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Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XIV. Band 1928 Heft 2"

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- Internationale Zeitschrift = 
für Psychoanalyse 


Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 


Herausgegeben von 
Sigm. Freud 


Unter Mitwirkung von 


=  Girindrashekhar Bose A.A. Brill Jan van Einden - Paul Federn Ernest one 


Kalkutta | New York Haag | Wien London 
3. W. Kannabich Rene Laforgue Philipp Sarasin Ernst Simmel 
Moskau Paris Basel Berlin 
| redigiert von Kr 
M Eitingon, S. Ferenczi, Sandor Rado = 
Berlin Budapest | Berlin = 





Iytischen Kongreß ın Innsbruck: Bee 


Anna Freud: Zur Theorie der Kindleranalyse / Sachs: Über einen 

Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ichs / Harnik: Die ökonomischen 

Beziehungen zwischen Schuldgefühl und weiblichem Narzißmus / Reich: 
Über Charakteranalyse 








ein Ferenczi: Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 7 Pfeifer: 


Über neurotische Dauerlust / Kirschner: Analyse einer zwangsneurotischen Ä = 
- Arbeitshemmung / Wulff: Psychiatrisch-neurologische Untersuhung bei | ee = 


Chauffeuren / Fenichel: Isolierung / Bewegung / Referate / Korrespondenzblatt | 


Internationaler Pehoinalsticher Verlag 


Wien, I. Börsegasse 11 


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' Internationaler Pychosmahtuisdier Verlag 
Be Wien; I. Börsegasse 11 





2 Die in Se „Internationalen Zeitschrift für. Psychoanalyse“ veröffentlichten ‚Beiträge werden 
- mit Mark 50.— pro sechzehnseitigen Druckbogen honoriert. 
2) Die Autoren von Öriginalbeiträgen, -sowie von Mitteilungen und Referaten im Umfange 
"über zwei Druckseiten, erhalten zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes. | 
| 3) Die. Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache zur 
“Verfügung stellen, trägt der Verlag; die Autoren  sol&her Beiträge‘ erhalten kein Honorar. 


i 4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenscdhrift (nicht eng 


geschrieben), Es ist erwünscht, daß die Autoren eine Kopie ihres Manuskriptes behalten. Zeichnungen 
“und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Die Zeichnungen sollen 


Hr. ‚tadellos ausgeführt ‘sein, damit die Vorlage selbst reproduziert werden kann. 


5) Mehrkosten, die durh Autorkorrekturen, d.h. dard Textänderungen, Einschaltungen, 
a abge, Umstellungen während der Drukkorrektur Sen werden, werden vom Autoren- 


» honorar in Abzug gebracht. 


6) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch and auf Kosten des Autors. angefertigt. Ä 
„Die ‘Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für. Beiträge 
bis 8 seiten für 25. Exemplare. Mark 15.—, für 50 Exemplare Mark 20.— 


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Mehr als 50 Separata werden nicht angefertigt. 
7) Alle-obigen Bedingungen gelten auc für die Zeitschrift „Im ago“. 





Alle diese Zeitschrift berreffenden äktienehn Zuschriften Sendungen bitte zu richten an. 


Dr. - Sändor Radö, Berlin-Grunewald, Ilmenauer Str. 2 


alle geschäftlichen Zuschriften und Sendungen an: 


Internationaler ee Verlag, en 1. Barsegaee 11. 








Das Vene es hön nee der ‚Internationalen Piischräft für Psycho- 


analyse“ (4 Hefte jährlich) beträgt M. a (Preis des Einzelheftes M.- 7. 50). 


Das Jahresabonnement der im gleichen Verlage erscheinenden „Imago, a 
für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- ‚und Geisteswissenschaften“ Z 
(herausgegeben von Sigm. Freud) beirdgt 23,5 


Postscheckkonti nn Hatäinaklonalen Psychoanalytischen Verlags“: Leipzig | 


- 95,112 — Zürich VII, 11.479 — Wien 71,033 — Prag79.385 — Budapest 51.204 - 5 
Zagreb 40.900 — W arszawa 101.250. ER 





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_ = Diesem _ Heft ist ein Prospekt des „Hippökrates-Verlag“ in Stuttgart, sowie Vorlesungs- 
uch verzeichnisse des. Berliner Psychoanalytischen Instituts und des Lehrinstituts der ner 


= Psychoanalytischen Vereinigung beigelegt. 


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Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 


Herausgegeben von Sigm. Freud 


XIV. Band I928 .- Heft 2 








_ Zur Theorie der Kinderanalyse 


Fortrag auf dem X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Innsbruck 
am 3. September 1927 
Von 


Anna Freud 
Wien 


Meine Damen und Herren! 


Wenn Sie auf diesem Kongreß gleich drei Vorträge über Kinderanalyse 
zu hören bekommen, anstatt, wie bisher üblich, nur einen, so ist das nur 
ein Anzeichen dafür, wieviel Raum dieses Thema im Laufe der letzten 
Jahre innerhalb der Internationalen Vereinigung für sich gewonnen hat. 
Ich meine, die Kinderanalyse erwirbt sich dieses gesteigerte Interesse durch 
drei Leistungen. Sie bringt willkommene Bestätigungen für die Vor- 
stellungen über das Seelenleben des Kindes, die sich die psychoanalytische 
Theorie im Laufe der Jahre rückschließend aus den Analysen an Erwachsenen 
gebildet hat; sie liefert — wie der Vortrag von Frau Klein es eben 
demonstriert hat — neue Aufschlüsse, Ergänzungen zu diesen Vorstellungen 
aus der direkten Beobachtung; und sie bildet schließlich die Überleitung 
zu einem Anwendungsgebiet, das, wie viele behaupten, in der Zukunft 
zu einem der wichtigsten für die Psychoanalyse werden soll: zur 
Pädagogik. 

Auf dieses dreifache Verdienst gestützt, nimmt sich die Kinderanalyse 
aber auch allerlei Freiheiten und Selbständigkeiten heraus. Sie verlangt 
nach einer neuen Technik. Diese Forderung wird ihr gerne zugestanden ; 
auch der Konservativste ist bereit einzusehen, daß ein geändertes Objekt 
geänderte Angriffsmethoden verlangt. So entsteht die Spieltechnik Melanie 
Kleins für die Frühanalyse, später die von mir vertretenen Vorschläge zur 
Analyse der Latenzperiode. Aber manche Vertreter der Kinderanalyse — 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse. XIVi2 11 





INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 


154 Anna Freud 

wie Sie in mir einen sehen — gehen noch weiter. Sie fangen an, sich 
Gedanken darüber zu machen, ob die Vorgänge in einer Kinderanalyse 
theoretisch immer völlig mit denen der Erwachsenenanalyse übereinstimmen 
und ob die beiden sich, soweit es sich um die Ziele und Absichten 
handelt, auch vollkommen decken. Sie erheben die Forderung, daß der 
Kinderanalytiker — der Sonderstellung des Kindes entsprechend — neben 
der analytischen Schulung und Einstellung noch eine zweite besitzen 
sollte: die pädagogische. Ich meine, wir sollten nicht vor diesem Wort 
erschrecken und eine solche Vermengung zweier Einstellungen nicht von 
vorneherein als etwas Herabsetzendes für die Analyse ansehen. Es lohnt 
die Mühe, an Hand von einigen Fällen nachzuprüfen, ob eine solche 
Forderung überhaupt Existenzberechtigung besitzt oder ob es das Richtige 
ist, sie als eine illegitime von der Hand zu weisen. 

Ich wähle zu diesem Zwecke als Beispiel zuerst ein Bruchstück aus 
der Analyse eines elfjährigen Knaben. Sein Wesen, als er in Behandlung 
kam, war feminin-masochistisch, seine ursprüngliche Objektbeziehung zur 
Mutter ganz von der Identifizierung mit ihr überlagert. Seine ursprüng- 
liche männliche Aggression machte sich nur gelegentlich in feindseligen 
Handlungen gegen die Geschwister und isolierten Dissozialitäten Luft, die 
dann wieder von heftigen Reueausbrüchen und Verstimmungen gefolgt 
wurden. Ich greife hier eine Zeit seiner Analyse heraus, in der er sich ın 
zahlreichen Gedanken, Phantasien und Träumen mit dem Problem des 
Todes, richtiger des Tötens, beschäftigte. 

Eine seiner Mutter sehr nahestehende Freundin war gerade damals 
schwer krank, die Mutter wurde durch ein Telegramm von der Gefahr 
verständigt. Er griff dieses Ereignis auf, um es in seiner Vorstellung 
weiterzuspinnen. Ein neues Telegramm, phantasierte er, kommt an und 
meldet: Sie ist gestorben. Die Mutter kränkt sich sehr. Da kommt wieder 
ein Telegramm: Sie lebt wieder, es war nur ein Irrtum. Die Mutter 
freut sich darüber. Und jetzt läßt er die Telegramme in rascher Folge 
erscheinen, eines immer, das den Tod, ein nächstes, das ihre Wieder- 
belebung meldet. Den Schluß der ganzen Phantasie bildet eine Nachricht, 
die sagt: das Ganze war nur ein Spaß, den man sich mit der Mutter 
gemacht hat. Die Phantasie ist nicht schwer zu deuten; wir sehen seine 
Ambivalenz, den Wunsch, die von der Mutter geliebte Person zu töten 
und seine Unfähigkeit, die Absicht wirklich durchzuführen, deutlich daraus 
hervorgehen. 

Kurz darauf erzählt er mir folgende Zwangshandlung: Wenn er auf 
dem Klosett sitzt, dann muß er einen Knopf, der sich auf der einen Seite 
an der Wand befindet, dreimal mit der Hand berühren, gleich darauf 








Zur Theorie der Kinderanalyse | 155 


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aber dasselbe an einem Knopf der anderen Seite wiederholen. Die Handlung 
scheint zuerst unverständlich, bis sie in den nächsten Tagen durch eine 
in anderem Zusammenhang erzählte Phantasie ihre Aufklärung findet. Er 
stellt sich den lieben Gott als einen alten Mann vor, der im Himmelssaal 
auf einem großen Thron sitzt. Rechts und links von ihm sind Knöpfe 
oder Taster an der Wand angebracht. Drückt er auf die Knöpfe der einen 
Seite, dann stirbt ein Mensch, drückt er auf einen Knopf der anderen 
Seite, dann kommt ein Kind auf die Welt. Ich glaube, die Zusammen- 
stellung der Zwangshandlung mit dieser Tagesphantasie macht die weitere 
Deutung überflüssig. Die Zahl drei läßt sich wahrscheinlich durch die 
Anzahl seiner Geschwister erklären. 

Kurz darauf erkrankt ein Freund der Familie, der seiner Mutter nahe- 
steht, der Vater eines seiner Spielgefährten. Er hört, während er zur 
Analysenstunde geht, das Telephon läuten und bildet nun bei mir folgende 
Phantasie: Man hat die Mutter verständigt, daß sie in das Haus des 
Erkrankten kommen soll. Sie geht hin, tritt in das Krankenzimmer ein, 
geht zum Bett hin und will mit dem Patienten sprechen. Aber er gibt 
ihr keine Antwort und sie merkt, daß er tot ist. Sie erschrickt sehr. In 
diesem Augenblick tritt der kleine Sohn des Verstorbenen herein. Sie ruft 
ihn und sagt: Komm her, schau, dein Vater ist gestorben. Der Junge 
tritt zum Bett und spricht zu seinem Vater. Da lebt der Vater und gibt 
ihm Antwort. Er wendet sich zur Mutter meines Patienten und sagt: Was 
willst du, er lebt ja. Da spricht sie wieder zu ihm, er gibt wieder keine 
Antwort und ist tot. Wie aber der Junge wieder hereintritt und spricht, 
lebt der Vater von neuem. 

Ich hätte diese Phantasie hier nicht mit solcher Ausführlichkeit vor- 
gebracht, wenn sie nicht so instruktiv und durchsichtig wäre und die 
Deutung der beiden vorhergehenden gleich mit in sich enthalten würde. 
Wir sehen, der Vater ist tot in seiner Beziehung zur Mutter, er lebt, 
soweit es sich nur um die Beziehung zum Sohne handelt. War in den 
bisherigen Phantasien die Ambivalenz — der Wunsch zu töten und der 
entgegengesetzte, leben zu lassen oder wiederzubeleben — derselben Person 
gegenüber nur in zwei verschiedene Handlungen zerlegt, die sich gegen- 
seitig wieder aufheben mußten, so gibt diese Phantasie durch die Hinzu- 
fügung einer Spezialisierung der bedrohten Person (als Mann einerseits, 
als Vater andererseits) die historische Erklärung der doppelten Einstellung. 
Die beiden Strebungen entstammen offenbar verschiedenen Entwicklungs- 
phasen des Knaben. Der Todeswunsch gegen den Vater als den Rivalen 
um die Liebe der Mutter entspringt der normalen Ödipusphase mit der 
seither verdrängten positiven Objektliebe zur Mutter. Hier wendet sich 


11* 


156 Anna Freu 





seine männliche Aggression gegen den Vater, er soll beseitigt werden, um 
ihm den Weg frei zu machen. Die andere Strebung aber, der Wunsch, 
sich den Vater zu erhalten, kommt einerseits aus der frühen Periode der 
rein bewundernden und liebenden Einstellung zum Vater, noch ungestört 
durch die Konkurrenz des Ödipuskomplexes; andererseits aber — was hier 
die größere Rolle spielt — aus der Phase der Identifizierung mit der 
Mutter, die die normale Ödipuseinstellung abgelöst hat. Aus Angst vor 
der vom Vater drohenden Kastration hat der Knabe seine Liebe zur Mutter 
aufgegeben und sich in die weibliche Einstellung drängen lassen. Von 
hier aus muß er sich den Vater als Objekt seiner homosexuellen Liebe zu 
erhalten trachten. 

Es wäre verlockend, weiterzugehen, den Übergang zu schildern, der in 
dem Knaben von diesem Wunsch zu töten, dann zu einer abendlich 
auftretenden Todesangst führt, und von hier aus einen Eingang in den 
komplizierten Aufbau dieser Neurose der Latenzperiode zu finden. Aber 
Sie wissen, daß das an dieser Stelle nicht meine Absicht ist. Ich habe 
Ihnen diesen Ausschnitt nur vorgeführt, um mir von Ihnen meinen Ein- 
druck bestätigen zu lassen, daß dieses Stück Kinderanalyse sich in nichts 
von der Analyse eines Erwachsenen unterscheidet. Wir sollen ein Stück 
seiner männlichen Aggression und seiner Objektliebe zur Mutter aus der 
Verdrängung und von der Überlagerung durch seinen jetzt feminin- 
masochistischen Charakter und die Mutteridentifizierung befreien. Der 
Konflikt, um den es sich dabei handelt, ist ein innerer. Hat ihn auch 
ursprünglich die Angst vor dem wirklichen Vater in der Außenwelt zur 
Verdrängungsleistung getrieben, so wird der Erfolg dieser Leistung jetzt 
doch von inneren Kräften aufrecht gehalten. Der Vater ist verinnerlicht 
und das Über-Ich der Vertreter seiner Macht geworden, die Angst vor ihm 
wird vom Knaben als Kastrationsangst empfunden. Jedem Schritt, den die 
Analyse auf dem Wege zur Bewußtmachung der verdrängten Ödipus- 
tendenzen machen will, stellen sich Ausbrüche dieser Kastrationsangst als 
Hindernis entgegen. Nur die langsame historisch-analytische Zersetzung 
dieses Über-Ich ermöglicht ein Fortschreiten meiner Befreiungsarbeit. Sie 
sehen also, die Arbeit und die Einstellung des Behandelnden ist, soweit 
es sich um dieses Stück der Aufgabe handelt, eine rein analytische. Für 
die pädagogische Einmengung ist hier kein Platz. 

Hören Sie dagegen ein anderes Beispiel an. Es entstammt der Analyse 
einer sechsjährigen weiblichen Patientin, aus der ich schon an anderer 
Stelle und in anderer Absicht einiges veröffentlicht habe. Auch hier 
handelt es sich — wie immer — um die Strebungen des Ödipuskomplexes 
und auch hier spielt das Verhältnis zum Töten eine gewisse Rolle, Das 





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Zur Theorie der Kinderanalyse 157 





kleine Mädchen hatte, wie die Analyse aufdeckt, eine frühe und leiden- 
schaftliche Liebe zum Vater durchgemacht und war in der gewöhnlichen 
Weise durch die Geburt der nächsten Geschwister von ihm enttäuscht 
worden. Ihre Reaktion darauf war eine außerordentlich starke. Sie gab die 
kaum erreichte genitale Phase zugunsten einer vollen Regression zum 
analen Sadismus auf. Sie wendete ihre Feindseligkeit gegen die neu- 
angekommenen Geschwister. Sie machte einen Versuch, sich den Vater, 
von dem ihre Liebe sich fast völlig abgewendet hatte, wenigstens durch 
Einverleibung zu erhalten. Aber die Bemühungen, sich als Mann zu 
fühlen, scheiterten an der Konkurrenz mit einem älteren Bruder, von 
dem sie erkannte, daß er körperlich besser für diese Aufgabe ausgerüstet 
war. Das Resultat war jetzt eine intensive Feindseligkeit gegen die Mutter: 
Haß gegen sie, weil sie ihr den Vater weggenommen hatte; Haß, weil 
sie sie nicht zum Knaben gemacht hatte; und Haß schließlich, weil sie 
die Geschwister geboren hatte, die die Kleine gerne selbst zur Welt 
gebracht hätte. Aber an dieser Stelle — etwa im vierten Lebensjahre des 
Kindes — geschah etwas Entscheidendes. Sie erkannte dunkel, daß sie 
auf dem Weg war, durch diese Haßreaktionen jede gute Beziehung zu 
der aus der ersten Kindheit doch sehr geliebten Mutter zu verlieren. Und 
um sich die Liebe zu ihr und noch viel mehr das Geliebtwerden durch 
sie, ohne das sie nicht leben konnte, zu retten, machte sie eine gewaltige 
Anstrengung, „brav“ zu werden. Sie trennte plötzlich wie mit einem 
Schnitt all diesen Haß und mit ihm ihr ganzes, aus analen und sadistischen 
Handlungen und Phantasien bestehendes Sexualleben von sich ab und 
stellte es ihrer eigenen Person als etwas Fremdes, nicht mehr Dazu- 
gehöriges, etwas „Teuflisches“ gegenüber. Was zurückblieb, war nicht viel: 
eine kleine eingeschränkte Person, die ihr Gefühlsleben nicht voll zur 
Verfügung hatte, und deren große Intelligenz und Energie damit beschäftigt 
waren, den „Teufel“ in der ihm aufgezwungenen Verdrängung zu 
erhalten. Für die Außenwelt blieb dabei nicht viel übrig als eine große 
Interesselosigkeit und laue Gefühle von Zärtlichkeit und Zuneigung zur 
Mutter, die nicht stark genug waren, um auch nur die geringste Belastung 
auszuhalten. Aber noch mehr als das: die Trennung ließ sich auch bei 
großem Energieaufwand nicht anhaltend durchführen. Der Teufel über- 
wältigte sie gelegentlich auf kurze Zeit, so daß Zustände entstanden, wo 
sie sich ohne rechten äußeren Anlaß auf den Boden hinwarf und schrie, 
in einer Weise, wie man sie früher wohl als Besessenheit gekennzeichnet 
hätte; oder wo sie sich plötzlich ihrer anderen Seite überließ und mit 
vollem Genuß in sadistischen Phantasien schwelgte, sich etwa vorstellte, 
wie sie das Haus ihrer Eltern vom Dachboden bis zum Keller durch 


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158 Anna Freud 





wanderte, alle Möbel und Gegenstände, die sie vorfand, zerstückelte und 
zum Fenster hinauswarf, und allen Personen, die sie antraf, kurzerhand 
den Kopf abschlug. Solche Überwältigungen des Teufels waren dann immer 
wieder von Angst und Reue gefolgt. Aber das abgetrennte Böse hatte 
noch eine weitere, noch gefährlichere Art, sie zu durchdringen. Der 
„Teufel“ liebte Kot und Schmutz; sie selbst fing allmählich an, eine 
besondere Ängstlichkeit im Einhalten von Reinlichkeitsvorschriften zu 
entwickeln. Für den Teufel war das Kopfabschlagen eine Lieblings- 
beschäftigung; sie mußte zu gewissen Zeiten morgens zu den Betten der 
Geschwister schleichen, um nachzusehen, ob alle noch am Leben waren. 
Der Teufel überschritt jedes menschliche Gebot mit Energie und Vergnügen; 
sie aber entwickelte abends vor dem Einschlafen eine Erdbebenangst, da 
jemand ihr beigebracht hatte, das Erdbeben sei die wirksamste Form, wie 
der liebe Gott die Menschen auf der Erde zu bestrafen pflege. So machte 
ihr tägliches Leben alle Anstalten, sich mit Ersatz-, Reue- und Buß- 
handlungen für die Taten des abgetrennten Bösen zu erfüllen. Wir würden 
sagen: der großartig angelegte Versuch, sich die Liebe der Mutter zu 
erhalten, sozial und „brav“ zu werden, war kläglich gescheitert; es war 
nichts daraus geworden als eine Zwangsneurose. 

Ich habe aber auch für diese infantile Neurose Ihr Interesse nicht 
wegen ihres schönen Aufbaues und der für dieses frühe Alter ungewöhnlich 
klaren Umgrenztheit der Symptome in Anspruch genommen. Was mich 
bewogen hat, sie Ihnen zu schildern, war ein besonderer Umstand, der 
mir während der therapeutischen Arbeit auffiel. 

In dem eben geschilderten Fall. des elfjährigen Knaben, war — wie Sie 
sich erinnern — der Motor der Verdrängung die auf den Vater bezogene 
Kastrationsangst gewesen; natürlich war es auch die Kastrationsangst, die 
ich in der Analyse als Widerstand zu spüren bekam. Aber hier war etwas 
anders. Die Verdrängung oder vielmehr die Spaltung der kindlichen 
Persönlichkeit hatte sich unter dem Druck der Angst vor dem Liebes- 
verlust vollzogen. Die Angst muß unserer Vorstellung nach sehr intensiv 
gewesen sein, um eine so das ganze Leben störende Wirkung zu haben. 
Aber gerade diese Angst war in der Analyse nicht ernsthaft als Widerstand 
zu spüren. Unter dem Eindruck meines gleichbleibenden freundlichen 
Interesses fing die kleine Patientin an, ihre bösen Seiten in aller Ruhe 
und in aller Naturtreue vor mir auszubreiten. Sie werden mir antworten, 
das sei nichts Auffälliges. Ich weiß, wir treffen oft genug erwachsene 
Patienten, die ihre Symptome mit bösem Gewissen ängstlich vor aller 
Welt geheimhalten, und erst in der gesicherten und von Kritik freien 
Atmosphäre der Analyse beginnen sie preiszugeben, ja oft selbst hier erst 








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Zur Theorie der Kinderanalyse 159 





ihren wirklichen Wortlaut kennen lernen. Aber das bezieht sich doch 
immer nur auf die Schilderung der Symptome; das freundliche Interesse 
und das Ausbleiben der erwarteten Kritik reichen doch niemals dazu aus, 
Verwandlungen an ihnen vorzunehmen. Gerade das aber war es, was sich 
hier vollzog. Als zu meinem Interesse und dem Mangel an Verurteilung 
von meiner Seite auch noch eine Herabsetzung der strengen Anforderungen 
im Elternhause dazutrat, da geschah es, daß sich unter den Augen der 
Analyse plötzlich eine Angst in den dahinter versteckten Wunsch, eine 
Reaktionsbildung in den abgewehrten Trieb, eine Vorsicht in die dahinter 
liegende Morddrohung verwandelte. Die Angst vor dem Liebesverlust aber, 
die sich doch in starken Ausbrüchen einer solchen Umstellung entgegen- 
setzen sollte, meldete sich fast gar nicht. Der Widerstand von dieser Seite 
war geringer als der von irgend einer anderen. Es war, als ob das kleine 
Mädchen sagen würde: „Wenn du es nicht so arg findest, dann finde ich 
es auch nicht so arg.“ Und in dieser Verminderung ihrer Forderungen 
an sich selbst vollzog sie mit dem Gang der Analyse fortschreitend 
allmählich wieder die Einverleibung all der Strebungen, die sie vorher 
mit solchem Kraftaufwand von sich gewiesen hatte: der inzestuösen Liebe 
zum Vater, den Männlichkeitswunsch, die Todeswünsche gegen die 
Geschwister, die Anerkennung ihrer kindlichen Sexualität, und stockte nur 
mit dem einzig ernsthaften Widerstand eine Weile vor dem, was ihr als 
das Böseste von allem erschien, der Anerkennung des direkten Todes- 
wunsches gegen die Mutter. 

Das aber ist nicht das Benehmen, das wir von einem regelrechten Über-Ich zu 
sehen gewohnt sind. Wir lernen doch am erwachsenen Neurotiker, wie unan- 
greifbar durch die Vernunft das Über-Ich ist, wie es sich jedem Versuch der 
Beeinflussung von außen standhaft widersetzt und wie es sich in seinen 
Forderungen nicht herabmindern läßt, ehe wir es nicht in der Analyse 
historisch zersetzt und jedes einzelne Gebot und Verbot auf die Identi- 
fizierung mit einer der in der Kindheit wichtigen und geliebten Personen 
zurückgeführt haben. 

Meine Damen und Herren, ich meine, wir sind hier auf den wichtigsten 
prinzipiellen Unterschied zwischen der Erwachsenenanalyse und der 
Kinderanalyse gestoßen. Wir befinden uns in der Situation der Erwachsenen- 
analyse, wo das Über-Ich seine von der Außenwelt unbeeinflußbare Selb- 
ständigkeit bereits erreicht hat. Hier haben wir nichts anderes zu tun, als 
alle dem Es, dem Ich und dem Über-Ich angehörigen Strebungen, die an 
der Bildung des neurotischen Konflikts beteiligt waren, durch Bewußt- 
machung auf das gleiche Niveau zu heben. Auf diesem neuen Niveau des 
Bewußten wird dann der Kampf in neuer Weise ausgetragen und zu einem 


— 
er Be | 
160 Anna Freud 








anderen Ende geführt. Zur Kinderanalyse aber müssen wir alle jene Fälle 
rechnen, bei denen das Über-Ich noch keine rechte Selbständigkeit erlangt 
hat, noch allzu deutlich seinen Auftraggebern, den Eltern und Erziehungs- 
personen zuliebe arbeitet -und in seinen Forderungen alle Schwankungen 
des Verhältnisses zu diesen geliebten Personen wie auch alle Veränderungen 
in deren eigenen Ansichten mitmacht. Auch hier arbeiten wir wie in der 
Erwachsenenanalyse rein analytisch, soweit es sich darum handelt, schon 
verdrängte "Teile des Es und des Ich aus dem Unbewußten zu befreien. 
Die Arbeit am kindlichen Über-Ich aber ist eine doppelte: analytisch in 
der historischen Zerlegung von innen her, soweit das Über-Ich schon 
Selbständigkeit erlangt hat, aber außerdem erzieherisch beeinflussend von 
außen her durch Veränderungen im Verhältnis zu den Erzieherpersonen, 
durch die Schaffung neuer Eindrücke und durch die Revision der An- 
forderungen, die von der Außenwelt an das Kind gestellt werden. 

Kehren wir hier noch einmal zu meiner kleinen Patientin zurück. 
Wäre sie nicht als sechsjähriges Kind in Behandlung gekommen, dann 
wäre ihre infantile Neurose vielleicht wie so viele andere in eine Spontan- 
heilung ausgelaufen. Als ihr Erbe hätte sich dann allerdings ein strenges 
Über-Ich aufgerichtet, das dem Ich starre Forderungen präsentiert und 
sich jeder späteren Analyse als schwer überwindlicher Widerstand entgegen- 
gesetzt hätte. Aber ich meine: dieses strenge Über-Ich steht am Ausgang 
und nicht am Anfang der kindlichen Neurose. 

Ich beziehe mich zur Erläuterung des hier Gesagten noch auf eine 
Mitteilung, die Dr. M. W. Wulff gerade gleichzeitig in unserer Zeit- 
schrift macht.! Er berichtet dort über phobische Angstanfälle bei einem | 
eineinhalbjährigen Mädchen. Die Eltern dieses Kindes waren offenbar zu 
früh mit Reinlichkeitsanforderungen an es herangetreten. Die Kleine konnte 
diesen Ansprüchen nicht nachkommen, begann verstört zu werden, und 
fürchtete sich, man könnte sie fortschicken. Ihre Angst steigerte sich zu 
Anfällen, wenn es dunkel wurde, bei fremden Geräuschen, z. B. wenn 
jemand an die Türe klopfte. Sie wiederholte immer wieder die Frage, ob 
sie auch gut sei, und die Bitte, man solle sie doch nicht weggeben. Die 
besorgten Eltern wendeten sich an Dr. Wulff um Rat. 

Ich meine, das Interessante an dieser frühen Krankheitserscheinung ist, 
daß die Angst der Kleinen, die Dr. Wulff auch sofort als Angst vor 
dem Liebesverlust bezeichnet, sich in nichts von der Gewissensangst eines 
erwachsenen Neurotikers unterscheidet. Sollen wir aber in diesem Fall an 
eine so frühe Entwicklung des Gewissens, also des Über-Ichs, glauben? 





ı) Internationale Zeitschrift f. PsA., Band XIII, Heft 3 (19>7). 


Zur Theorie der Kinderanalyse 161 





Dr. Wulff erklärt den Eltern, daß das kleine Mädchen offenbar die 
Anforderung der Reinlichkeit aus irgend einem Grund noch nicht ver- 
tragen kann, und rät ihnen, die Erziehung in dieser Hinsicht noch etwas 
aufzuschieben. Die Eltern sind verständig genug, nachzugeben, sie setzen 
dem Kind auseinander, daß sie es auch lieb behalten, wenn es sich naß 
macht, und versuchen es, so oft das Nässen vorkommt, immer wieder mit 
Liebesversicherungen zu beruhigen. Der Erfolg ist, wie Dr. Wulff 
schreibt, frappant; nach einigen Tagen ist das Kind ruhig und angstfrei. 

Eine solche Therapie ist natürlich nur sehr selten und nur bei sehr 
kleinen Kindern möglich; ich möchte nicht den Eindruck bei Ihnen er- 
wecken, daß ich sie als die einzig mögliche empfehle. Aber Dr. Wulff 
hat hier die therapeutische Probe gemacht, die einzige, die uns Aufschluß 
über das Kräftespiel geben kann, das der Angst zugrunde liegt. Wäre das 
Kind wirklich an einer zu strengen Forderung des Über-Ichs erkrankt 
gewesen, so hätten die Versicherungen der Eltern ja gar keinen Einfluß 
auf sein Symptom haben können. Wenn aber die Ursache seiner Angst 
die reale Furcht vor dem Mißfallen der wirklich in der Außenwelt vor- 
handenen Eltern — nicht ihrer Imagines — war, dann ist es leicht ver- 
ständlich, daß sich seine Krankheit beseitigen ließ. Dr. Wulff hatte eben 
ihre Ursache aus der Welt geschafft. 

Eine ganze Anzahl anderer kindlicher Reaktionen läßt sich in gleicher 
Weise nur aus dieser Beeinflußbarkeit des Über-Ichs in frühen Jahren 
erklären. Durch Vermittlung von Dr. Ferenczi erhielt ich Einblick in die 
Aufzeichnungen einer Lehrerin an einer der modernen Schulen Amerikas, 
der Walden School. Diese psychoanalytisch gebildete Lehrerin schildert, 
wie neurotische Kinder aus strengem Milieu, die noch im Kindergarten- 
alter in ihre Schule eintreten, sich nach einer mehr oder weniger kurzen 
Zeit der erstaunten Zurückhaltung in die außerordentlich freie Atmosphäre 
einleben und allmählich ihre neurotischen Symptome, meist Reaktionen 
auf die Onanieabgewöhnung, verlieren. Wir wissen, ein ähnlicher Effekt 
wäre beim erwachsenen Neurotiker unmöglich. Je freier das Milieu ist, 
in das er sich versetzt fühlt, desto mehr steigert sich seine Angst vor 
dem Trieb und mit ihr seine neurotischen Abwehrreaktionen, seine Symptome. 
Die Forderungen, die sein Über-Ich an ihn stellt, sind durch das ihn 
umgebende Milieu nicht mehr beeinflußbar. Das Kind dagegen, das ein- 
mal mit der Herabminderung seiner Forderungen anfängt, ist viel eher 
geneigt, darin sehr weit zu gehen, sich mehr zu erlauben, als sogar die 
freieste Umwelt ihm zu gestatten bereit ist. Auch in diesem Punkt kann 
es dann die Beeinflussung von außen nicht entbehren. 

Und nun zum Schluß noch ein sehr harmloses Beispiel. Ich hatte vor 





162 Anna Freud 





kurzem Gelegenheit, das Gespräch eines fünfjährigen Jungen mit seiner 
Mutter zu belauschen. Dem Kleinen war es eingefallen, sich ein lebendiges 
Pferd zu wünschen; die Mutter sträubte sich aus guten Gründen, ihm 
diesen Wunsch zu erfüllen. „Es macht nichts”, sagte er darauf, gar nicht 
niedergeschlagen. „Dann wünsche ich es mir eben zum nächsten Geburts- 
täg.“ Die Mutter versichert, auch da werde er es nicht bekommen. „Dann 
wünsche ich es mir zu Weihnachten“, meint er, „da bekommt man doch 
alles.“ Nein, nicht einmal zu Weihnachten, versucht die Mutter ihn zu 
enttäuschen. Er denkt einen Augenblick nach. „Und es macht doch nichts“, 
sagt er dann triumphierend. „Dann kaufe ich es mir eben selbst. Denn 
ich erlaube es mir.“ Sie sehen, meine Damen und Herren, schon 
zwischen dieser inneren Erlaubnis und dem von außen aufgezwungenen 
Verbot entsteht der Konflikt, der dann alle möglichen Ausgänge nehmen 
kann: in Auflehnung und Dissozialität, in Neurose, glücklicherweise auch 
häufig in Gesundheit. 

Jetzt aber noch ein Wort über die pädagogische Einstellung des Kinder- 
analytikers. Wenn wir erkannt haben, daß die Mächte, mit denen wir bei 
der Heilung der kindlichen Neurose zu kämpfen haben, nicht nur innere 
sind, sondern zum Teil auch äußere, dann haben wir auch ein Recht 
zu fordern, daß der Kinderanalytiker die äußere Situation, in der das Kind 
steht, richtig einzuschätzen versteht, ebenso wie wir verlangen, daß er die 
innere Situation des Kindes zu erfassen vermag. Für diesen Teil seiner Aufgabe 
aber braucht der Kinderanalytiker die theoretische und praktische pädagogische 
Kenntnis. Sie ermöglicht es ihm, die Erziehungseinflüsse, unter denen das 
Kind steht, zu durchschauen, zu kritisieren und — wenn es sich als not- 
wendig erweist — den Erziehern des Kindes für die Dauer der Analyse 
ihre Arbeit aus der Hand zu nehmen, um sie selbst zu verrichten. 





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Über einen Antrieb bei der Bildung des 
weiblichen Über-Ichs 


Vortrag auf dem X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Innsbruck am I. September 1927 
Von 
Hanns Sachs 


Berlin 


Das Material, an welchem ich die im Folgenden geschilderten Eindrücke 
und Erfahrungen gewonnen habe, ist insofern eigenartig, als es nicht eine 
Mischung verschiedenartiger weiblicher Typen enthält, sondern — als natürliche 
Folge meines Berufes als Lehranalytiker — sich fast ausschließlich aus Frauen 
zusammensetzt, die sogenannten männlichen Berufen angehörten oder sich 
darauf vorbereiteten, und bei denen unzweifelhaft sowohl eine überdurch- 
schnittliche Intelligenz als auch eine besonders weit gediehene Charakter- 
entwicklung gegeben war. Man kann darin eine Fehlerquelle erblicken 
und vermuten, daß das, was ich als weibliche Charakteristika zu finden 
geglaubt habe, in Wirklichkeit männliche Eigenschaften seien, die nicht 
der Frau im allgemeinen, sondern ausschließlich diesem besonders gearteten 
Frauentypus zukomme. Dem gegenüber darf ich darauf verweisen, daß 
ich für mein Material nur solche Analysandinnen berücksichtigt habe, die 
in ihrem Wesen und in ihrer Lebensweise nichts auffällig Viriles zeigten, 
die auch weder in Bezug auf Neurose noch auf Perversion, insbesondere 
auch nicht in der Intensität ihrer unbewußten Homosexualität eine 
erhebliche Abweichung von der Norm des modernen Kulturmenschen 
zeigten. Besonderes Gewicht habe ich darauf gelegt, daß das Liebesleben 
ausnahmslos mit normal weiblichen Gefühlsreaktionen ausgestattet war. 
Ich darf daher wohl annehmen, daß die Sonderart meines Materials nicht 
als Fehlerquelle zu werten ist, sondern daß vielmehr gerade dieses 
Material eine besonders günstige, anderen Analytikern nicht im selben Maß 
zugängliche Möglichkeit darstellt, das weibliche Über-Ich dort zu studieren, 
wo es besser ausgebildet und daher leichter erforschbar ist, als dies bei 


164 Hanns Sachs 





der neurotisch erkrankten oder bei der normalen Durchschnittsfrau der 
Fall ist." 

Ich stelle die an mehreren Fällen erworbenen Eindrücke nur an einem 
einzigen dar, der als Musterbeispiel dienen kann, nicht nur weil das 
betreffende Phänomen an ihm deutlich hervortritt, sondern auch weil er 
durch die Konzentrierung auf den Abschluß der Analyse eine so klare und 
übersichtliche Darstellung ermöglicht, wie dies bei der analytischen Technik 
nur ausnahmsweise der Fall ist. Es handelt sich um eine junge, noch nicht 
5ojährige Frau von besonderer Intelligenz und vielseitiger Begabung, die 
mit hervorragenden Charaktereigenschaften Hand in Hand gehen. Ein sehr 
hervorstechender Zug an ihr ist die besondere Anspruchslosigkeit und 
Bedürfnislosigkeit. Sie verlangt für sich weder schöne Kleider noch Schmuck, 
noch bequeme Wohnung, ist gegen die Qualität ihres Essens und Trinkens 
vollkommen gleichgültig, kurzum, sie ist mit allen zufrieden, sobald es 
hinreicht, um ihre außerordentlich anstrengende Tätigkeit ohne Gesund- 
heitsschädigung zu ermöglichen. Dieser Verzicht ist ihr vollkommen 
natürlich und selbstverständlich, er bedarf keines inneren Kampfes und 
keiner Selbstüberwindung, geschieht ohne Affektation und Überheblichkeit, 
auch ohne daß sie an dem entgegengesetzten Verhalten anderer ungünstige 
Kritik übt. Von ihrer Familiengeschichte ist hier nur so viel von Interesse, 
daß sie eine zwei Jahre und zwei Monate jüngere Schwester und einen 
etwa fünf Jahre jüngeren Bruder hat. Die Darstellung dessen, was die 
Analyse zu unserem Problem beigetragen hat, dreht sich ausschließlich 
um einen Iraum, den die Analysandin am Tage vor der letzten Analysen- 
stunde geträumt hat, und um dessen Vor- und Nachgeschichte. 

Am Traumtage verspürte sie schon von morgens an einen guten 
Appetit und eine bei ihr ganz ungewöhnliche Aufmerksamkeit auf die 
Qualität des Essens. Sie war mitdem, was sie vorgesetzt erhielt, unzufrieden 
und gab diesem Gefühl wiederholt entschiedenen, wenn auch scherzhaft 
eingekleideten Ausdruck. Besonders ärgerlich war sie über die Bevorzugung, 





ı) Meine Beobachtungen berühren sich an einem Punkte mit der Darstellung 
der weiblichen Sexualität durch Helene Deutsch. Die Beziehung zwischen der 
Entwicklung der Genitalität und der Oralerotik hat Rank (Zur Genese der 
Genitalität, diese Zeitschrift, Band XI, ı925) dargestellt, doch unterscheidet sich 
meine Auffassung erheblich von der seinen, da er diese Beziehung bei Knaben und 
Mädchen als gleich bedeutungsvoll ansieht, während hier die Ansicht vertreten wird, 
daß sie beim Mädchen sehr viel inniger ausfällt und für die Charakterbildung 
besondere Bedeutung behält. Meine Darstellung bezieht sich auch im Wesentlichen 
auf die Epoche des Unterganges des Ödipuskomplexes, nicht auf die von Rank 
rekonstruierte Urzeit. Mit der Arbeit von Müller-Braunschweig (diese Zeit- 
schrift, Band XII, ı926), die sich mit demselben Thema beschäftigt, hat die meinige 
kaum irgendwelche Berührungspunkte. 





Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ichs 165 





die eine Hausgenossin, die vor wenigen Wochen ein Kind bekommen 
hatte und es selber nährte, in Bezug auf die Nahrung genoß. Diesem 
Neid gab sie natürlich keine Worte, aber sie empfand ihn deutlich und 
wunderte sich selbst darüber. Am Abend war sie mit ihrem Manne und 
der erwähnten Hausgenossin bei einem Ehepaar eingeladen, das ebenfalls 
seit kurzer Zeit ein Kind hatte, welches aber mit der Flasche ernährt 
wurde. Natürlich drehte sich das Gespräch der beiden Mütter hauptsächlich 
um die Ernährung ihrer Kinder. Auch bei diesem Besuch empfand sie 
lebhaften Appetit und aß, da ihr das Essen dort besonders gut schmeckte, 
mehr als sonst. Nach Hause gekommen, suchte sie die Toilette auf, hatte 
eine Stuhlentleerung, welche sie mit ungewöhnlichem Interesse besichtigte, 
wobei sie Befriedigung bezüglich Quantität, Konsistenz und Farbe empfand. 
Sie sprach diese Befriedigung gleich nachher auch ihrem Manne gegenüber 
aus. Ich muß hier einfügen, daß die Verdrängung des Analen, und zwar 
insbesondere das Schamgefühl hinsichtlich des Aussprechens aller dahin 
gehörigen Dinge, bei dieser Analysandin ganz ungewöhnlich stark betont 
war, so daß es in der Analyse jedesmal die größten Kämpfe setzte, wenn 
sie einen derartigen Einfall gehabt hatte und berichten sollte. Diese sonst 
so mächtige Reaktionsbildung war an jenem Abend plötzlich außer Tätigkeit 
gesetzt. In der Nacht hatte sie folgenden Traum: 

„Ein Raum, von dessen Einrichtung mir etwas wie ein großer, vielleicht 
länglicher Tisch in Erinnerung ist. Dieser Tisch steht zwischen mir und 
meiner Mutter. Ich sehe jedenfalls nur die obere Körperhälfte meiner 
Mutter, vielleicht, daß sie am Tisch sitzt. Ich sehe auch, daß sie eine Art Hemd- 
bluse anhat, wie man sie früher trug, aber mit zurückgeschlagenem, weit 
geöffnetem Kragen, so daß ich ihren Hals und auch etwas von der Brust 
sehe, weniger deutlich die Brust, mehr die Brustbeingegend. Ich selbst 
komme mir klein, also nicht erwachsen vor. Ich verlange von ihr: ‚Gib mir 
von der Milch.“ Es schwebt mir dabei etwas wie eine Flasche vor, in der 
Milch ist. Jedenfalls weiß ich aber deutlich, daß es sich um die Milch 
handelt, die für meine jüngere Schwester bestimmt ist. Meine Mutter lehnt 
meine Bitte ab, mit der Begründung, die Milch sei für meine Schwester. 
Darauf gerate ich in eine kolossale Wut. Ich schimpfe, wobei ich deutlich 
das Gefühl habe, ich schimpfe mich in die Wut hinein, ich betone und 
steigere bewußt meinen Arger. ‚Was, — sage ich ungefähr, — ‚die muß 
also alles haben? Ich wollte ja eigentlich gar nicht die Milch selbst, ich 
wollte nur sehen, ob du eine gute Mutter bist. Nun weiß ich Bescheid, 
Alles wird in die andere hineingestopft, obwohl sie schon dick genug ist. 
Und mir, wo ich so viel arbeite und eine Erholung brauchte, eönnst du 
nicht einen Schluck Milch.“ Während ich so schimpfe, und zwar sehr laut 


166 Hanns Sachs 





und energisch, werde ich immer empoörter, habe das Gefühl dabei, im Recht 
zu sein, etwas wie eine große Gemeinheit entdeckt zu haben. Schließlich 
greife ich etwas auf, was mir gerade in die Hände fallt, und schleudere 
es mit ganzer Kraft gegen meine Mutter. Was es ist, weiß ich nicht, 
etwas wie ein schwerer Gegenstand. Ich weiß aber, daß es meine Mutter 
etwa in der Magengegend trifft, und zwar an einer entblößten Körperstelle. 
Ich bin damit ganz zufrieden, es tut mir überhaupt nicht leid, sie vielleicht 
verletzt zu haben, im Gegenteil, ich freue mich darüber,“ 

Nach dem Erwachen fühlte die Analysandın Magenschmerzen, die sie 
auf das viele Essen vom Vorabend zurückführte, und beschloß an diesem 
Tage zu fasten, resp. nur flüssige Nahrung zu sich zu nehmen. Sie wollte 
gegen das Magendrücken ein Glas Rum trinken, verschüttete aber den 
Inhalt desselben beim Austrinken zum größten Teil auf ihr Kleid. Nicht 
besser ging es ihr mit einem Kognakbonbon. Sie ging dann aus und es 
fiel ihr plötzlich ein, sich Sahne statt der sonst üblichen Milch zu kaufen. 
Sie tat dies auch, kam damit nach Hause, aber als sie die Sahne in den 
Kaffee schütten wollte, war sie wiederum ungeschickt und überschüttete 
den größten Teil. 

Der Traum scheint auf den ersten Blick ein einfacher „Bestätigungs- 
traum“ zu sein, der das, was man lange in mühsamer Arbeit ans Licht 
gebracht hat, vollkommen klar und rückhaltslos ausspricht. Die nähere 
Betrachtung beweist aber, daß die Traumentstellung hinsichtlich des 
wichtigsten Elementes doch wirksam war, denn die darin enthaltene orale 
Enttäuschung und die dazugehörigen Affekte gelten im letzten Grunde 
nicht der Mutter, sondern dem Vater. 

In dieser Hinsicht ist es vor allem beweiskräftig, daß der Traum vor 
der letzten Analysenstunde geträumt wurde und unzweifelhaft die Reaktion 
auf das Ende der Analyse darstellt, das mit einer oralen Enttäuschung der 
Infantilzeit identifiziert wird. In der ganzen, mehr als zweijährigen Analyse 
hatte die Analysandin eine außerordentlich deutliche, unverkennbare Vater- 
übertragung gezeigt, so daß es als ausgeschlossen gelten darf, daß darin 
am letzten Tage eine grundlegende Änderung eingetreten sein sollte. 
Auch hatte die bisherige Übertragungsform es schon deutlich werden lassen, daß 
dabei auf den Vater gerichtete orale Wünsche eine entscheidende Rolle 
spielten. Unter den zärtlichen Übertragungsphantasien war eine besonders 
deutlich hervorgetreten, die darin bestand, vom Analytiker auf den Schoß 
genommen zu werden und den Kopf an seine Brust zu legen und dort 
zwischen Rock und Weste zu verbergen. In der Analyse hatte sie es in 
Zeiten besonders zärtlicher Übertragung manchmal nicht über sich gebracht, 
der analytischen Grundregel zu gehorchen und ihre Einfälle auszusprechen, 





Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ichs | 167 





sondern war öfters eine Weile lang schweigend dagelegen, um sich ganz 
einem angenehmen Gefühl zu überlassen, für das sich ihr als stereotype 
Bezeichnung die Worte „warm und süß“ aufdrängten, — eine Bezeichnung, 
die ja deutlich genug auf die nach der Muttermilch strebenden oralen 
Wünsche hinweist. Gelegentlich war als Einfall mit „Unwirklichkeits- 
charakter“ der Wunsch aufgetaucht, vom Analytiker gefüttert zu werden. 
Besonders bedeutsam war, daß die Analysandin der letzten Stunde der 
Analyse noch ein Nachspiel gab, durch das die analytische Arbeit erst 
eigentlich beendet wurde. Auf dieses Nachspiel, das die Analysandin später 
selbständig deutete, kann ich hier leider nicht eingehen. Nur das eine 
sei bemerkt, daß es darin gipfelte, daß sie dabei schließlich das Gefühl 
hatte, sie habe durch ihre Handlungsweise den Analytiker gequält, und 
darüber Befriedigung empfand. Sie mußte offenbar die Rachegelüste, die 
sie im Traum gegen die Mutter losließ, in Wirklichkeit am Vater-Analytiker 
befriedigen. Auch außerhalb der Übertragung, im sonstigen Leben der 
Analysandin, finden sich Tatsachen, aus denen hervorgeht, daß die oralen 
Wünsche ‚und deren Enttäuschung in einer höchst bedeutungsvollen 
Epoche der Infantilzeit am Manne erlebt worden waren. Dahin gehört vor 
allem die Art ihrer Liebeswahl. Während sie als Studentin von einem 
Kameraden auf das Examen vorbereitet wurde, war zwischen ihnen ein 
Streit vorgefallen, infolgedessen der Betreffende ihr erklärte, daß er den 
Umgang mit ihr aufgeben wolle. Von da an verliebte sich das viel- 
umworbene Mädchen aufs heftigste in den abweisenden Mann und brachte 
es nach Überwindung großer Widerstände dahin, daß er ihre Liebe er- 
widerte und sie heiratete. Dieser Mann hatteaußerordentlich strenge Grundsätze, 
durch die viele, sonst als harmlos geltenden Genüsse verpönt wurden, 
und stellte an die ohnehin äußerst bedürfnislose Frau immer neue 
Ansprüche der Entsagung. Sie sollte z. B. keine Schuhe, sondern nur 
Sandalen, Mäntel nur von Loden tragen usw. Sie fügte sich im allgemeinen, 
und wenn sie widersprach, geschah dies ohne Affektaufwand. Nur einmal 
gab es ganz unerwartet eine heftige Szene. Der Mann hatte sie zwingen 
wollen, in einer kleinen, wenig appetitlichen Kneipe mit minderwertigem 
Essen Vorlieb zu nehmen. Sie sprang entrüstet auf und lief davon und 
der Mann mußte ihr nacheilen, um sie zu versöhnen. Am Essen lag ihr, 
wie schon erwähnt, im allgemeinen gar nichts, es war offenbar die ihr 
vom Manne aufgenötigte orale Versagung, gegen welche sie sich empört 
hatte. 

In der Analyse hatte eine am Vater erlebte Enttäuschung schon 
lange eine große Rolle gespielt. Sie war immer wieder von ihr agiert und 
mit Benützung der dabei hervortretenden Einzelheiten von uns rekonstruiert 


Eee U u 





168 Hanns Sadıs 





worden; teilweise waren auch direkte Erinnerungen aufgetaucht. Das 
Wichtigste aber hatte bis zum Schluß gefehlt und konnte erst durch die 
Deutung dieses Traumes der Analyse eingefügt werden. 

Daß das Saugen an der Mutterbrust, resp. das Trauma der Entwöhnung 
dem Phänomen zugrunde liegt, wurde bereits hervorgehoben. Wie aus den 
mitgeteilten Einzelheiten hervorgeht, handelt es sich dabei nicht etwa um 
eine Totalregression zur Mutter, im Gegenteil, die Libido bleibt im Sinne 
des normalen (positiven) Ödipuskomplexes ganz eindeutig beim Vater ver- 
ankert und bedient sich — unter dem Druck der erzwungenen Entsagung — 
der regressiven Ausdrucksform des frühesten und eindrucksvollsten oralen 
Erlebnisses. Diese, ausschließlich auf den Vater bezogene Wiederbelebung 
des oralen Stadiums ist in dem geschilderten Fall besonders deutlich und, 
wie ich glaube, für die Frau überhaupt typisch, weil sie bei ihr regel- 
mäßiger eintritt und für ihre Charakterentwicklung besonders folgenschwer 
wird. 

Dieser Hartnäckigkeit und stürmischen Kraft der auf den Vater gerichteten 
oralen Wünsche bin ich immer wieder und wieder bei normalen Frauen 
begeenet. Sie war fast stets tief in der Verdrängung vergraben und konnte 
erst durch die Analyse an das Tageslicht gebracht werden. Der Weg der 
Entwicklung scheint regelmäßig derselbe zu sein. Wenn das kleine Mädchen 
die Tatsache der Kastration akzeptiert hat und infolgedessen die Klitoris- 
masturbation als unbefriedigend empfindet; wenn auch der genitale Wunsch 
nach dem Vater, resp. nach dem Kind, das der Vater schenken sollte, 
gescheitert ist, dann macht das kleine Mädchen eine letzte Anstrengung, 
um am Ödipuskomplex, d. h. also an der Vaterfixierung festzuhalten, indem 
es die ursprünglich an der Brustwarze der Mutter befriedigten oralen 
Wünsche mit großer Intensität auf den Vater überträgt. Besonders deutlich 
ist diese Phase natürlich in denjenigen Fällen, wo, wie in dem hier 
geschilderten, zur kritischen Zeit ein jüngeres Geschwister erscheint und 
von der Mutter gestillt wird. Jedenfalls nimmt sich diese orale Regression 
den Vater, nicht die Mutter zum Sexualobjekt. Es kann natürlich nicht 
übersehen werden, daß die Verschiedenheiten der Sexualkonstitution und 
des frühkindlichen Erlebens auch hier eine große Rolle spielen und daß 
nach Maßgabe dieser Faktoren auch andere, insbesondere anale 
Komponenten. hineinspielen. Der von Radö aufgestellte „alimentäre 
Orgasmus“ dürfte gleichfalls eine bedeutsame Rolle spielen. Die unbewußten 
Phantasien, in die diese Phase ausmündet, können dementsprechend sehr 
verschieden sein. Nach meiner Erfahrung handelt es sich bald um das 
Saugen am Penis des Vaters, bald um das Abbeißen desselben, gelegentlich 
um das Verschlucken von Samen, in einem Fall sehr deutlich um die 





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- — ps = 





Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Obericht 169 


Phantasie der oralen Aufnahme von Kot und in einem anderen — aller- 
dings bei einem neurotischen Mädchen — um das Trinken von Urin. Die 
übrigen Partialtriebe spielen natürlich auch hinein und durch sie werden die 
oralen Phantasien in der mannigfaltigsten Weise modifiziert und variiert, 
eventuell auch durch einen von ihnen — am ehesten durch den Wunsch, dem 
Vater ein Kind zu schenken — ganz ersetzt. Meine Aufstellung will nur 
besagen, daß diese Regression aufs Orale bei gleichzeitigem Festhalten am 
Ödipusobjekt bei der Frau häufig besonders intensiv ausfällt und für ihre 
Charakterentwicklung entscheidende Bedeutung gewinnen kann. 
Die Vermutung liegt nahe, daß die intensive Tendenz, sich den 
Vater auf oralem Wege einzuverleiben, eine Folge der in dieser Zeit zum 
erstenmal dunkel auftretenden vaginalen Sensationen ist, die, weil sie sich 
an der noch unentdeckten Vagina nicht durchsetzen können, auf den 
Mund verschoben werden. Man könnte darin ein Stück der Entwicklung 
sehen, das einem Teil der phallischen Phase beim Knaben, die vom Mädchen 
unter dem Druck des Penismangels nicht mehr mitgemacht werden kann, 
entspricht. Mögen diese Vermutungen nun berechtigt sein oder nicht, die 
Tatsache, auf die sie sich gründen, stammt aus der mehrfach überprüften 
Erfahrung, daß diese oralen Wünsche ein Stück der Entwicklung zur 
Weiblichkeit enthalten, das beim Manne ohne Schaden fehlen kann. Ich 
habe derartig intensive orale Triebziele und die sie ausdrückenden Phantasien 
niemals bei annähernd normalen Männern gefunden, sondern nur bei 
solchen, die in sehr erheblichem Maße abnorm — sei es neurotisch oder 
pervers — waren. Am stärksten bei einem Masochisten, bei dem, als die 
Analyse seine masochistische, d. h. passiv-feminine Einstellung erschüttert 
hatte, Perioden einer Art oralen Taumels auftraten, die einen plötzlichen 
Durchbruch oraler ubw Phantasien zur Aktion bedeuteten; während eines 
solchen Stadiums verschluckte er einmal zum Zwecke sexueller Befriedigung 
seinen Samen und ein anderesmal seinen Kot. 

An diesen, auf den Vater gerichteten oralen Wünschen des Mädchens, 
in welche der Ödipuskomplex ausklingt, und die deshalb die Vertretung 
für den gesamten Affektinhalt des Ödipuskomplexes zu übernehmen im- 
stande sind, findet die Über-Ich-Bildung des Mädchens einen wichtigen 
Anknüpfungspunkt. Der versagende Vater wird introjiziert und so der Wunsch, 
den Vater in sich aufzunehmen, doch noch befriedigt. Auf diesem Wege 
ermöglicht sich das Mädchen die Ablösung vom realen Vater. Zu einer 
wirklichen Über-Ich-Bildung kommt es also nur dort, wo die Versagung 
eingetreten ist und den endgültigen Verzicht auf den Vater zur F olge 
gehabt hat. Dies war in dem bisher geschilderten Falle sehr deutlich, denn 
die Analysandin hatte in Bezug auf ihre Mutter eine starke Affekteinste]- 


Int. Zeitschr, f. Psychoanalyse, XIVia. 12 


170 Hanns Sadıs 


lung, und zwar mit voller Ambivalenz, beibehalten. Der Vater hingegen war 
ihr vollkommen gleichgültig geworden, sie fühlte sich außerstande, für ihn 
Zärtlichkeit oder Haß zu empfinden. In der analytischen Übertragung lebte 
der Ödipuskomplex allerdings wieder auf und erwies sich insofern als noch 
erhalten; sein wichtigstes Ziel war aber — wie aus dem Mitgeteilten her- 
vorgeht — nicht die genitale, sondern die orale Befriedigung. Wo der 
Ödipuskomplex an dieser Versagung nicht zugrunde gegangen ist, sondern, 
wie dies so häufig geschieht, eine durchs Leben dauernde Bindung der 
Tochter an den Vater erhalten blieb, kann eine selbständige Über-Ich- 
Bildung nicht stattfinden. Das Über-Ich solcher Frauen ist sehr oft hoch 
entwickelt und mächtig, aber es liegt eigentlich kein eigenes, sondern ein 
durch Identifizierung mit dem Vater erworbenes, von ihm kopiertes Ich- 
ideal vor, wobei allerdings zuzugestehen ist, daß eine gute Kopie mehr 
wert sein kann als ein schlechtes Original. 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem hier geschilderten Beitrag 
zur Entstehung des weiblichen Über-Ichs und dem analogen Vorgang beim 
Manne liegt darin, daß das Über-Ich des Mannes aus der Kastrationsdrohung 
hervorgeht und deshalb dauernd den Charakter des Drohenden („du mußt 
so wie der Vater sein —“ oder „du darfst nicht wie der Vater sein — 
sonst... .“) behält, während das Über-Ich der Frau sich vielmehr auf 
die Forderung der Entsagung gründet. Der Unterschied ist allerdings nicht 
leicht festzustellen, denn die Drohung des männlichen Über-Ichs hat ja 
auch keinen anderen Zweck, als eine Entsagung zu erzwingen. Später soll 
an sozialen Phänomenen wo nicht ein Beweis, so doch wenigstens eine 
Illustrierung dieser Unterscheidung versucht werden. 

Nun zurück zu der Analysandin. Ihr Charakter hatte sich schon sehr 
frühzeitig, etwa vom fünften Jahr an, in der geschilderten Art der Ent- 
sagungsbereitschaft ausgebildet. Wenn sie zugleich mit ihren Geschwistern 
beschenkt wurde und als Älteste die Wahl haben sollte, so verzichtete sie 
gerne auf dieses Vorrecht. Wenn die anderen Geschwister sich um irgend 
ein Spielzeug balgten, so war sie stets bereit, ihr Anrecht darauf aufzugeben. 
Als ihre Eltern in Geldschwierigkeiten waren, verwendete sie heimlich das Geld, 
das sie zu ihrem Frühstück bekam, zur Anschaffung von Schulheften. Alles 
dies erschien ihr, wie gesagt, selbstverständlich, und mit eben dieser 
Selbstverständlichkeit stellte sie als kaum Erwachsene ihr Leben ganz in 
den Dienst einer Idee, der zuliebe sie nicht nur auf alle möglichen 
Annehmlichkeiten des Lebens verzichtete, sondern sogar auf den Beifall 
und die Anerkennung, die ihre mannigfache Begabung sonst gefunden hätte. 

Auch ihre Ansprüche auf Geldentlohnung beschränkte sie prinzipiell auf 
das für das Leben Notwendige. Diese Frau, deren ganzes Leben eine einzige 








Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblihen Über-Ics 171 
selbst auferlegte und bereitwillig getragene Entsagung war, zeigte in der 
Analyse eine unnachgiebig fordernde Form der Übertragung, die dem Typus 
nahestand, den Freud als nur „für Suppenlogik und Knödelargumente“ 
zugänglich bezeichnet hat. Ein stärkerer Kontrast als der zwischen dem 
Verhalten im Leben, das vom Über-Ich gelenkt war, und der Reaktion in 
der Analyse, die vom Unbewußten ausging, läßt sich nicht denken. Die 
stürmisch fordernde Übertragung setzte sehr bald nach dem Beginn der 
Analyse ein und hielt mit geringen Intervallen, in welchen die Verwand- 
lung der unerwidert gebliebenen Liebe in Haß vergeblich versucht wurde, 
bis zum Ende der Analyse an. 

Der Einfluß des Über-Ichs, der in der Übertragung vollkommen aus- 
geschaltet zu sein schien, kam in zwei Momenten doch noch voll zum 
Ausdruck. Einerseits darin, daß sich die Analysandin, so stürmisch ihre 
Gefühle und Wünsche waren, von jeder Zudringlichkeit, insbesondere von 
der leisesten Andeutung einer realen Aggression weit entfernt hielt und 
überhaupt dem von Freud geschilderten Typus insoferne nicht entsprach, 
als sie auch im stärksten Affekt die Einsicht nicht verlor und der Analyse 
dauernd zugänglich blieb. Andererseits — und dies ist wohl das bedeutsamere 
Moment — darin, daß diese Phantasien, die sie durch zwei Jahre lang fast 
unausgesetzt beschäftigten, doch durchaus verschwommen, ohne deutlichen, 
für das Bewußtsein faßbaren Inhalt blieben. Ausgenommen davon war nur 
die schon erwähnte Phantasie, den Kopf an die Brust des Analytikers zu 
lehnen, Im übrigen blieb alles undeutlich, nur das eine wurde dem 
Bewußtsein zugänglich, daß es sich dabei nicht um den Sexualakt, sondern 
um Formen infantiler Zärtlichkeit handelte, wie gestreichelt, auf den Schoß 
genommen und geküßt zu werden. 

Ich gehe nun zur Verdeutlichung meiner These zu einem entgegen- 
gesetzten Iypus über; während ich bisher mich mit dem Frauentypus be- 
schäftigt habe, der ein überdurchschnittlich stark entwickeltes Ichideal 
zeigt, will ich zur Gegenüberstellung denjenigen Typus heranziehen, bei 
dem dieses Ichideal besonders unentwickelt, in den ersten, primitiven 
Anfängen stecken geblieben ist. Ich habe keine Frau dieses Typus analysiert, 
aber Gelegenheit gehabt, einige durch längere Zeit und in entscheidenden 
Augenblicken ihres Lebens genau zu beobachten. Die Frauen, die ich hier 
meine, sind fast immer äußerlich ungewöhnlich reizvoll und auch 
menschlich, im persönlichen Verkehr ganz besonders angenehm — wenigstens 
für Männer, während sie zu anderen Frauen meist keine rechten Beziehungen 
zu finden wissen. Sie haben die Fähigkeit, auf die Eigenart, die Interessen, 
die Gedankenwelt des Mannes, mit dem sie sich gerade unterhalten, einzu- 
gehen, so daß dieser sich durchaus verstanden und dementsprechend stark 


12” 





angezogen fühlt. Man bemerkt auch mit Erstaunen, daß eine solche Frau, 
obwohl sie niemals einen abgeschlossenen Bildungsgang gehabt, auch nicht 
irgendwelche ernstere Studien getrieben hat, über eine Anzahl oft recht 
schwieriger Themen außerordentlich gut Bescheid weiß. Dem feineren 
Ohre wird es aber bald deutlich, daß das, was sie sagt, nicht von ihr 
stammt, sondern nur das Echo irgendeines Mannes bildet, dem sie ihre 
Kenntnisse und Anschauungen entlehnt hat. Man kann für jeden der 
Gegenstände, über die sie spricht, sei es nun Kunst oder Wissenschaft, 
Sport oder Religion, eine bestimmte Epoche ihres Lebens und einen be- 
stimmten Mann feststellen, von dem ihre Anschauungen herstammen. Sie 
hat auch gar nicht das Bestreben, diese Auffassungsweisen zu über- 
arbeiten und eine Einheit daraus herzustellen, sie behält vielmehr die 
individuelle Ausdrucksform der verschiedenen Männer einfach bei und 
stößt sich auch nicht daran, widersprechende Urteile, wenn sie verschie- 
dener Herkunft sind, einfach nebeneinander aufzustellen. Bis hierher ist 
an diesem Frauentypus nichts Merkwürdiges, man findet ja auch, wenn 
auch seltener, Männer, deren Anschauungen in ähnlicher Weise leicht auf 
verschiedene Autoritäten zurückzuführen sind. Ich glaube aber nicht, daß 
ein solcher Mann je das Bedürfnis hat, mit einer, für ihn eine derartige 
Autorität bildenden Person, auch wenn sie dem anderen Geschlechte an- 
gehört, in sexuelle Beziehungen zu treten. Bei diesen Frauen ist gerade das 
jedoch mit zwingender Regelmäßigkeit der Fall. Man kann vollkommen 
sicher damit rechnen, daß sie von allen den Männern, welche später einen 
Beitrag zu ihrem zusammengesetzten und unvollständigen Über-Ich ger 
liefert haben, verführt worden ist, oder daß sie, wo dies nicht möglich 
war, diese Männer verführt hat. Mit sexueller Bedürftigkeit ist dies nicht 
zu erklären, weil diese Frauen fast immer frigid sind. Ich hatte mir früher 
die Auskunft zurecht gemacht, daß die Ursache in dem nach dieser 
Form der Anerkennung verlangenden Narzißmus liege, mußte mir aber 
schon damals sagen, daß diese Erklärung unzureichend sei, weil die Tatsache 
des Sexualaktes keineswegs bei allen Männern als Beweis der Verehrung an- 
gesehen werden kann, ja manchmal geradezu von dem Gegenteil ab- 
hängig ist. Die richtige Erklärung finde ich darin, daß diese Frauen 
in einer primitiven Form der Über-Ich-Bildung steckengeblieben sind und 
einen Mann offenbar nur dann zum Über-Ich erheben können, wenn sie 
ihn vorher ganz real durch die Vagina (wohl als Ersatz der oralen Ein- 
verleibung) in sich aufgenommen haben. Eine solche Über-Ich-Bildung 
bleibt natürlich immer auf einer niedrigen Stufe stehen, sie ist nicht 
entpersönlicht und ohne wirklichen Einfluß auf das Ich. 

Es soll nun versucht werden, darzustellen, wie sich die hier vertretene 





y 


- a 


Über einen Antrieb bei der Bildung des weiblichen Über-Ics 173 





Behauptung zur bisherigen psychoanalytischen Erkenntnis verhält. Es stimmt 
gewiß gut dazu, daß die Zwangsneurose, in welcher die Desexualisation 
infolge des regressiven Ausweichens vor der Kastrationsdrohung eine so 
hervorragende Rolle spielt, wesentlich die Neurosenform des Mannes ist, 
während die Konversionshysterie die eigentliche Neurose der Frau genannt 
werden kann. Wir wissen, daß die Konversionshysterie eine fast voll- 
ständige Erreichung der Genitalorganisation zur Voraussetzung hat. Hier 
trifft sie nun mit der Entsagungsforderung des weiblichen Über-Ich zu- 
sammen, die ihr die restlose Ausbildung zur dGenitallust versagt. Die 
Libido bleibt dann gewissermaßen eingekeilt, da ihr auf der einen Seite 
die Möglichkeit der Regression ins anal-sadistische Stadium bereits abge- 
schnitten ist, während der Fortschritt zur vollen Genital-Organisation 
durch die Besonderheit des weiblichen Über-Ich gehindert wird. 

Unsere Anschauung kann auch dazu dienen, einen bisher ungelosten 
Widerspruch aus der Welt zu schaffen. Wie wir wissen, ist die Frau im 
Durchschnitt stärker narzißtisch als der Mann (Freud, Einführung des 
Narzißmus). Es ist nicht einzusehen, warum bei einer stärker narzißtischen 
Organisation der Liebesverlust als Krankheitsursache eine größere Rolle 
spielen sollte (Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S. 91), Man 
sollte im Gegenteil meinen, daß sie den Objektverlust besser verträgt. 
Dies wird besser verständlich, wenn wir annehmen, daß dort, wo der 
Ödipuskomplex des Knaben an der Kastrationsdrohung scheitert, beim 
Mädchen der Versuch gemacht wird, am Vater festzuhalten, sei es durch 


den Kindeswunsch, sei es — wie oben ausgeführt — durch orale Regression. 
Objektversagung wird daher — außer bei jenen Frauen, die sie für die 
Über-Ich-Bildung übernommen haben — durch das stärkere F esthalten 


am Narzißmus nicht aufgewogen. 

Hingegen hat die Entsagungsforderung des Über-Ich die bekanntlich 
bei der Frau viel stärker ausgeprägte Hemmung der Sexualität zur Folge, 
die sich häufig bis zur vollkommenen Frigidität steigert. Dabei ist das 
Verhalten vieler Frauen zu ihrer Frigidität durchaus bezeichnend: sie sind 
dagegen gleichgültig und finden sich leicht damitab, den Sexualakt als etwas 
Indifferentes oder Unangenehmes über sich ergehen zu lassen und zeitlebens 
auf das Erlebnis der vollen sexuellen Lust zu verzichten. 

Der Unterschied zwischen dem weiblichen und männlichen Ichideal, 
der für die Beobachtung so schwer zugänglich ist, läßt sich vielleicht am 
ehesten an sozialen Phänomenen und Typen illustrieren, wozu wieder 
ein Gegensatzpaar die beste Möglichkeit bietet: die Revolutionärin und 
die Heilige. 

Alle großen Theoretiker und Organisatoren der Revolution, von Robes- 


174 Hanns Sadıs 


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pierre bis Lenin, waren Männer. Wenn es aber wirklich losgehen 
soll, wenn es darauf ankommt, die Massen davon zu überzeugen, daß die Zeit 
der Entsagung und des Verzichtes vorüber ist, wenn es sich darum handelt, 
loszuschlagen und zuzuschnappen, dann ist bisher stets eine Frau — oder 
Frauen — in der ersten Reihe gestanden. So war es in der französischen 
Revolution, von der Schiller mit unbewußtem Verständnis des oralen 
Momentes gesungen hat: „Da werden Weiber zu Hyänen“, so war es bei der 
Pariser Kommune mit Louise Michel, so war es bei den sogenannten Nihilisten 
in Rußland (Vera Figner) und so wird es auch bei jeder künftigen Revolution 
sein. Hinsichtlich des religiösen Typus sei anstatt langwierigen historischen 
Materials auf die Darstellung in Anatole France’s genialem Meisterwerk 
„Thais“ hingewiesen. Dort schildert der Dichter auf der einen Seite 
Paphnuce und seine Genossen, die auf dem Wege der schwersten 
Selbstmarterung, durch Geißelung, Säulenstehen und andere ausgesuchte 
Folterqualen nach der Heiligkeit streben. Wie anders sieht dagegen die 
Askese der Frauen aus, ob sie nun zur Gruppe der „Marthes“ oder der 
„Maries“ gehören. Hier gibt es keine gräßlichen Seelenkrisen, keine 
Marterwerkzeuge, hier besteht die ganze Kasteiung in der Entsagung, die 
sich allerdings auf alle Güter des Lebens erstreckt und das ganze Dasein 
mit ihrer milden Eintönigkeit ausfüllt. Dieser Typus ist auch in der 
späteren Kirchengeschichte bei vielen weiblichen Heiligen und ekstatischen 
Nonnen anzutreffen. 

Zum Schlusse ist es unerläßlich, darauf hinzuweisen, daß die Begriffe 
„Männlich“ und „Weiblich“ im Psychologischen von außerordentlich 
unsicherem Inhalt sind (Freud), so daß die Einteilung so komplizierter 
Bildungen, wie es das Über-Ich ist, nach männlichen und weiblichen 
Formen immer etwas Mißliches haben wird. Zur Rechtfertigung dieser 
Ausführungen darf ich aber darauf hinweisen, daß sie den organischen 
Verschiedenheiten zwischen Mann und Frau entsprechen. Das Über-Ich 
des Mannes entsteht aus Furcht vor der Drohung, ein von ihm narzißtisch 
hochgeschätztes Stück seines Körpers zu verlieren; das weibliche Über-Ich 
wird nur dort erreicht, wo der notwendige Verzicht auf die Erlangung 
dieses Stückes zu einer dauernden Entsagungsforderung führt. 





Die ökonomischen Beziehungen zwischen dem Schuld- 
gefühl und dem weiblichen Narzißmus 
Vortrag auf dem X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Innsbruck am 1. September 1927 


Von 


J. Harnik 


Berlin 


Meine Damen und Herren! 
In meiner vor Jahren erschienenen Arbeit „Schicksale des Narzißmus 


bei Mann und Weib“* habe ich, auf Freud und Ferenczi fußend, den 
narzißtischen Körperstolz der Frau aus dem Kastrationskomplex, bzw. 
Penismangel derselben abgeleitet. Seither hat uns Freud die Erkenntnisse 
über den strukturellen Aufbau des seelischen Apparates geschenkt und 
gelehrt, daß die endgültige Gestaltung desselben durch die Aufrichtung des 
Über-Ichs, nach dem Untergang des Ödipuskomplexes sich vollzieht. Die 
narzißtische Besetzung des Ichs bezeichnete er als eine sekundäre, aus 
den aufgegebenen Objektbeziehungen entstandene. Hieraus ergeben sich 
neue Fragestellungen, besonders nach den Wechselwirkungen, die sich 
abspielen zwischen dem narzißtischen Verhalten des Ichs und den durch 
die Gewissensfunktion wirkenden Anforderungen des Über-Ichs. Die Erwar- 
tung wird rege, daß im weiblichen Seelenleben diese Relationen deutlicher 
und klarer zutage treten werden; wiederum verspricht hier das Studium 
krankhafter Veränderungen bestimmte Aufschlüsse. 

Angeregt wurde ich zu diesen Untersuchungen durch folgende Beobach- 
tung: Eine Frau, die sonst sehr narzißtisch ist, auf Kleidung und Körper- 
pflege sehr viel gibt, hatte in der Analyse auf eine außerordentliche Bes- 
serung ihrer vaginalen Empfindungsfähigkeit ‚mit intensivstem Häßlichkeits- 
gefühl (sagen wir also „Häßlichkeitswahn“) reagiert. Ein schwieriges und 
bedeutsames Stück Analyse zeigte, daß solches Ausmaß an sexueller Lust 
für ihr Unbewußtes (d. h. für ihr Über-Ich) „zu viel“ war, und führte 


A EP 


ı) Diese Ztschr., Bd. IX, 1923. 


176 J. Harnik 





dieses Schuldgefühl zunächst auf inzestuöse Erlebnisse der Pubertätszeit 
zurück. Der psychische Konflikt endete für die Patientin damals so, daß 
sie gezwungen war, die beginnende Genitalbereitschaft zu verdrängen und 
dafür gewisse, für ihr Ich wertvolle narzißtische Rekompensationen einzu- 
tauschen. Ich versichere Ihnen, daß die erwähnte Einschätzung des größeren 
sexuellen Genusses absolut unbewußt war, und daß die historische Zurück- 
führung in einer Analysenphase gelang, in der zeitweise Zustandsbilder 
auftraten, wie wir sie sonst nur aus den hypnotisch-kathartischen Behand- 
lungen kennen. Man könnte mir da entgegenhalten, solche Reaktion der 
Patientin wäre ein Anzeichen dessen, daß sie noch nicht genügend analysiert 
sei. Sie müsse weiter behandelt werden, damit sie schließlich Befriedigung 
ertragen kann, ohne unter die Wirkung der Schuldgefühle zu geraten. 
Gewiß ist das so, die Analyse ging auch weiter und in viel tiefere Schichten, 
aber das ändert nichts an der vorgefundenen und zu untersuchenden Tatsache. 

Machen wir hier lieber Halt, um die Frage aufzuwerfen, inwieferne 
man die sich von selbst ergebende Schlußfolgerung verallgemeinern kann. 
Da liegt es jaauf der Hand: das Strafbedürfnis fordert sexuelle Entbehrung, 
der Gehorsam diesem Gebot gegenüber ermöglicht eine kompensatorische 
Steigerung des narzißtischen Selbstgefühls. Nun, den Zusammenhang 
zwischen der Einschränkung der sexuellen Befriedigung und dem erhöhten 
weiblichen NarziBmus hat vor einiger Zeit Alice Sperber! erkannt und 
behauptet und an schönen Beispielen aus der Weltliteratur eindrucksvoll 
illustriert. Empirische Beobachtungen bei möglichst viel Frauen dürften 
diesen Tatbestand auch immer wieder zeigen. Allerdings beginnt die 
tiefere Forschung erst mit dieser Deskription. Die sexuelle Beschränkung 
ist der Ausfluß eines Strafbedürfnisses, Woher stammt dieses und warum 
wird im Falle des Ungehorsams gerade die Empfindung des Häßlichwerdens 
zum Ausdruck des Schuldgefühls? Ferner, ist der dargestellte Sachverhalt 
etwas für die weibliche Psyche Typisches? 

Die Frage nach der Herkunft des Schuldgefühls ist uns heute theoretisch 
nicht nur im geschilderten Falle, der ja (zufolge der Inzestbeziehung) gleich 
besonders kraß zu liegen schien, leicht zu beantworten. Diese Kranken- 
geschichte hat aber außerdem den Vorteil, Auskunft auch betreffs des 
zweiten Problems zu geben und dadurch weiterzuführen. Unsere Patientin 
hatte, soweit ihre (bewußte) Erinnerung zurückreicht, also seit dem Beginn 
der Latenzjahre, einen außerordentlichen Stolz auf ihr Aussehen und auf 
5 Körper entwickelt. Sie war natürlicherweise immer sehr auf Be 


ı) $S. „Seelische eacen des Alterns, der Togandlichkeit und der Schönheit.“ 
Imago, Bd. XL, 1925. 





1 —- . 


Die ökonom. Beziehungen zwischen dem Schuldgefühl u. d. weibl. Narzißmus 177 





Körpers an. Sie ging bei diesen Verrichtungen in der Wohnung nackt 
herum, denn sie hatte nichts zu verbergen, sie empfand sich rein und 
schön.! Die Mutter dagegen war inihren Augen häßlich und schmutzig 
und mußte ihren Leib unter der vielen nachlässigen Kleidung verbergen. 
Es stellte sich heraus, daß die Mutter „häßlich“ war, vor allem weil sie 
menstruierte, also sinnlich-schmutzig war im Urteil des die Ödipuswünsche 
verdrängenden Kindes.” Das kleine Mädchen hatte in seiner späteren Kind- 
heit eine einzige Phase, in der essich vernachlässigte, sich um sein Äußeres 
nicht, wie bis dahin, kümmerte. Für die Analyse erwies es sich, daß diese 
Periode unmittelbar eingeleitet, d. h. verursacht wurde durch die Tatsache, 
daß die Kleine einmal von der Mutter bei der Onanie ertappt und schwer 
bestraft wurde. Sie tat da dasselbe, wie die Mutter, und mußte dafür sofort 
so „häßlich“ werden wie diese. Früher dagegen, als sie selbst auf die 
Befriedigung der spezifisch-weiblichen Wünsche (auf den Wunsch nach 
dem Penis des Vaters, auf den Wunsch nach dem Kind, auf die sinnlich- 
häßliche Befriedigung, die die Mutter empfing) verzichten konnte, durfte 
sie sich rein, schön, bewunderns-, ja begehrenswert empfinden.3 

Meine Damen und Herren! Ich möchte hier die Bemerkung nicht 
unterdrücken, daß die aufgezeigte ökonomische Relation offenbar maßgebend 
bleibt für die Objektbeziehungen, die sich aus der narzißtischen Libido- 
position (nach dem Typus der narzißtischen Objektwahl) weiterhin ergeben. 
Eine Frau kann etwa einen sonst nicht untadeligen Geschlechtsverkehr mit 
einem nicht oder nicht tiefer geliebten Manne zulassen, weil er ihn so 
sehr begehrt, — wobei er ja die Schuld oder einen Teil der’ Schuld auf 
sich nimmt, — vor allem aber, weil sich dabei für sie selbst kein Genuß, 
jedenfalls keine volle Befriedigung ergibt. Ebenso kann wohl die häufig 
so maßlose, die Neigung zum Manne völlig in den Hintergrund drängende 
Liebe der Mutter zum Kinde vielfach so üppig gedeihen, gerade ihres ziel- 
gehemmten, vom Schuldgefühl nicht belasteten Charakters wegen. 

Kehren wir aber zu dem uns beschäftigenden Hauptproblem zurück. 
Es wäre ein leichtes, auch aus dem Material meines Falles den Nachweis 





ı) Die Darstellung vernachlässigt absichtlich die Wiederkehr des Verdrängten und 
die offenkundig statthabenden Beziehungen zu den Objekten; sie beschränkt sich auf 
die Untersuchung des narzißtischen Verhaltens. 

2) In den tieferen psychischen Schichten übernimmt alles Anale die Vertretung 
für das Häßliche. Schön kann nur sein, was nicht an das anstößige oder anstößig 
gewordene Anale erinnert. 

3) Schwierigkeiten für unser Verständnis, oder vielleicht nur für die Darstellung 
zeigen sich hier, wenn ich erwähne, daß die Masturbation des Mädchens schon längst 
eine zwanghafte war und eigentlich die ganze Latenzzeit beherrschte. Nichtsdesto- 
weniger ist es so, daß die erörterte Schuldreaktion sich erst einstellte, nachdem ihr 
Tun entdeckt wurde. 


178 J. Harnik 





zu führen, daß der aus dem Untergang des Ödipuskomplexes resultierende 
sekundäre Narzißmus der Frau in jeder Hinsicht ein Seitenstück zu ihrem 
so gut studierten Männlichkeitskomplex bildet. Diesen hat Horney 
gelegentlich als Erben des Ödipuskomplexes bezeichnet, da er seine letzte 
Prägung gleichfalls durch das Ringen um die Erledigung des Ödipus- 
komplexes erhält. Die narzißtische Besetzung des eigenen Körpers erscheint 
aber für die Norm ichgerechter, weil sie sich der Grundtendenz des Ichs, 
in der Richtung der Weiblichkeit zu vereinheitlichen, leichter unterordnet. 
Diese Tatsache läßt daran denken, daß der weibliche Narzißmus eine 
Fundierung haben muß, die tiefer hinunterreicht, ontogenetisch älter ist 
als die Kämpfe um den Ödipuskomplex. Ich bin in der Lage, diese Behaup- 
tung an einem bisher zurückgehaltenen Stück aus der mehrfach zitierten 
Analyse meiner Patientin, bei der wohl diese Momente besonders gut zu 
studieren waren, beweiskräftig zu illustrieren. Diese Frau hatte im Alter 
von ungefähr vier Jahren einen schweren Ödipuskonflikt zu bestehen, der 
für sie mit einer schmerzvollen Niederlage endete. Sie mußte einsehen, 
daß sie gezwungen ist, auf den Besitz des Vaters zu verzichten. Die 
betreffenden Vorgänge spielten sich in einem Seebade ab. Eine Erinnerung 
aus dieser Zeit zeigte sie nun, wie sie, in einem Strandkorb sitzend, von 
zwei jugendlichen Kavalieren getragen wurde und als allgemein anerkanntes 
entzückendes Kindchen, nach allen Seiten hin winkend, sich vom Publikum 
freudig bewundern ließ. Die Geschichte demonstriert nicht nur mit aller 
wünschenswerten Deutlichkeit den hier geschilderten Mechanismus, sie 
zwingt förmlich die Erklärung auf, daß die libidinösen Energien einer 
derartig fertigen, echten narzißtischen Weiblichkeit noch aus einer prä- 
formierten Quelle fließen mußten. 

Wir besinnen uns jetzt, dieses Reservoir kann nur die erhöhte narziß- 
tische Besetzungsmenge bilden, die sich aus dem Kastrationskomplex, aus 
dem Verzicht auf einen eigenen Penis ergab. Die zu Anfang unserer Aus- 
führungen zitierte, gleichsam aus der psychobiologischen Tiefe geholte 
Erkenntnis besteht weiterhin zu Recht und macht nun einige Ergänzungen 
erforderlich. Die Verwandlung von Penislibido in narzißtische Körper- 
besetzung, korrekter ausgedrückt, die rekompensatorische Ersetzung des 
vermißten Gliedes durch Überbewertung der äußeren Erscheinung, muß 
bereits in der frühesten Kindheit stattfinden. Das Weib ist somit von früh- 
auf mehr auf das Körperganze und nicht in dem Maße genital zentriert 
wie der Mann.! Mit einem Wort gesagt, die weibliche Eitelkeit, der Stolz 


ı) Der Bruch in der Genitalorganisation der Frau ist übrigens eine der ersten Ein- 
sichten der analytischen Sexualtheorie gewesen; auf ihn führte ja Freud die größere 
Disposition des Weibes zur Hysterie zurück, 





4 


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Die ökonom. Beziehungen zwischen dem Schuldgefühl u. d. weibl. Narziömus 179 


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auf Körperschönheit und Kleidung," gehört mit zu den „psychischen Folgen 
des anatomischen Geschlechtsunterschiedes“, auf die uns Freud aufmerk- 
sam gemacht hat.” Andererseits können diese Feststellungen als mittel- 
bare Bestätigungen der Freudschen Aufstellung über die Herkunft der 
Weiblichkeit und des weiblichen Ödipuskomplexes in Anspruch genommen 
werden. Unsere Ergebnisse zusammenfassend: Das spätere, von uns heute 
ins Auge gefaßte narzißtische Verhalten der Frau verdankt seine Genese 
und seine Stärke einem Regressionsvorgang, einer regressiven Verstärkung 
des frühen Narzißmus. Der frühe Narzißmus des Mädchens bildet den 
Fixierungspunkt, auf den die aus den Enttäuschungen und Versagungen 
des Ödipuskomplexes zurückströmende Libido regrediert. 

Zum Schlusse mag die Vermutung erwähnt werden, daß bestimmte 
Charaktere des weiblichen Über-Ichs letzten Endes auch auf diese Zusammen- 
hänge zurückzuführen sein werden. Freud hat bekamntlich in der 
eben erwähnten Arbeit hervorgehoben, daß das Über-Ich der Frau niemals 
so unpersönlich, so konsequent, man könnte sagen, so intransigent wird, 
wie dasjenige des Mannes, und leitete diese Verschiedenheiten aus den 
Abweichungen in der Entstehungsgeschichte der beiden ab.5 Aus unseren 
entwicklungsgeschichtlichen Erörterungen wäre zu folgern, daß das weibliche 
Über-Ich — ökonomisch gedacht — nicht mit so großen narzißtischen 
Libidoquantitäten besetzt werden kann wie beim Manne, da ausgiebige 
Beträge dieser Libido seit jeher am Ich haften geblieben sind. Hiefür 
spricht wohl auch der Umstand, daß die positiven Erfüllungen aus dem 
Ichideal für die Frau nicht die hervorragende Bedeutung haben, wie für 
den Mann.* Man könnte fragen, wie diese Ansicht mit der stärkeren Ver- 
drängungsneigung, mit der größeren Versagungstendenz der Frau — wovon 
ja der hier geschilderte Fall auch ein deutliches Bild gegeben hat — ın 
Einklang zu bringen sei. Vielleicht ist es so, daß auch ein lockerer 
organisiertes Über-Ich leichtes Spiel hat dem kastrierten Wesen gegenüber. 


ı) Die Kleidung kommt zu dieser wichtigen Rolle dadurch, daß sie dazu dient, 
die Blößen zu verdecken, d.h. den Penismangel unsichtbar zu machen; die libidinöse 
Besetzung, die ursprünglich dem ersehnten Penis galt, strömt gewissermaßen teil: 
weise auf die Kleidung über. 

2) Diese Zeitschrift, Bd. Äl. (1925). 

7) Diese Zschr., Bd. XI, 1925, S. 409. 

4) Es sei hier zugegeben, daß obiger Satz eine weitgehende Schematisierung 
enthält und den von Freud (loc. cit.) erwähnten Vorbehalten unterliegt. Doch ist 
solch isolierte Verfolgung seelischer Differenzierungen unerläßlich, wenn man Unter- 
schiede, die vorhanden sind, wahrnehmen will. 


Über Charakteranalyse' 
Von 
Wilhelm Reich 
Wien 
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Unsere Patienten sind selten von vornherein analysefähig, die wenigsten 
sind geneigt, die Grundregel zu befolgen und sich dem Analytiker völlig 
zu eröffnen. Abgesehen davon, daß sie ihm als einem Fremden nicht 
sofort das nötige Vertrauen entgegenbringen können, haben jahrelange 
Krankheit, dauernde Beeinflussung durch ein neurotisches Milieu, schlechte 
Erfahrungen mit den Nervenärzten, kurz, die gesamte sekundäre Verzerrung 
des Ichs eine Situation geschaffen, die der Analyse entgegentritt. Die 
Beseitigung dieser Schwierigkeit wird eine Vorbedingung der Analyse und 
ginge wohl leicht vonstatten, wenn sie nicht unterstützt würde durch 
die Eigenart, wir dürfen ruhig sagen: den Charakter des Kranken, der 
selbst zur Neurose gehört und sich auf neurotischer Basis entwickelt hat. 
Es gibt nun prinzipiell zwei Wege, diesen Schwierigkeiten, insbesondere 
der Auflehnung gegen die Grundregel, beizukommen. Der eine, wie mir 
scheint gewöhnlich geübte, ist die direkte Erziehung zur Analyse durch 
Belehrung, Beruhigung, Aufforderung, Ermahnung, Zureden und ähnliches 
mehr. In diesem Falle trachtet man durch Herstellung einer entsprechenden 
positiven Übertragung den Patienten im Sinne der analytischen Aufrichtigkeit 
zu beeinflussen. Gehäufte Erfahrungen haben aber gelehrt, daß dieser 
erzieherische oder aktive Weg sehr unsicher ist, von unbeherrschbaren 
Zufälligkeiten abhängt und der sicheren Basis der analytischen Klarheit 
entbehrt; man ist allzusehr den Schwankungen der Übertragung ausgesetzt 
und bewegt sich mit seinen Versuchen, den Patienten analysefähig zu 


machen, auf unsicherem Terrain. 





ı) Nach einem Vortrag am X. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in 
Innsbruck im September ı927. (Diese Arbeit ist ein Auszug aus einer in Vorbereitung 
begriffenen Broschüre über Charakteranalyse, die die theoretischen Grundlagen der 
Technik der Charakteranalyse ausführlich behandelt.) 





U ee a > = Bü m lo 


Über Charakteranalyse 181 





Der andere Weg ist umständlicher, derzeit auch noch nicht bei allen 
Patienten gangbar, aber weitaus sicherer; er besteht darin, daß man 
versucht, die erzieherischen Maßnahmen durch analytische 
Deutungen zu ersetzen. Das ist ja gewiß nicht immer möglich, 
bleibt aber das ideale Ziel der analytischen Bemühungen. Statt also den 
Patienten durch Zureden, Ratschläge, Übertragungsmanöver usw. zur 
Analyse zu bringen, wird in mehr passiver Haltung das Hauptaugenmerk 
der Frage zugewendet, welchen aktuellen Sinn das Benehmen des 
Kranken hat, warum er zweifelt, zu spät kommt, hochtrabend oder 
verworren spricht, nur jeden dritten Gedanken mitteilt, die Analyse 
kritisiert oder ungewöhnlich viel und tiefes Material bringt. Man kann 
also etwa einen narzißtischen, hochtrabend in zerminis technicis sprechenden 
Patienten entweder zu überzeugen versuchen, daß sein Gehaben der Analyse 
schädlich sei und er besser daran täte, es sich abzugewöhnen, keine 
termina zu gebrauchen, seine Abgeschlossenheit aufzugeben, weil sie der 
Analyse im Wege stehe; oder man verzichtet auf jede Überredung und 
wartet, bis man versteht, warum sich der Patient so und nicht anders 
benimmt. Man wird dann vielleicht erraten, daß er ein Minderwertigkeits- 
gefühl vor dem Analytiker auf diese Weise kompensiert, und ihn durch 
konsequente Deutung des Sinnes dieses Verhaltens beeinflussen. Die zweite 
Maßnahme entspricht im Gegensatz zur ersten ganz dem analytischen 
Prinzip. 

Aus diesem Bestreben, womöglich alle durch die Eigenart des Patienten 
notwendig werdenden erzieherischen oder sonstigen aktiven Maßnahmen 
durch reine analytische Deutung zu ersetzen, ergab sich ungesucht und 
unerwartet ein Weg zur Analyse des Charakters. 

Die Grundlage der Charakteranalyse war gegeben, als Freud die 
bekannte kardinale Änderung der analytischen Technik vornahm, indem 
er an Stelle der bis dahin geübten unvorbereiteten Deutung des Symptom- 
sinnes die Beseitigung der Widerstände zur analytischen Hauptaufgabe 
machte. Jene Technik wird heute nur noch von Stekel und seinen 
Anhängern ausgeübt. Die Technik der Widerstandsanalyse in der heute 
so weit entwickelten Form verdient die Bezeichnung Charakteranalyse 
bereits mit vollem Recht. Warum aber dann diese neue Bezeichnung, 
wenn uns die andere: „Widerstandsanalyse“ gewohnter ist? Dieser Einwand 
verdiente sehr, beachtet zu werden, wenn uns nicht ein besonderer Umstand 
zwänge, für die Bezeichnung „Charakteranalyse“ einzutreten. 

Gewisse klinische Rücksichten nötigen uns, unter den Widerständen, 
denen wir bei der Behandlung unserer Kranken begegnen, eine besondere 
Gruppe als „Charakterwiderstände" zu unterscheiden, Sie 


——— nn ur zur 


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Er En nn an EEE Er u Er Te ea) 
182 Wilhelm Reich 





erhalten ihr besonderes Gepräge nicht durch ihren 
Inhalt, sondern von der spezifischen Wesensart des 
Analysierten. Der Zwangscharakter entwickelt formal spezifisch andere 
Widerstände als der hysterische Charakter, dieser wieder andere als der 
genital-narzißtische, triebhafte oder neurasthenische Charakter. Die Form 
der Reaktionen des Ichs, die je nach dem Charakter bei gleich- 
bleibenden Erlebnisinhalten verschieden ist, läßt sich ebenso auf 
kindliche Erlebnisse zurückführen wie der Inhalt der 
Symptome und Phantasien. 


II 
Woher stammen die Charakterwiderstände ? 


In jüngster Zeit hat sich Glover um die Unterscheidung von Charakter- 
neurosen und Symptomneurosen bemüht. Auch Alexander operiert auf 
der Basis dieser Unterscheidung; ich bin ihr in früheren Arbeiten gefolgt, 
aber beim genauen Vergleich der Fälle ergab sich, daß diese Unterscheidung 
nur insofern Sinn hat, als es Neurosen mit umschriebenen Symptomen und 
Neurosen ohne solche gibt: jene wurden dann „Symptomneurosen“, diese 
„Charakterneurosen“ genannt; bei jenen fallen begreiflicherweise die 
Symptome mehr auf, bei diesen die neurotischen Charakterzüge. Aber gibt 
es denn Symptome ohne eine neurotische Reaktionsbasis, mit anderen 
Worten, ohne einen neurotischen Charakter ? Der Unterschied zwischen den 
Charakter- und den Symptomneurosen ist nur der, daß bei diesen der 
neurotische Charakter auch noch Symptome produzierte, sich sozusagen in 
solchen konzentriert hat. Daß der neurotische Charakter das eine Mal in 
umschriebenen Symptomen exazerbiert, das andere Mal andere Wege zur 
Entlastung von der Libidostauung findet, bedarf noch eingehender Unter- 
suchung. Erkennt man aber den Tatbestand an, daß die Grundlage der 
Symptomneurose immer ein neurotischer Charakter bildet, so ist auch klar, 
daß wir in jeder Analyse mit charakterneurotischen Widerständen zu tun 
haben; die einzelnen Analysen werden sich nur durch die verschiedene 
Bedeutung unterscheiden, die man der Charakteranalyse im Einzelfalle bei- 
messen muß. Ein Rückblick auf die analytischen Erfahrungen warnt aber 
davor, diese Bedeutung in irgend einem Falle zu unterschätzen. 

Vom Standpunkt der Charakteranalyse verliert die Unterscheidung von 
Neurosen, die chronisch sind, das heißt seit der Kindheit bestehen, und 
solchen, die akut sind, also spät auftraten, jede Bedeutung; denn es ist 
nicht so bedeutungsvoll, ob die Symptome früh oder spät aufgetreten sind, 
als daß der neurotische Charakter, die Reaktionsbasis für die Symptom- 





Über Charakteranalyse 183 
neurose, sich wenigstens in den Grundzügen bereits mit dem Abschluß der 
Ödipusphase gebildet hat. Ich erinnere bloß an die klinische Erfahrung, 
daß sich die Grenze, die der Patient zwischen Gesundheit und Krankheits- 
ausbruch zieht, in der Analyse stets verwischt. 

Da uns die Symptombildung als deskriptives Unterscheidungsmerkmal 
im Stiche läßt, müssen wir uns nach anderen umsehen. Als solche kommen 
in erster Linie die Krankheitseinsicht und die Rationalisie- 
rungen in Betracht. 

Fehlende Krankheitseinsicht ist zwar kein absolut verläb- 
liches, aber doch ein wesentliches Zeichen der Charakterneurose. Das 
neurotische Symptom wird als Fremdkörper empfunden und erzeugt ein 
Krankheitsgefühl. Der neurotische Charakterzug hingegen, etwa der über- 
triebene Ordnungssinn des Zwangscharakters oder die ängstliche Scheu des 
hysterischen Charakters, ist in die Persönlichkeit organisch eingebaut. Man 
beklagt sich vielleicht darüber, daß man scheu ist, aber man fühlt sich 
deshalb nicht krank. Erst wenn sich die charakterologische Scheu zum 
krankhaften Erröten, oder wenn sich der zwangsneurotische Ordnungssinn 
zum Zwangszeremoniell steigert, wenn also der neurotische Charakter 
symptomatisch exazerbiert, fühlt man sich krank. 

Freilich, es gibt auch Symptome, für die keine oder nur geringe 
Krankheitseinsicht besteht und die vom Kranken wie schlimme Gewohn- 
heiten oder hinzunehmende Gegebenheiten betrachtet werden (z. B. 
chronische Obstipation, leichte ejaculatio praecox) ; manche Charakterzuge 
wieder werden gelegentlich als krankhaft empfunden, wie etwa heftige 
Zornausbrüche, die einen überrumpeln, oder krasse Unordentlichkeit, Neigung 
zum Lügen, Trinken, Geldausgeben und ähnliches mehr. Trotzdem empfiehlt 
sich die Krankheitseinsicht als wesentliches Kriterium des neurotischen 
Symptoms, ihr Fehlen als Kennzeichen des neurotischen Charakterzuges. 

Der zweite praktisch wichtige Unterschied besteht darin, daß die Symptome 
niemals so vollständige und glaubwürdige Rationalisierungen auf 
weisen wie der neurotische Charakter. Weder das hysterische Erbrechen 
oder die Abasie, noch das Zwangszählen oder Zwangsdenken lassen sich 
vationalisieren. Das Symptom erscheint sinnlos, während der neurotische 
Charakter rational genügend motiviert ist, um nicht krankhaft oder sinnlos 
zu erscheinen. 

Ferner gibt es für neurotische Charakterzüge eine Begründung, die sofort 
als absurd abgelehnt würde, wenn man sie für Symptome verwendete; 
es heißt oft: „Es ist halt so.“ Dieses „ist halt so“ will besagen, da 
Betreffende sei so geboren, das ließe sich nicht ändern, das sei „halt“ sein 
Charakter. Und doch ist diese Auskunft unrichtig, denn die Analyse der 


Wilhelm Reich 


184 
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Entwicklung zeigt, daß der Charakter aus bestimmten Gründen so und 
nicht anderes werden mußte, er ist also prinzipiell ebenso wie das Symptom 
analysierbar und änderbar. 

Gelegentlich haben sich Symptome im Laufe der Zeit derart in die 
Gesamtpersönlichkeit eingenistet, daß sie Charakterzügen ähnlich werden. 
So etwa, wenn sich ein Zwangszählen nur im Rahmen des Ordnungs- 
strebens auswirkt oder ein Zwangssystem sich der Tageseinteilung bedient; 
das gilt besonders für den Arbeitszwang. Solche Verhaltungsweisen gelten 
dann mehr für absonderlich, übertrieben als für krankhaft. Wir sehen also, 
daß der Krankheitsbegriff ein durchaus fließender ist, daß es vom Symptom 
als isoliertem Fremdkörper über den neurotischen Charakterzug und die 
„üble Gewohnheit“ bis zum realitätstüchtigen Handeln alle Übergänge 
gibt; da wir aber mit diesen Übergängen nichts anfangen können, empfiehlt 
sich die Unterscheidung zwischen Symptom und neurotischem Charakter 
auch hinsichtlich der Rationalisierungen, trotz des Künstlichen aller Ein- 
teilung. 

Unter diesem Vorbehalt fällt uns noch ein Unterschied im Aufbau des 
Symptoms und des neurotischen Charakterzuges auf. Bei der analytischen 
Zergliederung zeigt es sich, daß das Symptom, was seinen Sinn und seine 
Herkunft anlangt, im Vergleich zum Charakterzug sehr einfach gebaut ist. 
Gewiß, auch das Symptom ist überdeterminiert; aber je tiefer wir in seine 
Begründungen eindringen, desto mehr entfernen wir uns aus dem eigent- 
lichen Symptombereich, desto reiner tritt die charakterologische Grundlage 
zutage. So kann man — theoretisch — von jedem Symptom aus die 
charakterologische Reaktionsbasis entwickeln. Das Symptom ist unmittelbar 
nur von einer begrenzten Zahl unbewußter Haltungen begründet; das 
hysterische Erbrechen hat etwa einen verdrängten Fellatio- und einen 
Kindeswunsch zur Grundlage. Beide wirken sich auch charakterologisch 
aus, jener in einer gewissen Kindlichkeit, dieser in einer mütterlichen 
Haltung ; aber der das hysterische Symptom begründende hysterische Charakter 
ruht auf einer Vielheit — zum großen Teil antagonistischer — Strebungen 
und drückt sich meist in einer spezifischen Haltung oder Wesens- 
art aus. Die Haltung läßt sich lange nicht so einfach zerlegen wie das 
Symptom, ist aber prinzipiell ebenso wie dieses aus Trieben und Erleb- 
nissen abzuleiten und zu verstehen. Während das Symptom nur einem 
bestimmten Erlebnis, einem umgrenzten Wollen entspricht, stellt der 
Charakter, die spezifische Wesensart eines Menschen, einen Ausdruck der 
gesamten Vergangenheit dar. Ein Symptom kann daher auch ganz plötzlich 
entstehen, während jeder einzelne Charakterzug viele Jahre zu seiner Aus- 
bildung braucht. Dabei vergessen wir aber nicht, daß auch das Symptom 





? Über Charakteranalyse 185 





nicht hätte plötzlich entstehen können, wenn seine charakterologische, bzw. 
neurotische Reaktionsbasis nicht bereits vorhanden gewesen wäre, 

Die Gesamtheit der neurotischen Charakterzüge erweistsich nun in der Ana- 
lyse als kompakter Schutzmechanismus gegen unsere therapeutischen 
Bemuanngen, und wenn wir die Entstehung dieses charakterologischen 

„Panzers“ analytisch verfolgen, zeigt es sich, daß er auch eine bestimmte ökono- 
mische Aufgabe hat: Er dient nämlich einerseits dem Schutze gegen die Reize 
der Außenwelt, andererseits erweist er sich als ein Mittel, der aus dem 
Es ständig vordrängenden Libido Herr zu werden, indem in den neurotischen 
Reaktionsbildungen, Kompensationen und so weiter libidinöse und sadi- 
stische Energien aufgezehrt werden. In den Prozessen, die der Bildung 
und der Erhaltung dieses Panzers zugrunde liegen, wird ständig Angst 
gebunden, in der gleichen Weise, wie etwa nach der Beschreibung Freuds 
Angst in den Zwangssymptomen gebunden wird. Da aber die Mittel, die 
der neurotische Charakter verwendet, um die Angst zu binden, wie etwa 
die Reaktionsbildung und die prägenitale Befriedigung, auf die Dauer nicht 
ausreichen, kommt es schließlich zu einem Durchbruch der überschüssigen 
Angst, beziehungsweise der gestauten Libido, und jetzt setzt die Symptom- 
bildung ein als Zeichen der Bestrebung des Ichs, auch dieses Überschusses 
Herr zu werden. So erklärt sich das Symptom auch ökonomisch als Aus- 
druck einer Exazerbation des neurotischen Charakters. 

Da der neurotische Charakter in seiner ökonomischen Funktion als 
schützender Panzer ein gewisses, wenn auch neurotisches Gleich- 
gewicht hergestellt hat, bedeutet die Analyse eine Gefahr für dieses 
Gleichgewicht. Von diesem narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs 
gehen daher die Widerstände aus, die der Analyse des Einzelfalles ihr 
besonderes Gepräge verleihen. Wenn sich aber die Verhaltungsweise als 
ein analysier- und auflösbares Resultat der gesamten Entwicklung darstellt, 
so haben wir auch die Möglichkeit, die Technik der Charakteranalyse 
daraus abzuleiten. 


II 
Zur Technik der Analyse des Charakterwiderstandes 


Neben den Träumen, den Einfällen, den Fehlleistungen, den übrigen 
Mitteilungen der Patienten verdienen ihre Haltungen, das heißt die Art 
und Weise, wie sie ihre Träume erzählen, Fehlleistungen begehen, Ein- 
fälle bringen und Mitteilungen machen, besondere Beachtung. Die Befolgung 
der Grundregel ist ein seltenes Kuriosum, und es bedarf monatelanger 
charakteranalytischer Arbeit, um den Patienten zu einem halbwegs aus- 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV/z 13 


186 Wilhelm Reic 


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reichenden Maß an Aufrichtigkeit zu bringen. Die Art des Patienten, zu 
sprechen, den Analytiker anzusehen und zu begrüßen, auf dem Sofa zu liegen, 
der Tonfall der Stimme, das Maß an konventioneller Höflichkeit, das 
eingehalten wird, und so weiter, sind wertvolle Anhaltspunkte für die 
Beurteilung der geheimen Widerstände, die der Patient der Grundregel 
entgegensetzt, und ihr Verständnis ist das wichtigste Mittel, sie durch Deutung 
zu beseitigen. Das „Wie“ steht als zu deutendes „Material“ gleichberechtigt 
neben dem, was der Patient sagt. Man hört oft Analytiker klagen, die 
Analyse gehe nicht, der Patient bringe kein „Material“. Darunter wird 
gewöhnlich nur der Inhalt der Einfälle und Mitteilungen verstanden. Aber 
die Art des Schweigens oder etwa der sterilen Wiederholungen ist ebenfalls 
„Material“, das auszuwerten ist. Es gibt wohl kaum eine Situation, in der 
der Patient „kein Material“ brächte, und wir müssen uns sagen, daß es 
an uns liegt, wenn wir das Verhalten des Analysierten nicht als „Material“ 
auswerten können. 

Daß auch das Benehmen und die Form der Mitteilungen analytische 
Bedeutung haben, ist ja nichts Neues. Aber daß sie uns den Zugang zur 
Analyse des Charakters in einer ganz bestimmten und relativ vollkommenen 
Weise eröffnen, soll hier behandelt werden. Böse Erfahrungen, die man 
bei der Analyse mancher neurotischer Charaktere macht, lehren, daß es 
bei solchen Fällen zunächst immer mehr auf die Form als auf den 
Inhalt der Mitteilungen ankommt. Wir erwähnen nur andeutungsweise 
die geheimen Widerstände, die die affektlahmen, die „braven “ die über- 
höflichen und korrekten Patienten produzieren, ferner die Kranken, die 
stets eine täuschende positive Übertragung zeigen, oder gar die, die stürmisch 
immer gleichartig Liebe fordern, diejenigen, die die Analyse spielerisch 
auffassen, die stets „Gepanzerten“, die innerlich über alles und jeden 
lächeln; man könnte beliebig fortfahren und ist daher auf die mühevolle 
Arbeit vorbereitet, die aufzuwenden sein wird, um den unzähligen 
individuellen technischen Problemen beizukommen. 

Nehmen wir, vorläufig zum Zwecke alleemeiner Orientierung und um 
das Wesenhafte der Charakteranalyse im Gegensatze zur Symptomanalyse 
besser hervortreten zu lassen, zwei Vergleichspaare vor; wir hätten gleich- 
zeitig in analytischer Behandlung zwei Männer mit ejaculatio praecox; 
der eine wäre ein passiv-femininer, der andere ein phallisch-aggressiver 
Charakter. Wir hätten ferner zwei Frauen etwa mit Eß-Störung in Behand- 
lung; die eine wäre ein Zwangscharakter, die andere eine Hysterika. 

Nehmen wir nun weiter an, daß die ejaculatio praecox der beiden 
männlichen Patienten den gleichen unbewußten Sinn hat: Angst vor dem 
in der Scheide des Weibes vermuteten (väterlichen) Phallus. Beide brächten 





Über Charakteranalyse 187 





nun in der Analyse auf Grund der Kastrationsangst, die das Symptom 
begründet, eine negative Vaterübertragung zustande. Beide würden den 
Analytiker (Vater) hassen, weil sie in ihm den lusteinschränkenden Feind 
erblickten, und beide hätten den unbewußten Wunsch, ihn zu beseitigen. 
In diesem Falle wird der phallisch-sadistische Charakter die Kastrationsgefahr 
durch Beschimpfen, Herabsetzen und Drohungen abwehren, während der 
passiv-feminine Charakter in dem gleichen Falle immer zutraulicher, 
passiv-hingebender, freundlicher werden wird. Bei beiden ist der Charakter 
zum Widerstand geworden: Jener wehrt die Gefahr aggressiv ab, dieser 
geht ihr durch Opfer an persönlicher Haltung, durch täuschendes Wesen 
und Hingabe aus dem Wege. Natürlich ist der Charakterwiderstand des 
Passiv-Femininen gefährlicher, weil er mit geheimen Mitteln arbeitet: Er 
bringt reichlich Material, erinnert infantile Erlebnisse, scheint sich glänzend 
zu fügen — aber im Grunde täuscht er über einen geheimen Trotz und 
Haß hinweg; er hat, solange er diese Haltung beibehält, gar nicht den 
Mut, sein wahres Wesen zu zeigen. Geht man, ohne diese seine Art zu 
beachten, nur auf das ein, was er bringt, so wird — erfahrungsgemäß — 
keine analytische Bemühung oder Klärung seinen Zustand ändern. Er 
wird vielleicht sogar seinen Haß gegen den Vater erinnern, aber er wird 
ihn nicht erleben, wenn man ihm nicht in der Übertragung konsequent 
den Sinn seiner täuschenden Haltung deutet, ehe man mit der tiefen 
Deutung des Vaterhasses einsetzt. | 

Beim zweiten Vergleichspaar wäre, so wollen wir annehmen, der Fall 
einer akuten positiven Übertragung eingetreten. Der zentrale Gehalt dieser 
positiven Übertragung wäre bei beiden der gleiche wie der des Symptoms, 
nämlich eine orale Fellatiophantasie. Aus dieser inhaltlich gleichartigen 
positiven Übertragung ergibt sich aber ein formal ganz verschiedener Über- 
tragungswiderstand: Die Hysterika wird etwa ängstlich schweigen und 
sich scheu benehmen, die Zwangsneurose wird trotzig schweigen oder 
dem Analytiker ein kaltes, hochfahrendes Benehmen zeigen. Die Abwehr 
der positiven Übertragung bedient sich verschiedener Mittel, hier der 
Aggressivität, dort der Angst. Wir werden sagen, das Es habe bei beiden 
den gleichen Wunsch übertragen, während das Ich verschieden abwehrt. 
Und die Form dieser Abwehr wird bei beiden Patientinnen stets die gleiche 
bleiben; diese Hysterika wird stets ängstlich, die zwangsneurotische Patientin 
wird stets aggressiv abwehren, welcher Inhalt des Unbewußten immer im 
Begriffe sein wird, durchzubrechen; das heißt, der Charakterwider- 
stand bleibt bei ein und demselben Patienten stets gleich 
und verschwindet erst mit den Wurzeln der Neurose. 

Was folgt nun aus diesen Tatbeständen für die analytische Technik der 


135 


a 
188 Wilhelm Reich 





Charakteranalyse? Gibt es wesenhafte Unterschiede zwischen ihr und der 
gewöhnlichen Widerstandsanalyse ? 

Es gibt Unterschiede und sie betreffen 

. a) die Auswahl bei der Reihenfolge des zu deutenden Materials, 

5b) die Technik der Widerstandsdeutung selbst. 

ad a) Wenn wir von „Auswahl des Materials“ sprechen, haben wir 
einen wichtigen Einwand zu gewärtigen: Man wird sagen, jede. Auswahl 
widerspreche den psychologischen Grundprinzipien, man habe dem Patienten 
zu folgen, sich von ihm führen zu lassen und laufe bei jeder Auswahl 
Gefahr, seinen eigenen Neigungen zu verfallen. Dazu ist zunächst zu 
bemerken, daß es sich bei dieser Auswahl nicht etwa um Vernachlässigung 
von analytischem Material handelt, sondern lediglich um die Wahrung 
einer der Struktur der Neurose entsprechenden — gesetzmäßigen 
Reihenfolge bei der Deutung. Alles Material kommt zur Deutung 
dran, nur ist das eine Detail momentan wichtiger als ein anderes. Man 
muß sich auch klar machen, daß der Analytiker immer auswählt, denn 
man hat schon eine Auswahl getroffen, wenn man einen Traum nicht der 
Reihe nach analysiert, sondern einzelne Details heraushebt. Man hat 
natürlich auch parteiisch Auswahl getroffen, wenn man nur den Inhalt, 
nicht aber die Form der Mitteilungen beachtet. Man ist also allein durch 
die Tatsache, daß der Patient in der analytischen Situation Material ver- 
schiedenster Art bringt, gezwungen, eine Auswahl des zu deutenden 
Materials zu treffen; es kommt nur darauf an, daß man der analytischen 
Situation entsprechend richtig auswähle. Man kann die Führung dem 
Patienten nur in widerstandsfreien Phasen überlassen, auf seinen Geständnis- 
zwang darf man sich nicht allzusehr verlassen; im allgemeinen neigen die 
Patienten dazu, immer nur das harmloseste Material in den Vordergrund zu 
schieben, was natürlich als Widerstand entlarvt wird. 

Bei Patienten, die infolge einer besonderen Charakterentwicklung die 
Grundregel konsequent nicht befolgen, wie überhaupt bei jedem charaktero- 
logischen Hindernis der Analyse wird man genötigt sein, den ent- 
sprechenden Charakterwiderstand ständig aus der Fülle 
des Materials herauszuheben und analytisch durch 
Deutung seines Sinnes zu bearbeiten, Das bedeutet natür- 
lich nicht, daß man das übrige Material vernachlässigt oder nicht beachtet; 
im Gegenteil, alles ist wertvoll und willkommen, was uns über den Sinn 
und die Herkunft des störenden Charakterzuges Aufklärung gibt; man 
schiebt nur die Zergliederung und vor allem die Deutung des Materials, 
das nicht unmittelbar zum Übertragungswiderstand gehört, auf, bis der 
Charakterwiderstand wenigstens in den Grundzügen verstanden und durch- 





Über Charakteranalyse 189 





brochen wurde. Welche Gefahren damit verbunden sind, bei unauf- 
gelösten Charakterwiderständen tiefgehende Deutungen zu geben, habe ich 
in meiner Arbeit „Zur Technik der Deutung und der Widerstandsanalyse“ 
klar zu machen versucht. 

ad 2) Wir wollen uns nun einigen besonderen Fragen der charakter- 
analytischen Technik zuwenden. Vor allem müssen wir einem drohenden 
Mißverständnis vorbeugen. Wir sagten, die Charakteranalyse beginne mit 
der Heraushebung und konsequenten Analyse des Charakterwiderstandes. 
Das heißt nicht, daß man den Patienten etwa auffordert, nicht aggressiv 
zu sein, nicht zu täuschen, nicht verworren zu sprechen, die Grundregel 
zu befolgen und so weiter. Das wäre nicht nur unanalytisch, sondern vor 
allem fruchtlos. Es kann nicht genug betont werden, daß das, was wir 
hier beschreiben, mit Erziehung oder dergleichen nichts zu tun hat. Wir 
legen uns bei der Charakteranalyse die Frage vor, warum der Patient 
täuscht, verworren spricht, affektabgesperrt ist usw., versuchen sein Interesse 
für seine Charaktereigenheiten zu wecken, um mit seiner Hilfe analytisch 
deren Sinn und Herkunft aufzuklären. Wir heben also bloß den Charakter- 
zug, von dem der kardinale Widerstand ausgeht, aus dem Niveau der 
Persönlichkeit heraus, zeigen dem Patienten, wenn möglich, die ober- 
flächlichen Beziehungen zwischen dem Charakter und den Symptomen, 
überlassen es aber natürlich im übrigen ihm, ob er seine Erkenntnis auch 
zur Änderung seines Charakters benützen will. Wir verfahren dabei prinzipiell 
ja nicht anders als bei der Analyse eines Symptoms; bei der Charakter- 
analyse kommt nur hinzu, daß wir den Charakterzug dem Patienten 
wiederholt isoliert vorführen müssen, solange, bis er Distanz 
gewonnen hat und sich dazu so einstellt wie etwa zu einem quälenden 
Zwangssymptom. Denn durch die Distanzierung und Obj ektivierung des 
neurotischen Charakters bekommt dieser etwas Fremdkörperhaftes, und 
schließlich bildet sich auch eine Krankheitseinsicht heraus. 

Bei dieser Distanzierung und Objektivierung des neurotischen Charakters 
zeigt sich überraschenderweise, daß sich die Persönlichkeit — zunächst 
vorübergehend — verändert, und zwar taucht bei fortschreitender Charakter- 
analyse automatisch diejenige Triebkraft oder Wesensart unverhüllt auf, 
aus der der Charakterwiderstand in der Übertragung hervorging. Um beim 
Beispiel vom passiv-femininen Charakter zu bleiben: Je gründlicher der 
Patient seine Neigung zur passiven Hingabe objektiviert, desto aggressiver 
wird er. War doch sein feminines, täuschendes Wesen in der Hauptsache 
eine energische Reaktion gegen verdrängte aggressive Impulse. Mit der 





ı) Internat. Ztschr. f. PsA., Bd. XIII (1927). 


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190 Wilhelm Reidı 





Aggressivität stellt sich aber auch die infantile Kastrationsangst ein, die 
seinerzeit die Wandlung vom Aggressiven zum Passiv-Femininen bedingte. 
So gelangen wir mit der Analyse des Charakterwiderstandes direkt zum 
Zentrum der Neurose, zum Ödipuskomplex. 

Man darf sich aber keinen Illusionen hingeben; die Isolierung und 
Objektivierung sowie die analytische Durcharbeitung eines solchen Charakter- 
widerstandes brauchen gewöhnlich viele Monate, erfordern viel Mühe und 
vor allem ausdauernde Geduld. Allerdings, wenn der Durchbruch einmal 
gelungen ist, so pflegt von da ab die analytische Arbeit flott, getragen 
von affektiven analytischen Erlebnissen, vorwärts zu schreiten. Läßt 
man hingegen solche Charakterwiderstände unbearbeitet, geht man dem 
Patienten bloß in seinem Materiale, ständig alle Inhalte deutend, nach, so 
bilden sie mit der Zeit einen kaum mehr zu beseitigenden Ballast. Man 
bekommt dann im Laufe der Zeit das sichere Gefühl, daß jede Inhaltsdeutung 
verschwendet war, daß der Patient nicht aufhört, an allem zu zweifeln, 
oder zum Scheine zu akzeptieren oder innerlich alles zu belächeln. In späteren 
Stadien der Analyse, wenn die wesentlichsten Deutungen des Ödipuskomplexes 
bereits gegeben wurden, steht man dem hilflos gegenüber, wenn mit der Auf- 
räumung dieser Widerstände nicht gleich im Anfang begonnen wurde. 

Ich habe bereits in meiner früher zitierten Arbeit den Einwand zu 
widerlegen versucht, daß man Widerstände nicht angehen könne, ehe man 
ihre infantile Determinierung kennt. Wesentlich ist, daß man zunächst 
nur den aktuellen Sinn des Charakterwiderstandes durchschaut, wozu 
man das infantile Material nicht immer benötigt. Dieses brauchen wir zur 
Auflösung des Widerstandes. Begnügt man sich zunächst damit, den 
Widerstand dem Patienten vorzuführen und seinen aktuellen Sinn zu 
deuten, so stellt sich sehr bald auch das infantile Material dazu ein, mit 
dessen Hilfe wir dann den Widerstand auch beseitigen können. 

Wenn man eine bisher vernachlässigte Tatsache hervorhebt, ruft man 
ungewollt den Eindruck hervor, als ob man dadurch das Übrige seiner 
Bedeutung beraubte. Wenn wir hier die Analyse der Reaktions weise 
so sehr betonen, so bedeutet das weder eine Vernachlässigung der Inhalte 
noch eine Abänderung der bisherigen Technik; wir fügen nur etwas hinzu, 
was bisher zu wenig beachtet wurde. Unsere Erfahrung lehrt, daß die 
Analyse charakterologischer Widerstände allem anderen vorangestellt werden 
muß; das heißt aber nicht, daß man etwa bis zu einem bestimmten 
Datum nur den Charakterwiderstand analysiert, dann mit der Inhalts- 
deutung beginnt. Die zwei Phasen, Widerstandsanalyse und Analyse der 
frühinfantilen Erlebnisse, überdecken einander zum größten Teile; es handelt 
sich lediglich um ein Überwiegen der Charakteranalyse im Beginne, das 





Über Charakteranalyse | 191 
heißt um „Erziehung zur Analyse durch Analyse“, während in späteren 
Stadien der Hauptakzent auf das Inhaltliche und Infantile fällt. Das ist 
aber gewiß keine starre Regel, sondern ergibt sich aus der Verhaltungs- 
weise der einzelnen Patienten. Bei dem einen wird die Deutung des infantilen 
Materials früher, beim anderen später einsetzen. Grundsätzlich betont muß 
nur die Regel werden, tiefgehende analytische Deutungen auch bei an 
sich klarem Material zu vermeiden, so lange die Patienten nicht reif sind, 
sie zu verarbeiten. Das ist zwar nichts Neues, aber es kommt offenbar bei 
der Verschiedenheit analytischer Arbeitsweisen sehr darauf an, was man 
unter ‚reif zur analytischen Deutung“ versteht. Wir. werden dabei wohl 
auch jene Inhalte unterscheiden müssen, die unmittelbar zum Charakter- 
widerstand gehören, und die, die anderen Erlebnissphären angehören. Der 
Normalfall ist der, daß der Analysand im Beginne zur Kenntnisnahme der 
ersteren, nicht aber für die letzten reif ist. Im ganzen bedeutet ja unser 
charakteranalytischer Versuch nichts anderes als das Streben, größtmögliche 
Sicherheit bei der Vorbereitung der Analyse und bei der Deutung des 
infantilen Materials zu gewinnen. Hier erwächst uns die wichtige Aufgabe, 
die verschiedenen Formen der charakterologischen Übertragungswiderstände 
zu studieren und systematisch zu beschreiben. Ihre Technik ergibt sich 


dann von selbst aus ihrer Struktur. 


IV 
Deutung der Ich-Abwehr 


Es ist nicht schwer, das, was wir hier als Charakteranalyse beschreiben, 
in die Freudsche Theorie der Widerstandsbildung und -lösung einzu" 
ordnen. Wir wissen, daß jeder Widerstand aus einer Es-Regung besteht, 
welche abgewehrt wird, und aus einer Ich-Regung, welche abwehrt. Beide 
Regungen sind unbewußt. Es steht nun bei der Deutung prinzipiell frei, 
entweder die Es-Strebung oder die Ichstrebung zuerst zu deuten, Ein 
Beispiel: Wenn sich eın homosexueller Widerstand in Form von Schweigen 
gleich im Beginne einer Analyse einstellt, so kann man die Es-Strebung 
angehen, indem man dem Patienten sagt, er beschäftige sich jetzt in zärt- 
licher Absicht mit der Person des Analytikers; man hat ihm seine positive 
Übertragung gedeutet, und wenn er nicht die Flucht ergreift, wird es lange 
dauern, bis er sich mit dieser verpönten Vorstellung befreundet. Man muß 
es daher vorziehen, die dem bewußten Ich näherliegende Seite des Wider- 
standes, die Abwehr des Ichs, zuerst anzugehen, indem man dem 
Patienten zunächst nur. sagt, er schweige, weil er „ausirgend einem 
Grunde“ — also ohne Berührung der Es-Strebung — die Analyse ablehne, 


192 | Wilhelm Reich 


vermutlich weil sie ihm in irgend einer Hinsicht gefährlich geworden sei. - 


Dort hat man die Es-Seite (in diesem Falle eine Liebesstrebung), hier die 
Ichseite des Widerstandes, die Ablehnung, deutend angegriffen. 

Bei diesem Vorgehen erfassen wir zugleich sowohl die negative 
Übertragung, in die jede Abwehr schließlich ausläuft, als auch den Charakter, 
den Panzer des Ichs. Ich habe an anderer Stelle klarzumachen versucht, 
daß die oberflächliche, dem Bewußtsein nähere Schichte jedes Widerstandes 
notwendigerweise eine negative Einstellung zum Analytiker sein muß, 
gleichgültig, ob die abgewehrte Es-Strebung Haß oder Liebe ist, Das 
Ich projiziert seine Abwehr gegen die Es-Strebung auf den Analytiker, 
der gefährlich, ein Feind geworden ist, weil er durch die unangenehme 
Grundregel Es-Strebungen provoziert und das neurotische Gleichgewicht 
gestört hat. Das Ich bedient sich bei seiner Abwehr uralter Formen 
ablehnender Haltungen; es ruft zu seinem Schutze in der Not Haßregungen 
aus dem Es zu Hilfe, auch wenn es eine Liebesstrebung abzuwehren hat. 

' Wenn wir also die Regel einhalten, Widerstände von der Ichseite 
anzugehen, so lösen wir damit immer auch ein Stück negativer Übertragung, 
einen Betrag an Haßaffekien, auf und entgehen dadurch der Gefahr, die 
sehr oft vorzüglich versteckten destruktiven Tendenzen zu übersehen; gleich- 
zeitig wird die positive Übertragung gefestigt. Der Patient begreift auch die 
Ichdeutung leichter, weil sie sein bewußtes Empfinden bessertrifft als die 
s-Deutung, und ist dadurch auf diese, die später folgt, besser vorbereitet. 

Die Ichabwehr hat, welcher Art immer die verdrängte Es-Strebung 
auch sei, stets die gleiche, dem Charakter der Persönlichkeit entsprechende 
Form; und die gleiche Es-Strebung wird bei verschiedenen Fällen 
verschieden abgewehrt. Wir lassen also den Charakter unangetastet, wenn 
wir nur die Es-Strebung deuten, beziehen aber auch den neurotischen 
Charakter in Analyse ein, wenn wir die Widerstände grundsätzlich von 
der Abwehr, von der Ichseite, angehen. Dort sagen wir sofort, was der 
Analysand abwehrt, hier aber machen wir ihm zuerst klar, daß er „etwas“ 
abwehrt, dann wie er es tut, welcher Mittel er sich dabei bedient 
(Charakteranalyse), und erst zuletzt, wenn die Analyse des Widerstandes 
genügend weit vorgeschritten ist, erfährt oder findet er selbst, wogegen 
sich die Abwehr richtet. Auf diesem langen Umwege zur Deutung der 
Es-Strebungen sind alle dazugehörigen Haltungen des Ichs analytisch 
zerlegt worden und die große Gefahr, daß der Patient etwas zu früh 
erfährt oder affektlos, unbeteiligt bleibt, ist ausgeschaltet. 

Analysen, bei denen den Haltungen soviel analytische Aufmerksamkeit 
geschenkt wird, dauern nicht weniger lang als andere; wir können uns 
also nicht rühmen, einen Weg zur Abkürzung der analytischen Behandlung 


il 


Über Charakteranalyse "193 





angegeben zu haben, aber Vergleiche haben gezeigt, daß sie geordneter 
und zielsicherer verlaufen, ohne daß die theoretische Forschungsarbeit im 
geringsten darunter litte. Man erfährt nur die wichtigen Ereignisse der 
Kindheit später als sonst; das wird aber reichlich wett gemacht durch die 
affektive Frische, mit der das infantile Material nach der analytischen 
Bearbeitung der Charakterwiderstände hervorquillt. 

Wir dürfen aber gewisse unangenehme Seiten der konsequenten 
Charakteranalyse nicht unerwähnt lassen. Die Patienten werden von der 
Analyse seelisch weitaus mehr belastet, sie leiden viel mehr, als wenn 
man den Charakter unberücksichtigt läßt. Das hat zwar den Vorteil einer 
Auslese: Wer es nicht aushält, hätte auch sonst keinen Erfolg erzielt, und 
es ist besser, die Erfolglosigkeit stellt sich nach vier oder sechs Monaten 
als nach zwei Jahren heraus. Gibt der Charakterwiderstand nicht nach, 
so darf erfahrungsgemäß auf einen befriedigenden Erfolg nicht gerechnet 
werden. Das gilt besonders für Fälle mit geheimen Widerständen. Über- 
winden des Charakterwiderstandes heißt nicht, daß der Patient seinen 
Charakter verändert hat; das ist natürlich erst nach der Analyse seiner 
infantilen Quellen möglich. Er muß ihn bloß objektiviert und analytisches 
Interesse an ihm gewonnen haben; ist es einmal so weit, dann ist ein 
günstiger Fortgang der Analyse sehr wahrscheinlich. 


V 
Die Erschütterung des narzißtischen Schutzapparates 


Wir sagten, der wesentlichste Unterschied zwischen der Analyse eines 
Symptoms und der eines neurotischen Charakterzuges bestehe darin, daß. 
jenes von vornherein isoliert und objektiviert ist, dieser hingegen in der 
Analyse ständig herausgehoben werden muß, damit der Patient zu ihm die 
gleiche Einstellung gewinne wie zum Symptom. Das geht nur selten leicht 
vonstatten. Es gibt Patienten, die nur eine geringe Neigung zur Objek- 
tivierung des Charakters zeigen; in solchen Fällen liegt die Furcht, 
„mit sich selbst bekannt zu werden“, in verstärktem Maße vor. Geht es 
doch um die Erschütterung des narzißtischen Schutzmechanismus, um die 
Herausarbeitung der Libido-Angst, die in ihm gebunden ist. Wenn die 
Deutung dieses Verhaltens keine Abhilfe schafft,. so ist man genötigt, 
den Analysanden vor die Alternative zu stellen, entweder die Analyse 
aufzugeben oder aber sich einverstanden zu erklären, daß der Analytiker 
an seiner Stelle den fraglichen Charakterzug ständig hervorhebt, was mit 
der Zeit sehr unangenehm für den Patienten wird. 

Wenn etwa ein Patient stets affektlos und gleichgültig bleibt, was immer 





U U m 7/7), a EESEEIEREEEEREEEEE 
194 Wilhelm Reich 








er an Material vorbringt, so hat man mit der gefährlichen Affektsperre 
zu tun, deren Analyse man allem anderen voranstellen muß, wenn man 
nicht riskieren will, daß alles Material und die Deutungen alfektlos ver- 
puffen und der Kranke zwar ein guter analytischer Theoretiker wird, aber 
im übrigen der Alte bleibt. Zieht man es in einem solchen Falle nicht 
vor, die Analyse wegen des „starken Narzißmus“ aufzugeben, so kann man 
mit dem Patienten den Vertrag schließen, daß man ihm seine Affekt- 
lahmheit ständig vor Augen führen wird, daß er aber natürlich jederzeit 
aufgeben könne. Im Laufe der Zeit — es dauert erfahrungsgemäß viele 
Monate (in einem Falle währte es sogar eineinhalb Jahre) — empfindet 
der Kranke das ständige Hervorheben seiner Affektlahmheit und ihrer 
Gründe als lästig; denn man hat allmählich genügende Anhaltspunkte 
gewonnen, um den Angstschutz, den die Affektsperre darstellt, zu unter- 
graben. Der Kranke empört sich schließlich gegen die nunmehr von der 
Analyse drohende Gefahr, die Schutzinstitution des seelischen Panzers zu 
verlieren und seinen Trieben, insbesondere seiner Aggressivität, ausgeliefert 
zu sein; aber indem er sich gegen die „Schikane“ empört, erwacht auch 
seine Aggressivität, und es dauert dann nicht lange, bis der erste Affekt- 
ausbruch im Sinne einer negativen Übertragung, in Form eines Haßanfalles 
erfolgt. Ist es einmal so weit, ist das Spiel gewonnen. Sind die aggressiven 
Impulse zum Vorschein gekommen, so ist die Affektsperre durchbrochen 
und der Patient wird analysierbar. Die Analyse verläuft dann in gewohnten 


„ Bahnen. Die Schwierigkeit besteht darin, die Aggressivität hervorzulocken. 


Das Gleiche ist der Fall, wenn narzißtische Patienten zufolge ihrer 
charakterologischen Eigenheit ihren Widerstand sprachlich ausleben ; sie 
sprechen etwa hochtrabend, in terminis technicis, oder immer streng gewählt 
oder verworren. Diese Art des Sprechens bildet eine undurchdringliche 
Mauer, es kommt zu keinem echten Erleben, bis man die Art des Ausdrucks 
selbst zum Gegenstand der Analyse macht. Auch hier bewirkt die konsegente 
Deutung des Verhaltens eine Empörung des Narzißmus, denn der Patient 
hört nicht gerne, daß er so gewählt, hochtrabend oder in terminis spreche, 
um sein Minderwertigkeitsgefühl vor sich und dem Analytiker zu verbergen, 
oder daß er verworren spreche, weil er besonders gescheit scheinen wolle, 
seine Gedanken aber nicht in einfache Form bringen könne. Auf diese 
Weise hat man das feste Terrain des neurotischen Charakters an einer 
wesentlichen Stelle aufgelockert und einen Zugang zur infantilen Begründung 
des Charakters und der Neurose geschaffen. Es genügt natürlich nicht, 
daß man das eine oder andere Mal auf das Wesen des Widerstandes hin- 
weist, sondern man muß ihn um so konsequenter deuten, je hartnäckiger 
er ist. Analysiert man gleichzeitig die dadurch hervorgerufenen negativen 





Über Charakteranalyse 195 





Haltungen gegen den Analytiker, so besteht keine nennenswerte Gefahr, 
daß der Patient die Behandlung abbricht. 

In anderen Fällen wieder hat sich der Charakter als eine feste Schutz- 
mauer gegen das Erlebnis der (infantilen) Angst aufgerichtet und in dieser 
Funktion, wenn auch unter großer Einbuße an Lebensfreude, bewährt. 
Kommt der Betreffende dann wegen irgend eines Symptoms in die analytische 
Behandlung, so bewährt sich diese Schutzmauer auch in der Analyse 
erfolgreich als Charakterwiderstand, und man sieht sehr bald ein, daß 
nichts zu erreichen ist, ehe der charakterologische Panzer, der die infantile 
Angst verdeckt und aufzehrt, zerstört ist. Das ist zum Beispiel der Fall 
bei der moral insanity und bei manischen, narzißtisch-sadistischen Charak- 
teren. Man ist in solchen Fällen oft vor die schwierige Frage gestellt, ob 
das bestehende Symptom eine tiefgreifende Charakteranalyse rechtfertigt. 
Denn man muß sich darüber klar sein, daß speziell bei Fällen mit relativ 
guter charakterologischer Kompensation, wenn die Charakteranalyse die 
Kompensation zerstört, vorübergehend ein Zustand geschaffen wird, der 
einem Zusammenbruch des Ichs gleichkommt. Ja in manchen extremen 
Fällen ist ein solcher Zusammenbruch unvermeidlich, ehe die neue realitäts- 
tüchtige Ichstruktur sich entwickelt; wenn man sich auch sagen muß, 
daß der Zusammenbruch früher oder später von selbst gekommen wäre, — 
war doch die Entstehung eines Symptoms das erste Anzeichen dafür, — so 
scheut man doch, wenn nicht dringende Indikation besteht, vor einem 
Eingriff zurück, der mit einer großen Verantwortung verknüpft ist. 

Es kann in diesem Zusammenhange auch nicht verhehlt werden, dab 
die Charakteranalyse in jedem Falle, wo sie zur Anwendung kommt, 
heftige Emotionen, ja oft gefährliche Situationen schafft, und daß man 
technisch immer Herr der Situation sein muß. (Anfänger sollten daher den 
Versuch einer konsequenten Charakteranalyse nicht unternehmen.) Eine 
Zusammenstellung der diesbezüglichen analytischen Erfahrungen soll an 
anderer Stelle vorgenommen werden. Vielleicht werden manche Analytiker 
das Verfahren der Charakteranalyse aus diesem Grunde ablehnen; man 
wird dann aber auch bei der analytischen Behandlung einer nicht geringen 
Anzahl von Fällen auf keinen Erfolg rechnen dürfen. Manchen Neurosen 
ist mit milden Mitteln eben nicht beizukommen. Die Mittel der Charakter- 
analyse, die konsequente Hervorhebung des Charakterwiderstandes und die 
hartnäckige Deutung seiner Formen, Wege und Motive sind ebenso mächtig 
wie dem Patienten unangenehm. Das hat mit Erziehung nichts zu tun 
und stellt ein streng analytisches Prinzip dar, Man tut aber gut daran, 
den Patienten im Beginne auf alle voraussehbaren Schwierigkeiten und 
Unannehmlichkeiten der Behandlung aufmerksam zu machen. 


196 Wilhelm Reich 5 





Inwieweit ist eine Änderung des Charakters in der Analyse überhaupt 
nötig und in welchem Ausmaße ist sie zu erzielen ? 

Auf die erste Frage gibt es prinzipiell nur die eine Antwort: Der 
neurotische Charakter muß sich insoweit ändern, als er die charaktero- 
logische Grundlage für neurotische Symptome abgibt, und insofern er 
Störungen der Arbeits- und sexuellen Genußfähigkeit bedingt. 

Die zweite Frage ist nur empirisch zu beantworten. Es hängt in jedem 
Falle von einer Fülle von Faktoren ab, wie sehr sich der reale Erfolg 
dem erwünschten nähert. Mit den heutigen Mitteln der Psychoanalyse 
sind qualitative Änderungen des Charakters direkt nicht zu erzielen. Ein 
/wangscharakter wird nie zum hysterischen, ein paranoider Charakter wird 
nicht zum zwangsneurotischen, ein Choleriker wird nicht phlegmatisch 
und ein Sanguiniker nicht melancholisch. Wohl aber lassen sich quanti- 
tative Änderungen erzielen, die qualitativen gleichkommen, wenn sie ein 
gewisses Maß erreichen. So steigert sich etwa die geringe feminine Haltung 
der zwangsneurotischen Patientin während der Analyse immer mehr, bis 
sie die Zeichen des hysterisch-femininen Wesens annimmt und die 
männlich-aggressiven Haltungen werden geringer. 

Dadurch wird der ganze Mensch in seinem Wesen „anders“, was 
oft von Außenstehenden, die den Patienten selten sehen, eher bemerkt 
wird als vom Analytiker. Der Befangene wurde freier, der Ängstliche 
mutiger, der allzu Gewissenhafte wurde relativ skrupelloser, der Skrupellose 
gewissenhafter; aber die gewisse undefinierbare „persönliche Note“ geht 
nie verloren, sie schimmert durch alle Veränderungen hindurch durch. 
Der früher übergewissenhafte Zwangscharakter wird etwa ein realitäts- 
tüchtiger, gewissenhafter Arbeiter; der geheilte triebhafte Charakter wird 
immer leichter handeln als jener; die geheilte „moral insanity“ wird das 
Leben nie schwer nehmen und sich immer leicht fortbringen, während 
der geheilte Zwangscharakter es wegen seiner Schwerfälligkeit stets schwer 
haben wird. Aber diese Eigenschaften bleiben nach der gelungenen 
Charakteranalyse in Grenzen, die die Bewegungsfreiheit im Leben nicht 
so sehr einengen, daß die Arbeits- und sexuelle Genußfähigkeit darunter litte. 


* 


Man hat allen Grund, psychotherapeutischen Bestrebungen vorerst 
mißtrauisch zu begegnen, auch den eigenen. Es sei der sachlichen Nach- 
prüfung und Kritik vorbehalten, zu entscheiden, ob die Annahme berechtigt 
ist, daß die systematische Charakteranalyse eine vielleicht nicht unwesentliche 
Intensivierung unseres analytischen Könnens bedeutet. 





Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 
Von 


S. Ferenczi 
Budapest! 


Bemühungen, die Technik, die ich in meinen Psychoanalysen anzu- 
wenden pflege, auch anderen zugänglich zu machen, brachten mich wieder- 
holt auf das Thema des psychologischen Verständnisses überhaupt. Wäre 
es wirklich wahr, was von so vielen behauptet wird, daß das Verständnis 
für die Vorgänge im Seelenleben eines Dritten von einer besonderen 
Fähigkeit abhängt, die man Menschenkenntnis nennt, die aber als solche 
unerklärlich, daher unübertragbar sei, so wäre jede Bemühung, etwas von 
dieser Technik anderen zu lehren, von vornherein aussichtslos. Zum Glück 
ist es anders. Seit der Publikation von Freuds Ratschlägen zur psycho- 
analytischen Technik besitzen wir die ersten Ansätze einer methodischen 
Seelenuntersuchung. Jeder, der die Mühe nicht scheut, den Weisungen 
des Meisters zu folgen, wird, auch wenn er kein psychologisches Genie 
ist, bis zu ungeahnten Tiefen eines fremden, ob gesunden oder kranken 
Seelenlebens eindringen können. Die Analyse der Fehlhandlungen des 
Alltagslebens, der Träume, besonders aber der freien Assoziationen, wird 
ihn. in den Stand setzen, so manches von seinen Nebenmenschen zu 
erfahren, dessen Erfassen vorher vielleicht nur Ausnahmsmenschen möglich 
war, Die Vorliebe der Menschen für das Wunderbare wird diese Um- 
wandlung der Kunst der Menschenkenntnis in eine Art Handwerk mit 
Mißvergnügen verfolgen. Insbesondere Künstler und Schriftsteller scheinen 
dies als eine Art Eingriff in ihre Domäne zu betrachten und pflegen die 
Psychoanalyse nach anfänglichem Interesse als eine sie wenig reizende mecha- 
nische Arbeitsweise weit von sich zu weisen. Diese Antipathie nimmt uns kaum 
wunder; die Wissenschaft ist ja eine fortschreitende Desillusionierung, sie setzt 
an Stelle des Mystischen und Sonderbaren Erklärungen, immer und überall 
dieselben unabwendbaren Gesetzmäßigkeiten, die in ihrer Einförmigkeit 

1) Vortrag, gehalten in der Ungarländischen Psychoanalytischen Vereinigung 
(Zyklus 1927/28). 


a a a east 
198 S. Ferenczi 





leicht Langweile, in ihrer ehernen Zwangsläufigkeit Unlust hervor- 
rufen. Zur teilweisen Beruhigung der Gemüter möge allerdings dienen, 
daß es natürlich auch hier, wie in allen Handwerken, immer auch künst- 
lerische Ausnahmen geben wird, von denen wir die Fortschritte und die 
neuen Perspektiven erhoffen. 

Vom praktischen Standpunkte gesehen, ist es aber ein unleugbarer 
Fortschritt, daß die Analyse allmählich auch dem nur durchschnittlich 
begabten Arzt und Gelehrten die Werkzeuge der feineren Menschen- 
forschung in die Hand gibt. Es ist wie in der Chirurgie: vor der Ent- 
deckung der Anästhesie und der Asepsis war es das Vorrecht einiger 
weniger, die wundärztliche „Heilkunst“ auszuüben; nur diese konnten 
„eito, tuto et Jucunde“ arbeiten. Wohl gibt es auch heute noch Künstler 
der chirurgischen Technik, doch die Fortschritte ermöglichen all den 
Tausenden von Durchschnittsärzten ihre nützliche, oft lebensrettende 
Tätigkeit zu entfalten. 

Allerdings sprach man auch außerhalb der Seelenanalyse von psychologischer 
Technik; man verstand darunter die Meßmethoden der psychologischen 
Laboratorien. Diese Art „Psychotechnik“ ist auch heute im Schwange, 
sie mag auch für einzelne einfache praktische Aufgaben genügen. In der 
Analyse handelt es sich um etwas viel Höheres: um die Erfassung der 
Topik, Dynamik und Ökonomie des ganzen seelischen Betriebes, dies zwar 
ohne die imponierende Apparatur der Laboratorien, doch mit stetig 
wachsendem Anspruch auf Sicherheit und vor allem mit unvergleichlich 
größerer Leistungsfähigkeit. 

Immerhin gab und gibt es auch innerhalb der psychoanalytischen 
Technik noch vieles, wovon man den Eindruck hatte, daß es sich dabei 
um etwas Individuelles, mit Worten kaum Definierbares handle. Da war vor 
allem der Umstand, daß der „persönlichen Gleichung“ bei dieser Arbeit 
eine viel größere Wichtigkeit beizukommen schien, als wir sie in der 
Wissenschaft auch sonst akzeptieren mußten. Freud selbst ließ in seinen 
ersten Mitteilungen über die Technik die Möglichkeit offen, daß nebst 
der seinen auch für andere Methoden der Arbeit in der Psychoanalyse 
Spielraum zu gewähren sei. Diese seine Äußerung stammt allerdings aus 
der Zeit vor der Herauskristallisierung der zweiten psychoanalytischen 
Grundregel, der nämlich, daß jeder, der einen anderen analysieren 
will, zuerst selber analysiert sein muß. Seit der Befolgung dieser Regel 
schwindet immer mehr die Bedeutsamkeit der persönlichen Note des Analytikers. 
Jeder, der gründlich analysiert wurde, der seine unvermeidlichen Schwächen 
und Charaktereigenheiten voll zu erkennen und zu beherrschen gelernt 
hat, wird bei der Betrachtung und der Behandlung desselben psychischen 





Die Elastizität der psychoanalytischen Tedınik 199 





Untersuchungsobjektes unvermeidlich zu denselben objektiven Feststellungen 
gelangen und logischerweise dieselben taktischen und technischen Maß- 
nahmen ergreifen. Ich habe tatsächlich die Empfindung, daß seit der 
Einführung der zweiten Grundregel die Differenzen der analytischen 
Technik im Schwinden begriffen sind. 

Wenn man sich nun Rechenschaft über den noch immer ungelösten 
Pest dieser persönlichen Gleichung zu geben versucht und wenn man in 
der Lage ist, viele Schüler und Patienten zu sehen, die bereits von anderen 
analysiert wurden, besonders aber, wenn man, wie ich, so viel mit den 
Folgen eigener, früher begangener Mißgriffe zu kämpfen hatte, so maßt 
man sich das Recht an, ein zusammenfassendes Urteil über die Mehrzahl 
dieser Differenzen und Irrtümer zu fällen. Ich kam zur Überzeugung, daß 
es vor allem eine Frage des psychologischen Taktes ist, wann und wie 
man einem Analysierten etwas mitzuteilen, wann man das Material, das 
einem geliefert wird, für zureichend erklären darf, um aus ihnen eine 
Konsequenz zu ziehen; in welche Form die Mitteilung gegebenenfalls 
gekleidet werden muß; wie man auf eine unerwartete oder verblüffende 
Reaktion des Patienten reagieren darf; wann man schweigen und weitere 
Assoziationen abwarten soll; wann das Schweigen ein unnützes Quälen des 
Patienten ist, usw. Sie sehen, mit dem Worte „Takt“ gelang es mir nur, 
die Unbestimmtheit in eine einfache und ansprechende Formel zu bringen. 
Was ist überhaupt Takt? Die Antwort auf diese Frage fällt uns nicht 
schwer. Takt ist Einfühlungsvermögen. Gelingt es uns mit 
Hilfe unseres Wissens, das wir uns aus der Zergliederung vieler 
menschlicher Seelen, vor allem aber aus der Zergliederung unseres Selbst 
geholt haben, die möglichen oder wahrscheinlichen, aber ihm selbst noch 
ungeahnten Assoziationen des Patienten zu vergegenwärtigen, so können 
wir, da wir nicht, wie der Patient, mit Widerständen zu kämpfen haben, 
nicht nur die zurückgehaltenen Gedanken des Patienten erraten, sondern 
auch Tendenzen, die ihm unbewußt sind. Indem wir gleichzeitig 
der Stärke des Widerstandes fortwährend gewärtig bleiben, wird es uns 
nicht schwer fallen, die Entscheidung über die eventuelle Aktualität einer 
Mitteilung und auch über die Form, in die sie gekleidet werden muß, 
zu fällen. Diese Einfühlung wird uns davor hüten, den Widerstand des 
Patienten unnötig oder unzeitgemäß zu reizen; das Leiden ganz zu ersparen, 
ist allerdings auch der Psychoanalyse nicht gegeben, ja, ein Leid ertragen zu 
lernen, ist eines der Haupterfolge der Psychoanalyse. Doch ein taktloses 
Darauflosdrängen würde dem Patienten nur die unbewußt heiß ersehnte 
Gelegenheit verschaffen, sich unserem Einflusse zu entziehen. 

In ihrer Gesamtheit machen alle diese Vorsichtsmaßnahmen auf die 


200 $. Ferenczi 





Analysierten den Eindruck der Güte, auch wenn die Motive der Fein- 
fühligkeit rein aus dem Intellektuellen des Analytikers stammen. In den 
später folgenden Ausführungen werde ich aber auch diesen Eindruck des 
Patienten in gewissem Sinne rechtfertigen müssen. Besteht doch im 
Wesen kein Unterschied zwischen dem von uns geforderten Takt und der 
moralischen Forderung, daß man keinem was antun soll, was man unter 
den gleichen Verhältnissen selber nicht von anderen erfahren möchte. 

Ich beeile mich, gleich hier einzufügen, daß die Fähigkeit zu dieser 
Art „Güte“ bloß eine Seite des analytischen Verständnisses bedeutet. Bevor 
sich der Arzt zu einer Mitteilung entschließt, muß er vorerst seine Libido 
vom Patienten für einen Moment abziehen, die Situation kühl abwägen, 
er darf sich also keinesfalls von seinen Gefühlen allein leiten lassen. 

In den nun folgenden Sätzen will ich aphoristisch einzelne Beispiele 
zur Illustrierung dieser allgemein gehaltenen Gesichtspunkte vorbringen. 


* 


Es ist zweckmäßig, die Analyse eher als einen Entwicklungsprozeß, der 
sich vor unseren Augen abspielt, denn als das Werk eines Baumeisters 
aufzufassen, der einen vorgefaßten Plan zu verwirklichen sucht. Man 
lasse sich also unter keinen Umständen dazu verleiten, dem zu Analy- 
sierenden mehr zu versprechen, als daß er, wenn er sich dem analytischen 
Prozesse unterwirft, schließlich viel mehr von sich wissen und wenn er 
bis zum Schlusse ausharrt, sich in erhöhtem Maße und mit richtigerer 
Energieverteilung den unvermeidlichen Schwierigkeiten des Lebens wird 
anpassen können. Man kann ihm allenfalls auch sagen, daß wir keine 
bessere und gewiß keine radikalere Behandlung von psychoneurotischen 
und Charakterschwierigkeiten kennen. Wir verheimlichen es vor ihm 
durchaus nicht, daß es auch andere Methoden gibt, die viel raschere und 
bestimmtere Aussichten auf Heilung versprechen, und sind eigentlich froh, 
wenn uns dann die Patienten sagen, daß die bereits jahrelang suggestiv, 
arbeitstherapeutisch oder mittels Methoden der Willensstärkung behandelt 
worden sind; anderenfalls stellen wir es dem Patienten anheim, eine 
dieser vielversprechenden Heilmethoden zu versuchen, bevor sie sich mit 
uns einlassen. Den gewöhnlich erhobenen Einwand der Patienten aber, 
daß sie an unserer Methode oder Theorie nicht glauben, lassen wir nicht 
gelten. Wir erklären von vornherein, daß unsere Technik auf das unver- 
diente Geschenk eines solchen antizipierten Vertrauens überhaupt ver- 
‚zichtet; der Patient braucht uns nur dann zu glauben, wenn ihm die 
Erfahrungen der Kur dazu berechtigen. Einen anderen Einwand, den 
nämlich, daß wir auf diese Weise von vornherein jede Schuld am 





Die Elastizität der psychoanalytishen Technik 201 


eventuellen Mißlingen der Kur auf das Konto der Ungeduld des Patienten 
setzen, können wir nicht entkräften und müssen es dem Patienten über- 
lassen, ob er unter diesen schwierigen Bedingungen das Risiko der Kur 
tragen will oder nicht. Sind diese Teilfragen nicht von vornherein in 
diesem Sinne genau geregelt, so spielt man dem Widerstand der Patienten 
die gefährlichsten Waffen in die Hand, die er früher oder später 
gegen die Zwecke der Kur und gegen uns zu wenden nicht versäumen wird. 
Man lasse sich dabei durch keine noch so erschreckende Frage von dieser 
Basis abbringen. „Kann also die Kur auch zwei, drei, fünf, zehn Jahre 
dauern?” wird mancher Patient mit sichtlicher Feindseligkeit fragen. „All 
das ist möglich“ — werden wir ihm antworten. „Natürlich ist aber eine 
zehnjährige Analyse praktisch gleichbedeutend mit einem Mißlingen der- 
selben. Da wir in keinem Falle die Größe der zu überwindenden 
Schwierigkeiten im vöraus abschätzen können, dürfen wir Ihnen nichts 
Sicheres versprechen, und berufen uns nur darauf, daß in vielen Fällen 
auch viel kürzere Zeiten genügen. Da Sie aber wahrscheinlich im Glauben 
sind, daß Ärzte gerne günstige Prognosen stellen, da Sie ferner gewiß 
schon manches Ungünstige über die Theorie und Technik der Psycho- 
analyse gehört haben oder bald hören werden, ist es besser, wenn Sie, 
von Ihrem Standpunkt aus, diese Kur als einen gewagten Versuch 
betrachten, der Ihnen viel Mühe, Zeit und Geld kosten wird: Sie müssen 
es also vom Grade ihres Leidens abhängig sein lassen, ob Sie trotz alledem 
den Versuch mit uns machen wollen. Jedenfalls überlegen Sie sich genau, 
bevor Sie anfangen, denn ein Beginnen ohne die ernste Absicht, auch 
unvermeidlichen Verschlimmerungen zum Trotz auszuharren, wird Ihre 
bisherigen Enttäuschungen nur um eine neue vermehren.“ 

Ich glaube, daß diese gewiß zu pessimistische Vorbereitung doch die 
zweckmäßigere ist; jedenfalls entspricht sie der Forderung der „Einfühlungs- 
regel“. Hinter der oft allzu laut zur Schau getragenen Glaubensseligkeit 
der Patienten steckt nämlich fast immer eine starke Dosis Mißtrauen, das 
der Kranke durch die von uns stürmisch geforderten Heilversprechungen 
überschreien möchte. Charakteristisch ist z. B. die Frage, die oft an uns 
gerichtet wird, auch nachdem wir uns etwa eine Stunde lang damit abge- 
müht haben, dem Patienten beizubringen, daß wir im gegebenen Falle 
eine Analyse für angezeigt halten: „Glauben Sie, Herr Doktor, daß mir 
Ihre Kur auch wirklich helfen wird?“ Es wäre verfehlt, auf diese Frage 
einfach mit einem „Ja“ zu antworten. Man sage lieber dem Patienten, 
daß wir uns von einer neuerlichen Versicherung unsererseits nichts ver- 
sprechen. Auch die noch so oft wiederholte Anpreisung der Kur kann in 
Wirklichkeit den versteckten Verdacht des Patienten nicht aus der Welt 


Int. Zeitschrift f. Psychoanalyse, XIV/a 14 


[U 
202 S. Ferenczi 

schaffen, daß der Arzt ein Geschäftsmann ist, der seine Methode, d. h. 
seine Ware, um jeden Preis an den Mann bringen will. Noch durch- 
sichtiger ist der versteckte Unglaube, wenn der Patient etwa fragt: „Und 
glauben Sie nicht, Herr Doktor, daß mir Ihre Methode auch schaden 
kann?“ Gewöhnlich antworte ich mit der Gegenfrage: „Was ist Ihre 
Beschäftigung?“ Die Antwort lautet etwa: „ich bin Architekt.“ „Nun, 
was würden Sie jemandem antworten, der, nachdem Sie ihm den Plan 
eines Neubaues vorlegten, Sie fragen würde, ob der Bau nicht zusammen- 
stürzen wird?“ Gewöhnlich verstummen darauf die Forderungen nach 
weiterer Versicherung, als Zeichen dessen, daß der Patient zur Einsicht 
gekommen ist, daß man dem Fachmanne ein gewisses MaB von Vertrauen 
bei jeder Art Arbeit kreditieren muß, wobei natürlich Enttäuschungen 
nicht ausgeschlossen sind. 

Es wird der Psychoanalyse oft vorgeworfen, daß sie sich auffällig viel 
mit finanziellen Fragen beschäftigt. Ich glaube, immer noch viel zu wenig. 
Auch der wohlhabendste Mensch gibt nur höchst ungern sein Geld an den 
Arzt ab; etwas in uns scheint die ärztliche Hilfe, die tatsächlich in der 
Kindheit zuerst von den Pflegepersonen geleistet wurde, als etwas uns selbst- 
verständlich Zukommendes zu betrachten, und am Ende jeden Monats, 
zur Zeit, wo die Patienten ihre Honorarrechnungen erhalten, löst sich 
der Widerstand des Kranken nicht, bevor alles Versteckte oder unbewußt 
rege gewordener Haß, Mißtrauen und Verdächtigung nochmals zur Sprache 
gebracht wurde. Das charakteristischeste Beispiel für die Distanz zwischen 
bewußter Opferwilligkeit und versteckter Unlust gab wohl jener Patient, 
der am Beginn der ärztlichen Unterredung die Äußerung tat: „Herr 
Doktor, wenn Sie mir helfen, schenke ich Ihnen mein ganzes Vermögen 1° 
Der Arzt antwortete: „Ich begnüge mich mit dreißig Kronen per Stunde.“ 
„Ist das nicht etwas zu viel?“ war die unerwartete Antwort des Kranken. 

Im Laufe der Analyse ist es gut, mit einem Auge stets nach ver- 
steckten oder unbewußten Äußerungen des Unglaubens und der Ablehnung 
zu spähen und sie dann schonungslos durchzusprechen. Es ist ja von 
vornherein verständlich, daß der Widerstand des Patienten keine sich ihm 
darbietende günstige Gelegenheit unbenützt läßt. Jeder Patient, ausnahms- 
los, bemerkt die kleinsten Absonderlichkeiten im Benehmen, in der 
äußeren Erscheinung, in der Sprechweise des Arztes, doch keiner ent- 
schließt sich, ohne vorherige Aufmunterung, dazu, sie uns ins Gesicht zu 
sagen, auch wenn er damit in gröblicher Weise gegen die analytische 
Hauptgrundregel verstößt; es bleibt also nichts anderes übrig, als daß wir auf 


Grund des eben vorausgegangenen Assoziationsmaterials immer’selber erraten, 


wann etwa der Patient durch ein allzu lautes Nießen oder Nasenschneuzen 





Die Elastizität der psychoanalytishen Tehnik 203 


des Arztes in seinem ästhetischen Fühlen verletzt wurde, wann er an der 
Form unseres Gesichtes Anstoß nahm oder unsere Statur mit anderen, 
viel imposanteren vergleichen mußte. — Ich habe schon bei vielen anderen 
Gelegenheiten darzustellen versucht, wie der Analytiker in der Kur oft 
wochenlang sich zur Rolle des „Watschenmannes“ hergeben muß, an dem 
der Patient seine Unlustaffekte ausprobiert. Wenn wir uns davor nicht nur nicht 
hüten, sondern den allzu zaghaften Patienten dazu bei jeder sich darbietenden 
Gelegenheit aufmuntern, so werden wir früher oder später den wohl- 
verdienten Lohn unserer Geduld in der Form der sich meldenden positiven 
Übertragung einheimsen. Jede Spur von Ärger oder Beleidigtsein seitens 
des Arztes verlängert die Dauer der Widerstandsperiode; wenn aber der 
Arzt sich nicht verteidigt, so wird der Patient des einseitigen Kampfes 
allmählich müde; hat er sich genügend ausgetobt, so kann er nicht umhin, 
auch die hinter der lauten Abwehr versteckten freundlichen Gefühle, wenn 
auch mit Zaudern, zu bekennen, womit eventuell ein tieferes Eindringen 
ins latente Material, insbesondere in jene infantilen Situationen ermög- 
in cht wird, in denen die Grundlage zu gewissen maliziösen Charakterzügen 
(gewöhnlich durch unverständige Erziehungspersonen) gelegt wurde.! 
Nichts ist schädlicher in der Analyse, als das schulmeisterische oder 
auch nur autoritative Auftreten des Arztes. Alle unsere Deutungen müssen 
eher den Charakter eines Vorschlages, denn einer sicheren Behauptung 
haben, und dies nicht nur, damit wir den Patienten nicht reizen, sondern 
weil wir uns tatsächlich auch irren können. Das nach uralter Sitte des 
Handelsmannes jeder Verrechnung angehängte Zeichen „S. E.“, (salvo errore) 
d. h.: Irrtum vorbehalten, wäre auch bei jeder analytischen Deutung zu 
erwähnen. Doch auch unser Vertrauen zu unseren Theorien darf nur ein 
bedingtes sein, denn vielleicht handelt es sich im gegebenen Falle um die 
berühmte Ausnahme von der Regel oder gar um die Notwendigkeit, an 
der bisherigen Theorie etwas zu ändern. Es ist mir schon passiert, daß ein 
ungebildeter, anscheinend ganz naiver Patient Einwände gegen meine 
Erklärungen vorbrachte, die ich reflektorisch abzulehnen bereit war, doch 
die bessere Überlegung zeigte mir, daß nicht ich, sondern der Patient im 
Rechte war, ja, daß er mich mit seiner Einwendung zu einem viel 
tieferen Erfassen des Gegenstandes im allgemeinen verhalf. Die 
Bescheidenheit des Analytikers sei also nicht eine ein- 
gelernte Pose, sondern der Ausdruck der Einsichtin die 
Begrenztheit unseres Wissens. Nebenbei bemerkt, ist dies viel- 
leicht der Punkt, an dem mit Hilfe des psychoanalytischen Hebels die 





re EEE En 
ı) S. dazu auch meinen Innsbrucker Kongreßvortrag „Das Problem der Beendigung 
der Analysen“. Diese Zeitschr., Bd. XIII (1927). 


14” 








204 S. Ferenczi 


Umwälzung in der bisherigen Einstellung des Arztes zum Patienten ein- 
setzen wird. Man vergleiche nur mit unserer Einfühlungsregel die Über- 
hebung, mit der bisher der allwissende und allvermögende Arzt sich dem 
Kranken gegenüberzustellen pflegte. 

Selbstverständlich meine ich nicht, daß der Analytiker überbescheiden 
sei; er ist vollauf berechtigt, zu erwarten, daß sich in den allermeisten 
Fällen früher oder später seine auf Erfahrung gestützte Deutung 
bewahrheiten und der Patient sich vor den sich häufenden Beweisen 
beugen wird. Jedenfalls aber muß man geduldig abwarten, bis die Ent- 
scheidung vom Patienten gefällt wird; jede Ungeduld seitens des Arztes 
kostet dem Patienten Zeit und Geld und dem Arzte eine Menge Arbeit, 
die er sich ganz gut hätte ersparen können. 

Ich akzeptiere den von einem Patienten geprägten Ausdruck von der 
„Elastizität der analytischen Technik“. Man hat, wie ein elastisches Band, 
den Tendenzen des Patienten nachzugeben, doch ohne den Zug in der 
Richtung der eigenen Ansichten aufzugeben, so lange die Haltlosigkeit 
der einen oder der anderen Position nicht voll erwiesen ist. 

Keinesfalls darf man sich schämen, früher gemachte Irrtümer rück- 
haltslos zu bekennen. Man vergesse nie, daß die Analyse kein Suggestiv- 
verfahren ist, bei dem vor allem das Ansehen des Arztes und seine 
Unfehlbarkeit zu wahren ist. Das einzige, worauf auch die Analyse 
Anspruch erhebt, ist das Vertrauen zur Offenheit und Aufrichtigkeit des 
Arztes, und diesem tut das offene Bekennen eines Irrtums keinen 
Schaden an. 

Die analytische Einstellung fordert vom Arzte nicht nur die strenge 
Kontrolle des eigenen Narzißmus, sondern auch die scharfe Über- 
wachung von Gefühlsreaktionen jeglicher Art. War man früher etwa 
der Ansicht, daß ein allzu hoher Grad von „Antipathie“ eine Gegen- 
anzeige gegen die Durchführung einer analytischen Kur abgeben kann, so 
müssen wir nach tieferer Einsicht in die Verhältnisse eine solche Gegen- 
ndikation von vornherein ausschließen und vom analysierten Analytiker 
erwarten, daß seine Selbstkenntnis und Selbstkontrolle stärker ist, als daß 
er sich vor Indiosynkrasien beugen müßte. Jene „antipathischen 
Züge“ sind ja in den meisten Fällen nur Vorbauten, hinter denen sich 
ganz andere Eigenschaften verstecken. Es hieße also dem Patienten auf- 
zusitzen, ginge man auf solche Fallen ein; das Weggejagtwerden ist 
oft der unbewußte Zweck des unausstehlichen Benehmens. Das Wissen um 
diese Dinge befähigt uns, auch den unerquicklichsten oder abstoßendsten 
Menschen in voller Überlegenheit als einen heilungsbedürftigen Patienten 
zu betrachten und ihm, als solchem, sogar unsere Sympathie nicht zu ver- 





| 


Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 205 





sagen. Diese mehr als christliche Demut zu erlernen, gehört zu den 
schwersten Aufgaben der psychoanalytischen Praxis. Bringen wir sie aber 
zustande, so mag uns die Korrektur auch in verzweifelten Fällen gelingen. 
Ich muß nochmals betonen, daß auch hier nur die wirkliche Gefühls- 
einstellung hilft, eine nur gemachte Pose wird vom scharfsinnigen 
Patienten mit Leichtigkeit entlarvt. 

Allmählich wird man dessen gewahr, wie kompliziert die psychische 
Arbeitsleistung eines Analytikers eigentlich ist. Man hat die freien Assozia- 
tionen des Patienten auf sich einwirken zu lassen; gleichzeitig läßt man seine 
eigene Phantasie mit diesem Assoziationsmaterial spielen; zwischendurch 
vergleicht man die neuen Verknüpfungen, die sich ergeben, mit früheren 
Ergebnissen der Analyse, ohne auch nur für einen Moment die Rücksicht 
und Kritik in bezug auf die eigenen Tendenzen außer acht zu lassen. 

Man könnte förmlich von einem immerwährenden ÖOszillieren zwischen 
Einfühlung, Selbstbeobachtung und Urteilsfällung sprechen. Dieses letztere 
meldet sich von Zeit zu Zeit ganz spontan in Form eines Signals, das 
man natürlich zunächst nur als solches wertet; erst auf Grund weiteren 
Beweismaterials darf man sich endlich zu einer Deutung entschließen. 

Mit Deutungen sparsam zu sein, überhaupt: nichts Überflüssiges zu 
reden, ist eine der wichtigsten Regeln in der Analyse; der Deutungs- 
fanatismus gehört zu den Kinderkrankheiten der Analytiker. Wenn man 
die Widerstände des Patienten analytisch auflöst, so kommt man gelegent- 
lich zu Stadien in der Analyse, in denen der Patient die ganze Deutungs- 
arbeit fast ganz allein oder nur mit geringer Nachhilfe leistet. 

Und nun nochmals ein Wort über meine viel gelobte und viel getadelte 
„Aktivität“." Ich glaube, endlich in der Lage zu sein, die von vielen mit 
Recht geforderte präzise Indikationsstellung bezüglich des Zeitpunktes 
dieser Maßnahme anzugeben. Sie wissen vielleicht, daß ich ursprünglich 
geneigt war, nebst der freien Assoziation auch gewisse Verhaltungsmaß- 
regeln vorzuschreiben, sobald der Widerstand eine solche Belastung 
gestattete, Später lehrte mich die Erfahrung, daß man Gebote und Verbote 
nicht, höchstens etwa Ratschläge zu gewissen Änderungen der Verhaltungs- 
weise geben darf, und immer bereit sein muß, sie zurückzuziehen, wenn 
sie sich als hinderlich erweisen oder Widerstände provozieren. Meine von 
vornherein festgehaltene Ansicht, daß immer nur der Patient und nie der 
Arzt „aktiv“ sein darf, führte mich schließlich zur Feststellung, daß wir 
uns damit begnügen müssen, versteckte Aktionstendenzen des Patienten 


ı) $S. mein Sammelwerk: „Bausteine zur Psychoanalyse“, Bd. I/II, Internat, 
Psychoanalyt. Verlag, Leipzig und Wien, 1927. 


— u . 


2006 S. Ferenczi 





zu deuten, leise Versuche, die bisher bestandenen neurotischen Hemmungen 
zu überwinden, unterstützen, ohne vorerst auf die Durchführung von 
Gewaltmaßregeln zu drängen oder sie auch nur anzuraten. Sind 
wir geduldig genug, so kommt der Patient früher oder später selber mit 
der Frage, ob er diesen oder jenen Versuch (z. B. einen phobischen Vor- 
bau zu übertreten) wagen darf; da werden wir ihm allerdings unsere Ein- 
willigung und Ermutigung nicht versagen und auf diese Weise alle von 
der Aktivität erwarteten Fortschritte erreichen, ohne den Patienten zu 
reizen und es mit ihm zu verderben. Mit anderen Worten: den Zeitpunkt 
zur Aktivität hat der Patient selber zu bestimmen oder wenigstens unmiß- 
verständlich als gegeben anzudeuten. Es steht aber nach wie vor fest, daB 
solche Versuche der Patienten Spannungsänderungen in den psychischen 
Systemen hervorrufen und sich dadurch als Mittel der analytischen Technik 
nebst den Assoziationen voll bewähren, 

In einer anderen technischen Arbeit! habe ich bereits auf die Wichtig- 
keit des Durcharbeitens hingewiesen, doch habe ich davon etwas einseitig 
als von einem rein quantitativen Moment gesprochen. Ich meine aber, 
daß das Durcharbeiten auch eine qualitative Seite hat und daß die 
geduldige Rekonstruktion des Mechanismus der Symptom- und Charakter- 
bildung bei jedem neueren Fortschritt in der Analyse zu wiederholen ist. 
Jede bedeutsame neue Einsicht erfordert die Revision 
des ganzen bisherigen Materials und mag wesentliche Stücke 
des vielleicht schon fertig geglaubten Baues umstürzen. Es wird wohl die 
Aufgabe einer ins Einzelne gehenden Dynamik der Technik sein, die 
feineren Beziehungen dieses qualitativen Durcharbeitens zum quantitativen 
Moment (Affektabfuhr) festzustellen. 

Eine spezielle Form der Revisionsarbeit scheint aber in jedem Falle 
wiederzukehren. Ich meine die Revision der Erlebnisse während 
der analytischen Behandlung selbst. Die Analyse wird all- 
mählich selber zu einem Stück Lebensgeschichte des Patienten, die er, bevor 
er von uns Abschied nimmt, nochmals Revue passieren läßt. Bei dieser 
Revision betrachtet er die Erfahrungen am Beginne seiner Bekanntschaft mit 
uns, und die darauffolgenden Peripetien des Widerstandes und der Übertragung, 
die ihm seinerzeit zu aktuell und lebenswichtig erschienen, nunmehr von 
einer gewissen Distanz und mit viel größerer Objektivität, um dann seinen 
Blick von der Analyse weg in die Richtung der realen Aufgaben des 
Lebens zu lenken. 

Schließlich möchte ich einige Bemerkungen zur Metapsychologie der 





ı) Das Problem der Beendigung der Analysen. 








I = 





Die Hlastizi 


tät der psychoanalytischen Technik 207 





Technik riskieren.” An vielen Orten wurde, unter anderen auch von mir, 
darauf hingewiesen, daß der Heilungsvorgang zu einem großen Teil darin 
besteht, daß der Patient den Analytiker (den neuen Vater) an die Stelle 
des in seinem Über-Ich so breiten Raum einnehmenden wirklichen Vaters 
setzt und nunmehr mit diesem analytischen Über-Ich weiterlebt. Ich leugne 
nun nicht, daß dieser Prozeß in allen Fällen wirklich vor sich geht, gebe 
auch zu, daß diese Substitution bedeutende therapeutische Erfolge mit 
sich bringen kann, möchte aber hinzufügen, daß eine wirkliche Charakter- 
analyse, wenigstens vorübergehend, mit jeder Art von Über-Ich, also auch 
mit dem des Analytikers, aufzuräumen hat. Schließlich muß ja der Patient 
von aller gefühlsmäßigen Bindung, soweit sie über die Vernunft und die 
eigenen libidinösen Tendenzen hinausgeht, frei werden. Nur diese Art 
Abbau des Über-Ichs überhaupt kann eine radikale Heilung herbeiführen ; 
Erfolge, die nur in der Substitution des einen Über-Ich durch ein anderes 
bestehen, müssen noch als Übertragungserfolge bezeichnet werden; dem 
Endzweck der Therapie, auch die Übertragung loszuwerden, werden sie 
gewiß nicht gerecht. 

Als ein bisher unberührtes Problem weise ich auch auf eine mögliche 
Metapsychologie der Seelenvorgänge des Analytikers während der Analyse 
hin. Seine Besetzungen pendeln zwischen Identifizierung (analytischer 
Obj ektliebe) einerseits und Selbstkontrolle, respektive intellektueller Tätig- 
keit andererseits hin und her, Während der langen Tagesarbeit kann er 
sich dem Vergnügen des freien Auslebens seines Narzißmus und Egoismus 
in Wirklichkeit überhaupt nicht, und in der Phantasie nur für kurze 
Momente hingeben. Ich zweifle nicht daran, daß eine solche, sonst ım 
Leben kaum vorkommende Überbelastung früher oder später die Schaffung 
einer besonderen Hygiene des Analytikers erfordern wird. 

Unanalysierte (wilde) Analytiker und unvollkommen geheilte Patienten 
sind mit Leichtigkeit daran zu erkennen, daß sie an einer Art „Analysier- 
zwang“ leiden; die freie Beweglichkeit der Libido nach beendigter Analyse 
gestattet dagegen, daß man zwar, wenn nötig, die analytische Selbst- 
erkenntnis und Selbstbeherrschung walten läßt, sonst aber am naiven 
Lebensgenuß keineswegs gehindert ist. Das ideale Resultat einer beendigten 
Analyse ist also gerade jene Elastizität, die die Technik auch vom Seelen- 
arzte fordert. Wohl ein Argument mehr für die Unerläßlichkeit der 


„zweiten psychoanalytischen Grundregel“. 
> 
ı) Unter „Metapsychologie“ verstehen wir bekanntlich die Summe von Vor- 
stellungen, die wir uns auf Grund psychoanalytischer Erfahrung über die Struktur 
und die Energetik des psychischen Apparates machen können. S.: Freuds meta- 
psychologische Arbeiten im V. Bande der Gesamtausgabe seiner Werke. 





— 


208 | $. Ferenezi 
on | 

Mit Rücksicht auf die, wie ich glaube, große Bedeutsamkeit jedes 
technischen Ratschlages konnte ich mich nicht entschließen, den vor- 
liegenden Aufsatz zu publizieren, ohne ihn vorher der Kritik eines 
Kollegen unterworfen zu haben. 

„Der Titel (Elastizität) ist ausgezeichnet, so lautete die Äußerung eines 
Kritikers, und verdiente auf mehr angewendet zu werden, denn Freuds 
Ratschläge zur Technik waren wesentlich negativ. Er hielt es für das 
Wichtigste, herauszuheben, was man nicht tun soll, die der Analyse 
widerstrebenden Versuchungen aufzuzeigen. Fast alles, was man positiv tun 
soll, hat er dem von Ihnen eingeführten ‚Takt‘ überlassen. Dabei erzielte er 
aber, daß die Gehorsamen die Elastizität dieser Abmachungen nicht 
bemerkten und sich ihnen, als ob es Jabu-Verordnungen wären, unter- 
warfen. Das mußte einmal revidiert werden, allerdings ohne die 
Verpflichtungen aufzuheben.“ 

„So wahr das ist, was Sie über den ‚Takt‘ sagen, so bedenklich erscheint 
mir das Zugeständnis in dieser Form. Alle, die keinen Takt haben, werden 
darin eine Rechtfertigung der Willkür, d. h. des subjektiven Faktors 
(d. h. des Einflusses der unbezwungenen Eigenkomplexe) sehen. Was wir 
in Wirklichkeit vornehmen, ist eine meist vorbewußt bleibende Abwägung 
der verschiedenen Reaktionen, die wir von unseren Eingriffen erwarten, 
wobei es vor allem auf die quantitative Einschätzung der dynamischen 
Faktoren in der Situation ankommt. Regeln für diese Abmessungen lassen 
sich natürlich nicht geben. Erfahrung und Normalität des Analytikers 
werden darüber zu entscheiden haben. Aber man sollte den Takt so seines 
mystischen Charakters entkleiden.“ 


* 


Ich teile vollkommen die Ansicht meines Kritikers, daß auch diese wie 
jede vorherige technische Anweisung trotz der größten Vorsicht in ihrer 
Abfassung unweigerlich zu Mißdeutungen und zu Mißbräuchen führen 
wird. Zweifellos werden manche, u. zw. nicht nur Anfänger, sondern 
alle, die zu Übertreibungen neigen, meine Ausführungen über die Bedeut- 
samkeit der Einfühlung zum Anlaß dazu nehmen, das Hauptgewicht in 
der Behandlung auf den subjektiven Faktor, d. h. auf die Intuition zu 
legen und den anderen, von mir als entscheidend hervorgehobenen Faktor, 
die bewußte Abschätzung der dynamischen Situation, mißachten. Gegen 
solche Mißbräuche ist wohl auch die wiederholte Warnung wahrschein- 
lich nutzlos. Habe ich es doch erlebt, daß einzelne Analytiker meine vor- 
sichtigen und immer vorsichtiger werdenden Versuche der Aktivität dazu 
benützten, um ihrer Neigung zur ganz unanalytischen, manchmal sadistisch 





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Die Elastizität der psychoanalytischen Technik 209 


anmutenden Gewaltmaßregel zu frönen. Es würde mich also nicht 
wundern, wenn ich es nach einiger Zeit zu hören bekäme, daß jemand 
meine Ansichten über die notwendige Duldsamkeit des Analytikers als 
Grundlage einer masochistischen Technik betrachtet. Und doch ist das von 
mir befolgte und empfohlene Verfahren, die Elastizität, durchaus nicht 
gleichbedeutend mit widerstandslosem Nachgeben. Wir trachten zwar, alle 
Launen des Kranken nachzufühlen, halten aber auch den uns von der 
analytischen Erfahrung diktierten Standpunkt bis zum Äußersten fest. 

Den „Takt. seines mystischen Charakters zu berauben, war gerade das 
Hauptmotiv, das mich zum Schreiben dieses Aufsatzes bewog; ich gebe 
aber zu, daß ich dieses Problem nur angeschnitten, keineswegs aber gelöst 
habe. Bezüglich der Möglichkeit zur Fassung auch positiver Ratschläge zur 
Abschätzung gewisser typischer, dynamischer Verhältnisse bin ich vielleicht 
etwas optimistischer als mein Kritiker. Übrigens ist seine Forderung, daß 
der Analytiker erfahren und normal sein soll, ungefähr gleichbedeutend 
mit meiner Forderung, daß eine beendigte Analyse des Analytikers 
die einzig verläßliche Grundlage einer guten analytischen Technik sei. 
Selbstverständlich werden sich beim gut analysierten Analytiker die von 
mir geforderten Einfühlungs- und Abschätzungsprozesse nicht im unbe- 
wußten, sondern auf dem vorbewußten Niveau abspielen. 


+ 


Offenbar angeregt durch die obigen Warnungen, drängt es mich, 
auch eine andere der von mir hier geäußerten Ansichten klarer auszu- 
drücken. Ich meine den Satz, daß eine tief genug reichende Charakter- 
analyse mit jeder Art von Über-Ich aufzuräumen hat. Ein gar zu konse- 
quenter Geist könnte das so ausdeuten, daß meine Technik die Menschen 
aller ihrer Ideale berauben will. In Wirklichkeit richtet sich mein Kampf 
nur gegen den unbewußt gewordenen und daher unbeeinflußbaren Teil 
des Über-Ichs; natürlich hat er aber nichts dagegen einzuwenden, daß der 
normale Mensch in seinem Vorbewußten auch weiterhin eine Summe 
von positiven und negativen Vorbildern beibehält. Allerdings wird er 
diesem vorbewußten Über-Ich nicht so sklavisch gehorchen müssen, 
wie vorher der unbewußten Elternimago. 





Die neurotische Dauerlust 


Erscheinungen der „erotishen Allmadht” in neurotischen Dauer- 
Symptomen 


Von 


S. Pfeifer 


Budapest 


Der Psychoanalytiker ist in der Lage, während der Analyse den Äuße- 
rungen der Libido in den mannigfaltigsten Kombinationen zu begegnen. 
Viele darunter sind von typischer Art und ihre Hervorhebung verdient 
Beachtung, da sich aus ihrem Vorhandensein oft nicht nur theoretische, 
sondern ebenso auch prognostische und therapeutische Folgen ergeben. So 
konnte ich Fälle beobachten, in welchen ein Teil der Symptome unter 
anderem auch zur Erfüllung eines unbewußten erotischen Allmachts- 
wunsches diente. 

Das Gefühl der erotischen Allmächtigkeit, d. i. der unbeschränkten 
sexuellen Wunscherfüllung, entspricht nach Ferenczi! dem Stadium des 
Autoerotismus und Narzißmus der Libido. 

Anderen Orts? erwähnt Ferenczi, daß die prägenitalen Organisationen 
der Libido nur verschiedene Stationen seien auf dem Wege zur erotischen 
Realität, welche letztere dadurch charakterisiert ist, daß das Individuum 
die intrauterine Situation, wenn auch nur partiell, erreicht. Ferenczi 
behauptet zwar, daß die erotische Allmacht an die narzißtische und auto- 
erotische Libido gebunden ist, doch können wir gerade nach ihm annehmen, 
daß die erotische Allmacht im Momente des Orgasmus mit der erotischen 
Realität zusammenfällt und, wenn auch für eine kurze Zeit, realisiert 
wird. Die zurückströmende Libido wird im Momente des Zurückströmens 
in vollem Maße narzißtisch. (Das Es überflutet das Ich mit Libido.) 





ı) Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Diese Zeitschrift, Bd. I, 1913. 

2) Versuch einer Genitaltheorie 1924. Entwicklungsstufen des erotischen Realitäts- 
sinnes, S. 28 ff. 

3) Nebenbei sei noch bemerkt, daß es nicht an Anzeichen fehlt, welche beweisen, 
daß die Annahme einer Rückströmung der Libido im Momente des Orgasmus 





Die neurotische Dauerlust 211 

Wenn wir näher ins Auge fassen wollen, in welcher Form die erotische 
Allmacht bei Erwachsenen zum Vorschein kommt, so müssen wir uns an 
Beispiele aus der Praxis halten. Ein Fall zeigt besonders instruktiv die 
Richtung der erotischen Allmachtstendenzen. Ein Zwangsneurotiker mit 
Konversionssymptomen hatte in seiner Pubertät exzessive Onanie getrieben, 
mit der Absicht, einen immerwährenden Orgasmus zu erzielen. In der 
halbbewußten Phantasie schwebte ihm sogar das Ziel vor, diesen Zustand 
auch ohne Onanie dauernd aufrecht zu erhalten. Die Phantasie trat parallel 
mit der Introversionsneigung des Pat. auf und konnte nicht allein mit 
der Abwehr des Schuldbewußtseins (Berührungs-Kastrationsangst) erklärt 
werden. 

In diesem Falle stehen wir einem erotischen Allmachtswunsche gegen- 
über, der vollständig nur in der Phantasie, nicht aber in der Realität 
erreicht werden kann. An Stelle der Realerfüllung tritt hier die Reihen- 
bildung aus möglichst vielen einzelnen ÖOnanieakten, welche auch hier, 
wie in der Mathematik, zum Erreichen eines unerreichbaren Zieles 
tendiert; die Wiederholungen sind als Erfolg eines Kampfes zwischen 
Wunsch und verdrängenden Tendenzen zu betrachten.’ 

Ich möchte vorausschicken, daß ich hier, wie in ähnlichen Fällen, als 
wirksamsten Faktor der Verdrängung des Allmachtswunsches die Kastrations- 


angst gefunden habe. 
Im nächsten Falle war ein ähnlicher Mechanismus bei der Ausbildung 


der allmachtsbergenden Symptome am Werke. Ein Pat. mit Angsthysterie 
erklärte, daß er ständig seine Herztätigkeit fühlte, auch wenn er am 
ruhigsten sei. Er gestand auch, daß diese Empfindung entschieden lust- 
betont wäre. Es stellte sich heraus, daß er mit diesem neurotischen 
Symptom der Angst vor dem Stillstehen des Herzens begegnen wollte, 
was einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und 
was später eine mächtige Waffe des Widerstandes gegenüber der Analyse 
wurde, welcher er sich so nur mit „halbem Herzen“ unterzog. Der 


berechtigt ist. Neurotiker, die einen gehemmten Libidoabfluß in der Genitalität 
zeigen, können manchmal mit ihrer narzißtisch verstärkten Selbstbeobachtung den 
Weg dieser Strömung verfolgen. Es ist mir besonders ein Kranker in Erinnerung, 
welcher während des Angstanfalles diese genitofugale, von den Genitalien nach dem 
Kopf gerichtete Libidoströmung gleichsam als orgasmusartige „elektrische Ströme“ 
in seinen Organen beobachten konnte. Der extreme und nicht leicht deutbare Fall 
einer monosymptomatischen Hysteria virilis, — eine Spitalsbeobachtung ohne Analyse, 
— bei welcher Krämpfe des rechten Armes mit isoliertem Orgasmus in demselben 
aufgetreten sind, spricht vielleicht auch dafür, daß im Körper auch Orgasmusver- 
schiebungen möglich sind. 

ı) $S, auch Pfeifer: Äußerungen infantil-erotischer Triebe im Spiele. Imago, 
Bd. V. ıgı9. 





————— . = E ; E 
212 S, Pfeifer 


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Mechanismus, dessen er sich hiezu bediente, war folgender: Er hatte 
anfangs Angstanfälle, mit der Befürchtung, sein Herz höre auf zu schlagen. 
Diese Angst verursachte bei ihm ein starkes Herzklopfen, das ebenfalls 
höchst unangenehm war. Trotz der damit verbundenen Unlustgefühle 
brachte das Herzklopfen doch eine große Beruhigung mit sich: Das Herz 
funktioniert also doch! So wechselten Erregungszustand und Beruhigung, 
bis daraus der stationäre Zustand der mäßigen, mit leiser Lust empfundenen 
Herztätigkeit wurde, nur zeitweise von Anfällen ängstlicher Herzparoxysmen 
unterbrochen. 

Hier blieb es also nicht bei einer Reihenbildung, resultierend aus 
erotischer Erregung und Kastrationsangst, sondern es kam zu einem 
stationären Symptom, hinter welchem sich erotische Allmachts- 
strebungen Geltung verschaffen. Das Herzsymptom, das in engster Ver- 
bindung mit dem Ödipuskomplex des Pat. stand, stellte zunächst eine 
ständige, halbsteife Erektion dar. (Keine. volle Erektion wegen der 
Kastrationsangst.) Die Verschiebung vom Genitale auf das Herz erfolgte 
bei der Beobachtung des Koitus der Eltern, bei dem dem erregten Jungen 
zum erstenmal das starke Pochen des Herzens auffiel. 

Den tieferen Sinn ergab erst die weitere Analyse: Das Symptom stellte 
die Phantasie einer Vereinigung mit sich selbst und dahinter 
das ständige Vereintsein mit der Mutter! dar. Dieser Sinn 
konnte erst ermittelt werden, nachdem eine Organphantasie zum Vorschein 
gekommen war. Pat. hatte das Gefühl, daß das Herz eigenartig gebaut 
sei, die Herzklappe sei einer Klitoris, die entsprechende Herzmündung 
einer Vagina gleich geformt, so daß bei einem jeden Herzschlag eigentlich 
ein Koitus, im ganzen ein Dauerkoitus entstehe.? 

Diese Phantasie führte in weiterer Vertiefung zu anderen typischen 
Intrauterinphantasien, welche in ihrem Zusammenhang mit dem obigen 
Symptom, dessen Bedeutung als eine dauernde Vereinigung mit 
der Mutter im seligen Zustande des Embryos im Mutter- 
leibe enthüllten. 

Für dieses auf Grund der erotischen Allmacht gebildete Symptom können 





ı) Vgl. Ferenczi: A.a. OÖ, 

2) Eine andere, sehr ähnliche Phantasie auf bisexueller Grundlage produzierte ein 
schizophrener Paranoiker. Er verglich seinen Zustand und seine Selbstempfindungen 
einem eingedrückten Ball mit einem konkaven weiblichen und konvexen männlichen 
Teil. Ich mußte daraus auf einen besonderen stabilen Gleichgewichtszustand in der Ver- 
teilung semer Libido schließen, welche, einen intermediären Endzustand im Sinne der 
erotischen Allmacht erreichend, indisponierbar wurde, entsprechend dem psycho- 
tischen Krankheitsbilde. (Vielleicht wird von diesem Punkte aus einmal ein Licht 
auf den Jungschen Begriff der Introversion fallen.) 





Die neurotische Dauerlust 213 





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wir den Dauerzustand der Libidoposition, die Dauervereinigung, und die 
begleitende Intrauterinphantasie als charakteristisch hervorheben. In diesem 
Falle können wir Freuds Behauptung, das hysterische Symptom sei ein 
Onanie- oder Koitusäquivalent, dahin erweitern, daß es in diesen Fällen 
einen Dauerkoitus oder Daueronanie, also einen dauernden Befrie- 
digungszustand darstellt. 

Im Falle eines anderen Pat. mit nervöser Sprachstörung waren die Sprach- 
und Kaumuskel in ständiger, tonischer Erregung. Die Sprache wurde dadurch 
eigentümlich spastisch, fast ausschließlich aus Konsonanten bestehend, außer- 
dem noch sehr rasch. Trotz des Spasmus bestand beim Pat. ein Rededrang, 
seine Sprache war ein eigentümliches Gemisch von Fließen und Stocken. 
Pat. wies die Spuren eines starken Entwöhnungstraumas auf. Die Analyse 
ergab auch hier hinter den fixen Symptomen die Allmachtsphantasien, bzw. 
" die Allmachtsstrebungen, zunächst auf oralerotischer Grundlage. Die Spasmen 
sollten die angenehme Spannung des Saugens ersetzen, es war ein ständiges 
Saugen ohne Saugbewegungen. (Es kamen auch solche vor, bes. an den 
7ähnen.) In der Mundhöhle herrschte ein entsprechender negativer Druck, 
die Folge davon waren weitere Erschwerungen der Sprache, schnalzende 
Bewegungen der Zunge beim Aufmachen des Mundes und sehr häufige 
Zahnschmerzen, welche den Pat. zu weiterem Saugen veranlaßt haben. 
Eine wichtige Rolle spielte dabei die Zunge. Sie mußte die verlorene 
mütterliche Brust vertreten und wurde deshalb ständig an die Lippen, bzw. 
an die Zähne angesaugt. So wurde der Zustand des ständigen Vereintseins 
mit der Brust erreicht, ein mächtiger Speichelfluß sorgte für den Ersatz 
der Muttermilch. Die Sprachstörung entstand durch die Muskelspannungen, 
da die Muskeln nicht zweckmäßig, sondern auf Sauglust zielend arbeiteten, 
dann durch das Zusammenpressen der Lippen zwecks Abwehr der Salivation 
und nicht zuletzt der Kastrationsangst. (Angst, die Zunge = Mamma könnte 
verloren gehen.) 

Die Analyse hatte im Anfang eine Menge ÖOnaniephantasien zutage 
gefördert, ohne Ausnahme kannibalistischer Natur, welche lange Zeit von 
der Kindheit bis zur Spätpubertät alle anderen erotischen Phantasien ver- 
drängt hatten. Bald stellte es sich heraus, daß diese Phantasien eine 
bestimmte Szenerie aufwiesen, welche unverkennbar die intrauterine 
Situation darstellte. Das Menschenfressen geschah immer in Höhlen, Inseln, 
geschlossenen Räumen, in einem eigens dazu eingerichteten Hause, ohne 
Fenster, wo alles zum Leben Notwendige vorhanden war, auch Phantasien 
vom Aufschneiden des Bauches eines Schweines, hineinkriechen und dort 





ı) Auf die analerotischen Grundlagen des Gesichtsspasmus will ich hier nicht 


eingehen. 








— — 





214 S. Pfeifer 





inwendig das Fleisch essen usw. waren vorhanden. Diese Züge nebst anderen, 
auf welche hier nicht eingegangen werden kann, zeigten zur Genüge, daß 
die steife, angesaugte Zunge in der Mundhöhle den Pat. in der Mutterleibs- 
situation, in einer dauernden Vereinigung mit der Mutter, und zwar in 
dem glücklichen Zustand des Hängens an der Mutterbrust, darstellte. 
(Zunge = Mutterbrust;' der Mund in dauernder Saugekontraktion; Speichel- 
fluß —= die nie versiegende Muttermilch.) 

Ein anderes Niveau, auf welchem derselbe Pat. einen erotischen Allmachts- 
zustand herstellte, war das der Urethralerotik. Pat. will zwar kein Enuretiker 
gewesen sein, doch erinnert er solches von seinem älteren Bruder und 
Bettgenossen.” Außerdem erinnert er klar, daß er mit drei Jahren seine Eltern 
beim Koitus belauscht hatte. Da packte ihn der Impuls, einen möglichst 
hohen Urinstrahl zu produzieren, was damals ebenfalls zur Enuresis führte. 

Bei Beginn der Behandlung litt Pat. unter einem chronischen Urin- 
drang, der ihn zu auffallend häufigem Urinieren trieb, Die Tendenz der 
zahllosen Wiederholungen war auch hier die Herstellung einer ungeheuren 
Potenz auf urethralerotischer Grundlage, welche hinter dem pein- 
lichen neurotischen Symptom zunächst den Wunsch verriet, un b egrenzt 
urinieren zu können. Daß es sich hier um eine Dauerlust 
handelte, dafür sprach auch die Spermatorrhöe, eigentlich eine kleine 
Pollution, welche bei jedem Urinablassen, meistens gänzlich unbemerkt, 
erfolgte, was auch durch gelegentlich ausgeführte Urinuntersuchungen 
bestätigt wurde. Seine erste Pollution, die dann zu anderen onanistischen 
Betätigungen (mit den oben erwähnten kannibalistischen Phantasien) führte, 
erfolgte beim Tage im Anschluß an das Urinieren. Der oben erwähnte 
Speichelfluß diente nebst den schon behandelten Zwecken auch diesem 
verschobenen Allmachtswunsche. Eine Allmachtsphantasie, die beide Wünsche 
scheinbar ins Negative verkehrt enthält, lautet, daß er in einem fensterlosen 
Hause lebte und nichts zu essen brauchte, dafür auch keine Abgänge, weder 
Urin noch Stuhlgang, habe. Allerdings mit dem bewußten Hintergedanken, 
alles Notwendige wäre schon in seinem Körper enthalten. 

Bei einem Zwangsneurotiker begegnete ich dem Ewigkeitsanspruch der 
masochistisch-analerotischen Befriedigung. Er konnte sozusagen keine 
Stunde ohne Zwang leben. Seine Aufgaben und Verpflichtungen schob er 
so lange hinaus, bis ihre Erledigung zum unumgänglichen Zwang geworden 


ı) Dieser Zustand stellt vielleicht das Übergangsstadium zwischen der oralen und 
der (mit Introjektion einhergehenden) analen Phase dar. Vgl. das ähnliche Verhältnis 
in der letzteren zwischen Kot und Anus. 

2) Wir wissen von Freud, daß peinliche infantile Ereignisse häufig in der Form 
einer Projektion auf die Geschwister erinnert werden. 








nn 
Die neurotische Dauerlust 215 





war. Anweisungen wurden täglich neu gefordert, ansonsten nicht einge- 
halten. Er hatte tausendfache Kunstgriffe entwickelt, um diesen Zustand 
des ständigen Druckes zu erlangen und aufrecht zu erhalten. 

Die dahinter steckende Phantasie war, im Mutterleibe vom Vater koitiert 
zu werden, also die ständige Vereinigung mit dem Vater auf dem Wege 
der Mutteridentifizierung. Die passive Phantasie verknüpfte sich mit analen 
Elementen; in dem masochistischen Rausch fühlte sich Pat. erniedrigt, 
verfault, wie verunreinigt, zu Sand, zu Kot geworden. Dieser Zustand 
entsprach dem des Kotes während des Defäkationsaktes und tendierte zum 
Chronischwerden in einem anal-masochistischen Allmachtsgefühl.' 

Im großen und ganzen konnte nämlich in diesem Falle Ferenczis 
Satz bestätigt werden, daß der Masochismus nur einen — allerdings miß- 
lungenen — Versuch darstellt mit Hilfe der Schmerzen, die Angstgrenze 
zu übertreten, um zur Handlung — zur Genitalität — schreiten zu können. 
Die Beobachtungen führten bei diesem Pat. zu einer unbewußten Geburts- 
phantasie. Diese Phantasie stand mit der Annahme im guten Einklang, 
daß sein erster Wutanfall, der Urtypus aller seiner späteren sadistischen 
Anwandlungen, die Wut auf die Mutter nach der Geburt gewesen sei. 
Diese Wut sollte ihm zur Wiedervereinigung mit der Mutter verhelfen. 
Die masochistische Strebung tendierte dahin, diesen Zustand während der 
Geburt, das Gefühl des Nichtloskommenkönnens von peinlichen drückenden 
und ängstigenden Sensationen, mit einem Wort das Verharren in der 
Situation der Geburt, zu verewigen. 

Die erotischen Wunscherfüllungen, welche da verewigt werden sollten, 
waren außer den erwähnten masochistischen die anal-erotischen Sensationen 
während der Defäkation.? 

Dieser Allmachtszustand konnte auch hier erst mit Hilfe von Mutter- 
leibsphantasien fixiert werden. Pat. stellte sich z. B., mit seinem Liebes- 
objekt in einer Glaskugel eingesperrt, in ewiger Vereinigung vor, wobei 
ihm alles so rein und allem Irdischen so entfernt vorkam, daß er sich 
für fähig hielt, den Kot des Partners zu essen, um sich davon am Leben 
zu erhalten. 

Fassen wir die gemeinsamen Züge der angeführten Fälle zusammen, so 





ı) Hier von „Allmacht“ statt von „Dauerbefriedigung“ zu sprechen, ist eigentlich 
nicht mehr am Platze. Es könnte unbegründeten Anlaß zu Verwechslungen mit den 
Adlerschen Machtstrebungen geben, die, den mitlaufenden sadistischen Strebungen 
(s. u.) entsprechend, in diesem Falle auch vorhanden waren; sie waren aber immer 
gut von den Strebungen nach „Dauerbefriedigung“ zu unterscheiden. 

2) Vgl. die Auffassung von Aug. Stärcke und van Ophuijsen über die 
Verursachung des Verfolgungswahnes durch das perennierende Gefühl, einen Stuhl- 
zapfen im Anus zu haben. Diese Zeitschr., Bd. V. S. 255. 





| | 
216 S. Pfeifer 





finden wir, daß hier die erotischen Allmachtsgedanken auf autoerotischen 
Regungen beruhen, welche schon im vorherein oder erst unter dem 
Drucke des Ödipuskomplexes sich dadurch fixierten, daß sie sich mit 
Intrauterinphantasien als psychischem Oberbau verknüpft haben. Es 
drängt sich unwillkürlich der Vergleich mit dem Vorgang der Komplement- 
bindung auf. So können wir sagen, daß erotische Allmachtsgefühle entstehen, 
wenn es autoerotischen, aber auch höher entwickelten erotischen Trieben ge- 
lingt, die erotische Realität, d. i. die intrauterine Situation, besser ausgedrückt: 
die Vereinigung mit der Mutter, wenigstens in der Phantasie und auto- 
plastisch zu erreichen. Dies kann wahrscheinlich von beiden Seiten aus 
geschehen, primär durch entsprechenden Umbau der oder Oberbau auf 


die fixierten prägenitalen Triebkomponenten — und dann bedeutet es 
einen fehlgegangenen Versuch in der Richtung zur Genitalität hin, mit 
Ausgang in die behandelten Dauererscheinungen' — und sekundär: durch 


Regression aus Kastrationsangst. Je nachdem findet man Elemente des 
Ödipuskomplexes weniger oder stärker vertreten. 

Die andere Bedingung der Entstehung von erotischen Dauergefühlen 
und -zuständen scheint eine stark bisexuelle Anlage zu sein. Der 
Paranoiker, in ständigem narzißtischem Rausch, der seinen Zustand mit dem 
eines konvex-konkaven Ballesverglich, ist der Prototyp der ewigen Selbstvereini- 
gung. Es muß die Frage aufgeworfen werden, ob nicht das Vorhandensein 
einer ausgeprägten Bisexualität für das Zustandekommen der erotischen 
Dauergefühle überhaupt unerläßlich sei. In den mitgeteilten Fällen ist 
gerade die bisexuelle psychische Anlage der Angriffspunkt der aus dem 
Ödipuskomplex wirkenden Kräfte; durch diese Anlage können diese Kräfte 
dem erotischen Allmachtsgefühl dienstbar gemacht werden. 

Der Fall des Agoraphoben mit dem andauernden Herzklopfen ist ein 
Analogon des erwähnten Paranoikers, bei dem sogar einem einzigen Organ, 
dem Herzen, die bisexuelle Bedeutung zukommt; die Herzklappe spielt 
die männliche Rolle,” die Herzkammermündung die weibliche. Der Pat. 
stellte mit seinem Herzen die Ausgangssituation des ständigen Symptoms 
dar, den von ihm unter erotischer Erregung belauschten Koitus der 





ı) Auch dieser Ausgang unterscheidet diesen Mechanismus von der einfachen 
Genitalisierung der prägenitalen erogenen Zonen. $. Ferenczi: „Hysterie und 
Pathoneurosen“ (Int. PsA. Bibliothek, II.). 

2) Ich zweifle nach dem in der Psychoanalyse gewonnenen Eindruck nicht, daß 
unter der als Klitoris vorgestellten „Herzklappe“ eigentlich auch die auf ihr lastende 
Blutsäule zu verstehen ist. Ich verweise hier auf die einschlägigen sehr interessanten 
Ausführungen aus dem Gebiete der organischen Erkrankungen, die Dr. F. Deutsch 
auf dem Salzburger Kongreß, ı923, machte. Deutsch meint, daß libidinöse Anzie- 
hungen im Sinne der Bisexualität auch zwischen einzelnen pathologisch veränderten 
Organen möglich seien. 





| 








Die neurotishe Dauerlust | 217 





Eltern, bzw. die während dessen in gleichzeitiger Identifizierung mit 
Vater und Mutter statt der phantasierten Inzesthandlungen ausgeführten 
Önanie. 

Ein belauschter Koitus der Eltern ist der Ausgangspunkt auch der 
Sprach- und Blasenstörung bei dem anderen Pat. mit dem Speicheliluß 
und dem Miktionszwang. Er wollte damals mit dem starken Vater dadurch 
wetteifern, daß er seinen Urin springen ließ. Heute agiert er einmal den 
Vater in der Vereinigung mit der Mutter, sodann auch die Mutter, die, 
wie seine infantile Zeugungstheorie laute, den Samen des Vaters 
schluckt,” dann die als Penis gedeutete Mamma, dann den weiblich 
empfundenen, der Mamma untrennbar angesaugten Mund des Kindes, endlich 
das oral empfangene Kind (Zunge) im Uterus (Mundhöhle) im Wasser 
liegend. | 

Die bisexuelle Anlage ist auch in dem Falle des Zwangsneurotikers in 
der erotischen Allmachtsphantasie von der dauernden Vereinigung mit dem 
Penis des Vaters im mütterlichen Uterus deutlich ausgesprochen. Dieser 
inzestuöse Überbau schützt die analerotische sadistische Dauerbefriedigung 
und hängt mit der ubw. Phantasie und dem Gefühl zusammen, ewig in 
der analen Geburtssituation festgenagelt zu sein. 

Jetzt können wir über die erotische Allmachtssituation folgendes Bild 
entwerfen: Ein autoerotisch-narzißtischer Trieb findet eine bisexuelle 
Befriedigungsform, in welcher von der einen Seite objekterotische Strebungen 
aus dem Ödipuskomplex, von der anderen regressive Züge in Wiederholung 
der intrauterinen Situation zu einer Dauerform der Befriedigung zusammen- 
treffen, wobei das ganze Gebäude von der Realbefriedigung des auto- 
erotischen prägenitalen Triebes getragen wird. 

Daß bei all diesen Erscheinungen auf erotischem Gebiet etwas Ähn- 
liches wie die „Allmachts“-Gefühle des primitiven Ichs entsteht, wird 
durch die Tendenz bewiesen, diesen Befriedigungsformen ewige Dauer 
zuzusichern.? 

Das Streben zur unendlichen Befriedigung möchte ich als dritten 
gemeinsamen Zug dieser Allmachtszustände hervorheben. 

Wohl am prägnantesten ausgedrückt halte ich den erotischen Allmachts- 
zustand im Falle gewisser Schizophrener, besonders bei Katatonikern, welche 
in einem ewigen narzißtischen Rausch? die intrauterine Situation wieder 
a en Bi 2 4 en na en nn 





ı) Er hatte oft den Wunsch, den eigenen Penis in den Mund zu nehmen. Vgl. dazu 
auch das Symbol des Unendlichen; eine Schlange, die in den eigenen Schwanz beißt. 

2) Hierher darf wohl auch ein Fall von Ferenczi gerechnet werden, der 
„Ewigkeitsgefühle* auf analerotischem Gebiet hatte. Siehe Ferenczi: Zur Analyse 
von Sexualgewohnheiten. Diese Zeitschr., Bd. XI (1925). 

5) Die Katatoniker befinden sich in einem dem Rückschlagsstadium des Orgasmus 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV/2 16 








918 S. Pfeifer 





erleben, wobei sehr oft autoerotische Manipulationen für die Realbefriedigung 
sorgen, Aber auch ohne solche Aktionen ist der katatone Zustand als 
extreme Ausprägung, eigentlich als Endglied der Resultante aus den oben 
erwähnten drei Komponenten: Mutterleibssehnsucht, autoerotischer Trieb, 
Ödipuskomplex (Kastrationsangst), zu werten. Auch wird bei ihnen die 
bisexuelle Selbstbindung wohl am ausgiebigsten vertreten sein. 

Übrigens erhält man, wenn man länger fortbestehende Erkrankungen 
beobachtet, den Eindruck, daß sie in ihrem ganzen Verlauf die Tendenz 
zeigen, immer mehr neurotischen Gebilden mit immer weniger verdrängten 
erotischen Wunscherfüllungen Platz zu geben. Der Prozeß, welcher von 
Freud die „Wiederkehr des Verdrängten“ genannt wurde, fördert solche 
Wunscherfüllungen während des Verlaufes einer Erkrankung in immer 
größerem Maße zutage; aber anstatt der vielleicht erwarteten Umkehrung 
der Neurose ins Positive, der einfachen Perversion, bekommt man in 
solchen Fällen sehr oft die Erscheinungen der neurotischen Dauerlust zu 
sehen. Diese charakterisiert dann die Spätstadien der Neurose, welche so 
eine ähnliche Tendenz in der Neurose erblicken lassen, wie sie Rank! für 
den Traum in den Vordergrund gerückt hat: Wie dieser, tendiert auch die 
Neurose zur unbegrenzten Wunscherfüllung, hier in Form der ewigen 
Befriedigung, der „erotischen Allmacht“, welche sich nach Passieren der 
neurotischen Mechanismen in eigenartigen Symptomen als neurotische 
Dauerlust Geltung verschaffen. 

Damit ist die Frage aufgeworfen, inwieweit diese erotischen Dauer- 
bildungen sich von den Perversionen unterscheiden. (Dabei werden wir 
vom Unterschiede der Verdrängungsintensität absehen, was wir um so 
mehr können, als die erotische Allmacht sich im Krankheitsbilde meistens 
als Wiederkehr des Verdrängten darbietet.) 

Die Differenz zwischen neurotischer Dauerlust und Perversion wird 
wohl im relativen Verhältnis von Ich- und Libidoentwicklung liegen. 

Der perverse Trieb teilt mit der genitalen Sexualität im allgemeinen 
die Tendenz zu plötzlicher Spannungsaufhebung; in der Allmachtssituation 
treffen wir dagegen ein ziemlich gleichmäßiges Spannungsniveau. Man 
könnte den einen den genitalen, den anderen den intrauterinen Reiz- 


ablauftyp us nennen.” 





ähnlichen Zustand; Da der Katetoniker die Befriedigimg ohne Gegenstrebung des 
Ichs und mit genitalisiertem Körper genießt, wäre es vielleicht nicht verfehlt, hier 
in extremen Fällen über eine „Intrauterin-Perversion“ zu sprechen. 

ı) Jahrbuch für psa. und psychopathol. Forschung, II. Bd., 5. 521. 

2) Selbstverständlich dürfen wir uns den intrauterinen Zustand nicht als eine 
absolute Ruhe vorstellen. Eisler mahnte uns neuerdings daran, daß im Embryo die 
größte Entwicklungsunruhe herrschen muß, 





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Die neurotische Dauerlust 219 


Im allgemeinen können wir auch sagen, daß, je näher ein Partialtrieb 
dem intrauterinen oder Säuglingszustand steht, desto größer wird die 
Neigung zur Dauerbefriedigung oder zu einem rhythmischen Wechsel von 
Reiz und Befriedigung (mit Reihencharakter) sein. Als ein anderer 
Charakterzug solcher primitiver Triebe kann angegeben werden, daß bei 
ihnen Reiz und Befriedigung zeitlich fast zusammen- 
fallen. 

Wir müssen uns mit dem Gedanken befreunden, daß die Triebe nicht 
nur betreffs ihres Objekts, sondern auch ihrer Ablaufsart eine Entwicklungs- 
gliederung aufweisen, und daß sie um so entwickelter sind, je größer die 
maximale erträgliche Abweichung von der gestörten und mit der Befriedigung 
wieder hergestellten Ruhelage, d. i. die erträgliche Spannungsdifferenz, ist 
(Triebdifferential). Wir können auf Grund vorhergegangener Untersuchungen, 
besonders Ferenczis,' behaupten, daß die Befriedigung eines Triebes, 
also die Senkung der Spannung auf das Ruheniveau, in ihrem Ablauf die 
Entwicklungsstufen durchlaufen muß, durch welche die von dem Trieb 
zu behebende Spannung entstanden ist.? 

Entsprechend unterscheiden sich die auf der genitalen Stufe ablaufenden 
Triebe von den prägenitalen in der Weise, daß — nach Ferenczi — 
sich in ihren Ablauf etwas eingeschaltet hat, was eine mächtige Spannungs- 
erhöhung ermöglicht. Ob dies die Erinnerung an das Geburtstrauma oder 
an etwas anderes Bedeutsames aus der Phylogenese sein mag, wir können 
mit Ferenczi annehmen, es müsse etwas „Katastrophales“ gewesen sein. 
Die Angst vor dieser Katastrophe — nach Stärcke und Rank immer 
eine Trennungs-, nach Ferenczi eine Todesgefahr — erklärt uns, warum 
wir bei der Zerstörung der beschriebenen erotischen Allmachtsgebilde in 
der Psychoanalyse gleich auf eine mächtige Kastrationsangst als Wider- 
standsquelle stoßen, da diese Triebe gewöhnlich auch im Individualleben 
mit traumatischer Unterbrechung enden. Die Summierung dieser onto- 
genetischen Entwöhnungstraumen muß also auch in der Ausbildung der 
Genitalität eine Rolle spielen. 

Die prägenitalen Triebe sind also auch in Hinsicht ihrer Ablaufslinie 
unausgereifte Triebe,? zeigen mehr einen tonischen Ablauf,* dazu bestimmt, 
traumatisch unterbrochen zu werden. Zur Quelle neurotischer Dauerbefriedi- 


ı) Ferenczi: Genitaltheorie. $. 2ı, zoff. 

2) Oder diese Stufen finden in der Ablaufslinie des Triebes irgendeine Vertretung. 

3) Deshalb kommen Allmachtszustände, Dauerbefriedigungen und ähnliche 
Bildungen immer dort am leichtesten zustande, wo diese Triebe mit kleinem 
Spannungsdifferential am Werke sind, also z. B. in den Kinderspielen. 

4) Vgl. Stärcke. Psychoanalyse u. Psychiatrie 1921. $. 56. 








ZU EEEe 2m u 


220 S. Pfeifer 


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gung werden sie erst, wenn es ihnen gelingt, mit Hilfe der oben beschriebenen 
Mechanismen eines Teiles der Energien aus den genitalen Triebquellen 
— trotz Beibehaltung ihres intrauterinen Charakters — habhaft zu werden. 

Zum intrauterinen Ablauftyp gesellt sich bei der erotischen Allmacht 
das Verhalten des Ichs, welches meistens eine ungenügende Entwicklung 
zeigt und unfähig ist, große Spannungen zu ertragen. 

Das Ich war in allen diesen Fällen vom Es durch hemmende Schutz- 
einrichtungen weniger getrennt als in anderen Fällen. (Die Es-Ich- 
Grenze wird bei der erotischen Allmacht leicht überschritten, wie die 
Grenze zwischen Ich und Über-Ich bei der Ich allmacht.) 

Andererseits ist auch die Unfähigkeit des Ichs zu voller Befriedigung 
augenfällig. 

Der Pat. mit Agoraphobie konnte eine Zeitlang nicht einmal die volle 
Erektion ertragen. Alle drei Fälle zeigten eine defekte genitale Befriedigung 
in mehr minder ausgesprochenem Maße, was sich beim Zwangsneurotiker 
manchmal sogar bis zu einer Penisanästhesie steigerte. 

Wie schon erwähnt, ist es die Kastrationsangst, die auf die genito- 
petalen Strebungen der Libido zurückschreckend wirkt. Die Kastrations- 
angst bei diesen neurotischen Dauerbildungen im Sinne einer erotischen 
Allmacht stammte immer aus der Ödipussituation. Ist die Kastrations- 
drohung allein oder hauptsächlich am Werke, so können sekundäre 
Dauersymptome entstehen wie im Falle einer Pat., die, durch die 
Kastrationsangst geleitet, ihren Mann zum prolongierten und unvoll- 
kommenen Koitus bewog, der oft „stundenlang“ dauerte. Hierher gehören 
aller Wahrscheinlichkeit nach auch solche Fälle, wo der Koitus oder die 
Onanie oft ın unzähligen Reihen ausgeführt werden, doch wird erst die 
eingehende Analyse imstande sein, über die Zugehörigkeit solcher 
Erscheinungen zur einer oder anderen Gruppe der „erotischen Allmacht“ 
zu entscheiden. Die obligate Rolle, die die Kastrationsangst beim Zustande- 
kommen der Dauersymptome mit erotischem Allmachtscharakter spielt, 
wurzelt aber, wie schon oben auseinandergesetzt wurde, noch tiefer, 
nämlich in der erhöhten Empfindlichkeit solcher Pat. gegenüber Ent- 
wöhnungstraumen, welche gemeinhin die Erhöhung des Niveaus der 
sexuellen Spannung erzwingen. Diesen Traumen kommt aber eine Kastrations- 
bedeutung zu; so wird es uns nicht verwundern, wenn bei der Zerstörung 
der behandelten erotischen Bildungen in der Psychoanalyse uns die 
Kastrationsangst als mächtigster Widerstand entgegentritt. 


Diese und die vorangegangenen Betrachtungen ergeben die Zielsetzung 


der Therapie. Diese muß sein: Die Heraushebung der Sexualität aus dem 
intrauterinen Befriedigungszustand, das Erreichen einer höheren Reiz 





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Die neurotiscıe Dauerlust 221 
Bel nn a Fr 
schwelle und eines höheren Spannungsniveaus. Ein anderes therapeutisches 
Ziel muß sein, den Ring der tonischen Anordnung der Libidozufuhr und 
-abfuhr (oft noch die Selbstbindung der bisexuellen Libido) zu brechen. 
Aus dem Gesagten geht hervor, daß diese neurotischen Bildungen sehr 
resistent sind. Meist gelingt ihre Zerstörung erst — nach vorangegangener 
Abtragung der oberen Schichten der Neurose in der Analyse — durch die 
„aktiven“ Maßnahmen, für die sie m. E. eine wohlbegründete Indikation 
darbieten. Es wird uns nicht wundern, wenn wir bei der aktiven Behand- 
lung der erotischen Allmachtszustände immer auf die Kastrationsangst 
stoßen, handle es sich nun um eine künstliche Libidostauung durch 
Unterbindung der Befriedigungsmöglichkeiten (Entwöhnungsangst) oder 
um eine durch die forcierte Libidobefriedigung. (Kastrationsangst aus dem 
Ödipuskomplex.) 

Beim Agoraphobiker war das Gebot, allein zu kommen, von selbst 
gegeben, wodurch die „Herzonanie“, die gleichmäßige, durch die Selbst- 
beobachtung kontrollierbare' Herztätigkeit, unmöglich gemacht wurde. Aus 
derselben Erwägung ist bei diesem Pat. eine die dauernde Herzonanie 
sichernde Bewegungslosigkeit und ein Atemverhalten durch entsprechende 
Verbote für die Analyse erreichbar gemacht worden.? 

Im allgemeinen gelten hier dieselben Richtlinien, welche von 
Ferenczi für die Handhabung der aktiven Therapie in seinen Schriften 
angegeben wurden. In den meisten Fällen richteten sich die aktiven Ein- 
griffe gegen die den Dauerbildungen zugrunde liegenden Partialtriebe, um 
nach Ferenczis Ausdruck eine „sexuelle Anagogie” zu erzielen. Da 
ereignet es sich oft, daß nicht die erwartete stürmische Reaktion in Form 
des neurotischen Agierens oder der positiven oder negativen Übertragung 
erfolgt, sondern daß intermediäre Dauer- oder Schutzbindungen zustande 
kommen, wie im Falle des Asgoraphobikers das Hervortreten einer 
Bewegungslosigkeit und Atmungsangst oder ein „Ruhig-Spazieren-Spiel“ 
bei der Erzwingung des Alleingehens. Diese Zwischenbildungen müssen 
dann mit den üblichen Mitteln der Psychoanalyse oder, wenn nötig, wieder 
mit Hilfe aktiver Eingriffe behoben werden. 

Die Beachtung der neurotischen Dauerbildungen mit erotischem All- 
machtscharakter gibt auch wertvolle prognostische Winke, da sie oft bei 


Te  — 


ı) In dieser Hinsicht dient das Symptom auch der Ichallmacht, wie naturgemäß 
oft beide Arten der Allmachtsgefühle vereint auftreten. 

2) Da die angeordneten Bewegungs- und Atemübungen fälschlich den Eindruck 
hätten machen können, es handle sich hier um eine Art Übungsbehandlung, so mußte 
dem Pat. die entsprechende Erklärung gegeben werden. Es ist überhaupt auf diese 
Neigung der Pat., die aktiven Maßnahmen als Medikament zu nehmen, zu achten, 
und sie im Sinne der analytischen Situation zu denten. 








z————— 





Ko; 


222 S. Pfeifer 


der Ermittlung der anamnestischen Daten augenfällig sind. Selten bedarf 
es einer länger dauernden Analyse, um zu erkennen, daß ein Teil der 
Symptome solchen Bindungen der Libido entspricht. Weitere Beobach- 
tungen sollen zur Klärung der Frage beitragen, inwieweit sich die 
neurotische Dauerlust von der gewöhnlichen tonischen Bindung der Libido 
im neurotischen Symptom unterscheidet und inwieweit sie einen krasseren 


Spezialfall derselben darstellt.’ 


Eingegangen im Dezember 1925 





ı) Vgl. Breuer und Freud: Studien über Hysterie. 





| 


KASUISTISCHE BEITRÄGE 


Aus der Analyse einer zwangsneurotischen 
Arbeitshemmung 


IE in der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ am 31. Januar 1928 


Von 
Lotte Kirschner 


Berlin 


Ich möchte heute von einem unter schweren Arbeitshemmungen leidenden 
Zwangsneurotiker berichten, dessen Analyse nach knapp einjähriger Dauer 
aus äußeren Gründen abgebrochen werden mußte, und es ist fraglich, ob er 
in der Lage sein wird, sie wieder aufzunehmen. 

Der Pat., ein im Beginn der Behandlung 24jähriger junger Mann, ist 
Ausländer; seine Familie lebt in einem ferneren Land, während er selbst in 
den en drei Jahren sich studienhalber in Berlin aufhielt. Er besuchte 
eine Fachschule, um nach Beendigung des Studiums die geschäftliche Laufbahn 
einzuschlagen. 

Die Poliklinik suchte er wegen einer schweren Arbeitshemmung 
auf, die ihn unfähig machte, seine Studien zum Abschluß zu bringen. Er 
hatte es im Laufe der drei Jahre nicht weiter als bis zu einem kleinen 
Vorexamen gebracht und konnte sich nicht zum Schlußexamen entschließen. 
Er selbst führte die Arbeitshemmung auf Kopfschmerzen und Zwangs- 
grübeleien zurück, die ihn hinderten, den Vorlesungen zu folgen oder ein 
Buch durchzuarbeiten. Diese Grübeleien setzten sich aus drei Hauptfaktoren 
zusammen: Minderwertigkeitsgefühle, Selbstvorwürfe und Zweifel. Pat. stand 
weitgehend unter dem Eindruck seiner vermeintlichen Minderwertigkeit, 
die sich nach seiner Angabe auf körperliches und geistiges Gebiet erstreckte. 
Er sei dumm, beschränkt, nicht viel anders als ein Idiot. Körperlich sei er 
schwächlich, ungeschickt, müsse doch auf jeden Fall den Anderen, Stärkeren 
unterliegen. Diese Minderwertigkeitsgefühle wurden vom Pat. in hypochon- 
drischer Weise verarbeitet. Um sich in der Analyse und auch mir zu beweisen, 
wie wenig leistungsfähig er sei, achtete er mit größter Sorgfalt auf die 
geringsten körperlichen Beschwerden. So hatte er sich z. B. eine leichte 
Fußverletzung zugezogen, derentwegen er sich in orthopädische Behandlung 
begab. An bestimmten Stellen der Analyse, bei deutlicher hervortretenden 
realen Schwierigkeiten, kam er nun immer wieder auf den Unfall zu sprechen, 


= eh 


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224 Lotte Kirschner 

der ihn zum „Krüppel“ gestempelt habe. Ähnlich erging es ihm mit einer 
Nasenoperation, durch die er eine „Atrophie“ der Nase befürchtete; mit 
zahnärztlichen Angelegenheiten (er hatte zwei Stiftzähne, die er so 
ungefähr als das Schämenswerteste hinstellte, was man sich vorstellen 
kann) und schließlich mit hypochondrischen Vorstellungen über seinen Penis. 
Obgleich er ab und zu Verkehr gehabt hatte, sich also von der Erektions- 
und Ejakulationsfähigkeit überzeugen konnte und zugeben mußte, daß er 
imstande war, die Partnerin zur Befriedigung zu bringen, konnte er sich 
nicht von dem Gefühl freimachen, daß er infolge der Kleinheit des Penis 
hinter allen anderen Männern zurückstehe und daß er mit anderen Maßstäben 
gemessen werden müßte. 

Eine besondere Stellung in seinen Klagen nahmen die Kopfschmerzen 
ein, die ihm deswegen als besonderer Beweis seiner Krüppelhaftigkeit 
erschienen, weil er mit ihnen (infolge ihrer Lokalisation in der Nähe des 
Gehirns) seine geistige Schwäche erklären zu können glaubte. Zäh hielt er an 
der Annahme fest, daß die Kopfschmerzen Symptom eines organischen Leidens 
sein müßten, einer Nasenerkrankung mit folgender Gehirnvereiterung, Zeichen 
einer beginnenden Epilepsie, einer Paralyse usw, 

Nicht weniger litt Pat. unter den zahlreichen Selbstvorwürfen, die 
sich ihm im Kolleg oder bei dem Versuch, zu arbeiten, aufdrängten und in 
die er sich immer tiefer verwickelte. Sobald er ein Buch in die Hand nahm, 
mußte er sich sagen: „Die ganze Zeit habe ich vertrödelt, jetzt muß ich 
beginnen wie der jüngste Anfänger! Alle anderen in meinem Alter sind 
längst fertig und ich muß mich noch von meinem Vater erhalten lassen.“ 
Gerade dieser Punkt machte ihm am meisten zu schaffen: seinen Eltern zur 
Last zu liegen; anstatt sie in ihrem Alter zu unterstützen, sie zu immer 
neuen Ausgaben zu veranlassen. Im Kolleg bezog er häufig vorgetragene Dinge 
auf sich, die ihn dann zu weiteren Grübeleien veranlaßten. So erging es 
ihm z. B., als ein Professor den Staat mit einem ungeratenen Sohn verglich, 
der mit dem Wechsel des Vaters niemals auskommt. Nach solchen Äuße- 
rungen spann er sich häufig so in die darauffolgende Kette von Selbstvorwürfen 
ein, daß er kaum noch etwas im Kolleg hörte. 

In das Gebiet der Zwangsgrübeleien gehören auch die Zweifel, die ihn in 
seinen Überlegungen befielen, und seine Fähigkeit, Entschlüsse zu fassen, stark 
beeinträchtigten. Zur Erläuterung möchte ich ein charakteristisches Beispiel 
anführen. Er war von einem Kollesen, der an einer Klinik arbeitete, zur 
analytischen Poliklinik geschickt worden. Nachdem er die Behandlung begonnen 
hatte, tauchte folgende Kette von Zweifeln auf: ob der jüngere Assistent ihm 
etwas Richtiges geraten habe, wenn diese Behandlung vom Professor abgelehnt 
werde (das war ihm gesagt worden). Ob, wenn vielleicht auch die Behandlung 
richtig sei, die Poliklinik das geeignete Institut dafür sei. Ob der taghabende 
Arzt wohl recht daran getan habe, ihn an eine Ärztin zu verweisen, oder 
ob der Leiter der Poliklinik nicht verständnisvoller ausgewählt hätte. Ob, 
wenn der Leiter ihm jemand vorgeschlagen hätte oder selbst seine Behandlung 
übernommen, nicht doch die Lehre und Art der Behandlung gerade für ihn 
schädlich sei. Ich glaube, ich brauche der Schilderung der Zweifelsucht kaum 
etwas hinzuzufügen. 

Schließlich möchte ich noch die Phantasien erwähnen, an denen Patient 


Aus der Analyse einer zwangsneurotiscien Arbeitsheumung 225 





mit großer Liebe hing, und die, von außen gesehen, im krassen Widerspruch 
zu seinen anfangs erwähnten Ängsten zu stehen scheinen. Sie hatten alle 
revolutionären und kriegerischen Inhalt. Er malte sich die Zustände aus, die 
nach Ausbruch eines Krieges, einer Revolution ausbrächen, las mit Spannung 
alle derartigen Zeitungsberichte, lief zu Aufläufen auf die Straße, beobachtete 
mit Erregung militärische Übungen und erklärte, dal? er Frieden und Ruhe 
hasse. Aber schon die bewußten Phantasien waren von leisen Angst- und 
Unruhegefühlen begleitet. 

Neben dieser Arbeitshemmung, die, wie gesagt, der Grund zur Behandlung 
war, bestanden noch eine Reihe anderer Symptome. Von direkten Zwangs- 
impulsen trat z. B. nur einer auf: zwangsmäßig nach hinten schauen zu 
müssen und zu sehen, ob er etwas verloren habe. Dieser Impuls trat aber so 
selten auf und war so wenig störend, verschwand auch oft monatelang, dal 
Patient ihn nur selten zur Analyse brachte. Ähnlich erging es anderen, 
früher in größerer Anzahl vorhandenen Zwangshandlungen, z. B. dreimaliges 
Berühren einer Fußbodenstelle oder einer Türklinke, dreimaliges Ausspucken 
bei schlechten Gedanken, Wiederholen von Worten und Silben. Da der Pat. 
so wenig davon sprach (die zuletzt genannten Zwangshandlungen waren seit 
Jahren nicht mehr aufgetreten), konnten sie zum größten Teil nicht genügend 
tief verfolgt und durchgearbeitet werden. Auch seine Stellung zur Religion, 
die Freidenkertum mit zwangsneurotisch genauer Ausübung bestimmter 
Zeremonien verband, wurde ihm erst kurz vor dem Abschluß als neurotisches 
Symptom bewußt und entzog sich dadurch ebenfalls einer tiefergehenden 
Analyse. | 

Außer den bisher geschilderten Symptomen sind zu erwähnen: ein 
gestörtes Sexualleben, Unmöglichkeit, eine Frau wirklich lieben zu können, 
dadurch bedingte Objektwahl, Störungen bei der Ausübung des Koitus im 
Sinne mangelhafter Erektionen und zeitweise auftretende Kjaculatio 
praecox. 

Während seines Berliner Aufenthaltes kam als besonders störend noch sein 
neurotisches Verhalten den Wirtsleuten gegenüber und eine sehr intensive 
„Budenangst” dazu. Vor dem Mieten eines Zimmers mußte er sich auf das 
genaueste vergewissern, ob es „sturmfrei“ sei, obgleich er bis zum Beginn 
der Analyse, also innerhalb zweier Jahre, niemals gewagt hatte, ein Mädchen 
auf sein Zimmer zu nehmen. Wenn er ein Zimmer gemietet hatte, so hatte 
es entweder von vornherein solche Mängel, daß er es bald wieder aufgeben 
mußte, oder er suchte nach ihnen derart, daß er sich kaum länger als ein 
bis zwei Monate in einem Zimmer wohl fühlte und möglichst bald zu 
kündigen suchte. Aber auch die Kündigung bereitete ihm große Schwierig- 
keiten; er mußte ganze Gebäude von Lügen und Ausreden errichten, um 
kündigen zu können, und suchte dabei eifrigst irgend einen bekannten Studenten 
als Nachfolger für sein Zimmer. Wenn er jemand gefunden hatte, erleichterte 
ihm das die Kündigung. 

Die Budenangst äußerte sich darin, dal er es niemals längere Zeit am 
Tag oder am Abend in seinem Zimmer aushielt. Er ging entweder in den 
Studentenverein oder zu einem Bekannten, lief oft auch ziel- und planlos 
in den Straßen herum, nur um nicht in seinem Zimmer bleiben zu 


mussen. 





nr Te TE ER En meer Ze EEE En Er a Eu 
226 Lotte Kirscdhner 


Ich möchte jetzt einen kurzen Überblick über die Anamnese geben: Der Vater 
des Patienten hat in der Stadt, in der er jetzt wohnt, ein Geschäft. Der 
Patient ist das vierte von fünf Kindern. Vor ihm kamen zwei Brüder, von 
denen der eine verheiratet ist, der andere ist an Epilepsie erkrankt. Die 
drei Jahre ältere Schwester studiert und steht kurz vor Beendigung ihres 
Studiums. Die nach ihm folgende Schwester ist sieben Jahre jünger als er; 
sie besucht noch das Gymnasium. Mit dem verheirateten Bruder, der früher 
im Geschäft des Vaters tätig war, lebt die Familie in Feindschaft; gerade 
dieser Bruder hatte Patient zum Studium geraten. 

Das Geschäft des Vaters, das ursprünglich sehr gut gegangen sein soll, 
brachte immer weniger ein und soll gerade in der letzten Zeit kurz vor 
dem Konkurs gestanden haben. Als der Patient das Examen immer wieder 
hinausschob, sah sich der Vater genötigt, ihn in die Heimat zurückzurufen, 
um ihn ins Geschäft zu nehmen und dadurch seine Unkosten zu verringern. 
Später änderte der Vater insofern seinen Plan, als er dem Sohn freistellte, 
in Berlin zu bleiben, wenn er für seinen Unterhalt selbst aufkäme. Er riet 
ihm deshalb, eine Stellung in einem Geschäft anzunehmen. Der Patient lehnte 
dies ab und fuhr nach Hause. 

Es soll im folgenden der Versuch gemacht werden, an Hand der Lebens- 
geschichte des Patienten zu zeigen, wie die allmähliche Umwandlung des 
Charakters des Patienten vor sich ging. 

Die frühesten Kindheitserinnerungen des Patienten, die in der Analyse 
aufgedeckt werden konnten, reichen bis in das dritte bis vierte Lebensjahr 
zurück, und sie gestatten, sich ein Bild von dem Wesen des Patienten zu 
dieser Zeit zu machen. Man sieht da einen kleinen Jungen vor sich, der, 
ganz im Gegensatz zur späteren Ängstlichkeit und Passivität, außerordentlich 
früh entwickelt gewesen zu sein scheint und dessen Triebstärke auf allen 
Gebieten das Maß des Durchschnittskindes wohl erheblich überschritten hat. 
So schildert er, wie er als Dreijähriger bei Tisch voller Eifersucht aufgepaßt 
hat, ob die Mutter ihn im Gegensatz zu den Geschwistern nicht benach- 
teiligte; wie er als selbstverständlich erwartete, daß sie seinen Eßwünschen 
entgegenkam, seine Lieblingsspeisen kochte und ihm Ersatzspeisen vorsetzte, 
wenn es etwas gab, was er nicht gerne aß. Geschah das nicht, so geriet er 
in äußerste Wut, stampfte mit den Füßen, zerrte an der Mutter, bis der 
Vater sie dadurch von dem Knaben befreite, daß er ihn mit der Rute 
schlug. 

Neben diesen oralen Wünschen machten sich offenbar in gleicher Stärke 
anale und urethrale bemerkbar. Unter großen Widerständen, die sich über 
einen Zeitraum von mehreren Wochen in der Behandlung erstreckten, 


berichtete er, wie er als drei-, vierjähriger Junge die Großmutter heimlich: 


auf dem Klosett beobachtet hatte und häufig beim Anblick des Gesäßes bis 
zur Erektion erregt war. Unter noch größerer Überwindung brachte er 
Erinnerungen an sexuelle Erregungen beim Beriechen der Kleider der Groß- 
mutter. Er habe sich allein in ihr Zimmer geschlichen und das Gesicht an 
die an der Wand hängenden Kleider gepreßt. Sexuelle Erregungen seien 
auch beim Beriechen des Urins der Großmutter aufgetreten. 

Die phallische Stufe ist also erreicht worden, und zwar sowohl in Form 
autoerotischer Befriedigung als auch in bezug auf bestimmte Objekte. Der 


Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 297 





. Pat. behauptete lange Zeit in der Analyse, niemals in seinem Leben onaniert 
zu haben. Erst ganz allmählich tauchte die Erinnerung auf, wie er als zirka 
Vierjähriger in seinem Bette lag, sich auf den Bauch legte, heftige Bewegungen 
mit den Beinen ausführte und dabei über die schöne Freundin seiner 
Schwester phantasierte. Das erste Objekt, auf das er seine genital-sexuellen 
Wünsche übertrug, war nach den Erinnerungen, die im Verlauf der Analyse 
bis zum Abschluß eruiert wurden, die Großmutter. Er wurde bis zum dritten 
Jahr von ihr mit ins Bad genommen und soll damals beim Anblick ihres 
Genitales sehr erregt gewesen sein. Im selben Alter kam es zu genitalen 
Spielereien mit einem drei Jahre älteren Mädchen, das vom Patienten als 
besonders kräftig und schön geschildert wurde. 

Wenn die Erinnerungen des Patienten zeitlich nicht trügen, so begann in 
dieser Zeit der Konflikt, der sich aus dem Zusammentreffen der Ödipus- 
wünsche und der Kastrationsdrohung ergeben mußte. Der Patient hing mit 
stürmischer Liebe an der Mutter. Er wurde oft von ihr ins Bett genommen 
und mit Zärtlichkeit überschüttet. Dabei versuchte er, mit der Hand ihr 
Genitale zu berühren, wurde aber öfter mit Klapsen zurückgewiesen. Später 
versuchte er mit starken Lustempfindungen die Mutter zu beobachten; er 
selbst verlegte die Lustempfindung bei der Beobachtung des Genitales der 
Mutter in eine etwas spätere Zeit als die beim Anblick der Großmutter. 

Andererseits sprechen Erinnerungen dafür, daß zu dieser Zeit bereits 
Kastrationsdrohungen ausgingen, ohne in diesem Alter schon zur Wirkung zu 
gelangen: er bekam Klapse für die Berührung der Mutter, Schelte für die 
Onanie. Vor allem aber scheinen die aus dieser Zeit stammenden Erinnerungen 
an die sozialen Unruhen in seiner Heimat die Intensität ihrer Wirksamkeit 
durch die wahrscheinlich vom Vater ausgehenden Kastrationsdrohungen erlangt 
zu haben. Der Pat. erinnert sich aus diesem Jahre, daß er gesehen hat, wie 
ein junger Mann aus dem Nachbarhause gebunden wurde. Es war ein Revo- 
lutionär, der nicht, wie sonst üblich, gefesselt, sondern wie ein Verrückter 
gebunden worden sein soll. Das sollen merkwürdigerweise nicht Soldaten und 
Beamte, sondern sein Vorgesetzter getan haben, dem er jahrelang treu gedient 
hatte. — Dann erinnerte er sich an blutende verbundene Männer aus 
dieser Zeit, und vor allem an ein Erlebnis, das später zu größter Wirksam- 
keit kam. Im Jahr der Unruhen, als der Pat. drei Jahre alt war, blickte er 
eines Tages vom Arm seines Kindermädchens auf die Straße. Niemand war 
sonst zu Hause. Als er auf der Straße zwei Soldaten sah, klopfte er an die 
Fensterscheiben. Die Soldaten blickten auf, stürmten ins Haus, drangen ins 
Zimmer und verlangten Alkohol zu trinken. Auf die Hilferufe des Mädchens 
eilte der nebenan wohnende Lehrer herbei, der von den Soldaten heftig gegen 
die Kommode geschleudert wurde und dabei zu Boden fiel. Welche Bedeutung 
dieses Erlebnis später für Pat. bekam, wird noch erörtert werden. 

Das Bild, das der kleine Junge bis jetzt bietet, ist also: starkes, noch 
kaum verdrängtes Triebleben. Außerst geringe Fähigkeit zur Ableitung oder 
Verzicht (er soll alle Versagungen mit schweren Depressionen beantwortet 
haben). Überzärtliche Einstellung zur Mutter; beginnender Konflikt mit dem 
Vater, der bereits als Rivale empfunden wird. Haß und Angst fangen an, 
sich bemerkbar zu machen. | 

Die hier vorgezeichneten Linien der Entwicklung setzen sich in den 





(4 PURE TEE TER = VE EEE EC TREE. 57 -VIE BRETTEN RECHNERS EEE sr RE 7 EnBBENEEREAEEN SE. EEE RE ER BEST TOREa ana taBBBARGERETERR A REIN 
228 Lotte Kirschner 





nächsten zwei Jahren fort und erfahren von allen Seiten Verstärkungen. Den 
gesteigerten Triebansprüchen stehen schwerere Versagungen gegenüber. Das 
geht vor allem aus seiner Einstellung zu Vater und Mutter und der jetzt 
deutlicher hervortretenden gegen die Geschwister hervor. 

Er beansprucht die Mutter immer mehr für sich und ist auf alle, die sie 
ihm entziehen, in höchstem Maße eifersüchtig. Er erträgt es nicht, wenn sie 
mit ihm spazieren geht und dabei Bekannte trifft, mit denen sie sich unter- 
hält. Einmal, er mag ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, war die Mutter 
krank und die Hebamme wurde gerufen. (Es scheint sich um einen Abortus 
gehandelt zu haben.) Die Hebamme machte ihm die Tür zum Schlafzimmer 
vor der Nase zu und riegelte sie ab. Darauf schlug er stundenlang mit Fäusten 
und Füßen gegen die Tür und wußte nicht, was er in seiner Erregung 
anfangen sollte. Er hatte derartige Haflgefühle gegen die Hebamme, dal er 
ihr am liebsten etwas angetan hätte. 

Auf wen diese Haßgefühle ursprünglich gerichtet waren, geht aus einer 
Deckerinnerung hervor. Er berichtet, wie er sich als Fünfjähriger einem 
Geschäftsfreund des Vaters gegenüber äußerst widerspenstig benahm, als er 
ihn auf der Bank vor dem Hause neben der Mutter sitzen sah und nicht 
ertragen konnte, daß sich die beiden miteinander unterhielten. Es ist unschwer, 
unter dem Geschäftsfreund die Figur des Vaters zu erkennen. 

Wie schwierig seine Stellung zum Vater wurde und welche Umwandlungen 
sie erfuhr, geht wieder aus einer Reihe von Erinnerungen hervor, die aus 
dem fünften und sechsten Lebensjahr stammen. Die anfangs geschilderten 
Wutausbrüche werden seltener, er wird also vom Vater seltener mit der 
Rute geschlagen. Seine Empörung gegen den Vater äußert sich vor allem in 
einer bestimmten, immer wiederholten Geste. Er schlief nämlich bis zum 
sechsten Lebensjahr im Bett des Vaters. Wenn er nun auf den Vater böse 
war, so legte er sich möglichst entfernt von ihm und kehrte ihm die Rück- 
seite zu. 

Zu dieser Zeit scheinen die ersten deutlichen Anzeichen von Angst auf- 
getreten zu sein. Er fürchtet sich auf der Straße beim Anblick von Betrunkenen 
und Verrückten, entwickelt besonders starke Ängste vor Maskeraden und Ver- 
kleidungen. Besonders unheimlich war ihm dabei der Zug Vermummter zum 
Fest der Heiligen drei Könige, die sich in der Dunkelheit nur beim Schein 
von Papierlaternen durch die Straßen bewegten. Außerdem traten nächtliche 
Angste, Angstträume mit Enuresis nocturna auf, Besonders bedrückend und mit 
Angstentwicklung einhergehend war ihm die nächtliche Stille im Schlaf- 
zımmer, wenn er aus irgendeinem Grunde aufwachte. Aus seinen zahlreichen 
Träumen passiven Charakters, die er in die Analyse brachte, konnte man 
sehen, daß er nach dem Taliongesetz damals bereits als Strafe zu fürchten 
begann, was er dem Vater wünschte: die Kastration. 

Man wird gleich sehen, wie Angst und Leiden ihm dazu verhalien, seine 
ursprünglichen Wünsche nun doch zu befriedigen. Die nächtlichen Angste 
bewirkten, daß er im Schlafzimmer der Eltern noch schlafen durfte, als die 
anderen Kinder bereits längst ausquartiert waren. Und wenn es ihm nicht 
gelungen war, den Vater auf direktem Wege zu beseitigen oder zu stören, 
so hatte er allmählich ein anderes Mittel gefunden, das ihm, allerdings unter 
der Bedingung unangenehmer Sensationen, doch zum erstrebten Ziele führte. 





Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 229 


Er wachte nachts auf und klagte über Zahnschmerzen, — sofort nahm ihn 
die Mutter zu sich ins Bett. In dieser Zeit litt er häufig unter nächtlichem 
Hustenreiz. Der Erfolg war, daß die Mutter aufstand, ihn auf den Schoß 
nahm und ihm Syrup gab, der unter Einhaltung besonderer Vorschriften 
gewärmt werden mußte. Oder er wachte einmal auf und fand den Vater 
nicht neben sich liegen. Er erschrak sehr, bis er ihn plötzlich im Bett der 
Mutter fand. Darauf weinte er so, bis eines der Eltern zu seiner Tröstung 
herbeigeeilt kam. 

Sehr wichtig erscheint mir fernerhin die Erinnerung, daß er im fünften 
oder sechsten Lebensjahr den Penis des Vaters und Bruders betrachtet und 
berührt habe. Beide seien ihm außerordentlich groß erschienen. 

Wie schon erwähnt, scheint die Rivalität mit den Geschwistern zu dieser 
Zeit eine größere Rolle gespielt zu haben. Ich konnte das allerdings ebenfalls 
zunächst nur aus Deckerinnerungen schließen. Er begann nämlich damals, sich 
mit anderen Kindern herumzuschlagen. Er reizte sie, immer nur „aus Spaß“, 
zwickte sie an den Ohren usw. und war sehr empört, wenn sie ihn dann 
ernsthaft verprügelten. Er ist damals noch auf alle losgegangen, auf Größere 
und Kleinere, Stärkere und Schwächere, scheint aber häufig den kürzeren 
gezogen zu haben. Bald ist er mit Beulen, bald blutüberströmt nach Hause 
gekommen; einmal wurde ihm von einem Jungen die Nase blutig geschlagen. 
Er begann, sich bald als der Unterlegene zu fühlen und unter Minderwertig- 
keitsgefühlen zu leiden. Er erzählt, daß er fast immer Schläge auf den Kopf 
bekam. (Er führt jetzt noch seine Kopfschmerzen auf diese Erlebnisse zurück.) 
Ich glaube, daß daraus schon deutlich genug zu entnehmen ist, daß die 
Bedeutung dieser Kopfschmerzen auf unbewußte Identifizierung mit dem Penis 
zurückgehen und dal3 die Minderwertigkeitsgefühle durch Kastrationsängste 
ihre Intensität erlangt haben. Wie unterlegen er sich den anderen gefühlt 
hat, geht auch aus einem Erlebnis aus dem vorschulpflichtigen Alter hervor. 
Er wollte sich mit anderen Kindern auf einen Wagen schwingen. Den anderen 
gelang das sofort, er aber kam mit den Füßen zwischen die Räder und hing 
längere Zeit mit dem Kopf nach unten. Auch dieses Erlebnis, bei dem ihn 
übrigens am meisten beschäftigte, ob auch nicht sein neuer Spazierstock 
beschädigt worden sei, führt er als Ursache seiner Kopfschmerzen an. Auch 
hier verdeckt meiner Meinung nach die Angst vor dem Blutandrang zum 
Kopfe die Angst vor der Strafe für die verbotene Erektion. 

Noch ein bedeutsames Ereignis seines sechsten Lebensjahres ist nachzu- 
holen; der erste epileptische Anfall seines Bruders. Drei Jahre nach dem Erlebnis 
mit dem Lehrer spielte der damals noch gesunde Bruder mit der Tochter des 
Lehrers, wobei er ihr etwas wegnehmen wollte. Der Lehrer, dessen Tochter 
ihm den Vorgang berichtet hatte, schalt heftige auf den Bruder und soll ihm 
sogar mit der Pistole gedroht haben. Am Abend dieses Tages bekam der 
Bruder den ersten Anfall — wie der Pat. meint — als Reaktion auf die 
Drohung. In der Analyse stellte sich heraus, daß der Pat. glaubte, die Drohung 
des Lehrers sei eine Rache für die von dem Soldaten erlittene Kränkung aus 
der Zeit der Unruhen gewesen, als deren Urheber er sich fühlte. Diese 
Rache sei ihm eigentlich zugedacht, er hätte also Epileptiker werden müssen. 
Seit dieser Zeit datieren die schweren Schuldgefühle gegen diesen Bruder, 
mit dem er sich weitgehend identifiziert. Er sagte einmal in der Behandlung: 





230 Lotte Kirschner 





„Wie kann man denn lebensfroh sein, wenn man einen solchen Bruder in der 
Familie hat? Wie kann man selbst Liebe für eine Frau empfinden, da die 
Ärzte dem Bruder sexuelle Enthaltsamkeit geraten haben ?” 

Wenn man sich noch einmal die psychische Situation vor Augen hält, in 
der Patient im fünften und sechsten Lebensjahr war, so handelt es sich um 
folgendes: Zuspitzung des Ödipuskomplexes, genital-sexuelle, auf die Mutter 
gerichtete Wünsche, entsprechend gesteigerte Feindschaft mit dem Vater. Der 
Haß gegen den Vater darf nicht gezeigt werden wegen dessen Überlegenheit 
und der wirksam werdenden Kastrationsdrohung. Er muß wahrnehmen, daß 
er ohnehin einen viel kleineren Penis als Vater und Bruder hat; zugleich 
mögen in ihm die Erfahrungen weiterwirken, die er bei der Berührung und 
Beobachtung der Mutter gemacht hat. Die sexuellen, auf die Mutter gerichteten 
Wünsche und die gegen den Vater gerichteten feindlichen Impulse werden 
also unter Einwirkung schwerer Schuldgefühle und unter Angstentwicklung 
verdrängt. Die Rivalität mit den Geschwistern äußert sich zunächst noch in 
ungehemmten Aggressionen, aber auch hier finden sich bereits Ansätze, die 
auf die Notwendigkeit der Verdrängung hinweisen, ebenfalls wohl hauptsäch- 
lich unter der Wirkung der Kastrationsdrohung. 

Zwei wesentliche Ereignisse fallen in die Zeit des siebenten bis achten 
Lebensjahres. Das erste war die Geburt der kleinen Schwester, die einen 
weitgehenden Verzicht auf die geliebte Mutter nach sich zog und wahr- 
scheinlich eine Reihe von Phantasien über die Entstehung der Kinder und 
über die Rolle der Eltern dabei bewirkte. Einzelheiten darüber konnte ich 
als Tatsachenmaterial in der Analyse leider nicht bekommen. Vor allem scheint 
mir eine Steigerung seiner Schauwünsche dafür zu sprechen. Immer wieder 
ließ er sich mit anderen Kindern das Genitale einer debilen Frau zeigen, die 
auf Wunsch der Kinder zu jeder beliebigen Zeit ihre Röcke hob und den 
Kindern ihr Genitale demonstrierte. Man sieht hier bereits die Verschiebung 
dieser Wünsche von der Mutter auf Ersatzpersonen. 

Das zweite Ereignis war geeignet, die Kastrationsdrohung zu intensivster 
Wirksamkeit zu bringen. Zur selben Zeit ungefähr traf er mit seinen Kameraden 
einen halbbetrunkenen Mann, der den Kindern im Spaß zurief, er werde 
ihnen ihr Glied abschneiden, und dabei sein Messer hervorholte. Der Pat. 
brachte diese Erinnerung nach Art der Zwangsneurotiker zuerst ohne Affekt, 
als etwas ganz Gleichgültiges; er glaubte, damals keine Angst gefühlt zu haben. 
Erst sehr viel später erinnerte er sich, beim Anblick des Messers entsetzt die 
Flucht ergriffen zu haben. Zur selben Zeit fiel ihm auch in der Analyse ein, 
daß die damaligen Schauwünsche bereits eine Kombination von sexueller 
Erregung und Angst in sich trugen, was er ursprünglich ebenfalls nicht mehr 
erinnert hatte. Ich glaube, in diesem Zusammentreffen von Angst und sexueller 
Erregung bei den Schauwünschen die ersten Andeutungen einer echten maso- 
chistischen Perversion zu sehen. 

In diese Zeit fällt eine Verstärkung seiner Angst vor Verrückten und 
Betrunkenen. Zugleich machen sich die ersten Symptome einer Arbeitshemmung 
bemerkbar. Er haßt die Lehrer durchwegs, fürchtet sich vor ihnen und kann 
sich schon nicht mehr bei den Arbeiten konzentrieren. Außerdem zeigt sich 
eine weitgehende Veränderung der Äußerungsform seiner Wut. Es genügt 
bereits die Drohung mit der Rute oder ein Blick auf sie von seiten des 





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Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 231 


Vaters, um einerseits Gefühle ohnmächtiger Wut in ihm wachzurufen mit 
Wünschen, den Vater zu schlagen, zu beißen usw., um dagegen andererseits 
den Ausbruch der Wut zu verhindern: er wird immer stiller, zieht sich in 
trotziges Schweigen zurück — und erreicht, daß die Mutter, betroffen von 
der ihr unheimlichen Reaktion, schleunigst seine Wünsche erfüllt, also ähnlich 
wie in der früheren Kindheit. 

Die Kastrationsdrohung hat also infolge der Erfahrungen, die der kleine 
Junge macht und denen er sich nicht länger verschließen kann, an Realitäts- 
wert gewonnen und bewirkt weitere Verdrängung und ein allmähliches, nicht 
mehr aufzuhaltendes Hineingleiten in die Passivität. Zugleich verschieben sich 
die Haßgefühle vom Vater auf Ersatzpersonen, in der Hauptsache auf Lehrer, 
und bewirken allem Anschein nach infolge der Unmöglichkeit ihrer Ver- 
arbeitung an erster Stelle die Arbeitshemmung, Er hat also nicht mehr die 
Möglichkeit, seine Aggressionen der Realität anzupassen, sondern wird von 
ihnen infolge des Verdrängungsmechanismus immer weiter in den Masochismus 
hineingetrieben. 

Die beiden nächsten Jahre brachten nichts grundsätzlich Neues, sondern 
nur ein Fortschreiten in der eingeschlagenen Richtung. Bei den fortgesetzten 
Prügeleien mit den Jungen erfährt er eine Niederlage nach der andern. Er 
muß dazu noch vom Vater zu hören bekommen, daß er dadurch sterben oder 
vehirnkrank werden würde, so daß man also annehmen darf, daß er aus 
masochistischen Gründen die Situationen aufsucht, in denen er unterliegen 
muß. Er wird von den anderen wegen Untauglichkeit von einer Jungen- 
Kampforganisation ausgeschlossen und beginnt, sich mehr und mehr mit der 
passiven Rolle abzufinden. 

Im elften Jahr machte er eine Beobachtung, die seine Sexualscheu nur 
noch vergrößern konnte. Er beobachtete mit anderen Kindern auf dem Hofe 
der Synagoge einen Koitus, der von einem halbidiotischen Mann und der 
oben erwähnten debilen Frau z Zergo unternommen wurde. Er schildert in 
der Analyse, daß er tagelang von dem Eindruck, den diese Szene auf ihn 
machte, verfolgt worden sei. Er empfand ein mit Erregung gemischtes Grauen. 
Nach seinen eigenen Worten hat er das Gefühl gehabt, als sei das Genitale 
der Frau „nach unten verdreht“, als hätten die Gedärme herausgehangen. Am 
Genitale dieser Frau hatte er vorher bereits Blut gesehen. 

Dieser Anblick schien ihm zu bestätigen, daß das Sexualleben etwas uner- 
hört Grausames sei. Ohne sehr viel an Einzelheiten zu erfahren, konnte ich 
doch aus seinen Reaktionen und vor allem aus den Träumen entnehmen, daß 
er geglaubt hatte, daß die Frau einen Penis, und zwar einen analen (Groß- 
mutter), habe; dieser Penis schien ihr ja beim Koitus genommen zu werden. 
Außerdem bestand bei ihm zu dieser Zeit die Theorie, daß die Kinder vom 
Darm geboren würden. Sexualität war also etwas, wobei die Frau schwerste 
anale Schädigungen und Verletzungen erfuhr. 

Ich kann vielleicht gleich hier erwähnen, daß er aber auch schwerste 
Schädigungen des Mannes beim Koitus zu erwarten schien. Schon in der 
frühen Kindheit tauchten die Erinnerungen an verwundete und blutende 
Männer auf. Während der Analyse hatte er einmal einen Traum, in dem er 
mit der älteren Schwester durch die Straßen ging. Überall hätten verstümmelte 
und blutende Männer gelegen. Während er von Entsetzen gepackt worden sei, 











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232 Lotte Kirschner 


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habe sich die Schwester alles ganz ruhig und kalt lächeind angesehen. — In 
einem Restauranttraum träumte er, daß eine Frau ihm alles, was er sich 
bestellt hatte, wegnahm; zuerst das Fleisch vom Teller und nachher das, was 
er sich zu Trinken bestellt hatte. Als er sich wehren wollte, sei sie mit dem 
Besteck auf ihn losgegangen. 

Immer mehr setzte sich in ihm der Eindruck fest, daß Sexualität gleich- 
bedeutend mit Verrücktheit und Betrunkenheit sei. (Angst vor den verrückten 
Männern und Frauen!) Dabei schien die anfangs noch ganz deutlich bzw sexuelle 
Erregung beim Anblick Verrückter immer weiter der darüber gelagerten 
Angst zu weichen. — Er schilderte einmal den epileptischen Anfall des Bruders, vor 
dem er sich unsagbar fürchtete, als etwas, was aus der Ruhe plötzlich her- 
vorbricht, zu rasender Erregung führt und danach zur Ruhe zurückkehrt. 

Das Ergebnis der bisherigen Entwicklung des Knaben ist also: schwere 
Angst vor der Sexualität, Angst vor dem kastrierenden Mann und vor der 
kastrierenden aktiven Frau. Es bleibt noch zu untersuchen, in welcher Weise 
der Durchbruch sexueller Strömungen gegen diese Ängste vor sich geht und 
welchen Ausweg der Patient in der Auseinandersetzung mit dem Vater findet. 

Während der ersten Pubertätsjahre fehlt nach den Schilderungen des Fat. 
alles Aktive, Draufsängerische. An Stelle der normalen Loslösung des heran- 
wachsenden Jünglings von den Eltern macht sich eine immer stärkere Bindung 
an das Haus bemerkbar. Alle aggressiven Regungen gegen den Vater sind ver- 
drängt und haben einer zärtlichen Liebe von passiv-homosexuellem Charakter 
Platz gemacht. Der Pat. ist unglücklich, wenn der Vater in diesen Jahren 
geschäftliche Reisen unternehmen muß, weint in seiner Abwesenheit, geht 
tagelang vor der zu erwartenden Rückkehr des Vaters auf die Bahn und ist 
schwer deprimiert, wenn er wenige Stunden oder Tage später, als verabredet, 
heimkehrt. Die Todeswünsche sind der Angst um das Leben des nun bw nur 
geliebten Vaters gewichen. 

In diese Zeit fallen manifest homosexuelle Erlebnisse mit einem der 
älteren Brüder, die der Pat. lange Zeit bw verschwieg und von denen zu 
berichten er kaum zu bewegen war. Als der Pat. zwischen dreizehn und 
vierzehn Jahren alt war, kam der Bruder mehrmals zu ihm ins Bett. Er 
rieb dabei den Penis au dem entblößten Leib des Pat., der die Stellung der 
Frau einzunehmen hatte. Mehrmals versuchte der Bruder auch einen analen 
Koitus. Wenn der Pat. die aktive Rolle übernehmen sollte, kam es bei ihm nie 
zu Erektionen. Von diesem Bruder ließ er sich später zum Studium „verführen“. 

In dem Durchbruch dieser passiv-homosexuellen Tendenzen ist m. E. der 
Abschluß einer seit frühester Kindheit beginnenden Entwicklung zu sehen. 
Nach Verdrängung der auf die Mutter gerichteten Wünsche und der feind- 
lichen Aggressionen rettet er sich in die Identifizierung mit der Mutter, um 
als Ersatz für die Liebe der Mutter und aus Furcht vor dem Vater wenigstens 
die Liebe des Vaters zu erhalten. Die Ansätze dazu waren, wie schon erwähnt, 
in der frühesten Kindheit zu beobachten. Ich erinnere an dieser Stelle noch 
einmal an das Umdrehen des Fünfjährigen im Bett, wenn der Vater ihn von 
der Mutter getrennt hatte. 

Die späteren Pubertätsjahre (vom sechzehnten bis achtzehnten Jahr) erwecken 
noch einmal die infantilen Ödipuswünsche; dabei wird statt der Mutter die 
ältere Schwester als Ersatz genommen. Das ersehnte Ziel bei dieser Objekt- 


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233 


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Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung | 


wahl ist nicht der Koitus, sondern — ebenfalls analog den Kinderjahren — 
das Schauen und Berühren. Gegen Ende der Analyse erzählte Pat. von der 
Übersiedlung der Familie nach X. Dabei schlief er einmal im Waggon neben 
der Schwester. Plötzlich hatte er den triebhaften Wunsch, sie aufzuwecken, 
ihr Genitale anzuschauen und zu hetasten. Er versuchte, die Decke etwas 
hochzuheben. Als sie dabei im Schlaf eine Bewegung machte, führte er sein 
Vorhaben nicht aus und war nachher beim Anblick der Schwester stets von 
schwersten Schuldgefühlen erfüllt. Später richtete er dieselben Wünsche auf 
ein Dienstmädchen. Er drängte als Achtzehnjähriger, sie in ihrer Kammer 
aufzusuchen, um sie zu beschauen und zu berühren. Nachdem er tagelang den 
Plan mit sich herumgetragen und mehrmals Anläufe dazu unternommen hatte, 
ihn zu verwirklichen, ging er eines Nachts tatsächlich zu dem Mädchen, war 
aber dabei so ungeschickt, daß das Mädchen vorher erwachte und offenbar 
am nächsten Tage der Mutter Mitteilung davon machte. 

Aus den letzten vier bis fünf Jahren war an Tatsächlichem nichts wesent- 
lich Neues zu erfahren. Von den Wirkungen, die die Fußverletzung und das 
Nasenleiden auf ihn ausübten, und von der in Berlin besonders deutlich zutage 
tretenden Arbeitshemmung habe ich bereits am Anfang eingehend berichtet. 

Als ich mir am Beginn der Analyse die Frage vorlegte: Wodurch unter- 
scheidet sich der Pat. von anderen jungen Leuten seines Alters ?, so erschien 
mir als hauptsächliches Merkmal der Mangel an motorischem 
Antrieb, das Fehlen jedes wirklichen Strebens nach Selbständigkeit und 
infolgedessen das Verharren in der infantilen Situation. Beruf, Verdienst- 
möglichkeit, Selbständigkeit waren Dinge, die für „später“ für ihn in Betracht 
kamen, so wie ein Kind davon spricht, was es tun wird wenn es erst groß 
sein wird. Ihm fehlte gefühlsmäßig völlig das Verständnis dafür, daß das 
„Großsein“ für ihn bereits herangekommen war. 

Ich kann das vielleicht noch einmal kurz an seiner bıv Einstellung zu den 
Menschen beleuchten. 

Den Vorgesetzten gegenüber fehlte ihm jede Unbefangenheit und 
Sicherheit. Seine Angst vor ihnen — sei es Dozent oder Chef — machte es ihm 
zum großen Teil unmöglich, ins Examen zu gehen oder sich eine Stellung zu 
suchen. Schon bei der Vorstellung dieser Dinge reagierte er mit Herzklopfen 
und Schwindelgefühl. Er wagte nicht, Seminare zu belegen, in denen die 
Teilnehmer ausgefragt wurden; er schindete höchstens solche Übungen, 
während er angstvoll und unruhig dem Augenblick entgegensah, in dem der 
Dozent aus Versehen eine Frage auch an ihn richten würde. Der Kreis der 
„Vorgesetzten“ erweiterte sich naturgemäl) immer mehr, umfaßte z. B. später 
Leute, wie Friseur, Bibliotheksdiener usw. 

Ähnlich erging es ihm mit Kollegen. Er vermochte sich ihnen gegen- 
über nicht durchzusetzen, seine aggressiven Regungen an Stellen anzubringen, 
wo es für ihn zweckmäßig war. Sondern er zeigte sich ihnen gegenüber als 
besonders weich und übemachgiebig. Er vermochte z. B. aus Angst nicht, 
ihnen Bitten um Gefälligkeiten, Besorgungen usw. abzuschlagen, und konnte 
nicht versagen, wenn man ihn anpumpte, obgleich er selbst in äußerst 
bedrängter Lage war und innerlich sehr erregt gegen die an ihn gestellten 
Anforderungen protestierte. 

Seiner Ängst vor der kastrierenden Mutter entsprechend war auch sein 


Int. Zeitschr, f. Psychoanalyse, XIV/2 16 





Verhalten Frauen gegenüber von der Norm abweichend. Die Angst spiegelte 
sich besonders deutlich in seinem schon erwähnten Verhalten den Zimmer- 
vermieterinnen gegenüber wider. Er mußte alles tun, um diese Damen bei 
guter Laune zu erhalten und reagierte mit schweren Depressionen, wenn er 
von einer von ihnen etwas unfreundlich behandelt wurde. Der Frau als 
Liebesobjekt gegenüber war es ihm nicht gelungen, die sinnlichen und zärt- 
lichen Regungen auf eine Person zu vereinen. | 

Überdenke ich nun noch einmal, was ich bisher geschildert habe, so kann 
ich mich vielleicht eines Buchtitels von Freud bedienen: „Hemmung, Symptom 
und Angst.“ Und zwar habe ich zuletzt einen Zustand allgemeinster Hemmung 
geschildert, hervorgegangen aus frühkindlichen Ängsten, der dem Bewußtsein 
des Pat in Form seines Hauptsymptoms zugänglich wurde. Alles, was ich 
eben schilderte, gipfelt in dem, was er seine Arbeitshemmung nannte. Seine 
außerordentlichen Minderwertigkeitsgefühle bw Art werden so 
ebenfalls verständlich, obgleich es ja zur Charakteristik jeder Neurose gehört, 
daß der Pat. seine Minderwertigkeitsgefühle falsch lokalisiert. 

Es würde zu weit führen, diese Verschiebung nun noch einmal in allen 
Einzelheiten zu schildern; ich nehme an, daß man einen ausreichenden Ein- 
druck von der Beziehung der Minderwertigkeitsgefühle auf ubw genitales 
Material gewonnen haben wird, während der Pat. es in rationalisierter Form 
vorbringt. Seine Zwangsgrübeleien stehen diesen Minderwertigkeits- 
gefühlen sehr nahe. Sie enthalten wiederum dem Bewußtsein des Pat. nicht 
zugängliches Material sexueller und sadistischer Art. Oben wurde ja in aller 
Breite dieses Material in seinen genetischen Zusammenhängen geschildert. 

Zwei weitere Formen seiner Symptome schließen sich hier an: ı) seine 
Selbstvorwürfe, die mit den gleichen Inhalten z. T. Zwangscharakter 
annehmen; 2) seine Budenangst, die im wesentlichen die angstvolle 
Flucht vor dem Bewußtwerden des entsprechenden Materials in der Stille 
des Alleinseins darstellt. Daß das konversionshysterische Symptom seiner 
Kopfschmerzen ebenfalls hierher gehört, geht ja eindeutig aus dem 
hervor, was er selbst in bestimmten Stadien der Analyse vollständig richtig 
aufdeckte. Im wesentlichen handelt es sich dabei um ein konversions- 
hysterisches Aquivalent seiner Zwangsgrübeleien. 

In Ergänzung seiner Hemmungen auf dem Gebiete der Arbeit schilderte 
ich oben die Hemmung der Frau gegenüber. Als Hauptsymptom auf diesem 
Gebiet wurde seine Ejaculatio praecox genannt, der mangelhafte Erektionen 
vorangingen. 

Zwei entgegengesetzte Erscheinungen stehen im wesentlichen hinter diesem 
Symptom: Aggression gegen die Frau und Angst vor ihr, der Kastrierenden. 
Die genetischen Bedingungen für die Entstehung dieser Symptome sind oben 
breit geschildert worden. Als Oberflächenerscheinung jener tieferen Schichten 
möchte ich noch hinzufügen, daß er sich vor der Analyse niemals beim 
Koitus schützte, daß aber hinter dem masochistischen Wunsch, sich zu 
infizieren, auch der entgegengesetzte stand, die Frau nicht vor Schwanger- 
schaft zu bewahren. Am schönsten fand er beim Koitus den Augenblick vor 
der Ejakulation, das sei ein wunderbares Gefühl blinder Wut. 

Durch die Ejaculatio praecox enttäuschte er einerseits die Frau und entzog 
sich andererseits der Gefahr, seinen Penis in der Vagina zu verlieren. 


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Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 235 

Zum Schlusse möchte ich auf einige besondere Schwierigkeiten hinweisen, 
die der Analyse entgegenstanden. Es waren in der Hauptsache ubw 
Illusionen und sekundärer Krankheitsgewinn. Die beiden 
Illusionen, an denen er am festesten hing, waren die: eines Tages das große 
Los zu gewinnen und mit einem Schlage gesund zu werden. Das Festhalten 
dieser Illusionen hatte vor allem den Sinn, ihn vor der Einsicht zu schützen, 
daß mit der Gesundung ein Stück schwieriger Arbeit im Sinne einfachsten, 
zum Teil stumpfsinnigen Paukens einhergehen konnte. Gesund sein war für 
ihn mit der Illusion verbunden: nur das tun zu müssen, was einen inter- 
essiert, alles im Fluge lernen zu können, ohne sich zu irgend etwas zwingen 
zu müssen. Er sagte einmal bei Besprechung der Kopfschmerzen: „Kopf- 
schmerzen bekommt man, wenn man sich überanstrenst, d. h. wenn man 
sich zwingen muß, etwas zu tun, was man nicht will.“ Und ein andermal: 
Manchmal schlage er ein Buch auf, nicht aus gutem Willen, sondern weil 
er sich bedrängst fühle, und dann bekomme er Kopfschmerzen. Er glaubte, nur 
von dieser Arbeitshemmung befreit zu sein, dann würde er sein fabelhaftes 
Talent, seine hervorragende Begabung entfalten und alle Lernhindernisse ohne 
Schwierigkeiten nehmen können. Es gehörte zu seinen größten Enttäuschungen, 
als ich ihm in der Analyse klarzumachen versuchte, daß er sich auch nach 
Aufhebung der Hemmung aller Wahrscheinlichkeit nach als Durchschnitts- 
mensch mit durchschnittlicher Intelligenz erweisen wurde, der die Kleinarbeit 
und Anfängerarbeit durchmachen müsse, wie es im allgemeinen üblich und 
notwendig sei, da auch der gesunde Mensch in der Berufsarheit Dinge 
erledigen müsse, die er häufig genug nur aus der Notwendigkeit des Existenz- 
kampfes heraus tut, und dal das Leben auch vom Gesunden Anstrengung 
und Mühe erfordert. 

Der sekundäre Nebengewinn bestand zum großen Teil darin, daß er sich 
durch die Neurose die eben beschriebenen Illusionen aufrechterhalten und 
sich dadurch den Einsichten entziehen konnte. Außerdem ging seine Familie 
zu seinem Verhängnis so weit auf seine Neurose ein, daß sie ihm alle 
Anforderungen erließ, die im allgemeinen an einen Menschen seines Alters 
und seiner Situation gestellt zu werden pflegen, so daß er keinen genügenden 
äußeren Druck verspürte, seine Neurose aufzugeben. Wenn er nach Hause 
schrieb, dal irgend etwas ihn in einem der Briefe verstimmt habe, so 
bemühte sich die Familie ängstlich, so etwas nicht wieder zu schreiben und 
ihm auch niemals einen Vorwurf zu machen. Was ihm durch die Neurose 
gewährleistet wurde, war die Rücksichtnahme der Familie und die Abnahme 
aller materieller Lasten. So meinte er, er würde sich vielleicht doch abfinden 
mit dem Gedanken, krank zu sein; dann könne er sich eben leisten, nichts 
zu arbeiten. Er wußte, man würde ihn nicht verhungern lassen oder ihm 
den Stuhl vor die Tür setzten. Darum begnügte er sich lieber mit einem 
bescheidenen Wechsel, wenn ihm nur die Berufsarbeit erspart blieb. Für die 
Taube auf dem Dach wollte er einen Spatz in der Hand nicht aufgeben. 

Die Behandlung mußte sich als Ziel setzen, den Pat. von den ihn 
beherrschenden infantilen Ängsten und Schuldgefühlen zu befreien und ihm 
dadurch zu ermöglichen, sich entsprechend der Erwachsenensituation zu 
benehmen, ohne von Kinderängsten bedrückt zu werden. Die Ängste hatten 
ihn ja gehindert, die zum Leben notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen 





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zu sammeln und zu verwerten, so daß durch die wachsende Unerfahrenheit 
und Weltfremdheit seine Angst schließlich mehr und mehr begründet wurde. 
Je mehr er von dieser Angst befreit werden konnte, um so mehr Kraft 
mußte er freibekommen für das Erlernen und Nachholen der primitivsten 
Realkenntnisse. 

Des weiteren hatten ihn die Angst und Schuldgefühle an der Bildung 
fester Zielvorstellungen für das Leben gehindert. Er empfand das Leben zum 
großen Teil nur als eine höchst unerfreuliche Angelegenheit, die nur aus 
einem Kampf mit viel Stärkeren und Überlegeneren besteht. Die Analyse 
mußte ihm dazu verhelfen, sich allmählich ein Bild von den Möglichkeiten 
des gesunden Menschen machen zu lernen, um daran zu erkennen, daß sie 
in der Regel trotz aller Schwere befriedigender und genußreicher sind als 
die mageren Wunscherfüllungen, die das Bestehen der Neurose mit sich 
bringt. 

Die vorliegende Neurose, die mit einzelnen Symptomen, wie z. B. Ver- 
stimmungszuständen, in das dritte und vierte Lebensjahr zurückreichte und 
weitgehend den Charakter beeinflußt hatte, konnte natürlich in einem knappen 
Jahr nicht zur Heilung gebracht werden. Es verschwand während der Analyse 
das dauernde Zimmerwechseln (der Patient wohnte zuletzt sechs Monate in 
einem Zimmer und fühlte sich sehr wohl), die Budenangst; das Sexualleben 
war in den letzten Wochen ganz ungestört; der Patient kam während eines 
Zusammenseins mehrmals zum vollen Orgasmus ohne Ejaculatio praecox. 
Allerdings spielt hier wohl auch die bevorstehende Abfahrt eine Rolle, deren 
Aussicht ihm alle Lasten des Liebeslebens nahm und dadurch eine Ver- 
minderung seiner Ambivalenz bewirkte. Als die Entscheidung gefallen war 
und er sich nur noch mit der Tatsache seiner geschäftlichen Tätigkeit beim 
Vater abzufinden hatte, überwand er auch seine Arbeitshemmung zum Teil 
und konnte sich wenigstens streckenweise durch ein Buch über Buchhaltung 
durcharbeiten, als erste Vorbereitung zum Berufsleben. 


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Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer 
psychiatrisch-neurologischen Untersuchung von 
Chauffeuren 


Von 


M. Wulff 


Berlin 


In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, einigen Tatsachen 
und Erscheinungen, die unerwarteterweise bei einer psychiatrisch-neurologischen 
Untersuchung von Chauffeuren in Moskau aufgedeckt worden sind, eine 
Erklärung zu geben. Die Untersuchung selbst wurde nicht von mir vor- 
genommen, sondern von Frau Dr. med. Tschernucha, einer nicht psycho- 
analytisch geschulten Nervenärztin. Es wurden nur die üblichen psychiatrisch- 
neurologischen, keine psychoanalytischen Untersuchungsmethoden angewandt. 
Dieser Umstand schützt vor dem üblichen Vorwurf, die Psychoanalytiker 
suchten und fänden überall nur das Sexuelle. In der Tat sind dabei haupt- 
sächlich Tatsachen sexueller Natur, die in einer sonderbaren Weise mit Angst- 
gefühlen und phobischen Symptomen verbunden waren, aufgedeckt worden. 
Die untersuchten 530 Chauffeure wurden von Dr. A. Tschernucha in 
drei Gruppen geteilt: Die erste Gruppe bildeten die Chauffeure, die ihren 
Beruf erst vier bis zehn Monate ausübten. Sie machten im ganzen nur 
34 Prozent der Untersuchten aus, d. h. ı7 Mann. Diese Leute litten alle an 
Angstgefühlen während der Fahrt. Bei ı5z von ihnen war die Angst mit 
somatischen Erscheinungen verbunden: „Herzbeklemmung“, Herzklopfen, 
Erröten des Gesichtes, Hitzegefühle im ganzen Körper, Schweißausbrüche. 
Außerdem traten in zehn Fällen in Verbindung mit der Angst sonderbare 
Empfindungen in der Sexualsphäre auf: eine unbestimmte angenehme Emp- 
findung in der Richtung vom Herz zu den Genitalien, „wie beim Schaukeln“, 
Erektionen, Ejakulationen, in zwei Fällen Harndrang. 

Die zweite Gruppe hatte eine Arbeitszeit von ein bis anderthalb Jahren 
hinter sich und umfaßte 42 Prozent der Untersuchten, nämlich 2ı Mann. 
Von vier Mann waren im Untersuchungsmaterial überhaupt keine Angaben 
über ihr Sexualleben zu finden. Das kann aber weder etwas für noch gegen 
diese Befunde sagen: Die sexuelle Frage tauchte nämlich — wie gesagt — 
während der Untersuchung ganz unerwartet auf; zu Beginn der Arbeit wurden 
daher noch keine diesbezüglichen Details verzeichnet und keine speziellen 
Fragen darüber gestellt. Erst die Untersuchten selbst haben durch ihre Klagen 
die Aufmerksamkeit des Arztes auf diese Tatsachen gelenkt. Drei Fälle dieser 





238 M. Wulff 





Gruppe klagten über Angst während der Arbeit, zwar ohne begleitende 


Genitalempfindungen, dafür aber berichteten sie über sonderbare Empfindungen 


während des Koitus: „Als ob ich im Autobus fahre.” Bei geschlossenen Augen 
sahen sie Straßen, ein Gewimmel von Menschen, in einem Falle wurde der 
Koitus durch ein (halluzinatorisches?) Automobilsignal unterbrochen. Alle diese 
Empfindungen hatten dabei den Charakter von etwas Fremdem, Störendem. In fünf 
anderen Fällen dieser Gruppe war die Angst während der Fahrt nicht stark, 
von keinen Sexualempfindungen begleitet, aber es ließ sich eine unbestimmte 
Angst vor dem Koitus feststellen, die die Chauffeure selbst durch „Ermüdung“ 
erklären wollten. In vier Fällen wurde Angst gerade bei einer gefährlichen 
Situation nicht empfunden, aber die ganze Arbeitszeit von einer unangenehmen 
Unruhe beherrscht, von der ängstlichen Erwartung eines Unfalles. In fünf 
weiteren Fällen blieben die Untersuchten während der Arbeit ganz ruhig — 
sie erklärten es durch Gewöhnung — aber außerhalb der Arbeit wurden sie 
immer von einer unbestimmten Angst gequält, wenn sie einen vorbeifahrenden 
Autobus sahen; es kam ihnen so vor, als ob gleich ein Unglück geschehen 
müsse. Einer von ihnen fährt außerhalb der Arbeit niemals im Autobus: „Es 
wird sicher ein Unglück passieren.“ Ein anderer kann die Fahrstraße nicht 
passieren aus Angst vor den Automobilen usw. Auch viel Aberglaube ist bei 
den Leuten dieser Gruppe zu beobachten, wie z. B.: „eine Katze ist über 
die Straße gelaufen“, „bei der Ausfahrt aus der Garage läuteten die Kirchen- 
glocken“, „der erste Fahrgast war eine Frau“ usw., es gibt „schlimme 
Strecken“ usw., das sind alles schlimme, unglückverheißende Vorzeichen. 

Die dritte Gruppe endlich, mit einer Arbeitszeit von anderthalb bis zwei 
Jahren, betrug 24 Prozent der Untersuchten, im ganzen ı2 Mann. Zwei von 
ihnen litten an Zwangsangst außerhalb der Arbeit, bei zwei anderen sind 
ähnliche Erscheinungen wie bei der ersten Gruppe (Angst bei der Fahrt mit 
sexuellen Empfindungen) zu beobachten, in einem Fall sind keine Erscheinungen 
dieser Art verzeichnet und sieben klagen über Verminderung der sexuellen Potenz. 

„Zieht man noch dazu in Betracht,” — sagt Dr. Tschernucha, — 
„daß bei der Untersuchung der Straßenbahnführer von 450 untersuchten Fällen 
in 250 Fällen eine bedeutende Verminderung der sexuellen Potenz zu ver- 
zeichnen ist, so wird der Versuch, irgendeinen Zusammenhang zwischen dem 
Erleben des Angstaffektes und den Störungen der Sexualsphäre zu finden, gar 
nicht so sonderbar erscheinen. Dieser Versuch wird wirklich durch die 
Ergebnisse der interessanten Untersuchung von Dr. Tschernucha nahegelegt. 

Leider leidet das Material an großen Defekten, was nicht zu verwundern 
ist, wenn man in Betracht zieht, daß es als „Nebenfund” bei einer 
Forschung, die ganz andere Zwecke verfolgt hatte, entdeckt worden ist. Für 
den Psychoanalytiker ist besonders der Mangel genetischer Hinweise auf die 
Art und Weise, wie sich die Symptome in jedem einzelnen Fall allmählich 
entwickelt haben, bedauerlich. Diesem Mangel können wir bis zu einem 
gewissen Grad abhelfen, da die Gruppen nach der Dauer ihrer Dienstzeit 
eingeteilt sind, so daß wir die Abhängigkeit der sich entwickelnden krank- 
haften Prozesse von der Arbeitsdauer feststellen können. So werden wir die 
Möglichkeit finden, ein ungefähres Bild des Entwicklungsganges des patho- 
logischen Prozesses, der scheinbar in so sonderbarer Weise gleichzeitig das 
Affekt- und Sexualleben der Chauffeure ergreift, zu erhalten. Man kann die 





Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer psych.-neurolog. Untersuchung 239 





ungefähre Entwicklung des krankhaften Vorganges in folgender Weise schildern: 
Am Anfang der Arbeit auf dem Autobus tritt die Angst nur während der Fahrt 
auf und wird vollkommen durch die unzweifelhaft reale Gefahrsituation gerecht- 
fertigt, die das Lenken des schnellfahrenden Autobus durch die schmalen, 
belebten Straßen der Stadt mit sich bringt. Zu dieser dauernden ununterbrochenen 
Angst, die täglich viele Stunden lang erlebt wird, gesellen sich bald Erschei- 
nungen sexueller Natur, heftige, lang anhaltende sexuelle Erregung mit Erektionen, 
Pollutionen usw. Aber außerhalb der Arbeitszeit sind bei den Leuten keine 
irgendwie pathologische Erscheinungen zu verzeichnen, der seelische Sturm 
während des Arbeitstages nimmt mit dem Schluß der Arbeit ein Ende. 
Dieser ersten Periode, die für unsere erste Gruppe typisch ist, folgt eine 
andere, die hauptsächlich dadurch charakterisiert wird, daß der Schluß der 
Tagesarbeit nicht mehr Beruhigung bringt. Die Angst verfolgt den Chauffeur 
auch noch außerhalb der Arbeit. Zugleich vermehren sich die Vorwände, 
die die Angst während der Fahrt in Form der oben erwähnten aber- 
gläubischen Vorzeichen rechtfertigen wollen. Ja, noch mehr, in vielen Fällen 
aus dieser Gruppe bleibt der Chauffeur bei einer realen Gefahr, die während 
der Fahrt mitunter auftaucht, verhältnismäßig ruhig, aber während der ganzen 
Arbeitszeit wird er von der Erwartung eines Unglückes gequält, ein Zustand, 
den wir als ängstliche Erwartung bezeichnen können. Hier finden wir zuerst 
einen pathologischen Zustand schon im Angsterlebnis selbst: eine reale Gefahr- 
situation hat keine Angstentwicklung zur Folge, die Angst wird von der 
ursprünglichen Gefahrsituation abgelenkt und in einen pathologischen Zustand 
der ängstlichen Erwartung bei Mangel der Gefahrsituation umgewandelt. Es 
entwickelt sich ein Seelenzustand, der uns an den Zustand bei der Angst- 
neurose erinnert, bei dem sich im seelischen Apparat eine große Menge Angst 
ansammelt und das bekannte Bild der „frei flottierenden Angst“ liefert. In 
fünf weiteren Fällen dieser Gruppe entwickelte sich der Prozeß dann noch 
weiter: Diese Chauffeure haben sich schon an die Arbeit „gewöhnt“ und 
bleiben während der Fahrt verhältnismäßig ruhig, dafür aber empfinden sie 
eine unbestimmte Angst und Unruhe, wenn sie außerhalb der Arbeit einen 
Autobus vorbeifahren sehen. Hier ist die Ruhe während der Arbeit durch 
Angstentwicklung und Ansätze zu Phobien außerhalb derselben erkauft. 
Zugleich treten aber sonderbare Erscheinungen im Sexualleben dieser Leute 
auf. Die anfängliche sexuelle Aufregung während der Fahrt bleibt aus, aber 
dafür klagen drei von ihnen über sonderbare Empfindungen beim Koitus, 
„als ob man Autobus fährt”, beim Schließen der Augen ziehen belebte Straßen 
voll Menschen vorbei, in einem Fall sogar wird der Koitus durch das 
Erschallen eines Automobilsignals (halluzinatorisch?) unterbrochen. Alle diese 
Empfindungen sind unangenehm, sie widersprechen ihrem affektiven Ton nach 
dem Koituserlebnis und hemmen, paralysieren ihn. Bei fünf weiteren Fällen 
entwickelt sich sogar eine ausgesprochene Angst vor dem Koitus. Es entsteht 
ein ganz bestimmtes Bild: Die anfangs nur während der Fahrt gleichzeitig 
mit der Angst erlebte sexuelle Erregung behält diese Verbindung im weiteren 
auch außerhalb der Fahrt, nämlich bei sexuellen Erlebnissen, wobei die Angst 
immer mehr die sexuelle Erregung paralysiert und hemmt. In dieser Tatsache 
ist aber nicht eine Folge einer einfachen Assoziation im Sinne der Assoziations- 
psychologie zu sehen, denn in der Tat haben wir hier gar keine Assoziation 





240 M. Wulff 





a Te u 


irgendwelcher Bewußtseinsinhalte, sondern eine sonderbare gleichzeitige 
Erregung von zwei entgegengesetzten, sich widersprechenden Affektzuständen, 
von denen der eine anfangs den anderen erweckt, nachher hemmt und 
paralysiert. Zu dieser Frage kehren wir im weiteren noch einmal zurück. 

Bei der dritten Gruppe endlich mit der längsten Arbeitsdauer scheint der 
Prozeß seinen mehr oder weniger stabilen Endzustand erreicht zu haben. 
Abgesehen von den zwei Fällen, bei denen dieselben Erscheinungen wie bei 
den Anfängern der ersten Gruppe zu beobachten sind, haben wir hier einerseits 
Ruhe während der Arbeit, andererseits schon ausgebildete Phobien und 
bedeutende Schwächung der sexuellen Potenz — pathologische Symptome eines 
fertigen, gutbekannten Krankheitsbildes, der Angsthysterie. Was die zwei 
Ausnahmefälle betrifft, so bleibt uns leider unbekannt, ob derselbe Zustand 
bei ihnen schon seit Beginn ihrer Arbeit auf dem Autobus ununterbrochen 
anhält, d. h. ob ihre konstitutionelle Widerstandsfähigkeit so groß ist, dab 
sie nach zwei Jahren Arbeit noch auf dem anfänglichen Stadium des Prozesses 
stehen geblieben sind und mit Erfolg seiner weiteren Ausbildung widerstreben, 
oder ob — was auch nicht ausgeschlossen ist — der ganze Prozel3 sich nur 
in der letzten Zeit ausgebildet hat und bis dahin ihre gesunde Konstitution 
den pathogenen Bedingungen ihrer aufregenden Arbeit Widerstand geleistet hat. 

Es wäre vergeblich, eine Erklärung für diese Tatsachen in den Lehren 
der offiziellen schulwissenschaftlichen Psychopathologie und allgemeinen Psycho- 
logie zu suchen. Zum Glück kommt uns hier die Psychoanalyse zu Hilfe und 
gibt die Möglichkeit, diese Tatsachen nicht nur befriedigend zu erklären, 
sondern sie neben viele, uns längst bekannte Erscheinungen aus der Psycho- 
logie und Psychopathologie zu stellen. 

Betrachten wir den hier geschilderten psychopathologischen Prozeß von 
Anfang seiner Entwicklung an, so müssen wir zugeben, daß die Entstehung 
des Angstaffektes während der Fahrt am Anfang der Arbeit — eine natür- 
liche, normale und verständliche Erscheinung ist, Diese Angst ist eine normale 
Reaktion auf die realen Gefahren, die durch die Arbeitsbedingungen der 
Chauffeure geschaffen werden. Es sind alle keine Neulinge in der Kunst des 
Automobillenkens; jeder hatte schon eine langjährige Erfahrung in der 
Lenkung gewöhnlicher Automobile, als er Autobuschauffeur wurde, aber die 
Fahrtbedingungen auf dem Autobus sind viel schwerer und aufreibender. Wie 
ist aber die die Angst begleitende sexuelle Aufregung zu erklären? 

Wir müssen hier eine Reihe von Momenten in Betracht ziehen: 

ı) Die langdauernde schnelle Fahrt. Wie bekannt, kann eine schnelle Fahrt, 
wie überhaupt aktive und passive Bewegungen, eine sexuelle Aufregung 
verursachen. Es ist überflüssig, die betreffenden Tatsachen hier wiederzugeben, 
sie sind dem Psychoanalytiker gut bekannt (Eisenbahnphobie). 

2) Das zweite, die sexuelle Aufregung begünstigende Moment ist die 
unzweifelhaft erregende Wirkung der erschreckenden Vorstellung (oder besser, 
des unbewußten Wunsches), einen Menschen überfahren zu können. Damit 
wird in erster Linie dem Sadismus freier Weg geöffnet, aber außerdem wird 
diese Vorstellung im Un-(Vor-)bewußten, wie wir aus den Traumanalysen 
wissen, mit dem Koitus identifiziert. In unserem Material haben wir eine 
gute Bestätigung dieser Auffassung: so klagte ja einer der Untersuchten über 
ein Gefühl beim Koitus, „als ob man im Autobus fährt‘, 


L} [} ; 
Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer psych.-neurolog. Untersuchung 241 


3) Als dritte wichtige Quelle der sexuellen Erregung kommt dann die 
anhaltende große Angst und die häufigen Schreckanfälle während der Fahrt 
in Betracht. Dal starke Angst, Entsetzen, großer Schrecken sexuelle Erregung 
hervorrufen können, wird in der psychoanalytischen Literatur wiederholt 
erwähnt. Bekannt sind die sexuellen Orgien während großer Katastrophen, 
wie Erdbeben, bei der Erwartung des Weltuntergsanss im Mittelalter, bei 
großen Epidemien. Hieher gehören auch die Gruppenvergewaltigungen bei 
Massenexzessen, bei den „Pogroms , bei Massenplünderungen, im Krieg usw. 
Einen in dieser Beziehung interessanten Fall habe ich unlängst beobachten 
können. Es handelte sich um einen jungen, kräftigen Mann, Offizier, der 
während des Krieges „jegliche Angst bei sich so überwunden hatte“, daß er 
auch in den gefährlichsten Situation vollkommen ruhig blieb, und einst, 
während einer Attacke bei starkem Feuer, wurde er von einem Kameraden 
energisch verwiesen, weil er eine ganz unpassende lustige Geschichte erzählte 
und ein den realen Verhältnissen gar nicht entsprechendes Gedicht vorlas. 
Zugleich hat er während seines zweijährigen Frontdienstes gar keine sexuelle 
Erregung gehabt, obgleich in seiner Umgebung große sexuelle Ausschweifungen 
eine gewöhnliche Erscheinung waren. Nach dem Frontdienst erwies er sich 
als impotent. Die psychologische Ähnlichkeit dieses Falles mit den unter- 
suchten Chauffeuren scheint mir klar zu sein. Über die Affektvorgänge als 
Quelle sexueller Erregung verweise ich des weiteren auf die „Drei Abhand- 
lungen zur Sexualtheorie” von Freud (Ges. Schr., Bd. V, $. 78). 

Vom psychoanalytischen Standpunkt aus ist auch die weitere Entwicklung 
nicht schwer zu verstehen. Das Ich ist natürlich bestrebt, den quälenden 
Angstaffekt zu bewältigen, und diese seine Strebung wird noch dadurch unter- 
stützt, daß die Angst die Ausführung der schweren und lebensgefährlichen 
Arbeit hindert. Das Ich mobilisiert deshalb alle seine Kräfte zur Bekämpfung 
des paralysierenden gefährlichen Affektes, zur Unterdrückung der Angst. Zu 
Anfang gelingt es nur bei großer Steigerung des Affektes, in Situationen 
groljer Gefahr, aber die Angst bewährt ihre Macht bei den gewöhnlichen 
Bedingungen der Fahrt in Form gesteigerter Ängstlichkeit, abergläubischer 
Befürchtung usw. Mit der Zeit entwickelt sich allmählich eine „Gewöhnung“ 
und die Möglichkeit, während der Arbeit mehr oder weniger ruhig zu 
bleiben. Wie wird das erreicht? 

Die mehrere Stunden hintereinander anhaltende Angst ist zwar eine 
Reaktion auf einen äußeren Reiz, aber infolge eben dieser ununterbrochenen 
Dauer verliert sie psychologisch den Charakter eines zufälligen äußeren Reizes 
und wirkt wie eine konstante innere Spannung, wie sie uns von den Reizen 
bekannt ist, die von den Trieben des Organismus ausgehen. Die von außen 
verursachte Angst wird zu einer Art organischen Vorgangs, den Triebvorgängen, 
die im Organismus selbst entstehen, ähnlich. Indem sie dann einen Abfluß 
nach außen in einer adäquaten Reaktion infolge der Unterdrückung von 
seiten des Ichs nicht finden kann, staut sie sich im psychischen Apparat. 

Die Strebung des „Ichs“, sich von der Angst frei zu machen, um die 
Arbeit ruhig fortzusetzen, bedient sich eines psychischen Mechanismus, der uns 
aus der Psychologie der Neurosen und der Traumarbeit bekannt ist: der 
Verschiebung. Die Angst wird auf andere Vorstellungen verschoben, an sie 
fixiert, und auf diese Weise wird ein mehr oder minder ruhiger Seelen- 








242 M. Wulff 


N  :üämmr2 





zustand während der Arbeit, eine „Gewöhnung‘ an die Arbeitsbedingungen 
erworben. Das ist aber der uns aus der Psychologie der Neurosen wohl- 
bekannte Mechanismus der Phobienbildung. Es kommt also bei diesen Unter- 
suchten zur Ausbildung typischer Phobien, wie z. B. die Angstanfälle bei dem 
Vorbeifahren eines Autobus, die Angst, außerhalb der Dienstzeit im Autobus 
zu fahren, usw., während sie bei der Arbeit ziemlich ruhig bleiben können. 

Schwerer ist das Verständnis der Störungen des Sexuallebens, der Angst 
vor dem Koitus und der Impotenz. Wie ist das zu erklären? Es ist ja selbst- 
verständlich, daß die Impotenz keine organische ist, sondern eine rein psychische. 
Es muß noch betont werden, daß die meisten Untersuchten im Alter bis zu 
35 Jahren stehen und vor der Entwicklung des geschilderten Zustandes über 
eine normale und einige sogar eher über eine gesteigerte Potenz verfügten. 

Die psychoanalytische Erforschung der psychischen Impotenz zeigt, dal3 sie 
eigentlich der symptomatische Ausdruck eines in der frühesten Kindheit erhaltenen 
Verbotes jeglicher Betätigung der Genitalien zum Zweck der Lustgewinnung ist 
und eine Folge der Angst vor der Kastrationsstrafe für die Übertretung dieses 
Verbotes. Dies kann ein gewisses Licht auf die uns hier interessierende Ent- 
stehung der psychischen Impotenz bei den Autobuschauffeuren werfen. 

Wir dürfen wohl annehmen, daß eine Überschwemmung des psychischen 
Apparates mit großen Angstmengen eine Belebung und Aktivierung der im 
weiteren Entwicklungsgang verlassenen frühinfantilen Angstpositionen zur 
Folge hat, und daß das ängstlich gewordene Individuum wieder sich vor 
solchen Situationen zu fürchten anfängt, die ihm früher jemals Angst ein- 
flößten. Hier ist wieder die obenerwähnte Ansicht am Platze, daß lang- 
dauernde ununterbrochene Angsterlebnisse ihrer ökonomischen Wirkung nach 
unbefriedigten Sexualtrieben ähnlich sind. Auch hier bewirkt eine Stauung 
der Reizenergie infolge gehinderten Abflusses eine Art Regression des 
Angstaffektes zu seinen früheren verlassenen Positionen, in diesem Falle zur 
infantilen Kastrationsangst vor sexueller Genitalbetätigung und damit zur 
psychischen Impotenz. Außerdem spielt das ökonomische Moment hier noch 
eine andere Rolle. Es drängt sich nämlich noch die weitere Frage auf, woher 
das „Ich die nötige Kraft nehme, um den schweren Kampf gegen den 
quälenden, stark paralysierenden Angstaffekt mit Erfolg durchzuführen. Es ist 
ganz zweifellos, daß das „Ich“ hier unter dem Zwang des Selbsterhaltungs- 
triebes handelt, und die narzißtische Natur dieses Triebes ist uns aus der 
Psychoanalyse wohlbekannt. Diese Bereicherung des „Ichs“ an narzißtischer 
Libido, die, wie bekannt, durch irgendeine äußere Gefahr, Schmerz und 
Leiden bewirkt wird, geschieht auf Kosten der Objektlibido. (Siehe „Zur 
Einführung des Narziömus“ und „Jenseits des Lustprinzips“.) Der stetige, 
alltägliche, erschöpfende Kampf mit der Gefahr macht seelenmüde, gleichgültig 
sogar den Lebensfreuden gegenüber. So erklären die Untersuchten selbst ihre 
Impotenz und haben recht mit der Behauptung, sie wären müde und ohne 
Lebenslust. Ein ähnlicher Vorgang führt auch bei den traumatischen Neurosen 
zu der so oft bei ihnen vorkommenden psychischen Impotenz. 


Ich benütze hier die Gelegenheit Frau Dr. Tschernucha meinen Dank 
für die Gewährung des Materials auszudrucken. 


Zur „Isolierung“ 


| Von 
Otto Fenichel 


Berlin 


Wenn Freud in „Hemmung, Symptom und Angst“ die Verdrängung der 
Zwangsneurotiker von der der Hysteriker prinzipiell trennt, nur mehr letztere als 
„Verdrängung“ bezeichnen, in ersterer aber ein Zwammenwirken verschiedener 
Abwehrmechanismen des Ichs gegen unliebsame Triebansprüche sehen will, so 
ist das wieder eine jener Freudschen Formulierungen, die, einmal aus- 
gesprochen, wie Selbstverständlichkeiten erscheinen. Vielleicht scheint es 
zunächst nur eine Angelegenheit der Nomenklatur, ob man zweierlei Ver- 
drängungen unterscheiden oder lieber von verschiedenen Abwehrformen sprechen 
will, deren eine die Verdrängung ist. Worin im wesentlichen die Differenzen 
gelegen sind, war ja schon vorher bekannt. Die Regression der Ziwangs- 
neurotiker auf die sadistisch-anale Organisationsstufe der Libido, ihre zwei- 
zeitigen Symptome, deren zweiter Teil dem ersten inhaltlich entgegengesetzt 


ist und ihn auf heben will, das Auseinanderhalten  zusammengehöriger Vor- _ 


stellungsgruppen® oder einer Vorstellungsgruppe und des zugehörigen Affekt- 
betrags, wobei aber nichts die Bewußtseinsfähigkeit einzubüßen braucht (unbe- 
wußt ist nicht die traumatische Erinnerung, sondern ihr Zusammenhang mit 
dem Symptom, hieß es in den „Vorlesungen“), waren von Freud schon 
lange beschrieben worden. Und doch brinst der Gesichtspunkt, der alle diese 
Mechanismen einander koordinieren und der Verdrängung gegenüberstellen 
will, wirklich Neues. Er erst lehrt durch begriffliche Klarstellung manches. 
das eigentlich manifest zutage liegt und im Alltag psychoanalytischer Zwangs- 
neurosenbehandlung zu beobachten ist, richtig sehen. 

Wenn wir trotz solcher Alltäglichkeit der Gelegenheit zur Beobachtung 
einige Beispiele für „Isolierungen“ herausgreifen, so geschieht es, weil sie hier 
in selten ausgeprägtem Maße auftraten. So wie etwa ein Fall von Hysterie, 
der ganz bestimmte Tage seines Lebens nicht entsinnen kann, sich zur 
Demonstration der Verdrängung ganz besonders eignet, obwohl doch alle 
Hysterien verdrängen, so gibt es auch besondere „Isolierungs“-Fälle unter den 
Zwangsneurotikern, obwohl doch alle Zwangsneurotiker isolieren. 

Ein siebzehnjähriger junger Mann erkrankte im Anschluß an den Kampf 
um die ÖOnanieabgewöhnung. Nach kurzer Zeit schuldfreier onanistischer 
Befriedigung — die stets im Alleinsein erfolgt war, während er öfter mutueller 
Onanie seiner Kollegen, selbst unbeteiligt, zugesehen hatte — hörte er einmal 
eine Rede des Pastors gegen die Onanie, in der dieser den Rat erteilte, mit 








244 Otto Fenichel 











Jungen, die so was täten, nicht mehr zu verkehren. — Die Genitalität unseres 
Patienten war in der Kindheit durch eine überstarke Kastrationsangst gehemmt 
gewesen. Eine passiv-anale Fixierung erleichterte die neuerliche Regression. 
Er nahm sich die Rede des Pastors sehr zu Herzen, beschloß seinen Rat zu 
befolgen und besonders mit einem Jungen, der es am schlimmsten getrieben 
hatte, nicht mehr zu reden. Eine Zeitlang ging das gut. Dann aber verlangte 
die Versuchungsgefahr stärkere Abwehr, die Vermeidung des Verkehrs nahm 
phobische Formen an und mußte durch zwangsneurotische Maßnahmen 
gesichert werden: Wenn er mit dem Jungen zusammentraf, mußte er aus- 
spucken. Ein Zahlenzeremoniell betreffend die zwanghafte Festsetzung der 
Anzahl der nötigen Spuckakte konnte im Verlauf der kurzen Analyse nicht 
genügend durchschaut werden. Die Phobie nahm an Umfang zu: Auch der 
Verkehr mit Angehörigen und Freunden des „Gemiedenen“ (so nannte ihn 
der Patient, weil er seinen Namen nicht aussprechen durfte) mußte eingestellt 
werden, dann — der „Gemiedene“ war Sohn eines Barbiers — der Besuch 
dieses Barbierladens, dann der Besuch jedes Barbierladens, dann der Verkehr 
mit Menschen, die sich in Barbierläden rasieren lassen, dann der Besuch des 
Stadtteiles, in dem der Barbierladen lag. 

Die weitere Entwicklung dieser von Beginn an von Zwangssymptomen 
durchsetzten Phobie führte nun zur — sit venia verbo — „Isolierungsneurose . 
Bisher hatte die Symptomatik nichts über die Ursachen der Hemmung 
verraten, auf die seine Pubertätsgenitalität stieß. Nun aber trat die 
Forderung auf, auch die Angehörigen, bei denen er wohnte, — vor allenı die 
weiblichen: Mutter, Großmutter und Schwester, — dürften nicht in den ver- 
botenen Stadtteil gehen. Der Patient litt sehr darunter, daß die Angehörigen 
sich solche Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit nicht gefallen lassen wollten. 
Er selbst unterwarf sich zwar dem Verbot, suchte die verbotenen Gegenden 
nicht auf, um so mehr mußte er aber in zwanghafter Weise an sie denken. Daß 
ihm das peinlich war, ist begreiflich. Er begründete diese Peinlichkeit aber 
in unerwarteter Weise: Er sehe zu Hause Mutter und Großmutter und 
deshalb dürfe er nicht an „unsympathische“ Personen oder Örtlichkeiten 
denken! — Obwohl der Patient den Zusammenhang seiner Erkrankung mit 
dem Onaniekampf kannte, „ignorierte“ er ihn; die Onanie war scheinbar 
ganz leicht geschwunden, das Bedürfnis danach trat nicht mehr auf, an seiner 
Stelle aber nun immer deutlicher das neurotische Bestreben, die Vorstellungen 
„Familienangehörige“” und „unsympathische Personen und Örtlichkeiten“ 
auseinanderzuhalten, sie zu isolieren. 

Diese Isolierung wurde nun der Hauptinhalt der Neurose, die Phobie trat 
in den Hintergrund. Der Patient konnte nun wohl wieder an Unsympathisches 
denken, aber nicht gleichzeitig an „sympathische” Menschen. So verriet er 
den Ödipuskomplex als das anstößige Moment seiner Onanie. Im Ausbau 
dieses Isolierungsbestrebens des Ichs als Abwehr des in der Pubertät aktivierten 
Ödipuskomplexes bildete sich jetzt in wenigen Monaten eine Zwangsneurose 
allerschwerster Art aus. 

Es erging dem Patienten, wie es dem Mann bei We dekingd erging, der 
an keinen Bären denken sollte. Wenn er etwa an den Barbierladen dachte, 
fiel ihm sofort auch die Großmutter ein. Dieses quälendste Symptom nannte 
er die „Verknüpfung“. Gegen sie half nur ein Mittel: Die Abwehr durch 


Zur „Isolierung“ = 245 


a ee Bu EEE Er FE SEE Er 





„Ungeschehenmachen“. Das war in diesem Falle die sogenannte „Auseinander- 
knüpfung“. Wenn er nach gleichzeitigem Denken an verbotenen Ort und 
sympathischen Menschen völlig isoliert das reine Bild des von allem 
sympathischen Beiwerk befreiten Unsympathischen sehen konnte, so war alles 
wieder gutgemacht und der Patient beruhigt. Schon nach kurzer Zeit war er 
vom Morgen bis zum Abend einzig mit „Auseinanderknüpfungen“ beschäftigt. 

Nun traten die zwei Erscheinungen dazu, die eine sich ausbildende Zwangs- 
neurose zu erschweren pflegen: Eine großartige Umfangserweiterung des 
Symptombereiches und der Durchbruch der abgewehrten Regung im Symptom 
selbst. 

Die Einteilung der Objekte in „sympathische" und „unsympathische“ 
umfaßte zunächst sämtliche Personen und Örtlichkeiten. Nicht nur alle Mit- 
schüler wurden unsympathisch, alle Verwandten sympathisch, sondern alle 
anderen Menschen wurden nach oberflächlichen Assoziationen auch einer der 
beiden Kategorien zugeordnet und verfielen damit dem Bereich der Ver- 
knüpfung und Auseinanderknüpfung. So wurden z. B. Freunde und Berufs- 
genossen von Leuten, die er etwa auf dem Weg in den verbotenen Stadtteil 
sah, unsympathisch, fast alle Frauen, wenn gegen sie nichts Besonderes vorlag, 
sympathisch. Das Analoge geschah mit allen ÖOrtlichkeiten, so daß es eine 
Anzahl Variationen der „Verknüpfung“ (symp. Mensch an unsymp. Ort, 
unsymp. Mensch an symp. Ort, symp. Mensch gleichzeitig mit unsymp. Mensch, 
symp. Ort mit unsymp. Ort, „Mischpersonen, d. h. solche, die Züge von 
symp. und unsymp. Menschen vereinigten, z. B. die Großmutter mit Gesichts- 
zügen der Mutter des Gemiedenen, „Mischorte‘) und „Auseinanderknüpfung“ 
gab. — Des weiteren gelangten alle Konkreta in den Symptombereich (z. B. 
wurden Spiegel, die an den Barbierladen erinnerten, unsympathisch, so dal} 
die Erscheinung „das Bild der Schwester in einem Spiegel“ eine quälende 
Verknüpfung war), dann auch Abstrakta, z. B. wurden einige Worte, die er 
von unsympathischen Menschen gehört hatte, unsympathisch, so dal) er sie 
nicht in Sätzen gebrauchen konnte, in denen sympathische Worte vorkamen. 

Fortwährend traten die anstößigen „Verknüpfungen“ (die verpönten Ödipus- 
regungen) ins Bewußtsein, fortwährend mußten sie durch „Auseinanderknüpfen“, 
d.h. mit Hilfe des „Ungeschehenmachens”, das in diesem Falle mit der 
„Isolierung“ zusammenfiel, abgewehrt werden, widrigenfalls Angst und quälende 
Spannungsgefühle entstanden. Dabei galt noch eine schwere Bedingung: Bevor 
die Auseinanderknüpfung gelungen war, durfte der Ort, an dem sich der 
Patient zur Zeit der Verknüpfung befunden hatte, nicht verlassen, die 
Beschäftigung, der er zur Zeit der Verknüpfung hingegeben war, nicht unter- 
brochen werden. Diese Bedingung war die sozial schädigendste: Da eine Aus- 
einanderknüpfung gelegentlich Stunden benötigte, kam es vor, daß der Patient 
stundenlang still stehen oder eine sinnlose Beschäftigung fortsetzen mußte. So 
war es immer fraglich, ob es nach der Analysenstunde gelingen werde, das 
Sofa zu verlassen, und die Angst, eventuell zwischen Verknüpfung und Aus- 
einanderknüpfung eine Behandlungsstunde abbrechen zu müssen, quälte den 
Patienten die ganzen Stunden hindurch. Ginge die Auseinanderknüpfung auch 
nur in einem geringen Detail anders vor sich als die Verknüpfung, so bliebe 
sie wirkungslos; ein, wie es scheint, für den Mechanismus des Ungeschehen- 
machens charakteristischer Zug. 





240 Otto Fenichel 

Endlich wurden die zur Abwehr bestimmten Symptome selbst Ausdruck 
der verpönten Triebregungen: Der Zwang zur Auseinanderknüpfung machte 
es nötig, daß der Patient immer genügend unsympathische Menschen, Ortlich- 
keiten, Dinge, Eigenschaften „parat” habe. Die Sehnsucht, die quälenden 
Spannungen rasch zu beendigen, besiegte die Phobie und brachte die Wiederkehr 
des Verdrängten: Der Patient suchte unsympathische Orte auf, sah sich 
unsympathische Menschen möglichst genau an, damit er sie gegebenenfalls parat 
habe! Allerdings gelang das nicht mit allem Unsympathischen; der „Gemiedene“ 
+. B. blieb auch weiterhin gemieden. Es stellte sich schließlich eine Reihe 
gradueller Verschiedenheiten her: Es gab ganz Unsympathisches, das phobisch 
gemieden wurde, weniger Unsympathisches, das er mit Vorliebe aufsuchte, 
um, wenn Sympathisches erscheint, rasch auseinanderknüpfen zu können, 
wenig Indifferentes, leicht Sympathisches, ganz Sympathisches. Am Ende 
dachte er bewußt und angestrengt fast nur an Unsympathisches, in der 
Hoffnung, dadurch die Auseinanderknüpfung rascher bewältigen zu können; 
erinnert man sich daran, daß die Gedanken an Unsympathisches eigentlich 
die Onanie bedeuteten, so onanierte er nun also ununterbrochen. Und tat- 
sächlich: War die Spannung aufs höchste gestiegen und wollte die Ausein- 
anderknüpfung trotz höchster Anstrengung nicht gelingen, so kam es gelegent- 
lich, zur Überraschung des Patienten, zur Pollution. 

Auch die Verknüpfung selbst, d. h. das Zusammenbringen sympathischer 
Menschen mit unsympathischen Worten, setzte sich nun, dem Patienten unbe- 
merkt, gegen das isolierende Ich durch. Einer seiner zahlreichen sekundären 
Krankheitsgewinne war, daß er sich wie ein kleines Kind anziehen ließ, 
weil sonst das Anziehen durch die zahlreichen eingeschalteten Auseinander- 
knüpfungen stundenlang dauerte. Wenn ihn nun seine Großmutter anzog, SO 
fuhr er plötzlich mit den wüstesten Schimpfworten los, Damit meinte er aber 
nicht die Großmutter, sondern die unsympathischen Menschen, deren Bilder 
ihm während dieser Beschäftigung, so eine Verknüpfung bildend, in den 
Sinn kamen. 

Noch einige Worte über den mißglückten Ausgang der Analyse: Es ließ 
sich nur sehr schwer ein Kontakt mit dem Patienten herstellen; er war ganz 
introvertiert, durch lange Zeiträume mit Auseinanderknüpfungen beschäftigt, 
während deren er nicht reden durfte. Es dauerte monatelang, bis die darge- 
stellte Entwicklungsgeschichte der Neurose klargelest war. Deutungen auch 
auf der Hand liegender Zusammenhänge, z. B. daß der Gemiedene um der 
Onanie willen gemieden werde, stießen auf Unverständnis. Die tiefere Über- 
tragung kam auf eine unerwünschte Weise: Eine scheinbare Kleinigkeit 
machte mein Wohnhaus, damit mich, die Behandlung und alles, was mit ihr 
zusammenhängt, unsympathisch. Damit wurde das Aussprechen von Sym- 
pathischem in der Analyse zur Unmöglichkeit, die Aufforderung des Analytikers, 
zu sprechen, zur ständigen Qual. In Wahrheit war jene Kleinigkeit Vorwand; 
die Analyse mußte unsympathisch werden, weil in ihr von Onanie die Rede 
gewesen war. Und deshalb benützte der Patient, der schon vorher zugegeben 


| _ zu: — 


hatte, nur mehr sehr ungern zur Analyse zu kommen, die Gelegenheit ‚der 
Sommerferien, um gegen den Willen seiner verständnisvollen Angehörigen 


die Behandlung abzubrechen. 


Wir sehen in diesem Falle deutlich, wie ein Triebanspruch _des Ödipus- 





Zur „Isolierung“ 247 
komplexes bei Versagen der einfachen Phobie durch den Mechanismus der 
Isolierung (des Ungeschehenmachens) bewältigt werden soll. Das Symptom des 
Auseinanderknüpfens ist der direkte Ausdruck dieses Bestrebens, wird aber 
bei weiterer Entwicklung der Neurose gleichzeitig selbst Vertreter der ver- 
pönten ÖOdipusregung. 

In einem zweiten Fall ließ sich etwas Ähnliches beobachten: Ein schwer 
grübel- und zweifelsüchtiger Patient, mit dem sich wegen der Schwere seiner 
Krankheit die analytische Arbeit kaum durchführen ließ, protestierte geren 
die Grundregel. Es stellte sich schließlich heraus, daß er bestrebt war, die 
Existenz einer Freundin zu verschweigen. Aber nicht etwa, weil er darüber 
überhaupt nicht sprechen oder die Betreffende nicht bloßstellen wollte, sondern, 
weil er in der Analyse bereits über Onanie gesprochen hatte und alle grobe 
Sexualität von dieser Freundin isoliert gehalten bleiben mußte. Er wolle 
eventuell von ihr doch reden, meinte der Patient, wenn er nur sicher wäre, 
daß ihm dann in der gleichen Stunde nicht noch vielleicht etwas grob 
Sexuelles einfallen werde. Die Idee, daß auch in diesem Falle solche „Aus- 
einanderknüpfung“ die Antwort auf eine zwanghafte „Verknüpfung“, die 
Abwehr der Odipusregung war, fand erst viel später Bestätigung. Das Symptom, 
das der Patient am ängstlichsten hütete und am ausgiebigsten zu dissimulieren 
suchte, bestand darin, daß er, wenn er die Freundin sah oder ihr Name 
genannt wurde, den Zwangseinfall hatte: „Kleine Hure“. Dieses Symptom also 
entsprach dem Ödipus-Triebanspruch, gegen den das Ich sich mit dem Mittel 
der Isolierung zur Wehr setzte. Wir werden daran gemahnt, dal) die von 
Freud geschilderte, für unseren Kulturkreis und speziell für die Pubertätszeit 
charakteristische Spaltung der Sexualität in Sinnlichkeit und Zärtlichkeit durch 
„Isolierungs -Maßnahmen gehalten wird, die das Ich ins Werk setzt, um den 
Durchbruch der ursprünglich ebenfalls auf das Zärtlichkeitsobjekt (Inzestobjekt) 
gerichteten Sinnlichkeit zu verhindern. — Interessant war, wie dieser zu 
paranoiden Mechanismen neigende Patient die Triebabwehr der Isolierung mit 
der der Projektion verband. Einen schwer überwindbaren Widerstand setzte 
ich durch folgende Unvorsichtigkeit: Als der Patient einmal, um die Psycho- 
analyse ad absurdum zu führen, meinte, es falle einem ja doch nur ein, was 
man wolle, antwortete ich, ihm falle ja doch „kleine Hure“ ein, obwohl er 
es nicht wolle. Tagelang warf mir nun der Patient vor, wie gemein und 
sinnlich ich wäre, weil ich seine Freundin eine Hure nenne und, was er 
einmal gestanden hätte, ausnützte, um ihn einer Schweinerei mit seiner 
Freundin zu bezichtigen; letztere gehöre eben, wie er gleich gewußt hätte, 


nicht in die Analyse. Ein anderer Patient hatte durch seine Eheschließung. 


eine großartige „Isolierung“ geschaffen: das Zusammenleben mit seiner Frau 
sollte mit der infantilen Vorzeit keinerlei Zusammenhang haben. An den Punkten, 
an denen sich gegen die Isolierungsabsicht infantil sexuelle Strebungen in die 
Ehe eingedrängt hatten, waren schwere abwehrende Zwangssymptome ent- 
standen. Diese Isolierung bewirkte, daß eine tiefgehende Analyse der Kinder- 
zeit therapeutisch erfolglos blieb, bis auch der volle Zusammenhang dieser mit 
der Ehe gegen die die Isolierung behütenden Widerstände durchgearbeitet war. 

Von einem vierten Fall sei angeführt, wie er die Isolierung in den 
Dienst des Widerstandes stellte.e Wenn er einmal „verdrängtem Material”, 
d.h. vom Ich abgewehrten Inhalten, sich mit seinen Einfällen näherte, so 





A ——— 
248 Otto Fenichel 
tat er das in der Weise, daß er etwa zehn Minuten vor Ende der Stunde 
damit abbrach und dann unwichtiges Zeug brachte. Der Übergang von 
wichtigem zu unwichtigem Material spielte sich plötzlich und ruckartig ab. 
Der unbewußte Zweck dieser Technik war, eine Einflußnahme des analy- 
tischen Materials auf die Realität hintanzuhalten. Das Unwichtige am Ende 
der Stunde ist eine Isolierschicht, die die Berührung des in der Analyse 
Vorgebrachten mit dem Alltag verhindert, indem sie sich zwischen beide 
einschiebt. 

Die vorliegende kleine Mitteilung wollte nur Beispiele dafür geben, wie 
die Isolierung als Abwehrmaßnahme das manifeste Bild mancher Zwangs- 
neurosen beherrscht. 





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j 
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| 








PSYCHOANALYTISCHE BEWEGUNG 


nn 


Deutschland 


hLeipeig 


Herr Ranft hielt in den von der Hygiene-Akademie (Dresden) veran- 
stalteten Kursen für Volksschullehrer in Zwickau und in Annaberg i.V. 
Vorträge über Psychoanalyse und Erziehung. Teilnehmerzahl 300, 
bzw. 150. Die von ihm geleitete Arbeitsgemeinschaft im Psychologischen 
Institut des Leipziger Lehrervereines befaßte sich mit Schriften zur Kinder- 
analyse und mit Fällen von Schwererziehbarkeit in der Volksschulpraxis. 


Österreich 
Fien 


Im Rahmen der von der „Kursorganisation der Wiener Medizinischen 
Fakultät“ veranstalteten „Ärztekurse“ werden im Studienjahr 1927/28 folgende 
Kurse von Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gelesen: 

a) In der Gruppe „Innere Medizin“: 

Doz. Dr. Felix Deutsch: I. Differentialdiagnose organischer und psychischer 
Symptome bei internen Krankheiten (am Krankenbette). II. Technik der 
Psychotherapie für den Internisten (mit Krankendemonstration). Je 8 Stunden. 

b) In der Gruppe „Kinderheilkunde: 

Doz. Dr. Josef K. Friedjung: I. Über Zusammenhänge von Erziehung 
und Erkrankungen des Kindes. II. Das normale und krankhafte Triebleben 
des Kindes. Je ı0 Stunden. 

c) In der Gruppe „Neurologie und Psychiatrie“: 

Prof. Dr. Paul Schilder: I. Hypnose. ıo Stunden. II. Psychoanalyse. 
20 Stunden. 

k 


Im Rahmen eines Zyklus „Psychoanalyse und Geisteswissenschaften“ wurden 
von der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ bisher folgende öffentliche 
Vorträge veranstaltet: ı) Prof. P. Schilder: Gemeinschaft, Erkenntnis, 
Eros. — 2) Dr. F. Wittels: Psychoanalyse und Strafrecht. — 3) Dr. R. 
Wälder: Die Psychoanalyse im Lebensgefühl des modernen Menschen. — 
4) Frau Dr. Helene Deutsch: Ein Frauenschicksal (George Sand). 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV/2 17 





250 Psychoanalytische Bewegung 





Spanien 


Das Aprilheft der Monatschrift „Die Literatur‘ veröffentlicht einen 
„Spanischen Brief‘ ‘“ aus der Feder von Martin Brussot, dessen ersten Teil 
wir hier zum Abdruck bringen. 

„Deutscher Einfluß ist es, was gegenwärtig Spaniens schöngeistigem Schaffen 
das wesentliche Gepräge verleiht, die altüberlieferte, oberflächlich geistreichelnde, 
feuilletonistisch-brillierende Französelei energisch aus dem Felde schlagend. 
Wer hielte das für möglich? Und doch ist dem so. Einer gewaltigen Flutwelle 
gleich, brach der „Freudismo” über Spanien herein, die jüngeren Literaten 
in Madrid, Barcelona, Valencia und Sevilla begeisternd, vom tändelnden Pathos 
zu Natürlichkeit und Klarheit, zu tieferem Schürfen und Begreifenwollen 
erziehend. Psychoanalyse ward Trumpf! Ja, sie überquerte mittlerweile 
auch schon den Atlantik, wo in Buenos Aires, Montevideo, La Plata, selbst 
Mexiko eine junge, neu orientierte Dichtergeneration in ähnlichem Sinne 
beflissen ist. Ein Erwachen aus seelischem Dämmerzustand brach da herein. 
Die vagen, rein poetisierenden Visionen von einst, die glänzende Suada, in 
Spanien besonders im Schwang, das entschwand gleich zerflatternden Phantomen 
aus der neueren Romandichtung kastilischer Zunge. An Stelle der mit Tand 
behangenen Hampelmänner, der reizvoll aufgemachten Mannequins trat der 
lebendige Mensch mit warm pulsierendem Herzschlag, der interessanten, weil 
verständnisvoll ergründeten Seele. 

Vom großen Gesamtwerk Sigmund Freuds, das auf zwölf Bände angewachsen 
ist, erschienen als jüngste „Sintoma, inhibicion y angustia“ und „Historia del 
movimiento psicoanalitico", die gleichfalls bei Presse wie Publikum rege 
Beachtung fanden und lebhafter Nachfrage begegneten. Erweislich beeinflußten 
gan? besonders stark die Kreise der Intellektuellen, speziell aber der Ärzte 
und Literaten Freuds: „Interpretaciöon de los suenos“, Una teoria sexual“, 
„Psicoanalisis“, und „Psicologia de las masas“, die man in Aufsätzen, ja selbst 
Dichtwerken immer wieder ausdrücklich erwähnt findet. Freudschen Theorien 
begegnet man in dem Schaffen eines Gelehrten wie Cesar J uarros, der als 
sein neuestes Werk soeben „Los senderos de la locura“ herausgab, nachdem 
er früher schon speziell mit „La ciudad de los ojos bellos“ und „El momento 
de la muerte” viel Aufmerksamkeit erweckt hatte. A. Anselmo Gonzälez 
wieder übersetzte A. Hesnards „El psicoandlisis-teoria sexual de Freud“. 

Beeinflussung durch Freud zeigt sich bei einer ganzen Anzahl neu zur 
Geltung gelangender Erzähler. Da ist Miguel Rivas mit seinen Romanen 
„Horas de locura“ und „Adültera“, da ist der junge Ultraist Huberto P&rez 
de la Ossa mit dem Novellenband ‚‚Feletas‘‘, dessen Roman ‚La santa duquesa“ 
durch Verleihung des nationalen Literaturpreises ausgezeichnet wurde. Seinen 
jüngsten Roman „La casa de los masones“ charakterisiert gleichfalls originelles 
Erfassen von Menschheitsproblemen, dazu ein ausgesprochen persönlicher Stil. 
Scharfsinnige, geheimste Tiefen aufschließende Seelenergründung im Sinne 
moderner Erkenntnislehre ist auch dem Roman „Nuestra Senora la fatalidad“ 
eines genialen philosophischen Kopfes wie Eduardo Barriobero y Herrän 
nachzurühmen. Psychoanalyse subtilster Art weisen die Werke Jose Maria 
de Acostas, unter denen insbesondere das Buch „Ninerias“ reizvolle 
Kleinmalereien aus den Abgründen der Kinderseele darbietet. Stumme Tragödien 








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Psychoanalytische Bewegung 251 





sind es oft, was sich da unbewußt in der Psyche junger Mädchen, 
heranwachsender Knaben in der kritischen Zeit der Pubertät abspielt. Der 
Dichter versteht es mit staunenswerter Intuition, sie in ihren Wurzeln 
aufzuspüren; man erkennt unzweifelhaft das mathematisch geschulte Hirn des 
Ingenieurs, der er von Beruf ist. Als neuestes Werk Acostas liest uns vor 
der Roman „Las eternas mironas“. Er behandelt die schmerzliche Tragödie 
des alleingebliebenen, alternden Mädchens, und auch hier eine nicht alltägliche 
Einfühlung in das seelische Problem. Schade bloß, daß dieser Roman vorwiegend 
im Dramendialog geschrieben ist, eine in Spanien durchaus nicht ungewöhnliche 
Zwitterform, die ihn jedoch für deutsches Empfinden ungenießbar macht. 
Von Alfonso Hernändez-Catä sind zwei neue Bücher zu nennen. Der 
Roman „El bebedor de lägrimas“, ein psychoanalytisches Werk, ist das 
bedeutendere. Die Tragödie des genialen, dabei willensschwachen Idealisten, 
des Sonnensuchers, der immer wieder dem Zauber des Ewigweiblichen erliegt, 
das ihn nicht erhebt, vielmehr herniederzieht. Sicherlich ein fesselndes Problem, 
wert eines Freudschen Jüngers, der da übrigens nicht allein in die Seele 
jenes Träumers hinableuchtet, nein, anderseits auch in die eines Mannes der 
robusten Tatkrafi. Obendrein findet sich eine Reihe von Frauengestalten 
verschiedensten Naturells voll verständnisreicher Erfassung gezeichnet. Von 
der Tragik der Liebesleidenschaft erzählt Catä ferner in seinem kubanischen 
Roman „La estrella enferma“. Hierher gehört auch Luis Leöns jüngster 
Roman „Una mujer peligrosa“, der in die Psyche des Weibes mit ihren 
Raffinements, Tücken und Begierden so manchen seltsamen Einblick gewährt. 
Gabriel Miro, ein origineller Erzähler, der immer reicheres Können entfaltet, 
publizierte mit seinem kürzlich erschienenen neuen Roman „El obispo leproso“ 
eine Art Fortsetzung von „Nuestro padre San Daniel“. Er spielt ebenfalls in 
morgenländischem Milieu und veranschaulicht die barocke Seele des Orientalen. 
M. Ciges Aparicio, ein bewährter Seelen- und Sittenschilderer, führt in 
seinem Roman „Circe y el poeta“ mitten hinein ins Getriebe Pariser Lebens, 
in eine Welt, bevölkert von leichtblütigen Künstlerinnen, internationalen 
Abenteurern usw., aber auch verschiedenen ernst aufstrebenden Elementen.“ 


Schweden 


Herr Tore Ekmann hielt in den letzten Jahren folgende Vorträge: 
a) Im Clartebund, Stockholm und Upsala, Oktober ı925, „Zwei Massen- 
psychologen, Le Bon und Freud“; b) im Philosophischen Verein, Lund, 
Oktober ı926, „Philosophie und Psychoanalyse“ ; c) im Clartebund, Stockholm 
und Upsala und Lund, November ı926, „Psychoanalyse und christliche 
Seelsorge“; d) im Clartebund, Stockholm und Upsala, November 1927, „Die 
Herrschaft der Toten“. Das Publikum, überwiegend akademisch, zeigte überall 
lebhaftes Interesse. Leider hindert der große Mangel an ausgebildeten Analy- 
tikern eine tiefere Befassung mit den analytischen Lehren. Einige Mitarbeiter 
der akademisch-sozialistischen Zeitschrift „Clart &“ bearbeiten von Zeit zu 
Zeit soziologische Fragen mit analytischer Theorie. 


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252 Psychoanalytische Bewegung 


Schweiz 


In der Berner Ärztezeitschrift „Praxis“ (XVI, ı8, 3. Mai ı927) erschien 
ein Absatz von H. Christoffel (Basel) über „Arzt und Psychoanalyse“, 
der neben Erörterungen über das Verhältnis von Freud zu Adler und 
Jung für einen Leserkreis aus ärztlichen Praktikern bestimmte Besprechungen 
über Teile von „Hemmung, Symptom und Angst‘, über „die Frage der 
Laienanalyse“ (hiebei zum Teil polemisierend) und über das „psychoanalytische 
Volksbuch“ bringt. — Wie die Berner Zeitschrift „Radio“ berichtet, hielt 
am z. April, 20. April und ı2, Mai ı927 G. H. Graber in Bern einen 
Zyklus von drei Radiovorträgen über Psychoanalyse, deren erster allgemein in 
die Gedankenwelt der Psychoanalyse einführte, während der zweite und dritte 
über Geburt und Tod im Mythos, speziell über die Parallelität der mythischen 
und der infantilen Auffassungen, handelte. 





Ungarn 


Im Auftrage der „Ungarländischen Psychoanalytischen Vereinigung“ hielt 
Dr. S. Ferenczi im Frühjahr ı928 im großen Saale der Musikakademie in 
Budapest einen sich auf sechs Abende erstreckenden öffentlichen Vortrags- 
zyklus über Psychoanalyse. In den einzelnen Vorträgen wurden folgende 
Themata behandelt: 


ı) Die Psychoanalyse im allgemeinen. 

2) Die gesunde und die kranke Seele. 

3) Die Seele des Kindes und die Erziehung. 
4) Das Seelenleben des Mannes und der Frau. 
5) Die Neurosen und Psychosen. 

6) Soziale Erscheinungen. 


Die über ı200 Köpfe zählende Hörerschaft nahm die Vorträge mit großer 


Begeisterung auf. Der Zyklus fand auch in der Tagespresse eingehende und 
durchweg freundliche Besprechungen. 


U. S. A. 


Gestützt auf die Kenntnis der psychoanalytischen Bewegung in anderen 
Ländern, muß ich feststellen, daß nirgends in der Welt das Interesse an der 
Psychoanalyse so verbreitet und dabei so oberflächlich und verworren ist wie 
in den Vereinigten Staaten. Das vergangene Jahr hat die Konfusion der 
öffentlichen Meinung noch entschieden gesteigert durch die vielen Zeitungs- 
berichte, die sich an den Besuch einer Reihe von europäischen Psycho- 
analytikern, darunter Ferenczi und Rank, ferner des Individualpsychologen 
Adler knüpften. Dazu kam, daß die Kurpfuscher, die sich stets an den 
Rockschoß jeder großen wissenschaftlichen Bewegung zu hängen pflegen, 
nicht verabsäumt haben, Freuds Stellungnahme zur Laienanalyse für sich 
auszunützen, um ihre mangelhafte Ausbildung zu bemänteln. 

Auf der anderen Seite haben sich die Lehrer der Soziologie und der 
Pädagogik die psychoanalytischen Forderungen nach genaueren und ein- 








Psychoanalytische Bewegung 253 





dringenderen Anamnesen zu eigen gemacht, den Einfluß der Sexualtriebe, 
die Bedeutung des Ödipuskomplexes in manchen Familien, den Konflikt 
zwischen den Instinktneigungen und den Kulturforderungen erkannt, so daß 
diese psychoanalytischen Behauptungen zu Gemeinplätzen unseres sozialen 
Denkens und Redens geworden sind. 

Während die meisten Beiträge dieser Gruppe von Soziologen oberflächlich 
sind, hat die psychoanalytische Ausbildung der Psychiater erhebliche Fort- 
schritte gemacht. Man hat die in der Psychoanalyse für die Psychiatrie 
steckenden Möglichkeiten in Amerika allgemeiner begriffen als in vielen 
anderen Ländern. Viele große Irrenanstalten ziehen für Therapie und Deutung 
geschulte Analytiker heran, einige lassen sogar ausgesuchte Mitglieder ihres 
Ärztestabes eine vollständige psychoanalytische Schulung durchmachen. 

Eine engere Verbindung zwischen der amerikanischen psychoanalytischen 
Vereinigung und dem amerikanischen Psychiaterverein wurde durch die Ein- 
richtung gemeinsamer Sitzungen erreicht, und in Washington scheint ein 
neues psychoanalytisches Zentrum unter der Führung William A. Whites 
in hoffnungsvoller Entwicklung begriffen zu sein. Es wird uns nicht über- 
raschen, wenn wir binnen kurzem eine psychoanalytische Organisation im 
Mississippital finden sollten. 

Die New Yorker Gruppe richtete einen Vorlesungszyklus zur Einführung 
in die Psychoanalyse ein, der von achtzehn Ärzten besucht wurde, die sämt- 
lich in Psychiatrie ind Neurologie vorzüglich ausgebildet waren. Die Zeit- 
schrift des amerikanischen Arzteverbandes „Journal of American Medical 
Association“ entschloß sich endlich, diesen Vorlesungskursus anzuzeigen, nach- 
dem ihr Bildungsausschuß sich zu seinen Gunsten geäußert hatte. Das muß 
man wirklich als Errungenschaft buchen, denn das „Journal of American 
Medical Association“ hat sich bisher stets gegen jedwede Unterstützung der 
Psychoanalyse ausgesprochen. Überdies hat die New Yorker Gruppe eine 
Stiftung zur psychoanalytischen Ausbildung von Ärzten gemacht, die gegen- 
wärtig 2200 Dollar beträgt. Die New Yorker Vereinigung selbst ist sehr 
tätig und lebenskräftig und vermochte ihre Zulassungsbedingungen ständig in 
die Höhe zu schrauben. Dr. C. P. Oberndorf 


N Kanada 


Auf der II. Konferenz der internationalen „World Federation of Education 
Associations“ in Toronto hielt am ıı. August ı927 im Rahmen der „Group 
Conferences of Behaviour Problems of Children and Adolescents“ Dr. Feigen- 
baum einen Vortrag über „Psychological Problems of Childhood and Youth 
and Their to Education“. Er besprach ausführlich die psychoanalytischen 
Beiträge zu den Erziehungsproblemen, insbesondere die Psychologie des Unbe- 
wußten, die infantile Sexualität, die biologischen und soziologischen Ent- 
wicklungstraumen und die Rolle, die das Unbewußte des Erziehers spielt. 
Der Kongreß nahm die Ausführungen enthusiastisch auf. Es entwickelte sich 
eine lebhafte Diskussion, die dem Vortragenden Gelegenheit bot, seine Aus- 
führungen in mancher Hinsicht noch zu vertiefen. Die Presse berichtete aus- 
führlich über den Vortrag. Auch in anderen Gruppen des Kongresses beteiligte 


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254 Psychoanalytische Bewegung 
sich Dr. Feigenbaum an den Diskussionen und fand, den psychoanalytischen 
Standpunkt vertretend, immer viel Interesse und Verständnis. 

Gleichzeitig tagte in Locarno der internationale Kongreß der „New Edu- 
cation Fellowship“. Beide Kongresse standen in engem Kontakt miteinander. 
Wenn in Locarno u a. betont wurde, „unartige Kinder müßten wie explo- 
dierende Chemikalien nicht bestraft, sondern verstanden werden („The 
Montreal Gazette“, ı5. August 1927), so steht diese Äußerung völlig im 
Einklang mit dem Erfolge Feigenbaums in Toronto. 





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REFERATE 


Aus den Grenzgebieten 


Benussi, V.: Zur experimentellen Grundlegung hypno- 
suggestiver Methoden psychischer Analyse. Psydo- 
logische Forschung, Bd. 9, H. 3/4, Berlin, 1927. 


Benussi versucht, Suggestion und Hypnose im psychologischen Experiment 
als Hilfsmittel zu verwerten. Durch eine methodische Anwendung von Hypnose 
und Suggestion treten eine ganze Reihe Erscheinungen schärfer hervor; man 
kann der Flüchtigkeit der seelischen Erscheinungen dadurch entgegentreten, 
daß ihr Ablauf verlangsamt und so sicherer beobachtet werden kann, man 
kann sonst schwer trennbare, zusammenfließende Phänomene isolieren und 
dergleichen mehr. Die Anwendung der Suggestion im Experiment kann sich 
auf die verschiedensten Gebiete erstrecken. Benussi berichtet neben rein 
sinnespsychologischen Versuchen auch über solche, „die auf gewisse Traum- 
konstanten ausgehen und die Absicht verfolgen, einerseits die psychoanalytische 
Methode der freien Assoziation durch eine rascher zum Ziele führende 
Methode zu modifizieren und andererseits einiges zur Aufklärung gewisser 
Punkte der psychoanalytischen Traumlehre beizutragen“ ($. 227). Leider 
erfahren wir über diese Experimente, die noch nicht abgeschlossen sind, recht 
wenig. Es wird nur über einen Versuch berichtet, der an Plötzls 
bekannte Traumexperimente erinnert, mit dem Unterschiede, dal3 hier der 
Traum auf suggestiven Befehl und unmittelbar auf Reize erfolgt, deren 
Bearbeitung im Traummaterial zu verfolgen eben der Zweck der Versuche 
ist. Die Versuchsperson bekommt den hypnotischen Befehl zu träumen, und 
gleichzeitig wird ihr durch geeignete mechanische Einrichtungen Stirn und 
Schläfe mit kurzen rhythmischen Schlägen gereizt. Der darauf folgende Traum 
ist sehr durchsichtig, zeigt aber nichts anderes, als was der Psychoanalyse 
schon genügend bekannt ist, wie während des Schlafens aufgenommene Reize 
in bestimmter Weise umgeformt, wie sie in den manifesten Trauminhalt auf- 
genommen werden. 

Wieder andere Versuche wollen den Beweis erbringen, daß es eine 
emotionelle Autonomie gibt, d. h. Gemüts- und Gefühlssituationen ohne jedes 
gedankliche Substrat entstehen, wachsen und das Bewußtsein gefesselt halten 
können. Der Versuchsperson wird in der Hypnose eine psychische Haltung 
suggeriert, die einer völligen Leere des Bewußtseins nahekommen soll. 
„Grundschlaf“ nennt Benussi diesen Zustand, er soll keine Gedanken, 


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256 Referate 





Bilder usw. aufkommen lassen. Dann wird ihr ein Reizwort dargeboten (etwa 
„jetzt fühlen Sie Angst oder Verzweiflung“) und nachher wird sie über ihre 
Erlebnisse abgefragt. Der Zweck dieser Versuche ist, festzustellen, ob eine 
unmittelbare Umsetzung dieser Worte in die entsprechenden Gemütszustände, 
ohne jede Begleitung von Gedanken erfolgen kann. Benussi meint, daß 
seine Versuche darauf hinweisen, daß es eine emotionelle Autonomie gibt, 
doch ist m. E. seine Interpretation der Experimente nicht zutreffend. Die 
Protokolle zeigen gerade das Gegenteil, wie das Reizwort in der Hypnose 
seine Erfüllung in einem Zustande findet, der auch gedanklich erfaßt werden 
will, wie allerlei bildhafte, keimende Vorstellungen anklingen als Ein- 
kleidungen bestimmter angstvoller oder verzweifelter Situationen und nicht 
die reine Verwirklichung eines abstrakten Angst- oder Verzweiflungszustandes. 
Nur daß unter dem Zwange des suggestiven Befehls diese Gedankenkeime 
nicht zur Entwicklung gelangen, d. h. verdrängt werden, bis im Bewußtsein 
nur der bloße Affekt verharrt. Wir kennen ähnliche Zustände gut aus dem 
Mechanismus der Verdrängung und darum sind auch diese Versuche eher 
als gelungene Hinweise auf eine experimentelle Erforschung der Verdrängung 
zu werten, als wie Fürsprecher einer Theorie, die meint, Gefühle seien 
unabhängige Elemente, die manchmal mit anderen Elementen, wie etwa 
Gedanken, Vorstellungen, sich verbinden können, manchmal unabhängig von 
ihnen ‘das Seelische beherrschen. Das Gegenteil ist wahr, im Seelischen gibt 
es nur Gesamtzustände, in denen man Gedanken, Vorstellungen, körperliche 
Sensationen nur gewaltsam scheiden kann und die immer mit charak- 
teristischer Gefühlsfarbe durchtränkt sind. 

Der Verfasser beruft sich mit Unrecht auf die Psychoanalyse zur Stützung 
seiner These. Gerade die Psychoanalyse hat gezeigt, daß es isolierte Affekte 
nicht gibt, sondern nur Gesamtsituationen mit bestimmter affektiver Wertigkeit. 
Freilich reichen die auch gedanklich faßbaren Wurzeln solcher affektiver 
Einstellungen tief in das Unbewußte hinein. Obwohl das Resultat der bisher 
publizierten Versuche Benussis etwas dürftig ist, obwohl Hypnose und 
Suggestion eine gefährliche Einmischung in das Experiment bedeuten können, 
kann es die Psychoanalyse nur begrüßen, wenn Benussi seine große 
Experimentierkunst in den Dienst der Aufhellung der schwierigen Probleme 
der Psychoanalyse stellt. Gerö (Wien) 


Pickworth-Farrow, E.: Some notes on Behaviorism. 


American Journal of Psychology, XXXVII, Ss. 660fl. 


Farrow gibt eine sehr scharfe Kritik des Behaviorismus, der eine Psycho- 
logie ohne Psyche machen will. Nach Erledigung der Frage, ob alles Denken 
sich nur in Worten vollziehe, die nach Farrows Meinung durch analy- 
tische Erfahrung eindeutig verneinend beantwortet ist, polemisiert Farrow 
besonders gegen die solipsistischen Anschauungen von Watson. Aus der 
Tatsache, daß man das Bewußtsein einer anderen Person nie direkt beob- 
achten kann, folgt nicht, daß fremdes Bewußtsein nicht existiere. Die Unter- 
suchung des fremden Bewußtseins ist zwar nicht Gegenstand des Behaviorismus; 
will aber der „exakte“ Behaviorist das fremde Bewußtsein überhaupt leugnen, 
so ist das so, wie wenn ein exakt beobachtender Biologe die unsichtbaren 








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Referate 257 


Elektronen leugnete. — Dieses Leugnen ist so merkwürdig, daß Farrow 
es für pathologisch hält und nur bedauert, so wenig zur Pathologie des 
Behavioristen mitteilen zu können. Der Behaviorismus ist ein narzißtisches 
Phänomen. Wollte man mehr darüber wissen, so müßte man wohl erst 
eine Reihe von Behavioristen einer Psychoanalyse unterziehen, was Farrow 
auch wegen der zu erwartenden Änderungen in der Denkweise der Analy- 
sanden im Interesse der psychologischen Wissenschaft gelegen zu sein scheint. 


Fenichel (Berlin) 


Falke, Konrad: Machtwille und Menschenwürde, Brief- 
wechsel mit einer Schweizerin über das Problem der Geschlechts- 
liebe. Orell-Füßli-Verlag, Zürich 1927, 560 Seiten. 


In diesen Briefen nimmt der Autor Stellung gegen die Heuchelei und 
Verderbtheit der herrschenden Sexualmoral, deren Abhängiskeit von unserer 
heutigen bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung er sehr wohl durch- 
schaut. Von allen Seiten wird dieses Geschlechtsleben beleuchtet, das Früchte 
zeitigt wie etwa die sexualablehnende Haltung des jungen Mädchens, das zwar 
ihre „Reinheit“ für die Ehe bewahrt, aber unfähig wird für ihre Durch- 
führung, oder die lüstern verurteilende Einstellung zur Prostitution, oder die 
Geilheit, Blasiertheit und Impotenz des jungen Mannes. 

Den Weg zur Befreiung der Geschlechtlichkeit von den ihr jetzt anhaftenden 
Übeln sieht Falke im freien, zeugungslosen Geschlechtsverkehr der Jugend, 
der gewissermaßen als Probe der späteren monogamen Ehe vorangehen soll; 
denn daß diese die höchste, die letzte Form der Beziehungen zwischen Mann 
und Weib ist, steht für den Autor fest. Eine freie Geschlechtlichkeit, meint 
der Autor, wäre die Vorbedingung für eine freie, gerade, kameradschaftliche 
Menschheit, die es nicht mehr nötig hätte, sich etwa in imperialistischen 
Kriegen auszutoben. Leider übersieht der Autor hier die wirtschaftliche 
Bedingtheit der Schwierigkeiten und die Tatsache, daß nur eine radikale 
Änderung der Gesellschaftsordnung die geeignete Grundlage für die Änderung 
des Geschlechtslebens sein könnte. Das Buch ist getragen von einer tief 
idealistischen Weltanschaung, die leider in der Geschlechtlichkeit nur einen 
Weg und keinen Selbstzweck sieht. Wenn wir auch in einigen wichtigen 
Punkten anderer Ansicht sind als der Autor, muß dieses mutige und auf- 


richtige Bekenntnis jedenfalls Billigung und Anerkennung finden. 
Reich (Wien) 


Flach, Auguste (Wien): Über symbolische Schemata im 
produktiven Denkprozeß. (Erschienen im Band 52 des 
Ardivs für die ges. Psychologie, Leipzig.) 

Die Verfasserin verfügt über umfassendes Wissen auf allen Gebieten der 
Psychologie und stellt eine psychologische Entdeckung, die sie dem Titel 
ihres Aufsatzes gleich benennt, kritisch in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. 
Manchen Menschen erscheinen zwangläufig Figuren, wenn sie über irgend 
etwas nachdenken. Diese Figuren sind auf dem Wege des Gedankens vom 
„unklaren Sphärenbewußtsein“ bis zur endlichen Schärfe als Zwischenstufe 
eingeschaltet. Verfasserin als Anhängerin der Denkpsychologie sondert diese 
Schemen vom Gefühlsleben und sieht in ihnen einen „über das sinnliche 


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258 Referate 





Sein hinausgehenden Gedankengehalt“. Sie helfen den Gedanken formen. In 
diesem Sinne unterscheidet sie ihre symbolischen, d. h. darstellenden Schemen 
von bloßen Illustrationen, das sind Bilder, die man willkürlich auswählt, um 
einen schon klar ausgedachten Gedanken zu illustrieren. Ebenso unterscheidet 
sie ihre Schemata, die, unabhängig vom abstrakten Gedanken, keine Eigen- 
bedeutung haben von den sogenannten „Diagrammen“. Die symbolischen 
Schemata gehen aus dem Denkverlauf unmittelbar hervor: an ihnen wird 
gedacht. Zahlreiche Beispiele an Versuchspersonen klären den Standpunkt der 
Verfasserin, der aufs engste verknüpft ist mit der Methode und den Theorien 
der Denkpsychologie, wie sie in Würzburg und in Wien von Karl Bühler 
vertreten wird. Der abstrakte Gedankengehalt wird hier als etwas Objektives 
vom subjektiven oder individuellen Faktor getrennt. Es wird wohl darauf hin- 
gewiesen, daß das Schema durch den individuellen Faktor von der Trieb- 
haltung her determiniert ist, ohne daß näher darauf eingegangen worden 
wäre, wie wir uns diese Determinierung zu denken haben. Hier wäre 
Gelegenheit gewesen, von psychoanalytischen Auffassungen, von Freuds 
System des Vorbewußten, Unbewußten, von Zensur- und Affektbesetzungen 
Gebrauch zu machen. Wittels (Wien) 


Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsycho- 
logie. Herausgegeben von Kurt Lewin. — Bluma Zeigarnik: 
Hl. Das Behalten von erledigten und unerledigten 
Handlungen. Psycologishe Forshung, Bd. IX, Berlin, 
Springer I927. 

In dieser Arbeit wird über Experimente berichtet, die angestellt wurden, 
um die Auswirkung aktueller bedürfnisartiger Spannungen auf gewisse 
Gedächtnisleistungen zu erforschen. Es soll untersucht werden: Wie verhält 
sich die Erinnerung an Handlungen, die vor Beendigung unterbochen worden 
sind, zum Behalten beendeter Handlungen? Die Ergebnisse zeigen: Unerledigte 
Handlungen werden besser behalten. Die Erklärung dieses Fundes wird darin 
gesucht, daß bei der Instruktion, die Arbeit auszuführen, ein gespanntes 
System, ein „Quasibedürfnis“ entsteht, das nach Entspannung tendiert. Die 
bedürfnisartige Spannung wirkt nicht nur unmittelbar in der Richtung der 
Erledigung der Aufgaben, sondern hat auch eine Begünstigung der späteren 
Reproduktion zur Folge. Die Reproduktion spielt hier die Rolle eines Indi- 
kators für die bedürfnisartige Spannung, der Reproduktionsvorgang bedeutet 
eine Entladung der Spannung. 

Es zeigt sich, daß besonders schwere Aufgaben, auch wenn ihre Aus- 
führung unterbrochen wurde, häufig vergessen werden. Kinder drängen zur 
Wiederaufnahme unerledigter Handlungen. Das mit der Übernahme der 
Instruktion entstandene „Quasibedürfnis" scheint bei ihnen eine größere 
Durchschlagskraft zu haben, wohl deshalb, weil ihre Bedürfnisse auch sonst, 
ungebrochener sind. 

Was diese Arbeit bemerkenswert macht, ist das sorgfältige Eingehen auf 
die ganze psychische Situation, eine Eigenschaft, der man sonst im experimentell- 
psychologischen Betrieb nicht eben häufig begegnet. Man spürt vielfach, zumal 
in der Formulierung dynamischer Zusammenhänge, Verwandtschaft mit dem 
Geiste der Psychoanalyse. Gerö (Wien) 








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_ Referate | 2590 





Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur 


Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psych- 
analyse, herausgegeben von Dr. Wilhelm Stekel, redigiert 
von Dr. Anton Mießriegler und Emil Gutheil. II. Band 
(Deuticke, 1920). 

Der vorliegende IH. Band der offiziellen Zeitschrift der „Vereinigung 
unabhängiger ärztlicher Analytiker enthält eine große Anzahl 
von Öriginalarbeiten und Mitteilungen und am Schluß eine Darstellung der 
„Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ von Wilhelm Stekel. Die 
Besprechung muß sich auf einige Originalarbeiten und Mitteilungen beschränken. 

Stekel ist mit drei Originalarbeiten vertreten: 

ı) Übertragung, Annullierung und Verdrängung, 

2) Zur Psychologie der Schmerzphänomene, insbesondere des Kopfschmerzes, 

3) Der Abbau des Inzestkomplexes. 


Der erste Aufsatz beginnt mit einer Untersuchung der Übertragung, die 
„das große, bisher ungelöste Rätsel der Psychoanalyse“ sei. Die Übertragung, 
die für uns nach Freud das vielleicht bestverstandene Phänomen ist, 
nämlich ein Übertragen infantiler, bestimmten Objekten der Kindheit geltenden 
Haltungen, sowohl Liebe als Haß (positive und negative Übertragung), ist für 
St. bloß „das merkwürdige Phänomen, daß sich jeder Analysierte mit 
absoluter Gesetzmäßigkeit in den Analytiker verliebt“ (S. ı); also für den 
Autor gilt nur die positive Übertragung und, was wesentlicher ist, das 
eigentliche an der Übertragung, daß sie nämlich eine „übertragene“ 
Liebe oder einen übertragenen Haß darstellt, wird im ganzen Aufsatz 
nicht erwähnt. „Der größte Fortschritt in der Frage der Übertragung ist die 
Erkenntnis, daß wir alle gewissen Ur-Reaktionen unterworfen sind, die sich 
bewußt nicht äußern dürfen, da sie von der Kultur... verpönt werden. 
Eine solche Ur-Reaktion ist der Wunsch, dem Nächsten an das Genitale zu 
greifen, ihn sich nackt vorzustellen, der Wunsch, sich von ihm sexuelle Lust 
verschaffen zu lassen“ (S. ı/e). 

Der größte Fortschritt in der Frage der Übertragung war also nicht die 
Entdeckung ihres zwanghaften Wiederholungscharakters, sondern die banale 
Selbstverständlichkeit, daß jede Verliebtheit auch ein sinnliches Substrat hat. 
Denn unter den Ur-Reaktionen ist natürlich nichts anderes zu verstehen als 
die körperlich-sinnliche Seite des Sexualwunsches; nur daß der „Griff an das 
Genitale des Nächsten“ (Wer immer es sei?) allzu einseitig betont ist. 

Wie den meisten Arbeiten dieses Autors, haftet auch der vorliegenden ein 
überheblicher Ton an, in dem banalste, längst bekannte Tatsachen mit 
großartig klingenden, überflüssigen Terminis benannt werden. Daß man „eine 
soziale und eine individuelle Verdrängung unterscheiden“ muß, ist ein im 
Grunde nichtssagender Satz. Was soll das heiljen „individuelle und soziale 
Verdrängung“? Daß jedes Individuum für sich (aus Angst) verdrängt? Das ist 
selbstverständlich ! Der Autor hätte sich den Satz erspart, wenn er an das zur 
Verdrängung führende „Realitätsprinzip“ Freuds gedacht hätte, das ein soziales 
Triebregulativ ist. Oder glaubt der Autor, daß es andere als soziale, d.h. aus dem 
Zusammenleben mit Anderen hervorgehende Motive der Verdrängung gibt? 


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260 Referate 





Nach einigen richtigen Bemerkungen über die (positive) Übertragung, etwa 
daß der Patient in der Analyse immer sinnliche Befriedigung wünscht, oder 
daß ersich unbewußt denkt, die einzige Heilung wäre, wenn der Analytiker 
ihm Lust gäbe u.a. m., kommt wieder einer jener leicht hingeworfenen, 
völlig unbegründeten und unbewiesenen Sätze, von denen man gern wüßte, 
wie sie entstanden : „Interessant ist, daß dabei (nämlich bei der Verliebtheit) 
große Differenzen zwischen Ich und Es hervortreten können. Das Ich liebt, 
das Es lehnt die Liebe ab. Oder: Das Es liebt, das Ich lehnt die Liebe ab“ 
(S. 3). Daß das Es die Liebe ablehnt, kann unmöglich richtig sein. Es kann 
nur vorkommen, daß das Es liebt, das heißt Befriedigung seiner Libido von 
einem bestimmten Objekt wünscht, während das Ich das Liebesstreben (aus 
Angst oder Moral) abwehrt oder verdrängt. Umgekehrt kann das Es nur 
hassen, das heißt das Objekt zerstören wollen, nie aber die Liebe „ablehnen“; 
das kann nur das Ich; und das Ich kann nicht wirklich lieben, wenn das 
Es nicht liebt, sondern höchstens den Haß des Es in „reaktive Liebe aus 
Schuldgefühl verwandeln. (Vgl. Freuds Ausführungen über „Triebe und 
Triebschicksale“.) 

Der Methode St.’s., Theorien zu bauen, und der Wirrwarr der Begriffe, 
Definitionen und Auffassungen, der dabei herauskommt, zeigt sich bei der 
Aufstellung der ‚Annullierung“. „Die Annullierung ist das Gegenstück der 
Verdrängung. Das Ich nimmt eine Tatsache als solche an, das Es läßt diese 
Kenntnis nicht zu. Es annulliert diese Tatsache” ($S. 4). Wir sind nun 
gespannt, ob es dem Autor tatsächlich gelungen ist, einem der Verdrängung 
ähnlichen, aber entgegengesetzt laufenden Prozeß im seelischen Apparat auf 
die Spur zu kommen. Denn prinzipiell wäre ja derartiges möglich. Oder 
sollte sich der Freudsche Satz „Das Unbewußte kann nur wünschen", 
also nichts ablehnen, nichts verneinen, als unrichtig herausstellen ? Hören wir 
das Beispiel: „Ein Mann ist über 20 Jahre verheiratet. Für sein Es existiert 
diese Ehe nicht. Seine Träume zeigen ihn ledig, mit einer anderen Frau 
verheiratet, oder vor der Ehe mit seiner Frau. Sein Es besteht darauf, daß 
die Schwester... seine eigentliche Frau ist. Erscheint seine Frau im Traume, 
so trägt sie die Züge der Schwester... ($. 4). Die Annullierung soll etwas 
Neues sein, aber wir erkennen in ihr gute alte Bekannte: einerseits wieder 
nichts anderes als die Verdrängung; so wenn der Autor 89.6. sagt: 
„Pathologisch ist nur die Annullierung (nicht die gelungene Verdrängung). 
Mit ihr setzt die pathologische Spaltung der Persönlichkeit ein. Die 
Annullierung bedeutet die Abkapselung einer Vor- 
stellungsgruppe im Unbewußten (vom Referenten gesperrt)“; 
also das gerade Gegenteil von der früher wiedergegebenen Definition und 
das gleiche wie die Verdrängung Freuds; andererseits erkennen wir in der 
Annullierung Elemente der negativen Übertragung, etwa im folgenden Falle 
(S. 4).: „Es kommt häufig vor, daß man Analytiker zu behandeln hat oder 
Personen, die über die Analyse informiert sind. Sie übertragen bewußt, aber 
es kann vorkommen, daß das Es die Übertragung annulliert. Sie liefern kein 
positives Zeichen der Übertragung. Sie sprechen über die Übertragung, aber 
sie fühlen sie nicht. Sie dringt in sie nicht ein.“ Auf die Idee, daß es sich 
hier gar nicht um positive, sondern um eine geheime negative Übertragung 
handelt, die nur durch das „Sprechen über die Übertragung maskiert wird, 








— 


Eu — ——m—._ 


a 
Referate 261 


kommt der Autor gar nicht; ferner: Was heißt das, sie übertragen bewußt, 
aber das Es liefert keine Zeichen der Übertragung? Das kann heißen: 

a) daß sie intellektuell über die Übertragung sprechen, ohne eine solche 
wirklich zustande gebracht zu haben. Nur das Es kann übertragen. Eine 
Übertragung durch das Ich ohne entsprechende Strömung im Es kann nicht 
zustande kommen. 

b) Das Es hat zwar übertragen, aber der ubw. Anteil des Ichs verdrängt 
die Wahnehmung dieser Übertragung ; dieser Fall ist aber keine Annullierung, 
sondern stellt sich als Typus der Verdrängung dar; sie geht nicht vom Es, 
sondern vom Ich aus. 

c) Das Es hat übertragen, aber der Kranke ist affektgesperrt und 
depersonalisiert, was wieder eine besondere Form der Verdrängung darstellt. 

Es ist nichts zu machen: Die „Annullierung“ ist nicht zu retten. Denn da 
immer der unbewußte Teil des Ichs verdrängt, müßte man mit Stekel 
immer von Annullierung statt von Verdrängung sprechen. Mit der Annullierung 
ist es nicht anders als mit der neuesten Entdeckung einer „Verleugnung‘“ 
durch Rank: Beide wollen die „Verdrängung“ verdrängen. 

Wenn das Es „die Übertragung nicht annehmen will“ und ‚daher auch 
keine Übertragungsträume produziert“, so liegt ebenfalls nur eine Verdrängung 
vor. Und St. fügt selbst gleich hinzu (S.4.): „In solchen Fällen besteht 
eine leidenschaftliche Übertragung, die sich in einem Winkel des Es etabliert, 
der weder dem Patienten noch dem Analytiker zugänglich ist.“ Hier liegt 
eine Verdrägnung der positiven Übertragung des Es durch das ubw. Ich vor, 
was als Widerstand durch Deutung ebenso zu beheben ist wie andere Ver- 
drängungen. Aus diesem Wirrwarr ergibt sich wieder ein sinnloser Satz 
(S. 4/5): „Diese Fälle (bei denen die positive Übertragung verdrängt ist) 
entsprechen dem Vorgang, den ich als sekundäre (!) Verdrängung bezeichnet 
habe. Nach einer Analyse, die scheinbar vollkommen 
gelungen ist (Was heißt das? Ref.), sieht man die Symptome fort- 
bestehen. Die sekundäre Verdrängung benützt die 
Annullierungsprozesse (!) und annulliert ( das Vor- 
handensein des pathogenen Komplexes.“ (Vom Referenten 
gesperrt.) Man lese diesen Satz aufmerksam durch und man wird endlich 
folgenden Sinn finden: Die Analyse ist nur scheinbar gelungen, in Wirklichkeit 
sind die Verdrängungen nicht behoben, das Ich des Kranken will nach wie 
vor vom Verdrängten nichts wissen. Dazu braucht St., der sich, im Gegen- 
satze zum „metapsychologischen Philosophen“ Freud, einen „nüchternen 
Beobachter“ nennt, ‚der aus klinisch beobachteten Fällen seine zwingenden 
Schlüsse zieht“ ($. 564), eine sekundäre Verdrängung, die mittels der 
Annullierung annulliert! Natürlich ist nach St. wieder die Annullierung 
daran schuld, wenn eine Analyse, lege artis durchgeführt, dadurch unwirksam 
bleibt, daß das Es die Analyse nicht akzeptiert hat. Was bedeutet diese 
bequeme Ausrede, die leicht bei jedem mißlungenen Fall angebracht werden 
kann ? St., der sich immer als ‚„Praktiker‘‘ brüstet, ahnt nicht, daß daran 
seine unausgebildete Technik schuld ist, das berühmte „Anschießen‘ mit 
Deutungen, jene „aktive Technik“, die nicht imstande ist, Widerstände 
sorgfältig zu beheben und das Unbewußte so zugänglich zu machen, Das 
mag an der Methode oder am einzelnen Analytiker liegen — aber das 





262 Referate 


Unbewußte dafür verantwortlich zu machen, dazu bedarf es nicht des 
ständigen Herausstreichens, daß man im Gegensatze zum Freudianer der 
Praktiker sei: „Die Frage der Heilung hängt nicht vom Ich und seinem 
Verständnis, sondern vom Es und seiner Heilungsbereitschaft ab.‘ Dieser Satz 
und die Theorie der „Annullierung” sind theoretisch verbrämte Eingeständnisse 
der Ohnmacht einer Technik, die Schnellanalysen liefern will und sich noch 
brüstet, sich vom Patienten unabhängig gemacht zu haben. Ja, dann macht 
sich der Patient aber auch unabhängig und „annulliert” eben die Analyse! 
Die Freudsche Schule hat sich nie mit ihren Erfolgen gebrüstet; sie weil, 
daß die Erfolge bei Neurosen nicht von den Bäumen zu pilücken sind, und 
arbeitet ehrlich und still am Ausbau ihrer Therapie. Werden hier Erfolge 
erzielt, dann stehen ein oder zwei Jahre Analyse dafür; aber man brüstet 
sich nicht damit, weil man weiß, daß man noch allzuviel zu lernen, allzuviel 
an Fehlern zu korrigieren hat. 

Nachdem St. eine „Annullierung“ als Gegensatz zur Verdrängung aufgestellt 
hat (S. 4) und auf S. 6 die Annullierung wieder genau so wie die Verdrängung 
definiert, heißt es weiter S. 6: „Oft wechselt das Vergessen (gemeint ist das 
Verdrängen. Ref.) und Annullieren zwischen Ich und Es ab. Sie werfen sich 
gegenseitig den Komplex zu. („Sieh zu, daß du damit fertig wirst!”) Dann 
entstehen die merkwürdigen Bilder der Zyklothymie, die uns bisher schwer 
verständlich waren.“ Aber jetzt wissen wir endlich, was eine Zyklothymie ist! 
„Es und Ich werfen sich den unlustbetonten Komplex zu und spielen mit 
ihm Fangball.“ „Schließlich kann der Komplex nach außen geworfen und auf 
die Welt projiziert werden“ (S. 7). So entstehen die Amentia und Paranoia. 
„Man kann die Schizophrenie als die Krankheit der ‚mißlungenen Verdrängung’ 
bezeichnen.“ „Die katatone Stellung bedeutet die erstarrte Geste der Erinnerung. 
Immer? Oder nur in dem Beispiel, das dann folgt? 

„In der Manie wird die Hoffnungslosigkeit, in der Melancholie die Hoffnung 
annulliert.“ „In der akuten Verwirrtheit (Amentia) wird der krankheits- 
auslösende Konflikt annulliert“ (S. 8). „Beim hysterischen Delir fehlen die 
Annullierungsprozesse“ ($. 9). Warum sie hier fehlen, wird ebensowenig be- 
wiesen, wie daß sie in anderen Fällen vorhanden sind. Der Gipfel dieser 
„theoretischen Schlußfolgerungen“ ist aber in den folgenden Sätzen erreicht 
(S. 9): „Auch im epileptischen Anfall fehlt die Annullierung, Kommt die 
Annullierung zur Verdrängung hinzu, so haben wir das Bild 
der epileptischen Demenz. Die Realität wird vollkommen 
annulliert, der Anfall ist sozusagen in Permanenz erklärt.“ 
Das ist völlig unverständlich. Inwiefern ist die epileptische Demenz ein Anfall? 
Was heißt das, die Verdrängung kommt zur Annullierung hinzu? Sie schließen 
doch, im Sinne $t.s gebraucht, einander aus! 

Und nun wird der Wirrwarr vollständig (S, 10): „Wir können aber in 
der Psychoanalyse die Annullierungstendenzen in statu nascendi beobachten. 
Am häufigsten — wie gesagt — durch Annullierung der Urreaktionen. (Was 
heißt das? Wer annulliert? Der Analytiker?) Diese Annullierung zu 
annullieren, ist unsere Aufgabe. Während wir bei der Annullierung 
rücksichtslos vorgehen müssen, gebietet uns die Erfahrung, die Verdrängung 
nur ganz allmählich aufzulösen und immer darauf bedacht zu sein, daß wir 
dem Kranken mehr schaden als nützen können.” 











Referate 263 

Der Sinn des vorletzten Satzes ist folgender: Ich verhalte mich als Therapeut 
der Annullierung gegenüber, wie das Es sich gegen eine ihm peinliche Tat- 
sache der Außenwelt verhält: ich annulliere sie, d. h. ich nehme keine Kenntnis 
von ihr. Das ist natürlich ein Unsinn. Der Autor wollte offenbar sagen, es 
sei notwendig, die Annullierung (d. h. eigentlich die Verdrängung) zu beheben. 
Das wäre aber nichts Neues gewesen und man hätte dann auch der Freud- 
schen Analyse, die nur die Verdrängungen behebt, nicht eins versetzen können, 
wie es im letzten Satze geschah. Auch Seitenhiebe auf den „Laienanalytiker X“ 
und den „Laienanalytiker Y“ sind beliebte Ausschmückungen. 

Eine merkwürdige Auffassung hat St. auch von der Therapie. Der Ersatz 
für die infantilen Wünsche sei die Übertragung. „In der Liebe des Arztes 
findet der Kranke den Ersatz für den Verlust der infantilen Ideale Aber 
diese Liebe darf nicht zum Leiden werden“ (vom Ref. gesperrt) 
(S. 10). Essoll offenbar statt „Liebe des Arztes“ Liebe zum Arzt heißen? 
Wie soll diese Liebe nicht zum Leiden werden? Unter welchen Bedingungen 
ist das möglich? Doch nur, wenn der Analytiker die Urreaktion zuläßt! Wenn 
er sie aber nicht zuläßt, so bleibt nur das Leiden in der Übertragungssituation. 
Dagegen gibt es kein Heilmittel, trotz aller Philanthropie. 

Wir haben diesen Aufsatz so ausführlich besprochen, weil sich an ihm die 
ganze Seichtheit, Verantwortungslosigkeit und Überheblichkeit der Stekelschen 
„Arbeitsmethode“ demonstrieren läßt. 

Der Aufsatz über den „Abbau des Inzestkomplexes“ (man erwehrt sich 
dabei nur schwer der Assoziation „Untergang des Ödipuskomplexes“) starrt 
von großartig ausgesprochenen Banalitäten und Seitenhieben gegen die Freud- 
Schule, ohne daß man auch nur einen fruchtbaren, neuen Gedanken fände. 
Der Sinn des 29 Seiten langen Aufsatzes ist, daß es nicht genügt, den Inzest- 
komplex aufzudecken; „wir müssen imstande sein, den Wunsch nach Wieder- 
holung zu überwinden und zurückzudrängen“, so heißt es auf $. 217. Einige 
Seiten vorher (S. 2ı2) heißt es anders: „Die Analyse deckt den Konflikt auf. 
Sie zeigt die Ursache der Liebesunfähigkeit. Was aber dann zu erfolgen hat, 
kann von der Analyse nicht geleistet werden. Es ist eine Arbeit, die der 
Patient allein zu vollziehen hat.“ Ein für St. typischer Satz verdient allein 


noch aus dieser Arbeit hervorgehoben zu werden: „Analysierte aus aller Herren 


 " 


Länder kommen zu mir, weil sie in der fremden Analyse keine Heilung ge- 


funden haben,“ 

Im dritten Aufsatz „Zur Psychologie der Schmerzphänomene, 
insbesondere des Kopfschmerzes” erörtert St. in sehr ausführlicher 
Weise alle Arten neurotischen Schmerzes. „Alle diese Kranken leiden an einer 
Haßparapathie, die sich gegen das eigene Ich richtet. Viele dieser Kranken 
leiden die Schmerzen, die sie dem anderen wünschen“ ($. 40). Und weiter: 
„Der Schmerz verschwindet, wenn die Kranken das Haßobjekt wieder lieben.“ 
Verharren wir einen Augenblick bei diesen Sätzen. Angenommen, aber nicht 
zugegeben, der neurotische Schmerz entspräche einem auf die eigene Person 
abgelenkten Haß — was besagt das angesichts der Tatsache, daß jeder Masochist 
und so viele Zwangskranke den Haß vom Objekt auf die eigene Person 
lenken, ohne daß neurotische Schmerzen auftreten. Daß heißt 
aber nichts anderes, als daß der Haß den neurotischen Schmerz nicht 
erklärt, für ihn nicht spezifisch ist. Freud und Ferenczi haben etwa 


| 
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- A = 
das Konversionssymptom durch die Wirkung gestauter Genitallibido auf ein 
bestimmtes Organ erklärt, Das ist eine spezifische Erklärung, denn dieser 
Vorgang kommt eben nur beim Konversionssymptom vor. Dessenungeachtet 
findet man bei der Analyse der Konversionssymptome unzählige andere 
„Determinanten”, die am Zustandekommen zusammengewirkt oder vielleicht 
auch sich dem bereits bestehenden Symptom s ekundär beigesellt haben. 
Keinem, der etwas von Symptomanalyse versteht, würde einfallen, das Symptom 
mit dieser Determinante zu erklären. Man kann nur sagen, das Symptom ist 
auf diese bestimmte Weise zustande gekommen und hat überdies noch diesen 
und jenen psychischen Sinn. Das gilt auch für den Schmerz. Es ist richtig, 
was Stekel sagt, der Schmerz könne eine Erinnerung, eine Warnung, eine 
Strafe, Ausdruck eines seelischen Schmerzes usw. sein. Das alles hat ihn aber 
nicht gemacht, das ist bloß sein Sinn. Der Fund, daß der Schmerz gelegent- 
lich an Stelle eines Orgasmus auftritt (es ist eine Laxheit des Ausdrucks, zu 
sagen: „der Schmerz als Ausdruck des Orgasmus“, S. 43), weist den Weg 
zu seinem Verständnis. Der Schmerz ist als Organsymptom natürlich ein durch 
somatische Libidostauung zustande kommendes Symptom, eine Theorie, die 
St. natürlich höhnend verwirft. Man kennt $t.s Stellung zur Libidotheorie 
und zur Aktualneurose. „Freudianer orthodoxer Richtung erklären die Kon- 
versionssymptome durch Libidinisierung der erkrankten Körperteile. Die Libido 
„besetzt“ ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Körperregion. Wir sehen 
aber, daß diese Somatisationen einfach symbolischer Ausdruck bestimmter 
Vorstellungen sind, wobei die Libidinisierung vollkommen fehlen kann“ ($. 72). 
Wie stellt das der Autor fest? Und ist die Tatsache des symbolischen Aus- 
drucks im Konversionsorgan ein Einwand gegen die „Libidinisierung“ ? 
Vieles von dem, was St. über den Sinn und die Anlässe der Migräne 
sagt, ist richtig, trifft aber nicht die Frage der Ätiologie. Sinn und Ätiologie 
eines Symptoms sind verschiedene Dinge, ebenso wie die drei metapsycho- 
logischen Gesichtspunkte des „Philosophen Freu d“, Topik, Dynamik und 
Ökonomik, nicht durcheinandergeworfen werden dürfen. Was gehen aber diese 
Fragen der Theoriebildung den „Praktiker“ und „nüchternen Beobachter" 
Stekel an? Systematik und Theoriebildung, jene zwei unerläßlichen, von 
Stekel verhöhnten Behelfe wissenschaftlicher Forschung, bewahren einen 
davor, zu verkünden, daß die Migräne „spurlos“ verschwindet, „wenn die 
bewußtseinspeinlichen Gedanken zum Vorschein kommen“ ($. 73). St. fügt 
nämlich nicht hinzu, wie es die Pflicht des Forschers wäre, daß sie nur 
vorübergehend verschwindet, daß es sich beim Aussprechen von pein- 
lichen Gedanken manchmal, beileibe nicht immer, nur um vorübergehende 
Erleichterungen handelt. Stekel vergißt auch meist, uns zu erzählen, was 
seine Patienten fünf Jahre nach der Analyse machen. Warum ist er nur 
gewissenhaft, wenn es sich darum handelt, zu berichten, dal dieser oder 
jener Fall von einem Freu d-Schüler, natürlich ungeheilt, zu ihm kam? Es 
ist arg, schmutzige Wäsche bei wissenschaftlichen Dingen waschen zu müssen, 
aber es muß doch gesagt werden, daß das Wiener Ambulatorium es bisher 
vermieden hat, jene Fälle zu publizieren, die von Stekel und seinen 
Anhängern zu uns kamen. Ein wenig Systematik würde zur Erkenntnis ver- 
helfen, daß es sich bei der Frage der Neurosenbildung um ganz andere Dinge 
handelt, als die ahnungslosen „Praktiker“ glauben. Man darf die Überzeugung 








Referate 265 
aussprechen, daß die Stekelsche Schule, geblendet durch Augenblicks- 
erfolge, die der Eitelkeit schmeicheln, keine Vorstellung hat, noch haben 
kann von den Problemen der kausalen Psychotherapie, aus dem einfachen 
Grunde, weil ihr die Grundvoraussetzung dazu, die wissenschaftliche Syste- 
matik, fehlt. Man kann nicht kausal heilen können, ja, nicht einmal die 
Bedingungen dafür schaffen, wenn man, wie Stekel, die Morphologie und 
differenzielle Atiologie der Neurosen weder kennt noch anerkennt und 
bequemerweise „die verschiedenen Ausdrucksformen des seelischen Konfliktes 
in dem Sammelnamen Parapathie zusammenfaßt“ (S. 73), Man muß eben 
zwischen hysterischem und neurasthenischem Kopfschmerz unterscheiden 
können, weil sie ätiologisch verschieden sind, will man ihre Wurzel angehen. 
Der Freudsche Grundsatz: „Erst verstehen, dann handeln“, erscheint bei 
Stekel verzerrt in der Variation: „Handeln um jeden Preis, auch wenn 
man nicht versteht.“ 

Von den übrigen Arbeiten sind zu erwähnen die klinisch-kasuistischen 
Beiträge von: 

ı) Gutheil: Analyse eines Falles von Migräne. Eine ver- 
hältnismäßig geschickte Analyse, die einige typische und wesentliche Ur- 
sachen der Migräne erfaßt hat. Auch hier fehlt die Erörterung spezifischen 
Genese. 

2) Schindler bespricht in einer kasuistischen Arbeit „Zur Dynamik 
des Sadomasochismus“ einen Fall, hauptsächlich an Hand von Träumen. 
Zum Teil sehr treffende, zum Teil willkürlich anmutende Deutungen. Die 
Arbeit bringt nichts, was in der analytischen Literatur nicht bereits bekannt 
wäre. Als Kasuistik ist die Arbeit wertvoll. 

3) Einen interessanten Fall von Zwangsvorstellung bringt Bien: Die 
starren Augen. Ein Patient, dem seine Augen starr und steif vorkommen 
und der unter bestimmten Bedingungen einen heftigen Schmerz in den Augen 
verspürt. Der Patient leidet überdies, nach den Schilderungen von Patient 
und Autor, an einer schweren Herz- und Aktualneurose. Der Autor erkannte 
die Genitalisierung der Augen. Die Darstellung der Analyse ist geschickt, auf 
das infantile Material wurde geachtet. Diese Arbeit unterscheidet sich vorteil- 
heft von den meisten anderen. Der Fall wurde in 65 Sitzungen von seinem 
Symptom befreit. Wie und warum, geht aus der Darstellung nicht hervor. 
Auch hier fehlt eine ausreichende Katamnese. 

4) Feldmanns Aufsatz über „‚Graviditätsneurosen“ hat zum 
Ergebnis, „daß eine unbewußte Gravidität eine reale verhindern kann, dal 
sich die Frucht vom Leibe auch aus psychischen Ursachen entfernen kann . 

Die Arbeit bringt interessantes Material. 

5) Der Aufsatz von Gersten über „Beziehungen des Narzißmus 
zur Homosexualität“ ist höchst unbefriedigend, verworren, unsystematisch, 
oberflächlich, 

6) Kofranyi („Ein rasch geheilter Fall von Epilepsie‘) 
„heilte‘ einen Fall von Epilepsie auf folgende Weise: Er rekonstruierte die 
unbewußten Haßgedanken beim ersten Anfall durch Analyse des Anlasses, 
worauf die Patientin „mit großer Bestimmtheit“ sagte: „Herr Doktor, so 
muß es sein, wenn ich den Anfall bekomme." Die Analyse hatte 
fünf Wochen gedauert, die Anfälle blieben dann zwei Monate (!) aus. 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse XIV/a 18 


266 Referate 





7) Jellinek ‚heilt einen „Fall langjähriger Impotenz“ in vier Sitzungen. 

8) Kappeller heilt eine Dipsomanie in vier Monaten. Mehrere Monate 
rezidivefrei. 

Es ist jedem Eingeweihten klar, daß es sich um oberflächliche Suggestiv- 
erfolge handelt, über deren Wert man gewiß kein abfälliges Urteil fällen 
darf. Nur die Überheblichkeit, das als „Heilerfolg“ auszugeben, mul mit 
Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Den Mitteilungen von Stekel und 
seinen Anhängern über erzielte „Heilungen“ haftet ein therapeutisches Selbst- 
bewußtsein an, das sich auf höchstens einige Monate Katamnese stützt. Es 
ist wie auf der psychiatrischen Klinik. Ein Fall wird mit hysterischem 
Dämmerzustand eingeliefert, nach einigen Tagen „geheilt“ entlassen, nach 
sechs Wochen wieder aufgenommen, dann neuerdings „geheilt entlassen, und 
so geht es zehnmal und öfter fort. Es gibt Analytiker, die in dieser Art 
Stekels und seiner Anhänger, Erfolge hinauszuposaunen und sich auf diese 
Weise im Gegensatze zu den ‚„Freudianern” als die Kliniker und Praktiker 
dem Publikum anzubieten, eine große Gefahr für die Existenz der Freudschen 
Psychoanalyse erblicken. Sie klagen, das Publikum werde irregeführt, und es 
sei gefährlich, dem nicht entgegenzutreten. Wer aber die Stekelschen 
Publikationen liest, kann sich über diesen Punkt beruhigen: Diese Art 
Wissenschaftlichkeit muß sich einmal selbst ad absurdum führen. Und die 
Öffentlichkeit bekommt mit der Zeit doch das richtige Empfinden. Daß die 
Freudsche Psychoanalyse seit Jahrzehnten im Gegensatz zur lärmenden 
Propaganda von Adler und Stekel ohne irgendeine ähnliche Maßnahme 
ausgezeichnet besteht und immer weitere Kreise in der ernst zu nehmenden 
Öffentlichkeit zieht, kann als Garantie gelten, daß es auch weiterhin gelingen 
wird, im Stillen jene ungeheure und ernste Arbeit zu leisten, die die Theorie 
und Therapie der Neurosen erfordert. Reich (Wien) 


Schmitt, J. L: Atem und Charakter. Domverlag M. Seitz, 
Augsburg 1920. 


Es ist kein Zweifel, dal3 zwischen Seelenleben und Art, Rhythmus und 
Tiefe der Atemtätigkeit innige und komplizierte Beziehungen bestehen, deren 
„lustphysiologische“ Untersuchung leider noch vollkommen aussteht; es ist 
auch kein Zweifel, daß dadurch, daß der Atem die einzige vegetative Funktion 
ist, die im wesentlichen von quergestreifter Muskulatur geleistet wird, das 
bewußte Ich hier eine Stelle hat, an der es in das vegetative Leben des 
Organismus aktiv eingreifen kann. Wenn aber die Konstatierung dieser Tat- 
bestände den Autor zu Konsequenzen führt, wie daß bei allen Menschen, die 
von „Güte, Hingabe, Opfersinn“ „weit, weit weggekommen sind , „der erste 
Ursprung dieser Schwäche” in ihrer „verminderten Atmung“ liegt (S. 8), oder 
daß die „Einseitigkeit und Abgetrenntheit aller scharfen Denker unserer 
Zeit,... kurz all ihre Hemmungen und Hälftigkeiten“ „aus der Zerrung 
ihres Atems“ „geboren sind“ ($S. 16), und das Büchlein mit den in Sperr- 
druck gesetzten Imperativen endet: „Tief atmen! Frei atmen! Bewußt atmen!“, 
so kann solche Übertreibung dem Psychoanalytiker nur Gegenstand seiner 
wissenschaftlichen Forschung, nicht seiner objektiven Kritik sein. 

Fenichel (Berlin) 





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Referate 267 





Alfven, Johannes: Das Problem der ER: (OÖ. Heft der 
Abhandlungen aus dem Gebiet der Psychotherapie und med. 
Psychologie, Herausg. Alb. Moll.) Ferd. Enke, Stuttgart 1927. 


Diese Arbeit trägt zum Problem der Ermüdung nicht nur keine neuen 
Gesichtspunkte hinzu, sie ist sogar erstaunlich lückenhaft. Eine Lückenhaftig- 
keit, die Verf. dadurch verwischt, daß er mit komplexen psychologischen 
Begriffen umgeht, als ob sie Einheiten, ja, als ob sie neurologische Einheiten 
wären („die hemmenden Reflexe werden... überinnerviert” — ‚die Ziel- 
begriffe.... sind oft so krampfhaft und ängiklich ‚gespannt . — „Die eine 
Komponente, die Zielbegriffe, ist überinnerviert” usw.). Die dadurch ent- 
stehende Verwirrung wird an exponierten Stellen mit parabolischen Gleich- 
nissen verhüllt. Zu welchem Schluß der Verf. am Ende seiner Arbeit gelangt, 
war mir nicht ersichtlich. Bally (Berlin) 


Maeder, A. Dr. med. (Zürih): Die Richtung im Seelen- 
leben. Rascher & Cie., A.-G., Verlag, Zürich, Leipzig und Stuttgart. 


Das Buch ist eine nicht besonders glückliche Erweiterung und Neuauflage 
einer früheren Schrift des Verf.: „Heilung und Entwicklung im Seelenleben“ 
(1918), deshalb nicht glücklich, weil Ergänzungen aus weit auseinanderliegenden 
Zeitpunkten gemacht wurden. Die Arbeit entbehrt deshalb der Einheit- 
lichkeit, 

Verf. betont in seinen neueren Einflechtungen vor allem seine Sonderung 
von der PsA. in seinen Auffassungen über den Richtungssinn in der Psyche, 
seine besondere Stellung zum Gewissen, zur Religion. Dagegen druckt er als 
dritten und letzten Teil des Buches (also gleichsam als Krönung!) einen Auf- 
satz aus den früheren „Berner Seminarblättern“ ab, der aus dem Jahre 1912 
datiert, und in dem er noch von „wir in unserer niychösnalytischen Sprache” 
spricht. Der Aufsatz zeigt eine Aare Einstellung zur PsA. Er wirkt wie ein 
Zurückgreifen auf eine Zeit, da man noch Freudianer war (ıg11). 

Heute wirft Maeder Freud ebenfalls die „Übertreibung“ des Pan- 
sexualismus vor. „Die Existenz einer höheren Instanz in der Tiefe der Seele“ 
zwingt ihn ferner zur Anerkennung eines unbewußten Richtungssinnes und 
zum religiösen Bekenntnis. Er sieht in Worten Christi die „ideale Definition 
der ärztlichen Tätigkeit“, sieht das „Höchste“ und „Letzte“ nicht in der 
Wissenschaft, sondern in der Religion, betrachtet die Krankheit also „nicht 
unter dem einseitigen Gesichtspunkt ihrer äußeren Verursachung, .. . sondern 
noch unter demjenigen der Bezogenheit ... auf den göttlichen Ursprung”. 
Wie seltsam (aber auch wie deplaciert) mutet folgendes Bekenntnis an: „Ich 
persönlich glaube, daß das Urbild (des Menschen) unmittelbar aus der 
Schöpferhand Gottes, aus einem schöpferischen Akte hervorgegangen ist und 
dem empirischen Menschen als vitaler Impuls und Leitbild dient.“ Wie tief 
doch auch moderne und intelligente Menschen noch in der Illusion verankert 
sind! Und warum? Der Gottesbegriff ist eine gute Stütze der teleologischen 
Denkweise, des vielgepriesenen Verantwortlichkeitsgefühls, der inneren Norm usw. 
Und warum diese Blickrichtung auf das „Höhere“ ? Man gewinnt den „Halt“ 


und gewinnt das Halt vor dem weiteren „Gang in die Tiefe“. 
Graber (Bern) 


18* 








268 Referate 





Tu — |,—,—— 





Zappert, Juliu: Masturbation. Sonderabdruc aus dem Hand- 
buch der normalen und pathologischen Physiologie. XIV. Bd., 
I. Hälfte, ı. Teil. Berlin, Julius Springer. 


Die Abhandlung bringt an Tatsächlichem nichts Neues; bei der Deutung 
des prinzipiell verschiedenen Geschehens bei der Onanie und dem normalen 
Sexualakt führt Verf., und das ist neu, den Begriff des „Bedingungsreflexes“ 
(Krasnogorsky) ein. Er folgt hiebei der Darstellung Molls vom Kon- 
trektations- und Detumeszenztrieb. Jener läuft auf dem Wege des „bedingten“, 
dieser auf dem des „unbedingten” Reflexes ab, und Z. meint nun, beim 
normalen Sexualakt beherrsche der zerebrale libidinöse Bedingungsreflex, der 
zur Erektion führt, die Szene, an den sich dann der unbedingte Ejakulations- 
reflex anschließe, während bei der Onanie der mechanisch erzeugte 
unbedingte Reflex im Vordergrund stehe gegenüber dem 
zerebral ausgelösten bedingten Geschlechtsreflex. Aus 
dieser Konstruktion leitet er dann die krankhaften Folgen der Onanie ab; 
indes sind die Verhältnisse in Wahrheit wohl viel verwickelter und im Einzel- 
falle auf ein solches Schema, insbesondere bei dem Eingreifen der Therapie, 
kaum zurückführbar. 

Zu dem Problem der Onanie stellt sich der Verf. unsicher, ja, zwiespältig, 
hauptsächlich wohl darum, weil seine Arbeit sich mehr auf die fleißige 
Durchsicht der Literatur als auf eigene Beobachtung stützt. So sagt er bei 
der Besprechung der Statistiken über die Häufigkeit der Masturbation in der 
Pubertätszeit, daß „die überwiegende Mehrzahl der Jünglinge die ver- 
hängnisvollen Freuden der Onanie vorübergehend oder dauernd kennen 
lerne“. Wie also sieht das Verhängnis aus? — Nun, der Verf. stellt später 
fest, „daß in vielen, ja, anscheinend in der überwiegenden Mehrzahl der 
Fälle, die Masturbation ohne irgendwelche Folgen vertragen wird“. — Oder: 
Er verweist auf die Schädlichkeit „falscher ärztlicher und pädagogischer 
Erziehungs- und Abschreckungsmittel sowie mißverstandener Lektüre“ von 
den bösen Folgen der fortgesetzten Onanie. Er selbst berichtet aber breit 
über die körperlichen und psychischen Folgen derselben, zitiert die nur allzu 
reiche Literatur dieser Behauptungen ohne den Versuch einer kritischen 
Sichtung, so daß dieser Abschnitt seiner Darstellung sich den von ihm 
getadelten Publikationen stark nähert. — So läßt die Arbeit den kritischen 
Leser zu keiner klaren Einsicht kommen. Es ist richtig, daß an der behandelten 
Frage vieles noch unklar ist; aber mindestens bezüglich der Kinder bis zur 
Pubertät sind die Dinge schon jetzt weit durchsichtiger, als Z. sie darstellt. 
Sicher aber ist, daß der größte Teil der „wissenschaftlichen“ Literatur in 
dieser Frage mit Vorsicht zu verwerten ist. 

Friedjung (Wien) 








Referate 269 





Aus der psychoanalytischen Literatur 


Alexander, Dr. Franz: Psychoanalyse der Gesamt- 
persönlichkeit. Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 
Bd. XXI, Wien 1927. 


| Alexanders Buch ist ein großzügiger Versuch, Freuds Struktur- 

theorie der seelischen Organisation auf die Neurosenlehre anzuwenden. Es 
bemüht sich zu zeigen, daß es mit Hilfe dieser Theorie möglich ist, die 
Phänomene der Neurosen einheitlicher zu erfassen und übersichtlicher zu 
beschreiben, über bisher ungeklärte Einzelheiten Licht zu verbreiten und 
dadurch auch die Arbeit des Therapeuten zu erleichtern. Seine Darstellung 
will nur eine einzige „prinzipielle Ergänzung zum Neurosenproblem“ (S. 6) vor- 
nehmen, nämlich die Auffassung, daß das Ich sich in jedem Falle von 
Neurose nicht nur mit Triebansprüchen des Es, sondern auch mit Straf- 
forderungen des Über-Ichs auseinandersetzen müsse, und dal3 gerade diese 
Zweifrontentätigkeit des Ichs das Wesentliche der Neurose ausmache. 
Alexander meint, daß Freuds Auffassung von der prinzipiellen Bedeut- 
samkeit der Selbstbestrafungsmechanismen für die Melancholie, den „moralischen 
Masochismus“, das „Verbrechen aus Schuldgefühl“ und für die zweizeitigen 
Zwangssymptome auch „ausnahmslos für jede Neurose anwendbar” ($. 129) 
sei: Der Triebbefriedigung folgt die Strafbefriedigung, aber auch der Straf- 
befriedigung die Triebbefriedigung. Das Ich benutzt die Strafbefriedigung, 
um sich von einem Anspruch des Über-Ichs zu befreien und dem Es — 
wenigstens partiell — nachgeben zu können. Kranksein, „Leiden“ ist die 
notwendige Begleiterscheinung jeder Neurose; der entstellte Durchbruch des 
Verdrängten in Form der Symptome wird nicht allein durch die Verhüllung 
des Sinnes, — die Zensur erkennt ja die verpönten Triebregungen trotz der 
Verhüllungen, — sondern durch das Nachlassen der verdrängenden Kräfte ermög- 
licht, das durch das gleichzeitige Leiden erkauft wird. Dieses Nachlassen der 
verdrängenden Kräfte wirkt im gleichen Sinne neurosenfördernd wie der 
Kräftezuwachs der verdrängten Kräfte, die Libidostauung. 

Über diese neurosenfördernde Rolle des Über-Ichs entwickelt Alexander 
folgende Anschauungen. Das Über-Ich ist zwar theoretisch mit der verdrängenden 
Instanz nicht identisch (S. 36), da aber das Ich die Verdrängung meist unter 
dem Druck des Über-Ichs vormimmt ($S. 25), decken sich für den Praktiker 
die Begriffe „Über-Ich“ und „verdrängende Kräfte“ fast völlig. Die Ver- 
drängung, also das Über-Ich, arbeitet nach archaischen Methoden, schematisch, 
automatisch, starr alles mit dem Verbotenen Zusammenhängende, z. B. mit 
dem Inzestwunsch , die ganze Sexualität, mitverbietend, jeder späteren korri- 
gierenden Realitätsprüfung unzugänglich. Ihre Anwendung sichert dem Ich die 
ökonomischen Vorteile jeder Mechanisierung und Automatisierung psychischer 
Abläufe. Es muß aber auch die schweren Folgen tragen, die dabei entstehen. 
Das ist nicht nur der Umstand, daß das archaische Über-Ich überstreng 
ist, sondern es erweist sich zugleich auch als zu wenig streng infolge einer 
Eigenschaft, die Alexander seine „Bestechlichkeit” nennt. 

Wurde sein Anspruch durch Strafen befriedigt, dann duldet es Regungen, 
die es sonst strenge verpönt. Es steht in einem „Geheimbündnis mit dem 


270 Referate 

Es“. Alexander vergleicht Über-Ich und Es mit der ultrarechten und ultralinken 
radikalen Opposition im politischen Leben, die auch, einander extrem verfeindet, 
miteinander geheim verbunden sind. Im Grunde wird also bei allen Neurosen 
das Ich vom überstrengen Über-Ich in die Neurose hineingetrieben, jede 
Neurose ist gleichsam eine „Neurose aus Schuldgefühl” mit „negativer thera- 
peutischer Reaktion“ ($. 49). 

Das Ich zieht primären und sekundären Gewinn aus dem „Geheimbund“ ; 
es ist z. B. beleidigt, wenn man sein Leiden nicht ernst genug nimmt, es 
„begünstigte die unlautere Politik des Über-Ichs, weil es selbst schwach war 
und in dem ewigen Kampfe mit dem ichfeindlichen Es müde wurde, dessen 
Tendenzen in Spuren in ihm selbst vorhanden waren“ (8. 63). Alexander 
erläutert seine Auffassung an dem Verhalten eines Neurotikers, der nach einem 
‚Autounfall sich zu Triebregungen bekennen durfte, die vorher verdrängt gewesen 
waren ($. 53). Das Miteinanderwirken von Über-Ich und Es in der Neurose 
kann nach Alexander nach drei Grundtypen erfolgen: Nach dem hysterischen 
Typus, bei dem Triebbefriedigung und Strafbefriedigung zu einem Symptom 
verdichtet sind, nach dem zwangsneurotischen Typus, bei dem Triebbefriedigung 
und Strafbefriedigung . zwar noch gleichzeitig oder knapp hintereinander 
(zweizeitiges Symptom) auftreten, sich aber auf zwei von einander unter- 
scheidbare psychische Akte verteilen, und nach dem manisch-depressiven 
Typus, bei dem Triebbefriedigung und Strafbefriedigung auf verschiedene 
Zeiträume weit auseinandergerückt sind. 

Die grundsätzliche Annahme eines ökonomischen Zusammenhanges zwischen 
den Triebansprüchen des Es und den Anforderungen des Über-Ichs, dieser 
Kern der Alexanderschen Neurosenauffassung, gibt der Neurosenforschung 
eine wertvolle Anregung, deren heuristische Bedeutung schon durch die 
Resultate Alexanders erhärtet wird. An der Darstellung dieses allgemeinen 
Gedankenganges bleibt nur ein Punkt unklar, die Beziehung der bewußten 
und unbewußten Funktionen des Über-Ichs zum Vorgang der Verdrängung. 
Al exander meint, daß das noch schwächliche Ich die äußeren Drohungen 
(Liebesverlust, Kastration) zunächst mit einer Hemmung der Triebhandlungen 
beantwortet. Dann wird die Realangst zur Gewissensangst verinnerlicht und 
der Gewissensgefahr nicht nur durch Unterlassung von Handlungen, sondern auch 
durch Vermeidung des Bewußtwerdens des Wunsches gesteuert. Die Ver- 
drängung kann so auch als eine Anpassung des primitiven Ichs an sein 
Gewissen beschrieben werden (S. 37). Die Gewissenshemmung wird dann 
im Laufe der Entwicklung durch die Triebabwehr ins Unbewußte versenkt, 
und nur diesen unbewußten Anteil des Gewissens willAlexander „Über-Ich“ 
nennen, während der höhere bewußte Anteil „Ichideal“ heißen soll. Nach der 
Auffassung Alexanders setzt sich also der Vorgang der Verdrängung genetisch 
aus zwei Akten zusammen; ebenso beschreibt er das Unbewußtwerden des 
Gewissens als einen eigenen zweiten Akt, der dem ersten Akt der Verinner- 
lichung der versagenden Personen der Außenwelt folgt. Es bleibt unerörtert, 
wie sich diese Anschauung zu der theoretischen Auffassung Freuds verhält: 
Freud meint ja, daß der Kern des Über-Ichs deshalb unbewußt sei, archaisch 
arbeite und in Verbindung mit den phyletischen Triebbedürfnissen stehe, weil 
er ein Entwicklungsprodukt der unbewußten, archaischen und phyletischen 
Triebbedürfnisse, nämlich des Ödipuskomplexes, ist, dal) dieser „Kern“ also. 











ET nn no nn ee ESS 
Referate . 271 





nie bewußt war, und daß das bewußte Gewissen erst aus diesem unbewußten 
Kern entsteht. Auch scheint hier ein Widerspruch vorzuliegen: Während 
Alexander einmal meint, der Verdrängung sei ein durch die Realität 
erzwungenes bewußtes Verzichten vorausgegangen (S. 38), meint er an anderer 
Stelle wohl richtiger, daß es zur Verdrängung kommen müsse, weil das zu 
schwache Ich einen Verzicht noch nicht zustande brächte (S. 32). 

Der Darstellung der allgemeinen theoretischen Grundlagen läßt Alexander 
den Versuch ihrer speziellen Anwendung auf die einzelnen neurotischen 
Mechanismen folgen. Die Gleichzeitigkeit von Triebbefriedigung und Trieb- 
abwehr wird am Beispiel des Konversionssymptoms des Errötens und an 
einem passageren paranoiden Symptom in überzeugender Weise besprochen. 
In der paranoiden Projektion gibt das Ich nach vorausgegangener Straf- 
befriedigung dem durchbrechenden Es so weit nach, daß es sogar seine 
Realitätsprüfung im Sinne des Es verfälscht. Eine Regression zum Projektions- 
mechanismus kann auch die Folge einer ökonomisch falschen Deutung in der 
psychoanalytischen Kur sein, die das Über-Ich frühzeitig ausschaltet und damit 
das Ich seines Schutzes gegenüber dem Es beraubt, 

Es muß offen bleiben, ob diese Auffassung der hysterischen Symptom- 
bildung nun einen Typus erfaßt oder, wie Alexander meint, durchgängige 
Gültigkeit besitzt. Während Freud früher dieselbe Meinung vertrat wie 
jetzt Alexander („Dies zum Symptom erlesene Stück erfüllt die Bedingung, 
daß es dem Wunschziel der Triebregung ebensosehr Ausdruck gibt wie dem 
Abwehr- oder Strafbestreben des Systems Bw“, „Das Unbewußte”, Ges. 
Schr., Bd. V, $. 500), forderte er unlängst eine gründliche Nachuntersuchung 
dieser Frage („Ob alle primären hysterischen Symptome so gebaut sind, ver- 
diente eine sorgfältige Untersuchung“, „Hemmung, Symptom und Angst“, 
S. 24). Wenn wir daran denken, daß es verschiedene Symptome gibt, die der 
Hysteriker nicht nur nicht leidvoll empfindet, sondern von deren Existenz 
er gar nichts weiß, so wird dieser Gedanke gegen die Annahme der absoluten 
Unumgänglichkeit der Strafbedeutung hysterischer Symptome mißtrauisch 
machen. Aber für viele hysterische Symptome gelten die Alexanderschen 
Gedankengänge gewiß. 

Mit Recht sagt Alexander vom Gegeneinanderspiel von Es und Über- 
Ich: „In ihrer vollen Bedeutung erscheint uns die Kenntnis dieses Zusammen- 
hanges erst bei der Anwendung auf die Zwangsneurose.  (S$. 9.) Tatsächlich 
sind die beiden Kapitel über die Zwangsneurose weitaus die gelungensten 
des ganzen Buches. Die beginnende Zwangsneurose ist charakterisiert durch 
das Nacheinander der Trieb- und Strafbefriedigung; je älter die Zwangs- 
neurose ist, um so stärker ist die Tendenz zu ihrer Verdichtung. Zeremoniells 
heben ganz allgemein Gewissensangst auf. Die Frage, warum in Zwangs- 
gedanken verpönte Vorstellungen, z. B. Mordimpulse, bewußt werden können, 
auf die Freud die Antwort gegeben hat, daß in der Zwangsneurose andere 
Abwehrarten neben der Verdrängung (Isolierung von Vorstellungsinhalt und 
Affekt und vor allem Regression) in Betracht kommen, wird durch Alexander 
von einer anderen Seite her verständlich: Wurde das Über-Ich vorher durch 
Symptome mit Strafbedeutung bestochen, so läßt es in seiner Strenge nach 
und der anstößige Vorstellungsinhalt kann bewußt werden. Wenn nun gelegent- 
lich manche Triebvorstellungen, z. B. Mordimpulse, so bewußt werden, andere, 


272 Referate 





z. B. Inzestwünsche, nicht, so erklärt das Alexander durch eine „Begrenzt- 
heit” der „Bestechlichkeit*: Mit dem Bewußtwerden der einen Hälfte 
anstößiger Tendenzen war „die Duldsamkeit des Gewissens erschöpft“ (S. 101). 
Diese Fähigkeit, die Über-Ich-Ansprüche durch Strafsymptome oder asketische 
Charakterzüge zu besänftigen, macht auch den Differentialmechanismus aus, 
der die Zwangsneurose von der Phobie unterscheidet, wie an einem instruk- 
tiven Falle gezeigt wird. Die Phobie ist die primitivere Neurose, der gegen 
die Gewissensangst noch keine anderen Hilfsmittel zur Verfügung stehen als 
die phobischen Vorbauten. Unklar bleiben die Ausführungen Alexanders 
darüber, daß das besonders bei den infantilen Phobien durch eine Projektion 
der Triebgefahr nach außen geschehe (Ss. 154 ff.). Wir würden eher umge- 
kehrt meinen: Gerade bei den infantilen Phobien hat die Projektion noch 
weniger Anteil als bei den Erwachsenen, insoferne die in der Neurose ver- 
arbeitete Angst hier noch weniger Gewissens- und noch mehr echte äußere 
Kastrationsangst ist. — Die Einstellung des zwangsneurotischen Ichs zu seinem 
Über-Ich, das die ganze auf die anal-sadistische Stufe regredierte Libido 
absorbiert, spiegelt die unbewußte Einstellung zum Vater wieder. Wird sie in 
der Übertragung auf den Analytiker rückprojiziert, so kann man die dem 
Über-Ich geltenden Neigungen, zu provozieren und zu bespötteln, direkt 
beobachten. Erfüllung von Über-Ich-Forderungen gibt nicht nur Straf- 
befriedigung, sondern außerdem libidinöse Befriedigung der auf den Vater 
gerichteten passiv-femininen Wünsche. Wie das auf den Vater gerichtete Straf- 
verlangen, kann auch das dem introjizierten Vater, dem Über-Ich, geltende 
Strafbedürfnis feminin erotisiert sein, so daß die Strafsymptome meist einen 
doppelten Sinn haben, gleichzeitig das Gewissen beruhigen und einen maso- 
chistischen Genuß verschaffen. Deshalb ist es ebenso richtig wie zu sagen, 
der Zwangszweifel drücke die Bisexualität des Kranken aus, zu beschreiben, 
„der Zweifel dient nur dazu, um jede seelische Äußerung .. . sowohl als esgerecht 
wie als über-ich-gerecht“ „auffassen zu können“ (S. 115). Die Strukturanalyse 
des Zweifels ergibt einen Antinomiesatz: Psychische und faktische Realität 
sind gleichwertig und gleichzeitig nicht gleichwertig. Das erste Urteil steht 
im Interesse des Es und soll volle Triebbefriedigung auch bei realer Ver- 
sagung ermöglichen. Das zweite Urteil dient dem Ich zur Bekämpfung der 
Gewissensangst, indem es diese ad absurdum führt. Deshalb nehmen auch 
hypochondrische Zwangsbefürchtungen, die ebenfalls Ausdruck der Gewissens- 
angst sind, so oft absurden Charakter an. Das Ich des Hypochonders fürchtet 
die Krankheit, d. h. das strenge Über-Ich, aber auch die Gesundheit, da ihm 
ja gerade die Krankheit, das Leiden, das Festhalten der verpönten Trieb- 
regungen ermöglicht. - 

Alexander beschäftigt sich sodann sehr eingehend mit den kultur- 
historischen und biologischen Grundlagen der neurotischen Strafmechanismen. 
Seine Ausführungen darüber enthalten zahlreiche interessante Gesichtspunkte 
und zeigen durch ihre gedankenvolle Art und durch ihre Konsequenz am 
schönsten, wie intensiv sein Bestreben ist, bis zum innersten Kern des 
Neurosenproblems vorzudringen. 

Das Abbüßen von Sünden ist die Grundlage der primitiven Religionen 
(Opfer), aber auch der heutigen Strafjustiz und Pädagogik. Sie entsprechen 
dem „primitiven Strafgesetzbuch der Urgesellschaft“ (S. 136). Dieses selbst 








Referate 273 








war aber biologisch bedingt durch die Gesetzmäßigkeit des Nacheinanders 
von (Spannung) Unlust und (Befriedigung) Lust, Dazu kam die Erfahrung, 
daß jede nicht realitätsangepaßte Triebhandlung wieder Unlust mit sich 
brachte. Ursache und Wirkung sind dann vertauscht worden, so daß das 
Leiden, das die Bedingung der Lust war, zum Freibrief für sie wurde. Wie 
das vor sich ging, wird nicht recht klar. Gesetzmäßiges lustbegleitendes Leiden 
ist gegeben in der Reihe der Verluste lustspendender Körperorgane (Mutter 
in der Geburt, Mutterbrust, Kotstange, entsprechende Angst beim Penis); 
auch bringt jeder Fortschritt von einer Organisationsstufe der Libido auf die 
nächsthöhere zunächst eine Versagung mit sich, eine Übersteigerung der 
Bedürfnisspannung. Dazu kommen äußere physikalische und pädagogische 
(Liebesentzug, Kastrationsdrohung, bes. bei der Reinlichkeitserziehung) 
Traumata. 

Alle diese Traumata treffen allerdings, wie Alexander weiter ausführt. 
den Gesunden ebenfalls, werfen also kein Licht auf die Ätiologie der Neurosen, 
Diese bleibt also nur als quantitatives Problem faßbar. Die neurotische Ersatz- 
befriedigung, durch Leiden ermöglicht, unterscheidet sich deskriptiv durch die 
Beibehaltung der ursprünglichen verpönten Triebregung im Unbewußten von 
der Ersatzbefriedigung des Gesunden, der Sublimierung, die den Inhalt der 
abgewehrten Bestrebungen ändert. Für die Entstehung der ersteren bleiben 
Art und Stärke der Triebeinschränkungen (Disposition, prägenitale Erziehung, 
Überwindung des Ödipuskomplexes) die verantwortungsvollsten Momente; 
sowohl zu starke als auch zu geringe Versagungen disponieren zur Neurose. — 
Das Problem der Gesundheit ist identisch mit dem Problem, unter welchen 
Umständen das Über-Ich gegen Abkömmlinge infantiler Triebregungen keinen 
Einspruch erhebt. Die nähere Bestimmung dieser Umstände ist sicher von 
nichtpsychologischen Momenten abhängig (Gesellschaftsordnung), insbesondere 
aber gewährleistet die Erreichung der genitalen Stufe mit der in ihr erlangten 
Verbindung mit der Sozietät (genitaler Charakter) die Zustimmung der unbe- 
wußten Schichten des Gewissens. 

Der dem Umfange nach kleinere „zweite Teil“, in dem Alexander 
versucht, eine „Verbindung der Triebtheorie mit der Strukturlehre“ ($. ı83) 
zu geben, scheint uns weniger gelungen, das zunächst sehr überraschende 


Resultat, die Ansicht, daß „auch bei den seelischen Erkrankungen das Primäre, . 


der eigentliche Krankheitsprozeß ... die Zurückwendung des nach außen 
gewendeten Todestriebes gegen die eigene Person ist ($. ız2), nicht 
erwiesen. 

Der Vorsatz, „die verdrängenden und verdrängten Kräfte nach ihrer 
Qualität zu untersuchen” ($S. ı85), kann ja bei Anwendung der neuen 
Freudschen Trieblehre zu keinem anderen Resultat führen, als daß auf 
beiden Seiten gemischte Triebe tätig sind. 

Bekanntlich war es früher das Bestreben Freuds, die Trieblehre mit 
der Verdrängungslehre in Übereinstimmung zu halten: Das Verdrängte, das 
waren die Sexualtriebe, das Verdrängende die Ichtriebe. Aber näherer Forschung 
konnte dieses Schema nicht mehr genügen, die Erkenntnisse über den 
Narziömus konnten ihm nicht in hinreichender Weise eingefügt werden. 
Die Hypothese des Gegensatzes 'Todestrieb — Eros ist von ganz anderen Gedanken- 
gängen her aufgestellt worden und kann nicht mehr in so einfacher Weise 


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274 Referate 


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die Verdrängung widerspiegeln. Und auch Alexander kommt rasch zu 
dem Ergebnis, dal „die verdrängende Kraft selbst ein Mischungsergebnis ist“ 
(S. 184). Eine außerordentlich instruktive Krankengeschichte, ein Fall von 
Transvestitiimus und Masochismus, klärt genetisch die deskriptiv feststellbare 
innige Verschränkung von Todestrieb (Strafbedürfnis) und Eros (anal- 
masochistische Sexualbefriedigung) auf. Die erotische Komponente schwächt 
die Grausamkeit der Selbstbestrafungstendenzen. 

Nun meint Alexander: Da bei einer organischen Krankheit Teile des 
Organismus zerstört werden, sind bei ihr (auch bei exogenen Prozessen ?) 
die Destruktionstriebe im Übermaß nach innen gewendet, die zu ihrer 
Neutralisierung nötige Quantität Eros muß sekundär ebenfalls von außen nach 
innen gewendet werden (Krankheitsnarzißmus), Insoferne die Verdrängung, also 
eine übermäßige Nachgiebigkeit des Ichs gegenüber seinem Über-Ich, jede Neurose 
einleitet, „kämen wir zu der Ansicht, daß auch bei den Neurosen die 
lärmenden Vorgänge der Symptombildung den sekundären Heilungsvorgang 
darstellen und daß der primäre Krankheitsvorgang die Wendung des Todes- 
triebes gegen das eigene Selbst in der Form der Überstrenge des Über-Ichs 
sei“ (S. 199). Diese Formulierung scheint uns nicht sehr glücklich. Die 
Gefahr liegt wirklich nahe, durch eine solche Formel die grundlegende Tat- 
sache der psychoanalytischen Neurosenlehre, dal Neurosen pathologische 
Sexualerscheinungen, neurotische Symptome pathologische Unterbringungen der 
Libido sind, gegen die sich stärkste affektive Widerstände richten, zu 
verdunkeln. Welche Tatsachen sollen denn durch die theoretische Formu- 
lierung Alexanders erfaßt werden? Wenn wir ihn richtig verstanden haben, 
nur diese: Eine übermäßige Triebabwehr ist die notwendige Voraussetzung des 
neurotischen Triebdurchbruches. Die „Wiederkehr des Verdrängten aus der 
Verdrängung“ ist insoferne sekundär, als ihr primär die Verdrängung selbst 
vorausgegangen ist. Der Einspruch, den das Ich gegen einen Triebanspruch 
erhebt, leitet die Neurosenbildung ein. Diese Tatsachen sind sicher richtig. 
Aber gegen ihre Wiedergabe durch die Alexandersche Formel sind zwei 
Bedenken vorzubringen: Erstens, daß zwar die Triebabwehr dem Triebdurch- 
bruch vorausgehen muß, daß aber weder Existenz noch Intensität der Trieb- 
abwehr allein für die Neurose charakteristisch sind. Nicht die Verdrängung, 
sondern erst der zweite Akt, die typische Art ihres Mißglückens, schafft die 
Neurose, wie Freud zuletzt in „Über Realitätsverlust bei Neurose und Psychose“ 
ausgeführt hat. Zweitens, daß Alexander trotz seiner Ansicht, daß die ver- 
drängenden Kräfte Triebgemische darstellen, die er auch noch an anderer 
Stelle ausdrücklich betont ($S. 22ı), in seiner Formulierung so spricht, als 
sei die Triebabwehr oder wenigstens ihre besondere Intensität gleichbedeutend mit 
Destruktion, die abgewehrten Triebe aber mit Eros, als ob also Struktur- und 
Triebgegensätze sich letzten Endes doch deckten. — Wenn nun 2. B. gefolgert 
wird, daß der Todestrieb nicht nur, wie Freud meinte, der Wegweiser 
für den Eros bei seiner Wendung nach außen sei, „sondern auch in seiner 
Rückwendung gegen das eigene Selbst“ (S. 200), so steht und fällt diese 
Ansicht mit der oben zitierten Formulierung. Freilich ist es richtig, daß 
beim Untergang des Ödipuskomplexes „die Aggression gegen den Vater“ vor 
allem „durch Rückwendung gegen sich selbst zur Selbstzerstörungstendenz 
wird“ ($. 201), aber auch diese Selbstzerstörungstendenz steht, wie Rado 














Referat 275 


En, 





seither nachgewiesen hat, im Dienste der Versöhnung des realen Vaters, also 
im Dienste des Eros. Wenn der typische Vorgang so beschrieben wird, daß 
„die Aggression gegen den Vater durch die Kastrationsdrohung zur Kastrations- 
angst, dann zur Gewissensangst führt ... Aus dem Haß gegen den Vater 
entsteht so die Selbstzerstörungstendenz ($. 209), so erregt es Befremden, 
daß nicht auch darauf Bezug genommen wird, daß nicht nur die destruktive 
Aggression gegen den Vater, sondern auch die erotische Annäherung an die 
Mutter durch die Kastrationsdrohung verboten wird. — Alexander stellt 
sich diese Rückwendung so vor, daß zur Neutralisierung eines primären 
Vaterhasses ein Quantum Eros nötig ist, das der Beziehung zur Mutter 
entzogen werden muß, wodurch neuer Destruktionstrieb frei wird, der zunächst 
den Vaterhaß verstärkt, dann aber eben zur Rückwendung in Form der 
Kastrationsangst führt (Ss. 225 ff). — Alexander versucht dann noch einige 
Einwände gegen seine Triebtheorie zu entkräften. Daß der Einwand, Neurosen 
entstünden nach Liebesenttäuschungen, allein seine Theorie nicht widerlegt, 
leuchtet aus seinen Ausführungen ein; man muß ja auch die Möglichkeit 
einer besonderen sekundären Triebentmischung (Melancholie) in Betracht 
ziehen. 

Der Masochismus wäre dadurch charakterisiert, daß der rückgewendete 
Destruktionstrieb nicht direkt gegen das Ich wütet, sondern statt dessen eine 
vorhandene Objektbeziehung in eine passiv-feminine wandelt. Ob dieses oder 
jenes statthat, also ob sich eine Perversion oder eine Neurose entwickelt, 
könnte davon abhängen, ob zur Zeit der verhängnisvollen Wendung des 
Destruktionstriebes gegen das Ich eine starke Objektbeziehung schon bestanden 
hat oder nicht. (Aber besteht in der für die Neurosenentstehung so 
wichtigen Zeit des Unterganges des Ödipuskomplexes nicht immer schon 
eine starke Objektbeziehung, nämlich die zu dem im ÖOdipuskomplex geliebten 
Elternteil?) 

Die neurotische Entwicklung könnte dadurch gekennzeichnet sein, daß bei 
der Überwindung einer niederen Entwicklungsstufe der Libido durch die 
nächsthöhere Todestriebquantitäten nach innen gewendet werden, die die 
alte Organisation zu zerstören suchen und gerade durch ihre Unerbittlichkeit 
die Gefahr einer späteren Regression ermöglichen (Fixierung); bei der 
normalen nichtneurotischen Entwicklung überwiest ein spontanes Heraus- 
strömen von Eros, so daß) die alte Organisation nicht en bloc verdrängt wird, 
sondern in der späteren aufgeht. Die zur Neurosenbildung disponierende 
„Rückwendung des Todestriebes“ („Das negative Entwicklungsprinzip, S. 231) 
ist also nichts anderes als die zu unbewußten Fixierungen Anlaß gebende 
Verdrängung. 

Alexander versucht noch mit Hilfe der Trieblehre die Vorgänge in 
der psychoanalytischen Kur näher verständlich zu machen. Die nach innen 
gewendeten Aggressionen müssen erst zunächst wieder nach außen gewendet 
werden, um dann durch Eros, der dem Narziömus entzogen wird, wieder 
neutralisiert zu werden. Erst wenn die Wendung der Destruktion nach außen 
gelungen ist, werden bindende erotische Qualitäten frei, die neue Objekt- 
beziehungen und Sublimierungen ermöglichen. Das Freiwerden der Libido- 
mengen, die vorher im Verdrängungskampf gebunden gewesen waren, scheint 
Alexander ebenso wie allen anderen Psychoanalytikern das wesentliche 





276 Referate 
Moment der analytischen Therapie, — ohne sie, sagt er ausdrücklich, gibt es 
keine Heilung — aber er faßt sie als eine Konsequenz einer vorausgegangenen 


Arbeit an den Destruktionstrieben auf. 

Die referierten Hauptgedankengänge des Buches werden auf verschiedene 
Weise reichlich illustriert und durch zahlreiche kleinere anregende Exkurse 
ergänzt. Die interessantesten sind die Krankengeschichten, die ein gut durch- 
gearbeitetes analytisches Material bringen. Andere Einschaltungen wieder 
wären vielleicht besser unterblieben, weil sie manchen Leser, der im 
wesentlichen mit dem Gedanken des Buches mitzugehen bereit ist, zum 
Widerspruch reizen. So müssen z.B. die Alexanderschen philosophischen 
Meinungen, daß die logischen Gesetze einer „Introjektion der empirischen 
Naturgesetze” ihre Entstehung verdanken (S. ı36), daß „der Körper ein 
Erstarrungsprodukt ehemaliger seelischer Einzelleistungen“ sei ($. 35) lin 
irriger Weise meint Alexander sogar, „das Unbewußte ist nach 
Freud bereits ein Zwischending zwischen Körper und Psyche“ ($. 34)), 
ebensowenig von jedem geteilt werden, der seine Ergänzung der Neurosen- 
lehre anzunehmen bereit ist, wie seine politischen Ansichten, die die Evolution 
über die Revolution stellen (S. 229). Auch die Überzeugung, „daß die Natur- 
zusammenhänge überaus einfach sind“ (S, ı0), dürfte manchen Naturwissen- 
schaftler wundern. 

Weder diese Bemerkungen noch die im einzelnen vorgebrachten kritischen 
Einwände können und sollen etwas an dem Urteil ändern, daß dieses Buch 
höchst lesenswert, und daß der Versuch, den Anteil des Über-Ichs resp. 
des Strafbedürfnisses an der Neurose allgemein und systematisch zu untersuchen, 
eine wertvolle Förderung der psychoanalytischen Neurosenlehre ist. 

Daß ein Autor, der etwas Neues darstellt, „einseitig“ ist, d. h. daß er 
seinen Gegenstand nach allen Seiten hin untersucht, während er alles schon 
bisher Bekannte nur flüchtig behandelt, ist sein gutes Recht. — Der schwer- 
wiegende Einwand, Alexander entkräfte durch die Hervorhebung eines 
neuen ätiologischen Moments die prinzipielle Bedeutsamkeit der Libido- 
stauung, ist ungerechtfertigt und wird durch den Wortlaut zahlreicher 
Textstellen widerlegt. („Unsere erste und wohl auch die sicherste Einsicht 
ist, dal das neurotische Symptom eine Reaktion des übermäßig eingeschränkten 
Trieblebens, also ein Entlastungsversuch ist“ (S. 161). „Die Symptome gewähren 
jedoch eine Ersatzbefriedigung“ (S. 133). „Ich fand dieses Moment ... in der 
gleichzeitigen Steigerung der expansiven Spannung im Es” ($. ı82), und 
endlich: Die Wirkung des Über-Ichs besteht darin, daß es durch die „so 
übertriebenen Hemmungen die Spannung im Es so weit steigerte, bis sich 
diese ... eine Abfuhr verschaffte“. Es wird nur hinzugefügt: „Neben der 
übermäßigen Triebstauung spielt ... das Leiden ... eine ebenso wichtige 
Rolle“ (S. 68). 

Ob die generelle Notwendigkeit des „Leidens“ für die Neurosenätiologie 
sich in ihrem vollen Umfang bewähren wird, werden zukünftige Forschungen 
erweisen. Sicherlich bleibt aber Alexanders Buch, insbesondere in den 
Kapiteln über die Zwangsneurose, ein wertvoller Beitrag zur Psychoanalyse 


der Neurosen. 
Fenichel (Berlin) 








Referate 277 


Rickman, John, M. A. M. D.: Index Psychoanalyticus 
1893—1920. (The International Psycho-Analytical Library Nr. 14.) 
The Hogarth Press, London, I928, 276 S. 


Dieser „Index“ ist die erste erschöpfende und systematische Bibliographie 
der gesamten psychoanalytischen Literatur. Er füllt in unserem Wissenschafts- 
betrieb eine seit langem schwer empfundene Lücke aus und wird von allen 
Interessenten der Psychoanalyse als ein unentbehrliches Hilfs- und Nachschlage- 
werk mit freudigeem Dank aufgenommen werden. Dr. Rickman hat seine 
ungewöhnlich schwierige Aufgabe, die Beschaffung des räumlich und zeitlich 
scheinbar ganz hoffnungslos zerstreuten Materials sowie dessen kritische 
Sichtung und übersichtliche Anordnung, in einer geradezu bewunderungs- 
würdigen Weise gelöst. Sein Erfolg beruht auf der gründlichen Kenntnis des 
Gegenstandes, der peinlichen Exaktheit und Gewissenhaftigkeit der Bearbeitung, 
und nicht zuletzt auf der liehevollen Hingabe, mit der er sich diesem so 
mühevollen Unternehmen gewidmet hat. Von dem Umfang der hier geleisteten 
Arbeit vermittelt die Angabe eine ungefähre Vorstellung, daß das Werk 
4739 fortlaufend numerierte bibliographische Daten enthält. 

Ein in englischer, deutscher und französischer Sprache abgedrucktes Vor- 
wort gibt über die Gesichtspunkte Aufschluß, die bei der Zusammenstellunz 
des Index befolgt worden sind. Demnach sind in ihm unter den Namen der 
Verfasser verzeichnet: 

ı) Die Titel aller Originalbeiträge und Übersetzungen in: 

dem Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I—-I (ig10—ıgı2), 

dem Jahrbuch für Psychoanalyse, Bd. I—-VI (1909—1g14), 

der Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. I—XII (1913— 1926), 

Imago, Bd. I—XII (1912 — 1926), 

The International Journal of Psycho-Analysis, Vols. I-VII (1920— 1926), 

The Psychoanalytic Review, Vol. I-XIUH (1913 — 1926). 

2) Titel, Verleger, Ort und Zeit der Erscheinung aller bei den folgenden 
erschienenen Bücher: 

dem Internationalen Psychoanalytischen Verlag, Wien, 

The International Psycho-Analytical Press, (jetzt verschmolzen mit) 

The Institute of Psycho-Analysis, London. 

3) Titel, Verleger, Ort und Zeit der Erscheinung aller ständig im Inter- 
nationalen Psychoanalytischen Verlag vorliegenden Bücher. 

4) Titel, Ort und Zeit der Erscheinung aller Originalschriften und Bücher 
über die Psychoanalyse, die dem Zusammensteller in Beantwortung seines 
Rundschreibens von Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Ver- 
einigung zugestellt worden sind. 

5) Außerdem ist eine große Anzahl kurzer Mitteilungen einbegriffen 
worden, die in den obengenannten sechs Zeitschriften enthalten sind. 

6) Dazu sind noch Schriften und Bücher über die Psychoanalyse (oder — 
was nicht immer damit zusammenfällt — Schriften und Bücher, die nach 
Absicht ihrer Verfasser über die Psychoanalyse handeln) mit aufgenommen 
worden, wenn sie in einer der psychoanalytischen Zeitschriften erwähnt 
worden sind. 


278 Referate 

Das Material ist nach Autoren alphabetisch angeordnet. Bei den Arbeiten 
des einzelnen Autors hält sich dann die Aufzählung an die Chronologie der 
Originalpublikationen, an die sich jeweils die Angaben über die Übersetzungen 
in andere Sprachen anschließen. 

Es kann sich erst beim Gebrauch des Werkes erweisen, ob und an welchen 
Stellen sein Inhalt kleinerer Korrekturen und Ergänzungen bedarf. Es wäre 
unbillig, von einer derartigen ersten Zusammenstellung absolute Vollständigkeit 
zu erwarten. Wahrscheinlich hat nicht jeder interessierte Autor den Frage- 
bogen des Verfassers erhalten und ebensowenig dürften alle Autoren ihre 
Antwort mit gleicher Sorgfalt bearbeitet haben. Es wäre dringend zu wünschen, 
daß die Benützer des Werkes etwaige Mängel dem Verfasser zur Kenntnis 
bringen, damit sie in der zweiten Auflage behoben werden können. Ferner 
möchte Referent der Hoffnung Ausdruck geben, daß Dr. Rickman sein 
groß angelegtes hibliographisches Werk über das für diesen Band angesetzte 
Stichjahr hinaus fortführen werde, Er kann dabei der uneingeschränkten 
Anerkennung aller Fachgenossen sicher sein. Radö (Berlin) 


Jung, ©. G.: DieBedeutung des Vatersfür dasSchicksal 


des Einzelnen. (Zweite, unveränderte, mit einer Vorrede ver- 
sehene Auflage.) Leipzig und Wien, Deuticke, 1927. 


Jung läßt die bekannte, ıgıı erschienene und noch ganz mit den 
Freudschen Lehren übereinstimmende Arbeit unverändert. In einem neuen 
Vorwort begründet er dies: „Es steht nichts Unrichtiges darin, bloß zu 
Einfaches, zu Naives“ ; denn „ich habe gesehen, daß die Wurzeln von Seele 
und Schicksal tiefer reichen als der ‚Familienroman‘, und daß nicht nur die 
Kinder, sondern auch die Eltern bloß Zweige eines groljen Baumes sind.“ 

Fenichel (Berlin) 


is ne the psychological impor- 
tance 7 Ä i nn 
Review, XIV. aa and Taps in early Infancy. PsA. 


In Konsequenz seiner letzten Arbeit meint Farrow: Nicht nur Kastrations- 
drohungen, auch Schläge und Klapse sollten ihrer psychisch schwer 
schädigenden Wirkungen wegen bei kleinen Kindern gänzlich vermieden 
werden. Ihre Bedeutung sei bisher von der Psychoanalyse wesentlich unter- 
schätzt worden. Der Säugling, der eine Hand ausstreckend, einen Klaps 
erhält, verdrängt die Regungen, die ihn zum Ausstrecken bewogen haben, er 
streckt die Hand von nun an nicht mehr aus und legt damit einen Teil seiner Ent- 
wicklungsmöglichkeiten brach. Farrow hält den erlittenen Schmerz für den 
ersten Anlaß zur Errichtung einer intrapsychischen „Zensur“. Pädagogische 
Strafen wirken letzten Endes immer als Drohungen physischer Gewalt, mögen 
sie von den Erziehern auch anders gemeint sein. — Der Autor erinnerte in 
seiner Selbstanalyse, daß er im elften Lebensmonat von einer Frau, nach 
deren Brust er gegriffen hatte, geschlagen worden sei; er meint, daß die 
dadurch einsetzende Verdrängung bei ihm die Entwicklung des Odipus- 
komplexes hintangehalten hätte. In einem späteren Stadium der Selbstanalyse, 
die, wie der Autor uns mitteilt, schon über 1000 Stunden dauert und zur 














| 





Referate 279 





Niederschrift von mehr als zweieinhalb Millionen frei assoziierten Worten 
geführt hat, erinnerte er, wie er bereits mitgeteilt hat, einen Schlag, den er 
im sechsten Lebensmonat erlitten hat (s. diese Zeitschrift, Bd. XII, S. 79). 
Durch ihn wurde der kindliche Allmachtsglaube zerstört. — Wie verhält 
sich die Annahme so schwerer Wirkungen ' früher Schläge zu den Erkennt- 
nissen über den Kastrationskomplex? Farrow meint, die Kinder würden, 
an ihre Allmacht glaubend, späteren Kastrationsdrohungen gar keinen Glauben 
schenken, hätten sie sich nicht schon früher durch erlittene Schläge von der 
verderblichen Kraft der Erwachsenen überzeugt. — Die schweren Folgen 
entstehen nicht aus dem Schmerz selbst, sondern aus den seelischen Konflikten, 
in die das Kind durch das Schmerzerlebnis gestürzt wird. Die einsetzende 
Verdrängung bewirkt, daß diese Folgen nicht durch späteres freundliches 
Verhalten wieder gutzumachen sind. Farrow hält Schläge für absolut 
vermeidbar und polemisiert gegen die weltfremde Art, mit der übliche nicht- 
analytische Wissenschaft an die einschlägigen Probleme heranzugehen pflegt. 
Die Meinung, daß die Folgen des erlittenen physischen Schmerzes das ausschlag- 
gebende Moment seien, führt Farro w auch zu der Annahme, daß die Wirkung 
um so schlimmer sei, je heftiger der Schlag. Obwohl wir sachlich mit Farrow 
übereinstimmen und uns über ein so überzeugtes und temperamentvolles Ein- 
treten für die aus analytischer Erfahrung gewonnenen Konsequenzen freuen, 
muß doch der kritische Gedanke geäußert werden, daß bei den Schlägen 
weniger der physische Schmerz als die Veränderung der libidinösen Beziehung 
zum Schlagenden wirksam, der erlebte Liebesverlust bedeutungsvoll sei. Wäre 
es anders, müßte ein gutmütig verabreichter Schlag schlimmere Verdrängungs- 
wirkung haben als ein intensives verbales Schelten. Wir meinen aber, daß 
hier das Umgekehrte der Fall ist. Fenichel (Berlin) 


Chadwick, Mary: The Psychological Problem of the 
Foster Child. Ihe Child, May 1025. 


In dieser kurzen Untersuchung über das Pflegekindproblem wird der 
Versuch gemacht, vom psychologischen Standpunkt aus zu zeigen, wie der 
Mangel an persönlicher Zuneigung und Zärtlichkeit auf Kinder, die außerhalb 
des Elternhauses in Anstalten erzogen werden, verschiedene bedenkliche 
Wirkungen haben kann. In der Anstalt tritt das persönliche Moment in den 
Hintergrund, zunächst wegen der vielen Kinder, die versorgt werden müssen, 
und der verhältnismäßig kleinen Gruppe von verantwortlichen Pflegepersonen ; 
noch mehr ins Gewicht fallend ist aber der Umstand einer völligen Ver- 
ständnislosigkeit für die Notwendigkeit einer herzlichen Sympathie für die 
psychische Gesundheit des kleinen Kindes. In den letzten Jahren hat man 
sich eingehend mit der Frage der Anstaltskost beschäftigt. Man ist zu der 
Erkenntnis gekommen, daß zu große Eintönigkeit in der Kost, auch wenn 
sie noch so nahrhaft ist, nicht die gewünschten Resultate erzielen kann. Aber 
es ist fraglich, ob jene Leute, denen die Sorge um die Staatsangelegenheiten 
oder die Leitung der Wohltätigkeitsinstitutionen obliegt, sich heute schon 
vollkommen darüber im klaren sind, daß die Eintönigkeit des Anstaltlebens 
ebenso traurige Wirkungen haben kann auf die Zöglinge, die mehrere Jahre 
darin ausharren müssen, zu einer Zeit, da das natürliche Bedürfnis der Jugend 


2850 Referate 





nach Abwechslung und neuen Erlebnissen verlangt. Die geistige Entwicklung 
der so aufwachsenden Knaben und Mädchen mul dabei verkümmern und 
folgende schädliche Wirkungen werden sich daraus ergeben: Es ist sehr 
wahrscheinlich, daß ein langweiliges und eintöniges Leben zu einer 
allzu häufigen Zuflucht zur Phantasie führt, damit die Abwechslungen 
und Erregungen entstehen, ohne die das Leben unter solchen Bedin- 
gungen nicht zu ertragen wäre. Eine andere Möglichkeit wäre, daß das 
Kind zum Verbrecher wird, indem es trachtet, von der in seiner Umgebung 
herrschenden Trostlosigkeit loszukommen und die Befriedigung seiner Aben- 
teurerlust darin sucht, die Ordnung zu verletzen und gegen das freud- und 
lieblose Anstaltsleben sich offen aufzulehnen. 

Das Kind muß in seinem ungestillten Hunger nach Liebe und Teilnahme 
notwendigerweise Ersatzbefriedigungen suchen, wenn diese ihm versagt bleiben; 
gleichzeitig wird es einen bewußten oder unbewußten Groll gegen jene Personen 
entwickeln, von denen es fühlt, daß sie es der ersehnten Liebe und Tröstung 
beraubt haben, einen Groll, der eines Tages Vergeltung suchen wird. 

(Autoreferat) 


Bryan, Douglas: Scent in a Symptomatic Act. Internat. 


Journal of PsA., VIII, 3. 


Die Analyse einer reichlich überdeterminierten Fehlhandlung einer Patientin 
(Zerbrechen eines Parfumfläschchens) gibt dem Autor Gelegenheit, den Brauch 
vieler Frauen zu untersuchen, sich an den Menstruationstagen besonders 
intensiv zu parfumieren. Rational soll das Parfum dazu dienen, den Men- 
struationsgeruch unbemerkbar zu machen. In der Praxis und wohl auch der 
unbewußten Absicht nach dient er dazu, die Männer erst auf die Tatsache 
der Menstruation, die sie sonst kaum bemerken würden, aufmerksam zu 
machen. Fenichel (Berlin) 


Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften 


Ill. allgemeiner ärztlicher Kongreß für Psychotherapie in Baden-Baden, 
| 20. bis 22. April 1928 


Man könnte von einem ärztlichen Kongreß für Psychotherapie zweierlei 
erwarten: entweder die Vermittlung elementarer psychotherapeutischer Kennt- 
nisse für den praktischen Arzt, die Aufdeckung der neuen Problemlage, die 
durch die Erkenntnis des Hineinragens der unbewußten psychischen Vorgänge 
auch in das Somatische entstand, oder den Versuch, eine Auseinandersetzung 
zwischen den bestehenden Richtungen heutiger Psychotherapie anzubahnen. 


' Dieser Kongreß, wie schon die früheren, hatte sich offenbar das letztere zum 


Ziel gesetzt. Diesmal stand die Individualpsychologie zur Diskussion. Es ist 
bedauerlich, daß die Möglichkeit einer wirklichen Auseinandersetzung dadurch 
erschwert wurde, daß die Probleme auf ein Niveau verschoben wurden, wo 
sie am wenigsten wirklich angreifbar sind, nämlich ins Weltanschauliche, 





Referate 281 


ee 


Nicht konkrete Fragen der Praxis wurden erörtert, kaum psychologische 
Theorien entwickelt, sondern abgeschlossene philosophische Systeme als private 
Denkresultate standen einander gegenüber. Zunächst machte sich eine gewisse An- 
näherungstendenz zwischen individualpsychologischen und psychoanalytischen 
Referenten bemerkbar. Künkel betonte, daß die finale Betrachtungsweise 
nicht genügt, um die Probleme der Neurosenätiologie zu erschöpfen, auch 
kausale Faktoren müssen berücksichtigt werden, doch strebt er eine Vereinigung 
finaler und kausaler Gesichtspunkte in einer dialektischen Methode an. 
Schultz-Hencke zeigte, daß sämtliche Thesen der Individualpsychologie 
in der Psychoanalyse enthalten sind; sie werden nur aus einem umfassenden 
Gebiet einseitig herausgehoben und mit dem Anspruch aufgestellt, die Fülle der 
Probleme zu lösen. Eine Aufgabe, die notwendig zum Scheitern verurteilt ist. 

Der Scheinfriede, kaum hergestellt, wurde nun vollends zerstört durch 
Schilders prinzipielle, sehr treffende Kritik der bekannten Lehre der 
Organminderwertigkeit. Nun sprach sich auch von individualpsychologischer 
Seite Allers gegen eine Verständigung aus, da man einander so kraß wider- 
sprechende Denkweisen wie Psychoanalyse und Individualpsychologie doch 
nicht durch Kompromisse überbrücken kann. 

Als zweites Hauptthema war das Problem des Charakters vorgesehen. 
Hauptreferenten waren Klages und Haeberlin aus Basel. Es ist anerkennens- 
wert, daß die Kongreßleitung mit der Einladung zweier Nichtmediziner zeigen 
wollte, daß die Psychotherapie sich von der Enge rein ärztlichen Denkens 
lossagen muß. Doch die Art, wie die Referenten ihr Thema behandelten, 
bleibt für die psychopathologische Problematik ziemlich steril. Über Ent- 
wicklung, Aufbau der Charaktere haben wir wenig gehört, anstatt dessen 
wurde Metaphysik geboten, noch dazu, von Klages, eine recht zweifelhafte. 
Simmel betont in einer Diskussionsbemerkung mit vollem Recht, daß man 
erwarten könnte, diese Fragen auf einem ärztlichen Kongreß für Psycho- 
therapie aus dem Aspekt einer klinischen Kasuistik dargestellt zu hören, wie 
sie sich dem Arzte spontan darbieten. 

Aus der Fülle der Vorträge, die teils die Hauptthemen, teils selbständige 
Fragen behandelten, seien hier nur zwei hervorgehoben, Groddeck sprach 
über seine Erfahrungen aus einer zwanzigjährigen psychotherapeutischen Praxis. 
Bei ihm fühlte man, was in den meisten Vorträgen fehlte: lebendige Erfahrung, 
sicheres Wissen um die Grundtatsachen der erkrankten Seele und die Kraft 
einer großen ärztlichen Persönlichkeit. Kurt Lewin sprach über die 
Beziehungen heutiger experimentell-psychologischer Forschung zu den Problemen 
der Psychotherapie. Er berichtete über seine Experimente aus dem Gebiet 
der Irieb- und Affektpsychologie und zeigte, daß man an diese schwierigen 
Fragen der Forschung nicht ohne Aussicht auf Erfolg mit der Forderung der 
Exaktheit herantreten muß. 

Der Kongreß schloß mit der begrüßenswerten Versicherung der Kongreß- 
leitung, bei dem nächsten Zusammentreffen den klinischen Gesichtspunkten 
mehr Aufmerksamkeit zu schenken. 


Gerö (Wien) 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIV /2, 


a 


KORRESPONDENZBLAIT 
DER 
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN 
VEREINIGUNG 





Redigiert von Anna Freud, Zentralsekretärin 


DT 7 


I 


Mitteilung der Internationalen 
Unterrichtskommission 


Unter Leitung Max Eitingons haben Karen Horney, Carl Müller- 
Braunschweig und Sändor Radö6 einen ersten Entwurf zu den 
„Bestimmungen der IPV über die psychoanalytische Ausbildung“ ausgearbeitet. 
Dieser Entwurf wurde zwecks gef. Beratung und Stellungnahme allen Unter- 
richtsausschüssen vorgelegt. Die Ausschüsse wurden höfl. gebeten, ihre 
kritischen Bemerkungen, ihre etwaigen Abänderungs- oder Ergänzungsvor- 
schläge, bzw. Vorschläge zur Einschaltung örtlicher Sonderbestimmungen 


spätestens bis zum ı. Juli d. J. an den Vorsitzenden der IUK 
Dr. Max Eitingon, Berlin W. ı0, Rauchstraße 4, 


gelangen zu lassen. 

Auf Grund des eingehenden Materials werden die Obgenannten einen 
zweiten Entwurf verfassen und zur neuerlichen Beratung den Ausschüssen 
unterbreiten. 

In der Zwischenzeit hoffen die Obgenannten auch die Bearbeitung der 
speziellen Fragen der Kinderanalyse in Angriff nehmen zu können. Vorschläge 
zur Regelung der psa. Ausbildung der Pädagogen auszuarbeiten, haben Anna 
Freud und August Aichhorn übernommen. 


| . gr j 8. 
Berlin, Anfang Mai ı92 Dr. Sändor Rad6 


Sekretär der IUK 

















Korrespondenzblatt | 283 





Il 
Berichte der Zweigvereinigungen 


American Psychoanalytical Association 
IV. Quartal 1927 


Die vierte winterliche Jahresversammlung fand in New York am 27. Dezember 
unter dem Vorsitz Dr. William A. Withes statt. 

In seiner Eröffnungsansprache erklärte sich Dr. White mit der Stellung- 
nahme der New Yorker psychoanalytischen Gesellschaft gegenüber der Laien- 
analyse einverstanden, sprach aber gleichzeitig die Hoffnung aus, daß in der 
Zukunft eine Methode gefunden werden möge, welche die unschätzbaren 
Entdeckungen der Psychoanalyse auch dem großen Publikum zugänglich machen 
könnte. 

Dr. Ernst Hadley, D. C., aus Washington sprach über „Infantile Sexual- 
veranlagung bei Heufieber“, wobei er den Ursprung des Symptoms auf die 
mit dem Schnüffeln zusammenhängenden erogenen Lustgefühle zurückführte. 

Dr. J. H. Cassity aus Washington sprach über „Instinkt versus Kultur 
in der Psychoanalyse“. 

Dr. H. S. Sullivan aus Towson, Maryland, sprach über „Psychoana- 
lytische Anstaltsbehandlung“. Er skizzierte die Schwierigkeiten, die sich bei 
der psychoanalytischen Behandlung in geschlossenen Anstalten herausgestellt 
haben, besonders in Bezug auf das Personal, meint aber, daß eine Übertragung 
auch in der Anstalt erfolgen und entsprechend verwertet werden könnte, 
wenn auch nicht ganz so erfolgreich wie außerhalb der Anstalt. 

Eine Geschäftssitzung fand nicht statt. Besucht wurde die Tagung nicht 
bloß von einer ungewöhnlich großen Anzahl der aktiven Mitglieder, sondern 
noch von nahezu hundert Ärzten, die als Gäste gekommen waren. 


Dr. C. P. Oberndorf 
Schriftführer 


British Psycho-Analytical Society 
IV. Quartal 1927 


5. Oktober 1927. Generalversammlung. Der Vorstand für das folgende Jahr 
wurde folgendermaßen gewählt: Präsident Dr. Ernest Jones, Schatzmeister 
Dr. W. H. B. Stoddart, Schriftführer Dr. Douglas Bryan, Bibliothekar 
Miß Barbara Low, Vorstandsmitglieder Dr. M. D. Eder, Dr. Edward 
Glover, Dr. John Rickman und Mrs. Riviere. — Die Vereinigung 
besteht derzeit aus 27 Mitgliedern, 29 außerordentlichen Mitgliedern und 
2 Ehrenmitgliedern. — In den Unterrichtsausschuß wurden gewählt: Doktor 
Bryan, Mr. Flügel, Dr. Jones, Dr. Payne und Dr. Rickman. — Es 
wurde die Errichtung eines „James-Glover-Gedächtnisfonds“ beschlossen, der 


zum Ankauf einer Spezialbibliothek dienen soll. Mit der Anschaffung und 


= 


19 


284 | Korrespondenzblatt 





Verwaltung dieses Fonds wurde ein Komitee betraut, bestehend aus Miß 
Barbara Low, Dr. Stoddart und Mr. James Strachey. 

ı9. Oktober ı927. Dr. Ernest Jones: Die erste Entwicklung der weib- 
lichen Sexualität. (Erschienen in dieser Zeitschrift, Bd. XIV, Heft 1.) 

2. November 1927. Dr. Kapp: Exognosis. — Direkte Kenntnis gibt es 
nur von Erlebnissen am eigenen Körper. Der Schluß, daß manche gegebenen 
Empfindungsdaten äußeren Objekten entsprechen, stellt einen eigenen psycho- 
logischen Akt dar, den der Autor „Exognosis nennt. Reflexreaktionen gehen 
ohne solchen Akt vor sich, so daß man die Reflexe von den exognostischen 
Akten unterscheiden muß. Die aktive Natur der Exognosis zeigt sich in der 
Bildung der Konzeption von „Dingen“ mit bestimmten Grenzen und bestimmten 
Eigenschaften. Diese „Dinge“ sind willkürliche und subjektive Schöpfungen, 
die in eine an sich chaotische Welt projiziert werden. Die erste Erfahrung, 
aus der diese Projektion entsteht, ist die infantile Erfahrung differenzierter 
Organlust. Die Differenzierung führt zur Konzeption der Begrenztheit der 
Gegenstände. Die Projektion stellt eine Kompensation für einen früheren 
Verlust dar und ist deshalb mit der Kastrationsangst so nahe verbunden, Ist 
die Exognosis besonders besetzt, so wird Libido von der Örgansensation 
abgezogen, und umgekehrt. Charakterverschiedenheiten entsprechen Differenzen 
der erogenen Organsensationen, an denen besondere infantile Verlust- (Kastrations-) 
Erfahrungen gemacht worden sind. Die Isolierung von Vorstellungen und 
zugehörigen Affektanteilen bei Zwangsneurosen ist zurückzuführen auf eine 
besondere exognostische Besetzung prägenitaler Stufen. 

16. November ı927. Mr. E. Pickworth-Farrow: Die üblichen 
Methoden wissenschaftlicher Forschung und die Psychoanalyse. — Alle richtige 
naturwissenschaftliche Arbeit beruht auf Beobachtung. Der gewissenhafte 
Psychoanalytiker mul daher alle Daten der Beobachtung am Patienten streng 
unterscheiden von allen Betrachtungsweisen und Theorien, die er als Voraus- 
setzungen in sich selbst zur Arbeit mitbringt. In allen Publikationen sollten 
diese beiden Dinge sauber auseinandergehalten werden. Vom wissenschaftlichen 
Standpunkt aus ist die einfache Analysenmethode die wünschenswerteste, die 
sich darauf beschränkt, bei Stockungen in der freien Assoziation den Patienten 
zu fragen: Woran denken Sie jetzt? 

7. Dezember ı927. Dr. Douglas Bryan: Ein forensisch interessanter 
Traum. 


Adressenänderungen: 

Mil3 Cecil M. Baines, St. Margaret’s House, Old Ford Road, E. 2. 

Mrs. Melanie Klein, 93 c, Linden Gardens, London, W. 2. 

Dr. G. W. Pailthorpe, 22, Park Crescent, London, W. ı. 

Mr. L. $S. Penrose, 50, Gordon Square, W.C. ı. 

Dr. John Rickman, 37, Devonshire Place, London, W. ı. 

Dr. F. R. Winton, Dept. of Physiology, University College, Gower Street, 
London, W. C. ı. 


Ausgetreten: 
Dr. Estelle Maude Cole. 
Dr. Douglas Bryan 
_ Schriftführer 











EEE 
Korrespondenzblatt 285 





Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 
Il. und IV. Quartal 1927 


27. September ı927. Kleine Mitteilungen. Dr. Boehm: Ein psycho- 
therapeutischer Erfolg mit ungünstigem Ausgang. — Dr. Rado: a) Ein 
Gedicht von Mombert, b) Aus den neuen Ausgrabungen in Pompei. — 
Dr. Fenichel: Referat über Hattingbergs Darstellung der PsA. in 
Birnbaums Handbuch der Psychotherapie. — Dr. Simmel: Über den 
Wadenkrampf. 

4. Oktober ı927. Vortrag Dr. Bernfeld: Faszination und Identifikation. 
Dr, Wulff (a. G.): Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer psychia- 
trisch-neurologischen Untersuchung von Chauffeuren. 

ı1. Oktober ı927. Kleine Mitteilungen. Dr. Härnik: Vom Widerstand 
gegen die Traumdeutung in der Analyse. — Dr. Sachs: Die Geheimhaltung 
der Phantasien als Motiv der Produktionshemmung. — Dr. Fenichel: 
Ein verdichteter Traum. — Frl. Dr. Kirschner: Entwicklung einer 
Schizophrenie. 

29. Oktober 1927. Diskussion über das Thema: „Onanieentwöhnung und 
Zwangssymptom.  Einleitendes Referat: Dr. Simmel. Diskussion : Drs. Fenichel, 
Härnik, Frau Benedek, Erwin Kohn, C. Müller-Braunschweig. 

8. November ı927. Vortrag Dr. Bally: Zur prägenitalen Ichentwicklung. 
Dr. Alexander: Drei kleine Beobachtungen an Kindern, eine von thera- 
peutischer Bedeutung. 

ı5. November ı927. Vortrag Dr. Härnik: Der Zopfabschneider. — 
Dr. Radö6: Aus der Analyse eines Fetischisten. 

26. November ı927. Diskussion über das Thema: „Rezidive nach scheinbar 
vollendeter Behandlung.“ Einleitendes Referat: Dr. Boehm. Diskussion : 
Drs. Alexander, Benedek, Härnik, Sachs, Winogradow (Kiew, a. G.), Rad6, 
Simmel, C. Müller-Braunsch weig. 

6. Dezember ı927. Vortrag Dr. Franz Cohn (a. G.: Ein Fall von 
Straßenangst. 

17. Dezember ı927. Diskussion über Freuds „Zukunft einer Illusion“. 
Einleitendes Referat: C. Müller-Braunschweig. Diskussion: Drs. Sachs, Bern- 
feld, Frau Lowtzky, Radd, Erwin Kohn, Pfarrer Link (a. G.). 

In der Geschäftssitzung wird Dr. Franz Cohn (Berlin-Wilmersdorf, 
Helmstädterstraße 22) zum außerordentlichen Mitglied gewählt. 

k 


Die Gesellschaft veranstaltete in ihrem Institut (Berlin W. 33, Potsdamer- 
straße 29) im Herbstquartal (Oktober—Dezember) ı927 folgende Kurse: 


a) Obligatorische Kurse 


ı) Sändor Rado: Einführung in die Psychoanalyse. I. Teil. 7 Stunden. 
(Hörerzahl: 53.) 

2) Franz Alexander: Elemente der Traumdeutung. 7 Stunden. (Hörer- 
zahl: 24.) 

3) Ernst Simmel: Spezielle Neurosenlehre. II. Teil. 7 Stunden. (Hörer- 


zahl: 30.) 




















286 Korrespondenzblatt 


ee I EEE Fa BEE EEE TE EL FE 


4) Hanns Sachs: Die psychoanalytische Technik. I. Teil. 7 Stunden. 


(Hörerzahl: 43.) 
5) Otto Fenichel: Seminar über Freuds metapsychologische Schriften. 
7 Doppelstunden. (19 Teilnehmer.) 
6) Sändor Rado: Technisches Kolloquium. 7 Doppelstunden. (13 Teilnehmer.) 
7) Max Eitingon u.a.: Praktisch-therapeutische Übungen, (Kontrollanalyse.) 


b) Fakultative Kurse 


ı) Kritik der nicht analytischen therapeutischen Richtungen: a) Rado: 
Hypnose und Suggestion, 2 Stunden; b) Simmel: Katharsis, ı Stunde; 
c) Schultz-Hencke: Individualpsychologie, 2 Stunden; d) Fenichel: 
Psychagogik, ı Stunde. (Hörerzahl etwa 50.) 

2) Hanns Sachs: Psychoanalyse des Witzes. 7 Stunden. (Hörerzahl 14.) 

z3) Carl Müller-Braunschweig: Verhältnis der Psychoanalyse zur 
Ethik und Religion. 7 Stunden. (Hörerzahl: 14.) 

4) Siegfried Bernfeld: Psychoanalytische Besprechung praktisch-päd- 
agogischer Fragen. (43 Teilnehmer.) 

5) Jenö Härnik: Seminar über die Literatur der Zwangsneurose. 7 Doppel- 


stunden. (13 Teilnehmer.) 
Dr. Sandor Radö 
Schriftführer 


Indian Psychoanalytical Society 
I. bis IV. Quartal 1927 


29. Januer ı927. Jahresversammlung. Der Jahresbericht für ı926 wird 
angenommen und der Vorstand wie folgt gewählt: Dr. G. Bose (Präsident), 
Dr. M. N. Sen Gupta, Mr. G. Bora, Mr. M. N. Banerjee (Sekretär). 
— Der Präsident hält einen Vortrag über „Lust im Wunsch“. Er entwickelt 
in Fortsetzung seiner früheren Vorträge das Thema „Kreislauf des Wunsches“. 
Die Mechanismen werden aufgezeigt, auf Grund welcher die aus der Wunsch- 
erfüllung resultierende Lust dem einen oder anderen Punkt der subjektiven 
oder objektiven Hälfte des Kreislaufs zukommt. Er berührt auch die Beziehung 
dieser Zusammenhänge zur Verdrängung. 

20. März 1927. Dr. G. Bose: Bericht über die Analyse einer älteren 
weiblichen Patientin mit grob-sexueller Übertragung. Entstehung, Wachstum, 
Lösung dieser Übertragung, die von lebhafter Eifersucht auf eine Nachbar- 
patientin begleitet war. — Die Frage, ob Nichtärzte die Psychoanalyse aus- 
üben sollen, wird in der Sitzung aufgerollt und ein Subkomitee bestehend 
aus Dr. G. Bose (Präsident), Drs. N. N. Sen Gupta, N. C. Mitra und 
S. C. Mitra (Sekretär) gewählt, das mit der Aufgabe der Formulierung eines 
Fragebogen betraut wird, um die Ansicht der Mitglieder in dieser Frage einzuholen, 

24. April 1927. Lt. Col. Owen Berkeley-Hill: „Bemerkenswertes 
Beispiel einer symbolischen Kastration “ Bericht eines Falles, in dem die 
betreffende Person absichtlich die linke Hand auf die Schienen legte und sie 
sich von einem fahrenden Zug abschneiden ließ. Erklärung der Mechanismen 
dieser symbolischen Kastration aus dem analytischen Material des Falles. — 
Es erfolgt dann der Bericht des Subkomitees über die Frage der Laienanalyse 
(Fragebogen und Bericht des Subkomitees am Ende dieses Berichtes). Es wird 











——e 


= — pm — 


Korrespondenzblatt 987 





beschlossen, der Zentralexekutive mitzuteilen, daß die Indian Psychoana- 
lytical Society der Ansicht ist, dal3 Nichtärzten die Ausübung der Psychoanalyse 
sowohl zu wissenschaftlichen als auch zu therapeutischen Zwecken gestattet 
sein soll, vorausgesetzt, daß sie den folgenden Bedingungen entsprechen: 
ı) die betreffende Person muß eine gute Allgemein- und Charakterbildung 
besitzen. 2) Sie muß eine spezielle Ausbildung bei einem anerkannten Institut 
oder bei einem Fachmann genossen haben. 3) Sie muß von einem Fachmann 
analysiert worden sein. 4) Sie muß Mitglied der Indian Psychoanalytical 
Society oder einer anderen Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen 
Vereinigung sein. 

27. November ı927. Dr. G. Bose: „Ein Fall von psychosexueller 
Impotenz“. Der Erfolg der Behandlung stellte sich erst ein, nachdem die 
unbewußte feminine Einstellung zum Vater aufgedeckt und gelöst worden 
war. Der Fall bestätigt die Annahmen des Vortragenden über die Genese 
der Homosexualität, die er in einem früheren Vortrag entwickelt hatte. Die 
primäre Phase der Homosexualität beim Mann ist von passivem T'ypus, eine 
Wendung zum Vater auf Grund einer Identifizierung mit der Mutter. 

4. Dezember ı927. Dr. N.N,Sen Gupta: „Über das Selbst“. Historischer 
und kritischer Überblick über das Selbst als psychologische Einheit. Die 
Unzulänglichkeit einiger Annahmen wird aufgezeigt und der Vorschlag gemacht, 
Material für die Lösung dieser Probleme aus den Analysen heranzuziehen. 

Außer den offiziellen Zusammenkünften wurden die üblichen wöchentlichen 
Diskussionen über psychoanalytiche Themen im Hause des Präsidenten 
abgehalten. Die Psychoanalyse verbreitet sich ständig weiter; eines unserer 
Mitglieder, Lt. Col. Owen Berkeley Hill, wurde zum Präsidenten der Psycho- 
logischen Sektion des Science Congress gewählt, der in Lahore im Januar 
1927 tagte, Psychoanalytische Vorträge mit Diskussionen wurden gehalten. 


Bericht über die Diskussion der Laienanalyse 


Das aus den Drs. G. Bose, N. Sen Gupta, N. C. Mitra und $. C. Mitra 
bestehende Subkomitee sandte den im folgenden angeführten Fragebogen an 
die Mitglieder. ı6 Fragebogen wurden ausgeschickt, ı2 wurden beantwortet. 
Es ist eine entschiedene Majorität zugunsten der Ansicht vorhanden, daß 
Nichtärzten die Ausübung der Analyse gestattet sein soll, wenn sie gewissen 
Bedingungen entsprechen. Die Anzahl der dagegen Stimmenden betrug nur 
vier. Ein Mitglied bezweifelt, ob der Vereinigung das Recht zusteht, solche 
Fragen aufzuwerfen, und ein anderes Mitglied will Nichtärzten die Ausübung 
der Analyse auch zu wissenschaftlichen Zwecken verboten wissen. 


Auszug aus dem den Mitgliedern zugesandten Fragebogen: 


„... Gewisse nicht dazu autorisierte Personen haben die Analyse in Miß- 
kredit gebracht, indem sie sich als ihre Vertreter ausgaben und sie auch zu 
therapeutischen Zwecken ausübten. Gegenwärtig gibt es für die Patienten 
keine Möglichkeit, um die bona fides solcher sich als Psychoanalytiker aus- 
gebender Personen zu ermitteln. Eine gewisse Sicherheit für das große 
Publikum scheint nötig zu sein, und es ist wünschenswert, daß eine Körper- 
schaft wie die Indian Psychoanalytical Society in dieser Frage eine bestimmte 





288 Korrespondenzblatt 


Stellung einnimmt. Psychoanalyse ist keine T'herapie, die von jedermann und 
von jedem Arzt ausgeübt werden kann. Sie hat eine besondere Technik und 
erfordert sowohl eine durchaus praktische Schulung in ihren Grundlagen als 
auch ein Analysiertwerden des Behandelnden selbst. Sie bringt dieselben 
Gefahren mit sich, wenn sie von ungeschulten Händen angewendet wird, wie 
jede andere Therapie. Deshalb ist es notwendig, daß ein gewisses Minimum 
an Bedingungen erfüllt wird, bevor einer Person erlaubt wird, Psychoanalyse 
zu betreiben. 

Da die Psychoanalyse viele Gebiete für ihre Betätigung hat, so erscheint 
es nicht berechtigt, sie allein den Ärzten zu reservieren, weil dadurch die 
wissenschaftlichen Fortschritte auf anderen Gebieten des menschlichen Inter- 
esses ungebührlich eingeschränkt würden. Andererseits müssen auch die 
Gefahren, die die Ausübung der Psychoanalyse durch unqualifizierte Kräfte 
mit sich bringt, nicht vergessen werden. 

Fragen: ı) Welche sollen Ihrer Meinung nach die Bedingungen sein, 
die ein graduierter Arzt erfüllen muß, bevor er Analyse zu therapeutischen 
Zwecken ausüben darf? — 2) Sind Sie einverstanden, daß ein Nichtarzt die 
Psychoanalyse a) zu therapeutischen, b) zu anderen wissenschaftlichen Zwecken 
ausüben darf? Wenn ja, sind Sie a) für irgendwelche Einschränkungen, die 
Qualifikation dieser Person betreffend, b) für irgendwelche andere Bedingungen ? 
c) Welche Vorschläge würden Sie machen, um diese Bedingungen durch- 
zusetzen? — Wenn Sie mit der Ausübung der Psychoanalyse durch Nichtärzte 
nicht einverstanden sind, so erbitten wir die Angabe Ihrer Gründe. — 3) Sind 
Sie dafür, daß eine Person, die nicht Mitglied dieser Vereinigung oder einer 
anderen Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ist, die 
Analyse zu therapeutischen Zwecken ausüben soll? — 4) Welche Maßnahmen 
schlagen Sie vor, um unerwünschte Personen von der Ausübung der Psycho- 
analyse zu therapeutischen Zwecken fernzuhalten ?“ 

Beantwortung der Fragen. 


Frage ı) Zehn waren für eine Spezialausbildung für eine gewisse Zeit, 
entweder in einem anerkannten Institut oder unter Anleitung eines Fachmanns. 
Man war dagegen, medizinisch Graduierten irgendwelche Bedingungen auf- 
zuerlegen. Man war nicht für eine Spezialausbildung, aber für eine Aus- 
bildung wie bei jeder anderen Wissenschaft. Sieben waren für Analyse der 
Arzte vor Beginn ihrer eigenen analytischen Tätigkeit. | 

Frage 2) a) Acht dafür, vier dagegen, b) elf dafür, einer dagegen. Alle waren 
dafür, daß die in Betracht kommenden Personen gute Allgemein- und 
Charakterbildung haben sollten, Mitglied einer internationalen Körperschaft 
sein oder Zeugnisse von autorisierten Instituten haben sollten. Fünf bestehen 
auf der eigenen Analyse vor Beginn der Praxis. c) Alle sind für die Auf- 
klärung des Publikums. Einige dringen darauf, daß die Vereinigung entweder 
Bewilligungen ausgeben sollte oder von Zeit zu Zeit die Namen derjenigen 
publizieren, die nach ihrer Meinung zu Ausübung der Analyse befähigt sind. 
Frage 3) Der allgemeine Gesichtspunkt ist der, daß die Vereinigung zwar 
andere nicht an der Ausübung der Praxis hindern kann, eine solche Ausübung 


aber auch nicht gefördert werden soll. | 
Dr. M. N. Banerjee 


Sekretär 





Korrespondenzblatt 289 





Magyarorszägi Pszichoanalitikai Fgyesület 
IV. Quartal 1927 


15. Oktober 1927. Dr. S. Ferenczi: Bericht über seine Lehrtätigkeit 
im Auslande. (Vgl. diese Ztschr. Bd. XIII, S. 35.) Außer der Beschreibung 
der eigenen Lehrtätigkeit gab Ferenczi eine anschauliche Charakteristik 
der amerikanischen wissenschaftlichen Bewegungen und Persönlichkeiten. 

29. Oktober 1927. Dr. I. Hermann: Beobachtungen über die Bildung 
des Über-Ichs. Bei mehreren Zwangsneurotikern war das Über-Ich in seiner 
Entwicklung durch ein besonderes historisches Moment, nämlich durch ein- 
zelne inkorrekte oder immoralische Handlungen sonst moralischer Väter bestimmt. 
In zwei Fällen kamen in der weiteren Umgebung Immoralitäten vor. Beide Vor- 
kommnisse lassen eine einheitliche Auffassung zu, wenn man in der Entwicklung 
des Über-Ichs auch einem „Gruppen-Schema Forderungen der Fremden, der 
Umgebung enthaltend, Raum läßt. Rolle der Nähe und Ferne in der Idealisierung. 

ı1. November 1927. Dr. $. Ferenczi: Gulliver-Phantasien. (S$. diese 
Ztschr., Bd. XII, S. 379 u. ff.) 

19. November ı927. Dr. M. Bälint: Über die Todesangst (ein kasuistischer 
Beitrag). Das Herannahen des Todes wird in verschiedenen Krankheiten 
gespürt. Unter den akut verlaufenden (Epilepsie, Erstickungsanfälle, Apoplexie usw.) 
zeichnet sich die Angina pectoris dadurch aus, daß der Kranke dies schreck- 
liche Erlebnis bei vollkommen ungetrübtem Bewußtsein durchmacht. Es ist 
also wahrscheinlich, daß diese Krankheit das am wenigsten verstellte Bild der 
Todesangst ergeben wird. Die Analyse der Todesphantasien eines Patienten, 
der eben an Angina pectoris leidet, haben die psa. Annahme vollständig 
bestätigt, daß die Todesangst eine Verarbeitung der Kastrationsangst ist. 

25. November 1927. Referat über Fr. Alexanders Buch: Die Psycho- 
analyse der Gesamtpersönlichkeit. Referenten: Dr. I. Hermann (klinisch) 
und Dr. G. Dukes (kriminologisch). 

9. Dezember 1927. Dr. G.Röheim: Völkerpsychologie und Evolution. Gegen- 
satz von oralen Völkertypen (Primitive) und analen Völkertypen (Kulturvölker). 
Die Ansätze einer Kultur auf analer Grundlage unter den Primitiven (Zaubersymbole 
der Südaustralier, Kapitalismus der Melanesier) sind nicht als Fortschritte der oralen 
Stufe, sondern als Regressionserscheinungen einer genitalen (phallischen) Symbolik 
aufzufassen. Es wird Idee einer zyklischen Entwicklung der Kultur von der oralen 
zur analen und genitalen Stufe aufgeworfen, die eigentliche Kulturbildung soll 
infolge Kastrationsangst als Flucht vor der Genitalität einsetzen. Unter den 
regressiven kulturbildenden Mechanismen wird ein hysterisch-phobischer und 
ein zwangsneurotischer Mechanismus nachgewiesen. Auch der Ichmechanismus 
der Introjektion sowie die Reihenbildung im Über-Ich spielen eine Rolle. 

16. Dezember 1927. Referat über W. Reichs Buch: Die Funktion des 
Orgasmus. Referenten: Dr. S. Pfeifer und Dr. L. Reve&sz. 

Geschäftliches. Dr. B.v. Felszeghy ist aus der Vereinigung ausgetreten. 

* 


Dr. M. Bälint hielt in Kecskemet auf Einladung der dortigen Orts- 
gruppe des Landes-Ärzteverbandes einen Vortrag über das Verhältnis der 
Psychoanalyse zur praktischen Medizin. Dr. Imre Hermann 

Sekretär 








200 Korrespondenzblatt 





Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse 
I. bis IV. Quartal 1927 


29. Januar ı927. Sitzung in Leiden (Generalversammlung). Das Protokoll 
der vorherigen Versammlung, die Jahresberichte des Schriftführers, des Kassen- 
wartes und des Bibliothekars werden genehmigt. In den Vorstand werden 
gewählt: Dr. J. E. G. van Emden als Vorsitzender, J. H. W. van 
Ophuijsen als Kassier, A. Endtz als Sekretär und. Prof. Dr. K..H: 
Bouman als Bibliothekar. 

Frau Dr. A. Lampl de Groot trat in die Berliner Gruppe über. Dr. 
J. Knappert ist aus der Vereinigung ausgetreten. Neu aufgenommen wurde 
Dr. M. Flohil. | 

Zum wissenschaftlichen Teil der Sitzung waren die Mitglieder der „Leidsche 
Vereeniging voor Psychoanalyse en Psychopathologie” eingeladen. 

Dr. J. H. van der Hoop. Ein Fall von Hebephrenie. — Der Vortragende 
berichtet über die Analyse eines jugendlichen Hebephrenen, die sehr gute 
Resultate ergab, aber wegen äußerer Umstände vorzeitig abgebrochen werden 
mußte. Er vertritt die Ansicht, daß auch weiter fortgeschrittene Fälle von 
Schizophrenie therapeutisch nicht so hoffnungslos sind, wie man bisher 
meinte. 

Dr. J. H. W. van Ophuijsen. ı) Ein Fall von „Wiederholen und 
Erinnern“ während einer atypischen Analyse. — 2) Zur Rolle des analen 
Komplexes im Verfolgungswahn. — Der Vortragende bestreitet die von 
Jelgersma jr. in seiner Dissertation geäußerte Meinung, daß es eine 
Kastrationsverfolgung gibt, an deren Aufbau der anale Komplex keinen Anteil 
hat. Er hat in der Neurose den analen Komplex beim Verfolgungswahn 
immer gefunden, fragt nach den Erfahrungen der Psychiatrie. 

2. April 1927. Sitzung in Leiden. Dr. J. H. W. van Ophuijsen. Die 
Frage der Laienanalyse. (Siehe diese Zeitschrift, Bd. XIII, S. zı2, 1927.) — 
Dr. S. Weyl: Referat über das Buch von Th. Reik „Der eigene "und der 
fremde Gott. 

2; Juli 1927. Sitzung in Leiden in Gemeinschaft mit der „Leidsche 
Vereeniging voor Psychoanalyse en Psychopathologie“. Vortrag Dr. J. H. W. 
van Ophuijsen über die Frage der Übertragung. Er gibt eine Beschreibung 
der positiven und negativen Äußerungen der Übertragung und der technischen 
Schwierigkeiten, welche sie der Analyse bereiten kann. Er verweist auf den 
Unterschied ihrer Außerungen nach Sexualziel und Sexualobjekt. Er hält die 
Übertragung für das beste Mitte, um den Patienten von der Wirksamkeit 
des Unbewußten zu überzeugen. 

19. November 1927. Sitzung in Amsterdam. Dr. J. H. W. van Ophuijsen. 
Bericht über den X. Int. Kongreß in Innsbruck. — Dr. J. M. Rombouts. 
Über die Neurosen bei Höherbegabten. Er stellt die Frage, ob eine geistige 
Begabtheit in der Jugend an sich Ursache einer späteren Inferiorität werden 
kann. Er glaubt, daß leicht eroberte Objekte weniger Befriedigung schenken 
und daß das Interesse der Höherbegabten dadurch abnimmt. Er bespricht die 
Färbung des neurotischen Bildes durch die Überbegabtheit. 

A. Endtz 
Schriftführer 








Korrespondenzblatt 291 


New York Psycho-Analytical Society 
IV. Quartal 1927 

25. Oktober 1927. Dr. D. M. Levy (a. G.). Fingerludeln und damit ver- 

bundene Bewegungen. — Eine statistische Untersuchung, die ergab, daß Unzu- 


länglichkeit der Stillperiode zum Ludeln treibt. 
Dr. C. P. Oberndorf. Bericht über den X. Internationalen Kongreß in 





Innsbruck. — Der Bericht wurde durch Bemerkungen von Dr. S. E. Jelliffe 
und A. Kardiner ergänzt. 
20. November 1927. Dr. A. Stern: Klinische Mitteilung. — Es handelt 


sich um eine Übertragungsreaktion, die zeigte, daß eine vorher gegebene klare 
Deutung über Eifersucht auf die Schwester eine Regung von genau entgegen- 
gesetzter Tendenz deckte. Untersuchungen über die relative Bedeutung beider 
Deutungen. 

Dr. P. R. Lehrman: Analyse einer Frau mit einer Mischneurose, — 
Nach einer Analyse von zwanzig Monaten waren die Zwangssymptome dieses 
komplizierten Falles teilweise geschwunden und die Patientin in den Stand 
gesetzt, ihre häuslichen Angelegenheiten wieder zu regeln; nach einigen Jahren 
erschien sie wieder, weil gewisse UÜbertragungsphänomene eine zweite kurze 
Analyse nötig machten. Diese erst ermöglichte es der Patientin, sich mit 
ihrem Weibsein abzufinden und dadurch geheilt zu werden. 


Dr. Philipp R. Lehrman 
Sekretär 


Societe Psychanalytique de Paris 
1925 bis 1927 


Seit einigen Jahren schon gab es in Paris eine Art Zentrum der PsA., die 
Gruppe der „Evolution Psychiatrique“, in der sich jüngere, an der PsA. 
interessierte Psychiater zusammenfanden. Ursprünglich hatte in dieser Gruppe 
die PsA, Laforgue allein vertreten, der aber mit der Zeit einige weitere 
Teilnehmer, wie Borel, Codet und Pichon, für die Analyse gewinnen 
konnte. Dieser kleine Kreis, dem sich seit Ende 1925 noch Parcheminey 
und Loewenstein und seit 1926 Marie Bonaparte angeschlossen haben, 
stand in ständigem engen Kontakt mit auswärtigen Analytikern: mitHesnard 
in Toulon, mit Odier und de Saussure in Genf. 

Im Frühjahr 1925 wurde beschlossen, eine Zusammenkunft der französisch- 
sprachigen Analytiker abzuhalten. Diese Zusammenkunft fand am ı. August 
ı926 in Genf, am Vortage des alljährlich stattfindenden „Congr&s des Alienistes 
et Neurologistes de Langue Frangaise“, statt, und es wurde beschlossen, eine 
solche Zusammenkunft jedes Jahr zu veranstalten. An dieser Zusammenkunft 
sprachen Laforgue über die „Schizonoia® und Odier über „Contribution 
a Petude du surmoi et du phenomene moral“. An diese Vorträge schloß 
sich eine lebhafte Diskussion an. Die zweite Zusammenkunft fand am 
24. Juli 1927 in Blois statt. Odier hielt einen Vortrag über die Psycho- 
analyse der Zwangsneurose. Eine dritte Zusammenkunft soll im Juli 1928 in 
Paris stattfinden. Laforgue und Loewenstein sind beauftragt worden, 
über die analytische Technik zu berichten. 








292 Korrespondenzblatt 





Der Energie Laforgues ist es zu verdanken, daß neben der Gruppe der 
„Evolution Psychiatrique“ sich der engere analytische Kreis zu einer psycho- 
analytischen Vereinigung organisierte. Die Gründung fand am 4. November 
1926 statt. Die Vereinigung beschloß, sich der Internationalen PsA. Vereinigung 
als Pariser Ortsgruppe anzuschließen. Ihre Aufnahme in die I. P. V. wurde 
interimistiich vom Zentralvorstand, definitiv am Innsbrucker Kongreß voll- 
zogen. Als Vorstand für das Jahr 1927 wurden gewählt: Laforgue — 
Präsident, Sokolnicka — Vizepräsident, Loewenstein — Sekretär und 
Kassenwart. 

Bei der Gründung der Vereinigung wurde auch die Herausgabe einer Zeit- 
schrift in französischer Sprache beschlossen. Die Zeitschrift, offizielles Organ 
der Vereinigung, von der schon zwei Nummern erschienen sind, heißt „Revue 
frangaise de Psychanalyse“. Sie wird unter dem „haut patronage“ von Prof. 
Freud herausgegeben und besteht aus einem ärztlichen und einem ange- 
wandten Teil. Die Redakteure des ärztlichen Teiles sind: Laforgue, Hesnard, 
de Saussure und Odier. Redakteur des angewandten Teiles: Marie Bonaparte. 
Pichon ist Generalsekretär der Zeitschrift. 

In den Jahren ı 926/ 27 fanden folgende Sitzungen der „Societe Psych- 
analytique de Paris“ statt: 

30. November 1926. Dr. Borel: „Genesungsträume in drei Fällen von 
pseudo-melancholischer Depression.“ 

In drei Fällen von schwerer Depression, die sich sehr gebessert haben, 
fielen eine Reihe von Träumen vor, in denen die Patienten sich gesund 
sahen. Die analytische Aufklärung dieser 'Träume war nicht ganz vollständig 
gelungen. 

Dr. Laforgue: „Zum Thema Über-Ich.“ 

Laforgue betont die Rolle des Konfliktes zwischen Über-Ich und Ich, 
welche die Beziehungen von Eltern zum Kinde wiederholen, Die Einverleibung 
der Eltern dient oft feindseligen Absichten gegen diese (Skotomisation der 
Eltern). Die Rolle dieser Mechanismen in Fällen von Schizophrenie. 

20. Dezember ı926. — Geschäftliche Sitzung. 

21. Dezember 1926. — Dr. Loewenstein: „Analyse eines Falles 
von Fetischismus und Masochismus.“ 

Loewenstein beschreibt die hauptsächlichsten unbewußten Mechanismen bei 
der Bildung der Perversion. Die Analyse ist nach einem relativ guten thera- 
peutischen Erfolg vom Analytiker unterbrochen worden. 

10.. Januar 192. —. Dr R Allendy: „Zahnung und Trieb- 
entwicklung. 

Allendy weist auf die biologische Bedeutung der Zahnung für die Trieb- 
entwicklung hin, auf ihre Rolle in der Entstehung des Sadismus und in der 
Entwöhnung von der Mutterbrust. Er zitiert zwei Fälle, in denen die Zähne- 
symbolik in Träumen ihm diese Verhältnisse klar gezeigt haben. 

22. Februar ı927. — Geschäftliche Sitzung. 

25. März ı927. — Dr. Hesnard: „Psychoanalyse eines Falles von 
Hypochondrie.“ 

Hesnard berichtet über einen Fall von schwerer Hypochondrie mit schizo- 
phrenen Zügen und physischem Zurückgebliebensein eines achtzehnjährigen 
Jünglings. In der Analyse, welche vier Monate gedauert hatte, fand Hesnard 








Korrespondenzblatt 293 


die pathogene Wirkung: Schuldgefühl nach Onanie und dahinterliegender 
Kastrationsangst und -wunsch. Die in schweren äußeren Umständen durch- 
geführte Analyse bereitete den Boden für eine überraschend günstige Wirkung 
eines Landaufenthaltes. 

5. April 1927. — Dr. Jones: „Der Begriff des Über-Ichs.“ 

Jones skizziert die Entwicklung des Über-Ich-Begriffes und gibt dann eine 
sehr vollständige und klare Übersicht über die Formen seiner Beziehungen 
zum Ich — die verschiedenen Arten des Schuldgefühls und des Strafbedürfnisses 
— und über die Bildung des Über-Ichs durch Identifizierung bei den beiden 
Geschlechtern. 

1. Juni 1927. — Dr. R.’de Saussure: „Ein Fall von Perversion.“ 

Der Vortragende berichtet über einen Fall von Perversion, dessen Analyse 
noch nicht abgeschlossen ist. Patient hat Ejakulationen ohne Erektion in 
Buddhastellung oder wenn er sich auf den Kopf stellt (dann mit Erektion). 
Es wird auf die Bedeutung der Koitusbeobachtung für die Genese der Per- 
version hingewiesen. 

5. Juli ıg927. — Dr. Nacht (als Gast): „Betrachtungen über die 
Psychoanalyse einer Schizophrenie. 

Der Vortragende hebt drei Punkte hervor: die Technik, die Deutung der 
Symbole und die Resultate. Er meint, man müsse bei Schizophrenen zuerst 
eine — von der klassischen abweichende — aktive Technik zur Herstellung 
der Übertragung verwenden, erst dann könne das klassische Vorgehen folgen. 
Nacht gibt die Deutung einiger zoologischer Symbole. Er gibt dann einer 
relativ optimistischen Meinung Ausdruck über die zukünftigen Möglichkeiten 
einer Schizophrenie-Therapie. 


ı. November ı927. — Dr. Laforgue: „Die psychische Bedeutung 
von Unfällen während der analytischen Behandlung.“ | 
6. Dezember ı927. — Dr. Meng (Stuttgart, a. G.): „Über Kinder- 


analyse. Der Vortragende vertritt in seinen Ausführungen Auffassungen, die 
sich mit denen Anna Freuds decken. Er bespricht ausführlich die ver- 
schiedenen 'Typen von Kindern, die er untersuchen und behandeln konnte. 
Er weist auf die Notwendigkeit der Analyse der Eltern hin und betont, daß 
in manchen Fällen auch medikamentöse Therapie erforderlich sei. — Dis- 
kussion: Morgenstern, Sokolnicka, Borel, Laforgue und Loewenstein. 


Mitgliederliste 
Ordentliche Mitglieder: 


ı) Dr. Rene Allendy, Paris ı6°, 67 rue de l’Assomption. 

2) Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland, St. Cloud, 7 rue du 
Mont Valerien. 

z) Dr. A. Borel, Paris ıı°, Quai aux fleurs. 

4) Dr. H. Codet, Paris 5°, ı0 rue de 1l’Odeon. 

s) Prof. A. Hesnard, Toulon, 4 rue Peiresc. 

6) Dr. R. Laforgue, Paris 16°, ı rue Mignet (Präsident). 

7) Dr. R. Loewenstein, Paris ı6°%, 24 rue Davioud (Sekretär — 
Kassenwart). 


8) Dr. Ch. Odier, Geneve, 24 Boulevd. des Philosophes. 


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294 Korrespondenzblatt 

As 0 UEERERRTER SEÄSIBE NT SB ET 
) Dr. G. Parcheminey, Paris 17°, 92 Avenue Niel. 

ı0) Dr. E. Pichon, Paris 8°, 23 rue du Rocher. 
) Dr. R, de Saussure, Geneve, 2 Tertasse. 

ı2) E. Sokolnicka, Paris 7°, 30 rue Chevert (Vizepräsident). 


Außerordentliche Mitglieder: 


ı) Dr. Anne Berman, Paris. 
2) Dr. Martin-Sisteron, Grenoble. 
z) Bernard Doreau, Paris. 


Ständige Gäste: 
Dr. Sophie Morgenstern. 
Dr. Sacha Nacht. 
Prince Hopkins, 
Dr. Rudolf Loewenstein 
Sekretär 


Russische Psychoanalytische Vereinigung 
IL. und IM. Quartal 1927 


19. Mai ı927. Prof. Kannabich: Über den Narzißmus. — Vor- 
tragender spürt den Anfängen der Idee des Narzißmus in der voranalytischen 
Epoche nach: in Mythos und Literatur, in vereinzelten Beobachtungen von 
Ärzten und Psychologen. In der Psychoanalyse hat der Begriff des Narzißmus 
eine gewisse Evolution durchgemacht, deren Etappen vom Vortragenden aus- 
führlich geschildert wurden. Die Grundlagen des Referats bildeten die Arbeiten 
von Jones, der vor kurzem erschienene Artikel von Havelock Ellis „The 
Conception of Nareissism” und eigene Beobachtungen des Vortragenden über 
die Frühstadien der Schizophrenie (Autoreferat). 

26. Mai 1927. Dr. Friedmann: Die Ambivalenz im manisch-depressiven 
Irresein. — Ausgehend von der Lehre der Vermischung und Entmischung beider 
Triebe behandelt der Vortragende die Schicksale der Ambivalenz nicht nur in 
der Melancholie, sondern auch in der Manie, die noch keine Lösung des ambi- 
valenten Konfliktes bildet. Eine Besonderheit des maniakalen Zustandes bildet, 
nach Vortragendem, die Abfuhr der Aggressivität nach außen, auf die fast 
unmittelbar oder gleichzeitig die kompensatorische Zärtlichkeit folgt. Im 
zykloiden Charakter sind beide Triebe vollständig verbunden (Autoreferat). 

16. August 1927. Geschäftliche Sitzung. 

ı5. September 1927. Wera Schmidt: Referat über den X. Internationalen 
Psa. Kongreß in Innsbruck. | 

3. November ı927. Frau Dr. Goltz: Beobachtungen während des Erd- 
bebens in der Krim. — Vortragende konstatiert starke Herabsetzung in der 
Kontrolle von seiten des Über-Ichs und Äußerung einer Reihe regressiver, 
infantiler Eigenschaften, nicht nur im Moment des Erdbebens, sondern auch 
später. Einige Personen reagierten auf die Gefahr überhaupt nicht. Bei Nach- 
fragen ergab sich ein unbewußter Todeswunsch, der mit schweren persön- 
lichen Erlebnissen zusammenhing. Außerdem wurden in mehreren Fällen 
Störungen im Gebiete der Wahrnehmung der Zeit konstatiert. 


Se 


Korrespondenzblatt 9295 





In der geschäftlichen Sitzung wird für die Dauer des Aufenthaltes des 
Präsidenten der Russischen Psa. Vereinigung Dr. M. Wulff in Berlin der 
Vorsitz dem Vizepräsidenten Prof. G. Kannabich übertragen. 

17. November ı927. Kleine Mitteilungen. ı) Frau Dr. Averbuch. Das 
Unbewußte in William James „The Varieties of religious experience.“ — In 
Anbetracht der sich immer mehrenden Versuche, Freuds Theorien in 
religiös-apologetischem Sinne zu mißbrauchen und der hohen theoretischen 
Bedeutung, welche in dieser Hinsicht der amerikanischen Schule zukommt, 
sucht Vortragende auf den krassen Gegensatz zwischen Freuds Auffassung 
des Unbewußten und derjenigen William James hinzuweisen und den daraus 
resultierenden Unterschied in der sozialen Wertung der religiösen Erlebnisse 
zu unterstreichen (Autoreferat). 

2) Wera Schmidt. Kinderträume. Vortragende teilt verschiedene 
Kinderträume mit, welche die in der Realität unerfüllten Wünsche als 
erfüllt zeigen. 

1. Dezember ı927.Prof. Kannabich. Über dieSymbolik. — Der Vortragende 
behandelt eingehend den Begriff des Symbols, berichtet über die neuesten 
Arbeiten, besonders über die experimentellen Träume (die Arbeiten von 
Roffenstein) und zeigt, daß die Symbolik, die für die Feinde der PsA. 
oft ein Stein des Anstoßes ist, bereits als entschieden bewiesen gelten darf, 
besonders das sexuelle Moment in der Symbolik (Autoreferat). 


Wera Schmidt 
Schriftführerin 


Wiener Psychoanalytische Vereinigung 
IV. Quartal 1927 


19. Oktober 1927. Generalversammlung. Programm: ı. Ambula- 
torium. Ref.: Dr. Hitschmann. 2. Lehrinstitut. Ref.: Fr. Dr. Deutsch. 
3. Kassebericht (Dr. Nepallek). 4. Mitgliedsbeitrag. z. Bericht über die 
Geschäftssitzung des Kongresses (Dr. Federn). 6. Absolutorium. 7. Neu- 
wahlen. In den Vorstand wurden gewählt: Prof. Freud, Obmann; Doktor 
Federn, ÖObmannstellvertreter; Dr. Jokl, Dr. Reik, Schriftführer; 
Dr. Nepallek, Kassier; Dr. Nunberg, Bibliothekar; Fr. Dr. Deutsch 
(als Vorsteherin des Lehrinstitutes); Dr, Hitschmann (als Leiter des 
Ambulatoriums); Dr. Reich (als Leiter des technischen Seminars). 8. Aktions- 
komitee (Ref.: Dr. Hitschmann, Dr Jokl). Der Antrag lautet auf 
Erweiterung des vor zwei Jahren gegründeten „Propagandakomitees“, dessen 
Arbeit auf innere Schwierigkeiten stieß. Zweck soll sein: Aufklärung der 
Ärzteschaft durch Organisation von Vorträgen in wissenschaftlichen Vereinen, 
durch Publikationen und Referate in medizinischen Zeitschriften, volkstümliche 
Aufklärungsarbeit. Zusammensetzung des Komitees: Fr. Dr. Bibring, Dr. Hart- 
mann, Dr. Hitschmann, Dr. Jokl, Dr. Winterstein, Dr. Wittels. 

2. November 1927. Diskussionsabend: Die Onanie. Dr. Federn: Ein- 
leitung. Zusammenfassung der bisherigen Anschauungen unter Berücksichtigung 
der Diskussionen in der „Vereinigung“ in den Jahren ıgıı/ı2 (Die Onanie. 
Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener Psychoanalytischen 





296 7 Korrespondenzblatt 

Vereinigung“. J. F. Bergmann ıgı2). Dr. Wittels: Zur Phylogenese der 
Onanie. Fr. Schaxel: Onanie in der frühen Kinderzeit. Dr. Hitsch- 
mann: Unterscheidung von Onanieformen. Änderungen in der Onanieauffassung. 
Dr. Steiner: Kritik der Onanieauffassungen, Onanietypen, Onaniephantasien. 
Dr. Reich: Das Problem der Onanie vom Standpunkt der psychoanalytischen 
Therapie (Schädlichkeit oder Nutzen der Onanie). Diskussion: Mme Marie 
Bonaparte, Eidelberg (a. G.). Federn, Nunberg. (Die Diskussionsbeiträge sind 
in einem Sonderheft der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ 
erschienen.) 

ı16. November ı927. Fortsetzung der ÖOnaniediskusion: Mme Marie 
Bonaparte, Eidelberg (a. G.), Federn, Jokl, Schaxel, Steiner, Wittels. Federn: 
Schlußwort. 

30. November ı927. Gastvortrag. Mme Marie Bonaparte: „Über 
Symbolik der Kopftrophäen.“ (Erschienen in Imago, Bd. XIV, Heft ı, 1928.) 

14. Dezember ı927. Vortrag Dr. Richard Sterba: „Psychoanalytische 
Bemerkungen zum Ausdruck des Naturgefühls bei Goethe.“ 

Am Ausdruck des Naturgefühls bei Goethe und anderen neueren Dichtern 
ist die Darstellung eines Zustandes oder Geschehens als Tätigkeit des 
dargestellten Objektes häufig zu beobachten. Dieser Darstellung als Tätigkeit 
— über die sprachliche Notwendigkeit hinaus — liegt eine weitgehende 
Identifizierung mit dem dargestellten Objekt zugrunde; auf dieser Erweiterung 
der Ichgrenzen in die Außenwelt beruht der Lustgewinn des Naturgefühls, 
die aus ihr resultierende „kosmische Motilität” ist möglich durch Regression 
auf die Phase der Allmacht der Gedanken. Psychologisch entspricht die 
Darstellung einer magischen Handlung. 

Geschäftliches. Zum ordentlichen Mitglied wurde gewählt das 
außerordentliche Mitglied Dr. Eduard Bibring, Wien, VIL, Siebenstern- 
gasse 31. 

* 

Das Lehrinstitut der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ (Wien, 
IX., Pelikangasse ı8) veranstaltete im Wintersemester 1927/28 die folgenden 
Ausbildungskurse: 

ı) Dr. E. Hitschmann: Traumlehre. ı2stündig. (Hörerzahl 26.) 

2) Dr. P. Federn: Technik der Psychoanalyse. 6stündig. (Hörerzahl 31.) 

z) Dr. W. Reich: Psychoanalytische Charakterlehre und Charakteranalyse. 
ıostündig. (Hörerzahl 29.) 

4) Prof. P. Schilder: Ich und Über-Ich bei Psychosen. ıo0stündig. 
(Hörerzahl 29.) 

s) Frau Dr. H. Deutsch: Spezielle Neurosenlehre. 6stündig. (Hörer- 
zahl 30.) 

6) Dr. R. Wälder: Psychoanalytisches Kolloquium. Semestralkurs. (Hörer- 
zahl 26.) 4 

Im Ambulatorium der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung : Seminar 
für Psychoanalytische Therapie. Leiter: Dr. W. Reich. Jeden zweiten 


Mittwoch. Dr. R. H. Jokl 


Schriftführer 





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Lotte Kirschhier: Aus der Analyse einer zwangsneurotischen Arbeitshemmung 33 = | 227° ER, 

M. Wulff: Bemerkungen über einige Ergebnisse bei einer Seelische > 
Untersuchung von Chauffeuren . 2. ns een. 237, . 


Otto Fenichel: Zur „Isolierung“ re anne ae el TEN DA. N air 





PSYCHOANALYTISCHE BEWEGUNG ee | Ba. 
Deutschland 249. — Österreich 249. — Spanien 250. — Schweden 251. — Schweiz 252. — ee 
Ungarn 252. — U. S. A. 252. 4 Kanada 255. Eee vn 
N REFERATE 

Se Aus den Grenzgebieten: ; 
Et.  Benussi, Zur. experimentellen Grundlegung hypnosuggestiver Methoden psychischer N 
SE . Analyse (Gerö) 255. — Pickworth-Farrow, Some notes on Behaviorism (Fenichel). 256. ER 4 
— Falke, Machtwille und Menschenwürde (Reich) 257. — Flach, Über symbolische | is | 
| Schemata im produktiven Denkprozeß (Wittels) 257. — Zeigarnik, Das Behalten von | TR Er 
5 erledigten und unerledigten Handlungen (Gero) 258. Ka 3 Be 
N“ Aus.der psychiatrisch-neurologischen Literatur: . 
Er 'Stekel, Fortschritte-der Sexualwissenschaftund Psychoanalyse Bd. II (Reich) 259. — S chmitt, ER } 
Atem und: Charakter (Fenichel) 266. — Alfven, Das Problem der Ermüdung (Bally) 267. — 3 
Maeder, Die Richtung im Seelenleben (Graber)‘ 267. — Zappert, Masturbation A 
(Eriedjung) 268. | | | Fe 


Aus der psychoanalytischen Literatur: | 

Alexander, Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit 9) Se — Rickman. 
Index Psychoanalyticus 18931926 (Rad6) 277. — Jung, Die Bedeutung des Vaters für Ag 
das Schicksal des Einzelnen (Fenichel) 278. — Piekworth-Farrow, On the psychological es: 


importance.’of Blows and Taps.in early Infancy (Fenichel) 278. — Chadwick, The ER 
Psychological Problem of the Foster Child (Autoreferat) 279. — Bryan, Scent n a. 2. 
Symptomatic Act (Fenichel). 280. ML RER URG 
Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften; | | u h 


III. allgemeiner ärztlicher Kongreß für en in. Baden-Baden (Gerö) DaB 


KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG 
J). Mitteilung der Internationalen Unterrichtskommission 282: — II)-Berichte ‘der Zweig- | 
vereinigüngen. American Psychoanalytical: Association 283. — British Psycho-Analytical ge 
Society 283. — Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 285. — ‚Indian Psychoanalytical, Sr 
Society. 286: — Magyarorszägi Pszichoanalitikai Egyesület 289. == Nederlandsche ‚Vereeniging A = 
voor. Psychoanalyse 290. — New York Psycho-Analytical Society 291. — Societe Psych- TR 
analytique de ‚Paris 291. — Russische eier I kai Vereinigung. 294, — "Wiener 
Psychoanalytische Vereinigung .295. | f 


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Copyright I928 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.” i Wien. « it “ 
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Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges.m.b.H., Wien, IL,Börsegasse 1. — H: usge 

Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien, Rlemdrehee 1, == I 

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Karl Wrba, Wien.)