten
Menschen in voller Überlegenheit als einen heilungsbedürftigen Patienten
zu betrachten und ihm, als solchem, sogar unsere Sympathie nicht zu ver-
|
Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 205
sagen. Diese mehr als christliche Demut zu erlernen, gehört zu den
schwersten Aufgaben der psychoanalytischen Praxis. Bringen wir sie aber
zustande, so mag uns die Korrektur auch in verzweifelten Fällen gelingen.
Ich muß nochmals betonen, daß auch hier nur die wirkliche Gefühls-
einstellung hilft, eine nur gemachte Pose wird vom scharfsinnigen
Patienten mit Leichtigkeit entlarvt.
Allmählich wird man dessen gewahr, wie kompliziert die psychische
Arbeitsleistung eines Analytikers eigentlich ist. Man hat die freien Assozia-
tionen des Patienten auf sich einwirken zu lassen; gleichzeitig läßt man seine
eigene Phantasie mit diesem Assoziationsmaterial spielen; zwischendurch
vergleicht man die neuen Verknüpfungen, die sich ergeben, mit früheren
Ergebnissen der Analyse, ohne auch nur für einen Moment die Rücksicht
und Kritik in bezug auf die eigenen Tendenzen außer acht zu lassen.
Man könnte förmlich von einem immerwährenden ÖOszillieren zwischen
Einfühlung, Selbstbeobachtung und Urteilsfällung sprechen. Dieses letztere
meldet sich von Zeit zu Zeit ganz spontan in Form eines Signals, das
man natürlich zunächst nur als solches wertet; erst auf Grund weiteren
Beweismaterials darf man sich endlich zu einer Deutung entschließen.
Mit Deutungen sparsam zu sein, überhaupt: nichts Überflüssiges zu
reden, ist eine der wichtigsten Regeln in der Analyse; der Deutungs-
fanatismus gehört zu den Kinderkrankheiten der Analytiker. Wenn man
die Widerstände des Patienten analytisch auflöst, so kommt man gelegent-
lich zu Stadien in der Analyse, in denen der Patient die ganze Deutungs-
arbeit fast ganz allein oder nur mit geringer Nachhilfe leistet.
Und nun nochmals ein Wort über meine viel gelobte und viel getadelte
„Aktivität“." Ich glaube, endlich in der Lage zu sein, die von vielen mit
Recht geforderte präzise Indikationsstellung bezüglich des Zeitpunktes
dieser Maßnahme anzugeben. Sie wissen vielleicht, daß ich ursprünglich
geneigt war, nebst der freien Assoziation auch gewisse Verhaltungsmaß-
regeln vorzuschreiben, sobald der Widerstand eine solche Belastung
gestattete, Später lehrte mich die Erfahrung, daß man Gebote und Verbote
nicht, höchstens etwa Ratschläge zu gewissen Änderungen der Verhaltungs-
weise geben darf, und immer bereit sein muß, sie zurückzuziehen, wenn
sie sich als hinderlich erweisen oder Widerstände provozieren. Meine von
vornherein festgehaltene Ansicht, daß immer nur der Patient und nie der
Arzt „aktiv“ sein darf, führte mich schließlich zur Feststellung, daß wir
uns damit begnügen müssen, versteckte Aktionstendenzen des Patienten
ı) $S. mein Sammelwerk: „Bausteine zur Psychoanalyse“, Bd. I/II, Internat,
Psychoanalyt. Verlag, Leipzig und Wien, 1927.
— u .
2006 S. Ferenczi
zu deuten, leise Versuche, die bisher bestandenen neurotischen Hemmungen
zu überwinden, unterstützen, ohne vorerst auf die Durchführung von
Gewaltmaßregeln zu drängen oder sie auch nur anzuraten. Sind
wir geduldig genug, so kommt der Patient früher oder später selber mit
der Frage, ob er diesen oder jenen Versuch (z. B. einen phobischen Vor-
bau zu übertreten) wagen darf; da werden wir ihm allerdings unsere Ein-
willigung und Ermutigung nicht versagen und auf diese Weise alle von
der Aktivität erwarteten Fortschritte erreichen, ohne den Patienten zu
reizen und es mit ihm zu verderben. Mit anderen Worten: den Zeitpunkt
zur Aktivität hat der Patient selber zu bestimmen oder wenigstens unmiß-
verständlich als gegeben anzudeuten. Es steht aber nach wie vor fest, daB
solche Versuche der Patienten Spannungsänderungen in den psychischen
Systemen hervorrufen und sich dadurch als Mittel der analytischen Technik
nebst den Assoziationen voll bewähren,
In einer anderen technischen Arbeit! habe ich bereits auf die Wichtig-
keit des Durcharbeitens hingewiesen, doch habe ich davon etwas einseitig
als von einem rein quantitativen Moment gesprochen. Ich meine aber,
daß das Durcharbeiten auch eine qualitative Seite hat und daß die
geduldige Rekonstruktion des Mechanismus der Symptom- und Charakter-
bildung bei jedem neueren Fortschritt in der Analyse zu wiederholen ist.
Jede bedeutsame neue Einsicht erfordert die Revision
des ganzen bisherigen Materials und mag wesentliche Stücke
des vielleicht schon fertig geglaubten Baues umstürzen. Es wird wohl die
Aufgabe einer ins Einzelne gehenden Dynamik der Technik sein, die
feineren Beziehungen dieses qualitativen Durcharbeitens zum quantitativen
Moment (Affektabfuhr) festzustellen.
Eine spezielle Form der Revisionsarbeit scheint aber in jedem Falle
wiederzukehren. Ich meine die Revision der Erlebnisse während
der analytischen Behandlung selbst. Die Analyse wird all-
mählich selber zu einem Stück Lebensgeschichte des Patienten, die er, bevor
er von uns Abschied nimmt, nochmals Revue passieren läßt. Bei dieser
Revision betrachtet er die Erfahrungen am Beginne seiner Bekanntschaft mit
uns, und die darauffolgenden Peripetien des Widerstandes und der Übertragung,
die ihm seinerzeit zu aktuell und lebenswichtig erschienen, nunmehr von
einer gewissen Distanz und mit viel größerer Objektivität, um dann seinen
Blick von der Analyse weg in die Richtung der realen Aufgaben des
Lebens zu lenken.
Schließlich möchte ich einige Bemerkungen zur Metapsychologie der
ı) Das Problem der Beendigung der Analysen.
I =
Die Hlastizi
tät der psychoanalytischen Technik 207
Technik riskieren.” An vielen Orten wurde, unter anderen auch von mir,
darauf hingewiesen, daß der Heilungsvorgang zu einem großen Teil darin
besteht, daß der Patient den Analytiker (den neuen Vater) an die Stelle
des in seinem Über-Ich so breiten Raum einnehmenden wirklichen Vaters
setzt und nunmehr mit diesem analytischen Über-Ich weiterlebt. Ich leugne
nun nicht, daß dieser Prozeß in allen Fällen wirklich vor sich geht, gebe
auch zu, daß diese Substitution bedeutende therapeutische Erfolge mit
sich bringen kann, möchte aber hinzufügen, daß eine wirkliche Charakter-
analyse, wenigstens vorübergehend, mit jeder Art von Über-Ich, also auch
mit dem des Analytikers, aufzuräumen hat. Schließlich muß ja der Patient
von aller gefühlsmäßigen Bindung, soweit sie über die Vernunft und die
eigenen libidinösen Tendenzen hinausgeht, frei werden. Nur diese Art
Abbau des Über-Ichs überhaupt kann eine radikale Heilung herbeiführen ;
Erfolge, die nur in der Substitution des einen Über-Ich durch ein anderes
bestehen, müssen noch als Übertragungserfolge bezeichnet werden; dem
Endzweck der Therapie, auch die Übertragung loszuwerden, werden sie
gewiß nicht gerecht.
Als ein bisher unberührtes Problem weise ich auch auf eine mögliche
Metapsychologie der Seelenvorgänge des Analytikers während der Analyse
hin. Seine Besetzungen pendeln zwischen Identifizierung (analytischer
Obj ektliebe) einerseits und Selbstkontrolle, respektive intellektueller Tätig-
keit andererseits hin und her, Während der langen Tagesarbeit kann er
sich dem Vergnügen des freien Auslebens seines Narzißmus und Egoismus
in Wirklichkeit überhaupt nicht, und in der Phantasie nur für kurze
Momente hingeben. Ich zweifle nicht daran, daß eine solche, sonst ım
Leben kaum vorkommende Überbelastung früher oder später die Schaffung
einer besonderen Hygiene des Analytikers erfordern wird.
Unanalysierte (wilde) Analytiker und unvollkommen geheilte Patienten
sind mit Leichtigkeit daran zu erkennen, daß sie an einer Art „Analysier-
zwang“ leiden; die freie Beweglichkeit der Libido nach beendigter Analyse
gestattet dagegen, daß man zwar, wenn nötig, die analytische Selbst-
erkenntnis und Selbstbeherrschung walten läßt, sonst aber am naiven
Lebensgenuß keineswegs gehindert ist. Das ideale Resultat einer beendigten
Analyse ist also gerade jene Elastizität, die die Technik auch vom Seelen-
arzte fordert. Wohl ein Argument mehr für die Unerläßlichkeit der
„zweiten psychoanalytischen Grundregel“.
>
ı) Unter „Metapsychologie“ verstehen wir bekanntlich die Summe von Vor-
stellungen, die wir uns auf Grund psychoanalytischer Erfahrung über die Struktur
und die Energetik des psychischen Apparates machen können. S.: Freuds meta-
psychologische Arbeiten im V. Bande der Gesamtausgabe seiner Werke.
—
208 | $. Ferenezi
on |
Mit Rücksicht auf die, wie ich glaube, große Bedeutsamkeit jedes
technischen Ratschlages konnte ich mich nicht entschließen, den vor-
liegenden Aufsatz zu publizieren, ohne ihn vorher der Kritik eines
Kollegen unterworfen zu haben.
„Der Titel (Elastizität) ist ausgezeichnet, so lautete die Äußerung eines
Kritikers, und verdiente auf mehr angewendet zu werden, denn Freuds
Ratschläge zur Technik waren wesentlich negativ. Er hielt es für das
Wichtigste, herauszuheben, was man nicht tun soll, die der Analyse
widerstrebenden Versuchungen aufzuzeigen. Fast alles, was man positiv tun
soll, hat er dem von Ihnen eingeführten ‚Takt‘ überlassen. Dabei erzielte er
aber, daß die Gehorsamen die Elastizität dieser Abmachungen nicht
bemerkten und sich ihnen, als ob es Jabu-Verordnungen wären, unter-
warfen. Das mußte einmal revidiert werden, allerdings ohne die
Verpflichtungen aufzuheben.“
„So wahr das ist, was Sie über den ‚Takt‘ sagen, so bedenklich erscheint
mir das Zugeständnis in dieser Form. Alle, die keinen Takt haben, werden
darin eine Rechtfertigung der Willkür, d. h. des subjektiven Faktors
(d. h. des Einflusses der unbezwungenen Eigenkomplexe) sehen. Was wir
in Wirklichkeit vornehmen, ist eine meist vorbewußt bleibende Abwägung
der verschiedenen Reaktionen, die wir von unseren Eingriffen erwarten,
wobei es vor allem auf die quantitative Einschätzung der dynamischen
Faktoren in der Situation ankommt. Regeln für diese Abmessungen lassen
sich natürlich nicht geben. Erfahrung und Normalität des Analytikers
werden darüber zu entscheiden haben. Aber man sollte den Takt so seines
mystischen Charakters entkleiden.“
*
Ich teile vollkommen die Ansicht meines Kritikers, daß auch diese wie
jede vorherige technische Anweisung trotz der größten Vorsicht in ihrer
Abfassung unweigerlich zu Mißdeutungen und zu Mißbräuchen führen
wird. Zweifellos werden manche, u. zw. nicht nur Anfänger, sondern
alle, die zu Übertreibungen neigen, meine Ausführungen über die Bedeut-
samkeit der Einfühlung zum Anlaß dazu nehmen, das Hauptgewicht in
der Behandlung auf den subjektiven Faktor, d. h. auf die Intuition zu
legen und den anderen, von mir als entscheidend hervorgehobenen Faktor,
die bewußte Abschätzung der dynamischen Situation, mißachten. Gegen
solche Mißbräuche ist wohl auch die wiederholte Warnung wahrschein-
lich nutzlos. Habe ich es doch erlebt, daß einzelne Analytiker meine vor-
sichtigen und immer vorsichtiger werdenden Versuche der Aktivität dazu
benützten, um ihrer Neigung zur ganz unanalytischen, manchmal sadistisch
hi
N
I
Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 209
anmutenden Gewaltmaßregel zu frönen. Es würde mich also nicht
wundern, wenn ich es nach einiger Zeit zu hören bekäme, daß jemand
meine Ansichten über die notwendige Duldsamkeit des Analytikers als
Grundlage einer masochistischen Technik betrachtet. Und doch ist das von
mir befolgte und empfohlene Verfahren, die Elastizität, durchaus nicht
gleichbedeutend mit widerstandslosem Nachgeben. Wir trachten zwar, alle
Launen des Kranken nachzufühlen, halten aber auch den uns von der
analytischen Erfahrung diktierten Standpunkt bis zum Äußersten fest.
Den „Takt. seines mystischen Charakters zu berauben, war gerade das
Hauptmotiv, das mich zum Schreiben dieses Aufsatzes bewog; ich gebe
aber zu, daß ich dieses Problem nur angeschnitten, keineswegs aber gelöst
habe. Bezüglich der Möglichkeit zur Fassung auch positiver Ratschläge zur
Abschätzung gewisser typischer, dynamischer Verhältnisse bin ich vielleicht
etwas optimistischer als mein Kritiker. Übrigens ist seine Forderung, daß
der Analytiker erfahren und normal sein soll, ungefähr gleichbedeutend
mit meiner Forderung, daß eine beendigte Analyse des Analytikers
die einzig verläßliche Grundlage einer guten analytischen Technik sei.
Selbstverständlich werden sich beim gut analysierten Analytiker die von
mir geforderten Einfühlungs- und Abschätzungsprozesse nicht im unbe-
wußten, sondern auf dem vorbewußten Niveau abspielen.
+
Offenbar angeregt durch die obigen Warnungen, drängt es mich,
auch eine andere der von mir hier geäußerten Ansichten klarer auszu-
drücken. Ich meine den Satz, daß eine tief genug reichende Charakter-
analyse mit jeder Art von Über-Ich aufzuräumen hat. Ein gar zu konse-
quenter Geist könnte das so ausdeuten, daß meine Technik die Menschen
aller ihrer Ideale berauben will. In Wirklichkeit richtet sich mein Kampf
nur gegen den unbewußt gewordenen und daher unbeeinflußbaren Teil
des Über-Ichs; natürlich hat er aber nichts dagegen einzuwenden, daß der
normale Mensch in seinem Vorbewußten auch weiterhin eine Summe
von positiven und negativen Vorbildern beibehält. Allerdings wird er
diesem vorbewußten Über-Ich nicht so sklavisch gehorchen müssen,
wie vorher der unbewußten Elternimago.
Die neurotische Dauerlust
Erscheinungen der „erotishen Allmadht” in neurotischen Dauer-
Symptomen
Von
S. Pfeifer
Budapest
Der Psychoanalytiker ist in der Lage, während der Analyse den Äuße-
rungen der Libido in den mannigfaltigsten Kombinationen zu begegnen.
Viele darunter sind von typischer Art und ihre Hervorhebung verdient
Beachtung, da sich aus ihrem Vorhandensein oft nicht nur theoretische,
sondern ebenso auch prognostische und therapeutische Folgen ergeben. So
konnte ich Fälle beobachten, in welchen ein Teil der Symptome unter
anderem auch zur Erfüllung eines unbewußten erotischen Allmachts-
wunsches diente.
Das Gefühl der erotischen Allmächtigkeit, d. i. der unbeschränkten
sexuellen Wunscherfüllung, entspricht nach Ferenczi! dem Stadium des
Autoerotismus und Narzißmus der Libido.
Anderen Orts? erwähnt Ferenczi, daß die prägenitalen Organisationen
der Libido nur verschiedene Stationen seien auf dem Wege zur erotischen
Realität, welche letztere dadurch charakterisiert ist, daß das Individuum
die intrauterine Situation, wenn auch nur partiell, erreicht. Ferenczi
behauptet zwar, daß die erotische Allmacht an die narzißtische und auto-
erotische Libido gebunden ist, doch können wir gerade nach ihm annehmen,
daß die erotische Allmacht im Momente des Orgasmus mit der erotischen
Realität zusammenfällt und, wenn auch für eine kurze Zeit, realisiert
wird. Die zurückströmende Libido wird im Momente des Zurückströmens
in vollem Maße narzißtisch. (Das Es überflutet das Ich mit Libido.)
ı) Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Diese Zeitschrift, Bd. I, 1913.
2) Versuch einer Genitaltheorie 1924. Entwicklungsstufen des erotischen Realitäts-
sinnes, S. 28 ff.
3) Nebenbei sei noch bemerkt, daß es nicht an Anzeichen fehlt, welche beweisen,
daß die Annahme einer Rückströmung der Libido im Momente des Orgasmus
Die neurotische Dauerlust 211
Wenn wir näher ins Auge fassen wollen, in welcher Form die erotische
Allmacht bei Erwachsenen zum Vorschein kommt, so müssen wir uns an
Beispiele aus der Praxis halten. Ein Fall zeigt besonders instruktiv die
Richtung der erotischen Allmachtstendenzen. Ein Zwangsneurotiker mit
Konversionssymptomen hatte in seiner Pubertät exzessive Onanie getrieben,
mit der Absicht, einen immerwährenden Orgasmus zu erzielen. In der
halbbewußten Phantasie schwebte ihm sogar das Ziel vor, diesen Zustand
auch ohne Onanie dauernd aufrecht zu erhalten. Die Phantasie trat parallel
mit der Introversionsneigung des Pat. auf und konnte nicht allein mit
der Abwehr des Schuldbewußtseins (Berührungs-Kastrationsangst) erklärt
werden.
In diesem Falle stehen wir einem erotischen Allmachtswunsche gegen-
über, der vollständig nur in der Phantasie, nicht aber in der Realität
erreicht werden kann. An Stelle der Realerfüllung tritt hier die Reihen-
bildung aus möglichst vielen einzelnen ÖOnanieakten, welche auch hier,
wie in der Mathematik, zum Erreichen eines unerreichbaren Zieles
tendiert; die Wiederholungen sind als Erfolg eines Kampfes zwischen
Wunsch und verdrängenden Tendenzen zu betrachten.’
Ich möchte vorausschicken, daß ich hier, wie in ähnlichen Fällen, als
wirksamsten Faktor der Verdrängung des Allmachtswunsches die Kastrations-
angst gefunden habe.
Im nächsten Falle war ein ähnlicher Mechanismus bei der Ausbildung
der allmachtsbergenden Symptome am Werke. Ein Pat. mit Angsthysterie
erklärte, daß er ständig seine Herztätigkeit fühlte, auch wenn er am
ruhigsten sei. Er gestand auch, daß diese Empfindung entschieden lust-
betont wäre. Es stellte sich heraus, daß er mit diesem neurotischen
Symptom der Angst vor dem Stillstehen des Herzens begegnen wollte,
was einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und
was später eine mächtige Waffe des Widerstandes gegenüber der Analyse
wurde, welcher er sich so nur mit „halbem Herzen“ unterzog. Der
berechtigt ist. Neurotiker, die einen gehemmten Libidoabfluß in der Genitalität
zeigen, können manchmal mit ihrer narzißtisch verstärkten Selbstbeobachtung den
Weg dieser Strömung verfolgen. Es ist mir besonders ein Kranker in Erinnerung,
welcher während des Angstanfalles diese genitofugale, von den Genitalien nach dem
Kopf gerichtete Libidoströmung gleichsam als orgasmusartige „elektrische Ströme“
in seinen Organen beobachten konnte. Der extreme und nicht leicht deutbare Fall
einer monosymptomatischen Hysteria virilis, — eine Spitalsbeobachtung ohne Analyse,
— bei welcher Krämpfe des rechten Armes mit isoliertem Orgasmus in demselben
aufgetreten sind, spricht vielleicht auch dafür, daß im Körper auch Orgasmusver-
schiebungen möglich sind.
ı) $S, auch Pfeifer: Äußerungen infantil-erotischer Triebe im Spiele. Imago,
Bd. V. ıgı9.
————— . = E ; E
212 S, Pfeifer
isn
Mechanismus, dessen er sich hiezu bediente, war folgender: Er hatte
anfangs Angstanfälle, mit der Befürchtung, sein Herz höre auf zu schlagen.
Diese Angst verursachte bei ihm ein starkes Herzklopfen, das ebenfalls
höchst unangenehm war. Trotz der damit verbundenen Unlustgefühle
brachte das Herzklopfen doch eine große Beruhigung mit sich: Das Herz
funktioniert also doch! So wechselten Erregungszustand und Beruhigung,
bis daraus der stationäre Zustand der mäßigen, mit leiser Lust empfundenen
Herztätigkeit wurde, nur zeitweise von Anfällen ängstlicher Herzparoxysmen
unterbrochen.
Hier blieb es also nicht bei einer Reihenbildung, resultierend aus
erotischer Erregung und Kastrationsangst, sondern es kam zu einem
stationären Symptom, hinter welchem sich erotische Allmachts-
strebungen Geltung verschaffen. Das Herzsymptom, das in engster Ver-
bindung mit dem Ödipuskomplex des Pat. stand, stellte zunächst eine
ständige, halbsteife Erektion dar. (Keine. volle Erektion wegen der
Kastrationsangst.) Die Verschiebung vom Genitale auf das Herz erfolgte
bei der Beobachtung des Koitus der Eltern, bei dem dem erregten Jungen
zum erstenmal das starke Pochen des Herzens auffiel.
Den tieferen Sinn ergab erst die weitere Analyse: Das Symptom stellte
die Phantasie einer Vereinigung mit sich selbst und dahinter
das ständige Vereintsein mit der Mutter! dar. Dieser Sinn
konnte erst ermittelt werden, nachdem eine Organphantasie zum Vorschein
gekommen war. Pat. hatte das Gefühl, daß das Herz eigenartig gebaut
sei, die Herzklappe sei einer Klitoris, die entsprechende Herzmündung
einer Vagina gleich geformt, so daß bei einem jeden Herzschlag eigentlich
ein Koitus, im ganzen ein Dauerkoitus entstehe.?
Diese Phantasie führte in weiterer Vertiefung zu anderen typischen
Intrauterinphantasien, welche in ihrem Zusammenhang mit dem obigen
Symptom, dessen Bedeutung als eine dauernde Vereinigung mit
der Mutter im seligen Zustande des Embryos im Mutter-
leibe enthüllten.
Für dieses auf Grund der erotischen Allmacht gebildete Symptom können
ı) Vgl. Ferenczi: A.a. OÖ,
2) Eine andere, sehr ähnliche Phantasie auf bisexueller Grundlage produzierte ein
schizophrener Paranoiker. Er verglich seinen Zustand und seine Selbstempfindungen
einem eingedrückten Ball mit einem konkaven weiblichen und konvexen männlichen
Teil. Ich mußte daraus auf einen besonderen stabilen Gleichgewichtszustand in der Ver-
teilung semer Libido schließen, welche, einen intermediären Endzustand im Sinne der
erotischen Allmacht erreichend, indisponierbar wurde, entsprechend dem psycho-
tischen Krankheitsbilde. (Vielleicht wird von diesem Punkte aus einmal ein Licht
auf den Jungschen Begriff der Introversion fallen.)
Die neurotische Dauerlust 213
m nn m m
wir den Dauerzustand der Libidoposition, die Dauervereinigung, und die
begleitende Intrauterinphantasie als charakteristisch hervorheben. In diesem
Falle können wir Freuds Behauptung, das hysterische Symptom sei ein
Onanie- oder Koitusäquivalent, dahin erweitern, daß es in diesen Fällen
einen Dauerkoitus oder Daueronanie, also einen dauernden Befrie-
digungszustand darstellt.
Im Falle eines anderen Pat. mit nervöser Sprachstörung waren die Sprach-
und Kaumuskel in ständiger, tonischer Erregung. Die Sprache wurde dadurch
eigentümlich spastisch, fast ausschließlich aus Konsonanten bestehend, außer-
dem noch sehr rasch. Trotz des Spasmus bestand beim Pat. ein Rededrang,
seine Sprache war ein eigentümliches Gemisch von Fließen und Stocken.
Pat. wies die Spuren eines starken Entwöhnungstraumas auf. Die Analyse
ergab auch hier hinter den fixen Symptomen die Allmachtsphantasien, bzw.
" die Allmachtsstrebungen, zunächst auf oralerotischer Grundlage. Die Spasmen
sollten die angenehme Spannung des Saugens ersetzen, es war ein ständiges
Saugen ohne Saugbewegungen. (Es kamen auch solche vor, bes. an den
7ähnen.) In der Mundhöhle herrschte ein entsprechender negativer Druck,
die Folge davon waren weitere Erschwerungen der Sprache, schnalzende
Bewegungen der Zunge beim Aufmachen des Mundes und sehr häufige
Zahnschmerzen, welche den Pat. zu weiterem Saugen veranlaßt haben.
Eine wichtige Rolle spielte dabei die Zunge. Sie mußte die verlorene
mütterliche Brust vertreten und wurde deshalb ständig an die Lippen, bzw.
an die Zähne angesaugt. So wurde der Zustand des ständigen Vereintseins
mit der Brust erreicht, ein mächtiger Speichelfluß sorgte für den Ersatz
der Muttermilch. Die Sprachstörung entstand durch die Muskelspannungen,
da die Muskeln nicht zweckmäßig, sondern auf Sauglust zielend arbeiteten,
dann durch das Zusammenpressen der Lippen zwecks Abwehr der Salivation
und nicht zuletzt der Kastrationsangst. (Angst, die Zunge = Mamma könnte
verloren gehen.)
Die Analyse hatte im Anfang eine Menge ÖOnaniephantasien zutage
gefördert, ohne Ausnahme kannibalistischer Natur, welche lange Zeit von
der Kindheit bis zur Spätpubertät alle anderen erotischen Phantasien ver-
drängt hatten. Bald stellte es sich heraus, daß diese Phantasien eine
bestimmte Szenerie aufwiesen, welche unverkennbar die intrauterine
Situation darstellte. Das Menschenfressen geschah immer in Höhlen, Inseln,
geschlossenen Räumen, in einem eigens dazu eingerichteten Hause, ohne
Fenster, wo alles zum Leben Notwendige vorhanden war, auch Phantasien
vom Aufschneiden des Bauches eines Schweines, hineinkriechen und dort
ı) Auf die analerotischen Grundlagen des Gesichtsspasmus will ich hier nicht
eingehen.
— —
214 S. Pfeifer
inwendig das Fleisch essen usw. waren vorhanden. Diese Züge nebst anderen,
auf welche hier nicht eingegangen werden kann, zeigten zur Genüge, daß
die steife, angesaugte Zunge in der Mundhöhle den Pat. in der Mutterleibs-
situation, in einer dauernden Vereinigung mit der Mutter, und zwar in
dem glücklichen Zustand des Hängens an der Mutterbrust, darstellte.
(Zunge = Mutterbrust;' der Mund in dauernder Saugekontraktion; Speichel-
fluß —= die nie versiegende Muttermilch.)
Ein anderes Niveau, auf welchem derselbe Pat. einen erotischen Allmachts-
zustand herstellte, war das der Urethralerotik. Pat. will zwar kein Enuretiker
gewesen sein, doch erinnert er solches von seinem älteren Bruder und
Bettgenossen.” Außerdem erinnert er klar, daß er mit drei Jahren seine Eltern
beim Koitus belauscht hatte. Da packte ihn der Impuls, einen möglichst
hohen Urinstrahl zu produzieren, was damals ebenfalls zur Enuresis führte.
Bei Beginn der Behandlung litt Pat. unter einem chronischen Urin-
drang, der ihn zu auffallend häufigem Urinieren trieb, Die Tendenz der
zahllosen Wiederholungen war auch hier die Herstellung einer ungeheuren
Potenz auf urethralerotischer Grundlage, welche hinter dem pein-
lichen neurotischen Symptom zunächst den Wunsch verriet, un b egrenzt
urinieren zu können. Daß es sich hier um eine Dauerlust
handelte, dafür sprach auch die Spermatorrhöe, eigentlich eine kleine
Pollution, welche bei jedem Urinablassen, meistens gänzlich unbemerkt,
erfolgte, was auch durch gelegentlich ausgeführte Urinuntersuchungen
bestätigt wurde. Seine erste Pollution, die dann zu anderen onanistischen
Betätigungen (mit den oben erwähnten kannibalistischen Phantasien) führte,
erfolgte beim Tage im Anschluß an das Urinieren. Der oben erwähnte
Speichelfluß diente nebst den schon behandelten Zwecken auch diesem
verschobenen Allmachtswunsche. Eine Allmachtsphantasie, die beide Wünsche
scheinbar ins Negative verkehrt enthält, lautet, daß er in einem fensterlosen
Hause lebte und nichts zu essen brauchte, dafür auch keine Abgänge, weder
Urin noch Stuhlgang, habe. Allerdings mit dem bewußten Hintergedanken,
alles Notwendige wäre schon in seinem Körper enthalten.
Bei einem Zwangsneurotiker begegnete ich dem Ewigkeitsanspruch der
masochistisch-analerotischen Befriedigung. Er konnte sozusagen keine
Stunde ohne Zwang leben. Seine Aufgaben und Verpflichtungen schob er
so lange hinaus, bis ihre Erledigung zum unumgänglichen Zwang geworden
ı) Dieser Zustand stellt vielleicht das Übergangsstadium zwischen der oralen und
der (mit Introjektion einhergehenden) analen Phase dar. Vgl. das ähnliche Verhältnis
in der letzteren zwischen Kot und Anus.
2) Wir wissen von Freud, daß peinliche infantile Ereignisse häufig in der Form
einer Projektion auf die Geschwister erinnert werden.
nn
Die neurotische Dauerlust 215
war. Anweisungen wurden täglich neu gefordert, ansonsten nicht einge-
halten. Er hatte tausendfache Kunstgriffe entwickelt, um diesen Zustand
des ständigen Druckes zu erlangen und aufrecht zu erhalten.
Die dahinter steckende Phantasie war, im Mutterleibe vom Vater koitiert
zu werden, also die ständige Vereinigung mit dem Vater auf dem Wege
der Mutteridentifizierung. Die passive Phantasie verknüpfte sich mit analen
Elementen; in dem masochistischen Rausch fühlte sich Pat. erniedrigt,
verfault, wie verunreinigt, zu Sand, zu Kot geworden. Dieser Zustand
entsprach dem des Kotes während des Defäkationsaktes und tendierte zum
Chronischwerden in einem anal-masochistischen Allmachtsgefühl.'
Im großen und ganzen konnte nämlich in diesem Falle Ferenczis
Satz bestätigt werden, daß der Masochismus nur einen — allerdings miß-
lungenen — Versuch darstellt mit Hilfe der Schmerzen, die Angstgrenze
zu übertreten, um zur Handlung — zur Genitalität — schreiten zu können.
Die Beobachtungen führten bei diesem Pat. zu einer unbewußten Geburts-
phantasie. Diese Phantasie stand mit der Annahme im guten Einklang,
daß sein erster Wutanfall, der Urtypus aller seiner späteren sadistischen
Anwandlungen, die Wut auf die Mutter nach der Geburt gewesen sei.
Diese Wut sollte ihm zur Wiedervereinigung mit der Mutter verhelfen.
Die masochistische Strebung tendierte dahin, diesen Zustand während der
Geburt, das Gefühl des Nichtloskommenkönnens von peinlichen drückenden
und ängstigenden Sensationen, mit einem Wort das Verharren in der
Situation der Geburt, zu verewigen.
Die erotischen Wunscherfüllungen, welche da verewigt werden sollten,
waren außer den erwähnten masochistischen die anal-erotischen Sensationen
während der Defäkation.?
Dieser Allmachtszustand konnte auch hier erst mit Hilfe von Mutter-
leibsphantasien fixiert werden. Pat. stellte sich z. B., mit seinem Liebes-
objekt in einer Glaskugel eingesperrt, in ewiger Vereinigung vor, wobei
ihm alles so rein und allem Irdischen so entfernt vorkam, daß er sich
für fähig hielt, den Kot des Partners zu essen, um sich davon am Leben
zu erhalten.
Fassen wir die gemeinsamen Züge der angeführten Fälle zusammen, so
ı) Hier von „Allmacht“ statt von „Dauerbefriedigung“ zu sprechen, ist eigentlich
nicht mehr am Platze. Es könnte unbegründeten Anlaß zu Verwechslungen mit den
Adlerschen Machtstrebungen geben, die, den mitlaufenden sadistischen Strebungen
(s. u.) entsprechend, in diesem Falle auch vorhanden waren; sie waren aber immer
gut von den Strebungen nach „Dauerbefriedigung“ zu unterscheiden.
2) Vgl. die Auffassung von Aug. Stärcke und van Ophuijsen über die
Verursachung des Verfolgungswahnes durch das perennierende Gefühl, einen Stuhl-
zapfen im Anus zu haben. Diese Zeitschr., Bd. V. S. 255.
| |
216 S. Pfeifer
finden wir, daß hier die erotischen Allmachtsgedanken auf autoerotischen
Regungen beruhen, welche schon im vorherein oder erst unter dem
Drucke des Ödipuskomplexes sich dadurch fixierten, daß sie sich mit
Intrauterinphantasien als psychischem Oberbau verknüpft haben. Es
drängt sich unwillkürlich der Vergleich mit dem Vorgang der Komplement-
bindung auf. So können wir sagen, daß erotische Allmachtsgefühle entstehen,
wenn es autoerotischen, aber auch höher entwickelten erotischen Trieben ge-
lingt, die erotische Realität, d. i. die intrauterine Situation, besser ausgedrückt:
die Vereinigung mit der Mutter, wenigstens in der Phantasie und auto-
plastisch zu erreichen. Dies kann wahrscheinlich von beiden Seiten aus
geschehen, primär durch entsprechenden Umbau der oder Oberbau auf
die fixierten prägenitalen Triebkomponenten — und dann bedeutet es
einen fehlgegangenen Versuch in der Richtung zur Genitalität hin, mit
Ausgang in die behandelten Dauererscheinungen' — und sekundär: durch
Regression aus Kastrationsangst. Je nachdem findet man Elemente des
Ödipuskomplexes weniger oder stärker vertreten.
Die andere Bedingung der Entstehung von erotischen Dauergefühlen
und -zuständen scheint eine stark bisexuelle Anlage zu sein. Der
Paranoiker, in ständigem narzißtischem Rausch, der seinen Zustand mit dem
eines konvex-konkaven Ballesverglich, ist der Prototyp der ewigen Selbstvereini-
gung. Es muß die Frage aufgeworfen werden, ob nicht das Vorhandensein
einer ausgeprägten Bisexualität für das Zustandekommen der erotischen
Dauergefühle überhaupt unerläßlich sei. In den mitgeteilten Fällen ist
gerade die bisexuelle psychische Anlage der Angriffspunkt der aus dem
Ödipuskomplex wirkenden Kräfte; durch diese Anlage können diese Kräfte
dem erotischen Allmachtsgefühl dienstbar gemacht werden.
Der Fall des Agoraphoben mit dem andauernden Herzklopfen ist ein
Analogon des erwähnten Paranoikers, bei dem sogar einem einzigen Organ,
dem Herzen, die bisexuelle Bedeutung zukommt; die Herzklappe spielt
die männliche Rolle,” die Herzkammermündung die weibliche. Der Pat.
stellte mit seinem Herzen die Ausgangssituation des ständigen Symptoms
dar, den von ihm unter erotischer Erregung belauschten Koitus der
ı) Auch dieser Ausgang unterscheidet diesen Mechanismus von der einfachen
Genitalisierung der prägenitalen erogenen Zonen. $. Ferenczi: „Hysterie und
Pathoneurosen“ (Int. PsA. Bibliothek, II.).
2) Ich zweifle nach dem in der Psychoanalyse gewonnenen Eindruck nicht, daß
unter der als Klitoris vorgestellten „Herzklappe“ eigentlich auch die auf ihr lastende
Blutsäule zu verstehen ist. Ich verweise hier auf die einschlägigen sehr interessanten
Ausführungen aus dem Gebiete der organischen Erkrankungen, die Dr. F. Deutsch
auf dem Salzburger Kongreß, ı923, machte. Deutsch meint, daß libidinöse Anzie-
hungen im Sinne der Bisexualität auch zwischen einzelnen pathologisch veränderten
Organen möglich seien.
|
Die neurotishe Dauerlust | 217
Eltern, bzw. die während dessen in gleichzeitiger Identifizierung mit
Vater und Mutter statt der phantasierten Inzesthandlungen ausgeführten
Önanie.
Ein belauschter Koitus der Eltern ist der Ausgangspunkt auch der
Sprach- und Blasenstörung bei dem anderen Pat. mit dem Speicheliluß
und dem Miktionszwang. Er wollte damals mit dem starken Vater dadurch
wetteifern, daß er seinen Urin springen ließ. Heute agiert er einmal den
Vater in der Vereinigung mit der Mutter, sodann auch die Mutter, die,
wie seine infantile Zeugungstheorie laute, den Samen des Vaters
schluckt,” dann die als Penis gedeutete Mamma, dann den weiblich
empfundenen, der Mamma untrennbar angesaugten Mund des Kindes, endlich
das oral empfangene Kind (Zunge) im Uterus (Mundhöhle) im Wasser
liegend. |
Die bisexuelle Anlage ist auch in dem Falle des Zwangsneurotikers in
der erotischen Allmachtsphantasie von der dauernden Vereinigung mit dem
Penis des Vaters im mütterlichen Uterus deutlich ausgesprochen. Dieser
inzestuöse Überbau schützt die analerotische sadistische Dauerbefriedigung
und hängt mit der ubw. Phantasie und dem Gefühl zusammen, ewig in
der analen Geburtssituation festgenagelt zu sein.
Jetzt können wir über die erotische Allmachtssituation folgendes Bild
entwerfen: Ein autoerotisch-narzißtischer Trieb findet eine bisexuelle
Befriedigungsform, in welcher von der einen Seite objekterotische Strebungen
aus dem Ödipuskomplex, von der anderen regressive Züge in Wiederholung
der intrauterinen Situation zu einer Dauerform der Befriedigung zusammen-
treffen, wobei das ganze Gebäude von der Realbefriedigung des auto-
erotischen prägenitalen Triebes getragen wird.
Daß bei all diesen Erscheinungen auf erotischem Gebiet etwas Ähn-
liches wie die „Allmachts“-Gefühle des primitiven Ichs entsteht, wird
durch die Tendenz bewiesen, diesen Befriedigungsformen ewige Dauer
zuzusichern.?
Das Streben zur unendlichen Befriedigung möchte ich als dritten
gemeinsamen Zug dieser Allmachtszustände hervorheben.
Wohl am prägnantesten ausgedrückt halte ich den erotischen Allmachts-
zustand im Falle gewisser Schizophrener, besonders bei Katatonikern, welche
in einem ewigen narzißtischen Rausch? die intrauterine Situation wieder
a en Bi 2 4 en na en nn
ı) Er hatte oft den Wunsch, den eigenen Penis in den Mund zu nehmen. Vgl. dazu
auch das Symbol des Unendlichen; eine Schlange, die in den eigenen Schwanz beißt.
2) Hierher darf wohl auch ein Fall von Ferenczi gerechnet werden, der
„Ewigkeitsgefühle* auf analerotischem Gebiet hatte. Siehe Ferenczi: Zur Analyse
von Sexualgewohnheiten. Diese Zeitschr., Bd. XI (1925).
5) Die Katatoniker befinden sich in einem dem Rückschlagsstadium des Orgasmus
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV/2 16
918 S. Pfeifer
erleben, wobei sehr oft autoerotische Manipulationen für die Realbefriedigung
sorgen, Aber auch ohne solche Aktionen ist der katatone Zustand als
extreme Ausprägung, eigentlich als Endglied der Resultante aus den oben
erwähnten drei Komponenten: Mutterleibssehnsucht, autoerotischer Trieb,
Ödipuskomplex (Kastrationsangst), zu werten. Auch wird bei ihnen die
bisexuelle Selbstbindung wohl am ausgiebigsten vertreten sein.
Übrigens erhält man, wenn man länger fortbestehende Erkrankungen
beobachtet, den Eindruck, daß sie in ihrem ganzen Verlauf die Tendenz
zeigen, immer mehr neurotischen Gebilden mit immer weniger verdrängten
erotischen Wunscherfüllungen Platz zu geben. Der Prozeß, welcher von
Freud die „Wiederkehr des Verdrängten“ genannt wurde, fördert solche
Wunscherfüllungen während des Verlaufes einer Erkrankung in immer
größerem Maße zutage; aber anstatt der vielleicht erwarteten Umkehrung
der Neurose ins Positive, der einfachen Perversion, bekommt man in
solchen Fällen sehr oft die Erscheinungen der neurotischen Dauerlust zu
sehen. Diese charakterisiert dann die Spätstadien der Neurose, welche so
eine ähnliche Tendenz in der Neurose erblicken lassen, wie sie Rank! für
den Traum in den Vordergrund gerückt hat: Wie dieser, tendiert auch die
Neurose zur unbegrenzten Wunscherfüllung, hier in Form der ewigen
Befriedigung, der „erotischen Allmacht“, welche sich nach Passieren der
neurotischen Mechanismen in eigenartigen Symptomen als neurotische
Dauerlust Geltung verschaffen.
Damit ist die Frage aufgeworfen, inwieweit diese erotischen Dauer-
bildungen sich von den Perversionen unterscheiden. (Dabei werden wir
vom Unterschiede der Verdrängungsintensität absehen, was wir um so
mehr können, als die erotische Allmacht sich im Krankheitsbilde meistens
als Wiederkehr des Verdrängten darbietet.)
Die Differenz zwischen neurotischer Dauerlust und Perversion wird
wohl im relativen Verhältnis von Ich- und Libidoentwicklung liegen.
Der perverse Trieb teilt mit der genitalen Sexualität im allgemeinen
die Tendenz zu plötzlicher Spannungsaufhebung; in der Allmachtssituation
treffen wir dagegen ein ziemlich gleichmäßiges Spannungsniveau. Man
könnte den einen den genitalen, den anderen den intrauterinen Reiz-
ablauftyp us nennen.”
ähnlichen Zustand; Da der Katetoniker die Befriedigimg ohne Gegenstrebung des
Ichs und mit genitalisiertem Körper genießt, wäre es vielleicht nicht verfehlt, hier
in extremen Fällen über eine „Intrauterin-Perversion“ zu sprechen.
ı) Jahrbuch für psa. und psychopathol. Forschung, II. Bd., 5. 521.
2) Selbstverständlich dürfen wir uns den intrauterinen Zustand nicht als eine
absolute Ruhe vorstellen. Eisler mahnte uns neuerdings daran, daß im Embryo die
größte Entwicklungsunruhe herrschen muß,
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Die neurotische Dauerlust 219
Im allgemeinen können wir auch sagen, daß, je näher ein Partialtrieb
dem intrauterinen oder Säuglingszustand steht, desto größer wird die
Neigung zur Dauerbefriedigung oder zu einem rhythmischen Wechsel von
Reiz und Befriedigung (mit Reihencharakter) sein. Als ein anderer
Charakterzug solcher primitiver Triebe kann angegeben werden, daß bei
ihnen Reiz und Befriedigung zeitlich fast zusammen-
fallen.
Wir müssen uns mit dem Gedanken befreunden, daß die Triebe nicht
nur betreffs ihres Objekts, sondern auch ihrer Ablaufsart eine Entwicklungs-
gliederung aufweisen, und daß sie um so entwickelter sind, je größer die
maximale erträgliche Abweichung von der gestörten und mit der Befriedigung
wieder hergestellten Ruhelage, d. i. die erträgliche Spannungsdifferenz, ist
(Triebdifferential). Wir können auf Grund vorhergegangener Untersuchungen,
besonders Ferenczis,' behaupten, daß die Befriedigung eines Triebes,
also die Senkung der Spannung auf das Ruheniveau, in ihrem Ablauf die
Entwicklungsstufen durchlaufen muß, durch welche die von dem Trieb
zu behebende Spannung entstanden ist.?
Entsprechend unterscheiden sich die auf der genitalen Stufe ablaufenden
Triebe von den prägenitalen in der Weise, daß — nach Ferenczi —
sich in ihren Ablauf etwas eingeschaltet hat, was eine mächtige Spannungs-
erhöhung ermöglicht. Ob dies die Erinnerung an das Geburtstrauma oder
an etwas anderes Bedeutsames aus der Phylogenese sein mag, wir können
mit Ferenczi annehmen, es müsse etwas „Katastrophales“ gewesen sein.
Die Angst vor dieser Katastrophe — nach Stärcke und Rank immer
eine Trennungs-, nach Ferenczi eine Todesgefahr — erklärt uns, warum
wir bei der Zerstörung der beschriebenen erotischen Allmachtsgebilde in
der Psychoanalyse gleich auf eine mächtige Kastrationsangst als Wider-
standsquelle stoßen, da diese Triebe gewöhnlich auch im Individualleben
mit traumatischer Unterbrechung enden. Die Summierung dieser onto-
genetischen Entwöhnungstraumen muß also auch in der Ausbildung der
Genitalität eine Rolle spielen.
Die prägenitalen Triebe sind also auch in Hinsicht ihrer Ablaufslinie
unausgereifte Triebe,? zeigen mehr einen tonischen Ablauf,* dazu bestimmt,
traumatisch unterbrochen zu werden. Zur Quelle neurotischer Dauerbefriedi-
ı) Ferenczi: Genitaltheorie. $. 2ı, zoff.
2) Oder diese Stufen finden in der Ablaufslinie des Triebes irgendeine Vertretung.
3) Deshalb kommen Allmachtszustände, Dauerbefriedigungen und ähnliche
Bildungen immer dort am leichtesten zustande, wo diese Triebe mit kleinem
Spannungsdifferential am Werke sind, also z. B. in den Kinderspielen.
4) Vgl. Stärcke. Psychoanalyse u. Psychiatrie 1921. $. 56.
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220 S. Pfeifer
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gung werden sie erst, wenn es ihnen gelingt, mit Hilfe der oben beschriebenen
Mechanismen eines Teiles der Energien aus den genitalen Triebquellen
— trotz Beibehaltung ihres intrauterinen Charakters — habhaft zu werden.
Zum intrauterinen Ablauftyp gesellt sich bei der erotischen Allmacht
das Verhalten des Ichs, welches meistens eine ungenügende Entwicklung
zeigt und unfähig ist, große Spannungen zu ertragen.
Das Ich war in allen diesen Fällen vom Es durch hemmende Schutz-
einrichtungen weniger getrennt als in anderen Fällen. (Die Es-Ich-
Grenze wird bei der erotischen Allmacht leicht überschritten, wie die
Grenze zwischen Ich und Über-Ich bei der Ich allmacht.)
Andererseits ist auch die Unfähigkeit des Ichs zu voller Befriedigung
augenfällig.
Der Pat. mit Agoraphobie konnte eine Zeitlang nicht einmal die volle
Erektion ertragen. Alle drei Fälle zeigten eine defekte genitale Befriedigung
in mehr minder ausgesprochenem Maße, was sich beim Zwangsneurotiker
manchmal sogar bis zu einer Penisanästhesie steigerte.
Wie schon erwähnt, ist es die Kastrationsangst, die auf die genito-
petalen Strebungen der Libido zurückschreckend wirkt. Die Kastrations-
angst bei diesen neurotischen Dauerbildungen im Sinne einer erotischen
Allmacht stammte immer aus der Ödipussituation. Ist die Kastrations-
drohung allein oder hauptsächlich am Werke, so können sekundäre
Dauersymptome entstehen wie im Falle einer Pat., die, durch die
Kastrationsangst geleitet, ihren Mann zum prolongierten und unvoll-
kommenen Koitus bewog, der oft „stundenlang“ dauerte. Hierher gehören
aller Wahrscheinlichkeit nach auch solche Fälle, wo der Koitus oder die
Onanie oft ın unzähligen Reihen ausgeführt werden, doch wird erst die
eingehende Analyse imstande sein, über die Zugehörigkeit solcher
Erscheinungen zur einer oder anderen Gruppe der „erotischen Allmacht“
zu entscheiden. Die obligate Rolle, die die Kastrationsangst beim Zustande-
kommen der Dauersymptome mit erotischem Allmachtscharakter spielt,
wurzelt aber, wie schon oben auseinandergesetzt wurde, noch tiefer,
nämlich in der erhöhten Empfindlichkeit solcher Pat. gegenüber Ent-
wöhnungstraumen, welche gemeinhin die Erhöhung des Niveaus der
sexuellen Spannung erzwingen. Diesen Traumen kommt aber eine Kastrations-
bedeutung zu; so wird es uns nicht verwundern, wenn bei der Zerstörung
der behandelten erotischen Bildungen in der Psychoanalyse uns die
Kastrationsangst als mächtigster Widerstand entgegentritt.
Diese und die vorangegangenen Betrachtungen ergeben die Zielsetzung
der Therapie. Diese muß sein: Die Heraushebung der Sexualität aus dem
intrauterinen Befriedigungszustand, das Erreichen einer höheren Reiz
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Die neurotiscıe Dauerlust 221
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schwelle und eines höheren Spannungsniveaus. Ein anderes therapeutisches
Ziel muß sein, den Ring der tonischen Anordnung der Libidozufuhr und
-abfuhr (oft noch die Selbstbindung der bisexuellen Libido) zu brechen.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß diese neurotischen Bildungen sehr
resistent sind. Meist gelingt ihre Zerstörung erst — nach vorangegangener
Abtragung der oberen Schichten der Neurose in der Analyse — durch die
„aktiven“ Maßnahmen, für die sie m. E. eine wohlbegründete Indikation
darbieten. Es wird uns nicht wundern, wenn wir bei der aktiven Behand-
lung der erotischen Allmachtszustände immer auf die Kastrationsangst
stoßen, handle es sich nun um eine künstliche Libidostauung durch
Unterbindung der Befriedigungsmöglichkeiten (Entwöhnungsangst) oder
um eine durch die forcierte Libidobefriedigung. (Kastrationsangst aus dem
Ödipuskomplex.)
Beim Agoraphobiker war das Gebot, allein zu kommen, von selbst
gegeben, wodurch die „Herzonanie“, die gleichmäßige, durch die Selbst-
beobachtung kontrollierbare' Herztätigkeit, unmöglich gemacht wurde. Aus
derselben Erwägung ist bei diesem Pat. eine die dauernde Herzonanie
sichernde Bewegungslosigkeit und ein Atemverhalten durch entsprechende
Verbote für die Analyse erreichbar gemacht worden.?
Im allgemeinen gelten hier dieselben Richtlinien, welche von
Ferenczi für die Handhabung der aktiven Therapie in seinen Schriften
angegeben wurden. In den meisten Fällen richteten sich die aktiven Ein-
griffe gegen die den Dauerbildungen zugrunde liegenden Partialtriebe, um
nach Ferenczis Ausdruck eine „sexuelle Anagogie” zu erzielen. Da
ereignet es sich oft, daß nicht die erwartete stürmische Reaktion in Form
des neurotischen Agierens oder der positiven oder negativen Übertragung
erfolgt, sondern daß intermediäre Dauer- oder Schutzbindungen zustande
kommen, wie im Falle des Asgoraphobikers das Hervortreten einer
Bewegungslosigkeit und Atmungsangst oder ein „Ruhig-Spazieren-Spiel“
bei der Erzwingung des Alleingehens. Diese Zwischenbildungen müssen
dann mit den üblichen Mitteln der Psychoanalyse oder, wenn nötig, wieder
mit Hilfe aktiver Eingriffe behoben werden.
Die Beachtung der neurotischen Dauerbildungen mit erotischem All-
machtscharakter gibt auch wertvolle prognostische Winke, da sie oft bei
Te —
ı) In dieser Hinsicht dient das Symptom auch der Ichallmacht, wie naturgemäß
oft beide Arten der Allmachtsgefühle vereint auftreten.
2) Da die angeordneten Bewegungs- und Atemübungen fälschlich den Eindruck
hätten machen können, es handle sich hier um eine Art Übungsbehandlung, so mußte
dem Pat. die entsprechende Erklärung gegeben werden. Es ist überhaupt auf diese
Neigung der Pat., die aktiven Maßnahmen als Medikament zu nehmen, zu achten,
und sie im Sinne der analytischen Situation zu denten.
z—————
Ko;
222 S. Pfeifer
der Ermittlung der anamnestischen Daten augenfällig sind. Selten bedarf
es einer länger dauernden Analyse, um zu erkennen, daß ein Teil der
Symptome solchen Bindungen der Libido entspricht. Weitere Beobach-
tungen sollen zur Klärung der Frage beitragen, inwieweit sich die
neurotische Dauerlust von der gewöhnlichen tonischen Bindung der Libido
im neurotischen Symptom unterscheidet und inwieweit sie einen krasseren
Spezialfall derselben darstellt.’
Eingegangen im Dezember 1925
ı) Vgl. Breuer und Freud: Studien über Hysterie.
|
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Aus der Analyse einer zwangsneurotischen
Arbeitshemmung
IE in der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ am 31. Januar 1928
Von
Lotte Kirschner
Berlin
Ich möchte heute von einem unter schweren Arbeitshemmungen leidenden
Zwangsneurotiker berichten, dessen Analyse nach knapp einjähriger Dauer
aus äußeren Gründen abgebrochen werden mußte, und es ist fraglich, ob er
in der Lage sein wird, sie wieder aufzunehmen.
Der Pat., ein im Beginn der Behandlung 24jähriger junger Mann, ist
Ausländer; seine Familie lebt in einem ferneren Land, während er selbst in
den en drei Jahren sich studienhalber in Berlin aufhielt. Er besuchte
eine Fachschule, um nach Beendigung des Studiums die geschäftliche Laufbahn
einzuschlagen.
Die Poliklinik suchte er wegen einer schweren Arbeitshemmung
auf, die ihn unfähig machte, seine Studien zum Abschluß zu bringen. Er
hatte es im Laufe der drei Jahre nicht weiter als bis zu einem kleinen
Vorexamen gebracht und konnte sich nicht zum Schlußexamen entschließen.
Er selbst führte die Arbeitshemmung auf Kopfschmerzen und Zwangs-
grübeleien zurück, die ihn hinderten, den Vorlesungen zu folgen oder ein
Buch durchzuarbeiten. Diese Grübeleien setzten sich aus drei Hauptfaktoren
zusammen: Minderwertigkeitsgefühle, Selbstvorwürfe und Zweifel. Pat. stand
weitgehend unter dem Eindruck seiner vermeintlichen Minderwertigkeit,
die sich nach seiner Angabe auf körperliches und geistiges Gebiet erstreckte.
Er sei dumm, beschränkt, nicht viel anders als ein Idiot. Körperlich sei er
schwächlich, ungeschickt, müsse doch auf jeden Fall den Anderen, Stärkeren
unterliegen. Diese Minderwertigkeitsgefühle wurden vom Pat. in hypochon-
drischer Weise verarbeitet. Um sich in der Analyse und auch mir zu beweisen,
wie wenig leistungsfähig er sei, achtete er mit größter Sorgfalt auf die
geringsten körperlichen Beschwerden. So hatte er sich z. B. eine leichte
Fußverletzung zugezogen, derentwegen er sich in orthopädische Behandlung
begab. An bestimmten Stellen der Analyse, bei deutlicher hervortretenden
realen Schwierigkeiten, kam er nun immer wieder auf den Unfall zu sprechen,
= eh
= Ä
224 Lotte Kirschner
der ihn zum „Krüppel“ gestempelt habe. Ähnlich erging es ihm mit einer
Nasenoperation, durch die er eine „Atrophie“ der Nase befürchtete; mit
zahnärztlichen Angelegenheiten (er hatte zwei Stiftzähne, die er so
ungefähr als das Schämenswerteste hinstellte, was man sich vorstellen
kann) und schließlich mit hypochondrischen Vorstellungen über seinen Penis.
Obgleich er ab und zu Verkehr gehabt hatte, sich also von der Erektions-
und Ejakulationsfähigkeit überzeugen konnte und zugeben mußte, daß er
imstande war, die Partnerin zur Befriedigung zu bringen, konnte er sich
nicht von dem Gefühl freimachen, daß er infolge der Kleinheit des Penis
hinter allen anderen Männern zurückstehe und daß er mit anderen Maßstäben
gemessen werden müßte.
Eine besondere Stellung in seinen Klagen nahmen die Kopfschmerzen
ein, die ihm deswegen als besonderer Beweis seiner Krüppelhaftigkeit
erschienen, weil er mit ihnen (infolge ihrer Lokalisation in der Nähe des
Gehirns) seine geistige Schwäche erklären zu können glaubte. Zäh hielt er an
der Annahme fest, daß die Kopfschmerzen Symptom eines organischen Leidens
sein müßten, einer Nasenerkrankung mit folgender Gehirnvereiterung, Zeichen
einer beginnenden Epilepsie, einer Paralyse usw,
Nicht weniger litt Pat. unter den zahlreichen Selbstvorwürfen, die
sich ihm im Kolleg oder bei dem Versuch, zu arbeiten, aufdrängten und in
die er sich immer tiefer verwickelte. Sobald er ein Buch in die Hand nahm,
mußte er sich sagen: „Die ganze Zeit habe ich vertrödelt, jetzt muß ich
beginnen wie der jüngste Anfänger! Alle anderen in meinem Alter sind
längst fertig und ich muß mich noch von meinem Vater erhalten lassen.“
Gerade dieser Punkt machte ihm am meisten zu schaffen: seinen Eltern zur
Last zu liegen; anstatt sie in ihrem Alter zu unterstützen, sie zu immer
neuen Ausgaben zu veranlassen. Im Kolleg bezog er häufig vorgetragene Dinge
auf sich, die ihn dann zu weiteren Grübeleien veranlaßten. So erging es
ihm z. B., als ein Professor den Staat mit einem ungeratenen Sohn verglich,
der mit dem Wechsel des Vaters niemals auskommt. Nach solchen Äuße-
rungen spann er sich häufig so in die darauffolgende Kette von Selbstvorwürfen
ein, daß er kaum noch etwas im Kolleg hörte.
In das Gebiet der Zwangsgrübeleien gehören auch die Zweifel, die ihn in
seinen Überlegungen befielen, und seine Fähigkeit, Entschlüsse zu fassen, stark
beeinträchtigten. Zur Erläuterung möchte ich ein charakteristisches Beispiel
anführen. Er war von einem Kollesen, der an einer Klinik arbeitete, zur
analytischen Poliklinik geschickt worden. Nachdem er die Behandlung begonnen
hatte, tauchte folgende Kette von Zweifeln auf: ob der jüngere Assistent ihm
etwas Richtiges geraten habe, wenn diese Behandlung vom Professor abgelehnt
werde (das war ihm gesagt worden). Ob, wenn vielleicht auch die Behandlung
richtig sei, die Poliklinik das geeignete Institut dafür sei. Ob der taghabende
Arzt wohl recht daran getan habe, ihn an eine Ärztin zu verweisen, oder
ob der Leiter der Poliklinik nicht verständnisvoller ausgewählt hätte. Ob,
wenn der Leiter ihm jemand vorgeschlagen hätte oder selbst seine Behandlung
übernommen, nicht doch die Lehre und Art der Behandlung gerade für ihn
schädlich sei. Ich glaube, ich brauche der Schilderung der Zweifelsucht kaum
etwas hinzuzufügen.
Schließlich möchte ich noch die Phantasien erwähnen, an denen Patient
Aus der Analyse einer zwangsneurotiscien Arbeitsheumung 225
mit großer Liebe hing, und die, von außen gesehen, im krassen Widerspruch
zu seinen anfangs erwähnten Ängsten zu stehen scheinen. Sie hatten alle
revolutionären und kriegerischen Inhalt. Er malte sich die Zustände aus, die
nach Ausbruch eines Krieges, einer Revolution ausbrächen, las mit Spannung
alle derartigen Zeitungsberichte, lief zu Aufläufen auf die Straße, beobachtete
mit Erregung militärische Übungen und erklärte, dal? er Frieden und Ruhe
hasse. Aber schon die bewußten Phantasien waren von leisen Angst- und
Unruhegefühlen begleitet.
Neben dieser Arbeitshemmung, die, wie gesagt, der Grund zur Behandlung
war, bestanden noch eine Reihe anderer Symptome. Von direkten Zwangs-
impulsen trat z. B. nur einer auf: zwangsmäßig nach hinten schauen zu
müssen und zu sehen, ob er etwas verloren habe. Dieser Impuls trat aber so
selten auf und war so wenig störend, verschwand auch oft monatelang, dal
Patient ihn nur selten zur Analyse brachte. Ähnlich erging es anderen,
früher in größerer Anzahl vorhandenen Zwangshandlungen, z. B. dreimaliges
Berühren einer Fußbodenstelle oder einer Türklinke, dreimaliges Ausspucken
bei schlechten Gedanken, Wiederholen von Worten und Silben. Da der Pat.
so wenig davon sprach (die zuletzt genannten Zwangshandlungen waren seit
Jahren nicht mehr aufgetreten), konnten sie zum größten Teil nicht genügend
tief verfolgt und durchgearbeitet werden. Auch seine Stellung zur Religion,
die Freidenkertum mit zwangsneurotisch genauer Ausübung bestimmter
Zeremonien verband, wurde ihm erst kurz vor dem Abschluß als neurotisches
Symptom bewußt und entzog sich dadurch ebenfalls einer tiefergehenden
Analyse. |
Außer den bisher geschilderten Symptomen sind zu erwähnen: ein
gestörtes Sexualleben, Unmöglichkeit, eine Frau wirklich lieben zu können,
dadurch bedingte Objektwahl, Störungen bei der Ausübung des Koitus im
Sinne mangelhafter Erektionen und zeitweise auftretende Kjaculatio
praecox.
Während seines Berliner Aufenthaltes kam als besonders störend noch sein
neurotisches Verhalten den Wirtsleuten gegenüber und eine sehr intensive
„Budenangst” dazu. Vor dem Mieten eines Zimmers mußte er sich auf das
genaueste vergewissern, ob es „sturmfrei“ sei, obgleich er bis zum Beginn
der Analyse, also innerhalb zweier Jahre, niemals gewagt hatte, ein Mädchen
auf sein Zimmer zu nehmen. Wenn er ein Zimmer gemietet hatte, so hatte
es entweder von vornherein solche Mängel, daß er es bald wieder aufgeben
mußte, oder er suchte nach ihnen derart, daß er sich kaum länger als ein
bis zwei Monate in einem Zimmer wohl fühlte und möglichst bald zu
kündigen suchte. Aber auch die Kündigung bereitete ihm große Schwierig-
keiten; er mußte ganze Gebäude von Lügen und Ausreden errichten, um
kündigen zu können, und suchte dabei eifrigst irgend einen bekannten Studenten
als Nachfolger für sein Zimmer. Wenn er jemand gefunden hatte, erleichterte
ihm das die Kündigung.
Die Budenangst äußerte sich darin, dal er es niemals längere Zeit am
Tag oder am Abend in seinem Zimmer aushielt. Er ging entweder in den
Studentenverein oder zu einem Bekannten, lief oft auch ziel- und planlos
in den Straßen herum, nur um nicht in seinem Zimmer bleiben zu
mussen.
nr Te TE ER En meer Ze EEE En Er a Eu
226 Lotte Kirscdhner
Ich möchte jetzt einen kurzen Überblick über die Anamnese geben: Der Vater
des Patienten hat in der Stadt, in der er jetzt wohnt, ein Geschäft. Der
Patient ist das vierte von fünf Kindern. Vor ihm kamen zwei Brüder, von
denen der eine verheiratet ist, der andere ist an Epilepsie erkrankt. Die
drei Jahre ältere Schwester studiert und steht kurz vor Beendigung ihres
Studiums. Die nach ihm folgende Schwester ist sieben Jahre jünger als er;
sie besucht noch das Gymnasium. Mit dem verheirateten Bruder, der früher
im Geschäft des Vaters tätig war, lebt die Familie in Feindschaft; gerade
dieser Bruder hatte Patient zum Studium geraten.
Das Geschäft des Vaters, das ursprünglich sehr gut gegangen sein soll,
brachte immer weniger ein und soll gerade in der letzten Zeit kurz vor
dem Konkurs gestanden haben. Als der Patient das Examen immer wieder
hinausschob, sah sich der Vater genötigt, ihn in die Heimat zurückzurufen,
um ihn ins Geschäft zu nehmen und dadurch seine Unkosten zu verringern.
Später änderte der Vater insofern seinen Plan, als er dem Sohn freistellte,
in Berlin zu bleiben, wenn er für seinen Unterhalt selbst aufkäme. Er riet
ihm deshalb, eine Stellung in einem Geschäft anzunehmen. Der Patient lehnte
dies ab und fuhr nach Hause.
Es soll im folgenden der Versuch gemacht werden, an Hand der Lebens-
geschichte des Patienten zu zeigen, wie die allmähliche Umwandlung des
Charakters des Patienten vor sich ging.
Die frühesten Kindheitserinnerungen des Patienten, die in der Analyse
aufgedeckt werden konnten, reichen bis in das dritte bis vierte Lebensjahr
zurück, und sie gestatten, sich ein Bild von dem Wesen des Patienten zu
dieser Zeit zu machen. Man sieht da einen kleinen Jungen vor sich, der,
ganz im Gegensatz zur späteren Ängstlichkeit und Passivität, außerordentlich
früh entwickelt gewesen zu sein scheint und dessen Triebstärke auf allen
Gebieten das Maß des Durchschnittskindes wohl erheblich überschritten hat.
So schildert er, wie er als Dreijähriger bei Tisch voller Eifersucht aufgepaßt
hat, ob die Mutter ihn im Gegensatz zu den Geschwistern nicht benach-
teiligte; wie er als selbstverständlich erwartete, daß sie seinen Eßwünschen
entgegenkam, seine Lieblingsspeisen kochte und ihm Ersatzspeisen vorsetzte,
wenn es etwas gab, was er nicht gerne aß. Geschah das nicht, so geriet er
in äußerste Wut, stampfte mit den Füßen, zerrte an der Mutter, bis der
Vater sie dadurch von dem Knaben befreite, daß er ihn mit der Rute
schlug.
Neben diesen oralen Wünschen machten sich offenbar in gleicher Stärke
anale und urethrale bemerkbar. Unter großen Widerständen, die sich über
einen Zeitraum von mehreren Wochen in der Behandlung erstreckten,
berichtete er, wie er als drei-, vierjähriger Junge die Großmutter heimlich:
auf dem Klosett beobachtet hatte und häufig beim Anblick des Gesäßes bis
zur Erektion erregt war. Unter noch größerer Überwindung brachte er
Erinnerungen an sexuelle Erregungen beim Beriechen der Kleider der Groß-
mutter. Er habe sich allein in ihr Zimmer geschlichen und das Gesicht an
die an der Wand hängenden Kleider gepreßt. Sexuelle Erregungen seien
auch beim Beriechen des Urins der Großmutter aufgetreten.
Die phallische Stufe ist also erreicht worden, und zwar sowohl in Form
autoerotischer Befriedigung als auch in bezug auf bestimmte Objekte. Der
Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 297
. Pat. behauptete lange Zeit in der Analyse, niemals in seinem Leben onaniert
zu haben. Erst ganz allmählich tauchte die Erinnerung auf, wie er als zirka
Vierjähriger in seinem Bette lag, sich auf den Bauch legte, heftige Bewegungen
mit den Beinen ausführte und dabei über die schöne Freundin seiner
Schwester phantasierte. Das erste Objekt, auf das er seine genital-sexuellen
Wünsche übertrug, war nach den Erinnerungen, die im Verlauf der Analyse
bis zum Abschluß eruiert wurden, die Großmutter. Er wurde bis zum dritten
Jahr von ihr mit ins Bad genommen und soll damals beim Anblick ihres
Genitales sehr erregt gewesen sein. Im selben Alter kam es zu genitalen
Spielereien mit einem drei Jahre älteren Mädchen, das vom Patienten als
besonders kräftig und schön geschildert wurde.
Wenn die Erinnerungen des Patienten zeitlich nicht trügen, so begann in
dieser Zeit der Konflikt, der sich aus dem Zusammentreffen der Ödipus-
wünsche und der Kastrationsdrohung ergeben mußte. Der Patient hing mit
stürmischer Liebe an der Mutter. Er wurde oft von ihr ins Bett genommen
und mit Zärtlichkeit überschüttet. Dabei versuchte er, mit der Hand ihr
Genitale zu berühren, wurde aber öfter mit Klapsen zurückgewiesen. Später
versuchte er mit starken Lustempfindungen die Mutter zu beobachten; er
selbst verlegte die Lustempfindung bei der Beobachtung des Genitales der
Mutter in eine etwas spätere Zeit als die beim Anblick der Großmutter.
Andererseits sprechen Erinnerungen dafür, daß zu dieser Zeit bereits
Kastrationsdrohungen ausgingen, ohne in diesem Alter schon zur Wirkung zu
gelangen: er bekam Klapse für die Berührung der Mutter, Schelte für die
Onanie. Vor allem aber scheinen die aus dieser Zeit stammenden Erinnerungen
an die sozialen Unruhen in seiner Heimat die Intensität ihrer Wirksamkeit
durch die wahrscheinlich vom Vater ausgehenden Kastrationsdrohungen erlangt
zu haben. Der Pat. erinnert sich aus diesem Jahre, daß er gesehen hat, wie
ein junger Mann aus dem Nachbarhause gebunden wurde. Es war ein Revo-
lutionär, der nicht, wie sonst üblich, gefesselt, sondern wie ein Verrückter
gebunden worden sein soll. Das sollen merkwürdigerweise nicht Soldaten und
Beamte, sondern sein Vorgesetzter getan haben, dem er jahrelang treu gedient
hatte. — Dann erinnerte er sich an blutende verbundene Männer aus
dieser Zeit, und vor allem an ein Erlebnis, das später zu größter Wirksam-
keit kam. Im Jahr der Unruhen, als der Pat. drei Jahre alt war, blickte er
eines Tages vom Arm seines Kindermädchens auf die Straße. Niemand war
sonst zu Hause. Als er auf der Straße zwei Soldaten sah, klopfte er an die
Fensterscheiben. Die Soldaten blickten auf, stürmten ins Haus, drangen ins
Zimmer und verlangten Alkohol zu trinken. Auf die Hilferufe des Mädchens
eilte der nebenan wohnende Lehrer herbei, der von den Soldaten heftig gegen
die Kommode geschleudert wurde und dabei zu Boden fiel. Welche Bedeutung
dieses Erlebnis später für Pat. bekam, wird noch erörtert werden.
Das Bild, das der kleine Junge bis jetzt bietet, ist also: starkes, noch
kaum verdrängtes Triebleben. Außerst geringe Fähigkeit zur Ableitung oder
Verzicht (er soll alle Versagungen mit schweren Depressionen beantwortet
haben). Überzärtliche Einstellung zur Mutter; beginnender Konflikt mit dem
Vater, der bereits als Rivale empfunden wird. Haß und Angst fangen an,
sich bemerkbar zu machen. |
Die hier vorgezeichneten Linien der Entwicklung setzen sich in den
(4 PURE TEE TER = VE EEE EC TREE. 57 -VIE BRETTEN RECHNERS EEE sr RE 7 EnBBENEEREAEEN SE. EEE RE ER BEST TOREa ana taBBBARGERETERR A REIN
228 Lotte Kirschner
nächsten zwei Jahren fort und erfahren von allen Seiten Verstärkungen. Den
gesteigerten Triebansprüchen stehen schwerere Versagungen gegenüber. Das
geht vor allem aus seiner Einstellung zu Vater und Mutter und der jetzt
deutlicher hervortretenden gegen die Geschwister hervor.
Er beansprucht die Mutter immer mehr für sich und ist auf alle, die sie
ihm entziehen, in höchstem Maße eifersüchtig. Er erträgt es nicht, wenn sie
mit ihm spazieren geht und dabei Bekannte trifft, mit denen sie sich unter-
hält. Einmal, er mag ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, war die Mutter
krank und die Hebamme wurde gerufen. (Es scheint sich um einen Abortus
gehandelt zu haben.) Die Hebamme machte ihm die Tür zum Schlafzimmer
vor der Nase zu und riegelte sie ab. Darauf schlug er stundenlang mit Fäusten
und Füßen gegen die Tür und wußte nicht, was er in seiner Erregung
anfangen sollte. Er hatte derartige Haflgefühle gegen die Hebamme, dal er
ihr am liebsten etwas angetan hätte.
Auf wen diese Haßgefühle ursprünglich gerichtet waren, geht aus einer
Deckerinnerung hervor. Er berichtet, wie er sich als Fünfjähriger einem
Geschäftsfreund des Vaters gegenüber äußerst widerspenstig benahm, als er
ihn auf der Bank vor dem Hause neben der Mutter sitzen sah und nicht
ertragen konnte, daß sich die beiden miteinander unterhielten. Es ist unschwer,
unter dem Geschäftsfreund die Figur des Vaters zu erkennen.
Wie schwierig seine Stellung zum Vater wurde und welche Umwandlungen
sie erfuhr, geht wieder aus einer Reihe von Erinnerungen hervor, die aus
dem fünften und sechsten Lebensjahr stammen. Die anfangs geschilderten
Wutausbrüche werden seltener, er wird also vom Vater seltener mit der
Rute geschlagen. Seine Empörung gegen den Vater äußert sich vor allem in
einer bestimmten, immer wiederholten Geste. Er schlief nämlich bis zum
sechsten Lebensjahr im Bett des Vaters. Wenn er nun auf den Vater böse
war, so legte er sich möglichst entfernt von ihm und kehrte ihm die Rück-
seite zu.
Zu dieser Zeit scheinen die ersten deutlichen Anzeichen von Angst auf-
getreten zu sein. Er fürchtet sich auf der Straße beim Anblick von Betrunkenen
und Verrückten, entwickelt besonders starke Ängste vor Maskeraden und Ver-
kleidungen. Besonders unheimlich war ihm dabei der Zug Vermummter zum
Fest der Heiligen drei Könige, die sich in der Dunkelheit nur beim Schein
von Papierlaternen durch die Straßen bewegten. Außerdem traten nächtliche
Angste, Angstträume mit Enuresis nocturna auf, Besonders bedrückend und mit
Angstentwicklung einhergehend war ihm die nächtliche Stille im Schlaf-
zımmer, wenn er aus irgendeinem Grunde aufwachte. Aus seinen zahlreichen
Träumen passiven Charakters, die er in die Analyse brachte, konnte man
sehen, daß er nach dem Taliongesetz damals bereits als Strafe zu fürchten
begann, was er dem Vater wünschte: die Kastration.
Man wird gleich sehen, wie Angst und Leiden ihm dazu verhalien, seine
ursprünglichen Wünsche nun doch zu befriedigen. Die nächtlichen Angste
bewirkten, daß er im Schlafzimmer der Eltern noch schlafen durfte, als die
anderen Kinder bereits längst ausquartiert waren. Und wenn es ihm nicht
gelungen war, den Vater auf direktem Wege zu beseitigen oder zu stören,
so hatte er allmählich ein anderes Mittel gefunden, das ihm, allerdings unter
der Bedingung unangenehmer Sensationen, doch zum erstrebten Ziele führte.
Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 229
Er wachte nachts auf und klagte über Zahnschmerzen, — sofort nahm ihn
die Mutter zu sich ins Bett. In dieser Zeit litt er häufig unter nächtlichem
Hustenreiz. Der Erfolg war, daß die Mutter aufstand, ihn auf den Schoß
nahm und ihm Syrup gab, der unter Einhaltung besonderer Vorschriften
gewärmt werden mußte. Oder er wachte einmal auf und fand den Vater
nicht neben sich liegen. Er erschrak sehr, bis er ihn plötzlich im Bett der
Mutter fand. Darauf weinte er so, bis eines der Eltern zu seiner Tröstung
herbeigeeilt kam.
Sehr wichtig erscheint mir fernerhin die Erinnerung, daß er im fünften
oder sechsten Lebensjahr den Penis des Vaters und Bruders betrachtet und
berührt habe. Beide seien ihm außerordentlich groß erschienen.
Wie schon erwähnt, scheint die Rivalität mit den Geschwistern zu dieser
Zeit eine größere Rolle gespielt zu haben. Ich konnte das allerdings ebenfalls
zunächst nur aus Deckerinnerungen schließen. Er begann nämlich damals, sich
mit anderen Kindern herumzuschlagen. Er reizte sie, immer nur „aus Spaß“,
zwickte sie an den Ohren usw. und war sehr empört, wenn sie ihn dann
ernsthaft verprügelten. Er ist damals noch auf alle losgegangen, auf Größere
und Kleinere, Stärkere und Schwächere, scheint aber häufig den kürzeren
gezogen zu haben. Bald ist er mit Beulen, bald blutüberströmt nach Hause
gekommen; einmal wurde ihm von einem Jungen die Nase blutig geschlagen.
Er begann, sich bald als der Unterlegene zu fühlen und unter Minderwertig-
keitsgefühlen zu leiden. Er erzählt, daß er fast immer Schläge auf den Kopf
bekam. (Er führt jetzt noch seine Kopfschmerzen auf diese Erlebnisse zurück.)
Ich glaube, daß daraus schon deutlich genug zu entnehmen ist, daß die
Bedeutung dieser Kopfschmerzen auf unbewußte Identifizierung mit dem Penis
zurückgehen und dal3 die Minderwertigkeitsgefühle durch Kastrationsängste
ihre Intensität erlangt haben. Wie unterlegen er sich den anderen gefühlt
hat, geht auch aus einem Erlebnis aus dem vorschulpflichtigen Alter hervor.
Er wollte sich mit anderen Kindern auf einen Wagen schwingen. Den anderen
gelang das sofort, er aber kam mit den Füßen zwischen die Räder und hing
längere Zeit mit dem Kopf nach unten. Auch dieses Erlebnis, bei dem ihn
übrigens am meisten beschäftigte, ob auch nicht sein neuer Spazierstock
beschädigt worden sei, führt er als Ursache seiner Kopfschmerzen an. Auch
hier verdeckt meiner Meinung nach die Angst vor dem Blutandrang zum
Kopfe die Angst vor der Strafe für die verbotene Erektion.
Noch ein bedeutsames Ereignis seines sechsten Lebensjahres ist nachzu-
holen; der erste epileptische Anfall seines Bruders. Drei Jahre nach dem Erlebnis
mit dem Lehrer spielte der damals noch gesunde Bruder mit der Tochter des
Lehrers, wobei er ihr etwas wegnehmen wollte. Der Lehrer, dessen Tochter
ihm den Vorgang berichtet hatte, schalt heftige auf den Bruder und soll ihm
sogar mit der Pistole gedroht haben. Am Abend dieses Tages bekam der
Bruder den ersten Anfall — wie der Pat. meint — als Reaktion auf die
Drohung. In der Analyse stellte sich heraus, daß der Pat. glaubte, die Drohung
des Lehrers sei eine Rache für die von dem Soldaten erlittene Kränkung aus
der Zeit der Unruhen gewesen, als deren Urheber er sich fühlte. Diese
Rache sei ihm eigentlich zugedacht, er hätte also Epileptiker werden müssen.
Seit dieser Zeit datieren die schweren Schuldgefühle gegen diesen Bruder,
mit dem er sich weitgehend identifiziert. Er sagte einmal in der Behandlung:
230 Lotte Kirschner
„Wie kann man denn lebensfroh sein, wenn man einen solchen Bruder in der
Familie hat? Wie kann man selbst Liebe für eine Frau empfinden, da die
Ärzte dem Bruder sexuelle Enthaltsamkeit geraten haben ?”
Wenn man sich noch einmal die psychische Situation vor Augen hält, in
der Patient im fünften und sechsten Lebensjahr war, so handelt es sich um
folgendes: Zuspitzung des Ödipuskomplexes, genital-sexuelle, auf die Mutter
gerichtete Wünsche, entsprechend gesteigerte Feindschaft mit dem Vater. Der
Haß gegen den Vater darf nicht gezeigt werden wegen dessen Überlegenheit
und der wirksam werdenden Kastrationsdrohung. Er muß wahrnehmen, daß
er ohnehin einen viel kleineren Penis als Vater und Bruder hat; zugleich
mögen in ihm die Erfahrungen weiterwirken, die er bei der Berührung und
Beobachtung der Mutter gemacht hat. Die sexuellen, auf die Mutter gerichteten
Wünsche und die gegen den Vater gerichteten feindlichen Impulse werden
also unter Einwirkung schwerer Schuldgefühle und unter Angstentwicklung
verdrängt. Die Rivalität mit den Geschwistern äußert sich zunächst noch in
ungehemmten Aggressionen, aber auch hier finden sich bereits Ansätze, die
auf die Notwendigkeit der Verdrängung hinweisen, ebenfalls wohl hauptsäch-
lich unter der Wirkung der Kastrationsdrohung.
Zwei wesentliche Ereignisse fallen in die Zeit des siebenten bis achten
Lebensjahres. Das erste war die Geburt der kleinen Schwester, die einen
weitgehenden Verzicht auf die geliebte Mutter nach sich zog und wahr-
scheinlich eine Reihe von Phantasien über die Entstehung der Kinder und
über die Rolle der Eltern dabei bewirkte. Einzelheiten darüber konnte ich
als Tatsachenmaterial in der Analyse leider nicht bekommen. Vor allem scheint
mir eine Steigerung seiner Schauwünsche dafür zu sprechen. Immer wieder
ließ er sich mit anderen Kindern das Genitale einer debilen Frau zeigen, die
auf Wunsch der Kinder zu jeder beliebigen Zeit ihre Röcke hob und den
Kindern ihr Genitale demonstrierte. Man sieht hier bereits die Verschiebung
dieser Wünsche von der Mutter auf Ersatzpersonen.
Das zweite Ereignis war geeignet, die Kastrationsdrohung zu intensivster
Wirksamkeit zu bringen. Zur selben Zeit ungefähr traf er mit seinen Kameraden
einen halbbetrunkenen Mann, der den Kindern im Spaß zurief, er werde
ihnen ihr Glied abschneiden, und dabei sein Messer hervorholte. Der Pat.
brachte diese Erinnerung nach Art der Zwangsneurotiker zuerst ohne Affekt,
als etwas ganz Gleichgültiges; er glaubte, damals keine Angst gefühlt zu haben.
Erst sehr viel später erinnerte er sich, beim Anblick des Messers entsetzt die
Flucht ergriffen zu haben. Zur selben Zeit fiel ihm auch in der Analyse ein,
daß die damaligen Schauwünsche bereits eine Kombination von sexueller
Erregung und Angst in sich trugen, was er ursprünglich ebenfalls nicht mehr
erinnert hatte. Ich glaube, in diesem Zusammentreffen von Angst und sexueller
Erregung bei den Schauwünschen die ersten Andeutungen einer echten maso-
chistischen Perversion zu sehen.
In diese Zeit fällt eine Verstärkung seiner Angst vor Verrückten und
Betrunkenen. Zugleich machen sich die ersten Symptome einer Arbeitshemmung
bemerkbar. Er haßt die Lehrer durchwegs, fürchtet sich vor ihnen und kann
sich schon nicht mehr bei den Arbeiten konzentrieren. Außerdem zeigt sich
eine weitgehende Veränderung der Äußerungsform seiner Wut. Es genügt
bereits die Drohung mit der Rute oder ein Blick auf sie von seiten des
|
|
EEE
Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 231
Vaters, um einerseits Gefühle ohnmächtiger Wut in ihm wachzurufen mit
Wünschen, den Vater zu schlagen, zu beißen usw., um dagegen andererseits
den Ausbruch der Wut zu verhindern: er wird immer stiller, zieht sich in
trotziges Schweigen zurück — und erreicht, daß die Mutter, betroffen von
der ihr unheimlichen Reaktion, schleunigst seine Wünsche erfüllt, also ähnlich
wie in der früheren Kindheit.
Die Kastrationsdrohung hat also infolge der Erfahrungen, die der kleine
Junge macht und denen er sich nicht länger verschließen kann, an Realitäts-
wert gewonnen und bewirkt weitere Verdrängung und ein allmähliches, nicht
mehr aufzuhaltendes Hineingleiten in die Passivität. Zugleich verschieben sich
die Haßgefühle vom Vater auf Ersatzpersonen, in der Hauptsache auf Lehrer,
und bewirken allem Anschein nach infolge der Unmöglichkeit ihrer Ver-
arbeitung an erster Stelle die Arbeitshemmung, Er hat also nicht mehr die
Möglichkeit, seine Aggressionen der Realität anzupassen, sondern wird von
ihnen infolge des Verdrängungsmechanismus immer weiter in den Masochismus
hineingetrieben.
Die beiden nächsten Jahre brachten nichts grundsätzlich Neues, sondern
nur ein Fortschreiten in der eingeschlagenen Richtung. Bei den fortgesetzten
Prügeleien mit den Jungen erfährt er eine Niederlage nach der andern. Er
muß dazu noch vom Vater zu hören bekommen, daß er dadurch sterben oder
vehirnkrank werden würde, so daß man also annehmen darf, daß er aus
masochistischen Gründen die Situationen aufsucht, in denen er unterliegen
muß. Er wird von den anderen wegen Untauglichkeit von einer Jungen-
Kampforganisation ausgeschlossen und beginnt, sich mehr und mehr mit der
passiven Rolle abzufinden.
Im elften Jahr machte er eine Beobachtung, die seine Sexualscheu nur
noch vergrößern konnte. Er beobachtete mit anderen Kindern auf dem Hofe
der Synagoge einen Koitus, der von einem halbidiotischen Mann und der
oben erwähnten debilen Frau z Zergo unternommen wurde. Er schildert in
der Analyse, daß er tagelang von dem Eindruck, den diese Szene auf ihn
machte, verfolgt worden sei. Er empfand ein mit Erregung gemischtes Grauen.
Nach seinen eigenen Worten hat er das Gefühl gehabt, als sei das Genitale
der Frau „nach unten verdreht“, als hätten die Gedärme herausgehangen. Am
Genitale dieser Frau hatte er vorher bereits Blut gesehen.
Dieser Anblick schien ihm zu bestätigen, daß das Sexualleben etwas uner-
hört Grausames sei. Ohne sehr viel an Einzelheiten zu erfahren, konnte ich
doch aus seinen Reaktionen und vor allem aus den Träumen entnehmen, daß
er geglaubt hatte, daß die Frau einen Penis, und zwar einen analen (Groß-
mutter), habe; dieser Penis schien ihr ja beim Koitus genommen zu werden.
Außerdem bestand bei ihm zu dieser Zeit die Theorie, daß die Kinder vom
Darm geboren würden. Sexualität war also etwas, wobei die Frau schwerste
anale Schädigungen und Verletzungen erfuhr.
Ich kann vielleicht gleich hier erwähnen, daß er aber auch schwerste
Schädigungen des Mannes beim Koitus zu erwarten schien. Schon in der
frühen Kindheit tauchten die Erinnerungen an verwundete und blutende
Männer auf. Während der Analyse hatte er einmal einen Traum, in dem er
mit der älteren Schwester durch die Straßen ging. Überall hätten verstümmelte
und blutende Männer gelegen. Während er von Entsetzen gepackt worden sei,
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232 Lotte Kirschner
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et rT7 rn
habe sich die Schwester alles ganz ruhig und kalt lächeind angesehen. — In
einem Restauranttraum träumte er, daß eine Frau ihm alles, was er sich
bestellt hatte, wegnahm; zuerst das Fleisch vom Teller und nachher das, was
er sich zu Trinken bestellt hatte. Als er sich wehren wollte, sei sie mit dem
Besteck auf ihn losgegangen.
Immer mehr setzte sich in ihm der Eindruck fest, daß Sexualität gleich-
bedeutend mit Verrücktheit und Betrunkenheit sei. (Angst vor den verrückten
Männern und Frauen!) Dabei schien die anfangs noch ganz deutlich bzw sexuelle
Erregung beim Anblick Verrückter immer weiter der darüber gelagerten
Angst zu weichen. — Er schilderte einmal den epileptischen Anfall des Bruders, vor
dem er sich unsagbar fürchtete, als etwas, was aus der Ruhe plötzlich her-
vorbricht, zu rasender Erregung führt und danach zur Ruhe zurückkehrt.
Das Ergebnis der bisherigen Entwicklung des Knaben ist also: schwere
Angst vor der Sexualität, Angst vor dem kastrierenden Mann und vor der
kastrierenden aktiven Frau. Es bleibt noch zu untersuchen, in welcher Weise
der Durchbruch sexueller Strömungen gegen diese Ängste vor sich geht und
welchen Ausweg der Patient in der Auseinandersetzung mit dem Vater findet.
Während der ersten Pubertätsjahre fehlt nach den Schilderungen des Fat.
alles Aktive, Draufsängerische. An Stelle der normalen Loslösung des heran-
wachsenden Jünglings von den Eltern macht sich eine immer stärkere Bindung
an das Haus bemerkbar. Alle aggressiven Regungen gegen den Vater sind ver-
drängt und haben einer zärtlichen Liebe von passiv-homosexuellem Charakter
Platz gemacht. Der Pat. ist unglücklich, wenn der Vater in diesen Jahren
geschäftliche Reisen unternehmen muß, weint in seiner Abwesenheit, geht
tagelang vor der zu erwartenden Rückkehr des Vaters auf die Bahn und ist
schwer deprimiert, wenn er wenige Stunden oder Tage später, als verabredet,
heimkehrt. Die Todeswünsche sind der Angst um das Leben des nun bw nur
geliebten Vaters gewichen.
In diese Zeit fallen manifest homosexuelle Erlebnisse mit einem der
älteren Brüder, die der Pat. lange Zeit bw verschwieg und von denen zu
berichten er kaum zu bewegen war. Als der Pat. zwischen dreizehn und
vierzehn Jahren alt war, kam der Bruder mehrmals zu ihm ins Bett. Er
rieb dabei den Penis au dem entblößten Leib des Pat., der die Stellung der
Frau einzunehmen hatte. Mehrmals versuchte der Bruder auch einen analen
Koitus. Wenn der Pat. die aktive Rolle übernehmen sollte, kam es bei ihm nie
zu Erektionen. Von diesem Bruder ließ er sich später zum Studium „verführen“.
In dem Durchbruch dieser passiv-homosexuellen Tendenzen ist m. E. der
Abschluß einer seit frühester Kindheit beginnenden Entwicklung zu sehen.
Nach Verdrängung der auf die Mutter gerichteten Wünsche und der feind-
lichen Aggressionen rettet er sich in die Identifizierung mit der Mutter, um
als Ersatz für die Liebe der Mutter und aus Furcht vor dem Vater wenigstens
die Liebe des Vaters zu erhalten. Die Ansätze dazu waren, wie schon erwähnt,
in der frühesten Kindheit zu beobachten. Ich erinnere an dieser Stelle noch
einmal an das Umdrehen des Fünfjährigen im Bett, wenn der Vater ihn von
der Mutter getrennt hatte.
Die späteren Pubertätsjahre (vom sechzehnten bis achtzehnten Jahr) erwecken
noch einmal die infantilen Ödipuswünsche; dabei wird statt der Mutter die
ältere Schwester als Ersatz genommen. Das ersehnte Ziel bei dieser Objekt-
— m _—
233
A
Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung |
wahl ist nicht der Koitus, sondern — ebenfalls analog den Kinderjahren —
das Schauen und Berühren. Gegen Ende der Analyse erzählte Pat. von der
Übersiedlung der Familie nach X. Dabei schlief er einmal im Waggon neben
der Schwester. Plötzlich hatte er den triebhaften Wunsch, sie aufzuwecken,
ihr Genitale anzuschauen und zu hetasten. Er versuchte, die Decke etwas
hochzuheben. Als sie dabei im Schlaf eine Bewegung machte, führte er sein
Vorhaben nicht aus und war nachher beim Anblick der Schwester stets von
schwersten Schuldgefühlen erfüllt. Später richtete er dieselben Wünsche auf
ein Dienstmädchen. Er drängte als Achtzehnjähriger, sie in ihrer Kammer
aufzusuchen, um sie zu beschauen und zu berühren. Nachdem er tagelang den
Plan mit sich herumgetragen und mehrmals Anläufe dazu unternommen hatte,
ihn zu verwirklichen, ging er eines Nachts tatsächlich zu dem Mädchen, war
aber dabei so ungeschickt, daß das Mädchen vorher erwachte und offenbar
am nächsten Tage der Mutter Mitteilung davon machte.
Aus den letzten vier bis fünf Jahren war an Tatsächlichem nichts wesent-
lich Neues zu erfahren. Von den Wirkungen, die die Fußverletzung und das
Nasenleiden auf ihn ausübten, und von der in Berlin besonders deutlich zutage
tretenden Arbeitshemmung habe ich bereits am Anfang eingehend berichtet.
Als ich mir am Beginn der Analyse die Frage vorlegte: Wodurch unter-
scheidet sich der Pat. von anderen jungen Leuten seines Alters ?, so erschien
mir als hauptsächliches Merkmal der Mangel an motorischem
Antrieb, das Fehlen jedes wirklichen Strebens nach Selbständigkeit und
infolgedessen das Verharren in der infantilen Situation. Beruf, Verdienst-
möglichkeit, Selbständigkeit waren Dinge, die für „später“ für ihn in Betracht
kamen, so wie ein Kind davon spricht, was es tun wird wenn es erst groß
sein wird. Ihm fehlte gefühlsmäßig völlig das Verständnis dafür, daß das
„Großsein“ für ihn bereits herangekommen war.
Ich kann das vielleicht noch einmal kurz an seiner bıv Einstellung zu den
Menschen beleuchten.
Den Vorgesetzten gegenüber fehlte ihm jede Unbefangenheit und
Sicherheit. Seine Angst vor ihnen — sei es Dozent oder Chef — machte es ihm
zum großen Teil unmöglich, ins Examen zu gehen oder sich eine Stellung zu
suchen. Schon bei der Vorstellung dieser Dinge reagierte er mit Herzklopfen
und Schwindelgefühl. Er wagte nicht, Seminare zu belegen, in denen die
Teilnehmer ausgefragt wurden; er schindete höchstens solche Übungen,
während er angstvoll und unruhig dem Augenblick entgegensah, in dem der
Dozent aus Versehen eine Frage auch an ihn richten würde. Der Kreis der
„Vorgesetzten“ erweiterte sich naturgemäl) immer mehr, umfaßte z. B. später
Leute, wie Friseur, Bibliotheksdiener usw.
Ähnlich erging es ihm mit Kollegen. Er vermochte sich ihnen gegen-
über nicht durchzusetzen, seine aggressiven Regungen an Stellen anzubringen,
wo es für ihn zweckmäßig war. Sondern er zeigte sich ihnen gegenüber als
besonders weich und übemachgiebig. Er vermochte z. B. aus Angst nicht,
ihnen Bitten um Gefälligkeiten, Besorgungen usw. abzuschlagen, und konnte
nicht versagen, wenn man ihn anpumpte, obgleich er selbst in äußerst
bedrängter Lage war und innerlich sehr erregt gegen die an ihn gestellten
Anforderungen protestierte.
Seiner Ängst vor der kastrierenden Mutter entsprechend war auch sein
Int. Zeitschr, f. Psychoanalyse, XIV/2 16
Verhalten Frauen gegenüber von der Norm abweichend. Die Angst spiegelte
sich besonders deutlich in seinem schon erwähnten Verhalten den Zimmer-
vermieterinnen gegenüber wider. Er mußte alles tun, um diese Damen bei
guter Laune zu erhalten und reagierte mit schweren Depressionen, wenn er
von einer von ihnen etwas unfreundlich behandelt wurde. Der Frau als
Liebesobjekt gegenüber war es ihm nicht gelungen, die sinnlichen und zärt-
lichen Regungen auf eine Person zu vereinen. |
Überdenke ich nun noch einmal, was ich bisher geschildert habe, so kann
ich mich vielleicht eines Buchtitels von Freud bedienen: „Hemmung, Symptom
und Angst.“ Und zwar habe ich zuletzt einen Zustand allgemeinster Hemmung
geschildert, hervorgegangen aus frühkindlichen Ängsten, der dem Bewußtsein
des Pat in Form seines Hauptsymptoms zugänglich wurde. Alles, was ich
eben schilderte, gipfelt in dem, was er seine Arbeitshemmung nannte. Seine
außerordentlichen Minderwertigkeitsgefühle bw Art werden so
ebenfalls verständlich, obgleich es ja zur Charakteristik jeder Neurose gehört,
daß der Pat. seine Minderwertigkeitsgefühle falsch lokalisiert.
Es würde zu weit führen, diese Verschiebung nun noch einmal in allen
Einzelheiten zu schildern; ich nehme an, daß man einen ausreichenden Ein-
druck von der Beziehung der Minderwertigkeitsgefühle auf ubw genitales
Material gewonnen haben wird, während der Pat. es in rationalisierter Form
vorbringt. Seine Zwangsgrübeleien stehen diesen Minderwertigkeits-
gefühlen sehr nahe. Sie enthalten wiederum dem Bewußtsein des Pat. nicht
zugängliches Material sexueller und sadistischer Art. Oben wurde ja in aller
Breite dieses Material in seinen genetischen Zusammenhängen geschildert.
Zwei weitere Formen seiner Symptome schließen sich hier an: ı) seine
Selbstvorwürfe, die mit den gleichen Inhalten z. T. Zwangscharakter
annehmen; 2) seine Budenangst, die im wesentlichen die angstvolle
Flucht vor dem Bewußtwerden des entsprechenden Materials in der Stille
des Alleinseins darstellt. Daß das konversionshysterische Symptom seiner
Kopfschmerzen ebenfalls hierher gehört, geht ja eindeutig aus dem
hervor, was er selbst in bestimmten Stadien der Analyse vollständig richtig
aufdeckte. Im wesentlichen handelt es sich dabei um ein konversions-
hysterisches Aquivalent seiner Zwangsgrübeleien.
In Ergänzung seiner Hemmungen auf dem Gebiete der Arbeit schilderte
ich oben die Hemmung der Frau gegenüber. Als Hauptsymptom auf diesem
Gebiet wurde seine Ejaculatio praecox genannt, der mangelhafte Erektionen
vorangingen.
Zwei entgegengesetzte Erscheinungen stehen im wesentlichen hinter diesem
Symptom: Aggression gegen die Frau und Angst vor ihr, der Kastrierenden.
Die genetischen Bedingungen für die Entstehung dieser Symptome sind oben
breit geschildert worden. Als Oberflächenerscheinung jener tieferen Schichten
möchte ich noch hinzufügen, daß er sich vor der Analyse niemals beim
Koitus schützte, daß aber hinter dem masochistischen Wunsch, sich zu
infizieren, auch der entgegengesetzte stand, die Frau nicht vor Schwanger-
schaft zu bewahren. Am schönsten fand er beim Koitus den Augenblick vor
der Ejakulation, das sei ein wunderbares Gefühl blinder Wut.
Durch die Ejaculatio praecox enttäuschte er einerseits die Frau und entzog
sich andererseits der Gefahr, seinen Penis in der Vagina zu verlieren.
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Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 235
Zum Schlusse möchte ich auf einige besondere Schwierigkeiten hinweisen,
die der Analyse entgegenstanden. Es waren in der Hauptsache ubw
Illusionen und sekundärer Krankheitsgewinn. Die beiden
Illusionen, an denen er am festesten hing, waren die: eines Tages das große
Los zu gewinnen und mit einem Schlage gesund zu werden. Das Festhalten
dieser Illusionen hatte vor allem den Sinn, ihn vor der Einsicht zu schützen,
daß mit der Gesundung ein Stück schwieriger Arbeit im Sinne einfachsten,
zum Teil stumpfsinnigen Paukens einhergehen konnte. Gesund sein war für
ihn mit der Illusion verbunden: nur das tun zu müssen, was einen inter-
essiert, alles im Fluge lernen zu können, ohne sich zu irgend etwas zwingen
zu müssen. Er sagte einmal bei Besprechung der Kopfschmerzen: „Kopf-
schmerzen bekommt man, wenn man sich überanstrenst, d. h. wenn man
sich zwingen muß, etwas zu tun, was man nicht will.“ Und ein andermal:
Manchmal schlage er ein Buch auf, nicht aus gutem Willen, sondern weil
er sich bedrängst fühle, und dann bekomme er Kopfschmerzen. Er glaubte, nur
von dieser Arbeitshemmung befreit zu sein, dann würde er sein fabelhaftes
Talent, seine hervorragende Begabung entfalten und alle Lernhindernisse ohne
Schwierigkeiten nehmen können. Es gehörte zu seinen größten Enttäuschungen,
als ich ihm in der Analyse klarzumachen versuchte, daß er sich auch nach
Aufhebung der Hemmung aller Wahrscheinlichkeit nach als Durchschnitts-
mensch mit durchschnittlicher Intelligenz erweisen wurde, der die Kleinarbeit
und Anfängerarbeit durchmachen müsse, wie es im allgemeinen üblich und
notwendig sei, da auch der gesunde Mensch in der Berufsarheit Dinge
erledigen müsse, die er häufig genug nur aus der Notwendigkeit des Existenz-
kampfes heraus tut, und dal das Leben auch vom Gesunden Anstrengung
und Mühe erfordert.
Der sekundäre Nebengewinn bestand zum großen Teil darin, daß er sich
durch die Neurose die eben beschriebenen Illusionen aufrechterhalten und
sich dadurch den Einsichten entziehen konnte. Außerdem ging seine Familie
zu seinem Verhängnis so weit auf seine Neurose ein, daß sie ihm alle
Anforderungen erließ, die im allgemeinen an einen Menschen seines Alters
und seiner Situation gestellt zu werden pflegen, so daß er keinen genügenden
äußeren Druck verspürte, seine Neurose aufzugeben. Wenn er nach Hause
schrieb, dal irgend etwas ihn in einem der Briefe verstimmt habe, so
bemühte sich die Familie ängstlich, so etwas nicht wieder zu schreiben und
ihm auch niemals einen Vorwurf zu machen. Was ihm durch die Neurose
gewährleistet wurde, war die Rücksichtnahme der Familie und die Abnahme
aller materieller Lasten. So meinte er, er würde sich vielleicht doch abfinden
mit dem Gedanken, krank zu sein; dann könne er sich eben leisten, nichts
zu arbeiten. Er wußte, man würde ihn nicht verhungern lassen oder ihm
den Stuhl vor die Tür setzten. Darum begnügte er sich lieber mit einem
bescheidenen Wechsel, wenn ihm nur die Berufsarbeit erspart blieb. Für die
Taube auf dem Dach wollte er einen Spatz in der Hand nicht aufgeben.
Die Behandlung mußte sich als Ziel setzen, den Pat. von den ihn
beherrschenden infantilen Ängsten und Schuldgefühlen zu befreien und ihm
dadurch zu ermöglichen, sich entsprechend der Erwachsenensituation zu
benehmen, ohne von Kinderängsten bedrückt zu werden. Die Ängste hatten
ihn ja gehindert, die zum Leben notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen
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zu sammeln und zu verwerten, so daß durch die wachsende Unerfahrenheit
und Weltfremdheit seine Angst schließlich mehr und mehr begründet wurde.
Je mehr er von dieser Angst befreit werden konnte, um so mehr Kraft
mußte er freibekommen für das Erlernen und Nachholen der primitivsten
Realkenntnisse.
Des weiteren hatten ihn die Angst und Schuldgefühle an der Bildung
fester Zielvorstellungen für das Leben gehindert. Er empfand das Leben zum
großen Teil nur als eine höchst unerfreuliche Angelegenheit, die nur aus
einem Kampf mit viel Stärkeren und Überlegeneren besteht. Die Analyse
mußte ihm dazu verhelfen, sich allmählich ein Bild von den Möglichkeiten
des gesunden Menschen machen zu lernen, um daran zu erkennen, daß sie
in der Regel trotz aller Schwere befriedigender und genußreicher sind als
die mageren Wunscherfüllungen, die das Bestehen der Neurose mit sich
bringt.
Die vorliegende Neurose, die mit einzelnen Symptomen, wie z. B. Ver-
stimmungszuständen, in das dritte und vierte Lebensjahr zurückreichte und
weitgehend den Charakter beeinflußt hatte, konnte natürlich in einem knappen
Jahr nicht zur Heilung gebracht werden. Es verschwand während der Analyse
das dauernde Zimmerwechseln (der Patient wohnte zuletzt sechs Monate in
einem Zimmer und fühlte sich sehr wohl), die Budenangst; das Sexualleben
war in den letzten Wochen ganz ungestört; der Patient kam während eines
Zusammenseins mehrmals zum vollen Orgasmus ohne Ejaculatio praecox.
Allerdings spielt hier wohl auch die bevorstehende Abfahrt eine Rolle, deren
Aussicht ihm alle Lasten des Liebeslebens nahm und dadurch eine Ver-
minderung seiner Ambivalenz bewirkte. Als die Entscheidung gefallen war
und er sich nur noch mit der Tatsache seiner geschäftlichen Tätigkeit beim
Vater abzufinden hatte, überwand er auch seine Arbeitshemmung zum Teil
und konnte sich wenigstens streckenweise durch ein Buch über Buchhaltung
durcharbeiten, als erste Vorbereitung zum Berufsleben.
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Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer
psychiatrisch-neurologischen Untersuchung von
Chauffeuren
Von
M. Wulff
Berlin
In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, einigen Tatsachen
und Erscheinungen, die unerwarteterweise bei einer psychiatrisch-neurologischen
Untersuchung von Chauffeuren in Moskau aufgedeckt worden sind, eine
Erklärung zu geben. Die Untersuchung selbst wurde nicht von mir vor-
genommen, sondern von Frau Dr. med. Tschernucha, einer nicht psycho-
analytisch geschulten Nervenärztin. Es wurden nur die üblichen psychiatrisch-
neurologischen, keine psychoanalytischen Untersuchungsmethoden angewandt.
Dieser Umstand schützt vor dem üblichen Vorwurf, die Psychoanalytiker
suchten und fänden überall nur das Sexuelle. In der Tat sind dabei haupt-
sächlich Tatsachen sexueller Natur, die in einer sonderbaren Weise mit Angst-
gefühlen und phobischen Symptomen verbunden waren, aufgedeckt worden.
Die untersuchten 530 Chauffeure wurden von Dr. A. Tschernucha in
drei Gruppen geteilt: Die erste Gruppe bildeten die Chauffeure, die ihren
Beruf erst vier bis zehn Monate ausübten. Sie machten im ganzen nur
34 Prozent der Untersuchten aus, d. h. ı7 Mann. Diese Leute litten alle an
Angstgefühlen während der Fahrt. Bei ı5z von ihnen war die Angst mit
somatischen Erscheinungen verbunden: „Herzbeklemmung“, Herzklopfen,
Erröten des Gesichtes, Hitzegefühle im ganzen Körper, Schweißausbrüche.
Außerdem traten in zehn Fällen in Verbindung mit der Angst sonderbare
Empfindungen in der Sexualsphäre auf: eine unbestimmte angenehme Emp-
findung in der Richtung vom Herz zu den Genitalien, „wie beim Schaukeln“,
Erektionen, Ejakulationen, in zwei Fällen Harndrang.
Die zweite Gruppe hatte eine Arbeitszeit von ein bis anderthalb Jahren
hinter sich und umfaßte 42 Prozent der Untersuchten, nämlich 2ı Mann.
Von vier Mann waren im Untersuchungsmaterial überhaupt keine Angaben
über ihr Sexualleben zu finden. Das kann aber weder etwas für noch gegen
diese Befunde sagen: Die sexuelle Frage tauchte nämlich — wie gesagt —
während der Untersuchung ganz unerwartet auf; zu Beginn der Arbeit wurden
daher noch keine diesbezüglichen Details verzeichnet und keine speziellen
Fragen darüber gestellt. Erst die Untersuchten selbst haben durch ihre Klagen
die Aufmerksamkeit des Arztes auf diese Tatsachen gelenkt. Drei Fälle dieser
238 M. Wulff
Gruppe klagten über Angst während der Arbeit, zwar ohne begleitende
Genitalempfindungen, dafür aber berichteten sie über sonderbare Empfindungen
während des Koitus: „Als ob ich im Autobus fahre.” Bei geschlossenen Augen
sahen sie Straßen, ein Gewimmel von Menschen, in einem Falle wurde der
Koitus durch ein (halluzinatorisches?) Automobilsignal unterbrochen. Alle diese
Empfindungen hatten dabei den Charakter von etwas Fremdem, Störendem. In fünf
anderen Fällen dieser Gruppe war die Angst während der Fahrt nicht stark,
von keinen Sexualempfindungen begleitet, aber es ließ sich eine unbestimmte
Angst vor dem Koitus feststellen, die die Chauffeure selbst durch „Ermüdung“
erklären wollten. In vier Fällen wurde Angst gerade bei einer gefährlichen
Situation nicht empfunden, aber die ganze Arbeitszeit von einer unangenehmen
Unruhe beherrscht, von der ängstlichen Erwartung eines Unfalles. In fünf
weiteren Fällen blieben die Untersuchten während der Arbeit ganz ruhig —
sie erklärten es durch Gewöhnung — aber außerhalb der Arbeit wurden sie
immer von einer unbestimmten Angst gequält, wenn sie einen vorbeifahrenden
Autobus sahen; es kam ihnen so vor, als ob gleich ein Unglück geschehen
müsse. Einer von ihnen fährt außerhalb der Arbeit niemals im Autobus: „Es
wird sicher ein Unglück passieren.“ Ein anderer kann die Fahrstraße nicht
passieren aus Angst vor den Automobilen usw. Auch viel Aberglaube ist bei
den Leuten dieser Gruppe zu beobachten, wie z. B.: „eine Katze ist über
die Straße gelaufen“, „bei der Ausfahrt aus der Garage läuteten die Kirchen-
glocken“, „der erste Fahrgast war eine Frau“ usw., es gibt „schlimme
Strecken“ usw., das sind alles schlimme, unglückverheißende Vorzeichen.
Die dritte Gruppe endlich, mit einer Arbeitszeit von anderthalb bis zwei
Jahren, betrug 24 Prozent der Untersuchten, im ganzen ı2 Mann. Zwei von
ihnen litten an Zwangsangst außerhalb der Arbeit, bei zwei anderen sind
ähnliche Erscheinungen wie bei der ersten Gruppe (Angst bei der Fahrt mit
sexuellen Empfindungen) zu beobachten, in einem Fall sind keine Erscheinungen
dieser Art verzeichnet und sieben klagen über Verminderung der sexuellen Potenz.
„Zieht man noch dazu in Betracht,” — sagt Dr. Tschernucha, —
„daß bei der Untersuchung der Straßenbahnführer von 450 untersuchten Fällen
in 250 Fällen eine bedeutende Verminderung der sexuellen Potenz zu ver-
zeichnen ist, so wird der Versuch, irgendeinen Zusammenhang zwischen dem
Erleben des Angstaffektes und den Störungen der Sexualsphäre zu finden, gar
nicht so sonderbar erscheinen. Dieser Versuch wird wirklich durch die
Ergebnisse der interessanten Untersuchung von Dr. Tschernucha nahegelegt.
Leider leidet das Material an großen Defekten, was nicht zu verwundern
ist, wenn man in Betracht zieht, daß es als „Nebenfund” bei einer
Forschung, die ganz andere Zwecke verfolgt hatte, entdeckt worden ist. Für
den Psychoanalytiker ist besonders der Mangel genetischer Hinweise auf die
Art und Weise, wie sich die Symptome in jedem einzelnen Fall allmählich
entwickelt haben, bedauerlich. Diesem Mangel können wir bis zu einem
gewissen Grad abhelfen, da die Gruppen nach der Dauer ihrer Dienstzeit
eingeteilt sind, so daß wir die Abhängigkeit der sich entwickelnden krank-
haften Prozesse von der Arbeitsdauer feststellen können. So werden wir die
Möglichkeit finden, ein ungefähres Bild des Entwicklungsganges des patho-
logischen Prozesses, der scheinbar in so sonderbarer Weise gleichzeitig das
Affekt- und Sexualleben der Chauffeure ergreift, zu erhalten. Man kann die
Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer psych.-neurolog. Untersuchung 239
ungefähre Entwicklung des krankhaften Vorganges in folgender Weise schildern:
Am Anfang der Arbeit auf dem Autobus tritt die Angst nur während der Fahrt
auf und wird vollkommen durch die unzweifelhaft reale Gefahrsituation gerecht-
fertigt, die das Lenken des schnellfahrenden Autobus durch die schmalen,
belebten Straßen der Stadt mit sich bringt. Zu dieser dauernden ununterbrochenen
Angst, die täglich viele Stunden lang erlebt wird, gesellen sich bald Erschei-
nungen sexueller Natur, heftige, lang anhaltende sexuelle Erregung mit Erektionen,
Pollutionen usw. Aber außerhalb der Arbeitszeit sind bei den Leuten keine
irgendwie pathologische Erscheinungen zu verzeichnen, der seelische Sturm
während des Arbeitstages nimmt mit dem Schluß der Arbeit ein Ende.
Dieser ersten Periode, die für unsere erste Gruppe typisch ist, folgt eine
andere, die hauptsächlich dadurch charakterisiert wird, daß der Schluß der
Tagesarbeit nicht mehr Beruhigung bringt. Die Angst verfolgt den Chauffeur
auch noch außerhalb der Arbeit. Zugleich vermehren sich die Vorwände,
die die Angst während der Fahrt in Form der oben erwähnten aber-
gläubischen Vorzeichen rechtfertigen wollen. Ja, noch mehr, in vielen Fällen
aus dieser Gruppe bleibt der Chauffeur bei einer realen Gefahr, die während
der Fahrt mitunter auftaucht, verhältnismäßig ruhig, aber während der ganzen
Arbeitszeit wird er von der Erwartung eines Unglückes gequält, ein Zustand,
den wir als ängstliche Erwartung bezeichnen können. Hier finden wir zuerst
einen pathologischen Zustand schon im Angsterlebnis selbst: eine reale Gefahr-
situation hat keine Angstentwicklung zur Folge, die Angst wird von der
ursprünglichen Gefahrsituation abgelenkt und in einen pathologischen Zustand
der ängstlichen Erwartung bei Mangel der Gefahrsituation umgewandelt. Es
entwickelt sich ein Seelenzustand, der uns an den Zustand bei der Angst-
neurose erinnert, bei dem sich im seelischen Apparat eine große Menge Angst
ansammelt und das bekannte Bild der „frei flottierenden Angst“ liefert. In
fünf weiteren Fällen dieser Gruppe entwickelte sich der Prozeß dann noch
weiter: Diese Chauffeure haben sich schon an die Arbeit „gewöhnt“ und
bleiben während der Fahrt verhältnismäßig ruhig, dafür aber empfinden sie
eine unbestimmte Angst und Unruhe, wenn sie außerhalb der Arbeit einen
Autobus vorbeifahren sehen. Hier ist die Ruhe während der Arbeit durch
Angstentwicklung und Ansätze zu Phobien außerhalb derselben erkauft.
Zugleich treten aber sonderbare Erscheinungen im Sexualleben dieser Leute
auf. Die anfängliche sexuelle Aufregung während der Fahrt bleibt aus, aber
dafür klagen drei von ihnen über sonderbare Empfindungen beim Koitus,
„als ob man Autobus fährt”, beim Schließen der Augen ziehen belebte Straßen
voll Menschen vorbei, in einem Fall sogar wird der Koitus durch das
Erschallen eines Automobilsignals (halluzinatorisch?) unterbrochen. Alle diese
Empfindungen sind unangenehm, sie widersprechen ihrem affektiven Ton nach
dem Koituserlebnis und hemmen, paralysieren ihn. Bei fünf weiteren Fällen
entwickelt sich sogar eine ausgesprochene Angst vor dem Koitus. Es entsteht
ein ganz bestimmtes Bild: Die anfangs nur während der Fahrt gleichzeitig
mit der Angst erlebte sexuelle Erregung behält diese Verbindung im weiteren
auch außerhalb der Fahrt, nämlich bei sexuellen Erlebnissen, wobei die Angst
immer mehr die sexuelle Erregung paralysiert und hemmt. In dieser Tatsache
ist aber nicht eine Folge einer einfachen Assoziation im Sinne der Assoziations-
psychologie zu sehen, denn in der Tat haben wir hier gar keine Assoziation
240 M. Wulff
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irgendwelcher Bewußtseinsinhalte, sondern eine sonderbare gleichzeitige
Erregung von zwei entgegengesetzten, sich widersprechenden Affektzuständen,
von denen der eine anfangs den anderen erweckt, nachher hemmt und
paralysiert. Zu dieser Frage kehren wir im weiteren noch einmal zurück.
Bei der dritten Gruppe endlich mit der längsten Arbeitsdauer scheint der
Prozeß seinen mehr oder weniger stabilen Endzustand erreicht zu haben.
Abgesehen von den zwei Fällen, bei denen dieselben Erscheinungen wie bei
den Anfängern der ersten Gruppe zu beobachten sind, haben wir hier einerseits
Ruhe während der Arbeit, andererseits schon ausgebildete Phobien und
bedeutende Schwächung der sexuellen Potenz — pathologische Symptome eines
fertigen, gutbekannten Krankheitsbildes, der Angsthysterie. Was die zwei
Ausnahmefälle betrifft, so bleibt uns leider unbekannt, ob derselbe Zustand
bei ihnen schon seit Beginn ihrer Arbeit auf dem Autobus ununterbrochen
anhält, d. h. ob ihre konstitutionelle Widerstandsfähigkeit so groß ist, dab
sie nach zwei Jahren Arbeit noch auf dem anfänglichen Stadium des Prozesses
stehen geblieben sind und mit Erfolg seiner weiteren Ausbildung widerstreben,
oder ob — was auch nicht ausgeschlossen ist — der ganze Prozel3 sich nur
in der letzten Zeit ausgebildet hat und bis dahin ihre gesunde Konstitution
den pathogenen Bedingungen ihrer aufregenden Arbeit Widerstand geleistet hat.
Es wäre vergeblich, eine Erklärung für diese Tatsachen in den Lehren
der offiziellen schulwissenschaftlichen Psychopathologie und allgemeinen Psycho-
logie zu suchen. Zum Glück kommt uns hier die Psychoanalyse zu Hilfe und
gibt die Möglichkeit, diese Tatsachen nicht nur befriedigend zu erklären,
sondern sie neben viele, uns längst bekannte Erscheinungen aus der Psycho-
logie und Psychopathologie zu stellen.
Betrachten wir den hier geschilderten psychopathologischen Prozeß von
Anfang seiner Entwicklung an, so müssen wir zugeben, daß die Entstehung
des Angstaffektes während der Fahrt am Anfang der Arbeit — eine natür-
liche, normale und verständliche Erscheinung ist, Diese Angst ist eine normale
Reaktion auf die realen Gefahren, die durch die Arbeitsbedingungen der
Chauffeure geschaffen werden. Es sind alle keine Neulinge in der Kunst des
Automobillenkens; jeder hatte schon eine langjährige Erfahrung in der
Lenkung gewöhnlicher Automobile, als er Autobuschauffeur wurde, aber die
Fahrtbedingungen auf dem Autobus sind viel schwerer und aufreibender. Wie
ist aber die die Angst begleitende sexuelle Aufregung zu erklären?
Wir müssen hier eine Reihe von Momenten in Betracht ziehen:
ı) Die langdauernde schnelle Fahrt. Wie bekannt, kann eine schnelle Fahrt,
wie überhaupt aktive und passive Bewegungen, eine sexuelle Aufregung
verursachen. Es ist überflüssig, die betreffenden Tatsachen hier wiederzugeben,
sie sind dem Psychoanalytiker gut bekannt (Eisenbahnphobie).
2) Das zweite, die sexuelle Aufregung begünstigende Moment ist die
unzweifelhaft erregende Wirkung der erschreckenden Vorstellung (oder besser,
des unbewußten Wunsches), einen Menschen überfahren zu können. Damit
wird in erster Linie dem Sadismus freier Weg geöffnet, aber außerdem wird
diese Vorstellung im Un-(Vor-)bewußten, wie wir aus den Traumanalysen
wissen, mit dem Koitus identifiziert. In unserem Material haben wir eine
gute Bestätigung dieser Auffassung: so klagte ja einer der Untersuchten über
ein Gefühl beim Koitus, „als ob man im Autobus fährt‘,
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Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer psych.-neurolog. Untersuchung 241
3) Als dritte wichtige Quelle der sexuellen Erregung kommt dann die
anhaltende große Angst und die häufigen Schreckanfälle während der Fahrt
in Betracht. Dal starke Angst, Entsetzen, großer Schrecken sexuelle Erregung
hervorrufen können, wird in der psychoanalytischen Literatur wiederholt
erwähnt. Bekannt sind die sexuellen Orgien während großer Katastrophen,
wie Erdbeben, bei der Erwartung des Weltuntergsanss im Mittelalter, bei
großen Epidemien. Hieher gehören auch die Gruppenvergewaltigungen bei
Massenexzessen, bei den „Pogroms , bei Massenplünderungen, im Krieg usw.
Einen in dieser Beziehung interessanten Fall habe ich unlängst beobachten
können. Es handelte sich um einen jungen, kräftigen Mann, Offizier, der
während des Krieges „jegliche Angst bei sich so überwunden hatte“, daß er
auch in den gefährlichsten Situation vollkommen ruhig blieb, und einst,
während einer Attacke bei starkem Feuer, wurde er von einem Kameraden
energisch verwiesen, weil er eine ganz unpassende lustige Geschichte erzählte
und ein den realen Verhältnissen gar nicht entsprechendes Gedicht vorlas.
Zugleich hat er während seines zweijährigen Frontdienstes gar keine sexuelle
Erregung gehabt, obgleich in seiner Umgebung große sexuelle Ausschweifungen
eine gewöhnliche Erscheinung waren. Nach dem Frontdienst erwies er sich
als impotent. Die psychologische Ähnlichkeit dieses Falles mit den unter-
suchten Chauffeuren scheint mir klar zu sein. Über die Affektvorgänge als
Quelle sexueller Erregung verweise ich des weiteren auf die „Drei Abhand-
lungen zur Sexualtheorie” von Freud (Ges. Schr., Bd. V, $. 78).
Vom psychoanalytischen Standpunkt aus ist auch die weitere Entwicklung
nicht schwer zu verstehen. Das Ich ist natürlich bestrebt, den quälenden
Angstaffekt zu bewältigen, und diese seine Strebung wird noch dadurch unter-
stützt, daß die Angst die Ausführung der schweren und lebensgefährlichen
Arbeit hindert. Das Ich mobilisiert deshalb alle seine Kräfte zur Bekämpfung
des paralysierenden gefährlichen Affektes, zur Unterdrückung der Angst. Zu
Anfang gelingt es nur bei großer Steigerung des Affektes, in Situationen
groljer Gefahr, aber die Angst bewährt ihre Macht bei den gewöhnlichen
Bedingungen der Fahrt in Form gesteigerter Ängstlichkeit, abergläubischer
Befürchtung usw. Mit der Zeit entwickelt sich allmählich eine „Gewöhnung“
und die Möglichkeit, während der Arbeit mehr oder weniger ruhig zu
bleiben. Wie wird das erreicht?
Die mehrere Stunden hintereinander anhaltende Angst ist zwar eine
Reaktion auf einen äußeren Reiz, aber infolge eben dieser ununterbrochenen
Dauer verliert sie psychologisch den Charakter eines zufälligen äußeren Reizes
und wirkt wie eine konstante innere Spannung, wie sie uns von den Reizen
bekannt ist, die von den Trieben des Organismus ausgehen. Die von außen
verursachte Angst wird zu einer Art organischen Vorgangs, den Triebvorgängen,
die im Organismus selbst entstehen, ähnlich. Indem sie dann einen Abfluß
nach außen in einer adäquaten Reaktion infolge der Unterdrückung von
seiten des Ichs nicht finden kann, staut sie sich im psychischen Apparat.
Die Strebung des „Ichs“, sich von der Angst frei zu machen, um die
Arbeit ruhig fortzusetzen, bedient sich eines psychischen Mechanismus, der uns
aus der Psychologie der Neurosen und der Traumarbeit bekannt ist: der
Verschiebung. Die Angst wird auf andere Vorstellungen verschoben, an sie
fixiert, und auf diese Weise wird ein mehr oder minder ruhiger Seelen-
242 M. Wulff
N :üämmr2
zustand während der Arbeit, eine „Gewöhnung‘ an die Arbeitsbedingungen
erworben. Das ist aber der uns aus der Psychologie der Neurosen wohl-
bekannte Mechanismus der Phobienbildung. Es kommt also bei diesen Unter-
suchten zur Ausbildung typischer Phobien, wie z. B. die Angstanfälle bei dem
Vorbeifahren eines Autobus, die Angst, außerhalb der Dienstzeit im Autobus
zu fahren, usw., während sie bei der Arbeit ziemlich ruhig bleiben können.
Schwerer ist das Verständnis der Störungen des Sexuallebens, der Angst
vor dem Koitus und der Impotenz. Wie ist das zu erklären? Es ist ja selbst-
verständlich, daß die Impotenz keine organische ist, sondern eine rein psychische.
Es muß noch betont werden, daß die meisten Untersuchten im Alter bis zu
35 Jahren stehen und vor der Entwicklung des geschilderten Zustandes über
eine normale und einige sogar eher über eine gesteigerte Potenz verfügten.
Die psychoanalytische Erforschung der psychischen Impotenz zeigt, dal3 sie
eigentlich der symptomatische Ausdruck eines in der frühesten Kindheit erhaltenen
Verbotes jeglicher Betätigung der Genitalien zum Zweck der Lustgewinnung ist
und eine Folge der Angst vor der Kastrationsstrafe für die Übertretung dieses
Verbotes. Dies kann ein gewisses Licht auf die uns hier interessierende Ent-
stehung der psychischen Impotenz bei den Autobuschauffeuren werfen.
Wir dürfen wohl annehmen, daß eine Überschwemmung des psychischen
Apparates mit großen Angstmengen eine Belebung und Aktivierung der im
weiteren Entwicklungsgang verlassenen frühinfantilen Angstpositionen zur
Folge hat, und daß das ängstlich gewordene Individuum wieder sich vor
solchen Situationen zu fürchten anfängt, die ihm früher jemals Angst ein-
flößten. Hier ist wieder die obenerwähnte Ansicht am Platze, daß lang-
dauernde ununterbrochene Angsterlebnisse ihrer ökonomischen Wirkung nach
unbefriedigten Sexualtrieben ähnlich sind. Auch hier bewirkt eine Stauung
der Reizenergie infolge gehinderten Abflusses eine Art Regression des
Angstaffektes zu seinen früheren verlassenen Positionen, in diesem Falle zur
infantilen Kastrationsangst vor sexueller Genitalbetätigung und damit zur
psychischen Impotenz. Außerdem spielt das ökonomische Moment hier noch
eine andere Rolle. Es drängt sich nämlich noch die weitere Frage auf, woher
das „Ich die nötige Kraft nehme, um den schweren Kampf gegen den
quälenden, stark paralysierenden Angstaffekt mit Erfolg durchzuführen. Es ist
ganz zweifellos, daß das „Ich“ hier unter dem Zwang des Selbsterhaltungs-
triebes handelt, und die narzißtische Natur dieses Triebes ist uns aus der
Psychoanalyse wohlbekannt. Diese Bereicherung des „Ichs“ an narzißtischer
Libido, die, wie bekannt, durch irgendeine äußere Gefahr, Schmerz und
Leiden bewirkt wird, geschieht auf Kosten der Objektlibido. (Siehe „Zur
Einführung des Narziömus“ und „Jenseits des Lustprinzips“.) Der stetige,
alltägliche, erschöpfende Kampf mit der Gefahr macht seelenmüde, gleichgültig
sogar den Lebensfreuden gegenüber. So erklären die Untersuchten selbst ihre
Impotenz und haben recht mit der Behauptung, sie wären müde und ohne
Lebenslust. Ein ähnlicher Vorgang führt auch bei den traumatischen Neurosen
zu der so oft bei ihnen vorkommenden psychischen Impotenz.
Ich benütze hier die Gelegenheit Frau Dr. Tschernucha meinen Dank
für die Gewährung des Materials auszudrucken.
Zur „Isolierung“
| Von
Otto Fenichel
Berlin
Wenn Freud in „Hemmung, Symptom und Angst“ die Verdrängung der
Zwangsneurotiker von der der Hysteriker prinzipiell trennt, nur mehr letztere als
„Verdrängung“ bezeichnen, in ersterer aber ein Zwammenwirken verschiedener
Abwehrmechanismen des Ichs gegen unliebsame Triebansprüche sehen will, so
ist das wieder eine jener Freudschen Formulierungen, die, einmal aus-
gesprochen, wie Selbstverständlichkeiten erscheinen. Vielleicht scheint es
zunächst nur eine Angelegenheit der Nomenklatur, ob man zweierlei Ver-
drängungen unterscheiden oder lieber von verschiedenen Abwehrformen sprechen
will, deren eine die Verdrängung ist. Worin im wesentlichen die Differenzen
gelegen sind, war ja schon vorher bekannt. Die Regression der Ziwangs-
neurotiker auf die sadistisch-anale Organisationsstufe der Libido, ihre zwei-
zeitigen Symptome, deren zweiter Teil dem ersten inhaltlich entgegengesetzt
ist und ihn auf heben will, das Auseinanderhalten zusammengehöriger Vor- _
stellungsgruppen® oder einer Vorstellungsgruppe und des zugehörigen Affekt-
betrags, wobei aber nichts die Bewußtseinsfähigkeit einzubüßen braucht (unbe-
wußt ist nicht die traumatische Erinnerung, sondern ihr Zusammenhang mit
dem Symptom, hieß es in den „Vorlesungen“), waren von Freud schon
lange beschrieben worden. Und doch brinst der Gesichtspunkt, der alle diese
Mechanismen einander koordinieren und der Verdrängung gegenüberstellen
will, wirklich Neues. Er erst lehrt durch begriffliche Klarstellung manches.
das eigentlich manifest zutage liegt und im Alltag psychoanalytischer Zwangs-
neurosenbehandlung zu beobachten ist, richtig sehen.
Wenn wir trotz solcher Alltäglichkeit der Gelegenheit zur Beobachtung
einige Beispiele für „Isolierungen“ herausgreifen, so geschieht es, weil sie hier
in selten ausgeprägtem Maße auftraten. So wie etwa ein Fall von Hysterie,
der ganz bestimmte Tage seines Lebens nicht entsinnen kann, sich zur
Demonstration der Verdrängung ganz besonders eignet, obwohl doch alle
Hysterien verdrängen, so gibt es auch besondere „Isolierungs“-Fälle unter den
Zwangsneurotikern, obwohl doch alle Zwangsneurotiker isolieren.
Ein siebzehnjähriger junger Mann erkrankte im Anschluß an den Kampf
um die ÖOnanieabgewöhnung. Nach kurzer Zeit schuldfreier onanistischer
Befriedigung — die stets im Alleinsein erfolgt war, während er öfter mutueller
Onanie seiner Kollegen, selbst unbeteiligt, zugesehen hatte — hörte er einmal
eine Rede des Pastors gegen die Onanie, in der dieser den Rat erteilte, mit
244 Otto Fenichel
Jungen, die so was täten, nicht mehr zu verkehren. — Die Genitalität unseres
Patienten war in der Kindheit durch eine überstarke Kastrationsangst gehemmt
gewesen. Eine passiv-anale Fixierung erleichterte die neuerliche Regression.
Er nahm sich die Rede des Pastors sehr zu Herzen, beschloß seinen Rat zu
befolgen und besonders mit einem Jungen, der es am schlimmsten getrieben
hatte, nicht mehr zu reden. Eine Zeitlang ging das gut. Dann aber verlangte
die Versuchungsgefahr stärkere Abwehr, die Vermeidung des Verkehrs nahm
phobische Formen an und mußte durch zwangsneurotische Maßnahmen
gesichert werden: Wenn er mit dem Jungen zusammentraf, mußte er aus-
spucken. Ein Zahlenzeremoniell betreffend die zwanghafte Festsetzung der
Anzahl der nötigen Spuckakte konnte im Verlauf der kurzen Analyse nicht
genügend durchschaut werden. Die Phobie nahm an Umfang zu: Auch der
Verkehr mit Angehörigen und Freunden des „Gemiedenen“ (so nannte ihn
der Patient, weil er seinen Namen nicht aussprechen durfte) mußte eingestellt
werden, dann — der „Gemiedene“ war Sohn eines Barbiers — der Besuch
dieses Barbierladens, dann der Besuch jedes Barbierladens, dann der Verkehr
mit Menschen, die sich in Barbierläden rasieren lassen, dann der Besuch des
Stadtteiles, in dem der Barbierladen lag.
Die weitere Entwicklung dieser von Beginn an von Zwangssymptomen
durchsetzten Phobie führte nun zur — sit venia verbo — „Isolierungsneurose .
Bisher hatte die Symptomatik nichts über die Ursachen der Hemmung
verraten, auf die seine Pubertätsgenitalität stieß. Nun aber trat die
Forderung auf, auch die Angehörigen, bei denen er wohnte, — vor allenı die
weiblichen: Mutter, Großmutter und Schwester, — dürften nicht in den ver-
botenen Stadtteil gehen. Der Patient litt sehr darunter, daß die Angehörigen
sich solche Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit nicht gefallen lassen wollten.
Er selbst unterwarf sich zwar dem Verbot, suchte die verbotenen Gegenden
nicht auf, um so mehr mußte er aber in zwanghafter Weise an sie denken. Daß
ihm das peinlich war, ist begreiflich. Er begründete diese Peinlichkeit aber
in unerwarteter Weise: Er sehe zu Hause Mutter und Großmutter und
deshalb dürfe er nicht an „unsympathische“ Personen oder Örtlichkeiten
denken! — Obwohl der Patient den Zusammenhang seiner Erkrankung mit
dem Onaniekampf kannte, „ignorierte“ er ihn; die Onanie war scheinbar
ganz leicht geschwunden, das Bedürfnis danach trat nicht mehr auf, an seiner
Stelle aber nun immer deutlicher das neurotische Bestreben, die Vorstellungen
„Familienangehörige“” und „unsympathische Personen und Örtlichkeiten“
auseinanderzuhalten, sie zu isolieren.
Diese Isolierung wurde nun der Hauptinhalt der Neurose, die Phobie trat
in den Hintergrund. Der Patient konnte nun wohl wieder an Unsympathisches
denken, aber nicht gleichzeitig an „sympathische” Menschen. So verriet er
den Ödipuskomplex als das anstößige Moment seiner Onanie. Im Ausbau
dieses Isolierungsbestrebens des Ichs als Abwehr des in der Pubertät aktivierten
Ödipuskomplexes bildete sich jetzt in wenigen Monaten eine Zwangsneurose
allerschwerster Art aus.
Es erging dem Patienten, wie es dem Mann bei We dekingd erging, der
an keinen Bären denken sollte. Wenn er etwa an den Barbierladen dachte,
fiel ihm sofort auch die Großmutter ein. Dieses quälendste Symptom nannte
er die „Verknüpfung“. Gegen sie half nur ein Mittel: Die Abwehr durch
Zur „Isolierung“ = 245
a ee Bu EEE Er FE SEE Er
„Ungeschehenmachen“. Das war in diesem Falle die sogenannte „Auseinander-
knüpfung“. Wenn er nach gleichzeitigem Denken an verbotenen Ort und
sympathischen Menschen völlig isoliert das reine Bild des von allem
sympathischen Beiwerk befreiten Unsympathischen sehen konnte, so war alles
wieder gutgemacht und der Patient beruhigt. Schon nach kurzer Zeit war er
vom Morgen bis zum Abend einzig mit „Auseinanderknüpfungen“ beschäftigt.
Nun traten die zwei Erscheinungen dazu, die eine sich ausbildende Zwangs-
neurose zu erschweren pflegen: Eine großartige Umfangserweiterung des
Symptombereiches und der Durchbruch der abgewehrten Regung im Symptom
selbst.
Die Einteilung der Objekte in „sympathische" und „unsympathische“
umfaßte zunächst sämtliche Personen und Örtlichkeiten. Nicht nur alle Mit-
schüler wurden unsympathisch, alle Verwandten sympathisch, sondern alle
anderen Menschen wurden nach oberflächlichen Assoziationen auch einer der
beiden Kategorien zugeordnet und verfielen damit dem Bereich der Ver-
knüpfung und Auseinanderknüpfung. So wurden z. B. Freunde und Berufs-
genossen von Leuten, die er etwa auf dem Weg in den verbotenen Stadtteil
sah, unsympathisch, fast alle Frauen, wenn gegen sie nichts Besonderes vorlag,
sympathisch. Das Analoge geschah mit allen ÖOrtlichkeiten, so daß es eine
Anzahl Variationen der „Verknüpfung“ (symp. Mensch an unsymp. Ort,
unsymp. Mensch an symp. Ort, symp. Mensch gleichzeitig mit unsymp. Mensch,
symp. Ort mit unsymp. Ort, „Mischpersonen, d. h. solche, die Züge von
symp. und unsymp. Menschen vereinigten, z. B. die Großmutter mit Gesichts-
zügen der Mutter des Gemiedenen, „Mischorte‘) und „Auseinanderknüpfung“
gab. — Des weiteren gelangten alle Konkreta in den Symptombereich (z. B.
wurden Spiegel, die an den Barbierladen erinnerten, unsympathisch, so dal}
die Erscheinung „das Bild der Schwester in einem Spiegel“ eine quälende
Verknüpfung war), dann auch Abstrakta, z. B. wurden einige Worte, die er
von unsympathischen Menschen gehört hatte, unsympathisch, so dal) er sie
nicht in Sätzen gebrauchen konnte, in denen sympathische Worte vorkamen.
Fortwährend traten die anstößigen „Verknüpfungen“ (die verpönten Ödipus-
regungen) ins Bewußtsein, fortwährend mußten sie durch „Auseinanderknüpfen“,
d.h. mit Hilfe des „Ungeschehenmachens”, das in diesem Falle mit der
„Isolierung“ zusammenfiel, abgewehrt werden, widrigenfalls Angst und quälende
Spannungsgefühle entstanden. Dabei galt noch eine schwere Bedingung: Bevor
die Auseinanderknüpfung gelungen war, durfte der Ort, an dem sich der
Patient zur Zeit der Verknüpfung befunden hatte, nicht verlassen, die
Beschäftigung, der er zur Zeit der Verknüpfung hingegeben war, nicht unter-
brochen werden. Diese Bedingung war die sozial schädigendste: Da eine Aus-
einanderknüpfung gelegentlich Stunden benötigte, kam es vor, daß der Patient
stundenlang still stehen oder eine sinnlose Beschäftigung fortsetzen mußte. So
war es immer fraglich, ob es nach der Analysenstunde gelingen werde, das
Sofa zu verlassen, und die Angst, eventuell zwischen Verknüpfung und Aus-
einanderknüpfung eine Behandlungsstunde abbrechen zu müssen, quälte den
Patienten die ganzen Stunden hindurch. Ginge die Auseinanderknüpfung auch
nur in einem geringen Detail anders vor sich als die Verknüpfung, so bliebe
sie wirkungslos; ein, wie es scheint, für den Mechanismus des Ungeschehen-
machens charakteristischer Zug.
240 Otto Fenichel
Endlich wurden die zur Abwehr bestimmten Symptome selbst Ausdruck
der verpönten Triebregungen: Der Zwang zur Auseinanderknüpfung machte
es nötig, daß der Patient immer genügend unsympathische Menschen, Ortlich-
keiten, Dinge, Eigenschaften „parat” habe. Die Sehnsucht, die quälenden
Spannungen rasch zu beendigen, besiegte die Phobie und brachte die Wiederkehr
des Verdrängten: Der Patient suchte unsympathische Orte auf, sah sich
unsympathische Menschen möglichst genau an, damit er sie gegebenenfalls parat
habe! Allerdings gelang das nicht mit allem Unsympathischen; der „Gemiedene“
+. B. blieb auch weiterhin gemieden. Es stellte sich schließlich eine Reihe
gradueller Verschiedenheiten her: Es gab ganz Unsympathisches, das phobisch
gemieden wurde, weniger Unsympathisches, das er mit Vorliebe aufsuchte,
um, wenn Sympathisches erscheint, rasch auseinanderknüpfen zu können,
wenig Indifferentes, leicht Sympathisches, ganz Sympathisches. Am Ende
dachte er bewußt und angestrengt fast nur an Unsympathisches, in der
Hoffnung, dadurch die Auseinanderknüpfung rascher bewältigen zu können;
erinnert man sich daran, daß die Gedanken an Unsympathisches eigentlich
die Onanie bedeuteten, so onanierte er nun also ununterbrochen. Und tat-
sächlich: War die Spannung aufs höchste gestiegen und wollte die Ausein-
anderknüpfung trotz höchster Anstrengung nicht gelingen, so kam es gelegent-
lich, zur Überraschung des Patienten, zur Pollution.
Auch die Verknüpfung selbst, d. h. das Zusammenbringen sympathischer
Menschen mit unsympathischen Worten, setzte sich nun, dem Patienten unbe-
merkt, gegen das isolierende Ich durch. Einer seiner zahlreichen sekundären
Krankheitsgewinne war, daß er sich wie ein kleines Kind anziehen ließ,
weil sonst das Anziehen durch die zahlreichen eingeschalteten Auseinander-
knüpfungen stundenlang dauerte. Wenn ihn nun seine Großmutter anzog, SO
fuhr er plötzlich mit den wüstesten Schimpfworten los, Damit meinte er aber
nicht die Großmutter, sondern die unsympathischen Menschen, deren Bilder
ihm während dieser Beschäftigung, so eine Verknüpfung bildend, in den
Sinn kamen.
Noch einige Worte über den mißglückten Ausgang der Analyse: Es ließ
sich nur sehr schwer ein Kontakt mit dem Patienten herstellen; er war ganz
introvertiert, durch lange Zeiträume mit Auseinanderknüpfungen beschäftigt,
während deren er nicht reden durfte. Es dauerte monatelang, bis die darge-
stellte Entwicklungsgeschichte der Neurose klargelest war. Deutungen auch
auf der Hand liegender Zusammenhänge, z. B. daß der Gemiedene um der
Onanie willen gemieden werde, stießen auf Unverständnis. Die tiefere Über-
tragung kam auf eine unerwünschte Weise: Eine scheinbare Kleinigkeit
machte mein Wohnhaus, damit mich, die Behandlung und alles, was mit ihr
zusammenhängt, unsympathisch. Damit wurde das Aussprechen von Sym-
pathischem in der Analyse zur Unmöglichkeit, die Aufforderung des Analytikers,
zu sprechen, zur ständigen Qual. In Wahrheit war jene Kleinigkeit Vorwand;
die Analyse mußte unsympathisch werden, weil in ihr von Onanie die Rede
gewesen war. Und deshalb benützte der Patient, der schon vorher zugegeben
| _ zu: —
hatte, nur mehr sehr ungern zur Analyse zu kommen, die Gelegenheit ‚der
Sommerferien, um gegen den Willen seiner verständnisvollen Angehörigen
die Behandlung abzubrechen.
Wir sehen in diesem Falle deutlich, wie ein Triebanspruch _des Ödipus-
Zur „Isolierung“ 247
komplexes bei Versagen der einfachen Phobie durch den Mechanismus der
Isolierung (des Ungeschehenmachens) bewältigt werden soll. Das Symptom des
Auseinanderknüpfens ist der direkte Ausdruck dieses Bestrebens, wird aber
bei weiterer Entwicklung der Neurose gleichzeitig selbst Vertreter der ver-
pönten ÖOdipusregung.
In einem zweiten Fall ließ sich etwas Ähnliches beobachten: Ein schwer
grübel- und zweifelsüchtiger Patient, mit dem sich wegen der Schwere seiner
Krankheit die analytische Arbeit kaum durchführen ließ, protestierte geren
die Grundregel. Es stellte sich schließlich heraus, daß er bestrebt war, die
Existenz einer Freundin zu verschweigen. Aber nicht etwa, weil er darüber
überhaupt nicht sprechen oder die Betreffende nicht bloßstellen wollte, sondern,
weil er in der Analyse bereits über Onanie gesprochen hatte und alle grobe
Sexualität von dieser Freundin isoliert gehalten bleiben mußte. Er wolle
eventuell von ihr doch reden, meinte der Patient, wenn er nur sicher wäre,
daß ihm dann in der gleichen Stunde nicht noch vielleicht etwas grob
Sexuelles einfallen werde. Die Idee, daß auch in diesem Falle solche „Aus-
einanderknüpfung“ die Antwort auf eine zwanghafte „Verknüpfung“, die
Abwehr der Odipusregung war, fand erst viel später Bestätigung. Das Symptom,
das der Patient am ängstlichsten hütete und am ausgiebigsten zu dissimulieren
suchte, bestand darin, daß er, wenn er die Freundin sah oder ihr Name
genannt wurde, den Zwangseinfall hatte: „Kleine Hure“. Dieses Symptom also
entsprach dem Ödipus-Triebanspruch, gegen den das Ich sich mit dem Mittel
der Isolierung zur Wehr setzte. Wir werden daran gemahnt, dal) die von
Freud geschilderte, für unseren Kulturkreis und speziell für die Pubertätszeit
charakteristische Spaltung der Sexualität in Sinnlichkeit und Zärtlichkeit durch
„Isolierungs -Maßnahmen gehalten wird, die das Ich ins Werk setzt, um den
Durchbruch der ursprünglich ebenfalls auf das Zärtlichkeitsobjekt (Inzestobjekt)
gerichteten Sinnlichkeit zu verhindern. — Interessant war, wie dieser zu
paranoiden Mechanismen neigende Patient die Triebabwehr der Isolierung mit
der der Projektion verband. Einen schwer überwindbaren Widerstand setzte
ich durch folgende Unvorsichtigkeit: Als der Patient einmal, um die Psycho-
analyse ad absurdum zu führen, meinte, es falle einem ja doch nur ein, was
man wolle, antwortete ich, ihm falle ja doch „kleine Hure“ ein, obwohl er
es nicht wolle. Tagelang warf mir nun der Patient vor, wie gemein und
sinnlich ich wäre, weil ich seine Freundin eine Hure nenne und, was er
einmal gestanden hätte, ausnützte, um ihn einer Schweinerei mit seiner
Freundin zu bezichtigen; letztere gehöre eben, wie er gleich gewußt hätte,
nicht in die Analyse. Ein anderer Patient hatte durch seine Eheschließung.
eine großartige „Isolierung“ geschaffen: das Zusammenleben mit seiner Frau
sollte mit der infantilen Vorzeit keinerlei Zusammenhang haben. An den Punkten,
an denen sich gegen die Isolierungsabsicht infantil sexuelle Strebungen in die
Ehe eingedrängt hatten, waren schwere abwehrende Zwangssymptome ent-
standen. Diese Isolierung bewirkte, daß eine tiefgehende Analyse der Kinder-
zeit therapeutisch erfolglos blieb, bis auch der volle Zusammenhang dieser mit
der Ehe gegen die die Isolierung behütenden Widerstände durchgearbeitet war.
Von einem vierten Fall sei angeführt, wie er die Isolierung in den
Dienst des Widerstandes stellte.e Wenn er einmal „verdrängtem Material”,
d.h. vom Ich abgewehrten Inhalten, sich mit seinen Einfällen näherte, so
A ———
248 Otto Fenichel
tat er das in der Weise, daß er etwa zehn Minuten vor Ende der Stunde
damit abbrach und dann unwichtiges Zeug brachte. Der Übergang von
wichtigem zu unwichtigem Material spielte sich plötzlich und ruckartig ab.
Der unbewußte Zweck dieser Technik war, eine Einflußnahme des analy-
tischen Materials auf die Realität hintanzuhalten. Das Unwichtige am Ende
der Stunde ist eine Isolierschicht, die die Berührung des in der Analyse
Vorgebrachten mit dem Alltag verhindert, indem sie sich zwischen beide
einschiebt.
Die vorliegende kleine Mitteilung wollte nur Beispiele dafür geben, wie
die Isolierung als Abwehrmaßnahme das manifeste Bild mancher Zwangs-
neurosen beherrscht.
}
j
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PSYCHOANALYTISCHE BEWEGUNG
nn
Deutschland
hLeipeig
Herr Ranft hielt in den von der Hygiene-Akademie (Dresden) veran-
stalteten Kursen für Volksschullehrer in Zwickau und in Annaberg i.V.
Vorträge über Psychoanalyse und Erziehung. Teilnehmerzahl 300,
bzw. 150. Die von ihm geleitete Arbeitsgemeinschaft im Psychologischen
Institut des Leipziger Lehrervereines befaßte sich mit Schriften zur Kinder-
analyse und mit Fällen von Schwererziehbarkeit in der Volksschulpraxis.
Österreich
Fien
Im Rahmen der von der „Kursorganisation der Wiener Medizinischen
Fakultät“ veranstalteten „Ärztekurse“ werden im Studienjahr 1927/28 folgende
Kurse von Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gelesen:
a) In der Gruppe „Innere Medizin“:
Doz. Dr. Felix Deutsch: I. Differentialdiagnose organischer und psychischer
Symptome bei internen Krankheiten (am Krankenbette). II. Technik der
Psychotherapie für den Internisten (mit Krankendemonstration). Je 8 Stunden.
b) In der Gruppe „Kinderheilkunde:
Doz. Dr. Josef K. Friedjung: I. Über Zusammenhänge von Erziehung
und Erkrankungen des Kindes. II. Das normale und krankhafte Triebleben
des Kindes. Je ı0 Stunden.
c) In der Gruppe „Neurologie und Psychiatrie“:
Prof. Dr. Paul Schilder: I. Hypnose. ıo Stunden. II. Psychoanalyse.
20 Stunden.
k
Im Rahmen eines Zyklus „Psychoanalyse und Geisteswissenschaften“ wurden
von der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ bisher folgende öffentliche
Vorträge veranstaltet: ı) Prof. P. Schilder: Gemeinschaft, Erkenntnis,
Eros. — 2) Dr. F. Wittels: Psychoanalyse und Strafrecht. — 3) Dr. R.
Wälder: Die Psychoanalyse im Lebensgefühl des modernen Menschen. —
4) Frau Dr. Helene Deutsch: Ein Frauenschicksal (George Sand).
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV/2 17
250 Psychoanalytische Bewegung
Spanien
Das Aprilheft der Monatschrift „Die Literatur‘ veröffentlicht einen
„Spanischen Brief‘ ‘“ aus der Feder von Martin Brussot, dessen ersten Teil
wir hier zum Abdruck bringen.
„Deutscher Einfluß ist es, was gegenwärtig Spaniens schöngeistigem Schaffen
das wesentliche Gepräge verleiht, die altüberlieferte, oberflächlich geistreichelnde,
feuilletonistisch-brillierende Französelei energisch aus dem Felde schlagend.
Wer hielte das für möglich? Und doch ist dem so. Einer gewaltigen Flutwelle
gleich, brach der „Freudismo” über Spanien herein, die jüngeren Literaten
in Madrid, Barcelona, Valencia und Sevilla begeisternd, vom tändelnden Pathos
zu Natürlichkeit und Klarheit, zu tieferem Schürfen und Begreifenwollen
erziehend. Psychoanalyse ward Trumpf! Ja, sie überquerte mittlerweile
auch schon den Atlantik, wo in Buenos Aires, Montevideo, La Plata, selbst
Mexiko eine junge, neu orientierte Dichtergeneration in ähnlichem Sinne
beflissen ist. Ein Erwachen aus seelischem Dämmerzustand brach da herein.
Die vagen, rein poetisierenden Visionen von einst, die glänzende Suada, in
Spanien besonders im Schwang, das entschwand gleich zerflatternden Phantomen
aus der neueren Romandichtung kastilischer Zunge. An Stelle der mit Tand
behangenen Hampelmänner, der reizvoll aufgemachten Mannequins trat der
lebendige Mensch mit warm pulsierendem Herzschlag, der interessanten, weil
verständnisvoll ergründeten Seele.
Vom großen Gesamtwerk Sigmund Freuds, das auf zwölf Bände angewachsen
ist, erschienen als jüngste „Sintoma, inhibicion y angustia“ und „Historia del
movimiento psicoanalitico", die gleichfalls bei Presse wie Publikum rege
Beachtung fanden und lebhafter Nachfrage begegneten. Erweislich beeinflußten
gan? besonders stark die Kreise der Intellektuellen, speziell aber der Ärzte
und Literaten Freuds: „Interpretaciöon de los suenos“, Una teoria sexual“,
„Psicoanalisis“, und „Psicologia de las masas“, die man in Aufsätzen, ja selbst
Dichtwerken immer wieder ausdrücklich erwähnt findet. Freudschen Theorien
begegnet man in dem Schaffen eines Gelehrten wie Cesar J uarros, der als
sein neuestes Werk soeben „Los senderos de la locura“ herausgab, nachdem
er früher schon speziell mit „La ciudad de los ojos bellos“ und „El momento
de la muerte” viel Aufmerksamkeit erweckt hatte. A. Anselmo Gonzälez
wieder übersetzte A. Hesnards „El psicoandlisis-teoria sexual de Freud“.
Beeinflussung durch Freud zeigt sich bei einer ganzen Anzahl neu zur
Geltung gelangender Erzähler. Da ist Miguel Rivas mit seinen Romanen
„Horas de locura“ und „Adültera“, da ist der junge Ultraist Huberto P&rez
de la Ossa mit dem Novellenband ‚‚Feletas‘‘, dessen Roman ‚La santa duquesa“
durch Verleihung des nationalen Literaturpreises ausgezeichnet wurde. Seinen
jüngsten Roman „La casa de los masones“ charakterisiert gleichfalls originelles
Erfassen von Menschheitsproblemen, dazu ein ausgesprochen persönlicher Stil.
Scharfsinnige, geheimste Tiefen aufschließende Seelenergründung im Sinne
moderner Erkenntnislehre ist auch dem Roman „Nuestra Senora la fatalidad“
eines genialen philosophischen Kopfes wie Eduardo Barriobero y Herrän
nachzurühmen. Psychoanalyse subtilster Art weisen die Werke Jose Maria
de Acostas, unter denen insbesondere das Buch „Ninerias“ reizvolle
Kleinmalereien aus den Abgründen der Kinderseele darbietet. Stumme Tragödien
Ju a
Psychoanalytische Bewegung 251
sind es oft, was sich da unbewußt in der Psyche junger Mädchen,
heranwachsender Knaben in der kritischen Zeit der Pubertät abspielt. Der
Dichter versteht es mit staunenswerter Intuition, sie in ihren Wurzeln
aufzuspüren; man erkennt unzweifelhaft das mathematisch geschulte Hirn des
Ingenieurs, der er von Beruf ist. Als neuestes Werk Acostas liest uns vor
der Roman „Las eternas mironas“. Er behandelt die schmerzliche Tragödie
des alleingebliebenen, alternden Mädchens, und auch hier eine nicht alltägliche
Einfühlung in das seelische Problem. Schade bloß, daß dieser Roman vorwiegend
im Dramendialog geschrieben ist, eine in Spanien durchaus nicht ungewöhnliche
Zwitterform, die ihn jedoch für deutsches Empfinden ungenießbar macht.
Von Alfonso Hernändez-Catä sind zwei neue Bücher zu nennen. Der
Roman „El bebedor de lägrimas“, ein psychoanalytisches Werk, ist das
bedeutendere. Die Tragödie des genialen, dabei willensschwachen Idealisten,
des Sonnensuchers, der immer wieder dem Zauber des Ewigweiblichen erliegt,
das ihn nicht erhebt, vielmehr herniederzieht. Sicherlich ein fesselndes Problem,
wert eines Freudschen Jüngers, der da übrigens nicht allein in die Seele
jenes Träumers hinableuchtet, nein, anderseits auch in die eines Mannes der
robusten Tatkrafi. Obendrein findet sich eine Reihe von Frauengestalten
verschiedensten Naturells voll verständnisreicher Erfassung gezeichnet. Von
der Tragik der Liebesleidenschaft erzählt Catä ferner in seinem kubanischen
Roman „La estrella enferma“. Hierher gehört auch Luis Leöns jüngster
Roman „Una mujer peligrosa“, der in die Psyche des Weibes mit ihren
Raffinements, Tücken und Begierden so manchen seltsamen Einblick gewährt.
Gabriel Miro, ein origineller Erzähler, der immer reicheres Können entfaltet,
publizierte mit seinem kürzlich erschienenen neuen Roman „El obispo leproso“
eine Art Fortsetzung von „Nuestro padre San Daniel“. Er spielt ebenfalls in
morgenländischem Milieu und veranschaulicht die barocke Seele des Orientalen.
M. Ciges Aparicio, ein bewährter Seelen- und Sittenschilderer, führt in
seinem Roman „Circe y el poeta“ mitten hinein ins Getriebe Pariser Lebens,
in eine Welt, bevölkert von leichtblütigen Künstlerinnen, internationalen
Abenteurern usw., aber auch verschiedenen ernst aufstrebenden Elementen.“
Schweden
Herr Tore Ekmann hielt in den letzten Jahren folgende Vorträge:
a) Im Clartebund, Stockholm und Upsala, Oktober ı925, „Zwei Massen-
psychologen, Le Bon und Freud“; b) im Philosophischen Verein, Lund,
Oktober ı926, „Philosophie und Psychoanalyse“ ; c) im Clartebund, Stockholm
und Upsala und Lund, November ı926, „Psychoanalyse und christliche
Seelsorge“; d) im Clartebund, Stockholm und Upsala, November 1927, „Die
Herrschaft der Toten“. Das Publikum, überwiegend akademisch, zeigte überall
lebhaftes Interesse. Leider hindert der große Mangel an ausgebildeten Analy-
tikern eine tiefere Befassung mit den analytischen Lehren. Einige Mitarbeiter
der akademisch-sozialistischen Zeitschrift „Clart &“ bearbeiten von Zeit zu
Zeit soziologische Fragen mit analytischer Theorie.
17"
252 Psychoanalytische Bewegung
Schweiz
In der Berner Ärztezeitschrift „Praxis“ (XVI, ı8, 3. Mai ı927) erschien
ein Absatz von H. Christoffel (Basel) über „Arzt und Psychoanalyse“,
der neben Erörterungen über das Verhältnis von Freud zu Adler und
Jung für einen Leserkreis aus ärztlichen Praktikern bestimmte Besprechungen
über Teile von „Hemmung, Symptom und Angst‘, über „die Frage der
Laienanalyse“ (hiebei zum Teil polemisierend) und über das „psychoanalytische
Volksbuch“ bringt. — Wie die Berner Zeitschrift „Radio“ berichtet, hielt
am z. April, 20. April und ı2, Mai ı927 G. H. Graber in Bern einen
Zyklus von drei Radiovorträgen über Psychoanalyse, deren erster allgemein in
die Gedankenwelt der Psychoanalyse einführte, während der zweite und dritte
über Geburt und Tod im Mythos, speziell über die Parallelität der mythischen
und der infantilen Auffassungen, handelte.
Ungarn
Im Auftrage der „Ungarländischen Psychoanalytischen Vereinigung“ hielt
Dr. S. Ferenczi im Frühjahr ı928 im großen Saale der Musikakademie in
Budapest einen sich auf sechs Abende erstreckenden öffentlichen Vortrags-
zyklus über Psychoanalyse. In den einzelnen Vorträgen wurden folgende
Themata behandelt:
ı) Die Psychoanalyse im allgemeinen.
2) Die gesunde und die kranke Seele.
3) Die Seele des Kindes und die Erziehung.
4) Das Seelenleben des Mannes und der Frau.
5) Die Neurosen und Psychosen.
6) Soziale Erscheinungen.
Die über ı200 Köpfe zählende Hörerschaft nahm die Vorträge mit großer
Begeisterung auf. Der Zyklus fand auch in der Tagespresse eingehende und
durchweg freundliche Besprechungen.
U. S. A.
Gestützt auf die Kenntnis der psychoanalytischen Bewegung in anderen
Ländern, muß ich feststellen, daß nirgends in der Welt das Interesse an der
Psychoanalyse so verbreitet und dabei so oberflächlich und verworren ist wie
in den Vereinigten Staaten. Das vergangene Jahr hat die Konfusion der
öffentlichen Meinung noch entschieden gesteigert durch die vielen Zeitungs-
berichte, die sich an den Besuch einer Reihe von europäischen Psycho-
analytikern, darunter Ferenczi und Rank, ferner des Individualpsychologen
Adler knüpften. Dazu kam, daß die Kurpfuscher, die sich stets an den
Rockschoß jeder großen wissenschaftlichen Bewegung zu hängen pflegen,
nicht verabsäumt haben, Freuds Stellungnahme zur Laienanalyse für sich
auszunützen, um ihre mangelhafte Ausbildung zu bemänteln.
Auf der anderen Seite haben sich die Lehrer der Soziologie und der
Pädagogik die psychoanalytischen Forderungen nach genaueren und ein-
Psychoanalytische Bewegung 253
dringenderen Anamnesen zu eigen gemacht, den Einfluß der Sexualtriebe,
die Bedeutung des Ödipuskomplexes in manchen Familien, den Konflikt
zwischen den Instinktneigungen und den Kulturforderungen erkannt, so daß
diese psychoanalytischen Behauptungen zu Gemeinplätzen unseres sozialen
Denkens und Redens geworden sind.
Während die meisten Beiträge dieser Gruppe von Soziologen oberflächlich
sind, hat die psychoanalytische Ausbildung der Psychiater erhebliche Fort-
schritte gemacht. Man hat die in der Psychoanalyse für die Psychiatrie
steckenden Möglichkeiten in Amerika allgemeiner begriffen als in vielen
anderen Ländern. Viele große Irrenanstalten ziehen für Therapie und Deutung
geschulte Analytiker heran, einige lassen sogar ausgesuchte Mitglieder ihres
Ärztestabes eine vollständige psychoanalytische Schulung durchmachen.
Eine engere Verbindung zwischen der amerikanischen psychoanalytischen
Vereinigung und dem amerikanischen Psychiaterverein wurde durch die Ein-
richtung gemeinsamer Sitzungen erreicht, und in Washington scheint ein
neues psychoanalytisches Zentrum unter der Führung William A. Whites
in hoffnungsvoller Entwicklung begriffen zu sein. Es wird uns nicht über-
raschen, wenn wir binnen kurzem eine psychoanalytische Organisation im
Mississippital finden sollten.
Die New Yorker Gruppe richtete einen Vorlesungszyklus zur Einführung
in die Psychoanalyse ein, der von achtzehn Ärzten besucht wurde, die sämt-
lich in Psychiatrie ind Neurologie vorzüglich ausgebildet waren. Die Zeit-
schrift des amerikanischen Arzteverbandes „Journal of American Medical
Association“ entschloß sich endlich, diesen Vorlesungskursus anzuzeigen, nach-
dem ihr Bildungsausschuß sich zu seinen Gunsten geäußert hatte. Das muß
man wirklich als Errungenschaft buchen, denn das „Journal of American
Medical Association“ hat sich bisher stets gegen jedwede Unterstützung der
Psychoanalyse ausgesprochen. Überdies hat die New Yorker Gruppe eine
Stiftung zur psychoanalytischen Ausbildung von Ärzten gemacht, die gegen-
wärtig 2200 Dollar beträgt. Die New Yorker Vereinigung selbst ist sehr
tätig und lebenskräftig und vermochte ihre Zulassungsbedingungen ständig in
die Höhe zu schrauben. Dr. C. P. Oberndorf
N Kanada
Auf der II. Konferenz der internationalen „World Federation of Education
Associations“ in Toronto hielt am ıı. August ı927 im Rahmen der „Group
Conferences of Behaviour Problems of Children and Adolescents“ Dr. Feigen-
baum einen Vortrag über „Psychological Problems of Childhood and Youth
and Their to Education“. Er besprach ausführlich die psychoanalytischen
Beiträge zu den Erziehungsproblemen, insbesondere die Psychologie des Unbe-
wußten, die infantile Sexualität, die biologischen und soziologischen Ent-
wicklungstraumen und die Rolle, die das Unbewußte des Erziehers spielt.
Der Kongreß nahm die Ausführungen enthusiastisch auf. Es entwickelte sich
eine lebhafte Diskussion, die dem Vortragenden Gelegenheit bot, seine Aus-
führungen in mancher Hinsicht noch zu vertiefen. Die Presse berichtete aus-
führlich über den Vortrag. Auch in anderen Gruppen des Kongresses beteiligte
1 Tr SE Fe u £
I I I
254 Psychoanalytische Bewegung
sich Dr. Feigenbaum an den Diskussionen und fand, den psychoanalytischen
Standpunkt vertretend, immer viel Interesse und Verständnis.
Gleichzeitig tagte in Locarno der internationale Kongreß der „New Edu-
cation Fellowship“. Beide Kongresse standen in engem Kontakt miteinander.
Wenn in Locarno u a. betont wurde, „unartige Kinder müßten wie explo-
dierende Chemikalien nicht bestraft, sondern verstanden werden („The
Montreal Gazette“, ı5. August 1927), so steht diese Äußerung völlig im
Einklang mit dem Erfolge Feigenbaums in Toronto.
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Pr 5
REFERATE
Aus den Grenzgebieten
Benussi, V.: Zur experimentellen Grundlegung hypno-
suggestiver Methoden psychischer Analyse. Psydo-
logische Forschung, Bd. 9, H. 3/4, Berlin, 1927.
Benussi versucht, Suggestion und Hypnose im psychologischen Experiment
als Hilfsmittel zu verwerten. Durch eine methodische Anwendung von Hypnose
und Suggestion treten eine ganze Reihe Erscheinungen schärfer hervor; man
kann der Flüchtigkeit der seelischen Erscheinungen dadurch entgegentreten,
daß ihr Ablauf verlangsamt und so sicherer beobachtet werden kann, man
kann sonst schwer trennbare, zusammenfließende Phänomene isolieren und
dergleichen mehr. Die Anwendung der Suggestion im Experiment kann sich
auf die verschiedensten Gebiete erstrecken. Benussi berichtet neben rein
sinnespsychologischen Versuchen auch über solche, „die auf gewisse Traum-
konstanten ausgehen und die Absicht verfolgen, einerseits die psychoanalytische
Methode der freien Assoziation durch eine rascher zum Ziele führende
Methode zu modifizieren und andererseits einiges zur Aufklärung gewisser
Punkte der psychoanalytischen Traumlehre beizutragen“ ($. 227). Leider
erfahren wir über diese Experimente, die noch nicht abgeschlossen sind, recht
wenig. Es wird nur über einen Versuch berichtet, der an Plötzls
bekannte Traumexperimente erinnert, mit dem Unterschiede, dal3 hier der
Traum auf suggestiven Befehl und unmittelbar auf Reize erfolgt, deren
Bearbeitung im Traummaterial zu verfolgen eben der Zweck der Versuche
ist. Die Versuchsperson bekommt den hypnotischen Befehl zu träumen, und
gleichzeitig wird ihr durch geeignete mechanische Einrichtungen Stirn und
Schläfe mit kurzen rhythmischen Schlägen gereizt. Der darauf folgende Traum
ist sehr durchsichtig, zeigt aber nichts anderes, als was der Psychoanalyse
schon genügend bekannt ist, wie während des Schlafens aufgenommene Reize
in bestimmter Weise umgeformt, wie sie in den manifesten Trauminhalt auf-
genommen werden.
Wieder andere Versuche wollen den Beweis erbringen, daß es eine
emotionelle Autonomie gibt, d. h. Gemüts- und Gefühlssituationen ohne jedes
gedankliche Substrat entstehen, wachsen und das Bewußtsein gefesselt halten
können. Der Versuchsperson wird in der Hypnose eine psychische Haltung
suggeriert, die einer völligen Leere des Bewußtseins nahekommen soll.
„Grundschlaf“ nennt Benussi diesen Zustand, er soll keine Gedanken,
N RN ME WITT IR Bon NET
ie
256 Referate
Bilder usw. aufkommen lassen. Dann wird ihr ein Reizwort dargeboten (etwa
„jetzt fühlen Sie Angst oder Verzweiflung“) und nachher wird sie über ihre
Erlebnisse abgefragt. Der Zweck dieser Versuche ist, festzustellen, ob eine
unmittelbare Umsetzung dieser Worte in die entsprechenden Gemütszustände,
ohne jede Begleitung von Gedanken erfolgen kann. Benussi meint, daß
seine Versuche darauf hinweisen, daß es eine emotionelle Autonomie gibt,
doch ist m. E. seine Interpretation der Experimente nicht zutreffend. Die
Protokolle zeigen gerade das Gegenteil, wie das Reizwort in der Hypnose
seine Erfüllung in einem Zustande findet, der auch gedanklich erfaßt werden
will, wie allerlei bildhafte, keimende Vorstellungen anklingen als Ein-
kleidungen bestimmter angstvoller oder verzweifelter Situationen und nicht
die reine Verwirklichung eines abstrakten Angst- oder Verzweiflungszustandes.
Nur daß unter dem Zwange des suggestiven Befehls diese Gedankenkeime
nicht zur Entwicklung gelangen, d. h. verdrängt werden, bis im Bewußtsein
nur der bloße Affekt verharrt. Wir kennen ähnliche Zustände gut aus dem
Mechanismus der Verdrängung und darum sind auch diese Versuche eher
als gelungene Hinweise auf eine experimentelle Erforschung der Verdrängung
zu werten, als wie Fürsprecher einer Theorie, die meint, Gefühle seien
unabhängige Elemente, die manchmal mit anderen Elementen, wie etwa
Gedanken, Vorstellungen, sich verbinden können, manchmal unabhängig von
ihnen ‘das Seelische beherrschen. Das Gegenteil ist wahr, im Seelischen gibt
es nur Gesamtzustände, in denen man Gedanken, Vorstellungen, körperliche
Sensationen nur gewaltsam scheiden kann und die immer mit charak-
teristischer Gefühlsfarbe durchtränkt sind.
Der Verfasser beruft sich mit Unrecht auf die Psychoanalyse zur Stützung
seiner These. Gerade die Psychoanalyse hat gezeigt, daß es isolierte Affekte
nicht gibt, sondern nur Gesamtsituationen mit bestimmter affektiver Wertigkeit.
Freilich reichen die auch gedanklich faßbaren Wurzeln solcher affektiver
Einstellungen tief in das Unbewußte hinein. Obwohl das Resultat der bisher
publizierten Versuche Benussis etwas dürftig ist, obwohl Hypnose und
Suggestion eine gefährliche Einmischung in das Experiment bedeuten können,
kann es die Psychoanalyse nur begrüßen, wenn Benussi seine große
Experimentierkunst in den Dienst der Aufhellung der schwierigen Probleme
der Psychoanalyse stellt. Gerö (Wien)
Pickworth-Farrow, E.: Some notes on Behaviorism.
American Journal of Psychology, XXXVII, Ss. 660fl.
Farrow gibt eine sehr scharfe Kritik des Behaviorismus, der eine Psycho-
logie ohne Psyche machen will. Nach Erledigung der Frage, ob alles Denken
sich nur in Worten vollziehe, die nach Farrows Meinung durch analy-
tische Erfahrung eindeutig verneinend beantwortet ist, polemisiert Farrow
besonders gegen die solipsistischen Anschauungen von Watson. Aus der
Tatsache, daß man das Bewußtsein einer anderen Person nie direkt beob-
achten kann, folgt nicht, daß fremdes Bewußtsein nicht existiere. Die Unter-
suchung des fremden Bewußtseins ist zwar nicht Gegenstand des Behaviorismus;
will aber der „exakte“ Behaviorist das fremde Bewußtsein überhaupt leugnen,
so ist das so, wie wenn ein exakt beobachtender Biologe die unsichtbaren
er u Tr rn TE ne a u SZ —
Referate 257
Elektronen leugnete. — Dieses Leugnen ist so merkwürdig, daß Farrow
es für pathologisch hält und nur bedauert, so wenig zur Pathologie des
Behavioristen mitteilen zu können. Der Behaviorismus ist ein narzißtisches
Phänomen. Wollte man mehr darüber wissen, so müßte man wohl erst
eine Reihe von Behavioristen einer Psychoanalyse unterziehen, was Farrow
auch wegen der zu erwartenden Änderungen in der Denkweise der Analy-
sanden im Interesse der psychologischen Wissenschaft gelegen zu sein scheint.
Fenichel (Berlin)
Falke, Konrad: Machtwille und Menschenwürde, Brief-
wechsel mit einer Schweizerin über das Problem der Geschlechts-
liebe. Orell-Füßli-Verlag, Zürich 1927, 560 Seiten.
In diesen Briefen nimmt der Autor Stellung gegen die Heuchelei und
Verderbtheit der herrschenden Sexualmoral, deren Abhängiskeit von unserer
heutigen bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung er sehr wohl durch-
schaut. Von allen Seiten wird dieses Geschlechtsleben beleuchtet, das Früchte
zeitigt wie etwa die sexualablehnende Haltung des jungen Mädchens, das zwar
ihre „Reinheit“ für die Ehe bewahrt, aber unfähig wird für ihre Durch-
führung, oder die lüstern verurteilende Einstellung zur Prostitution, oder die
Geilheit, Blasiertheit und Impotenz des jungen Mannes.
Den Weg zur Befreiung der Geschlechtlichkeit von den ihr jetzt anhaftenden
Übeln sieht Falke im freien, zeugungslosen Geschlechtsverkehr der Jugend,
der gewissermaßen als Probe der späteren monogamen Ehe vorangehen soll;
denn daß diese die höchste, die letzte Form der Beziehungen zwischen Mann
und Weib ist, steht für den Autor fest. Eine freie Geschlechtlichkeit, meint
der Autor, wäre die Vorbedingung für eine freie, gerade, kameradschaftliche
Menschheit, die es nicht mehr nötig hätte, sich etwa in imperialistischen
Kriegen auszutoben. Leider übersieht der Autor hier die wirtschaftliche
Bedingtheit der Schwierigkeiten und die Tatsache, daß nur eine radikale
Änderung der Gesellschaftsordnung die geeignete Grundlage für die Änderung
des Geschlechtslebens sein könnte. Das Buch ist getragen von einer tief
idealistischen Weltanschaung, die leider in der Geschlechtlichkeit nur einen
Weg und keinen Selbstzweck sieht. Wenn wir auch in einigen wichtigen
Punkten anderer Ansicht sind als der Autor, muß dieses mutige und auf-
richtige Bekenntnis jedenfalls Billigung und Anerkennung finden.
Reich (Wien)
Flach, Auguste (Wien): Über symbolische Schemata im
produktiven Denkprozeß. (Erschienen im Band 52 des
Ardivs für die ges. Psychologie, Leipzig.)
Die Verfasserin verfügt über umfassendes Wissen auf allen Gebieten der
Psychologie und stellt eine psychologische Entdeckung, die sie dem Titel
ihres Aufsatzes gleich benennt, kritisch in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen.
Manchen Menschen erscheinen zwangläufig Figuren, wenn sie über irgend
etwas nachdenken. Diese Figuren sind auf dem Wege des Gedankens vom
„unklaren Sphärenbewußtsein“ bis zur endlichen Schärfe als Zwischenstufe
eingeschaltet. Verfasserin als Anhängerin der Denkpsychologie sondert diese
Schemen vom Gefühlsleben und sieht in ihnen einen „über das sinnliche
de Pe j
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ni r
pin ee ae
._—y+ .—— gr
258 Referate
Sein hinausgehenden Gedankengehalt“. Sie helfen den Gedanken formen. In
diesem Sinne unterscheidet sie ihre symbolischen, d. h. darstellenden Schemen
von bloßen Illustrationen, das sind Bilder, die man willkürlich auswählt, um
einen schon klar ausgedachten Gedanken zu illustrieren. Ebenso unterscheidet
sie ihre Schemata, die, unabhängig vom abstrakten Gedanken, keine Eigen-
bedeutung haben von den sogenannten „Diagrammen“. Die symbolischen
Schemata gehen aus dem Denkverlauf unmittelbar hervor: an ihnen wird
gedacht. Zahlreiche Beispiele an Versuchspersonen klären den Standpunkt der
Verfasserin, der aufs engste verknüpft ist mit der Methode und den Theorien
der Denkpsychologie, wie sie in Würzburg und in Wien von Karl Bühler
vertreten wird. Der abstrakte Gedankengehalt wird hier als etwas Objektives
vom subjektiven oder individuellen Faktor getrennt. Es wird wohl darauf hin-
gewiesen, daß das Schema durch den individuellen Faktor von der Trieb-
haltung her determiniert ist, ohne daß näher darauf eingegangen worden
wäre, wie wir uns diese Determinierung zu denken haben. Hier wäre
Gelegenheit gewesen, von psychoanalytischen Auffassungen, von Freuds
System des Vorbewußten, Unbewußten, von Zensur- und Affektbesetzungen
Gebrauch zu machen. Wittels (Wien)
Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsycho-
logie. Herausgegeben von Kurt Lewin. — Bluma Zeigarnik:
Hl. Das Behalten von erledigten und unerledigten
Handlungen. Psycologishe Forshung, Bd. IX, Berlin,
Springer I927.
In dieser Arbeit wird über Experimente berichtet, die angestellt wurden,
um die Auswirkung aktueller bedürfnisartiger Spannungen auf gewisse
Gedächtnisleistungen zu erforschen. Es soll untersucht werden: Wie verhält
sich die Erinnerung an Handlungen, die vor Beendigung unterbochen worden
sind, zum Behalten beendeter Handlungen? Die Ergebnisse zeigen: Unerledigte
Handlungen werden besser behalten. Die Erklärung dieses Fundes wird darin
gesucht, daß bei der Instruktion, die Arbeit auszuführen, ein gespanntes
System, ein „Quasibedürfnis“ entsteht, das nach Entspannung tendiert. Die
bedürfnisartige Spannung wirkt nicht nur unmittelbar in der Richtung der
Erledigung der Aufgaben, sondern hat auch eine Begünstigung der späteren
Reproduktion zur Folge. Die Reproduktion spielt hier die Rolle eines Indi-
kators für die bedürfnisartige Spannung, der Reproduktionsvorgang bedeutet
eine Entladung der Spannung.
Es zeigt sich, daß besonders schwere Aufgaben, auch wenn ihre Aus-
führung unterbrochen wurde, häufig vergessen werden. Kinder drängen zur
Wiederaufnahme unerledigter Handlungen. Das mit der Übernahme der
Instruktion entstandene „Quasibedürfnis" scheint bei ihnen eine größere
Durchschlagskraft zu haben, wohl deshalb, weil ihre Bedürfnisse auch sonst,
ungebrochener sind.
Was diese Arbeit bemerkenswert macht, ist das sorgfältige Eingehen auf
die ganze psychische Situation, eine Eigenschaft, der man sonst im experimentell-
psychologischen Betrieb nicht eben häufig begegnet. Man spürt vielfach, zumal
in der Formulierung dynamischer Zusammenhänge, Verwandtschaft mit dem
Geiste der Psychoanalyse. Gerö (Wien)
ee er ee
_ Referate | 2590
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psych-
analyse, herausgegeben von Dr. Wilhelm Stekel, redigiert
von Dr. Anton Mießriegler und Emil Gutheil. II. Band
(Deuticke, 1920).
Der vorliegende IH. Band der offiziellen Zeitschrift der „Vereinigung
unabhängiger ärztlicher Analytiker enthält eine große Anzahl
von Öriginalarbeiten und Mitteilungen und am Schluß eine Darstellung der
„Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ von Wilhelm Stekel. Die
Besprechung muß sich auf einige Originalarbeiten und Mitteilungen beschränken.
Stekel ist mit drei Originalarbeiten vertreten:
ı) Übertragung, Annullierung und Verdrängung,
2) Zur Psychologie der Schmerzphänomene, insbesondere des Kopfschmerzes,
3) Der Abbau des Inzestkomplexes.
Der erste Aufsatz beginnt mit einer Untersuchung der Übertragung, die
„das große, bisher ungelöste Rätsel der Psychoanalyse“ sei. Die Übertragung,
die für uns nach Freud das vielleicht bestverstandene Phänomen ist,
nämlich ein Übertragen infantiler, bestimmten Objekten der Kindheit geltenden
Haltungen, sowohl Liebe als Haß (positive und negative Übertragung), ist für
St. bloß „das merkwürdige Phänomen, daß sich jeder Analysierte mit
absoluter Gesetzmäßigkeit in den Analytiker verliebt“ (S. ı); also für den
Autor gilt nur die positive Übertragung und, was wesentlicher ist, das
eigentliche an der Übertragung, daß sie nämlich eine „übertragene“
Liebe oder einen übertragenen Haß darstellt, wird im ganzen Aufsatz
nicht erwähnt. „Der größte Fortschritt in der Frage der Übertragung ist die
Erkenntnis, daß wir alle gewissen Ur-Reaktionen unterworfen sind, die sich
bewußt nicht äußern dürfen, da sie von der Kultur... verpönt werden.
Eine solche Ur-Reaktion ist der Wunsch, dem Nächsten an das Genitale zu
greifen, ihn sich nackt vorzustellen, der Wunsch, sich von ihm sexuelle Lust
verschaffen zu lassen“ (S. ı/e).
Der größte Fortschritt in der Frage der Übertragung war also nicht die
Entdeckung ihres zwanghaften Wiederholungscharakters, sondern die banale
Selbstverständlichkeit, daß jede Verliebtheit auch ein sinnliches Substrat hat.
Denn unter den Ur-Reaktionen ist natürlich nichts anderes zu verstehen als
die körperlich-sinnliche Seite des Sexualwunsches; nur daß der „Griff an das
Genitale des Nächsten“ (Wer immer es sei?) allzu einseitig betont ist.
Wie den meisten Arbeiten dieses Autors, haftet auch der vorliegenden ein
überheblicher Ton an, in dem banalste, längst bekannte Tatsachen mit
großartig klingenden, überflüssigen Terminis benannt werden. Daß man „eine
soziale und eine individuelle Verdrängung unterscheiden“ muß, ist ein im
Grunde nichtssagender Satz. Was soll das heiljen „individuelle und soziale
Verdrängung“? Daß jedes Individuum für sich (aus Angst) verdrängt? Das ist
selbstverständlich ! Der Autor hätte sich den Satz erspart, wenn er an das zur
Verdrängung führende „Realitätsprinzip“ Freuds gedacht hätte, das ein soziales
Triebregulativ ist. Oder glaubt der Autor, daß es andere als soziale, d.h. aus dem
Zusammenleben mit Anderen hervorgehende Motive der Verdrängung gibt?
m EEE BEREIT THREE BEFREIEN HERE e
260 Referate
Nach einigen richtigen Bemerkungen über die (positive) Übertragung, etwa
daß der Patient in der Analyse immer sinnliche Befriedigung wünscht, oder
daß ersich unbewußt denkt, die einzige Heilung wäre, wenn der Analytiker
ihm Lust gäbe u.a. m., kommt wieder einer jener leicht hingeworfenen,
völlig unbegründeten und unbewiesenen Sätze, von denen man gern wüßte,
wie sie entstanden : „Interessant ist, daß dabei (nämlich bei der Verliebtheit)
große Differenzen zwischen Ich und Es hervortreten können. Das Ich liebt,
das Es lehnt die Liebe ab. Oder: Das Es liebt, das Ich lehnt die Liebe ab“
(S. 3). Daß das Es die Liebe ablehnt, kann unmöglich richtig sein. Es kann
nur vorkommen, daß das Es liebt, das heißt Befriedigung seiner Libido von
einem bestimmten Objekt wünscht, während das Ich das Liebesstreben (aus
Angst oder Moral) abwehrt oder verdrängt. Umgekehrt kann das Es nur
hassen, das heißt das Objekt zerstören wollen, nie aber die Liebe „ablehnen“;
das kann nur das Ich; und das Ich kann nicht wirklich lieben, wenn das
Es nicht liebt, sondern höchstens den Haß des Es in „reaktive Liebe aus
Schuldgefühl verwandeln. (Vgl. Freuds Ausführungen über „Triebe und
Triebschicksale“.)
Der Methode St.’s., Theorien zu bauen, und der Wirrwarr der Begriffe,
Definitionen und Auffassungen, der dabei herauskommt, zeigt sich bei der
Aufstellung der ‚Annullierung“. „Die Annullierung ist das Gegenstück der
Verdrängung. Das Ich nimmt eine Tatsache als solche an, das Es läßt diese
Kenntnis nicht zu. Es annulliert diese Tatsache” ($S. 4). Wir sind nun
gespannt, ob es dem Autor tatsächlich gelungen ist, einem der Verdrängung
ähnlichen, aber entgegengesetzt laufenden Prozeß im seelischen Apparat auf
die Spur zu kommen. Denn prinzipiell wäre ja derartiges möglich. Oder
sollte sich der Freudsche Satz „Das Unbewußte kann nur wünschen",
also nichts ablehnen, nichts verneinen, als unrichtig herausstellen ? Hören wir
das Beispiel: „Ein Mann ist über 20 Jahre verheiratet. Für sein Es existiert
diese Ehe nicht. Seine Träume zeigen ihn ledig, mit einer anderen Frau
verheiratet, oder vor der Ehe mit seiner Frau. Sein Es besteht darauf, daß
die Schwester... seine eigentliche Frau ist. Erscheint seine Frau im Traume,
so trägt sie die Züge der Schwester... ($. 4). Die Annullierung soll etwas
Neues sein, aber wir erkennen in ihr gute alte Bekannte: einerseits wieder
nichts anderes als die Verdrängung; so wenn der Autor 89.6. sagt:
„Pathologisch ist nur die Annullierung (nicht die gelungene Verdrängung).
Mit ihr setzt die pathologische Spaltung der Persönlichkeit ein. Die
Annullierung bedeutet die Abkapselung einer Vor-
stellungsgruppe im Unbewußten (vom Referenten gesperrt)“;
also das gerade Gegenteil von der früher wiedergegebenen Definition und
das gleiche wie die Verdrängung Freuds; andererseits erkennen wir in der
Annullierung Elemente der negativen Übertragung, etwa im folgenden Falle
(S. 4).: „Es kommt häufig vor, daß man Analytiker zu behandeln hat oder
Personen, die über die Analyse informiert sind. Sie übertragen bewußt, aber
es kann vorkommen, daß das Es die Übertragung annulliert. Sie liefern kein
positives Zeichen der Übertragung. Sie sprechen über die Übertragung, aber
sie fühlen sie nicht. Sie dringt in sie nicht ein.“ Auf die Idee, daß es sich
hier gar nicht um positive, sondern um eine geheime negative Übertragung
handelt, die nur durch das „Sprechen über die Übertragung maskiert wird,
—
Eu — ——m—._
a
Referate 261
kommt der Autor gar nicht; ferner: Was heißt das, sie übertragen bewußt,
aber das Es liefert keine Zeichen der Übertragung? Das kann heißen:
a) daß sie intellektuell über die Übertragung sprechen, ohne eine solche
wirklich zustande gebracht zu haben. Nur das Es kann übertragen. Eine
Übertragung durch das Ich ohne entsprechende Strömung im Es kann nicht
zustande kommen.
b) Das Es hat zwar übertragen, aber der ubw. Anteil des Ichs verdrängt
die Wahnehmung dieser Übertragung ; dieser Fall ist aber keine Annullierung,
sondern stellt sich als Typus der Verdrängung dar; sie geht nicht vom Es,
sondern vom Ich aus.
c) Das Es hat übertragen, aber der Kranke ist affektgesperrt und
depersonalisiert, was wieder eine besondere Form der Verdrängung darstellt.
Es ist nichts zu machen: Die „Annullierung“ ist nicht zu retten. Denn da
immer der unbewußte Teil des Ichs verdrängt, müßte man mit Stekel
immer von Annullierung statt von Verdrängung sprechen. Mit der Annullierung
ist es nicht anders als mit der neuesten Entdeckung einer „Verleugnung‘“
durch Rank: Beide wollen die „Verdrängung“ verdrängen.
Wenn das Es „die Übertragung nicht annehmen will“ und ‚daher auch
keine Übertragungsträume produziert“, so liegt ebenfalls nur eine Verdrängung
vor. Und St. fügt selbst gleich hinzu (S.4.): „In solchen Fällen besteht
eine leidenschaftliche Übertragung, die sich in einem Winkel des Es etabliert,
der weder dem Patienten noch dem Analytiker zugänglich ist.“ Hier liegt
eine Verdrägnung der positiven Übertragung des Es durch das ubw. Ich vor,
was als Widerstand durch Deutung ebenso zu beheben ist wie andere Ver-
drängungen. Aus diesem Wirrwarr ergibt sich wieder ein sinnloser Satz
(S. 4/5): „Diese Fälle (bei denen die positive Übertragung verdrängt ist)
entsprechen dem Vorgang, den ich als sekundäre (!) Verdrängung bezeichnet
habe. Nach einer Analyse, die scheinbar vollkommen
gelungen ist (Was heißt das? Ref.), sieht man die Symptome fort-
bestehen. Die sekundäre Verdrängung benützt die
Annullierungsprozesse (!) und annulliert ( das Vor-
handensein des pathogenen Komplexes.“ (Vom Referenten
gesperrt.) Man lese diesen Satz aufmerksam durch und man wird endlich
folgenden Sinn finden: Die Analyse ist nur scheinbar gelungen, in Wirklichkeit
sind die Verdrängungen nicht behoben, das Ich des Kranken will nach wie
vor vom Verdrängten nichts wissen. Dazu braucht St., der sich, im Gegen-
satze zum „metapsychologischen Philosophen“ Freud, einen „nüchternen
Beobachter“ nennt, ‚der aus klinisch beobachteten Fällen seine zwingenden
Schlüsse zieht“ ($. 564), eine sekundäre Verdrängung, die mittels der
Annullierung annulliert! Natürlich ist nach St. wieder die Annullierung
daran schuld, wenn eine Analyse, lege artis durchgeführt, dadurch unwirksam
bleibt, daß das Es die Analyse nicht akzeptiert hat. Was bedeutet diese
bequeme Ausrede, die leicht bei jedem mißlungenen Fall angebracht werden
kann ? St., der sich immer als ‚„Praktiker‘‘ brüstet, ahnt nicht, daß daran
seine unausgebildete Technik schuld ist, das berühmte „Anschießen‘ mit
Deutungen, jene „aktive Technik“, die nicht imstande ist, Widerstände
sorgfältig zu beheben und das Unbewußte so zugänglich zu machen, Das
mag an der Methode oder am einzelnen Analytiker liegen — aber das
262 Referate
Unbewußte dafür verantwortlich zu machen, dazu bedarf es nicht des
ständigen Herausstreichens, daß man im Gegensatze zum Freudianer der
Praktiker sei: „Die Frage der Heilung hängt nicht vom Ich und seinem
Verständnis, sondern vom Es und seiner Heilungsbereitschaft ab.‘ Dieser Satz
und die Theorie der „Annullierung” sind theoretisch verbrämte Eingeständnisse
der Ohnmacht einer Technik, die Schnellanalysen liefern will und sich noch
brüstet, sich vom Patienten unabhängig gemacht zu haben. Ja, dann macht
sich der Patient aber auch unabhängig und „annulliert” eben die Analyse!
Die Freudsche Schule hat sich nie mit ihren Erfolgen gebrüstet; sie weil,
daß die Erfolge bei Neurosen nicht von den Bäumen zu pilücken sind, und
arbeitet ehrlich und still am Ausbau ihrer Therapie. Werden hier Erfolge
erzielt, dann stehen ein oder zwei Jahre Analyse dafür; aber man brüstet
sich nicht damit, weil man weiß, daß man noch allzuviel zu lernen, allzuviel
an Fehlern zu korrigieren hat.
Nachdem St. eine „Annullierung“ als Gegensatz zur Verdrängung aufgestellt
hat (S. 4) und auf S. 6 die Annullierung wieder genau so wie die Verdrängung
definiert, heißt es weiter S. 6: „Oft wechselt das Vergessen (gemeint ist das
Verdrängen. Ref.) und Annullieren zwischen Ich und Es ab. Sie werfen sich
gegenseitig den Komplex zu. („Sieh zu, daß du damit fertig wirst!”) Dann
entstehen die merkwürdigen Bilder der Zyklothymie, die uns bisher schwer
verständlich waren.“ Aber jetzt wissen wir endlich, was eine Zyklothymie ist!
„Es und Ich werfen sich den unlustbetonten Komplex zu und spielen mit
ihm Fangball.“ „Schließlich kann der Komplex nach außen geworfen und auf
die Welt projiziert werden“ (S. 7). So entstehen die Amentia und Paranoia.
„Man kann die Schizophrenie als die Krankheit der ‚mißlungenen Verdrängung’
bezeichnen.“ „Die katatone Stellung bedeutet die erstarrte Geste der Erinnerung.
Immer? Oder nur in dem Beispiel, das dann folgt?
„In der Manie wird die Hoffnungslosigkeit, in der Melancholie die Hoffnung
annulliert.“ „In der akuten Verwirrtheit (Amentia) wird der krankheits-
auslösende Konflikt annulliert“ (S. 8). „Beim hysterischen Delir fehlen die
Annullierungsprozesse“ ($. 9). Warum sie hier fehlen, wird ebensowenig be-
wiesen, wie daß sie in anderen Fällen vorhanden sind. Der Gipfel dieser
„theoretischen Schlußfolgerungen“ ist aber in den folgenden Sätzen erreicht
(S. 9): „Auch im epileptischen Anfall fehlt die Annullierung, Kommt die
Annullierung zur Verdrängung hinzu, so haben wir das Bild
der epileptischen Demenz. Die Realität wird vollkommen
annulliert, der Anfall ist sozusagen in Permanenz erklärt.“
Das ist völlig unverständlich. Inwiefern ist die epileptische Demenz ein Anfall?
Was heißt das, die Verdrängung kommt zur Annullierung hinzu? Sie schließen
doch, im Sinne $t.s gebraucht, einander aus!
Und nun wird der Wirrwarr vollständig (S, 10): „Wir können aber in
der Psychoanalyse die Annullierungstendenzen in statu nascendi beobachten.
Am häufigsten — wie gesagt — durch Annullierung der Urreaktionen. (Was
heißt das? Wer annulliert? Der Analytiker?) Diese Annullierung zu
annullieren, ist unsere Aufgabe. Während wir bei der Annullierung
rücksichtslos vorgehen müssen, gebietet uns die Erfahrung, die Verdrängung
nur ganz allmählich aufzulösen und immer darauf bedacht zu sein, daß wir
dem Kranken mehr schaden als nützen können.”
Referate 263
Der Sinn des vorletzten Satzes ist folgender: Ich verhalte mich als Therapeut
der Annullierung gegenüber, wie das Es sich gegen eine ihm peinliche Tat-
sache der Außenwelt verhält: ich annulliere sie, d. h. ich nehme keine Kenntnis
von ihr. Das ist natürlich ein Unsinn. Der Autor wollte offenbar sagen, es
sei notwendig, die Annullierung (d. h. eigentlich die Verdrängung) zu beheben.
Das wäre aber nichts Neues gewesen und man hätte dann auch der Freud-
schen Analyse, die nur die Verdrängungen behebt, nicht eins versetzen können,
wie es im letzten Satze geschah. Auch Seitenhiebe auf den „Laienanalytiker X“
und den „Laienanalytiker Y“ sind beliebte Ausschmückungen.
Eine merkwürdige Auffassung hat St. auch von der Therapie. Der Ersatz
für die infantilen Wünsche sei die Übertragung. „In der Liebe des Arztes
findet der Kranke den Ersatz für den Verlust der infantilen Ideale Aber
diese Liebe darf nicht zum Leiden werden“ (vom Ref. gesperrt)
(S. 10). Essoll offenbar statt „Liebe des Arztes“ Liebe zum Arzt heißen?
Wie soll diese Liebe nicht zum Leiden werden? Unter welchen Bedingungen
ist das möglich? Doch nur, wenn der Analytiker die Urreaktion zuläßt! Wenn
er sie aber nicht zuläßt, so bleibt nur das Leiden in der Übertragungssituation.
Dagegen gibt es kein Heilmittel, trotz aller Philanthropie.
Wir haben diesen Aufsatz so ausführlich besprochen, weil sich an ihm die
ganze Seichtheit, Verantwortungslosigkeit und Überheblichkeit der Stekelschen
„Arbeitsmethode“ demonstrieren läßt.
Der Aufsatz über den „Abbau des Inzestkomplexes“ (man erwehrt sich
dabei nur schwer der Assoziation „Untergang des Ödipuskomplexes“) starrt
von großartig ausgesprochenen Banalitäten und Seitenhieben gegen die Freud-
Schule, ohne daß man auch nur einen fruchtbaren, neuen Gedanken fände.
Der Sinn des 29 Seiten langen Aufsatzes ist, daß es nicht genügt, den Inzest-
komplex aufzudecken; „wir müssen imstande sein, den Wunsch nach Wieder-
holung zu überwinden und zurückzudrängen“, so heißt es auf $. 217. Einige
Seiten vorher (S. 2ı2) heißt es anders: „Die Analyse deckt den Konflikt auf.
Sie zeigt die Ursache der Liebesunfähigkeit. Was aber dann zu erfolgen hat,
kann von der Analyse nicht geleistet werden. Es ist eine Arbeit, die der
Patient allein zu vollziehen hat.“ Ein für St. typischer Satz verdient allein
noch aus dieser Arbeit hervorgehoben zu werden: „Analysierte aus aller Herren
"
Länder kommen zu mir, weil sie in der fremden Analyse keine Heilung ge-
funden haben,“
Im dritten Aufsatz „Zur Psychologie der Schmerzphänomene,
insbesondere des Kopfschmerzes” erörtert St. in sehr ausführlicher
Weise alle Arten neurotischen Schmerzes. „Alle diese Kranken leiden an einer
Haßparapathie, die sich gegen das eigene Ich richtet. Viele dieser Kranken
leiden die Schmerzen, die sie dem anderen wünschen“ ($. 40). Und weiter:
„Der Schmerz verschwindet, wenn die Kranken das Haßobjekt wieder lieben.“
Verharren wir einen Augenblick bei diesen Sätzen. Angenommen, aber nicht
zugegeben, der neurotische Schmerz entspräche einem auf die eigene Person
abgelenkten Haß — was besagt das angesichts der Tatsache, daß jeder Masochist
und so viele Zwangskranke den Haß vom Objekt auf die eigene Person
lenken, ohne daß neurotische Schmerzen auftreten. Daß heißt
aber nichts anderes, als daß der Haß den neurotischen Schmerz nicht
erklärt, für ihn nicht spezifisch ist. Freud und Ferenczi haben etwa
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- A =
das Konversionssymptom durch die Wirkung gestauter Genitallibido auf ein
bestimmtes Organ erklärt, Das ist eine spezifische Erklärung, denn dieser
Vorgang kommt eben nur beim Konversionssymptom vor. Dessenungeachtet
findet man bei der Analyse der Konversionssymptome unzählige andere
„Determinanten”, die am Zustandekommen zusammengewirkt oder vielleicht
auch sich dem bereits bestehenden Symptom s ekundär beigesellt haben.
Keinem, der etwas von Symptomanalyse versteht, würde einfallen, das Symptom
mit dieser Determinante zu erklären. Man kann nur sagen, das Symptom ist
auf diese bestimmte Weise zustande gekommen und hat überdies noch diesen
und jenen psychischen Sinn. Das gilt auch für den Schmerz. Es ist richtig,
was Stekel sagt, der Schmerz könne eine Erinnerung, eine Warnung, eine
Strafe, Ausdruck eines seelischen Schmerzes usw. sein. Das alles hat ihn aber
nicht gemacht, das ist bloß sein Sinn. Der Fund, daß der Schmerz gelegent-
lich an Stelle eines Orgasmus auftritt (es ist eine Laxheit des Ausdrucks, zu
sagen: „der Schmerz als Ausdruck des Orgasmus“, S. 43), weist den Weg
zu seinem Verständnis. Der Schmerz ist als Organsymptom natürlich ein durch
somatische Libidostauung zustande kommendes Symptom, eine Theorie, die
St. natürlich höhnend verwirft. Man kennt $t.s Stellung zur Libidotheorie
und zur Aktualneurose. „Freudianer orthodoxer Richtung erklären die Kon-
versionssymptome durch Libidinisierung der erkrankten Körperteile. Die Libido
„besetzt“ ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Körperregion. Wir sehen
aber, daß diese Somatisationen einfach symbolischer Ausdruck bestimmter
Vorstellungen sind, wobei die Libidinisierung vollkommen fehlen kann“ ($. 72).
Wie stellt das der Autor fest? Und ist die Tatsache des symbolischen Aus-
drucks im Konversionsorgan ein Einwand gegen die „Libidinisierung“ ?
Vieles von dem, was St. über den Sinn und die Anlässe der Migräne
sagt, ist richtig, trifft aber nicht die Frage der Ätiologie. Sinn und Ätiologie
eines Symptoms sind verschiedene Dinge, ebenso wie die drei metapsycho-
logischen Gesichtspunkte des „Philosophen Freu d“, Topik, Dynamik und
Ökonomik, nicht durcheinandergeworfen werden dürfen. Was gehen aber diese
Fragen der Theoriebildung den „Praktiker“ und „nüchternen Beobachter"
Stekel an? Systematik und Theoriebildung, jene zwei unerläßlichen, von
Stekel verhöhnten Behelfe wissenschaftlicher Forschung, bewahren einen
davor, zu verkünden, daß die Migräne „spurlos“ verschwindet, „wenn die
bewußtseinspeinlichen Gedanken zum Vorschein kommen“ ($. 73). St. fügt
nämlich nicht hinzu, wie es die Pflicht des Forschers wäre, daß sie nur
vorübergehend verschwindet, daß es sich beim Aussprechen von pein-
lichen Gedanken manchmal, beileibe nicht immer, nur um vorübergehende
Erleichterungen handelt. Stekel vergißt auch meist, uns zu erzählen, was
seine Patienten fünf Jahre nach der Analyse machen. Warum ist er nur
gewissenhaft, wenn es sich darum handelt, zu berichten, dal dieser oder
jener Fall von einem Freu d-Schüler, natürlich ungeheilt, zu ihm kam? Es
ist arg, schmutzige Wäsche bei wissenschaftlichen Dingen waschen zu müssen,
aber es muß doch gesagt werden, daß das Wiener Ambulatorium es bisher
vermieden hat, jene Fälle zu publizieren, die von Stekel und seinen
Anhängern zu uns kamen. Ein wenig Systematik würde zur Erkenntnis ver-
helfen, daß es sich bei der Frage der Neurosenbildung um ganz andere Dinge
handelt, als die ahnungslosen „Praktiker“ glauben. Man darf die Überzeugung
Referate 265
aussprechen, daß die Stekelsche Schule, geblendet durch Augenblicks-
erfolge, die der Eitelkeit schmeicheln, keine Vorstellung hat, noch haben
kann von den Problemen der kausalen Psychotherapie, aus dem einfachen
Grunde, weil ihr die Grundvoraussetzung dazu, die wissenschaftliche Syste-
matik, fehlt. Man kann nicht kausal heilen können, ja, nicht einmal die
Bedingungen dafür schaffen, wenn man, wie Stekel, die Morphologie und
differenzielle Atiologie der Neurosen weder kennt noch anerkennt und
bequemerweise „die verschiedenen Ausdrucksformen des seelischen Konfliktes
in dem Sammelnamen Parapathie zusammenfaßt“ (S. 73), Man muß eben
zwischen hysterischem und neurasthenischem Kopfschmerz unterscheiden
können, weil sie ätiologisch verschieden sind, will man ihre Wurzel angehen.
Der Freudsche Grundsatz: „Erst verstehen, dann handeln“, erscheint bei
Stekel verzerrt in der Variation: „Handeln um jeden Preis, auch wenn
man nicht versteht.“
Von den übrigen Arbeiten sind zu erwähnen die klinisch-kasuistischen
Beiträge von:
ı) Gutheil: Analyse eines Falles von Migräne. Eine ver-
hältnismäßig geschickte Analyse, die einige typische und wesentliche Ur-
sachen der Migräne erfaßt hat. Auch hier fehlt die Erörterung spezifischen
Genese.
2) Schindler bespricht in einer kasuistischen Arbeit „Zur Dynamik
des Sadomasochismus“ einen Fall, hauptsächlich an Hand von Träumen.
Zum Teil sehr treffende, zum Teil willkürlich anmutende Deutungen. Die
Arbeit bringt nichts, was in der analytischen Literatur nicht bereits bekannt
wäre. Als Kasuistik ist die Arbeit wertvoll.
3) Einen interessanten Fall von Zwangsvorstellung bringt Bien: Die
starren Augen. Ein Patient, dem seine Augen starr und steif vorkommen
und der unter bestimmten Bedingungen einen heftigen Schmerz in den Augen
verspürt. Der Patient leidet überdies, nach den Schilderungen von Patient
und Autor, an einer schweren Herz- und Aktualneurose. Der Autor erkannte
die Genitalisierung der Augen. Die Darstellung der Analyse ist geschickt, auf
das infantile Material wurde geachtet. Diese Arbeit unterscheidet sich vorteil-
heft von den meisten anderen. Der Fall wurde in 65 Sitzungen von seinem
Symptom befreit. Wie und warum, geht aus der Darstellung nicht hervor.
Auch hier fehlt eine ausreichende Katamnese.
4) Feldmanns Aufsatz über „‚Graviditätsneurosen“ hat zum
Ergebnis, „daß eine unbewußte Gravidität eine reale verhindern kann, dal
sich die Frucht vom Leibe auch aus psychischen Ursachen entfernen kann .
Die Arbeit bringt interessantes Material.
5) Der Aufsatz von Gersten über „Beziehungen des Narzißmus
zur Homosexualität“ ist höchst unbefriedigend, verworren, unsystematisch,
oberflächlich,
6) Kofranyi („Ein rasch geheilter Fall von Epilepsie‘)
„heilte‘ einen Fall von Epilepsie auf folgende Weise: Er rekonstruierte die
unbewußten Haßgedanken beim ersten Anfall durch Analyse des Anlasses,
worauf die Patientin „mit großer Bestimmtheit“ sagte: „Herr Doktor, so
muß es sein, wenn ich den Anfall bekomme." Die Analyse hatte
fünf Wochen gedauert, die Anfälle blieben dann zwei Monate (!) aus.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse XIV/a 18
266 Referate
7) Jellinek ‚heilt einen „Fall langjähriger Impotenz“ in vier Sitzungen.
8) Kappeller heilt eine Dipsomanie in vier Monaten. Mehrere Monate
rezidivefrei.
Es ist jedem Eingeweihten klar, daß es sich um oberflächliche Suggestiv-
erfolge handelt, über deren Wert man gewiß kein abfälliges Urteil fällen
darf. Nur die Überheblichkeit, das als „Heilerfolg“ auszugeben, mul mit
Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Den Mitteilungen von Stekel und
seinen Anhängern über erzielte „Heilungen“ haftet ein therapeutisches Selbst-
bewußtsein an, das sich auf höchstens einige Monate Katamnese stützt. Es
ist wie auf der psychiatrischen Klinik. Ein Fall wird mit hysterischem
Dämmerzustand eingeliefert, nach einigen Tagen „geheilt“ entlassen, nach
sechs Wochen wieder aufgenommen, dann neuerdings „geheilt entlassen, und
so geht es zehnmal und öfter fort. Es gibt Analytiker, die in dieser Art
Stekels und seiner Anhänger, Erfolge hinauszuposaunen und sich auf diese
Weise im Gegensatze zu den ‚„Freudianern” als die Kliniker und Praktiker
dem Publikum anzubieten, eine große Gefahr für die Existenz der Freudschen
Psychoanalyse erblicken. Sie klagen, das Publikum werde irregeführt, und es
sei gefährlich, dem nicht entgegenzutreten. Wer aber die Stekelschen
Publikationen liest, kann sich über diesen Punkt beruhigen: Diese Art
Wissenschaftlichkeit muß sich einmal selbst ad absurdum führen. Und die
Öffentlichkeit bekommt mit der Zeit doch das richtige Empfinden. Daß die
Freudsche Psychoanalyse seit Jahrzehnten im Gegensatz zur lärmenden
Propaganda von Adler und Stekel ohne irgendeine ähnliche Maßnahme
ausgezeichnet besteht und immer weitere Kreise in der ernst zu nehmenden
Öffentlichkeit zieht, kann als Garantie gelten, daß es auch weiterhin gelingen
wird, im Stillen jene ungeheure und ernste Arbeit zu leisten, die die Theorie
und Therapie der Neurosen erfordert. Reich (Wien)
Schmitt, J. L: Atem und Charakter. Domverlag M. Seitz,
Augsburg 1920.
Es ist kein Zweifel, dal3 zwischen Seelenleben und Art, Rhythmus und
Tiefe der Atemtätigkeit innige und komplizierte Beziehungen bestehen, deren
„lustphysiologische“ Untersuchung leider noch vollkommen aussteht; es ist
auch kein Zweifel, daß dadurch, daß der Atem die einzige vegetative Funktion
ist, die im wesentlichen von quergestreifter Muskulatur geleistet wird, das
bewußte Ich hier eine Stelle hat, an der es in das vegetative Leben des
Organismus aktiv eingreifen kann. Wenn aber die Konstatierung dieser Tat-
bestände den Autor zu Konsequenzen führt, wie daß bei allen Menschen, die
von „Güte, Hingabe, Opfersinn“ „weit, weit weggekommen sind , „der erste
Ursprung dieser Schwäche” in ihrer „verminderten Atmung“ liegt (S. 8), oder
daß die „Einseitigkeit und Abgetrenntheit aller scharfen Denker unserer
Zeit,... kurz all ihre Hemmungen und Hälftigkeiten“ „aus der Zerrung
ihres Atems“ „geboren sind“ ($S. 16), und das Büchlein mit den in Sperr-
druck gesetzten Imperativen endet: „Tief atmen! Frei atmen! Bewußt atmen!“,
so kann solche Übertreibung dem Psychoanalytiker nur Gegenstand seiner
wissenschaftlichen Forschung, nicht seiner objektiven Kritik sein.
Fenichel (Berlin)
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Referate 267
Alfven, Johannes: Das Problem der ER: (OÖ. Heft der
Abhandlungen aus dem Gebiet der Psychotherapie und med.
Psychologie, Herausg. Alb. Moll.) Ferd. Enke, Stuttgart 1927.
Diese Arbeit trägt zum Problem der Ermüdung nicht nur keine neuen
Gesichtspunkte hinzu, sie ist sogar erstaunlich lückenhaft. Eine Lückenhaftig-
keit, die Verf. dadurch verwischt, daß er mit komplexen psychologischen
Begriffen umgeht, als ob sie Einheiten, ja, als ob sie neurologische Einheiten
wären („die hemmenden Reflexe werden... überinnerviert” — ‚die Ziel-
begriffe.... sind oft so krampfhaft und ängiklich ‚gespannt . — „Die eine
Komponente, die Zielbegriffe, ist überinnerviert” usw.). Die dadurch ent-
stehende Verwirrung wird an exponierten Stellen mit parabolischen Gleich-
nissen verhüllt. Zu welchem Schluß der Verf. am Ende seiner Arbeit gelangt,
war mir nicht ersichtlich. Bally (Berlin)
Maeder, A. Dr. med. (Zürih): Die Richtung im Seelen-
leben. Rascher & Cie., A.-G., Verlag, Zürich, Leipzig und Stuttgart.
Das Buch ist eine nicht besonders glückliche Erweiterung und Neuauflage
einer früheren Schrift des Verf.: „Heilung und Entwicklung im Seelenleben“
(1918), deshalb nicht glücklich, weil Ergänzungen aus weit auseinanderliegenden
Zeitpunkten gemacht wurden. Die Arbeit entbehrt deshalb der Einheit-
lichkeit,
Verf. betont in seinen neueren Einflechtungen vor allem seine Sonderung
von der PsA. in seinen Auffassungen über den Richtungssinn in der Psyche,
seine besondere Stellung zum Gewissen, zur Religion. Dagegen druckt er als
dritten und letzten Teil des Buches (also gleichsam als Krönung!) einen Auf-
satz aus den früheren „Berner Seminarblättern“ ab, der aus dem Jahre 1912
datiert, und in dem er noch von „wir in unserer niychösnalytischen Sprache”
spricht. Der Aufsatz zeigt eine Aare Einstellung zur PsA. Er wirkt wie ein
Zurückgreifen auf eine Zeit, da man noch Freudianer war (ıg11).
Heute wirft Maeder Freud ebenfalls die „Übertreibung“ des Pan-
sexualismus vor. „Die Existenz einer höheren Instanz in der Tiefe der Seele“
zwingt ihn ferner zur Anerkennung eines unbewußten Richtungssinnes und
zum religiösen Bekenntnis. Er sieht in Worten Christi die „ideale Definition
der ärztlichen Tätigkeit“, sieht das „Höchste“ und „Letzte“ nicht in der
Wissenschaft, sondern in der Religion, betrachtet die Krankheit also „nicht
unter dem einseitigen Gesichtspunkt ihrer äußeren Verursachung, .. . sondern
noch unter demjenigen der Bezogenheit ... auf den göttlichen Ursprung”.
Wie seltsam (aber auch wie deplaciert) mutet folgendes Bekenntnis an: „Ich
persönlich glaube, daß das Urbild (des Menschen) unmittelbar aus der
Schöpferhand Gottes, aus einem schöpferischen Akte hervorgegangen ist und
dem empirischen Menschen als vitaler Impuls und Leitbild dient.“ Wie tief
doch auch moderne und intelligente Menschen noch in der Illusion verankert
sind! Und warum? Der Gottesbegriff ist eine gute Stütze der teleologischen
Denkweise, des vielgepriesenen Verantwortlichkeitsgefühls, der inneren Norm usw.
Und warum diese Blickrichtung auf das „Höhere“ ? Man gewinnt den „Halt“
und gewinnt das Halt vor dem weiteren „Gang in die Tiefe“.
Graber (Bern)
18*
268 Referate
Tu — |,—,——
Zappert, Juliu: Masturbation. Sonderabdruc aus dem Hand-
buch der normalen und pathologischen Physiologie. XIV. Bd.,
I. Hälfte, ı. Teil. Berlin, Julius Springer.
Die Abhandlung bringt an Tatsächlichem nichts Neues; bei der Deutung
des prinzipiell verschiedenen Geschehens bei der Onanie und dem normalen
Sexualakt führt Verf., und das ist neu, den Begriff des „Bedingungsreflexes“
(Krasnogorsky) ein. Er folgt hiebei der Darstellung Molls vom Kon-
trektations- und Detumeszenztrieb. Jener läuft auf dem Wege des „bedingten“,
dieser auf dem des „unbedingten” Reflexes ab, und Z. meint nun, beim
normalen Sexualakt beherrsche der zerebrale libidinöse Bedingungsreflex, der
zur Erektion führt, die Szene, an den sich dann der unbedingte Ejakulations-
reflex anschließe, während bei der Onanie der mechanisch erzeugte
unbedingte Reflex im Vordergrund stehe gegenüber dem
zerebral ausgelösten bedingten Geschlechtsreflex. Aus
dieser Konstruktion leitet er dann die krankhaften Folgen der Onanie ab;
indes sind die Verhältnisse in Wahrheit wohl viel verwickelter und im Einzel-
falle auf ein solches Schema, insbesondere bei dem Eingreifen der Therapie,
kaum zurückführbar.
Zu dem Problem der Onanie stellt sich der Verf. unsicher, ja, zwiespältig,
hauptsächlich wohl darum, weil seine Arbeit sich mehr auf die fleißige
Durchsicht der Literatur als auf eigene Beobachtung stützt. So sagt er bei
der Besprechung der Statistiken über die Häufigkeit der Masturbation in der
Pubertätszeit, daß „die überwiegende Mehrzahl der Jünglinge die ver-
hängnisvollen Freuden der Onanie vorübergehend oder dauernd kennen
lerne“. Wie also sieht das Verhängnis aus? — Nun, der Verf. stellt später
fest, „daß in vielen, ja, anscheinend in der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle, die Masturbation ohne irgendwelche Folgen vertragen wird“. — Oder:
Er verweist auf die Schädlichkeit „falscher ärztlicher und pädagogischer
Erziehungs- und Abschreckungsmittel sowie mißverstandener Lektüre“ von
den bösen Folgen der fortgesetzten Onanie. Er selbst berichtet aber breit
über die körperlichen und psychischen Folgen derselben, zitiert die nur allzu
reiche Literatur dieser Behauptungen ohne den Versuch einer kritischen
Sichtung, so daß dieser Abschnitt seiner Darstellung sich den von ihm
getadelten Publikationen stark nähert. — So läßt die Arbeit den kritischen
Leser zu keiner klaren Einsicht kommen. Es ist richtig, daß an der behandelten
Frage vieles noch unklar ist; aber mindestens bezüglich der Kinder bis zur
Pubertät sind die Dinge schon jetzt weit durchsichtiger, als Z. sie darstellt.
Sicher aber ist, daß der größte Teil der „wissenschaftlichen“ Literatur in
dieser Frage mit Vorsicht zu verwerten ist.
Friedjung (Wien)
Referate 269
Aus der psychoanalytischen Literatur
Alexander, Dr. Franz: Psychoanalyse der Gesamt-
persönlichkeit. Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. XXI, Wien 1927.
| Alexanders Buch ist ein großzügiger Versuch, Freuds Struktur-
theorie der seelischen Organisation auf die Neurosenlehre anzuwenden. Es
bemüht sich zu zeigen, daß es mit Hilfe dieser Theorie möglich ist, die
Phänomene der Neurosen einheitlicher zu erfassen und übersichtlicher zu
beschreiben, über bisher ungeklärte Einzelheiten Licht zu verbreiten und
dadurch auch die Arbeit des Therapeuten zu erleichtern. Seine Darstellung
will nur eine einzige „prinzipielle Ergänzung zum Neurosenproblem“ (S. 6) vor-
nehmen, nämlich die Auffassung, daß das Ich sich in jedem Falle von
Neurose nicht nur mit Triebansprüchen des Es, sondern auch mit Straf-
forderungen des Über-Ichs auseinandersetzen müsse, und dal3 gerade diese
Zweifrontentätigkeit des Ichs das Wesentliche der Neurose ausmache.
Alexander meint, daß Freuds Auffassung von der prinzipiellen Bedeut-
samkeit der Selbstbestrafungsmechanismen für die Melancholie, den „moralischen
Masochismus“, das „Verbrechen aus Schuldgefühl“ und für die zweizeitigen
Zwangssymptome auch „ausnahmslos für jede Neurose anwendbar” ($. 129)
sei: Der Triebbefriedigung folgt die Strafbefriedigung, aber auch der Straf-
befriedigung die Triebbefriedigung. Das Ich benutzt die Strafbefriedigung,
um sich von einem Anspruch des Über-Ichs zu befreien und dem Es —
wenigstens partiell — nachgeben zu können. Kranksein, „Leiden“ ist die
notwendige Begleiterscheinung jeder Neurose; der entstellte Durchbruch des
Verdrängten in Form der Symptome wird nicht allein durch die Verhüllung
des Sinnes, — die Zensur erkennt ja die verpönten Triebregungen trotz der
Verhüllungen, — sondern durch das Nachlassen der verdrängenden Kräfte ermög-
licht, das durch das gleichzeitige Leiden erkauft wird. Dieses Nachlassen der
verdrängenden Kräfte wirkt im gleichen Sinne neurosenfördernd wie der
Kräftezuwachs der verdrängten Kräfte, die Libidostauung.
Über diese neurosenfördernde Rolle des Über-Ichs entwickelt Alexander
folgende Anschauungen. Das Über-Ich ist zwar theoretisch mit der verdrängenden
Instanz nicht identisch (S. 36), da aber das Ich die Verdrängung meist unter
dem Druck des Über-Ichs vormimmt ($S. 25), decken sich für den Praktiker
die Begriffe „Über-Ich“ und „verdrängende Kräfte“ fast völlig. Die Ver-
drängung, also das Über-Ich, arbeitet nach archaischen Methoden, schematisch,
automatisch, starr alles mit dem Verbotenen Zusammenhängende, z. B. mit
dem Inzestwunsch , die ganze Sexualität, mitverbietend, jeder späteren korri-
gierenden Realitätsprüfung unzugänglich. Ihre Anwendung sichert dem Ich die
ökonomischen Vorteile jeder Mechanisierung und Automatisierung psychischer
Abläufe. Es muß aber auch die schweren Folgen tragen, die dabei entstehen.
Das ist nicht nur der Umstand, daß das archaische Über-Ich überstreng
ist, sondern es erweist sich zugleich auch als zu wenig streng infolge einer
Eigenschaft, die Alexander seine „Bestechlichkeit” nennt.
Wurde sein Anspruch durch Strafen befriedigt, dann duldet es Regungen,
die es sonst strenge verpönt. Es steht in einem „Geheimbündnis mit dem
270 Referate
Es“. Alexander vergleicht Über-Ich und Es mit der ultrarechten und ultralinken
radikalen Opposition im politischen Leben, die auch, einander extrem verfeindet,
miteinander geheim verbunden sind. Im Grunde wird also bei allen Neurosen
das Ich vom überstrengen Über-Ich in die Neurose hineingetrieben, jede
Neurose ist gleichsam eine „Neurose aus Schuldgefühl” mit „negativer thera-
peutischer Reaktion“ ($. 49).
Das Ich zieht primären und sekundären Gewinn aus dem „Geheimbund“ ;
es ist z. B. beleidigt, wenn man sein Leiden nicht ernst genug nimmt, es
„begünstigte die unlautere Politik des Über-Ichs, weil es selbst schwach war
und in dem ewigen Kampfe mit dem ichfeindlichen Es müde wurde, dessen
Tendenzen in Spuren in ihm selbst vorhanden waren“ (8. 63). Alexander
erläutert seine Auffassung an dem Verhalten eines Neurotikers, der nach einem
‚Autounfall sich zu Triebregungen bekennen durfte, die vorher verdrängt gewesen
waren ($. 53). Das Miteinanderwirken von Über-Ich und Es in der Neurose
kann nach Alexander nach drei Grundtypen erfolgen: Nach dem hysterischen
Typus, bei dem Triebbefriedigung und Strafbefriedigung zu einem Symptom
verdichtet sind, nach dem zwangsneurotischen Typus, bei dem Triebbefriedigung
und Strafbefriedigung . zwar noch gleichzeitig oder knapp hintereinander
(zweizeitiges Symptom) auftreten, sich aber auf zwei von einander unter-
scheidbare psychische Akte verteilen, und nach dem manisch-depressiven
Typus, bei dem Triebbefriedigung und Strafbefriedigung auf verschiedene
Zeiträume weit auseinandergerückt sind.
Die grundsätzliche Annahme eines ökonomischen Zusammenhanges zwischen
den Triebansprüchen des Es und den Anforderungen des Über-Ichs, dieser
Kern der Alexanderschen Neurosenauffassung, gibt der Neurosenforschung
eine wertvolle Anregung, deren heuristische Bedeutung schon durch die
Resultate Alexanders erhärtet wird. An der Darstellung dieses allgemeinen
Gedankenganges bleibt nur ein Punkt unklar, die Beziehung der bewußten
und unbewußten Funktionen des Über-Ichs zum Vorgang der Verdrängung.
Al exander meint, daß das noch schwächliche Ich die äußeren Drohungen
(Liebesverlust, Kastration) zunächst mit einer Hemmung der Triebhandlungen
beantwortet. Dann wird die Realangst zur Gewissensangst verinnerlicht und
der Gewissensgefahr nicht nur durch Unterlassung von Handlungen, sondern auch
durch Vermeidung des Bewußtwerdens des Wunsches gesteuert. Die Ver-
drängung kann so auch als eine Anpassung des primitiven Ichs an sein
Gewissen beschrieben werden (S. 37). Die Gewissenshemmung wird dann
im Laufe der Entwicklung durch die Triebabwehr ins Unbewußte versenkt,
und nur diesen unbewußten Anteil des Gewissens willAlexander „Über-Ich“
nennen, während der höhere bewußte Anteil „Ichideal“ heißen soll. Nach der
Auffassung Alexanders setzt sich also der Vorgang der Verdrängung genetisch
aus zwei Akten zusammen; ebenso beschreibt er das Unbewußtwerden des
Gewissens als einen eigenen zweiten Akt, der dem ersten Akt der Verinner-
lichung der versagenden Personen der Außenwelt folgt. Es bleibt unerörtert,
wie sich diese Anschauung zu der theoretischen Auffassung Freuds verhält:
Freud meint ja, daß der Kern des Über-Ichs deshalb unbewußt sei, archaisch
arbeite und in Verbindung mit den phyletischen Triebbedürfnissen stehe, weil
er ein Entwicklungsprodukt der unbewußten, archaischen und phyletischen
Triebbedürfnisse, nämlich des Ödipuskomplexes, ist, dal) dieser „Kern“ also.
ET nn no nn ee ESS
Referate . 271
nie bewußt war, und daß das bewußte Gewissen erst aus diesem unbewußten
Kern entsteht. Auch scheint hier ein Widerspruch vorzuliegen: Während
Alexander einmal meint, der Verdrängung sei ein durch die Realität
erzwungenes bewußtes Verzichten vorausgegangen (S. 38), meint er an anderer
Stelle wohl richtiger, daß es zur Verdrängung kommen müsse, weil das zu
schwache Ich einen Verzicht noch nicht zustande brächte (S. 32).
Der Darstellung der allgemeinen theoretischen Grundlagen läßt Alexander
den Versuch ihrer speziellen Anwendung auf die einzelnen neurotischen
Mechanismen folgen. Die Gleichzeitigkeit von Triebbefriedigung und Trieb-
abwehr wird am Beispiel des Konversionssymptoms des Errötens und an
einem passageren paranoiden Symptom in überzeugender Weise besprochen.
In der paranoiden Projektion gibt das Ich nach vorausgegangener Straf-
befriedigung dem durchbrechenden Es so weit nach, daß es sogar seine
Realitätsprüfung im Sinne des Es verfälscht. Eine Regression zum Projektions-
mechanismus kann auch die Folge einer ökonomisch falschen Deutung in der
psychoanalytischen Kur sein, die das Über-Ich frühzeitig ausschaltet und damit
das Ich seines Schutzes gegenüber dem Es beraubt,
Es muß offen bleiben, ob diese Auffassung der hysterischen Symptom-
bildung nun einen Typus erfaßt oder, wie Alexander meint, durchgängige
Gültigkeit besitzt. Während Freud früher dieselbe Meinung vertrat wie
jetzt Alexander („Dies zum Symptom erlesene Stück erfüllt die Bedingung,
daß es dem Wunschziel der Triebregung ebensosehr Ausdruck gibt wie dem
Abwehr- oder Strafbestreben des Systems Bw“, „Das Unbewußte”, Ges.
Schr., Bd. V, $. 500), forderte er unlängst eine gründliche Nachuntersuchung
dieser Frage („Ob alle primären hysterischen Symptome so gebaut sind, ver-
diente eine sorgfältige Untersuchung“, „Hemmung, Symptom und Angst“,
S. 24). Wenn wir daran denken, daß es verschiedene Symptome gibt, die der
Hysteriker nicht nur nicht leidvoll empfindet, sondern von deren Existenz
er gar nichts weiß, so wird dieser Gedanke gegen die Annahme der absoluten
Unumgänglichkeit der Strafbedeutung hysterischer Symptome mißtrauisch
machen. Aber für viele hysterische Symptome gelten die Alexanderschen
Gedankengänge gewiß.
Mit Recht sagt Alexander vom Gegeneinanderspiel von Es und Über-
Ich: „In ihrer vollen Bedeutung erscheint uns die Kenntnis dieses Zusammen-
hanges erst bei der Anwendung auf die Zwangsneurose. (S$. 9.) Tatsächlich
sind die beiden Kapitel über die Zwangsneurose weitaus die gelungensten
des ganzen Buches. Die beginnende Zwangsneurose ist charakterisiert durch
das Nacheinander der Trieb- und Strafbefriedigung; je älter die Zwangs-
neurose ist, um so stärker ist die Tendenz zu ihrer Verdichtung. Zeremoniells
heben ganz allgemein Gewissensangst auf. Die Frage, warum in Zwangs-
gedanken verpönte Vorstellungen, z. B. Mordimpulse, bewußt werden können,
auf die Freud die Antwort gegeben hat, daß in der Zwangsneurose andere
Abwehrarten neben der Verdrängung (Isolierung von Vorstellungsinhalt und
Affekt und vor allem Regression) in Betracht kommen, wird durch Alexander
von einer anderen Seite her verständlich: Wurde das Über-Ich vorher durch
Symptome mit Strafbedeutung bestochen, so läßt es in seiner Strenge nach
und der anstößige Vorstellungsinhalt kann bewußt werden. Wenn nun gelegent-
lich manche Triebvorstellungen, z. B. Mordimpulse, so bewußt werden, andere,
272 Referate
z. B. Inzestwünsche, nicht, so erklärt das Alexander durch eine „Begrenzt-
heit” der „Bestechlichkeit*: Mit dem Bewußtwerden der einen Hälfte
anstößiger Tendenzen war „die Duldsamkeit des Gewissens erschöpft“ (S. 101).
Diese Fähigkeit, die Über-Ich-Ansprüche durch Strafsymptome oder asketische
Charakterzüge zu besänftigen, macht auch den Differentialmechanismus aus,
der die Zwangsneurose von der Phobie unterscheidet, wie an einem instruk-
tiven Falle gezeigt wird. Die Phobie ist die primitivere Neurose, der gegen
die Gewissensangst noch keine anderen Hilfsmittel zur Verfügung stehen als
die phobischen Vorbauten. Unklar bleiben die Ausführungen Alexanders
darüber, daß das besonders bei den infantilen Phobien durch eine Projektion
der Triebgefahr nach außen geschehe (Ss. 154 ff.). Wir würden eher umge-
kehrt meinen: Gerade bei den infantilen Phobien hat die Projektion noch
weniger Anteil als bei den Erwachsenen, insoferne die in der Neurose ver-
arbeitete Angst hier noch weniger Gewissens- und noch mehr echte äußere
Kastrationsangst ist. — Die Einstellung des zwangsneurotischen Ichs zu seinem
Über-Ich, das die ganze auf die anal-sadistische Stufe regredierte Libido
absorbiert, spiegelt die unbewußte Einstellung zum Vater wieder. Wird sie in
der Übertragung auf den Analytiker rückprojiziert, so kann man die dem
Über-Ich geltenden Neigungen, zu provozieren und zu bespötteln, direkt
beobachten. Erfüllung von Über-Ich-Forderungen gibt nicht nur Straf-
befriedigung, sondern außerdem libidinöse Befriedigung der auf den Vater
gerichteten passiv-femininen Wünsche. Wie das auf den Vater gerichtete Straf-
verlangen, kann auch das dem introjizierten Vater, dem Über-Ich, geltende
Strafbedürfnis feminin erotisiert sein, so daß die Strafsymptome meist einen
doppelten Sinn haben, gleichzeitig das Gewissen beruhigen und einen maso-
chistischen Genuß verschaffen. Deshalb ist es ebenso richtig wie zu sagen,
der Zwangszweifel drücke die Bisexualität des Kranken aus, zu beschreiben,
„der Zweifel dient nur dazu, um jede seelische Äußerung .. . sowohl als esgerecht
wie als über-ich-gerecht“ „auffassen zu können“ (S. 115). Die Strukturanalyse
des Zweifels ergibt einen Antinomiesatz: Psychische und faktische Realität
sind gleichwertig und gleichzeitig nicht gleichwertig. Das erste Urteil steht
im Interesse des Es und soll volle Triebbefriedigung auch bei realer Ver-
sagung ermöglichen. Das zweite Urteil dient dem Ich zur Bekämpfung der
Gewissensangst, indem es diese ad absurdum führt. Deshalb nehmen auch
hypochondrische Zwangsbefürchtungen, die ebenfalls Ausdruck der Gewissens-
angst sind, so oft absurden Charakter an. Das Ich des Hypochonders fürchtet
die Krankheit, d. h. das strenge Über-Ich, aber auch die Gesundheit, da ihm
ja gerade die Krankheit, das Leiden, das Festhalten der verpönten Trieb-
regungen ermöglicht. -
Alexander beschäftigt sich sodann sehr eingehend mit den kultur-
historischen und biologischen Grundlagen der neurotischen Strafmechanismen.
Seine Ausführungen darüber enthalten zahlreiche interessante Gesichtspunkte
und zeigen durch ihre gedankenvolle Art und durch ihre Konsequenz am
schönsten, wie intensiv sein Bestreben ist, bis zum innersten Kern des
Neurosenproblems vorzudringen.
Das Abbüßen von Sünden ist die Grundlage der primitiven Religionen
(Opfer), aber auch der heutigen Strafjustiz und Pädagogik. Sie entsprechen
dem „primitiven Strafgesetzbuch der Urgesellschaft“ (S. 136). Dieses selbst
Referate 273
war aber biologisch bedingt durch die Gesetzmäßigkeit des Nacheinanders
von (Spannung) Unlust und (Befriedigung) Lust, Dazu kam die Erfahrung,
daß jede nicht realitätsangepaßte Triebhandlung wieder Unlust mit sich
brachte. Ursache und Wirkung sind dann vertauscht worden, so daß das
Leiden, das die Bedingung der Lust war, zum Freibrief für sie wurde. Wie
das vor sich ging, wird nicht recht klar. Gesetzmäßiges lustbegleitendes Leiden
ist gegeben in der Reihe der Verluste lustspendender Körperorgane (Mutter
in der Geburt, Mutterbrust, Kotstange, entsprechende Angst beim Penis);
auch bringt jeder Fortschritt von einer Organisationsstufe der Libido auf die
nächsthöhere zunächst eine Versagung mit sich, eine Übersteigerung der
Bedürfnisspannung. Dazu kommen äußere physikalische und pädagogische
(Liebesentzug, Kastrationsdrohung, bes. bei der Reinlichkeitserziehung)
Traumata.
Alle diese Traumata treffen allerdings, wie Alexander weiter ausführt.
den Gesunden ebenfalls, werfen also kein Licht auf die Ätiologie der Neurosen,
Diese bleibt also nur als quantitatives Problem faßbar. Die neurotische Ersatz-
befriedigung, durch Leiden ermöglicht, unterscheidet sich deskriptiv durch die
Beibehaltung der ursprünglichen verpönten Triebregung im Unbewußten von
der Ersatzbefriedigung des Gesunden, der Sublimierung, die den Inhalt der
abgewehrten Bestrebungen ändert. Für die Entstehung der ersteren bleiben
Art und Stärke der Triebeinschränkungen (Disposition, prägenitale Erziehung,
Überwindung des Ödipuskomplexes) die verantwortungsvollsten Momente;
sowohl zu starke als auch zu geringe Versagungen disponieren zur Neurose. —
Das Problem der Gesundheit ist identisch mit dem Problem, unter welchen
Umständen das Über-Ich gegen Abkömmlinge infantiler Triebregungen keinen
Einspruch erhebt. Die nähere Bestimmung dieser Umstände ist sicher von
nichtpsychologischen Momenten abhängig (Gesellschaftsordnung), insbesondere
aber gewährleistet die Erreichung der genitalen Stufe mit der in ihr erlangten
Verbindung mit der Sozietät (genitaler Charakter) die Zustimmung der unbe-
wußten Schichten des Gewissens.
Der dem Umfange nach kleinere „zweite Teil“, in dem Alexander
versucht, eine „Verbindung der Triebtheorie mit der Strukturlehre“ ($. ı83)
zu geben, scheint uns weniger gelungen, das zunächst sehr überraschende
Resultat, die Ansicht, daß „auch bei den seelischen Erkrankungen das Primäre, .
der eigentliche Krankheitsprozeß ... die Zurückwendung des nach außen
gewendeten Todestriebes gegen die eigene Person ist ($. ız2), nicht
erwiesen.
Der Vorsatz, „die verdrängenden und verdrängten Kräfte nach ihrer
Qualität zu untersuchen” ($S. ı85), kann ja bei Anwendung der neuen
Freudschen Trieblehre zu keinem anderen Resultat führen, als daß auf
beiden Seiten gemischte Triebe tätig sind.
Bekanntlich war es früher das Bestreben Freuds, die Trieblehre mit
der Verdrängungslehre in Übereinstimmung zu halten: Das Verdrängte, das
waren die Sexualtriebe, das Verdrängende die Ichtriebe. Aber näherer Forschung
konnte dieses Schema nicht mehr genügen, die Erkenntnisse über den
Narziömus konnten ihm nicht in hinreichender Weise eingefügt werden.
Die Hypothese des Gegensatzes 'Todestrieb — Eros ist von ganz anderen Gedanken-
gängen her aufgestellt worden und kann nicht mehr in so einfacher Weise
| m nn m
" EEE =
274 Referate
A III 2 m m To
die Verdrängung widerspiegeln. Und auch Alexander kommt rasch zu
dem Ergebnis, dal „die verdrängende Kraft selbst ein Mischungsergebnis ist“
(S. 184). Eine außerordentlich instruktive Krankengeschichte, ein Fall von
Transvestitiimus und Masochismus, klärt genetisch die deskriptiv feststellbare
innige Verschränkung von Todestrieb (Strafbedürfnis) und Eros (anal-
masochistische Sexualbefriedigung) auf. Die erotische Komponente schwächt
die Grausamkeit der Selbstbestrafungstendenzen.
Nun meint Alexander: Da bei einer organischen Krankheit Teile des
Organismus zerstört werden, sind bei ihr (auch bei exogenen Prozessen ?)
die Destruktionstriebe im Übermaß nach innen gewendet, die zu ihrer
Neutralisierung nötige Quantität Eros muß sekundär ebenfalls von außen nach
innen gewendet werden (Krankheitsnarzißmus), Insoferne die Verdrängung, also
eine übermäßige Nachgiebigkeit des Ichs gegenüber seinem Über-Ich, jede Neurose
einleitet, „kämen wir zu der Ansicht, daß auch bei den Neurosen die
lärmenden Vorgänge der Symptombildung den sekundären Heilungsvorgang
darstellen und daß der primäre Krankheitsvorgang die Wendung des Todes-
triebes gegen das eigene Selbst in der Form der Überstrenge des Über-Ichs
sei“ (S. 199). Diese Formulierung scheint uns nicht sehr glücklich. Die
Gefahr liegt wirklich nahe, durch eine solche Formel die grundlegende Tat-
sache der psychoanalytischen Neurosenlehre, dal Neurosen pathologische
Sexualerscheinungen, neurotische Symptome pathologische Unterbringungen der
Libido sind, gegen die sich stärkste affektive Widerstände richten, zu
verdunkeln. Welche Tatsachen sollen denn durch die theoretische Formu-
lierung Alexanders erfaßt werden? Wenn wir ihn richtig verstanden haben,
nur diese: Eine übermäßige Triebabwehr ist die notwendige Voraussetzung des
neurotischen Triebdurchbruches. Die „Wiederkehr des Verdrängten aus der
Verdrängung“ ist insoferne sekundär, als ihr primär die Verdrängung selbst
vorausgegangen ist. Der Einspruch, den das Ich gegen einen Triebanspruch
erhebt, leitet die Neurosenbildung ein. Diese Tatsachen sind sicher richtig.
Aber gegen ihre Wiedergabe durch die Alexandersche Formel sind zwei
Bedenken vorzubringen: Erstens, daß zwar die Triebabwehr dem Triebdurch-
bruch vorausgehen muß, daß aber weder Existenz noch Intensität der Trieb-
abwehr allein für die Neurose charakteristisch sind. Nicht die Verdrängung,
sondern erst der zweite Akt, die typische Art ihres Mißglückens, schafft die
Neurose, wie Freud zuletzt in „Über Realitätsverlust bei Neurose und Psychose“
ausgeführt hat. Zweitens, daß Alexander trotz seiner Ansicht, daß die ver-
drängenden Kräfte Triebgemische darstellen, die er auch noch an anderer
Stelle ausdrücklich betont ($S. 22ı), in seiner Formulierung so spricht, als
sei die Triebabwehr oder wenigstens ihre besondere Intensität gleichbedeutend mit
Destruktion, die abgewehrten Triebe aber mit Eros, als ob also Struktur- und
Triebgegensätze sich letzten Endes doch deckten. — Wenn nun 2. B. gefolgert
wird, daß der Todestrieb nicht nur, wie Freud meinte, der Wegweiser
für den Eros bei seiner Wendung nach außen sei, „sondern auch in seiner
Rückwendung gegen das eigene Selbst“ (S. 200), so steht und fällt diese
Ansicht mit der oben zitierten Formulierung. Freilich ist es richtig, daß
beim Untergang des Ödipuskomplexes „die Aggression gegen den Vater“ vor
allem „durch Rückwendung gegen sich selbst zur Selbstzerstörungstendenz
wird“ ($. 201), aber auch diese Selbstzerstörungstendenz steht, wie Rado
Referat 275
En,
seither nachgewiesen hat, im Dienste der Versöhnung des realen Vaters, also
im Dienste des Eros. Wenn der typische Vorgang so beschrieben wird, daß
„die Aggression gegen den Vater durch die Kastrationsdrohung zur Kastrations-
angst, dann zur Gewissensangst führt ... Aus dem Haß gegen den Vater
entsteht so die Selbstzerstörungstendenz ($. 209), so erregt es Befremden,
daß nicht auch darauf Bezug genommen wird, daß nicht nur die destruktive
Aggression gegen den Vater, sondern auch die erotische Annäherung an die
Mutter durch die Kastrationsdrohung verboten wird. — Alexander stellt
sich diese Rückwendung so vor, daß zur Neutralisierung eines primären
Vaterhasses ein Quantum Eros nötig ist, das der Beziehung zur Mutter
entzogen werden muß, wodurch neuer Destruktionstrieb frei wird, der zunächst
den Vaterhaß verstärkt, dann aber eben zur Rückwendung in Form der
Kastrationsangst führt (Ss. 225 ff). — Alexander versucht dann noch einige
Einwände gegen seine Triebtheorie zu entkräften. Daß der Einwand, Neurosen
entstünden nach Liebesenttäuschungen, allein seine Theorie nicht widerlegt,
leuchtet aus seinen Ausführungen ein; man muß ja auch die Möglichkeit
einer besonderen sekundären Triebentmischung (Melancholie) in Betracht
ziehen.
Der Masochismus wäre dadurch charakterisiert, daß der rückgewendete
Destruktionstrieb nicht direkt gegen das Ich wütet, sondern statt dessen eine
vorhandene Objektbeziehung in eine passiv-feminine wandelt. Ob dieses oder
jenes statthat, also ob sich eine Perversion oder eine Neurose entwickelt,
könnte davon abhängen, ob zur Zeit der verhängnisvollen Wendung des
Destruktionstriebes gegen das Ich eine starke Objektbeziehung schon bestanden
hat oder nicht. (Aber besteht in der für die Neurosenentstehung so
wichtigen Zeit des Unterganges des Ödipuskomplexes nicht immer schon
eine starke Objektbeziehung, nämlich die zu dem im ÖOdipuskomplex geliebten
Elternteil?)
Die neurotische Entwicklung könnte dadurch gekennzeichnet sein, daß bei
der Überwindung einer niederen Entwicklungsstufe der Libido durch die
nächsthöhere Todestriebquantitäten nach innen gewendet werden, die die
alte Organisation zu zerstören suchen und gerade durch ihre Unerbittlichkeit
die Gefahr einer späteren Regression ermöglichen (Fixierung); bei der
normalen nichtneurotischen Entwicklung überwiest ein spontanes Heraus-
strömen von Eros, so daß) die alte Organisation nicht en bloc verdrängt wird,
sondern in der späteren aufgeht. Die zur Neurosenbildung disponierende
„Rückwendung des Todestriebes“ („Das negative Entwicklungsprinzip, S. 231)
ist also nichts anderes als die zu unbewußten Fixierungen Anlaß gebende
Verdrängung.
Alexander versucht noch mit Hilfe der Trieblehre die Vorgänge in
der psychoanalytischen Kur näher verständlich zu machen. Die nach innen
gewendeten Aggressionen müssen erst zunächst wieder nach außen gewendet
werden, um dann durch Eros, der dem Narziömus entzogen wird, wieder
neutralisiert zu werden. Erst wenn die Wendung der Destruktion nach außen
gelungen ist, werden bindende erotische Qualitäten frei, die neue Objekt-
beziehungen und Sublimierungen ermöglichen. Das Freiwerden der Libido-
mengen, die vorher im Verdrängungskampf gebunden gewesen waren, scheint
Alexander ebenso wie allen anderen Psychoanalytikern das wesentliche
276 Referate
Moment der analytischen Therapie, — ohne sie, sagt er ausdrücklich, gibt es
keine Heilung — aber er faßt sie als eine Konsequenz einer vorausgegangenen
Arbeit an den Destruktionstrieben auf.
Die referierten Hauptgedankengänge des Buches werden auf verschiedene
Weise reichlich illustriert und durch zahlreiche kleinere anregende Exkurse
ergänzt. Die interessantesten sind die Krankengeschichten, die ein gut durch-
gearbeitetes analytisches Material bringen. Andere Einschaltungen wieder
wären vielleicht besser unterblieben, weil sie manchen Leser, der im
wesentlichen mit dem Gedanken des Buches mitzugehen bereit ist, zum
Widerspruch reizen. So müssen z.B. die Alexanderschen philosophischen
Meinungen, daß die logischen Gesetze einer „Introjektion der empirischen
Naturgesetze” ihre Entstehung verdanken (S. ı36), daß „der Körper ein
Erstarrungsprodukt ehemaliger seelischer Einzelleistungen“ sei ($. 35) lin
irriger Weise meint Alexander sogar, „das Unbewußte ist nach
Freud bereits ein Zwischending zwischen Körper und Psyche“ ($. 34)),
ebensowenig von jedem geteilt werden, der seine Ergänzung der Neurosen-
lehre anzunehmen bereit ist, wie seine politischen Ansichten, die die Evolution
über die Revolution stellen (S. 229). Auch die Überzeugung, „daß die Natur-
zusammenhänge überaus einfach sind“ (S, ı0), dürfte manchen Naturwissen-
schaftler wundern.
Weder diese Bemerkungen noch die im einzelnen vorgebrachten kritischen
Einwände können und sollen etwas an dem Urteil ändern, daß dieses Buch
höchst lesenswert, und daß der Versuch, den Anteil des Über-Ichs resp.
des Strafbedürfnisses an der Neurose allgemein und systematisch zu untersuchen,
eine wertvolle Förderung der psychoanalytischen Neurosenlehre ist.
Daß ein Autor, der etwas Neues darstellt, „einseitig“ ist, d. h. daß er
seinen Gegenstand nach allen Seiten hin untersucht, während er alles schon
bisher Bekannte nur flüchtig behandelt, ist sein gutes Recht. — Der schwer-
wiegende Einwand, Alexander entkräfte durch die Hervorhebung eines
neuen ätiologischen Moments die prinzipielle Bedeutsamkeit der Libido-
stauung, ist ungerechtfertigt und wird durch den Wortlaut zahlreicher
Textstellen widerlegt. („Unsere erste und wohl auch die sicherste Einsicht
ist, dal das neurotische Symptom eine Reaktion des übermäßig eingeschränkten
Trieblebens, also ein Entlastungsversuch ist“ (S. 161). „Die Symptome gewähren
jedoch eine Ersatzbefriedigung“ (S. 133). „Ich fand dieses Moment ... in der
gleichzeitigen Steigerung der expansiven Spannung im Es” ($. ı82), und
endlich: Die Wirkung des Über-Ichs besteht darin, daß es durch die „so
übertriebenen Hemmungen die Spannung im Es so weit steigerte, bis sich
diese ... eine Abfuhr verschaffte“. Es wird nur hinzugefügt: „Neben der
übermäßigen Triebstauung spielt ... das Leiden ... eine ebenso wichtige
Rolle“ (S. 68).
Ob die generelle Notwendigkeit des „Leidens“ für die Neurosenätiologie
sich in ihrem vollen Umfang bewähren wird, werden zukünftige Forschungen
erweisen. Sicherlich bleibt aber Alexanders Buch, insbesondere in den
Kapiteln über die Zwangsneurose, ein wertvoller Beitrag zur Psychoanalyse
der Neurosen.
Fenichel (Berlin)
Referate 277
Rickman, John, M. A. M. D.: Index Psychoanalyticus
1893—1920. (The International Psycho-Analytical Library Nr. 14.)
The Hogarth Press, London, I928, 276 S.
Dieser „Index“ ist die erste erschöpfende und systematische Bibliographie
der gesamten psychoanalytischen Literatur. Er füllt in unserem Wissenschafts-
betrieb eine seit langem schwer empfundene Lücke aus und wird von allen
Interessenten der Psychoanalyse als ein unentbehrliches Hilfs- und Nachschlage-
werk mit freudigeem Dank aufgenommen werden. Dr. Rickman hat seine
ungewöhnlich schwierige Aufgabe, die Beschaffung des räumlich und zeitlich
scheinbar ganz hoffnungslos zerstreuten Materials sowie dessen kritische
Sichtung und übersichtliche Anordnung, in einer geradezu bewunderungs-
würdigen Weise gelöst. Sein Erfolg beruht auf der gründlichen Kenntnis des
Gegenstandes, der peinlichen Exaktheit und Gewissenhaftigkeit der Bearbeitung,
und nicht zuletzt auf der liehevollen Hingabe, mit der er sich diesem so
mühevollen Unternehmen gewidmet hat. Von dem Umfang der hier geleisteten
Arbeit vermittelt die Angabe eine ungefähre Vorstellung, daß das Werk
4739 fortlaufend numerierte bibliographische Daten enthält.
Ein in englischer, deutscher und französischer Sprache abgedrucktes Vor-
wort gibt über die Gesichtspunkte Aufschluß, die bei der Zusammenstellunz
des Index befolgt worden sind. Demnach sind in ihm unter den Namen der
Verfasser verzeichnet:
ı) Die Titel aller Originalbeiträge und Übersetzungen in:
dem Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I—-I (ig10—ıgı2),
dem Jahrbuch für Psychoanalyse, Bd. I—-VI (1909—1g14),
der Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. I—XII (1913— 1926),
Imago, Bd. I—XII (1912 — 1926),
The International Journal of Psycho-Analysis, Vols. I-VII (1920— 1926),
The Psychoanalytic Review, Vol. I-XIUH (1913 — 1926).
2) Titel, Verleger, Ort und Zeit der Erscheinung aller bei den folgenden
erschienenen Bücher:
dem Internationalen Psychoanalytischen Verlag, Wien,
The International Psycho-Analytical Press, (jetzt verschmolzen mit)
The Institute of Psycho-Analysis, London.
3) Titel, Verleger, Ort und Zeit der Erscheinung aller ständig im Inter-
nationalen Psychoanalytischen Verlag vorliegenden Bücher.
4) Titel, Ort und Zeit der Erscheinung aller Originalschriften und Bücher
über die Psychoanalyse, die dem Zusammensteller in Beantwortung seines
Rundschreibens von Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Ver-
einigung zugestellt worden sind.
5) Außerdem ist eine große Anzahl kurzer Mitteilungen einbegriffen
worden, die in den obengenannten sechs Zeitschriften enthalten sind.
6) Dazu sind noch Schriften und Bücher über die Psychoanalyse (oder —
was nicht immer damit zusammenfällt — Schriften und Bücher, die nach
Absicht ihrer Verfasser über die Psychoanalyse handeln) mit aufgenommen
worden, wenn sie in einer der psychoanalytischen Zeitschriften erwähnt
worden sind.
278 Referate
Das Material ist nach Autoren alphabetisch angeordnet. Bei den Arbeiten
des einzelnen Autors hält sich dann die Aufzählung an die Chronologie der
Originalpublikationen, an die sich jeweils die Angaben über die Übersetzungen
in andere Sprachen anschließen.
Es kann sich erst beim Gebrauch des Werkes erweisen, ob und an welchen
Stellen sein Inhalt kleinerer Korrekturen und Ergänzungen bedarf. Es wäre
unbillig, von einer derartigen ersten Zusammenstellung absolute Vollständigkeit
zu erwarten. Wahrscheinlich hat nicht jeder interessierte Autor den Frage-
bogen des Verfassers erhalten und ebensowenig dürften alle Autoren ihre
Antwort mit gleicher Sorgfalt bearbeitet haben. Es wäre dringend zu wünschen,
daß die Benützer des Werkes etwaige Mängel dem Verfasser zur Kenntnis
bringen, damit sie in der zweiten Auflage behoben werden können. Ferner
möchte Referent der Hoffnung Ausdruck geben, daß Dr. Rickman sein
groß angelegtes hibliographisches Werk über das für diesen Band angesetzte
Stichjahr hinaus fortführen werde, Er kann dabei der uneingeschränkten
Anerkennung aller Fachgenossen sicher sein. Radö (Berlin)
Jung, ©. G.: DieBedeutung des Vatersfür dasSchicksal
des Einzelnen. (Zweite, unveränderte, mit einer Vorrede ver-
sehene Auflage.) Leipzig und Wien, Deuticke, 1927.
Jung läßt die bekannte, ıgıı erschienene und noch ganz mit den
Freudschen Lehren übereinstimmende Arbeit unverändert. In einem neuen
Vorwort begründet er dies: „Es steht nichts Unrichtiges darin, bloß zu
Einfaches, zu Naives“ ; denn „ich habe gesehen, daß die Wurzeln von Seele
und Schicksal tiefer reichen als der ‚Familienroman‘, und daß nicht nur die
Kinder, sondern auch die Eltern bloß Zweige eines groljen Baumes sind.“
Fenichel (Berlin)
is ne the psychological impor-
tance 7 Ä i nn
Review, XIV. aa and Taps in early Infancy. PsA.
In Konsequenz seiner letzten Arbeit meint Farrow: Nicht nur Kastrations-
drohungen, auch Schläge und Klapse sollten ihrer psychisch schwer
schädigenden Wirkungen wegen bei kleinen Kindern gänzlich vermieden
werden. Ihre Bedeutung sei bisher von der Psychoanalyse wesentlich unter-
schätzt worden. Der Säugling, der eine Hand ausstreckend, einen Klaps
erhält, verdrängt die Regungen, die ihn zum Ausstrecken bewogen haben, er
streckt die Hand von nun an nicht mehr aus und legt damit einen Teil seiner Ent-
wicklungsmöglichkeiten brach. Farrow hält den erlittenen Schmerz für den
ersten Anlaß zur Errichtung einer intrapsychischen „Zensur“. Pädagogische
Strafen wirken letzten Endes immer als Drohungen physischer Gewalt, mögen
sie von den Erziehern auch anders gemeint sein. — Der Autor erinnerte in
seiner Selbstanalyse, daß er im elften Lebensmonat von einer Frau, nach
deren Brust er gegriffen hatte, geschlagen worden sei; er meint, daß die
dadurch einsetzende Verdrängung bei ihm die Entwicklung des Odipus-
komplexes hintangehalten hätte. In einem späteren Stadium der Selbstanalyse,
die, wie der Autor uns mitteilt, schon über 1000 Stunden dauert und zur
|
Referate 279
Niederschrift von mehr als zweieinhalb Millionen frei assoziierten Worten
geführt hat, erinnerte er, wie er bereits mitgeteilt hat, einen Schlag, den er
im sechsten Lebensmonat erlitten hat (s. diese Zeitschrift, Bd. XII, S. 79).
Durch ihn wurde der kindliche Allmachtsglaube zerstört. — Wie verhält
sich die Annahme so schwerer Wirkungen ' früher Schläge zu den Erkennt-
nissen über den Kastrationskomplex? Farrow meint, die Kinder würden,
an ihre Allmacht glaubend, späteren Kastrationsdrohungen gar keinen Glauben
schenken, hätten sie sich nicht schon früher durch erlittene Schläge von der
verderblichen Kraft der Erwachsenen überzeugt. — Die schweren Folgen
entstehen nicht aus dem Schmerz selbst, sondern aus den seelischen Konflikten,
in die das Kind durch das Schmerzerlebnis gestürzt wird. Die einsetzende
Verdrängung bewirkt, daß diese Folgen nicht durch späteres freundliches
Verhalten wieder gutzumachen sind. Farrow hält Schläge für absolut
vermeidbar und polemisiert gegen die weltfremde Art, mit der übliche nicht-
analytische Wissenschaft an die einschlägigen Probleme heranzugehen pflegt.
Die Meinung, daß die Folgen des erlittenen physischen Schmerzes das ausschlag-
gebende Moment seien, führt Farro w auch zu der Annahme, daß die Wirkung
um so schlimmer sei, je heftiger der Schlag. Obwohl wir sachlich mit Farrow
übereinstimmen und uns über ein so überzeugtes und temperamentvolles Ein-
treten für die aus analytischer Erfahrung gewonnenen Konsequenzen freuen,
muß doch der kritische Gedanke geäußert werden, daß bei den Schlägen
weniger der physische Schmerz als die Veränderung der libidinösen Beziehung
zum Schlagenden wirksam, der erlebte Liebesverlust bedeutungsvoll sei. Wäre
es anders, müßte ein gutmütig verabreichter Schlag schlimmere Verdrängungs-
wirkung haben als ein intensives verbales Schelten. Wir meinen aber, daß
hier das Umgekehrte der Fall ist. Fenichel (Berlin)
Chadwick, Mary: The Psychological Problem of the
Foster Child. Ihe Child, May 1025.
In dieser kurzen Untersuchung über das Pflegekindproblem wird der
Versuch gemacht, vom psychologischen Standpunkt aus zu zeigen, wie der
Mangel an persönlicher Zuneigung und Zärtlichkeit auf Kinder, die außerhalb
des Elternhauses in Anstalten erzogen werden, verschiedene bedenkliche
Wirkungen haben kann. In der Anstalt tritt das persönliche Moment in den
Hintergrund, zunächst wegen der vielen Kinder, die versorgt werden müssen,
und der verhältnismäßig kleinen Gruppe von verantwortlichen Pflegepersonen ;
noch mehr ins Gewicht fallend ist aber der Umstand einer völligen Ver-
ständnislosigkeit für die Notwendigkeit einer herzlichen Sympathie für die
psychische Gesundheit des kleinen Kindes. In den letzten Jahren hat man
sich eingehend mit der Frage der Anstaltskost beschäftigt. Man ist zu der
Erkenntnis gekommen, daß zu große Eintönigkeit in der Kost, auch wenn
sie noch so nahrhaft ist, nicht die gewünschten Resultate erzielen kann. Aber
es ist fraglich, ob jene Leute, denen die Sorge um die Staatsangelegenheiten
oder die Leitung der Wohltätigkeitsinstitutionen obliegt, sich heute schon
vollkommen darüber im klaren sind, daß die Eintönigkeit des Anstaltlebens
ebenso traurige Wirkungen haben kann auf die Zöglinge, die mehrere Jahre
darin ausharren müssen, zu einer Zeit, da das natürliche Bedürfnis der Jugend
2850 Referate
nach Abwechslung und neuen Erlebnissen verlangt. Die geistige Entwicklung
der so aufwachsenden Knaben und Mädchen mul dabei verkümmern und
folgende schädliche Wirkungen werden sich daraus ergeben: Es ist sehr
wahrscheinlich, daß ein langweiliges und eintöniges Leben zu einer
allzu häufigen Zuflucht zur Phantasie führt, damit die Abwechslungen
und Erregungen entstehen, ohne die das Leben unter solchen Bedin-
gungen nicht zu ertragen wäre. Eine andere Möglichkeit wäre, daß das
Kind zum Verbrecher wird, indem es trachtet, von der in seiner Umgebung
herrschenden Trostlosigkeit loszukommen und die Befriedigung seiner Aben-
teurerlust darin sucht, die Ordnung zu verletzen und gegen das freud- und
lieblose Anstaltsleben sich offen aufzulehnen.
Das Kind muß in seinem ungestillten Hunger nach Liebe und Teilnahme
notwendigerweise Ersatzbefriedigungen suchen, wenn diese ihm versagt bleiben;
gleichzeitig wird es einen bewußten oder unbewußten Groll gegen jene Personen
entwickeln, von denen es fühlt, daß sie es der ersehnten Liebe und Tröstung
beraubt haben, einen Groll, der eines Tages Vergeltung suchen wird.
(Autoreferat)
Bryan, Douglas: Scent in a Symptomatic Act. Internat.
Journal of PsA., VIII, 3.
Die Analyse einer reichlich überdeterminierten Fehlhandlung einer Patientin
(Zerbrechen eines Parfumfläschchens) gibt dem Autor Gelegenheit, den Brauch
vieler Frauen zu untersuchen, sich an den Menstruationstagen besonders
intensiv zu parfumieren. Rational soll das Parfum dazu dienen, den Men-
struationsgeruch unbemerkbar zu machen. In der Praxis und wohl auch der
unbewußten Absicht nach dient er dazu, die Männer erst auf die Tatsache
der Menstruation, die sie sonst kaum bemerken würden, aufmerksam zu
machen. Fenichel (Berlin)
Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften
Ill. allgemeiner ärztlicher Kongreß für Psychotherapie in Baden-Baden,
| 20. bis 22. April 1928
Man könnte von einem ärztlichen Kongreß für Psychotherapie zweierlei
erwarten: entweder die Vermittlung elementarer psychotherapeutischer Kennt-
nisse für den praktischen Arzt, die Aufdeckung der neuen Problemlage, die
durch die Erkenntnis des Hineinragens der unbewußten psychischen Vorgänge
auch in das Somatische entstand, oder den Versuch, eine Auseinandersetzung
zwischen den bestehenden Richtungen heutiger Psychotherapie anzubahnen.
' Dieser Kongreß, wie schon die früheren, hatte sich offenbar das letztere zum
Ziel gesetzt. Diesmal stand die Individualpsychologie zur Diskussion. Es ist
bedauerlich, daß die Möglichkeit einer wirklichen Auseinandersetzung dadurch
erschwert wurde, daß die Probleme auf ein Niveau verschoben wurden, wo
sie am wenigsten wirklich angreifbar sind, nämlich ins Weltanschauliche,
Referate 281
ee
Nicht konkrete Fragen der Praxis wurden erörtert, kaum psychologische
Theorien entwickelt, sondern abgeschlossene philosophische Systeme als private
Denkresultate standen einander gegenüber. Zunächst machte sich eine gewisse An-
näherungstendenz zwischen individualpsychologischen und psychoanalytischen
Referenten bemerkbar. Künkel betonte, daß die finale Betrachtungsweise
nicht genügt, um die Probleme der Neurosenätiologie zu erschöpfen, auch
kausale Faktoren müssen berücksichtigt werden, doch strebt er eine Vereinigung
finaler und kausaler Gesichtspunkte in einer dialektischen Methode an.
Schultz-Hencke zeigte, daß sämtliche Thesen der Individualpsychologie
in der Psychoanalyse enthalten sind; sie werden nur aus einem umfassenden
Gebiet einseitig herausgehoben und mit dem Anspruch aufgestellt, die Fülle der
Probleme zu lösen. Eine Aufgabe, die notwendig zum Scheitern verurteilt ist.
Der Scheinfriede, kaum hergestellt, wurde nun vollends zerstört durch
Schilders prinzipielle, sehr treffende Kritik der bekannten Lehre der
Organminderwertigkeit. Nun sprach sich auch von individualpsychologischer
Seite Allers gegen eine Verständigung aus, da man einander so kraß wider-
sprechende Denkweisen wie Psychoanalyse und Individualpsychologie doch
nicht durch Kompromisse überbrücken kann.
Als zweites Hauptthema war das Problem des Charakters vorgesehen.
Hauptreferenten waren Klages und Haeberlin aus Basel. Es ist anerkennens-
wert, daß die Kongreßleitung mit der Einladung zweier Nichtmediziner zeigen
wollte, daß die Psychotherapie sich von der Enge rein ärztlichen Denkens
lossagen muß. Doch die Art, wie die Referenten ihr Thema behandelten,
bleibt für die psychopathologische Problematik ziemlich steril. Über Ent-
wicklung, Aufbau der Charaktere haben wir wenig gehört, anstatt dessen
wurde Metaphysik geboten, noch dazu, von Klages, eine recht zweifelhafte.
Simmel betont in einer Diskussionsbemerkung mit vollem Recht, daß man
erwarten könnte, diese Fragen auf einem ärztlichen Kongreß für Psycho-
therapie aus dem Aspekt einer klinischen Kasuistik dargestellt zu hören, wie
sie sich dem Arzte spontan darbieten.
Aus der Fülle der Vorträge, die teils die Hauptthemen, teils selbständige
Fragen behandelten, seien hier nur zwei hervorgehoben, Groddeck sprach
über seine Erfahrungen aus einer zwanzigjährigen psychotherapeutischen Praxis.
Bei ihm fühlte man, was in den meisten Vorträgen fehlte: lebendige Erfahrung,
sicheres Wissen um die Grundtatsachen der erkrankten Seele und die Kraft
einer großen ärztlichen Persönlichkeit. Kurt Lewin sprach über die
Beziehungen heutiger experimentell-psychologischer Forschung zu den Problemen
der Psychotherapie. Er berichtete über seine Experimente aus dem Gebiet
der Irieb- und Affektpsychologie und zeigte, daß man an diese schwierigen
Fragen der Forschung nicht ohne Aussicht auf Erfolg mit der Forderung der
Exaktheit herantreten muß.
Der Kongreß schloß mit der begrüßenswerten Versicherung der Kongreß-
leitung, bei dem nächsten Zusammentreffen den klinischen Gesichtspunkten
mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Gerö (Wien)
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV /2,
a
KORRESPONDENZBLAIT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Anna Freud, Zentralsekretärin
DT 7
I
Mitteilung der Internationalen
Unterrichtskommission
Unter Leitung Max Eitingons haben Karen Horney, Carl Müller-
Braunschweig und Sändor Radö6 einen ersten Entwurf zu den
„Bestimmungen der IPV über die psychoanalytische Ausbildung“ ausgearbeitet.
Dieser Entwurf wurde zwecks gef. Beratung und Stellungnahme allen Unter-
richtsausschüssen vorgelegt. Die Ausschüsse wurden höfl. gebeten, ihre
kritischen Bemerkungen, ihre etwaigen Abänderungs- oder Ergänzungsvor-
schläge, bzw. Vorschläge zur Einschaltung örtlicher Sonderbestimmungen
spätestens bis zum ı. Juli d. J. an den Vorsitzenden der IUK
Dr. Max Eitingon, Berlin W. ı0, Rauchstraße 4,
gelangen zu lassen.
Auf Grund des eingehenden Materials werden die Obgenannten einen
zweiten Entwurf verfassen und zur neuerlichen Beratung den Ausschüssen
unterbreiten.
In der Zwischenzeit hoffen die Obgenannten auch die Bearbeitung der
speziellen Fragen der Kinderanalyse in Angriff nehmen zu können. Vorschläge
zur Regelung der psa. Ausbildung der Pädagogen auszuarbeiten, haben Anna
Freud und August Aichhorn übernommen.
| . gr j 8.
Berlin, Anfang Mai ı92 Dr. Sändor Rad6
Sekretär der IUK
Korrespondenzblatt | 283
Il
Berichte der Zweigvereinigungen
American Psychoanalytical Association
IV. Quartal 1927
Die vierte winterliche Jahresversammlung fand in New York am 27. Dezember
unter dem Vorsitz Dr. William A. Withes statt.
In seiner Eröffnungsansprache erklärte sich Dr. White mit der Stellung-
nahme der New Yorker psychoanalytischen Gesellschaft gegenüber der Laien-
analyse einverstanden, sprach aber gleichzeitig die Hoffnung aus, daß in der
Zukunft eine Methode gefunden werden möge, welche die unschätzbaren
Entdeckungen der Psychoanalyse auch dem großen Publikum zugänglich machen
könnte.
Dr. Ernst Hadley, D. C., aus Washington sprach über „Infantile Sexual-
veranlagung bei Heufieber“, wobei er den Ursprung des Symptoms auf die
mit dem Schnüffeln zusammenhängenden erogenen Lustgefühle zurückführte.
Dr. J. H. Cassity aus Washington sprach über „Instinkt versus Kultur
in der Psychoanalyse“.
Dr. H. S. Sullivan aus Towson, Maryland, sprach über „Psychoana-
lytische Anstaltsbehandlung“. Er skizzierte die Schwierigkeiten, die sich bei
der psychoanalytischen Behandlung in geschlossenen Anstalten herausgestellt
haben, besonders in Bezug auf das Personal, meint aber, daß eine Übertragung
auch in der Anstalt erfolgen und entsprechend verwertet werden könnte,
wenn auch nicht ganz so erfolgreich wie außerhalb der Anstalt.
Eine Geschäftssitzung fand nicht statt. Besucht wurde die Tagung nicht
bloß von einer ungewöhnlich großen Anzahl der aktiven Mitglieder, sondern
noch von nahezu hundert Ärzten, die als Gäste gekommen waren.
Dr. C. P. Oberndorf
Schriftführer
British Psycho-Analytical Society
IV. Quartal 1927
5. Oktober 1927. Generalversammlung. Der Vorstand für das folgende Jahr
wurde folgendermaßen gewählt: Präsident Dr. Ernest Jones, Schatzmeister
Dr. W. H. B. Stoddart, Schriftführer Dr. Douglas Bryan, Bibliothekar
Miß Barbara Low, Vorstandsmitglieder Dr. M. D. Eder, Dr. Edward
Glover, Dr. John Rickman und Mrs. Riviere. — Die Vereinigung
besteht derzeit aus 27 Mitgliedern, 29 außerordentlichen Mitgliedern und
2 Ehrenmitgliedern. — In den Unterrichtsausschuß wurden gewählt: Doktor
Bryan, Mr. Flügel, Dr. Jones, Dr. Payne und Dr. Rickman. — Es
wurde die Errichtung eines „James-Glover-Gedächtnisfonds“ beschlossen, der
zum Ankauf einer Spezialbibliothek dienen soll. Mit der Anschaffung und
=
19
284 | Korrespondenzblatt
Verwaltung dieses Fonds wurde ein Komitee betraut, bestehend aus Miß
Barbara Low, Dr. Stoddart und Mr. James Strachey.
ı9. Oktober ı927. Dr. Ernest Jones: Die erste Entwicklung der weib-
lichen Sexualität. (Erschienen in dieser Zeitschrift, Bd. XIV, Heft 1.)
2. November 1927. Dr. Kapp: Exognosis. — Direkte Kenntnis gibt es
nur von Erlebnissen am eigenen Körper. Der Schluß, daß manche gegebenen
Empfindungsdaten äußeren Objekten entsprechen, stellt einen eigenen psycho-
logischen Akt dar, den der Autor „Exognosis nennt. Reflexreaktionen gehen
ohne solchen Akt vor sich, so daß man die Reflexe von den exognostischen
Akten unterscheiden muß. Die aktive Natur der Exognosis zeigt sich in der
Bildung der Konzeption von „Dingen“ mit bestimmten Grenzen und bestimmten
Eigenschaften. Diese „Dinge“ sind willkürliche und subjektive Schöpfungen,
die in eine an sich chaotische Welt projiziert werden. Die erste Erfahrung,
aus der diese Projektion entsteht, ist die infantile Erfahrung differenzierter
Organlust. Die Differenzierung führt zur Konzeption der Begrenztheit der
Gegenstände. Die Projektion stellt eine Kompensation für einen früheren
Verlust dar und ist deshalb mit der Kastrationsangst so nahe verbunden, Ist
die Exognosis besonders besetzt, so wird Libido von der Örgansensation
abgezogen, und umgekehrt. Charakterverschiedenheiten entsprechen Differenzen
der erogenen Organsensationen, an denen besondere infantile Verlust- (Kastrations-)
Erfahrungen gemacht worden sind. Die Isolierung von Vorstellungen und
zugehörigen Affektanteilen bei Zwangsneurosen ist zurückzuführen auf eine
besondere exognostische Besetzung prägenitaler Stufen.
16. November ı927. Mr. E. Pickworth-Farrow: Die üblichen
Methoden wissenschaftlicher Forschung und die Psychoanalyse. — Alle richtige
naturwissenschaftliche Arbeit beruht auf Beobachtung. Der gewissenhafte
Psychoanalytiker mul daher alle Daten der Beobachtung am Patienten streng
unterscheiden von allen Betrachtungsweisen und Theorien, die er als Voraus-
setzungen in sich selbst zur Arbeit mitbringt. In allen Publikationen sollten
diese beiden Dinge sauber auseinandergehalten werden. Vom wissenschaftlichen
Standpunkt aus ist die einfache Analysenmethode die wünschenswerteste, die
sich darauf beschränkt, bei Stockungen in der freien Assoziation den Patienten
zu fragen: Woran denken Sie jetzt?
7. Dezember ı927. Dr. Douglas Bryan: Ein forensisch interessanter
Traum.
Adressenänderungen:
Mil3 Cecil M. Baines, St. Margaret’s House, Old Ford Road, E. 2.
Mrs. Melanie Klein, 93 c, Linden Gardens, London, W. 2.
Dr. G. W. Pailthorpe, 22, Park Crescent, London, W. ı.
Mr. L. $S. Penrose, 50, Gordon Square, W.C. ı.
Dr. John Rickman, 37, Devonshire Place, London, W. ı.
Dr. F. R. Winton, Dept. of Physiology, University College, Gower Street,
London, W. C. ı.
Ausgetreten:
Dr. Estelle Maude Cole.
Dr. Douglas Bryan
_ Schriftführer
EEE
Korrespondenzblatt 285
Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft
Il. und IV. Quartal 1927
27. September ı927. Kleine Mitteilungen. Dr. Boehm: Ein psycho-
therapeutischer Erfolg mit ungünstigem Ausgang. — Dr. Rado: a) Ein
Gedicht von Mombert, b) Aus den neuen Ausgrabungen in Pompei. —
Dr. Fenichel: Referat über Hattingbergs Darstellung der PsA. in
Birnbaums Handbuch der Psychotherapie. — Dr. Simmel: Über den
Wadenkrampf.
4. Oktober ı927. Vortrag Dr. Bernfeld: Faszination und Identifikation.
Dr, Wulff (a. G.): Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer psychia-
trisch-neurologischen Untersuchung von Chauffeuren.
ı1. Oktober ı927. Kleine Mitteilungen. Dr. Härnik: Vom Widerstand
gegen die Traumdeutung in der Analyse. — Dr. Sachs: Die Geheimhaltung
der Phantasien als Motiv der Produktionshemmung. — Dr. Fenichel:
Ein verdichteter Traum. — Frl. Dr. Kirschner: Entwicklung einer
Schizophrenie.
29. Oktober 1927. Diskussion über das Thema: „Onanieentwöhnung und
Zwangssymptom. Einleitendes Referat: Dr. Simmel. Diskussion : Drs. Fenichel,
Härnik, Frau Benedek, Erwin Kohn, C. Müller-Braunschweig.
8. November ı927. Vortrag Dr. Bally: Zur prägenitalen Ichentwicklung.
Dr. Alexander: Drei kleine Beobachtungen an Kindern, eine von thera-
peutischer Bedeutung.
ı5. November ı927. Vortrag Dr. Härnik: Der Zopfabschneider. —
Dr. Radö6: Aus der Analyse eines Fetischisten.
26. November ı927. Diskussion über das Thema: „Rezidive nach scheinbar
vollendeter Behandlung.“ Einleitendes Referat: Dr. Boehm. Diskussion :
Drs. Alexander, Benedek, Härnik, Sachs, Winogradow (Kiew, a. G.), Rad6,
Simmel, C. Müller-Braunsch weig.
6. Dezember ı927. Vortrag Dr. Franz Cohn (a. G.: Ein Fall von
Straßenangst.
17. Dezember ı927. Diskussion über Freuds „Zukunft einer Illusion“.
Einleitendes Referat: C. Müller-Braunschweig. Diskussion: Drs. Sachs, Bern-
feld, Frau Lowtzky, Radd, Erwin Kohn, Pfarrer Link (a. G.).
In der Geschäftssitzung wird Dr. Franz Cohn (Berlin-Wilmersdorf,
Helmstädterstraße 22) zum außerordentlichen Mitglied gewählt.
k
Die Gesellschaft veranstaltete in ihrem Institut (Berlin W. 33, Potsdamer-
straße 29) im Herbstquartal (Oktober—Dezember) ı927 folgende Kurse:
a) Obligatorische Kurse
ı) Sändor Rado: Einführung in die Psychoanalyse. I. Teil. 7 Stunden.
(Hörerzahl: 53.)
2) Franz Alexander: Elemente der Traumdeutung. 7 Stunden. (Hörer-
zahl: 24.)
3) Ernst Simmel: Spezielle Neurosenlehre. II. Teil. 7 Stunden. (Hörer-
zahl: 30.)
286 Korrespondenzblatt
ee I EEE Fa BEE EEE TE EL FE
4) Hanns Sachs: Die psychoanalytische Technik. I. Teil. 7 Stunden.
(Hörerzahl: 43.)
5) Otto Fenichel: Seminar über Freuds metapsychologische Schriften.
7 Doppelstunden. (19 Teilnehmer.)
6) Sändor Rado: Technisches Kolloquium. 7 Doppelstunden. (13 Teilnehmer.)
7) Max Eitingon u.a.: Praktisch-therapeutische Übungen, (Kontrollanalyse.)
b) Fakultative Kurse
ı) Kritik der nicht analytischen therapeutischen Richtungen: a) Rado:
Hypnose und Suggestion, 2 Stunden; b) Simmel: Katharsis, ı Stunde;
c) Schultz-Hencke: Individualpsychologie, 2 Stunden; d) Fenichel:
Psychagogik, ı Stunde. (Hörerzahl etwa 50.)
2) Hanns Sachs: Psychoanalyse des Witzes. 7 Stunden. (Hörerzahl 14.)
z3) Carl Müller-Braunschweig: Verhältnis der Psychoanalyse zur
Ethik und Religion. 7 Stunden. (Hörerzahl: 14.)
4) Siegfried Bernfeld: Psychoanalytische Besprechung praktisch-päd-
agogischer Fragen. (43 Teilnehmer.)
5) Jenö Härnik: Seminar über die Literatur der Zwangsneurose. 7 Doppel-
stunden. (13 Teilnehmer.)
Dr. Sandor Radö
Schriftführer
Indian Psychoanalytical Society
I. bis IV. Quartal 1927
29. Januer ı927. Jahresversammlung. Der Jahresbericht für ı926 wird
angenommen und der Vorstand wie folgt gewählt: Dr. G. Bose (Präsident),
Dr. M. N. Sen Gupta, Mr. G. Bora, Mr. M. N. Banerjee (Sekretär).
— Der Präsident hält einen Vortrag über „Lust im Wunsch“. Er entwickelt
in Fortsetzung seiner früheren Vorträge das Thema „Kreislauf des Wunsches“.
Die Mechanismen werden aufgezeigt, auf Grund welcher die aus der Wunsch-
erfüllung resultierende Lust dem einen oder anderen Punkt der subjektiven
oder objektiven Hälfte des Kreislaufs zukommt. Er berührt auch die Beziehung
dieser Zusammenhänge zur Verdrängung.
20. März 1927. Dr. G. Bose: Bericht über die Analyse einer älteren
weiblichen Patientin mit grob-sexueller Übertragung. Entstehung, Wachstum,
Lösung dieser Übertragung, die von lebhafter Eifersucht auf eine Nachbar-
patientin begleitet war. — Die Frage, ob Nichtärzte die Psychoanalyse aus-
üben sollen, wird in der Sitzung aufgerollt und ein Subkomitee bestehend
aus Dr. G. Bose (Präsident), Drs. N. N. Sen Gupta, N. C. Mitra und
S. C. Mitra (Sekretär) gewählt, das mit der Aufgabe der Formulierung eines
Fragebogen betraut wird, um die Ansicht der Mitglieder in dieser Frage einzuholen,
24. April 1927. Lt. Col. Owen Berkeley-Hill: „Bemerkenswertes
Beispiel einer symbolischen Kastration “ Bericht eines Falles, in dem die
betreffende Person absichtlich die linke Hand auf die Schienen legte und sie
sich von einem fahrenden Zug abschneiden ließ. Erklärung der Mechanismen
dieser symbolischen Kastration aus dem analytischen Material des Falles. —
Es erfolgt dann der Bericht des Subkomitees über die Frage der Laienanalyse
(Fragebogen und Bericht des Subkomitees am Ende dieses Berichtes). Es wird
——e
= — pm —
Korrespondenzblatt 987
beschlossen, der Zentralexekutive mitzuteilen, daß die Indian Psychoana-
lytical Society der Ansicht ist, dal3 Nichtärzten die Ausübung der Psychoanalyse
sowohl zu wissenschaftlichen als auch zu therapeutischen Zwecken gestattet
sein soll, vorausgesetzt, daß sie den folgenden Bedingungen entsprechen:
ı) die betreffende Person muß eine gute Allgemein- und Charakterbildung
besitzen. 2) Sie muß eine spezielle Ausbildung bei einem anerkannten Institut
oder bei einem Fachmann genossen haben. 3) Sie muß von einem Fachmann
analysiert worden sein. 4) Sie muß Mitglied der Indian Psychoanalytical
Society oder einer anderen Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung sein.
27. November ı927. Dr. G. Bose: „Ein Fall von psychosexueller
Impotenz“. Der Erfolg der Behandlung stellte sich erst ein, nachdem die
unbewußte feminine Einstellung zum Vater aufgedeckt und gelöst worden
war. Der Fall bestätigt die Annahmen des Vortragenden über die Genese
der Homosexualität, die er in einem früheren Vortrag entwickelt hatte. Die
primäre Phase der Homosexualität beim Mann ist von passivem T'ypus, eine
Wendung zum Vater auf Grund einer Identifizierung mit der Mutter.
4. Dezember ı927. Dr. N.N,Sen Gupta: „Über das Selbst“. Historischer
und kritischer Überblick über das Selbst als psychologische Einheit. Die
Unzulänglichkeit einiger Annahmen wird aufgezeigt und der Vorschlag gemacht,
Material für die Lösung dieser Probleme aus den Analysen heranzuziehen.
Außer den offiziellen Zusammenkünften wurden die üblichen wöchentlichen
Diskussionen über psychoanalytiche Themen im Hause des Präsidenten
abgehalten. Die Psychoanalyse verbreitet sich ständig weiter; eines unserer
Mitglieder, Lt. Col. Owen Berkeley Hill, wurde zum Präsidenten der Psycho-
logischen Sektion des Science Congress gewählt, der in Lahore im Januar
1927 tagte, Psychoanalytische Vorträge mit Diskussionen wurden gehalten.
Bericht über die Diskussion der Laienanalyse
Das aus den Drs. G. Bose, N. Sen Gupta, N. C. Mitra und $. C. Mitra
bestehende Subkomitee sandte den im folgenden angeführten Fragebogen an
die Mitglieder. ı6 Fragebogen wurden ausgeschickt, ı2 wurden beantwortet.
Es ist eine entschiedene Majorität zugunsten der Ansicht vorhanden, daß
Nichtärzten die Ausübung der Analyse gestattet sein soll, wenn sie gewissen
Bedingungen entsprechen. Die Anzahl der dagegen Stimmenden betrug nur
vier. Ein Mitglied bezweifelt, ob der Vereinigung das Recht zusteht, solche
Fragen aufzuwerfen, und ein anderes Mitglied will Nichtärzten die Ausübung
der Analyse auch zu wissenschaftlichen Zwecken verboten wissen.
Auszug aus dem den Mitgliedern zugesandten Fragebogen:
„... Gewisse nicht dazu autorisierte Personen haben die Analyse in Miß-
kredit gebracht, indem sie sich als ihre Vertreter ausgaben und sie auch zu
therapeutischen Zwecken ausübten. Gegenwärtig gibt es für die Patienten
keine Möglichkeit, um die bona fides solcher sich als Psychoanalytiker aus-
gebender Personen zu ermitteln. Eine gewisse Sicherheit für das große
Publikum scheint nötig zu sein, und es ist wünschenswert, daß eine Körper-
schaft wie die Indian Psychoanalytical Society in dieser Frage eine bestimmte
288 Korrespondenzblatt
Stellung einnimmt. Psychoanalyse ist keine T'herapie, die von jedermann und
von jedem Arzt ausgeübt werden kann. Sie hat eine besondere Technik und
erfordert sowohl eine durchaus praktische Schulung in ihren Grundlagen als
auch ein Analysiertwerden des Behandelnden selbst. Sie bringt dieselben
Gefahren mit sich, wenn sie von ungeschulten Händen angewendet wird, wie
jede andere Therapie. Deshalb ist es notwendig, daß ein gewisses Minimum
an Bedingungen erfüllt wird, bevor einer Person erlaubt wird, Psychoanalyse
zu betreiben.
Da die Psychoanalyse viele Gebiete für ihre Betätigung hat, so erscheint
es nicht berechtigt, sie allein den Ärzten zu reservieren, weil dadurch die
wissenschaftlichen Fortschritte auf anderen Gebieten des menschlichen Inter-
esses ungebührlich eingeschränkt würden. Andererseits müssen auch die
Gefahren, die die Ausübung der Psychoanalyse durch unqualifizierte Kräfte
mit sich bringt, nicht vergessen werden.
Fragen: ı) Welche sollen Ihrer Meinung nach die Bedingungen sein,
die ein graduierter Arzt erfüllen muß, bevor er Analyse zu therapeutischen
Zwecken ausüben darf? — 2) Sind Sie einverstanden, daß ein Nichtarzt die
Psychoanalyse a) zu therapeutischen, b) zu anderen wissenschaftlichen Zwecken
ausüben darf? Wenn ja, sind Sie a) für irgendwelche Einschränkungen, die
Qualifikation dieser Person betreffend, b) für irgendwelche andere Bedingungen ?
c) Welche Vorschläge würden Sie machen, um diese Bedingungen durch-
zusetzen? — Wenn Sie mit der Ausübung der Psychoanalyse durch Nichtärzte
nicht einverstanden sind, so erbitten wir die Angabe Ihrer Gründe. — 3) Sind
Sie dafür, daß eine Person, die nicht Mitglied dieser Vereinigung oder einer
anderen Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ist, die
Analyse zu therapeutischen Zwecken ausüben soll? — 4) Welche Maßnahmen
schlagen Sie vor, um unerwünschte Personen von der Ausübung der Psycho-
analyse zu therapeutischen Zwecken fernzuhalten ?“
Beantwortung der Fragen.
Frage ı) Zehn waren für eine Spezialausbildung für eine gewisse Zeit,
entweder in einem anerkannten Institut oder unter Anleitung eines Fachmanns.
Man war dagegen, medizinisch Graduierten irgendwelche Bedingungen auf-
zuerlegen. Man war nicht für eine Spezialausbildung, aber für eine Aus-
bildung wie bei jeder anderen Wissenschaft. Sieben waren für Analyse der
Arzte vor Beginn ihrer eigenen analytischen Tätigkeit. |
Frage 2) a) Acht dafür, vier dagegen, b) elf dafür, einer dagegen. Alle waren
dafür, daß die in Betracht kommenden Personen gute Allgemein- und
Charakterbildung haben sollten, Mitglied einer internationalen Körperschaft
sein oder Zeugnisse von autorisierten Instituten haben sollten. Fünf bestehen
auf der eigenen Analyse vor Beginn der Praxis. c) Alle sind für die Auf-
klärung des Publikums. Einige dringen darauf, daß die Vereinigung entweder
Bewilligungen ausgeben sollte oder von Zeit zu Zeit die Namen derjenigen
publizieren, die nach ihrer Meinung zu Ausübung der Analyse befähigt sind.
Frage 3) Der allgemeine Gesichtspunkt ist der, daß die Vereinigung zwar
andere nicht an der Ausübung der Praxis hindern kann, eine solche Ausübung
aber auch nicht gefördert werden soll. |
Dr. M. N. Banerjee
Sekretär
Korrespondenzblatt 289
Magyarorszägi Pszichoanalitikai Fgyesület
IV. Quartal 1927
15. Oktober 1927. Dr. S. Ferenczi: Bericht über seine Lehrtätigkeit
im Auslande. (Vgl. diese Ztschr. Bd. XIII, S. 35.) Außer der Beschreibung
der eigenen Lehrtätigkeit gab Ferenczi eine anschauliche Charakteristik
der amerikanischen wissenschaftlichen Bewegungen und Persönlichkeiten.
29. Oktober 1927. Dr. I. Hermann: Beobachtungen über die Bildung
des Über-Ichs. Bei mehreren Zwangsneurotikern war das Über-Ich in seiner
Entwicklung durch ein besonderes historisches Moment, nämlich durch ein-
zelne inkorrekte oder immoralische Handlungen sonst moralischer Väter bestimmt.
In zwei Fällen kamen in der weiteren Umgebung Immoralitäten vor. Beide Vor-
kommnisse lassen eine einheitliche Auffassung zu, wenn man in der Entwicklung
des Über-Ichs auch einem „Gruppen-Schema Forderungen der Fremden, der
Umgebung enthaltend, Raum läßt. Rolle der Nähe und Ferne in der Idealisierung.
ı1. November 1927. Dr. $. Ferenczi: Gulliver-Phantasien. (S$. diese
Ztschr., Bd. XII, S. 379 u. ff.)
19. November ı927. Dr. M. Bälint: Über die Todesangst (ein kasuistischer
Beitrag). Das Herannahen des Todes wird in verschiedenen Krankheiten
gespürt. Unter den akut verlaufenden (Epilepsie, Erstickungsanfälle, Apoplexie usw.)
zeichnet sich die Angina pectoris dadurch aus, daß der Kranke dies schreck-
liche Erlebnis bei vollkommen ungetrübtem Bewußtsein durchmacht. Es ist
also wahrscheinlich, daß diese Krankheit das am wenigsten verstellte Bild der
Todesangst ergeben wird. Die Analyse der Todesphantasien eines Patienten,
der eben an Angina pectoris leidet, haben die psa. Annahme vollständig
bestätigt, daß die Todesangst eine Verarbeitung der Kastrationsangst ist.
25. November 1927. Referat über Fr. Alexanders Buch: Die Psycho-
analyse der Gesamtpersönlichkeit. Referenten: Dr. I. Hermann (klinisch)
und Dr. G. Dukes (kriminologisch).
9. Dezember 1927. Dr. G.Röheim: Völkerpsychologie und Evolution. Gegen-
satz von oralen Völkertypen (Primitive) und analen Völkertypen (Kulturvölker).
Die Ansätze einer Kultur auf analer Grundlage unter den Primitiven (Zaubersymbole
der Südaustralier, Kapitalismus der Melanesier) sind nicht als Fortschritte der oralen
Stufe, sondern als Regressionserscheinungen einer genitalen (phallischen) Symbolik
aufzufassen. Es wird Idee einer zyklischen Entwicklung der Kultur von der oralen
zur analen und genitalen Stufe aufgeworfen, die eigentliche Kulturbildung soll
infolge Kastrationsangst als Flucht vor der Genitalität einsetzen. Unter den
regressiven kulturbildenden Mechanismen wird ein hysterisch-phobischer und
ein zwangsneurotischer Mechanismus nachgewiesen. Auch der Ichmechanismus
der Introjektion sowie die Reihenbildung im Über-Ich spielen eine Rolle.
16. Dezember 1927. Referat über W. Reichs Buch: Die Funktion des
Orgasmus. Referenten: Dr. S. Pfeifer und Dr. L. Reve&sz.
Geschäftliches. Dr. B.v. Felszeghy ist aus der Vereinigung ausgetreten.
*
Dr. M. Bälint hielt in Kecskemet auf Einladung der dortigen Orts-
gruppe des Landes-Ärzteverbandes einen Vortrag über das Verhältnis der
Psychoanalyse zur praktischen Medizin. Dr. Imre Hermann
Sekretär
200 Korrespondenzblatt
Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse
I. bis IV. Quartal 1927
29. Januar ı927. Sitzung in Leiden (Generalversammlung). Das Protokoll
der vorherigen Versammlung, die Jahresberichte des Schriftführers, des Kassen-
wartes und des Bibliothekars werden genehmigt. In den Vorstand werden
gewählt: Dr. J. E. G. van Emden als Vorsitzender, J. H. W. van
Ophuijsen als Kassier, A. Endtz als Sekretär und. Prof. Dr. K..H:
Bouman als Bibliothekar.
Frau Dr. A. Lampl de Groot trat in die Berliner Gruppe über. Dr.
J. Knappert ist aus der Vereinigung ausgetreten. Neu aufgenommen wurde
Dr. M. Flohil. |
Zum wissenschaftlichen Teil der Sitzung waren die Mitglieder der „Leidsche
Vereeniging voor Psychoanalyse en Psychopathologie” eingeladen.
Dr. J. H. van der Hoop. Ein Fall von Hebephrenie. — Der Vortragende
berichtet über die Analyse eines jugendlichen Hebephrenen, die sehr gute
Resultate ergab, aber wegen äußerer Umstände vorzeitig abgebrochen werden
mußte. Er vertritt die Ansicht, daß auch weiter fortgeschrittene Fälle von
Schizophrenie therapeutisch nicht so hoffnungslos sind, wie man bisher
meinte.
Dr. J. H. W. van Ophuijsen. ı) Ein Fall von „Wiederholen und
Erinnern“ während einer atypischen Analyse. — 2) Zur Rolle des analen
Komplexes im Verfolgungswahn. — Der Vortragende bestreitet die von
Jelgersma jr. in seiner Dissertation geäußerte Meinung, daß es eine
Kastrationsverfolgung gibt, an deren Aufbau der anale Komplex keinen Anteil
hat. Er hat in der Neurose den analen Komplex beim Verfolgungswahn
immer gefunden, fragt nach den Erfahrungen der Psychiatrie.
2. April 1927. Sitzung in Leiden. Dr. J. H. W. van Ophuijsen. Die
Frage der Laienanalyse. (Siehe diese Zeitschrift, Bd. XIII, S. zı2, 1927.) —
Dr. S. Weyl: Referat über das Buch von Th. Reik „Der eigene "und der
fremde Gott.
2; Juli 1927. Sitzung in Leiden in Gemeinschaft mit der „Leidsche
Vereeniging voor Psychoanalyse en Psychopathologie“. Vortrag Dr. J. H. W.
van Ophuijsen über die Frage der Übertragung. Er gibt eine Beschreibung
der positiven und negativen Äußerungen der Übertragung und der technischen
Schwierigkeiten, welche sie der Analyse bereiten kann. Er verweist auf den
Unterschied ihrer Außerungen nach Sexualziel und Sexualobjekt. Er hält die
Übertragung für das beste Mitte, um den Patienten von der Wirksamkeit
des Unbewußten zu überzeugen.
19. November 1927. Sitzung in Amsterdam. Dr. J. H. W. van Ophuijsen.
Bericht über den X. Int. Kongreß in Innsbruck. — Dr. J. M. Rombouts.
Über die Neurosen bei Höherbegabten. Er stellt die Frage, ob eine geistige
Begabtheit in der Jugend an sich Ursache einer späteren Inferiorität werden
kann. Er glaubt, daß leicht eroberte Objekte weniger Befriedigung schenken
und daß das Interesse der Höherbegabten dadurch abnimmt. Er bespricht die
Färbung des neurotischen Bildes durch die Überbegabtheit.
A. Endtz
Schriftführer
Korrespondenzblatt 291
New York Psycho-Analytical Society
IV. Quartal 1927
25. Oktober 1927. Dr. D. M. Levy (a. G.). Fingerludeln und damit ver-
bundene Bewegungen. — Eine statistische Untersuchung, die ergab, daß Unzu-
länglichkeit der Stillperiode zum Ludeln treibt.
Dr. C. P. Oberndorf. Bericht über den X. Internationalen Kongreß in
Innsbruck. — Der Bericht wurde durch Bemerkungen von Dr. S. E. Jelliffe
und A. Kardiner ergänzt.
20. November 1927. Dr. A. Stern: Klinische Mitteilung. — Es handelt
sich um eine Übertragungsreaktion, die zeigte, daß eine vorher gegebene klare
Deutung über Eifersucht auf die Schwester eine Regung von genau entgegen-
gesetzter Tendenz deckte. Untersuchungen über die relative Bedeutung beider
Deutungen.
Dr. P. R. Lehrman: Analyse einer Frau mit einer Mischneurose, —
Nach einer Analyse von zwanzig Monaten waren die Zwangssymptome dieses
komplizierten Falles teilweise geschwunden und die Patientin in den Stand
gesetzt, ihre häuslichen Angelegenheiten wieder zu regeln; nach einigen Jahren
erschien sie wieder, weil gewisse UÜbertragungsphänomene eine zweite kurze
Analyse nötig machten. Diese erst ermöglichte es der Patientin, sich mit
ihrem Weibsein abzufinden und dadurch geheilt zu werden.
Dr. Philipp R. Lehrman
Sekretär
Societe Psychanalytique de Paris
1925 bis 1927
Seit einigen Jahren schon gab es in Paris eine Art Zentrum der PsA., die
Gruppe der „Evolution Psychiatrique“, in der sich jüngere, an der PsA.
interessierte Psychiater zusammenfanden. Ursprünglich hatte in dieser Gruppe
die PsA, Laforgue allein vertreten, der aber mit der Zeit einige weitere
Teilnehmer, wie Borel, Codet und Pichon, für die Analyse gewinnen
konnte. Dieser kleine Kreis, dem sich seit Ende 1925 noch Parcheminey
und Loewenstein und seit 1926 Marie Bonaparte angeschlossen haben,
stand in ständigem engen Kontakt mit auswärtigen Analytikern: mitHesnard
in Toulon, mit Odier und de Saussure in Genf.
Im Frühjahr 1925 wurde beschlossen, eine Zusammenkunft der französisch-
sprachigen Analytiker abzuhalten. Diese Zusammenkunft fand am ı. August
ı926 in Genf, am Vortage des alljährlich stattfindenden „Congr&s des Alienistes
et Neurologistes de Langue Frangaise“, statt, und es wurde beschlossen, eine
solche Zusammenkunft jedes Jahr zu veranstalten. An dieser Zusammenkunft
sprachen Laforgue über die „Schizonoia® und Odier über „Contribution
a Petude du surmoi et du phenomene moral“. An diese Vorträge schloß
sich eine lebhafte Diskussion an. Die zweite Zusammenkunft fand am
24. Juli 1927 in Blois statt. Odier hielt einen Vortrag über die Psycho-
analyse der Zwangsneurose. Eine dritte Zusammenkunft soll im Juli 1928 in
Paris stattfinden. Laforgue und Loewenstein sind beauftragt worden,
über die analytische Technik zu berichten.
292 Korrespondenzblatt
Der Energie Laforgues ist es zu verdanken, daß neben der Gruppe der
„Evolution Psychiatrique“ sich der engere analytische Kreis zu einer psycho-
analytischen Vereinigung organisierte. Die Gründung fand am 4. November
1926 statt. Die Vereinigung beschloß, sich der Internationalen PsA. Vereinigung
als Pariser Ortsgruppe anzuschließen. Ihre Aufnahme in die I. P. V. wurde
interimistiich vom Zentralvorstand, definitiv am Innsbrucker Kongreß voll-
zogen. Als Vorstand für das Jahr 1927 wurden gewählt: Laforgue —
Präsident, Sokolnicka — Vizepräsident, Loewenstein — Sekretär und
Kassenwart.
Bei der Gründung der Vereinigung wurde auch die Herausgabe einer Zeit-
schrift in französischer Sprache beschlossen. Die Zeitschrift, offizielles Organ
der Vereinigung, von der schon zwei Nummern erschienen sind, heißt „Revue
frangaise de Psychanalyse“. Sie wird unter dem „haut patronage“ von Prof.
Freud herausgegeben und besteht aus einem ärztlichen und einem ange-
wandten Teil. Die Redakteure des ärztlichen Teiles sind: Laforgue, Hesnard,
de Saussure und Odier. Redakteur des angewandten Teiles: Marie Bonaparte.
Pichon ist Generalsekretär der Zeitschrift.
In den Jahren ı 926/ 27 fanden folgende Sitzungen der „Societe Psych-
analytique de Paris“ statt:
30. November 1926. Dr. Borel: „Genesungsträume in drei Fällen von
pseudo-melancholischer Depression.“
In drei Fällen von schwerer Depression, die sich sehr gebessert haben,
fielen eine Reihe von Träumen vor, in denen die Patienten sich gesund
sahen. Die analytische Aufklärung dieser 'Träume war nicht ganz vollständig
gelungen.
Dr. Laforgue: „Zum Thema Über-Ich.“
Laforgue betont die Rolle des Konfliktes zwischen Über-Ich und Ich,
welche die Beziehungen von Eltern zum Kinde wiederholen, Die Einverleibung
der Eltern dient oft feindseligen Absichten gegen diese (Skotomisation der
Eltern). Die Rolle dieser Mechanismen in Fällen von Schizophrenie.
20. Dezember ı926. — Geschäftliche Sitzung.
21. Dezember 1926. — Dr. Loewenstein: „Analyse eines Falles
von Fetischismus und Masochismus.“
Loewenstein beschreibt die hauptsächlichsten unbewußten Mechanismen bei
der Bildung der Perversion. Die Analyse ist nach einem relativ guten thera-
peutischen Erfolg vom Analytiker unterbrochen worden.
10.. Januar 192. —. Dr R Allendy: „Zahnung und Trieb-
entwicklung.
Allendy weist auf die biologische Bedeutung der Zahnung für die Trieb-
entwicklung hin, auf ihre Rolle in der Entstehung des Sadismus und in der
Entwöhnung von der Mutterbrust. Er zitiert zwei Fälle, in denen die Zähne-
symbolik in Träumen ihm diese Verhältnisse klar gezeigt haben.
22. Februar ı927. — Geschäftliche Sitzung.
25. März ı927. — Dr. Hesnard: „Psychoanalyse eines Falles von
Hypochondrie.“
Hesnard berichtet über einen Fall von schwerer Hypochondrie mit schizo-
phrenen Zügen und physischem Zurückgebliebensein eines achtzehnjährigen
Jünglings. In der Analyse, welche vier Monate gedauert hatte, fand Hesnard
Korrespondenzblatt 293
die pathogene Wirkung: Schuldgefühl nach Onanie und dahinterliegender
Kastrationsangst und -wunsch. Die in schweren äußeren Umständen durch-
geführte Analyse bereitete den Boden für eine überraschend günstige Wirkung
eines Landaufenthaltes.
5. April 1927. — Dr. Jones: „Der Begriff des Über-Ichs.“
Jones skizziert die Entwicklung des Über-Ich-Begriffes und gibt dann eine
sehr vollständige und klare Übersicht über die Formen seiner Beziehungen
zum Ich — die verschiedenen Arten des Schuldgefühls und des Strafbedürfnisses
— und über die Bildung des Über-Ichs durch Identifizierung bei den beiden
Geschlechtern.
1. Juni 1927. — Dr. R.’de Saussure: „Ein Fall von Perversion.“
Der Vortragende berichtet über einen Fall von Perversion, dessen Analyse
noch nicht abgeschlossen ist. Patient hat Ejakulationen ohne Erektion in
Buddhastellung oder wenn er sich auf den Kopf stellt (dann mit Erektion).
Es wird auf die Bedeutung der Koitusbeobachtung für die Genese der Per-
version hingewiesen.
5. Juli ıg927. — Dr. Nacht (als Gast): „Betrachtungen über die
Psychoanalyse einer Schizophrenie.
Der Vortragende hebt drei Punkte hervor: die Technik, die Deutung der
Symbole und die Resultate. Er meint, man müsse bei Schizophrenen zuerst
eine — von der klassischen abweichende — aktive Technik zur Herstellung
der Übertragung verwenden, erst dann könne das klassische Vorgehen folgen.
Nacht gibt die Deutung einiger zoologischer Symbole. Er gibt dann einer
relativ optimistischen Meinung Ausdruck über die zukünftigen Möglichkeiten
einer Schizophrenie-Therapie.
ı. November ı927. — Dr. Laforgue: „Die psychische Bedeutung
von Unfällen während der analytischen Behandlung.“ |
6. Dezember ı927. — Dr. Meng (Stuttgart, a. G.): „Über Kinder-
analyse. Der Vortragende vertritt in seinen Ausführungen Auffassungen, die
sich mit denen Anna Freuds decken. Er bespricht ausführlich die ver-
schiedenen 'Typen von Kindern, die er untersuchen und behandeln konnte.
Er weist auf die Notwendigkeit der Analyse der Eltern hin und betont, daß
in manchen Fällen auch medikamentöse Therapie erforderlich sei. — Dis-
kussion: Morgenstern, Sokolnicka, Borel, Laforgue und Loewenstein.
Mitgliederliste
Ordentliche Mitglieder:
ı) Dr. Rene Allendy, Paris ı6°, 67 rue de l’Assomption.
2) Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland, St. Cloud, 7 rue du
Mont Valerien.
z) Dr. A. Borel, Paris ıı°, Quai aux fleurs.
4) Dr. H. Codet, Paris 5°, ı0 rue de 1l’Odeon.
s) Prof. A. Hesnard, Toulon, 4 rue Peiresc.
6) Dr. R. Laforgue, Paris 16°, ı rue Mignet (Präsident).
7) Dr. R. Loewenstein, Paris ı6°%, 24 rue Davioud (Sekretär —
Kassenwart).
8) Dr. Ch. Odier, Geneve, 24 Boulevd. des Philosophes.
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294 Korrespondenzblatt
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) Dr. G. Parcheminey, Paris 17°, 92 Avenue Niel.
ı0) Dr. E. Pichon, Paris 8°, 23 rue du Rocher.
) Dr. R, de Saussure, Geneve, 2 Tertasse.
ı2) E. Sokolnicka, Paris 7°, 30 rue Chevert (Vizepräsident).
Außerordentliche Mitglieder:
ı) Dr. Anne Berman, Paris.
2) Dr. Martin-Sisteron, Grenoble.
z) Bernard Doreau, Paris.
Ständige Gäste:
Dr. Sophie Morgenstern.
Dr. Sacha Nacht.
Prince Hopkins,
Dr. Rudolf Loewenstein
Sekretär
Russische Psychoanalytische Vereinigung
IL. und IM. Quartal 1927
19. Mai ı927. Prof. Kannabich: Über den Narzißmus. — Vor-
tragender spürt den Anfängen der Idee des Narzißmus in der voranalytischen
Epoche nach: in Mythos und Literatur, in vereinzelten Beobachtungen von
Ärzten und Psychologen. In der Psychoanalyse hat der Begriff des Narzißmus
eine gewisse Evolution durchgemacht, deren Etappen vom Vortragenden aus-
führlich geschildert wurden. Die Grundlagen des Referats bildeten die Arbeiten
von Jones, der vor kurzem erschienene Artikel von Havelock Ellis „The
Conception of Nareissism” und eigene Beobachtungen des Vortragenden über
die Frühstadien der Schizophrenie (Autoreferat).
26. Mai 1927. Dr. Friedmann: Die Ambivalenz im manisch-depressiven
Irresein. — Ausgehend von der Lehre der Vermischung und Entmischung beider
Triebe behandelt der Vortragende die Schicksale der Ambivalenz nicht nur in
der Melancholie, sondern auch in der Manie, die noch keine Lösung des ambi-
valenten Konfliktes bildet. Eine Besonderheit des maniakalen Zustandes bildet,
nach Vortragendem, die Abfuhr der Aggressivität nach außen, auf die fast
unmittelbar oder gleichzeitig die kompensatorische Zärtlichkeit folgt. Im
zykloiden Charakter sind beide Triebe vollständig verbunden (Autoreferat).
16. August 1927. Geschäftliche Sitzung.
ı5. September 1927. Wera Schmidt: Referat über den X. Internationalen
Psa. Kongreß in Innsbruck. |
3. November ı927. Frau Dr. Goltz: Beobachtungen während des Erd-
bebens in der Krim. — Vortragende konstatiert starke Herabsetzung in der
Kontrolle von seiten des Über-Ichs und Äußerung einer Reihe regressiver,
infantiler Eigenschaften, nicht nur im Moment des Erdbebens, sondern auch
später. Einige Personen reagierten auf die Gefahr überhaupt nicht. Bei Nach-
fragen ergab sich ein unbewußter Todeswunsch, der mit schweren persön-
lichen Erlebnissen zusammenhing. Außerdem wurden in mehreren Fällen
Störungen im Gebiete der Wahrnehmung der Zeit konstatiert.
Se
Korrespondenzblatt 9295
In der geschäftlichen Sitzung wird für die Dauer des Aufenthaltes des
Präsidenten der Russischen Psa. Vereinigung Dr. M. Wulff in Berlin der
Vorsitz dem Vizepräsidenten Prof. G. Kannabich übertragen.
17. November ı927. Kleine Mitteilungen. ı) Frau Dr. Averbuch. Das
Unbewußte in William James „The Varieties of religious experience.“ — In
Anbetracht der sich immer mehrenden Versuche, Freuds Theorien in
religiös-apologetischem Sinne zu mißbrauchen und der hohen theoretischen
Bedeutung, welche in dieser Hinsicht der amerikanischen Schule zukommt,
sucht Vortragende auf den krassen Gegensatz zwischen Freuds Auffassung
des Unbewußten und derjenigen William James hinzuweisen und den daraus
resultierenden Unterschied in der sozialen Wertung der religiösen Erlebnisse
zu unterstreichen (Autoreferat).
2) Wera Schmidt. Kinderträume. Vortragende teilt verschiedene
Kinderträume mit, welche die in der Realität unerfüllten Wünsche als
erfüllt zeigen.
1. Dezember ı927.Prof. Kannabich. Über dieSymbolik. — Der Vortragende
behandelt eingehend den Begriff des Symbols, berichtet über die neuesten
Arbeiten, besonders über die experimentellen Träume (die Arbeiten von
Roffenstein) und zeigt, daß die Symbolik, die für die Feinde der PsA.
oft ein Stein des Anstoßes ist, bereits als entschieden bewiesen gelten darf,
besonders das sexuelle Moment in der Symbolik (Autoreferat).
Wera Schmidt
Schriftführerin
Wiener Psychoanalytische Vereinigung
IV. Quartal 1927
19. Oktober 1927. Generalversammlung. Programm: ı. Ambula-
torium. Ref.: Dr. Hitschmann. 2. Lehrinstitut. Ref.: Fr. Dr. Deutsch.
3. Kassebericht (Dr. Nepallek). 4. Mitgliedsbeitrag. z. Bericht über die
Geschäftssitzung des Kongresses (Dr. Federn). 6. Absolutorium. 7. Neu-
wahlen. In den Vorstand wurden gewählt: Prof. Freud, Obmann; Doktor
Federn, ÖObmannstellvertreter; Dr. Jokl, Dr. Reik, Schriftführer;
Dr. Nepallek, Kassier; Dr. Nunberg, Bibliothekar; Fr. Dr. Deutsch
(als Vorsteherin des Lehrinstitutes); Dr, Hitschmann (als Leiter des
Ambulatoriums); Dr. Reich (als Leiter des technischen Seminars). 8. Aktions-
komitee (Ref.: Dr. Hitschmann, Dr Jokl). Der Antrag lautet auf
Erweiterung des vor zwei Jahren gegründeten „Propagandakomitees“, dessen
Arbeit auf innere Schwierigkeiten stieß. Zweck soll sein: Aufklärung der
Ärzteschaft durch Organisation von Vorträgen in wissenschaftlichen Vereinen,
durch Publikationen und Referate in medizinischen Zeitschriften, volkstümliche
Aufklärungsarbeit. Zusammensetzung des Komitees: Fr. Dr. Bibring, Dr. Hart-
mann, Dr. Hitschmann, Dr. Jokl, Dr. Winterstein, Dr. Wittels.
2. November 1927. Diskussionsabend: Die Onanie. Dr. Federn: Ein-
leitung. Zusammenfassung der bisherigen Anschauungen unter Berücksichtigung
der Diskussionen in der „Vereinigung“ in den Jahren ıgıı/ı2 (Die Onanie.
Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener Psychoanalytischen
296 7 Korrespondenzblatt
Vereinigung“. J. F. Bergmann ıgı2). Dr. Wittels: Zur Phylogenese der
Onanie. Fr. Schaxel: Onanie in der frühen Kinderzeit. Dr. Hitsch-
mann: Unterscheidung von Onanieformen. Änderungen in der Onanieauffassung.
Dr. Steiner: Kritik der Onanieauffassungen, Onanietypen, Onaniephantasien.
Dr. Reich: Das Problem der Onanie vom Standpunkt der psychoanalytischen
Therapie (Schädlichkeit oder Nutzen der Onanie). Diskussion: Mme Marie
Bonaparte, Eidelberg (a. G.). Federn, Nunberg. (Die Diskussionsbeiträge sind
in einem Sonderheft der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“
erschienen.)
ı16. November ı927. Fortsetzung der ÖOnaniediskusion: Mme Marie
Bonaparte, Eidelberg (a. G.), Federn, Jokl, Schaxel, Steiner, Wittels. Federn:
Schlußwort.
30. November ı927. Gastvortrag. Mme Marie Bonaparte: „Über
Symbolik der Kopftrophäen.“ (Erschienen in Imago, Bd. XIV, Heft ı, 1928.)
14. Dezember ı927. Vortrag Dr. Richard Sterba: „Psychoanalytische
Bemerkungen zum Ausdruck des Naturgefühls bei Goethe.“
Am Ausdruck des Naturgefühls bei Goethe und anderen neueren Dichtern
ist die Darstellung eines Zustandes oder Geschehens als Tätigkeit des
dargestellten Objektes häufig zu beobachten. Dieser Darstellung als Tätigkeit
— über die sprachliche Notwendigkeit hinaus — liegt eine weitgehende
Identifizierung mit dem dargestellten Objekt zugrunde; auf dieser Erweiterung
der Ichgrenzen in die Außenwelt beruht der Lustgewinn des Naturgefühls,
die aus ihr resultierende „kosmische Motilität” ist möglich durch Regression
auf die Phase der Allmacht der Gedanken. Psychologisch entspricht die
Darstellung einer magischen Handlung.
Geschäftliches. Zum ordentlichen Mitglied wurde gewählt das
außerordentliche Mitglied Dr. Eduard Bibring, Wien, VIL, Siebenstern-
gasse 31.
*
Das Lehrinstitut der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ (Wien,
IX., Pelikangasse ı8) veranstaltete im Wintersemester 1927/28 die folgenden
Ausbildungskurse:
ı) Dr. E. Hitschmann: Traumlehre. ı2stündig. (Hörerzahl 26.)
2) Dr. P. Federn: Technik der Psychoanalyse. 6stündig. (Hörerzahl 31.)
z) Dr. W. Reich: Psychoanalytische Charakterlehre und Charakteranalyse.
ıostündig. (Hörerzahl 29.)
4) Prof. P. Schilder: Ich und Über-Ich bei Psychosen. ıo0stündig.
(Hörerzahl 29.)
s) Frau Dr. H. Deutsch: Spezielle Neurosenlehre. 6stündig. (Hörer-
zahl 30.)
6) Dr. R. Wälder: Psychoanalytisches Kolloquium. Semestralkurs. (Hörer-
zahl 26.) 4
Im Ambulatorium der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung : Seminar
für Psychoanalytische Therapie. Leiter: Dr. W. Reich. Jeden zweiten
Mittwoch. Dr. R. H. Jokl
Schriftführer
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lesen die
Feitschrift für
psychoanalytische Pädagogik
Unter Mitwickuns von ,
August Aichhorn Lou Andreas-Salome Siegfried Bernfeld Marie Bonaparte Mary Chadwick
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M.D. Eder Paul Federn S. Ferenczi Anna Freud JosefK. Friedjung - Albert Furrer
London Wien Budapest Wien Wien Zürich
Wilb. Hoffer KarlLandauer Barbara Low C.Müller-Braunschweig . Oskar Pfister Jean Piaget
Wien Frankfurta.M. London - Berlin Zürich Neuchätel
Vera Shmidt A.J.Storfer Alfhild Tamm Fritz Wittels M.Wulf Hans Zulliger
Moskau Wien Stockholm Wien Moskau Ittigen-Bern
herausgegeben von
‚Dr. Heiarich Meng und Dr. Einst Schneider
Arzti ın Stut t tg art Universitätsprofessor i ın Ri ıga
12 Hofee jährlich
Der. J: ahrg. ( Okt.ı 926 bis Sept. 1 927) liegt bereits komplett vor. (In Halbleder M 13.60)
Abonnement auf den 11. Jahrgang (12 Hefte, Okt. 1957 bis Sept. 1938) M 10.—
Heft 4 | 5 6 des II. J ahrganges erschien als
Sonderheft über „Önanie“
Aus dem Inhalt dieses Heftes: Federn: Die Wiener Onaniediskussion 1912 / Meng:
Das Problem der O. von Kant bis Freud / Friedjung: Zur Frage der O. des Kindes 7
Sadger: Neue Forshungen zum O.-Problem / Chadwic : Die allgemeine Verschwörung
zur Verleugnung / Landauer: Die Formen der Selbstbefriedigung / Zulliger: Schule
und ©. / Schneider: Die Abwehr der Selbstbefriedigung 7 Reich: O. im Kindesalter /
Vera Schmidt: 7 O. bei kleinen Kindern / Graber: O. und Kastration / Hitschmann:
Auf der Höhe der Entmannungsangst 7 Hirsch: Eine Feuerphobie als Folge unter-
drückter O. / Ziegler: Soll man die O. bekämpfen? 7 Tamm: Die Eltern und die O.
ar) Kinder. / Landauer: O.-Selbstbeschuldigungen in Psychosen und 11 andere Es
Preis dieses dreifachen Heftes separat M 2: 50
Wien, I. Börsegasse 11
EINNEHMEN m %
Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik -
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Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse Band XIV, Mel = | =
RE | (Ausgegeben Anfang Juli 11028) = = R
2; | "Seite. ER SER
Anna Freud: "Zur Theorie der Kinderanalyse a ö Me ER Re REN Sısz: Fe
Hanns Sachs: Über einen Antrieb bei der Bildung des werhielen Über-Ichs SAT a0 Er
'J. Härnik: Die ökonomischen Beziehungen zwischen dem Enge und dem. RR 2
weiblichen Narzißmus. =. cu N za nen DE 175 eB &
Wilhelm Reich: "Über Charakteranalyse-., vor ee NA . & ER: Be
$. Ferenczi: Die Elastizität der psychoanalytischen Technik - A en 2 197 2 2
S. Pfeifer: Die neurotische Dauerlust. Erscheinungen der N ereehln Allmacht“ in 4
| neurotischen Dauersymptomen AT DE NEN BEN UEE RNE EE TUN S: 210
Ed % Rn“ Ab
re
KASUISTISCHE BEITRÄGE | Be:
Lotte Kirschhier: Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 33 = | 227° ER,
M. Wulff: Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer Seelische >
Untersuchung von Chauffeuren . 2. ns een. 237, .
Otto Fenichel: Zur „Isolierung“ re anne ae el TEN DA. N air
PSYCHOANALYTISCHE BEWEGUNG ee | Ba.
Deutschland 249. — Österreich 249. — Spanien 250. — Schweden 251. — Schweiz 252. — ee
Ungarn 252. — U. S. A. 252. 4 Kanada 255. Eee vn
N REFERATE
Se Aus den Grenzgebieten: ;
Et. Benussi, Zur. experimentellen Grundlegung hypnosuggestiver Methoden psychischer N
SE . Analyse (Gerö) 255. — Pickworth-Farrow, Some notes on Behaviorism (Fenichel). 256. ER 4
— Falke, Machtwille und Menschenwürde (Reich) 257. — Flach, Über symbolische | is |
| Schemata im produktiven Denkprozeß (Wittels) 257. — Zeigarnik, Das Behalten von | TR Er
5 erledigten und unerledigten Handlungen (Gero) 258. Ka 3 Be
N“ Aus.der psychiatrisch-neurologischen Literatur: .
Er 'Stekel, Fortschritte-der Sexualwissenschaftund Psychoanalyse Bd. II (Reich) 259. — S chmitt, ER }
Atem und: Charakter (Fenichel) 266. — Alfven, Das Problem der Ermüdung (Bally) 267. — 3
Maeder, Die Richtung im Seelenleben (Graber)‘ 267. — Zappert, Masturbation A
(Eriedjung) 268. | | | Fe
Aus der psychoanalytischen Literatur: |
Alexander, Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit 9) Se — Rickman.
Index Psychoanalyticus 18931926 (Rad6) 277. — Jung, Die Bedeutung des Vaters für Ag
das Schicksal des Einzelnen (Fenichel) 278. — Piekworth-Farrow, On the psychological es:
importance.’of Blows and Taps.in early Infancy (Fenichel) 278. — Chadwick, The ER
Psychological Problem of the Foster Child (Autoreferat) 279. — Bryan, Scent n a. 2.
Symptomatic Act (Fenichel). 280. ML RER URG
Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften; | | u h
III. allgemeiner ärztlicher Kongreß für en in. Baden-Baden (Gerö) DaB
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
J). Mitteilung der Internationalen Unterrichtskommission 282: — II)-Berichte ‘der Zweig- |
vereinigüngen. American Psychoanalytical: Association 283. — British Psycho-Analytical ge
Society 283. — Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 285. — ‚Indian Psychoanalytical, Sr
Society. 286: — Magyarorszägi Pszichoanalitikai Egyesület 289. == Nederlandsche ‚Vereeniging A =
voor. Psychoanalyse 290. — New York Psycho-Analytical Society 291. — Societe Psych- TR
analytique de ‚Paris 291. — Russische eier I kai Vereinigung. 294, — "Wiener
Psychoanalytische Vereinigung .295. | f
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Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges.m.b.H., Wien, IL,Börsegasse 1. — H: usge
Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien, Rlemdrehee 1, == I
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