INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
OFFIZIELLES ORGAN
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DR. SIGM. FREUD
REDIGIERT VON
DR. KARL ABRAHAM DR. S. FERENCZI
BERLIN | | BUDAPEST
DR. EDUARD HITSCHMANN ...DR. ERNEST JONES
WIEN ' "2. LONDON
DR. OTTO RANK
WIEN
UNTER STÄNDIGER MITWIRKUNG VON:
Dr. LUDWIG BINSWANGER, KREUZLINGEN. — DR. A. A, BRILL, New York. —
Dr. TRIGANT BURROW, BALTIMORR. — Dr. J. VAN EMDEN, HAAG. — Dr. M. EITINGON,
Berein. — De. PAUL FEDERN, WıEn. — Dr. H. v. HUG-HELLMUTH, Wien,
— Dr. L. JEKELS, Wıen. — PRror. FRIEDR. S, KRAUSS, WıEn. — De.J. T. MAC
CURDY, New. York. — Da. J. MARCINOWSKI, SıeLgeck: — ProF. MORICHAU-
BEAUCHANT, PoiTiers. — DR. J.H, W. VAN OPHUIJSEN, Haac. — Dr.C. R. PAYNE,
Wapnams, N. Y. — Dr. OSKAR PFISTER, ZüRIıcH. — Dr. THEODOR REIK, Wien.
. — Da.. A. W. VAN RENTERGHEM, AMSTERDAM. — Dr. HANNS SACHS, WIEN. — |
"Dr. .J. SADGER, WıEn. — De. A. STÄRCKE, Den Dorder. — Dr. VICTOR TAusK,
WıEn. — Dr. M.. WULFF, ÖODEssA.
V. JAHRGANG 1919.
HEFT 2 (APRIL).
22
‚INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG GES.M. B.H:
LEIPZIG UND WIEN, 1. GRÜNANGERGASSE 3—5
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e „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“
Br ee wie „Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psycho-
SAN. analyse auf die Geisteswissenschaften“, mit dem V. Jahrgang in |
iR ER den „Internationalen Psychoanalytischen Verlag Ges. m. b. H.“,. dessen . as
STERN | Sitz in Wien, I. Grünangergasse 3—5, ist, übernommen. ‚Die bisherige NEON
REN ‚Verlagsfirma Hugo Heller & Cie,, Wien, I. Bauernmarkt 3, die sich um
Ale BEATS den Bestand der beiden neh Meitschriiien, namentlich in. der
RR | schwierigen Kriegszeit, ein anerkennenswertes Verdienst erworben . hat,
Bi behält zunächst auch weiterhin die Auslieferung der im „Internationalen
Yal@ er 2 Psychoanalytischeni Verlag Ges, m. b. H.“ erscheinenden Aeitschriften an
BER den inländischen Buchhandel, Für Deutschland liefert das Kommissions-
geschäft F. Volekmar in Leipzig aus, dem. vorläufig auch die. Auslieferung
N für das neutrale Ausland übertragen ist, el
ee, Die „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“ Srscheraf‘
5 ebenso wie „Imago“ 4Amal jährlich im Gesamtumfang von mindestens
S% | 94 Druckbogen zum Jahrespreis von K 40. = M. 25.— für jede der
N ye | beiden Zeitschriften. Die Mitglieder der „Internationalen Psychoanalytischen. |
a OR LESE Vereinigung“ erhalten bei direktem Bezuge durch den Verein die beiden han
RER OR | Zeitschriften zusammen zum ermäßigten a afehreepgen von ER
r ER K 75.— = M. 50.— geliefert. unsba PS
Ri EA Der vorläufige Mindestumfang von 24 Druckbogen für: ji RER
SEEN, | der beiden psychoanalytischen Zeitschriften soll nach Möglichkeit im
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DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Originalarbeiten.
I.
Wege der psychoanalytischen Therapie.
Von Sigm. Freud.
(Rede gehalten auf dem V. psychoanalyt. Kongreß in Budapest, September 1918.)
Meine Herren Kollegen!
Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und Abge-
schlossenheit unseres Wissens und Könnens: wir sind, wie früher so auch
jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben,
Neues dazuzulernen und an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch
Besseres ersetzen läßt.
Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der Trennung
wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es mich, den Stand unserer
Therapie zu revidieren, der wir ja unsere Stellung in der menschlichen
Gesellschaft danken, und Ausschau zu halten, nach welchen neuen Rich-
tungen sie sich entwickeln könnte.
Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den neurotisch
Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden unbewußten, verdrängten
Regungen zu bringen und zu diesem Zwecke die Widerstände aufzu-
decken, die sich ın ihm gegen solche Erweiterung seines Wissens von
der eigenen Person sträuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Wider-
stände auch deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber
wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Übertragung auf
die Person des Arztes ausnützen, um unsere Überzeugung von der Un-
zweckmäßigkeit der in der Kindheit vorgefallenen Verdrängungsvorgänge
und von der Undurchführbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu
der seinigen werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des neuen
Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den wir an die Stelle des
früheren Krankheitskonflikts bei ihm gesetzt haben, sind von mir an
anderer Stelle klargelegt worden. Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern.
Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken das verdrängte Seelische
in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir Psychoanalyse genannt.
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyer, VR.,
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
62 Sigm, Freud.
Warum „Analyse“, was Zerlegung, Zersetzung bedeutet und an eine
Analogie mit der Arbeit des Chemikers an den Stoffen denken läßt, die
er in der Natur vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine
solche Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die Sym-
ptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind wie alle seine
seelischen Tätigkeiten hochzusammengesetzter Natur; die Elemente dieser
Zusammensetzung sind im letzten Grunde Motive, Triebregungen. Aber
der Kranke weiß von diesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr
Ungenügendes. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hoch-
komplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die Symptome auf
die sie motivierenden Triebregungen zurück, weisen diese dem Kranken
bisher unbekannten Triebmotive in den Symptomen nach, wie der Che-
miker den Grundstoff, das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet,
in dem es in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich geworden
war. Und ebenso zeigen wir dem Kranken an seinen nicht für krankhaft
gehaltenen seelischen Äußerungen, daß ihm deren Motivierung nur unvoll-
kommen bewußt war, daß andere Triebmotive bei ihnen mitgewirkt
haben, die ihm unerkannt geblieben sind,
Auch das Sexualstreben der Menschen haben wir erklärt, indem
wir es in seine Komponenten zerlegten, und wenn wir einen Traum
deuten, gehen wir so vor, daß wir den Traum als Ganzes vernachlüssigen
und die Assoziation an seine einzelnen Elemente anknlipfen.
Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psychoanalytischen
Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte sich nun eine Anregung
zu einer neuen Richtung unserer Therapie ergeben. Wir haben den
Kranken analysiert, d. h. seine Seelentätigkeit in ihre elementaren
Bestandteile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm auf-
gezeigt; was läge nun näher als zu fordern, dab wir ihm auch bei einer
neuen und besseren Zusammensetzung derselben behilflich sein müssen ?
Sie wissen, diese Forderung ist auch wirklich erhoben worden. Wir haben
gehört: Nach der Analyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese
desselben folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis geknüpft,
man könnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese geben, und das Be-
streben, das Hauptgewicht der psychotherapeutischen Einwirkung auf
diese Synthese, eine Art Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivi-
sektion Zerstörten zu verlegen.
Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns in dieser
Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwächst. Wollte ich mir gestatten,
aufrichtig und unhöflich zu ‚sein, so würde ich sagen, es handelt sich
da um eine gedankenlose Phrase. Ich bescheide mich zu bemerken, dab
nur eine inhaltsleere Überdehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen,
eine unberechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber ein
Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von anderem, ähnlichem,
Wege der psychoanalytischen Therapie. 63
angebracht, kein Programm, keine Inhaltsangabe oder Definition, Und ein
Vergleich braucht das Verglichene nur an einem Punkte zu tangieren
und kann sich in allen anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische
ist etwas so einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Vergleich seine
Natur wiedergeben kann. Die psychoanalytische Arbeit bietet Analogien
mit der chemischen Analyse, aber eben solche mit dem Eingreifen des
Chirurgen oder der Einwirkung des Orthopäden oder der Beinflussung des
lirziehers. Der Vergleich mit der chemischen Analyse findet seine Be-
grenzung darin, daß wir es im Seelenleben mit Strebungen zu tun haben,
die einem Zwang zur Vereinheitlichung und Zusammenfassung unterliegen.
Ist es uns gelungen, ein Symptom zu zersetzen, eine Triebregung aus
einem Zusammenhange zu befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern
tritt: sofort in einen neuen ein.!)
Ja im Gegenteile! Der neurotisch Kranke bringt uns ein zerrissenes,
durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben entgegen, und während wir
daran analysieren, die Widerstände beseitigen, wächst dieses Seelenleben
zusammen, fügt die große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die
Triebregungen ein, die bisher von ihm abgespalten und abseits gebunden
waren, So vollzieht sich bei dem analytisch Behandelten die Psycho-
synthese ohne unser Eingreifen, automatisch und unausweichlich. Durch
die Zersetzung der Symptome und die Aufhebung der Widerstände haben
wir die Bedingungen für sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas in
dem Kranken in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun rubig darauf
wartet, bis wir es irgendwie zusammensetzen.
Die Entwicklung unserer Therapie wird also wohl andere Wege
einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Ferenczi in seiner Arbeit
über „Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse“ (Nr, 1 dieses
Jahrganges unserer Zeitschrift) als die „Aktivität“ des Analytikers
gekennzeichnet hat.
Einigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu verstehen ist,
Wir umschrieben unsere therapeutische Aufgabe durch die zwei Inhalte:
Bewußtmachen des Verdrängten und Aufdeckung der Widerstände. Dabe;
sind wir allerdings aktiv genug. Aber sollen wir es dem Kranken über-
lassen, allein mit den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu werden ?
Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten, als er durch den Antrieb
der Übertragung erfährt ? Liegt es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch
dadurch zu helfen, daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen,
welche für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste ist,
Seine Leistung ist doch auch abhängig von einer Anzahl von äußerlich
‘) Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas ganz Ähnliches,
Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker erzwingt, vollziehen sich von ihm
ungewollte Synthesen dank der freigewordenen Affinitäten und der Wahlverwandtschaft
der Stoffe.
-
A*
. 64 Sigm, Freud.
konstellierenden Umständen. Sollen wir uns da bedenken, diese Kon-
stellation durch unser Eingreifen in geeigneter Weise zu verändern? Ich
meine, eine solche Aktivität des analytisch behandelnden Arztes ist
einwandfrei und durchaus gerechtfertigt.
Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet der analy-
tischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung eingehende Bemühung
erfordern und ganz bestimmte Vorschriften ergeben wird. Ich werde
heute nicht versuchen, Sie in diese noch in Entwicklung begriffene
Technik einzuführen, sondern mich damit begnügen, einen Grundsatz
hervorzuheben, dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete
zufallen wird, Er lautet: Die analytische Kur soll, soweit es
möglich ist, in der Entbehrung — Abstinenz — durch-
geführt werden.
Wie weit es möglich ist, dies festzustellen, bleibe einer detaillierten
Diskussion überlassen, Unter Abstinenz ist aber nicht die Entbehrung
einer jeglichen Befriedigung zu verstehen, — das wäre natürlich undurch-
führbar — auch nicht, was man im populären Sinne darunter versteht,
die Enthaltung vom sexuellen Verkehr, sondern etwas anderes, was mit
der Dynamik der Erkrankung und der Herstellung weit mehr zu tun hat.
Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war, die den Pa-
tienten krank gemacht hat, daß seine Symptome ihm den Dienst von
Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können während der Kur beobachten,
daß jede Besserung seines Leidenszustandes das Tempo der Herstellung
verzögert und die Triebkraft verringert, die zur Heilung drüngt. Auf diese
Triebkraft können wir aber nicht verzichten ; eine Verringerung derselben
ist für unsere Heilungsabsicht gefährlich. Welche Folgerung drängt sich
uns also unabweisbar auf? Wir müssen, so grausam os klingt, dafür
sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgend einem wirksamen Maße
kein vorzeitiges Ende finde, Wenn es durch die Zersetzung und Ent-
wertung der Symptome ermäßigt worden ist, müssen wir es irgendwo
anders als eine empfindliche Entbehrung wieder aufrichten, sonst laufen
wir Gefahr, niemals mehr als bescheidene und nicht haltbare Besserungen
zu erreichen,
Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei Seiten.
Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durch die Analyse erschüttert
worden ist, aufs emsigste bemüht, sich an Stelle seiner Symptome neue
Ersatzbefriedigungen zu schaffen, denen nun der Leidenscharakter abgeht.
Er bedient sich der großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil frei
gewordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vorlieben, Ge-
wohnheiten, auch solche, die bereits früher bestanden haben, mit Libido
zu besetzen und sie zu Ersatzbefriedigungen zu erheben, Er findet immer
wieder neue solche Ablenkungen, durch welche die zum Betrieb der Kur
erforderte Energie versickert, und weiß sie eine Zeitlang geheim zu
Wege der psychoanalytischen Therapie. 65
halten, Man hat die Aufgabe, alle diese Abwege autzuspüren und jedesmal
von ihm den Verzicht zu verlangen, so harmlos die zur Befriedigung
führende Tätigkeit auch an sich erscheinen mag. Der Halbgeheilte kann
aber auch minder harmlose Wege einschlagen, z. B. indem er, wenn ein
Mann, eine voreilige Bindung an ein Weib aufsucht. Nebenbei bemerkt,
unglückliche Ehe und körperliches Siechtum sind die gebräuchlichsten
Ablösungen der Neurose, Sie befriedigen insbesondere das Schuld-
bewußtsein (Strafbedürfnis), welches viele Kranke so zähe an ihrer
Neurose festhalten läßt. Durch eine ungeschickte Ehewahl bestrafen sie
sich selbst; langes organisches Kranksein nehmen sie als eine Strafe des
Schicksals an und verzichten dann häufig auf eine Fortführung der Neurose,
Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situationen als
energisches Einschreiten gegen die voreiligen Ersatzbefriedigungen äußern.
Leichter wird ihm aber die Verwahrung gegen die zweite, nicht zu unter-
schätzende Gefahr, von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird.
Der Kranke sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst
im Übertragungsverhältnis zum Arzt und kann sogar danach streben,
sich auf diesem Wege für allen ihm sonst auferlegten Verzicht zu ent-
schädigen. Einiges muß man ihm ja wohl gewähren, mehr oder weniger,
je nach der Natur des Falles und der Eigenart des Kranken. Aber es
ist nicht gut, wenn es zuviel wird, Wer als Analytiker etwa aus der
Fülle seines hilfsbereiten Herzens dem Kranken alles spendet, was ein
Mensch vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben ökonomischen
Fehler, dessen sich unsere nicht analytischen Nervenheilanstalten schuldig
machen. Diese streben nichts anderes an, als es dem Kranken möglichst
angenehm zu machen, damit er sich dort wohlfühle und gerne wieder
dorthin aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht nehme. Dabei
verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker, für seine eigentlichen
Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In der analytischen Kur muß jede
solche Verwöhnung vermieden werden. Der Kranke soll, was sein Ver-
hältnis zum Arzt betrifit, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten,
Es ist zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die er
am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert.
Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten Aktivität
des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die Entbehrung aufrecht zu
halten, erschöpft habe. Eine andere Richtung der analytischen Aktivität
ist, wie Sie sich erinnern werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen
uns und der Schweizer Schule gewesen, Wir haben es entschieden
abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsre Hand begibt,
zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm
unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu
unserem Kbenbild, an dem wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten.
Ich halte an dieser Ablehnung auch heute noch fest und meine, dab
rn EEE = En nn Er ii (le A u NEE nn ch ee CH u De ." __ VEBRRNBee 1 > Zur 2 =
66 Sigm. Freud.
hier die Stelle für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns in anderen
Beziehungen hinwegsetzen müssen, habe auch erfahren, daß eine so weit
gehende Aktivität gegen den Patienten für die therapeutische Absicht
gar nicht erforderlich ist. Denn ich habe Leuten helfen können, mit denen
mich keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stellung
und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigenart zu stören. Ich
habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten, allerdings den Kindruck
empfangen, daß der Einsprach unserer Vertreter — ich glaube, es war in
erster Linie E. Jones — allzu schroff und unbedingt ausgefallen ist.
Wir können es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die
so haltlos und existenzunfähig sind, daß man bei ihnen die analytische
Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muß, und auch bei den
meisten anderen wird sich hie und da eine Gelegenheit ergeben, wo der
Arzt als Erzieher und Ratgeber aufzutreten genötigt ist. Aber dies soll
jedesmal mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht zur
Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen
Wesens erzogen werden, >
Unser verehrter Freund J. Putnam in dem uns jetzt so feindlichen
Amerika muß es uns verzeihen, wenn wir auch seine Forderung nicht
annehmen können, die Psychoanalyse möge sich in den Dienst einer
bestimmten philosophischen Weltanschauung stellen und diese dem
Patienten zum Zwecke seiner Veredlung aufdrängen. Ich möchte sagen,
dies ist doch nur Gewaltsamkeit, wenn auch durch die edelsten Absichten
gedeckt.
Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns durch die
allmählich wachsende Einsicht aufgenötigt, daß die verschiedenen Krank-
heitsformen, die wir behandeln, nicht durch die nämliche Technik erledigt
werden können. Es wäre voreilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber
an zwei Beispielen kann ich erläutern, inwiefern dabei eine neue
Aktivität in Betracht kommt. Unsere Technik ist an der Behandlung
der Hysterie erwachsen und noch immer auf diese Affektion eingerichtet.
Aber schon die Phobien nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten
kinauszugehen. Man wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet,
bis sich der Kranke durch die Analyse bewegen läßt, sie aufzugeben. Er
bringt dann niemals jenes Material in die Analyse, das zur überzeugenden
Lösung der Phobie unentbehrlich ist. Man muß anders vorgehen, Nehmen
Sie das Beispiel eines Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen,
eine leichtere und eine schwerere, Die ersteren haben zwar jedesmal
unter der Angst zu leiden, wenn sie allein auf die Straße gehen, aber
sie haben darum das Alleingehen noch nicht aufgegeben; die anderen
schützen sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten.
Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den
Einfluß der Analyse bewegen kann, sich wieder wie Phobiker des ersten
Wege der psychoanalytischen Therapie. 67
Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen und während dieses
Versuchs mit der Angst zu kämpfen. Man bringt es also zunächst dahin,
die Phobie soweit zu ermäßigen, und erst wenn dies durch die Forderung
des Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und Erinnerungen
habhaft, welche die Lösung der Phobie ermöglichen.
Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten bei den
schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im allgemeinen zu einem
„asymptotischen“ Heilungsvorgang, zu einer unendlichen Behandlungs-
dauer neigen, deren Analyse immer in Gefahr ist, sehr viel zu Tage zu
fördern und nichts zu ändern. Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die
richtige Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis die Kur
selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem Gegenzwang den
Krankheitszwang gewaltsam zu unterdrücken, Sie verstehen aber, daß
ich Ihnen in diesen zwei Fällen nur Proben der neuen Entwicklungen
vorgelegt habe, denen unsere Therapie entgegengeht.
Und nun möchte ich zum Schlusse eine Situation ins Auge fassen,
die der Zukunft angehört, die vielen von Ihnen phantastisch erscheinen
wird, die aber doch verdient, sollte ich meinen, daß man sich auf sie
in Gedanken vorbereitet. Sie wissen, daß unsere therapeutische Wirk-
samkeit keine sehr intensive ist. Wir sind nur eine Handvoll Leute, und
jeder von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem Jahr
nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen das Übermaß von
neurotischem Elend, das es in der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben
braucht, kommt das, was wir davon wegschaffen können, quantitativ
kaum in Betracht. Außerdem sind wir durch die Bedingungen unserer
Existenz auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft ein-
geschränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei dieser Wahl
durch alle Vorurteile von der Psychoanalyse abgelenkt werden. Für die
breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden,
können wir derzeit nichts tun. |
Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Organisation
gelänge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren, daß wir zur Behandlung
von größeren Menschenmassen ausreichen. Anderseits läßt sich vorher-
sehen: Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und
sie mahnen, daß der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfe-
leistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. Und dab
die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder bedrohen als die Tuber-
kulose und ebensowenig wie diese der ohnmächtigen Fürsorge des Ein-
zelnen aus dem Volke überlassen werden können, Dann werden also
Anstalten oder Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psycho-
analytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich
sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der
Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die Kinder, denen nur die Wabl
0 Lg Zu u ee E ME EL um Hi m m ie
68 Sigm, Freud: Wege der psychoanalitischen Therapie,
zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse wider-
stands- und leistungsfähig zu erhalten. Diese Behandlungen werden
unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten
als dringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen den
Termin noch länger hinausschieben, es ist wahrscheinlich, daß private
Wohltätiekeit mit solchen Instituten den Anfang machen wird ; aber
irgend einmal wird es dazu kommen müssen.
Dann wird sich für uns dıe Aufgabe ergeben, unsere Technik den
‚neuen Bedingungen anzupassen. Ich zweifle nicht daran, daß die Trif-
tigkeit unserer psychologischen Annahmen auch auf den Ungebildeten
Eindruck machen wird, aber wir werden den einfachsten und greifbarsten
Ausdruck unserer theoretischen Lehren suchen müssen, Wir werden
wahrscheinlich die Erfahrung machen, daß der Arme noch weniger zum
Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil das schwere
Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und das Kranksein ihm einen
Anspruch mehr auf soziale Hilfe bedeutet. Möglicherweise werden wir
oft nur dann etwas leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung
mit materieller Unterstützung nach Art des Kaisers Josef vereinigen
können. Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der
Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich
mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die
hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegs-
neurotiker wieder eine Stelle finden, Aber wie immer sich auch diese
Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich
zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile
werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psycho-
analyse entlehnt worden sind.
1.
Über analerotische Charakterzüge.
Von Dr. Ernest Jones (London). ')
(Übersetzt von Anna Freud.)
Vielleicht das überraschendste Ergebnis der Forschungen Freuds,
und gewiß dasjenige, das dem stärksten Unglauben und dem lebhaftesten
Widerstand begegnet ist, war die Entdeckung, daß gewisse Charakter-
züge durch das Auftreten sexueller Erregungen der Afterzone in der
frühesten Kindheit tiefgreifende Veränderungen erfahren können. Daß
jeder diese Behauptung beim ersten Hören als unfaßbar und grotesk
empfindet, zeigt uns, wie stark unser bewußtes Denken dem Unbewußten
entfremdet ist; denn ihre Wahrheit kann niemand, der sich ernsthaft
mit psychoanalytischen Untersuchungen beschäftigt hat, in Zweifel ziehen.
Zwei biologische Erwägungen, von denen sich die eine auf das
ontogenetische, die andere auf das phylogenetische Alter des in Rede
stehenden physiologischen Prozesses bezieht, sollten übrigens der oben
angeführten Behauptung, wenn nicht Beweiskraft, so doch einen Anstrich
von Wahrscheinlichkeit verleihen. Die eine lehrt uns, daß der Akt der
Defäkation während des ersten Lebensjahres das eine der beiden
großen Lebensinteressen des Säuglings ausmacht. Da es die Grundlehre
der genetischen Psychologie ist, dab alle späteren Neigungen und Inter-
essen stark von den zeitlich früheren beeinflußt werden, so sollte uns
das zu denken geben. Dem läßt sich auch an die Seite stellen, dab,
außer bei den Menschen, bei allen Tieren die Funktion der Nahrungs-
aufnahme konstant in den Mittelpunkt des Interesses gerückt erscheint.
Die andere Erwägung weist uns darauf hin, daß viele Sexualvorgänge
und Organe sich, beim Individuum wie auch bei der Rasse, aus den der
Exkretion dienenden entwickelt haben und ihnen in großen Zügen nach-
gebildet scheinen; so werden zum Beispiel bei den niederen Tieren —
teilweise sogar beim Menschen — für beide Funktionen die gleichen
Ausführungsgänge verwendet. Es sollte uns daher nicht allzusehr
‘) Veröffentlicht im Journal of Abnormal Psychology, vol. XIII, abgedruckt in
des Verfassers „Papers on Psycho-Analysis“ 24 ed. 1918.
TO Dr. Ernest Jones.
überraschen, daß die primordiale Exkretionsfunktion mit ihrer tief ein-
gewurzelten Beziehung zur Sexualität auch auf die geistige Entwicklung
starke Wirkungen ausübt.
Ich sollte meiner Arbeit logischerweise eine Darstellung der Analerotik
im besonderen und der Frage der kindlichen Sexualität im allgemeinen
voranschicken, doch sind heute in der Literatur so zahlreiche Er-
örterungen und Erläuterungen dieses Themas zu finden, daß ich mich
hier wohl kurz fassen kann. Die wichtigsten Tatsachen, die von der
Psychoanalyse aufgedeckt wurden, sind die folgenden : In der Schleim-
haut, mit der After und Darmkanal ausgekleidet sind, kann ebenso
wie in den Schleimhäuten der Mundhöhle durch einen entsprechen-
den Reiz sexuelle Erregung ausgelöst werden. Daß die Stärke der
Erregung von der Stärke des auslösenden Reizes abhängt, macht
sich schon der Säugling häufig zu nutze, der gelegentlich die Darm-
entleerung eigensinnig aufschiebt, um dadurch den Lustgewinn bei der
Defäkation zu erhöhen; eine Gewohnheit, diein späteren Jahren leicht zu
chronischer Stuhlverstopfung führen kann. Die aufsolchen Wegen gewonnene
Lust wird gewöhnlich schon in zartem Alter so vollkommen verdrängt,
daß die meisten Erwachsenen gar nicht mehr im stande sind, aus Reizungen
der Afterzone einen Lustgewinn zu ziehen; immerhin gibt es noch eine
ganze Anzahl von Menschen, die diese Fähigkeit behalten haben. Die
psychische Energie, die auf die mit der Afterzone zusammenhängenden
Wünsche und Erregungen verwendet wurde, wird fast vollständig in
andere Richtungen gelenkt und führt schließlich zu den Sublimierungen
und Reaktionsbildungen, mit denen ich mich hier beschäftigen will. Es
ist nicht meine Absicht, mich bier weiter in die Verschiedenheiten der
analerotischen Betätigungen einzulassen oder ihre Bedeutung für die Er-
ziehung, für die psychoneurotische Symptombildung und für das Studium der
Perversionen zu berühren. Jedes einzelne dieser Gebiete würde bei eingehender
Behandlung einen beträchtlichen Raum für sich in Anspruch nehmen,
In dem Aufsatz, in dem uns Freud!) ursprünglich seine Beob-
achtungen und Schlüsse über dieses Thema mitteilte, beschränkte er sich
darauf, die drei Charakterzüge aufzuzeigen, die regelmäßig in Verbindung
mit stark entwickelter Analerotik zu finden sind, nämlich Ordentlichkeit,
Sparsamkeit und Eigensinn. Sie stellen die Trias der wichtigsten anal-
erotischen Charaktereigenschaften dar, zu denen dann Sadger und ich
noch andere hinzufügen konnten. Da sie bisher noch in keiner syste-
matischen Übersicht zusammengefaßt sind, will ich hier den Versuch
machen, sie einzeln wie auch in ihren Wechselbeziehungen untereinander,
darzustellen. Wie es unserer Erwartung entspricht, sind einzelne von
ı, Freud, „Charakter und Analerotik*, Psychiatrisch-Neurologische Wochen-
schrift, 1908; neu abgedruckt in seiner „Sammlung kleiner Schriften zur Nourosen-
lehre* zweite Folge, 1909 Nr, IV.
Über analerotische Uharakterzüre. 71
ibnen positiver Art, nämlich Sublimierungen, einfach Ablenkungen von
ihrem ursprünglichen Ziel; andere hingegen negatıv, Reaktionsbildungen,
die als Schutzwälle aufgerichtet wurden, um die unterdrückten Nei-
gungen in ihrer Verdrängung zu erhalten,
Blüher!) möchte einen Unterschied zwischen Detäkationserotik,
Erotik in Beziehung auf den Defäkationsvorgang, und Analerotik, in Be-
ziehung auf andere Betätigung an der Afterzone (Masturbation, Päd-
erastie) getroffen wissen. Seiner Behauptung, daß erstere Immer auto-
erotisch ist, wird aber durch den Inhalt mancher Perversionen wider-
sprochen. Da anderseits alle mit der Afterzone zusammenhängenden
alloerotischen Erscheinungen letzten Endes von „Defäkationserotik“ her-
zuleiten sind, halte ich es für überflüssig, eine besondere Bezeichnung
dafür einzuführen, Doch kann es von Nutzen sein, zwischen den ver-
schiedenen Erscheinungsformen der ursprünglich autoerotischen Analerotik
zu unterscheiden. Man kann nämlich das Interesse (mit den daraus
resultierenden Eigenschaften) an dem Defäkationsvorgang selber von dem
Interesse an den Exkreten, dem Produkte dieses Vorganges trennen.
Nur kann man die Trennungslinie zwischen diesen Charaktereigenschaften
nicht scharf ziehen, da bei manchen von ihnen sowohl das eine wie das
andere eine Rolle spielt. Wenn wir die Freudsche Trias als Beispiel
nehmen, so müssen wir zweifellos ıen Eigensinn der ersten und die
Ordentlichkeit der zweiten Gruppe zuweisen; die Sparsamkeit dagegen
scheint von Einflüssen beider gespeist zu werden, Vertiefen wir uns dann
noch eingehender in die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen
Eigenschaften, so begegnen wir einer weiteren Zusammengesetztheit. Die
Ördentlichkeit beispielsweise kann in eine eigensinnige Pedanterie der
Pflichterfüllung übergehen, die wieder der ersten Gruppe zuzuschreiben
wäre, Trotzdem glaube ich, daß man bei einer wenn auch oberflächlichen
Unterscheidung der beiden Erscheinungsformen der Analerotik an Klar-
heit gewinnen müßte.
Wenn wir das Verhalten des Kindes bei der Defäkation und dessen
Einfluß auf die Charakterentwicklung ins Auge fassen, so fallen uns mit
wechselnder Deutlichkeit zwei typische Züge auf: erstens das Bemühen
des Kindes, aus der Entleerung so viel Lust als möglich zu gewinnen,
zweitens seine Anstrengungen, im Gegensatze zu den Erziehungswünschen
seiner Umgebung, das Selbstbestimmungsrecht darüber zu bewalıren.
Der ersten Absicht zuliebe wird die Defäkation, solange es geht,
hinausgeschoben; es kommt sogar vor, daß Kinder niederhocken und
die Schlußkraft des Afters, solange es irgend möglich ist, mit dem
Fuß unterstützen, um die Darmentleerung dann unter gespannter Aul-
merksamkeit und ärgerlicher Zurückweisung aller störenden Einflüsse
‘) Hans Blüher, „Studien über den perversen Charakter“, Zentralblatt für
Psvchoanalyse, Jahrg. IV S. 13,
12 Dr. Ernest Jones,
vor sich gehen zu lassen. Sadger') weist darauf hin, wie sich dieses
Benehmen im späteren Charakter der Erwachsenen widerspiegelt. Aus
solchen Kindern werden im Leben gewöhnlich große Zauderer; sie ver-
schieben und verzögern jedes ihrer Vorhaben bis zur letzten Minute,
Dann stürzen sie sich mit ungemessener und wilder Energie in die Arbeit,
während der sie jeden störenden Einspruch mit Unwillen von sich weisen,
Überhaupt scheint eine überstarke Empfindlichkeit für Einmischung
anderer ein charakteristisches Merkmal für diesen Typus von Menschen
zu sein, besonders dann, wenn die angespannte Aufmerksamkeit durch
die Wichtigkeit der Beschäftigung nicht gerechtfertigt wird. Dazu kommt
noch das unbeirrte Beharren bei einem einmal begonnenen Unternehmen,
ohne Rücksicht darauf, in welches Licht dessen Bedeutung durch später
hinzutretende Umstände gerückt erscheint, Der Verkehr mit solchen
Menschen ist oft ein sehr schwieriger. Es ist ebenso mühsam, sie zu
einer bestimmten Handlungsweise zu bewegen, als sie gegebenenfalls
wieder davon abzubringen. Sie sind immer begriffstützig und geistig
schwerfällig. Haben sie sich einmal eines Themas bemächtigt, so lassen
sie sich endlos darüber aus, ohne daß es einem möglich wäre, sie zu
unterbrechen oder selber ein Wort einzuschieben ; jeder derartige Ver-
such wird kurzerhand ignoriert oder ärgerlich abgewiesen. Dabei können
all diese Eigenschaften für ihre Träger auch von großem Werte sein, da
die Gründlichkeit und Ausdauer ihrer Arbeit sich oft durch lirfolge
belohnt. Sie sind wie niemand anderer im stande, sich durch Schwierig-
keiten einen Weg zu bahnen und unübersteiglich scheinende Hindernisse
zu beseitigen. Diese Beharrlichkeit steht oft in enger und gleichmäßiger
Beziehung zur Pedanterie wie zum Eigensinn. — Betrachten wir einmal
das Verhalten eines solchen Menschen, wenn irgend eine Aufgabe an ihn
herantritt, sei es nun die Vorbereitungen für eine Gesellschaft oder das
Schreiben eines Artikels. Er verfällt zuerst in brütende Überlegung,
während der seine Pläne langsam und halb unbewußt reifen und jeder
Versuch seiner Umgebung den Entschluß zu beschleunigen, ihn nur ver-
wirrt und erregt, Er schiebt, im Gegenteil, die vorbereitenden Schritte
so lange hinaus, daß die Umwelt daran verzweifelt, daß überhaupt noch
etwas rechtzeitig geschehen wird. Dann geht er plötzlich zu fieberhaft
angespannter Tätigkeit über und verwirklicht sein Programm bis ins
kleinste. Die eigensinnige Unabhängigkeit, die er so in seinem ganzen
Verhalten beweist, kommt auch noch in einem anderen interessanten Zug
zum Ausdruck, nämlich in der Überzeugung, daß niemand anderer der
Aufgabe auch nur annähernd so wie er gewachsen wäre, Dieses Gefühl
hindert ihn daran, sich bei der Arbeit unterstützen zu lassen, und zwingt
ihn, sich — damit sie tadellos ausgeführt werde -— um alles, was damit
zusammenhängt, selber zu kümmern. Solche Menschen sind deshalb in
') Sadger, „Analerotik und Analcharakter“, Die Heilkunde, 1910, S. 43.
Über analerotische Charakterzüge. 13
einer Arbeitsgemeinschaft fast unmöglich, denn wenn sie auch gelegent-
lieh ungeheure Arbeitsleistungen vollbringen (Napoleon), so sind sie
anderseits wieder Arbeitshemmungen unterworfen, während deren gar
nichts vor sich gehen kann; denn sie weigern sich hartnäckig, selbst die
dringendsten Geschäfte Hilfskräften zu übertragen. Die Geschichte gibt
uns zahlreiche Beispiele von Männern dieser Art (ich kann hier wieder
Napoleon nennen), die eine umfassende Organisation geschaffen haben,
ein System, das tadellos funktionierte, solange sein Urheber mit
unermüdlicher Tatkraft jedes Detail selber erledigte, das aber mit
dessen Untätigkeit sofort in sich zusammenfiel. Da er sich alle verant-
wortungsvolle Arbeit immer selber vorbehalten hatte, war es keinem
anderen möglich gewesen, sich dafür zu befähigen. Die Verwandtschaft
der zuletzt hervorgehobenen Erscheinung mit Narzißmus und Größen-
wahn verdient unsere Beachtung. Wir werden bei der Besprechung
anderer Erscheinungsformen des analerotischen Charakters noch von ihr
zu reden haben.
Es ist erstaunlich, wie viele Betätigungen dem Unbewußten als
Symbole für den Defäkationsvorgang dienen können und dadurch unter
den Einfluß etwa vorhandener analerotischer Charakterzüge geraten, Wir
können besonders drei Gruppen davon unterscheiden. Erstens Aufgaben,
denen ein spezielles Gefühl des pflichtmäßigen oder des Müssens an-
haftet, gewöhnlich also moralische Verpflichtungen. Der krankhafte
Zwang, gewisse Dinge unbedingt auf die eine „richtige“ Art auszuführen,
stammt größtenteils aus dieser Quelle. Das Gefühl des Müssens wird
überwältigend, für Vernunftgründe unzugänglich, und verhindert jede
vorurteilslose und objektive Betrachtungsweise; es gibt überhaupt nur
eine mögliche Erledigung der Angelegenheit und an der darf nicht
gerückt und gedeutelt werden. Zu der zweiten Gruppe gehören alle be-
sonders unangenehmen und langweiligen Arbeiten, gegen die deshalb
schon von vornherein ein Gegenwille besteht. Diese Gruppe fließt mit
der ersten zusammen, wenn die moralische Verpflichtung lästiger und
unangenehmer Art ist. Eine typische Unterabteilung davon bilden die
lästigen kleinen Pflichten des täglichen Lebens, wie das Aufräumen von
Schubladen, das Ausstauben von Schränken, das Schreiben von Tage-
buchnotizen oder pflichtmäßigen täglichen Berichten, Die beiden letzt-
genannten führen uns zu der dritten Gruppe von Tätigkeiten, die mit
irgend einem unbewußten Kotsymbol zusammenhängen müssen, Mehrere
von diesen werde ich noch später zu erwähnen haben und will hier nur
einige anführen: jede Art von Schmutz oder Staub, alles was mit Papier
zu tun hat, jede Art von Abfall, und das Geld. Bei all den genannten
Tätigkeiten wird die oben beschriebene Abwechslung von Hemmung und
Zaudern mit fieberhafter Tätigkeit deutlich, So verschiebt z. B.
eine Hausfrau mit einem stark betonten analen Komplex lange Zeit eine
14 Dr, Ernest Jonen».
notwendige Pflicht wie etwa das Ausstauben und Aufräumen einer
Rumpelkammer, stürzt sich dann aber mit leidenschaftlicher Tatkraft in
die Arbeit und bringt sie, eventuell unter Vernachlässigung wichtigerer
und dringenderer Geschäfte zu Ende; ähnlich geschieht es auch mit dem
Ergänzen und Zusammenfassen von Rechnungen und Aufstellungen, wie
auch mit dem Ordnen und Sichten von Papieren. Das glänzendste und
charakteristischste Beispiel liefert uns aber das Briefschreiben, Die meisten
Leute empfinden es gelegentlich als lästig, ihre Briefschulden abzutragen,
Menschen des oben beschriebenen Typus aber fühlen gegen diesen Vor-
satz eine ungemein starke Hemmung in sich aufsteigen, deren Kraft sich
mit der Absicht, an einen bestimmten Brief zu gehen, noch steigert. Ist
es Ihnen schließlich gelungen, diese Hemmung zu überwinden, so machen
sie sich mit ihrer ganzen Energie und Aufmerksamkeit an die Arbeit,
vollführen sie mit wunderbarer Gründlichkeit und setzen ihre lang ver-
nachlässigten Verwandten durch einen glänzend geschriebenen ausführ-
lichen Bericht in Erstaunen; ihre Briefe stehen in Form und Inhalt weit
über dem gewöhnlichen. |
Bei all diesen Betätigungen ist das Streben nach Vollkommenheit
und eine Abneigung gegen jedes „halbe* Tun nicht zu verkennen. Wenn
ein besorgter Anverwandter um Nachricht bittet, sei es auch nur eine
Zeile auf einer Postkarte, so erfüllen sie diese Bitte nicht leichter, als
wenn es sich um einen ordentlichen Brief handeln würde. Sie, können
erst schreiben, wenn genügend Energie angesammelt ist, um ein wirklich
befriedigendes Kunstwerk zu produzieren; was darunter bleibt, kann
ihnen nicht genügen. Dasselbe Streben nach Vollkommenheit zeigt sich
auch in der Kalligraphie des Briefes; das deutet wieder auf die Ordnungs-
liebe hin, mit der wir uns noch später zu beschäftigen haben. Menschen
dieser Art verwenden gewöhnlich große Sorgfalt auf die Schönheit und
Klarheit ihrer Handschrift. Die an einer Hausfrauenpsychose leidende
Frau findet es oft schwer, ihre täglichen Haushaltpflichten auf sich zu
nehmen. Sie verschiebt und verzögert sie, bis die im Unbewußten ange-
sammelte Energie sich in einem wahren Reinigungstaumel Bahn bricht. ')
Diesen Tätiekeitsausbrüchen folgt ein deutliches Gefühl von Erleichterung
und Befriedigung, das dann wieder durch eine neue Periode von schein-
barer Untätigkeit abgelöst wird.
Wir dürfen nicht verkennen, daß das Hervortreten dieser beiden
Phasen des Verhaltens bei verschiedenen Menschen des beschriebenen
Typus ein verschiedenes ist. Bei manchen drängt sich die Phase der
Gründlichkeit, Beharrlichkeit und Tatkraft in den Vordergrund, bei
anderen die der Hemmung, des Zauderns und untätigen Brütens, die
!) Sadger, loc, eit., weist darauf hin, daß diese Tätigkeitsausbrüche bei Frauen
gewöhnlich periodisch in Zeiten unterdrückter sexueller Erregung (in Verbindung mit
der Menstruation) auftreten.
a
Über analerotische Uharakterzüge. 75
sogar die zeitweilige oder dauernde Lahmlegung gewisser Tätigkeiten mit
sich bringen kann, wie z. B. des Briefschreibens.
Wir haben uns bis jetzt ausschließlich mit den Folgen der einen
Seite des kindlichen Verhaltens beim Defäkationsvorgang beschäftigt,
nämlich mit der Bemühung, den größtmöglichen Lustgewinn daraus zu
ziehen. Wir müssen uns jetzt der anderen damit zusammenhängenden
zuwenden, dem Bestreben, sich das Selbstbestimmungsrecht darüber zu
wahren. Hier treten uns wieder zwei Erscheinungsformen entgegen: der
Widerstand gegen jeden Versuch der Umwelt, ein bestimmtes Verhalten
vorzuschreiben, und der Unwillen gegen jede Einmischung in eine einmal
beschlossene Handlungsweise, Aus diesen Reaktionen baut sich die Eigen-
schaft der Freudschen Trias auf, die er Eigensinn heißt, und die leicht
zu einer chronischen Trotzeinstellung führen kann. Solche Menschen
wehren sich gegen das Aufoktroyieren eines fremden Willens und wollen
unter allen Umständen ihren eigenen durchsetzen. Sie zeigen, mit anderen
Worten, eine ungewöhnliche und oft übertriebene Empfindlichkeit gegen
jede Art von Einmischung in ihre Angelegenheiten, Sie nehmen keinen
Rat an, beugen sich keinem Zwang, pochen auf ihr Recht und folgen
in allem ihrem eigenen Kopf; man kann nie mit Gewalt, höchstens mit
verborgener Beeinflussung etwas bei ihnen erreichen. Als Kinder findet
man sie außerordentlich unfolgsam, denn es besteht tatsächlich ein enger
Zusammenhang zwischen unbeherrschter Analerotik und trotziger Un-
folgsamkeit. Später kann als Reaktionsbildung eine ungewöhnliche Ge-
fügigkeit auftreten, die aber gewöhnlich nur eine bedingte ist; das heißt,
diese Kinder sind folgsam, soweit es ihnen paßt, und bleiben so auch auf
diese Weise die Herren der Sıtuation.
Eine merkwürdige Untergruppe dieser Charakterzüge leitet sich
teilweise von der oben geschilderten Einstellung und teilweise von der
kindlichen Werteinschätzung der Exkrete (von der ich noch zu sprechen
haben werde) ab, die in einem starken Gegensatze zu der der Erwach-
senen steht. Viele Kinder empfinden es als Ungerechtigkeit, daß ihnen
ein so wertvolles Produkt ihres eigenen Körpers sogleich entzogen wird,
Dieses Gefühl stärkt die Erbitterung gegen Einmengung von seiten Fremder
und wird schließlich zu einer überbetonten Empfindlichkeit für jede
Art von Ungerechtigkeit. Im späteren Leben halten solche Menschen
fast pedantisch darauf, daß alles nach Gerechtigkeit und Billigkeit vor
sich gehe.!) Sie geraten bei dem bloßen Gedanken, daß man ihnen
etwas wegnehmen könne, außer sich, besonders wenn das bedrohte Gut
dem Unbewußten als Fäcessymbol gilt, wie z. B. das Geld; sie wollen
sich nicht einmal um die kleinste Summe bringen lassen, Auch die
Kastrationsangst (die Angst, einen wertvollen Körperteil einzubüßen)
') Siehe Ernest Jones, „Einige Fälle von Zwangsneurose“, Jahrbuch der Psycho-
analyse, Bd. IV, S. 586,
16 Dr. Ernest Jones.
wurzelt oft in diesem Komplex, obwohl sie natürlich noch andere Quellen
hat. Der Zeitbegriff gilt wegen der ähnlichen Werteinschätzung als unbe-
wußtes Äquivalent für die Exkretionsprodukte und fällt daher unter den
Einfluß der geschilderten Einstellung. So wehren sich solche Menschen
unwillig gegen jede unerwünschte Inanspruchnahme ihrer Zeit und be-
halten die Einteilung ihres Tages hartnäckig der eigenen Person vor.
Erfolgen diese unerwünschten Eingriffe und Einmengungen aber
trotzdem, so reagiert der Betreffende darauf mit Ärger und "Unwillen,
die sich gelegentlich zu wahren Wutausbrüchen steigern können. Brill‘)
und Federn) haben sich mit den Beziehungen der Analerotik zu den
frühesten sadistischen Regungen beschäftigt, und ich habe an anderer
Stelle ) auf die Bedeutung hingewiesen, die die frühe erzieherische Ein-
mengung in die analerotischen Betätigungen für die Entstehung des
Hasses hat. Ich habe mich in meiner Arbeit hauptsächlich mit der
Pathologie der Zwangsneurose beschäftigt; in einem kurz darauf erschie-
nenen Aufsatz hat Freud) die von mir zu Tage geförderten Ergebnisse
bestätigt und erläutert, daß die Verbindung von Analerotik und Sadismus,
die in starker Betonung ein charakteristisches Merkmal der Zwangs-
neurose ausmacht, eine Phase der normalen Entwicklung des Kindes
darstellt, die er als prägenitale Organisation bezeichnet. Auch Lou
Andreas-Salom&ö°) hat sich in einer längeren Arbeit zu zeigen be-
müht, daß der Sadismus des späteren Lebens vor allem auf den Kampf
zurückzuführen ist, den das Kind mit seiner Umgebung um die Beherr-
schung der Defäkationsfunktion ausficht. Wo dieser Kampf ein lang
andauernder war, kann besondere Reizbarkeit als Charakterzug zurück-
bleiben, die sich dann je nach dem Grade der Verdrängung und dem
Hinzutreten anderer Faktoren (Feigheit etc.) als jähzorniges oder mürri-
sches Wesen kundgibt. Berkeley-Hill®) bringt in Beziehung darauf
ein interessantes Tamilisches Sprichwort: „Wer reizbar ist, leidet an
Hämorrhoiden.“ In jedem leicht erregbaren und chronisch mißgelaunten
Menschen können wir einen solchen falsch behandelten kindlichen Analero-
tiker vermuten. Es ist auch wohl kein Zufall, daß sich diese Charakter-
züge so häufig bei älteren Menschen beider Geschlechter finden ; nach
dem Aufeeben der Genitalfunktionen besteht die Neigung zur Regression
1) Brill, „Psychanalysis*, 2. Aufl, 1914, Kap. XIII, „Anal Eroticism and
Character“.
2) Federn, „Beiträge zur Analyse des Sadismus und Masochismus‘, Internat.
Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, Jahrg. I, S. 42. >
°, Kap. XXX.
‘% Freud, „Die Disposition zur Zwangsneurose“, Internat, Zeitschr. für Arztl.
Psychoanalyse, Jahrg. I, S. 525.
5) Lou Andreas-Salome, „Anal und Sexual*, Imago, Jahrg. IV, 5. 249.
6, Owen Berkeley-Hill, „The Psychology of the Anus“, Indian Medical
Gazette, August 1913, p. 301.
Über analerotische Charakterzüge. 77
des Sexuallebens auf die niedrigere infantile Stufe. So werden im Alter
oft neue anale Charakterzüge entwickelt, wie z.B. Vernachlässigung der
eigenen Person, Geiz u. a. m.') Mit Ärger und schlechter Laune rea-
gieren die Menschen des besprochenen Typus hauptsächlich auf die oben
beschriebenen Einmengungen in ihre Angelegenheiten, wenn man ihnen
einen fremden Willen aufzwingen oder ihrem eigenen nicht freien Lauf
lassen will. Sehen wir uns solche typische Fälle an: Man hindert sie,
sich auf eine Arbeit zu konzentrieren, zu deren Übernahme sie sich
gezwungen haben und von der sie nicht mehr abzubringen sind; man
erhebt Ansprüche auf ihre Zeit oder ihr Geld; man will sie in einem
Entschluß beschleunigen, den sie noch nicht für reiflich überlegt halten,
u. a. m. In Verbindung mit der Neigung zu Zorn und Unwillen sollte
noch die Rachsucht erwähnt werden, die sich nach vermeintlichen Über-
griffen der Umgebung einstellt und bei solchen Menschen außerordentlich
mächtig werden kann.
Es ist nicht schwer die Verwandtschaft verschiedener der geschil-
derten Charakterzüge mit der narzißtischen Eigenliebe und dem Größen-
wahn zu erkennen, was uns auf den Beitrag hinweist, den die Analerotik
zur Bildung des infantilen Narzißmus leistet. Ich denke hier besonders
an den Rigensinn und die damit zusammenhängenden Erscheinungen,
an die Beharrlichkeit im Verfolgen eines selbstgewählten Zieles ohne
Rücksicht auf Beeinflussungen, an das schroffe Abweisen der Einmen-
gung anderer, an die Überzeugung, für eine bestimmte Aufgabe be-
fähigter zu sein als alle übrigen, u. a, m. Die Menschen dieses Typus
zeigen gewöhnlich eine scharf ausgeprägte Individualität, deren Studium
Zweifel an der Richtigkeit von Trotters Ansichten über die Bedeutung
des Herdeninstinktes in uns aufsteigen läßt.?) n
Ein Charakterzug, dessen Analyse mir noch nicht vollkommen
gelungen ist, der aber zweifellos in enger Beziehung zu den vorher
erwähnten steht, übt starken Einfluß auf die allgemeine Zufriedenheit
und Leistungsfähigkeit eines Menschen aus. Er besteht in der Unfähig-
keit, irgend etwas Angenehmes zu genießen, wenn nicht alle begleitenden
Umstände in vollem Einklang damit stehen. Menschen, die mit dieser
Eigenschaft behaftet sind, sind ungeheuer empfindlich für alle störenden
und disharmonischen Elemente einer Situation ; ihr seelisches Gleichmaß
wird durch die unmerklichsten Einflüsse erschüttert; sie werden, wie
man zu sagen pflegt, „leicht aus der Stimmung gebracht“. Sie zeigen
dieses Verhalten auch beim Sexualverkehr, beschränken es aber keines-
1) v. Hattingberg macht anderseits darauf aufmerksam, daß manche dieser
Eigenschaften, z. B. der Eigensinn, sich nur in der Kindheit zeigen und später ver-
schwinden. „Analerotik, Angstlust und Eigensinn“, Internat. Zeitschr. für ärztl. Psycho-
analyse, Jahrg. Il, S. 244.
%) W. Trotter, Instincts of the herd in peace and war, London 1915.
Keitschr, f. ürztl. Psychoanalyse. 72, 6
78 Dr. Ernest Jones,
wegs darauf; der geringste Mißton, der Gedanke an eine noch so unwichtige
unerledigte Pflicht, das mindeste körperliche Unbehagen oder ähnliches
genügt, um sie für den Augenblick impotent zu machen. Sie können
keine Theatervorstellung, keine Ausfahrt und kein geselliges Vergnügen
genießen, wenn sie nicht ganz „in der richtigen Stimmung“ sind ; die
richtige Stimmung aber ist nur zu selten und flüchtig. Der analerotische
Ursprung dieses Verhaltens zeigt sich auch in ihrer chronischen Reiz-
barkeit und der damit verbundenen charakteristischen Unfähigkeit, sich
an irgend eine Arbeit zu machen, ehe nicht alles bis ins kleinste Detail
geordnet ist; sie können z. B. keinen Brief schreiben, ehe sich nicht jeder
Gegenstand auf dem Schreibtisch auf seinem richtigen Platz befindet,
ehe der Bleistift oder Federstiel nicht in Ordnung ist und anderes mehr.
Wie leicht begreiflich, machen solche Menschen nicht nur ihrer Umge-
bung, sondern auch sich selbst das Leben schwer; sie sind in beständiger
Unruhe und Erregung und nehmen alle Dinge viel zu ernst. Ihr Leben
besteht aus einem beständigen aufreibenden Streben, die Dinge ihrer
Umgebung zu ordnen und zu richten, um schließlich trotz aller Hinder-
nisse doch noch zum Genießen kommen zu können. Es ist übrigens
in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß ärztliche Erzieher ') beob-
achtet haben, daß aus Kindern, die an Darmstörungen leiden, gewöhnlich
unzufriedene, reizbare und unfrohe Menschen werden — also gerade der
Typus, den ich beschrieben habe.
Ein anderer Charakterzug, der oft in analerotischen Komplexen
wurzelt, ist das Streben nach Selbstbeherrschung, das zu einer wahren
Leidenschaft werden kann. Es gibt Menschen, die mit ihrer Fähigkeit,
sich selbst zu beherrschen, nie zufrieden sind und unaufhörliche Versuche
anstellen, um sie zu steigern. Wir unterscheiden, je nachdem ob dieses
Bestreben auf das Physische oder Moralische gerichtet ist, zwei Gruppen.
Zu der ersten Gruppe gehören die Menschen, die sich zwingen, ihren
Tee ohne Zucker zu trinken, die sich das Rauchen zeitweilig abgewöhnen,
die ihre Beine in einer kalten Nacht aus dem Bett strecken und in allen
Arten von Askese schwelgen, um sich die Stärke ihrer Selbstbeherrschung
zu beweisen. Im Gebiete des Moralischen sind die Wirkungen weit
ernstere und brauchen hier nicht aufgezählt zu werden. Obwohl ich die
vielen anderen Wurzeln dieser asketischen und selbstquälerischen Re-
gungen gewiß nicht verkenne, so hat doch, wie ich an anderer Stelle *)
analytisch nachgewiesen habe, der Ehrgeiz des Kindes, seinen Schließ-
muskel zu beherrschen, die Bewältigung seiner ersten großen Aufgabe,
keinen geringen Anteil an ihrer Bildung.
Das Interesse an der Defäkation führt oft zu einem Interesse an
den dazugehörigen Körperteilen, nämlich am Darmkanal, Ohne mich in
») Z. B., Czerny, „Der Arzt als Erzieher des Kindes*, 1908.
2?) Op. eit. Jahrbuch, S. 587.
Über analerotische Charakterzüge. 79
die Erörterung der sehr bedeutsamen Wirkungen einzulassen, die dies für
die Entwicklung des Sexuallebens haben kann, will ich hier nur kurz
einige charakteristische Folgeerscheinungen erwähnen, die mir im Laufe
meiner Psychoanalysen aufgefallen sind. !) Am auffallendsten ist die
Neigung, sich mit der Rückseite der Dinge zu beschäftigen, die sich auf
verschiedene Weise zeigen kann, z. B. in einer deutlichen Wißbegier
über die entgegengesetzte oder Kehrseite von Orten oder (Gegenständen ;
etwa in dem Wunsch, auf dem drübern Abhang eines Hügels zu wohnen,
der seine Rückseite einem bestimmten Ort zuwendet; in der Neigung,
rechts und links, Osten und Westen zu verwechseln; im Verkehren von
Buchstaben oder Worten und in ähnlichen Dingen. Auch der seltsame
Reiz, den alle unterirdischen Gänge, Kanäle und Tunnels auf manche
Menschen ausüben, hat denselben Ursprung. Mir ist auch ein Fall be-
kannt, wo dem gleichen Komplex ein außerordentliches Interesse für den
Begriff der Zentralität entsprang. Einer meiner Patienten war rastlos bemüht,
das genaue Zentrum jeder Stadt, in der er sich gerade aufhielt, zu er-
forschen, und entwickelte viele philosophische Ideen, die sich mit dem
„Zentrum des Lebens“ und dem „Zentrum des Universums“ beschäftigten.
Wir gehen nun zu der zweiten Gruppe der oben aufgestellten
Einteilung über, nämlich zu den Üharaktereigenschaften, die sich aus
dem Interesse an den Exkreten selber herleiten. Einige dieser Eigen-
schaften entstammen wirklich nur diesem, die meisten der jetzt zu er-
wähnenden aber gehen teilweise darauf, teilweise auf das früher erörterte
Interesse an dem Defäkationsvorgang zurück, Sie stellen alle entweder
positive oder negative lieaktionen, d.h. Sublimierungen oder Reaktions-
bildungen dar. Um in ihr Verständnis tiefer einzudringen, muß man
sich in die ursprüngliche Einstellung des Kindes zu seinem Kote rück-
versetzen. Wir haben begründete Ursache anzunehmen, daß diese Ein-
stellung im Gegensatz zu der der Erwachsenen durchaus positiv und
lustvoll betont ist. Das Kind betrachtet seinen Kot als einen Teil des
eigenen Körpers und als ein geschätztes Besitztum. Es lernt bald diese
Idee gegen die negative Gefühlseinstellung des Ekels, als etwas Unreinem
gegenüber, einzutauschen. Die Schnelligkeit und Vollständigkeit dieser
Verwandlung ist individuell verschieden und von den Fortschritten der
Verdrängung abhängig. Es ist nicht®* unwahrscheinlich, daß die Bereit-
schaft: zu dieser Verdrängung durch Vererbung angeboren ist, Das neu-
erworbene Gefühl des Ekels zeigt sich deutlicher bei den Exkreten
Fremder als bei den eigenen, bei flüssigen als bei festen, und wird durch
den Geruchs- leichter als durch den Gesichts- oder Gefühlssinn geweckt.
Vor der Entstehung dieser Reaktionsbildung geht die natürliche — aller-
dings nicht immer betätigte — Neigung des Kindes dahin, sich mit seinem
1) Op. eit, Jahrbuch, S. 581-583.
h*
80 Dr, Ernest Jones.
Kote zu beschäftigen und hauptsächlich auf zwei typische Arten mit
ihm zu spielen: ihn zu modellieren oder herumzuschmieren.') Auf dieser
Stufe verwendet das Kind die Beschmutzung anderer mit seinem Kote
als einen Ausdruck seiner Zärtlichkeits- und Lustgefühle, was aber von
den Erwachsenen gewöhnlich mißverstanden und anders eingeschätzt wird.
Ehe wir an die Erörterung der Charaktereigenschaften gehen, die
in diesen Einstellungen wurzeln, müssen wir uns mit den unbewußten
Kotsymbolen beschäftigen, auf die jene Einstellung übertragen wird, Das
natürlichste ist das Essen, da es denselben Stoff nur in einer früheren
Erscheinungsform darstellt. Viele Eigentümlichkeiten des Geschmacks, Vor-
lieben und Abneigungen für verschiedene Speisen (z. B. Würste, Spinat etc.)
sind auf Rechnung dieser unbewußten Assoziation zu schreiben. Kin
anderes durchsichtiges Symbol ist alles Schmutzige, Straßenkot (natürlich
auch Dünger), beschmutzte Wäsche und ähnliches, Staub, Kohle, Haus-
oder Gartenmist, Papierabfälle, wie überhaupt Abfall aller Art; im Un-
bewußten scheinen sich nämlich die Begriffe, die wir mit den Worten
„Abfall“ und „schmutzig“ bezeichnen, zu decken; das tertium compa-
rationis bildet zweifellos das Wort „Mist“, Dazu kommt besonders noch
alles Abscheuerregende und alle Abfälle des menschlichen Körpers. Für
das erstere können uns die Ausscheidungen bei ekelhaften Krankheiten,
z. B. der Eiter, als Beispiel dienen; so läßt sich auch verstehen, wieso
Leichen häufig als Kotsymbole gelten. Beispiele für das letztere sind
die Haare und Nägel, Körperteile, die leicht Schmutz annehmen und
zeitweilig abgestoßen werden. Ein anderes merkwürdiges Kotsymbol sind
Bücher, wie überhaupt alles Gedruckte, Die Assoziation wird hier wahr-
scheinlich über das Papier und die Vorstellung des Druckens hergestellt
(beschmieren, bedrucken).
Die beiden wichtigsten und bedeutsamsten Kotsymbole stellen aber
Kinder und Geld dar; da sie beim ersten Hören allgemein mit Befrem-
dung aufgenommen werden, will ich mich bemühen, eine nähere Erläu-
terung zu geben. Freud?) schreibt über die symbolische Bedeutung
des Geldes wie folgt: „Überall, wo die archaische Denkweise herrschend
war oder geblieben ist, in den alten Kulturen, im Mythus, Märchen,
Aberglauben, im unbewußten Denken, im Traume und in der Neurose
ist das Geld in innigste Beziehungen zum Drecke gebracht. Es ist be-
kannt, daß das Gold, welches der Teufel seinen Buhlen schenkt, sich
nach seinem Weggehen in Dreck verwandelt, und der Teufel ist doch
gewiß nichts anderes als die Personifikation des verdrängten unbewußten
Trieblebens. Bekannt i&t ferner der Aberglaube, der die Auffindung von
Schätzen mit der Defäkation zusammenbringt, und jedermann vertraut
!) Über Besudlungslust siehe Federn, op. eit, S. 41, und viele Stellen in den
Schriften Stekels.
2) Freud, „Schriften“, op. eit, S. 136.
Über analerotische Charakterzüge. $1
ist die Figur des „Dukatenscheißers“.') Ja, schon in der altbabylonischen
Lehre ist „Gold der Kot der Hölle“,
Viele sprachliche Ausdrücke weisen uns auf dieselbe Gedanken-
verbindung hin. So ist im Deutschen eine volkstümliche Bezeichnung
für Hämorrhoiden „goldene Ader“. Wir sprechen auch von einem
„schmutzigen Geizhals“ und von jemand, der vor Geiz „stinkt“. Auf der
Börse bezeichnet man jemand, der sich in Geldschwierigkeiten befindet,
als „verstopft“, Auch unser „flüssiges Geld“, das englische „currency“
und die ebenfalls englische Umschreibung des Reichtums „to be 'rolling
or ‘wallowing’ in money“ ?) entspringen zweifellos denselben (Quellen.
Im Wahnsinn und, wie Wulff) berichtet, auch im Rausche, kommt
die Begriffsverbindung deutlich zum Ausdruck, da die Betreffenden ihre
Exkrete gelegentlich offen als ihre Schätze, ihr Geld oder ihr Gold be-
zeichnen. In dem Browningschen Gedicht „Gold Hair: A Story of
Pornic* werden die Begriffe Haar, Tod, Goldfarbe, Geld und Geiz in die
innigste Beziehung zueinander gebracht.*)
In seinem ersten Artikel über dieses Thema spricht Freud die
Ansicht aus, daß der Gegensatz zwischen dem Wertvollsten und dem
Wertlosesten, das die Menschen kennen, zu dieser bedingten Identifizie-
rung geführt hat. Seitdem wissen wir aber, daß die Beziehung eine
engere ist, nämlich daß die Werteinschätzung des Geldes eine direkte
Fortsetzung der Werteinschätzung ist, die das Kind für seine Exkrete
hat, die sich im Bewußtsein des Erwachsenen zwar in ihr Gegenteil
1) Ein Märchen-Äquivalent ist die Gans mit den goldenen Eiern. Über andere
mythologische Beispiele von Assoziationen siehe Dattner, „Gold und Kot“, Internat.
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse, Jahrg. I, S. 495.
2, Von den zahllosen Beispielen aus der Literatur will ich hier nur zwei
zitieren: „I hate equality on a money basis. It is the equality of dirt* (D, H, Law-
rence, „The Rainbow“, 1915, p. 431).
„More solemn than the tedious pomp that waits
On princes, when tlıeir rich retinue long
Of horses led and grooms besmeared with gold,“
Milton: „Paradise Lost*, Book \V,
In der erotischen Kunst, besonders in der Karikatur, ist diese Identifizierung
(infolge der Verknüpfung von Verachtung mit Analerotik) ungemein häufig. Ich will
zwei Beispiele aus Broadleys „Napoleon in der Karikatur“, 1911, zitieren. Kines, von
Fores, zeigt uns Napoleon und Georg Ill. als „The Rival Gardeners“. An der Seite
steht ein mit Münzen gefüllter Schubkarren, der die Aufschrift trägt: „Dünger aus
Italien und der Schweiz,“ Das zweite Bild, genannt „Die Segnungen des Papiergeldes“,
ist von George Cruikshank. Es zeigt uns Napoleon, der einen großen mit Goldmünzen
sefüllten Topf unter John Bull hervorzieht, der mit Papiergeld gefüttert wird.
s) Wulff, Zur Neurosensymbolik: „Kot-Geld“, Zentralbl. f. Psychoanalyse,
Jahrg. I, S. 337,
*) In der nordischen Sage von „Bushy Bride* fällt beim Kämmen Gold aus
den Haaren der Heldin. Über die Identifizierung von Haar und Gold siehe auch
Läistner, „Das Rätsel der Sphinx“, 1889, Bd, II S. 147 etc.
82 Dr. Ernest Jones.
verkehrt, im Unbewußten aber unverändert fortlebt, Ferenczi!) hat
in einer sehr überzeugenden Arbeit im Detail die Übergängsstadien ge-
schildert, die das Kind auf seinem Weg vom ursprünglichen Kotbegriff
zu dem scheinbar weit entfernten Begriff des Geldes durchläuft, Sie sind,
kurz wiedergegeben, die folgenden: Übertragung des Interesses von der
ursprünglichen Kotsubstanz auf eine ähnliche geruchlose (Formen mit
Lehm); von hier weiter auf eine trockene (Sand); von diesem wieder
auf eine härtere (Kieselsteine; bei manchen Wilden gelten die Kiesel-
steine noch heute als Tauschobjekt und unser Ausdruck „steinreich“
weist auf ähnliches hin); daran schließen sich künstlich verfertigte
Gegenstände, wie Marmeln, Knöpfe,*) Schmuck, und endlich die Münzen
selber (deren Ansehen durch die Schätzung, die sie bei den Erwachsenen
genießen, natürlich sehr gehoben wird). — Ich möchte in diesem Zusam-
menhang noch ein merkwürdiges Kotsymbol erwähnen: unseren letzten
Willen, das Testament, Die Gedankenverbindung führt hiebei scheinbar
über den gleichen Wertbegriff und über die stark betonte Idee der end-
gültigen Trennung von etwas, der „Hinterlassenschaft“.°)
Die Identifizierung von Kindern mit Exkreten kommt auf folgende
Weise zu stande: Für die Vorstellung des Kindes ist der Leib einfach
ein Behälter weiter nicht unterschiedener Inhalte, in den das Essen
verschwindet und aus dem die Exkrete herauskommen. Die Bemerkung,
daß das Kind im Mutterleibe wächst, die, ohne daß die lirwachsenen es
wissen, von den Kindern fast immer gemacht und später wieder vergessen
wird, führt zu der natürlichen Folgerung, daß das Kind aus der Nahrung
entsteht, was ja auch bis auf die Vernachlässigung der beiden primordialen
Geschlechtszellen vollkommen korrekt ist. Da die Kinder noch keine
Kenntnis der Vagina haben, können sie nur schließen, daß das Neu-
geborene den Leib der Mutter durch den After verlassen hat, die einzige
Körperöffnung, durch die, ihrer Erfahrung nach, feste Stoffe abgeführt
werden können.‘) Auch diese „Kloakentheorie“ der Geburt trägt einen
Kern von Wahrheit in sich, da bei niedrigeren als Säugetieren After und
Vagina in einen Gang zusammenfallen. So scheint das kleine Kind
za 1) Ferencezi, „Contributions to Psycho-Analysis*, englische Übersetzung 1916,
Kap. XII. „The Ontogenesis of the Interest in Money“,
2) Manche Neurotiker haben die starke Empfindung, daß Knöpfe etwas Unreines,
Widerliches sind; es scheint hier eine Gedankenverbindung mit beschmutzten Kleidern
zu bestehen,
3) Die Bedeutung, die der Gedanke des „endgültigen Hintersichlassens“ durch
den Analkomplex bekommt, trägt wohl zu dem sentimentalen Benehmen bei, das
manche Leute bei der Trennung von liebgewordenen persönlichen Besitztüümern zur
Schau tragen, besonders dann, wenn die Trennung eine endgültige ist, Eine andere
Quelle für dieses Verhalten ist der Todeskomplex, wo natürlich der Gedanke der end-
gültigen Trennung ebenso im Vordergrund steht.
*) Diese Theorie wird gewöhnlich vergessen und durch die annehmbarere, daß
das Kind durch den Nabel austritt, ersetzt.
Uber analerotische Charakterzüge. 83
auf irgend eine geheimnisvolle Weise aus Kot geschaffen worden zu sein; !)
Kot und Kinder sind schließlich die einzigen Dinge, die der Körper
hervorbringen kann, und die Impulse dazu sind in beiden Fällen sehr
ähnlich, besonders für die Augen der Kinder, die ja noch eine andere
Einstellung zu ihren Exkreten haben. Das Kind findet in der Natur
zahlreiche Beweise für seine Ansicht, daß schöne Dinge aus schlecht
riechenden Stoffen entstehen können, z. B. Blumen ?) aus gedüngtem
Boden etc.; darin wurzelt zum Teil die charakteristischerweise meistens
von Mädchen gezeigte Leidenschaft für Blumen, die unbewußte Symbole
für Kinder vorstellen. Ich habe an anderer Stelle?) eine Anzahl von
Wörtern gesammelt, deren Etymologie uns die Assoziation zwischen
Kindern, Exkreten und Geruch illustriert. Ich habe dargelegt,*) daß
eine sonst unverständliche Symbolbeziehuug durch meine vorstehenden
Erwägungen aufgehellt wird, nämlich daß der Gedanke, Geld von einer
Frau zu stehlen, für den Gedanken, ein Kind von ihr zu bekommen,
stehen kann. Die Assoziation zwischen den Begriffen von Leichen und
Exkreten — beides sind Dinge, die lebendig waren und tot sind — kann
zu dem Glauben führen, daß Kinder von jemandem kommen, der ge-
storben ist.?)
Auf diese Symbole kann auf so viele und verwickelte Arten reagiert
werden, daß es sehr schwer ist, hier eine Einteilung zu treffen. Der
analerotische Komplex steht in enger genetischer Beziehung zu zwei
grundlegenden einflußreichen Trieben, zu dem Trieb, zu besitzen, und zu
dem Schaffenstrieb. Da die Impulse des einen nach dem Behalten, die
des andern nach dem Hergeben ®) der Dinge zielen, sind sie einander
entgegengesetzt und können den beiden in einem früheren Absatz be-
schriebenen Phasen des Verhaltens bei der Defäkation an die Seite gestellt
werden: der Abwechslung von Zögern und Zurückhalten mit fieberhaftem
!) Klinische Beispiele dafür gibt Freud, Jahrbuch dsr Psychoanalyse, Bd. I,
S, 55, und Jung, Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. II, S. 49. Viele Beispiele für die-
selbe Annahme in Mythologie und Folklore zitiert Rank, „Völkerpsychologische Paral-
lelen zu den infantilen Sexualtheorien“, Zentralblatt f. Psychoanalyse, Jahrg. II,
S. 379, 380, 381. Diese Idee ist auch oft künstlerisch verwertet worden; ein Beispiel
dafür findet sich bei Fuchs, „Das erotische Element in der Karikatur“, 1904, S. 85.
®) Über die Gedankenverhindung zwischen Blumen, Haar und Geruch siehe
Scheuer „Das menschliche Haar und seine Beziehungen zur Sexualsphäre“, Sexual-
probleme, Jahrg. VII, besonders S. 173; s. auch in diesem Zusammenhang eine Mit-
teilung von mir, „Haarschneiden und Geiz“, Internat. Zeitschr. für ärztl. Psychoana-
Iyse, Jahrg. I, S. 393, und Kap. XXX dieser „Papers on Psycho-Analysis“.
#) Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. VI, S. 192.
4) Ibid., Bd. IV, S. 585.
5) Siehe Kap. XXXIX, 5. 661.
*) Es ist bemerkenswert, daß Bertrand Russell in seinen „Principles of
Social Reconstruction*, 1916, auf diese Gegenüberstellung eine ausgedehnte soziologische
Philosophie aufbaut.
84 Dr. Ernest Jones.
Tätigkeitsdrang.‘) Die stärkere Betonung des einen oder des anderen
Impulses ist für den Charakter des betreffenden Menschen ausschlaggebend.
Die Frage wird dadurch kompliziert, daß die Einstellung der ersten Phase,
die Neigung zum „Behalten“, sich auch auf das Produkt nach seiner
Hervorbringung ausdehnen und so zum Geiz werden kann. Ungeheure
Kompliziertheit entsteht aber dadurch, dab das Verhalten den verschiedenen
Symbolen gegenüber ein verschiedenes sein kann, so daß derselbe Mensch
in der einen Hinsicht positive, in der anderen negative Einstellung, in
dieser Sublimierungen, in jener Reaktionsbildungen zu zeigen vermag,
hier willig hergibt und dort ängstlich zurückhält. Es ist deshalb höchstens
möglich, eine schematische Aufstellung gewisser allgemeiner Typen zu
machen und die Aufmerksamkeit auf die charakteristischsten Reaktions-
weisen hinzulenken. Auf die Gefahr hin, allzu stark zu vereinfachen,
will ich vier Gruppen von Reaktionsmöglichkeiten auf der Basis von
zwei Prinzipien aufstellen: den beiden oben beschriebenen Impulsen und
dem Gegensatz zwischen Sublimierung und Reaktionsbildung, der durch
das Beibehalten oder Aufgeben der ursprünglichen Werteinschätzung
gegeben wird. Wir erhalten so, je nach Beibehaltung oder Aufgeben
der Werteinschätzung, zwei Gruppen von Eigenschaften, die sich von dem
Trieb, zu besitzen und behalten, und zwei, die sich von dem Trieb, zu
schaffen und herzugeben, ableiten,
A,1. Die typischste Sublimierung der Neigung zum „Behalten“ ist
die Sparsamkeit, eine Eigenschaft der Freudschen Trias, die in eklatanten
Fällen zum Geiz wird. Ihre beiden Erscheinungsformen, die Abneigung,
herzugeben, und der Wunsch, Werte zu sammeln, können bei einem
bestimmten Menschen verschieden stark betont sein; der Betreflende kann
geizig oder habsüchtig oder auch beides sein. Solche Menschen sind
engherzig und schwer zum Schenken oder Leihen zu bewegen.?) Diese
Einstellung zeigt sich natürlich den verschiedenen Kotsymbolen gegenüber
am deutlichsten, vor allem beim Geld, bei Büchern, Zeit, Speisen
(Hamsterer!) usw. Der nicht vernunftmäßige — d. h. unbewubte —
Ursprung dieses Verhaltens zeigt sich oft darin, daß sich der Betreflende
ungern von einer Kupfer- oder Nickelmünze (enger assoziierte Symbole),
aber leichter von einer beträchlichen per Check gezahlten Summe trennt,
Manchmal beschränkt sich der geschilderte Charakterzug auf ein be-
stimmtes Gebiet; es ist nicht selten, daß recht wohlhabende leute die
Kosten für Wäsche und Putzerei scheuen und auf allerlei kleinliche
Abhilfen sinnen, um sie zu vermindern, Die Abneigung, seine Unter-
wäsche öfter als unbedingt notwendig zu wechseln, ist oft doppelt
—
1) Man könnte die beiden auch als die Phasen des „Zurückhaltens*“ und „Aus-
werfens“ bezeichnen.
») Im Englischen hat man für solche Menschen die passende Bezeichnung
„close“, „tight* etc.
Über analerotische Charakterzüge. 35
motiviert; bewußt durch die Abneigung, sich von Geld (sublimiertem
Schmutz), und unbewußt durch die Abneigung, sich vom körperlichen
Schmutz zu trennen. Werden solche Menschen gezwungen, mehr auszu-
geben, als sie wollen, so reagieren sie mit dem oben geschilderten Un-
willen und Ärger, besonders wenn sie um Geld bestohlen oder mit
falschem Geld !) (englisch: „rotten“ money) betrogen werden; also auf
den symbolischen Zwang zur Defäkation wider Willen.
Die zweite bereits erwähnte Erscheinungsform ist das Streben zu
sammeln, Schätze zusammenzuscharren und aufzuhäufen. Alle Sammler
sind Analerotiker und die gesammelten Gegenstände fast durchwegs
typische Kotsymbole: z. B. Geld, Münzen (außer den gültigen Währungen),
Marken, Eier, Schmetterlinge — die beiden letzteren sind Symbole für
Kinder — Bücher, ja selbst wertlose Dinge, wie Stecknadeln, alte Zeitungen
und ähnliches. In denselben Zusammenhang gehört die Freude am Finden
und Aufsammeln von Dingen aller Art, Nadeln, Münzen etc, und das
Interesse an vergrabenen Schätzen. Letzteres weist auf das früher
hervorgehobene Interesse an unterirdischen Gängen, Höhlen und ähnlichem
hin; dieses Interesse wird entschieden noch durch andere sexuelle
Komponenten verstärkt, durch Schaulust, den inzestuösen Drang nach
Erforschung des Leibes der Mutter Erde?) u, a. m.
Eine erfreulichere Folgeerscheinung desselben Komplexes ist die
oroße Zuneigung, die für die verschiedenen symbolisch bedeutsamen
Dinge besteht. Ich will gar nicht von der hingebenden Sorgfalt reden,
die gewöhnlich auf irgend eine der genannten Sammlungen verwendet
wird — diese Eigenschaft ist bei Kustoden von Museen und Bibliotheken
von hohem Werte — aber einer der eindrucksvollsten Züge in dem
ganzen Register des analen Charakters ist die außerordentliche, ganz
seltene Zärtlichkeit, deren Menschen dieses Typus besonders für
Kinder fähig sind;°) sie wird zweifellos durch die Assoziation mit
Unschuld und Reinheit, von der ich noch sprechen werde, unterstützt,
wie auch durch die Reaktionsbildung gegen den unterdrückten Sadismus,
der ja gewöhnlich stark betonte Analerotik begleitet. Eine merkwürdige
Begleiterscheinung dieser Zärtlichkeit ist eine stark ausgeprägte Herrsch-
sucht dem geliebten (unterworfenen) Objekt gegenüber; solche Menschen
> Jahrbuch, loc, eit.
?) In „Paradise Lost“ (Book VII) lesen wir, wie die Menschen, von Mammon
geführt:
„++... with impions hands
Rifled the bowels of their mother Eartlı
For Treasures better hid, Soon had his crew
Öp’n’d into the Hill a spacious wound
And dig’d out ribs of Gold“,
s) Es ist charakteristisch, daß sogar Geizhälse ihre Kinder leidenschaftlich lieben,
z. B. Shylock, Balzac’s Eugenie Grandet ete,; bei ersterem zeigt Shakespeare uns
deutlich die Gleichwertigkeit und unbewußte Identität des Kindes mit den Dukaten.
36 Dr. Ernest ‚Jones,
sind oft herrisch und tyrannisch und dulden auch nicht die geringste
Unabhängigkeitsregung der von ihnen geliebten Personen.
A. 2. Die wichtigste Reaktionsbildung, die mit der Neigung zum
„Behalten“ zusammenhängt, ist die Ordentlichkeit, die dritte Eigenschaft
der Freudschen Trias. Sie ist offenbar ein weiterer Ausbau der Reinlich-
keit, nach der Umkehrung des Grundsatzes, daß Mist — Dinge an Orten
sind, wo sie nicht hingehören, (Dirt is matter in the wrong place!)
Bringt man sie aber auf ihren richtigen Platz, so sind sie kein Mist
mehr. Dieser Charakterzug kann, stark betont, zu einem ausgesprochenen
neurotischen Symptom werden, das in Ruhelosigkeit und einer nicht zu
beherrschenden Neigung besteht, sämtliche im Zimmer befindlichen Ge-
genstände zu schieben und zu richten, damit alles ordentlich, symmetrisch
und auf seinem „richtigen Platz“ sei. Im folgenden eine kurze Illustra-
tion dieser bekannten Eigenschaft: Ein Mann, der eine Anzahl Bücher
gleicher Größe und gleichen Aussehens auf einem Tisch aufgestellt hatte,
mußte sie unaufhörlich in dieselbe Reihenfolge bringen, die er einmal
als die richtige erklärt hatte; ein Bild, das ein klein wenig schief hing,
machte es ihm vollkommen unmöglich, eine begonnene Unterhaltung fort-
zusetzen. Für solche Menschen ist die geringste Unordnung unerträglich;
sie fühlen einen Zwang, weggeworfene Papiere oder „herumliegende
Gegenstände“ aufzuräumen. Alles muß auf seinem richtigen Platz und
womöglich weggeräumt sein. Als wertvollere Form dieses Charak-
terzuges findet sich bei manchen Menschen des beschriebenen Typus
ein hoch entwickeltes Systematisierungs- und Organisationstalent.
Im Denken führt diese Neigung oft zu ungebührlicher Pedanterie
mit einer Vorliebe für oft rein verbale Exaktheit und für Definitionen.
Eine gelegentlich angetroffene, interessante und wertvolle Abart davon
ist eine große Abneigung gegen unklares Denken und eine Leidenschaft
für gedankliche Klarheit. Ein derartiger Mensch hat besondere Freude
am Lösen eines Problems, am Klassifizieren u. a, m.
Die Unduldsamkeit gegen Unordnung ist eng mit einer anderen
Eigenschaft, der Unduldsamkeit gegen Vergeudung, verwandt, Die letztere
entspringt aus mehr als einer Quelle. Sie zeigt sich als Abneigung gegen
das Wegwerfen irgend welcher Dinge (ursprünglich vom Menschen) —
eine Offenbarung der Neigung zum „Behalten“ — und gleichzeitig als
Abneigung gegen das Weggeworfene, das Abfall (Mist) vorstellt, wenn
es nicht möglich ist, es noch einer nützlichen Verwendung zuzuführen,
Solche Menschen zeigen daher großes Interesse für jedes neue Verfahren
zur Verwertung von Abfallprodukten, wie z. B, für Kloakenbewässerung,
Ammoniakwasserfabriken und ähnliches.
Ein verwandter Charakterzug, auf den Freud uns hinwies, ist die
Verläßlichkeit. Sie steht im Zusammenhang mit der früher beschriebenen
Leidenschaft für Gründlichkeit und Pflichttreue und der Abneigung gegen
Über analerotische Charakterzüge. 87
einen Stellvertreter bei der Arbeit. Menschen, die diesen Zug aufweisen,
werden sicherlich keine Pflicht vernachlässigen und keine Aufgabe halb
oder ganz ungelöst lassen.
B. 1. In diese Gruppe fallen die Gegensätze der Sparsamkeit,
nämlich übertriebene Freigebigkeit und Verschwendungssucht. Einige
Psychoanalytiker wollten für diesen Typus die Bezeichnung „analerotisch“
zum Unterschied von dem „analen Charakter“ des ersten verwenden,
Es scheint mir aber, daß beides gleichberechtigte, analen Komplexen
entstammende Charaktertypen sind, nur dadurch unterschieden, daß der
erste eine Sublimierung (positiv), der zweite eine Reaktionsbildung
(negativ) darstellt. Bei der positiven Erscheinungsform des Impulses zum
„Hergeben“ können wir wieder, je nach dem Schicksal des Produktes,
zwei Unterabteilungen unterscheiden. Bei der ersten Unterabteilung ist
es das Streben des Betreffenden, das Produkt an irgend ein Objekt,
gleichgültig, ob lebend oder nicht, loszuwerden, bei der zweiten aber
geht das Bestreben dahın, das Produkt umzuwandeln und zu etwas
Neuem zu gestalten. Ich will beide der Reihe nach behandeln:
a) Die einfachste Erscheinungsform der ersten Bestrebung kann
man als eine Sublimierung des primitiven Herumschmierens auffassen,
Davon ist der Impuls, zu beflecken und zu besudeln, eine rohe, gewöhn-
lich verdrängte Form, die sich z. B. in der als Pygmalionismus bekann-
ten Perversion, dem Impuls, Statuen mit Tinte etc. zu beschmutzen, zeigt
und in dem perversen Antrieb, Frauen oder ihre Kleidung mit Tinte,
Säuren oder Chemikalien anzuschütten.!) Der gleiche Impuls verbirgt
sich auch oft hinter der erotischen Zärtlichkeit für kleine Kinder (der
Wunsch, ihre Unschuld zu beflecken), Zwei seiner Sublimierungen sind
von großer sozialer Bedeutung, nämlich die Freude am Malen und Druk-
ken,?) d. h. irgend einem >Stoff sein Merkzeichen aufzudrücken. Eine
niedrigere Form der gleichen Tendenz ist die allgemein verbreitete Nei-
gung der Ungebildeten, ihren Namen einzuschreiben oder zu schnitzen,
also eine Spur ihrer Person als Beschädigung von etwas Schönem (daher
zu Schädigendem) zurückzulassen. In denselben Zusammenhang gehören
noch zahllose andere Offenbarungen dieser Beschädigungs- und Besudlungs-,
und der gewöhnlich auch dazukommenden Zerstörungslust (Freuds
prägenitale sadistisch-analerotische Entwicklungsstufe);?) der Krieg hat
uns zahlreiche Beispiele dafür geliefert.
Wenn unter Beibehaltung der gleichen Werteinschätzung das ur-
sprüngliche Kotprodukt durch Geld, Schmuck etc. ersetzt und wenn
ss;
') Thoinet, „Attentats aus Moeurs“, 1898, pp. 484 et seq.; Moll, „Gutachten
über einen Sexual-Perversen (Besudelungstrieb)“, Zeitschr, f. Medizinalbeamte, 1900,
Heft XILU.
?:) Diese Neigungen haben entschieden noch andere, auch unbewußte Quellen.
Die Bedeutung der hier angeführten darf aber nieht unterschätzt werden.
3) Siehe Kap. XXXI p. 547.
SB Dr. Ernest Jones.
ferner die ursprüngliche sexuelle Regung auf ein fremdes Liebesobjekt
übertragen wurde, dann entsteht ein Liebesleben, in dem das Schenken
die hervorragendste Rolle spielt. Das körperliche wie das seelische Liebes-
leben baut sich zwar überhaupt auf dem Geben und Nehmen auf, bei
dem geschilderten Typus aber werden alle anderen Erscheinungsformen
der Liebe dieser einen untergeordnet. Solche Menschen schenken immer-
während ; sie verfügen nur über dieses einzige Mittel, sich angenehm
und liebenswert erscheinen zu lassen, und werben durch unaufhörliche
Gaben von Schmuck, Schokolade und ähnlichem, Die niedrige prä-
genitale Organisation dieses Liebeslebens zeigt sich darin, daß man es
am häufigsten bei relativ impotenten, sexuell anästhetischen Menschen
findet. Das gewöhnlichste Liebespaar dieser Art ist ein alter Mann mit
einem jungen Mädchen; ersterer regrediert zum infantilen Niveau, das
das letztere überhaupt noch nicht verlassen hat.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sogar der Wunsch zu befruchten
Zuflüsse aus dem analen Komplex erhält; doch befinden wir uns hier
auf einer dem Erwachsenen entsprechenden Stufe der genitalen Ürganisa-
tion, so daß es höchstens möglich ist, bei manchen Menschen Spuren
dieses Komplexes aufzufinden.
b) Das Bestreben, das Produkt umzuformen und zu etwas Neuem
zu gestalten, führt zu verschiedenen Sublimierungen, die mit der ver-
breiteten Kindervorliebe für Modellieren plastischen Materials, wie Kitt,
Plastilin etc. beginnen. Die gewöhnlichste Sublimierung leitet zum
Kochen ') hin, die später durch eine Abneigung dagegen ersetzt oder als
wahre Leidenschaft fortgeführt werden kann, Sublimierungen des ge-
nannten Bestrebens finden noch in zwei anderen Lebensgebieten, auf
industriellem 2) wie auf künstlerischem Gebiet, die verbreitetste Anwen-
dung: gute Beispiele für das erstere sind die Metallgießerei, das Bauen,
Gravieren, die Tischlerei u. a. m., für das letztere Bildhauerei, Architek-
_ tur, Holzschnitzerei, Photographie etc.)
B. 2. Wir müssen uns jetzt mit den Folgen der Reaktionsbildun-
gen gegen das Verhalten zum Kote und seinen Symbolen beschäftigen,
Die auffälligste ist ein starker Widerwille gegen Schmutz und eine über-
triebene Reinlichkeit. Sadger*) führt aus, daß ein stark betonter Wider-
wille gegen körperlichen Schmutz gewöhnlich auf den Masturbationskomplex
1) Siehe Jahrbuch, op. eit. S. 568.
2, Es ist mehr als bloße Phantasterei, wenn man dem ungeheuren Anwachsen
des industriellen Interesses vor etwa einem Jahrhundert die Welle verstärkter anal-
erotischer Verdrängung an die Seite stellen will, die — wie historisch nachgewiesen
ist — besonders in England gleichzeitig beobachtet wurde.
°, Damit diese Behauptungen nicht als bloße Theorien erscheinen mögen, will
ich betonen, daß sie, wie alle anderen hier aufgestellten, auf den [irgebnissen tatsächlich
durchgeführter Analysen fußen,
4) Sadger, op. eit. S. 44.
Über analerotische Charakterzüge. 89
hinweist und der analerotische sich eher durch die Abneigung gegen
Schmutz an äußeren Dingen, besonders Kleidern und Möbeln kundgibt,
die bei Neurotikern zu einer übertriebenen Schmutzfurcht werden kann;
als besonderes Kennzeichen des analerotischen Komplexes bezeichnet er
den Widerwillen gegen Straßenschmutz und die Neigung, die Röcke be-
sonders hoch aufzuheben (außer natürlich bei Mädchen, wo dieses Be-
nehmen eher exhibitionistischen Gelüsten dient). Meine Erfahrungen
stimmen bis auf einen Zusatz mit den Ausführungen Sadgers überein.
Ich habe gefunden, daß sich die analerotische Reaktion oft auf das Körper-
innere erstreckt, so daß die Überzeugung entsteht, alles, was der
Körper enthalte, sei unrein.!) Ich habe Menschen gesehen, die nicht ein-
mal den Finger in ihren eigenen Mund stecken wollten und sich ange-
wöhnt hatten, täglich große Mengen Wasser zu trinken, um dadurch
das schmutzige Körperinnere zu reinigen.
Leute, die dem jetzt geschilderten Typus angehören, zeigen in
ihrem Verhalten einen vollen Gegensatz zu der oben (unter A, 1) be-
schriebenen liebevollen Sorgfalt für die Dinge ihrer Umgebung, Weit
davon entfernt, Stolz auf ihre Besitztümer oder Werke zu empfinden,
nehmen sie überhaupt nur geringen Anteil an ihnen. Was sie unmit-
telbar umgibt, ihre Möbel und Kleider, läßt sie gleichgültig. Bei ihren
Erzeugnissen, gleichgültig ob geistiger oder stofflicher Art, ist es nach
Beendigung der eigentlichen Arbeit ihre Hauptsorge, sie möglichst gründ-
lich loszuwerden, und sie entledigen sich ihrer, ohne sich weiter um ihr
Schicksal zu bekümmern. Diese Einstellung kann, allerdings ın sehr
seltenen Fällen, auf dem früher erwähnten Assoziationswege auch auf
die eigenen Kinder ausgedehnt werden; in einem solchen Fall empfindet
die Frau zwar Freude über die Schwangerschaft selber, kann sich aber
für deren Resultat. das Kind, nicht erwärmen.
Eine Erweiterung dieser Reaktion ist der übertriebene Widerwille
und die Abneigung, die manchmal gegen jeden Gedanken der Beschmut-
zung und Beschädigung auftritt. Solche Menschen leiden unter der Vor-
stellung, daß irgend etwas Schönes beschädigt, zerstört oder ruiniert
werden könne, und ihr Leben ist, im Zeitalter der Industrie, ein un-
unterbrochener Protest gegen das Eindringen des Menschen mit seinem
Schmutz und seiner Häßlichkeit in die bis dahin unberührte Schönheit
der Natur. Die Befleckung eines Tischtuches, die Verunstaltung eines
Buches, die Beschädigung eines Bildes, das Anwachsen einer Stadt über
ehemalige Wiesen und Wälder, die auf einer Wiese herumliegenden
Essenreste von Ausflüglern, der Bau einer neuen Fabrik oder die Aus-
dehnung einer Eisenbahn — auf alle diese Vorkommnisse reagieren sie
in gleicher Weise mit Schmerz und Unwillen.
r) Damit steht oft eine starke Hypochondrie, besonders in bezug auf alle
Ernährungsfunktionen in Verbindung.
90 Dr. Ernest Jones.
Eine soziologisch sehr bedeutsame Abart dieser Reaktion ist, was
man den krankhaften Reinheitskomplex nennen könnte. Ich denke hier
an die Reinheitsfanatiker, denen die Sexualität überhaupt nur eine Art
der Analerotik und daher in allen ihren Eirscheinungsformen etwas Un-
reines ist,!) Sie haben sogar die Bedeutung des Wortes „rein“ so ver-
kehrt, daß man es kaum mehr anwenden kann, ohne die oft nur zu wohl
begründete Bemerkung zu hören zu bekommen: „Dem Reinen ist alles
unrein.“ Meine Erfahrungen stimmen mit denen Sadgers?®) auch in
der Zurückführung der von ihm sogenannten „Theorie des reinen Mannes“
überein, der man so oft bei neurotischen jungen Mädchen begegnet,
nämlich auf die Überzeugung, daß der Mann sich durch den Sexual-
verkehr vor der Ehe befleckt. Für solche Menschen ist alles Sexuelle
von vornherein etwas Unsauberes, das, um diesem Vorwurf wenigstens
teilweise zu entgehen, den umfassendsten und ausgesuchtesten Vorsichts-
maßregeln unterworfen werden muß.
Zum Abschluß möchte ich noch ein paar kurze Worte über ein
hier bisher nicht berührtes Thema hinzufügen, nämlich über die Beein-
flussung des Seelenlebens durch den Flatuskomplex, das kindliche Interesse
an der Erzeugung von Gasen im Darme. Ich habe mich in einer Mono-
graphie ®) mit den Beziehungen dieses Komplexes zur Kunst und Religion
beschäftigt, Beziehungen, die ausgedehnter sind, als man gemeinhin an-
nehmen sollte. Ich habe nachgewiesen,t) daß im Unbewußten der Begriff
des Flatus mit einer Reihe anderer Begriffe mit ähnlichen Merkmalen
assoziiert wird, so z. B. mit Geräusch, Licht, Geruch, Feuer, Atem,
Sprache, Donner, Gedanken, Geist, Seele, Musik und Poesie.°) Eine
ganze Anzahl seelischer Einstellungen diesen Begriffen gegenüber wird
durch diese Assoziation bedingt. Ich will die Ausführungen derselben
hier nicht wiederholen, sondern nur noch einige Beispiele zu ihrer Er-
läuterung bringen. Die Leidenschaft für die Propaganda von Ideen und
der Glaube an die Telepathie®) entstammen diesem Komplex ; ebenso der
überbetonte Widerwille gegen das Einatmen verbrauchter und der Fana-
tismus für frische Luft, das übermäßige Interesse für jedes Verfahren
zur Regelung der Atemvorgänge und die Überzeugung, daß Atemübungen
") Siehe Jahrbuch, op. eit. S. 580.
'?2) Sadger, op. eit. S. 45,
®) „Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr: Ein Beitrag zu der
Beziehung zwischen Kunst und Religion“, Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. VI.
4) Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. IV und \.
») Es ist bemerkenswert, daß der analerotische Komplex Beiträge zu jeder der
fünf Künste, Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtkunst, liefert, wie übrigens
nach dem wichtigen Beitrag zur Ästhetik durch die Reaktionsbildung gegen die Anal-
erotik nicht anders zn erwarten stand.
°) Siehe Jahrbuch, Bd, IV, S, 590 u. fl.; auch bei Hitschmann, Internat.
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse, Jahrgang I, S, 253,
Über analerotische Charakterzüge. 41
ein Allheilmittel für körperliche und seelische Leiden seien. Bei der
Sprache kann sich, ganz abgesehen von groben Sprachhemmungen, wie
dem Stottern, der Einfluß des besprochenen Komplexes bis auf die
feinsten Details der Grammatik und Syntax erstrecken, So gelang es
z. B. einem für gewöhnlich schweigsamen Mann, seine Redewendungen,
in teilweiser Nachahmung des deutschen Satzbaues, so zu konstruleren,
daß er alles, was er sagen wollte, in einen ungeheuren, aber glänzend
gebauten Satz zusammenpreßte. Der wurde herausgestoßen und alles
war erledigt.
Zusammenfassung.
Die Anzahl der in den vorstehenden Ausführungen zusammen-
gestellten Charaktereigenschaften und Interessen ist eine so große, ihre
Schilderung eine so knappe, daß ich der größeren Klarheit zuliebe noch
einmal einen kurzen Überblick über das ganze Thema geben will. Vor
allem muß man die beiden grundlegenden Phasen des Vorganges aus-
einanderhalten, nämlich die erste des „Zurückhaltens“ und die zweite
des „Hergebens“, da jeder von ihnen gesondert eine ganze Reihe von
Eigenschaften entstammt. Jeden äußeren Widerstand gegen das „Zurück -
halten“ oder „Hergeben“ weist die betreffende Person mit Unwillen zu-
rück; dieses Verhalten kann zu stark ausgepräster Individualität, zu
Eigenwillen, Eigensinn, Reizbarkeit und schlechter Laune führen, Schwer-
fälligkeit, Hartnäckigkeit und Konzentrationsfähirkeit, mit einem Streben
nach Gründlichkeit und Vollkommenheit, sind Eigenschaften, zu denen
beide Phasen gleichmäßig ihren Beitrag liefern.
Die spätere Charakterentwicklung hängt hauptsächlich von den
Wechselbeziehungen der zu den verschiedenen Phasen gehörigen Ein-
stellungen ab und von dem Ausmaß, in dem der Betreffende mit der
Entwicklung von Sublimierungen und Reaktionsbildungen auf jede rea-
giert. Die Sublimierungen führen zu zwei einander entgegengesetzten
Charaktertypen: einerseits zu Sparsamkeit oder Geiz, zu einer Vorliebe
für das Besitzen und Pflegen von Dingen mit einer großen Fähigkeit
zur Zärtlichkeit, solange die geliebte Person unterwürfig bleibt; der andere
Typus zeigt mehr Produktivität und Schaffensfreude, die Neigung irgend
jemandem oder etwas den Stempel der eigenen Persönlichkeit aufzudrücken,
eine Vorliebe für Modellieren und Formen mit einer großen Freude am
Schenken, besonders geliebten Personen gegenüber. Die Reaktionsbil-
dungen führen zu Ordentlichkeit, Remlichkeit, Pedanterie und einer
Abneigung gegen Vergeudung; sie leisten auch bedeutende Beiträge zum
Aufbau der ästhetischen Neigungen.
Das endgültige Resultat erscheint durch die komplizierten Be-
ziehungen der einzelnen analerotischen Komponenten untereinander und
zu anderen Faktoren als außerordentlich mannigfaltig. Es entstammen
92 Dr. Ernest Jones: Über analerotische Charakterzüge.
diesem Komplex in gleicher Weise einige der wertvollsten wie einige
der ungünstigsten Eigenschaften. Zu den ersteren rechnen wir besonders
die ausgeprägte Individualität, die Entschlossenheit und Hartnäckigkeit,
die Ordnungsliebe und das Organisationstalent, die Tüchtigkeit, Verläß-
lichkeit und Gründlichkeit, die Verfeinerung des Kunst- und Ge-
schmacksinnes, die ungewöhnliche Zärtlichkeit und das Geschick, mit den
konkreten Dingen der Welt umzugehen. Zu den letzteren aber gehören
die Unfähigkeit, glücklich zu sein, die Reizbarkeit und schlechte Laune,
die Hypochondrie, der Geiz, die Engherzigkeit und Kleinlichkeit, die er-
müdende geistige Schwerfälligkeit, die Herrschsucht und der Eigensinn,
Eigenschaften, die ihren Trägern das Leben in der menschlichen Gemein-
schaft verbittern und erschweren.
III.
Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes.
Von Primarius Dr. Stephan Hollös.
Das Bewußtsein ist nach Freud ein Sinnesorgan für die Wahr-
nehmungen der objektiven Reize und eines Teiles der Denkvorgänge.
Es gibt gleichsam zwei Sinnesoberflächen, die eine den Wahrnehmungen,
die andere den vorbewußten Denkvorgängen zugewendet.!) Nach dieser
Annahme drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnisse die beiden
Wahrnehmungsakte zueinander stehen. Ob Gleichzeitigkeit, zeitliche
Folgen oder eine andere Gesetzmäßigkeit in der Besetzung beider herrscht.
Ich ging von der Beobachtung aus, die wir machen, wenn wir bei
einer Unterbrechung im Denken die Vorgänge beobachten, die sich ein-
stellten.
Wir bemerken, daß wir in einer Assoziationsreihe, z, B. durch
einen objektiven Sinnesreiz unterbrochen wurden, daß aber auch ein
solcher Sinnesreiz den Anlaß zu einer neuen Assoziationsreihe gegeben hat.
In dieser wechselnden Folge von äußeren und inneren Wahr-
nehmungen stehen die einzelnen Phasen in umgekehrter Proportion zu-
einander, Je länger dauernd und je intensiver die äußere Wahrnehmung
besetzt ist, um so schwächer wird die innere sein, und umgekehrt. Das
aber, was wir als Selbstbewußtsein in uns erkennen, hängt — meiner
Ansicht nach — mit dem Verhältnis der beiden Wahrnehmungen eng
zusammen. Die Helligkeit des Selbstbewußtseins setzt eine "Fähigkeit
zur Besetzung beider Wahrnehmungsflächen voraus. Bei ausschließlicher
Geltung des einen Wahrnehmungsaktes wird subjektiv das Selbstbewußt-
sein entsprechend verdunkelt. Den Zustand, in welchem die beiden
Wahrnehmungen bei der Erhaltung des vollen Selbstbewußtseins besetzt
sind, nenne ich das Optimum des Verhältnisses beider Wahrnehmungs-
arten.
Auch die zweite Beobachtung ist allgemein bekannt, jedoch nicht
genug gewürdigt. Es kostet immer eine gewisse Mühe, eine längere
Assoziationsreihe zu rekonstruieren. Man hat den Eindruck, als hätte
Eu ii
", Freud: Die Traumdentung, 4. Aufl, S. 47,
Zeitschr, f, ärztl. Psychoanalyse, VA, {i
94 | Dr. Stephan Hollss.
man sie eigentlich während ihres Ablaufes selbst nicht vollkommen wahr-
genommen; man muß sie nachträglich ins Gedächtnis rufen, gleichsam
retrospektiv bewußt machen. Auch wissen wir, daß viele Glieder solcher
Reihen oft überhaupt nicht zu eruieren sind, und zwar können jene
Assoziationselemente der Reihe nicht erinnert werden, die vom Momente
des retrospektiven Wahrnehmungsaktes zeitlich entfernter stehen. Dem-
gegenüber sehen wir, daß Elemente leichter in Erinnerung zu bringen
sind, die ganz am Anfang der Assoziation, also von dem retrospektiven
Wahrnehmungsakte am entferntesten liegen, Darum haben wir die
Neigung, beim Rekonstruktionsversuch einer Assoziation zu fragen: Von
wo sind wir denn ausgegangen ?
Der Assoziationsprozeß scheint also in einer Besetzung von lilementen
des Vorbewußten zu bestehen, von welchem die am Anfang und Ende
des Prozesses stehenden am leichtesten und die der Mitte zu liegenden
am schwersten oder überhaupt nicht erinnert werden können oder anders
formuliert, ist die innere Wahrnehmung am Anfang und Ende der Asso-
ziationsreihe am nächsten und in der Mitte am entferntesten vom „Optimum“,
Was ist nun zumeist am Anfang der Assoziationsreihe? Ein objek-
tiver Sinnesreiz, ein stärkeres Lust- oder Unlustgefühl. Dasselbe pllegt
aber auch die Ursache der Unterbrechung zu sein, also am Ende der Reihe,
Demnach zieht sich zwischen beide Wahrnehmungsbesetzungen eine
dritte Phase ein, die vom Optimum sich allmählich loslöst und in gewisser
Hinsicht selbständig wird, Jede Assoziationsrichtung ist also eine regre-
dierte und erfährt die Anziehung des [nbewußten, Den oben beschriebenen
Prozeß können wir demnach auch dynamisch veranschaulichen.
In den im Assoziationsvorgang allmählich entstehenden Zuständen
von Unbewußtheit ist das Verhältnis zwischen beiden Wahrnelımungsarten
gestört. Es fehlt bei länger anhaltendem Assoziieren die äußere Wahr-
nehmung, infolgedessen auch das Optimum des Wahrnehmungsverhält-
nisses. Das Selbstbewußtsein wird gestört und die psychischen Vorgänge
können nicht bewußt werden. Die ganze psychische Energie ist gleich-
sam in die Assoziationen gezogen worden und ist ohne Verhältnis zum
Ich, das jetzt eigentlich nicht existiert, da wir jetzt subjektiv genommen
kein Ich haben; ein „Ich“ gilt subjektiv nur, solange es im Kontakt
mit der Objektwelt steht. Wir stecken also in den Assoziationen; wir
stehen nicht über ihnen, sind nicht Perzipienten derselben.
Es scheint bei der inneren Waührnehmung eine gradweise ab-
steigende und beim nächsten äußeren oder inneren Reiz eine jähe auf-
steigende Aufmerksamkeitsbesetzung zu bestehen.
Somit müssen wir neben der äußeren und inneren Wahrnehmung
eine dritte Phase des Bewußtseinsaktes aufstellen, in der sich die vor-
bewußten Elemente dem abklingenden Selbstbewußtsein allmählich ent-
ziehen.
Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. 95
Wir bemerken hier, daß bei dieser Betrachtung Raum für unbewußte
psychische Vorgänge geschaffen ist, ja, daß die unbewußte Phase der
Assoziationen fast eine regelmäßige und notwendige Folge des normalen
Wahrnehmungsverhältnisses ist. Das Optimum des Selbstbewußtseins
wird also, wie wir sehen, mannigfaltig abgeschwächt. Die Wahrnehmungen
äußerer Reize werden in dem Augenblick erschwert, in welchem die
regrediente Besetzung im Vorbewußten ansetzt; die innere Wahrnehmung
wird selbstbewußtloser, insofern die regrediente Besetzung selbständig
anwächst, Somit kann also die Helligkeit des Selbstbewußtseins bis zum
gänzlichen Dunkel abgetönt, ja sogar in seiner Kontinuität gänzlich unter-
brochen werden. Subjektiv aber hat man von diesen unbewußten Stellen
keine Kenntnis, weil ja im normalen Zustande die Assoziationsphase von
der Wahrnehmungsphase sehr rege unterbrochen wird, daß eine momentane
Lücke unbemerkt bleibt, wie beim Rotieren einer lückenhäften Scheibe.
‚Für die rege Ablösung sorgen nicht allein die objektiven Reize, sondern
die analogen Zielvorstellungen, die im Schlafzustande den Schlaf, hier
den Wachzustand erhalten wollen. Es sind also nicht nur die äußeren
Reize, sondern namentlich die Unlustgefühle, die den Tagträumer noch
beizeiten wachrufen. Von dem Ausfall so mancher Glieder der Assoziations-
reihe hat man nur dann eine Kenntnis, wenn man seine Assoziationen
nachträglich kontrolliert. Dies geschieht aber in den seltensten Fällen,
wobei man immer Lücken findet, deren Breite man nicht einschätzen kann.
Die regressive Besetzung des Vorbewußten ist also normalerweise
einesteils von den Sinnesreizen, andernteils von den Unlustgefühlen davor
geschützt, daß die Regression länger anhalte und somit die Kontinuität
des Selbstbewußtseins auf länger bemerkbare Zeit aufgehoben werde,
Demnach ist in einem beschränkten Sinne der Tagtraum immer ein
Wecktraum.
Diese Einstellung dient auch einer Zweckmäßickeit, indem die Be-
setzung im Vorbewußten immer einer Richtung der Zielvorstellung gemäß
läuft, um dann die Erregung in die Bahnen der Motilität — zur Erreichung
eines Beiriedigungserlebnisses — zu leiten. Das ist eigentlich die Ein-
stellung auf die Zielvorstellungen der Ichtriebe und auch das Bestreben.
wach zu bleiben, uns von den objektiven Sinnesreizen nicht abzuschließen.
Zu dieser positiven Einstellung in den äußeren Sinnesreizen kommt
noch der regulierende Faktor der endopsychischen Zensur. Ind diese
Zensur ist auch nur dann aktiv, wenn das Optimum des Selbstbewußt-
seinsverhältnisses besteht. Diese Abwechslung der äußeren und inneren
Wahrnehmung sichert die Kontinuität des Selbstbewußtseins. Die Ab-
wechslung wird aber von den äußeren Sinnesreizen und von den inneren
Lust- und Unlustgefühlen erhalten, Zu den letzteren gesellt sich die
endopsychische Zensur, mit der Verdrängung des Unbewußten, um den
realen Zielvorstellungen des Vorbewußten gerecht zu werden.
T#
96 Dr. Stephan Hollös.
Der Knotenpunkt dieses Kräfteverhältnisses ist im Vorbewußten, wo
zwei divergierende Energien die Besetzung bestimmen und lenken. Wir
erkennen hier die Energien zweier Motoren: die der Realität und der
Lust. Zwei Richtungen laufen zu den zwei Polen unseres Seelenlebens,
zu den objektiven Sinnesreizen, angezogen durch die Zielvorstellungen,
und zu dem Unbewußten, angezogen durch die unbewußte Lust.
Der am feinsten reagierende Gradmesser der progredienten und regre-
dienten Strömungen ist das durch ein fließendes Gleichgewichtsverhältnis
der äußeren und inneren Wahrnehmungen erhaltene Selbstbewußtsein.
Wenn aus weiterliegenden Gründen in diesem Besetzungskampfe
die realen Zielvorstellungen der unbewußten Lust unterliegen, so wird
die Wahrnehmung der äußeren Sinnesreize aufgehoben und die Vorbewußte
Besetzung wird den regredienten Weg ins Unbewubte unbehindert fort-
setzen, So kommen gradatim die Zustände von den bewußten Phantasien
und Tagträumen zu den unbewußten und in fließendem Übergange zu
den pathologischen Regressionserscheinungen.
Als Paradigma eines solchen krankhaften Zustandes kann der
Stupor des Katatonikers und die tiefe Depression betrachtet
werden. Es ist anzunehmen, daß hier allein die regressive Assoziations-
phase das psychische Feld beherrscht und die Wahrnehmung der objek-
tiven Sinnesreize bis zur völligen Analgesie aufgehoben ist. Ein ständiger
Verschluß der äußeren Wahrnehmung erklärt auch die Abschwächung
der Motilität. Der subjektive Zustand des Kranken ist mit keinem ähnli-
chen oder vorstellbaren zu vergleichen. Es ist ein Schwimmen des Ichs
in den Assoziationen, wo ein Wissen des Zustandes und der ablaufenden
Assoziationen in unserem Sinne aus Mangel des entsprechenden inneren
und äußeren Wahrnehmungsverhältnisses -—— des Optimums — nicht
möglich ist. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß nach der Rückkehr
der Wahrnehmungsphase manche Glieder dieser langen Assoziationsphase
erinnert und bewußt werden können, wie wir das in manchen Fällen
geheilter Kranken sehen können. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß
auch im Stupor wie im Schlafe die Vorstellung der Realität und die
Zielvorstellungen nicht gänzlich abgetötet sind.
Zur Bestärkung dieser zweiphasigen Seelentätigkeit diene das andere
Extrem, wo die Wahrnehmungsphase die alleinherrschende ist. Es ist
das der psychische Zustand der Manie. Hier werden von den objektiven
Sinnesreizen die Bahnen bis zum Ablauf in die Motilität ständig ununter-
- brochen besetzt. Es kommt zu keiner abwechselnden Assoziationsphase
oder nur ganz verschwindend und blitzartig. Schon der Motilitätsdrang
bestätigt die Hemmungslosigkeit, also das Fehlen der regredienten Asso-
ziationen. Daß aber die äußere Wahrnehmungsbesetzung die herrschende
Tätigkeit ist, beweist jeder Maniaker, der wie mit vervielfältigten Sinnen
alles perzipiert und nur perzipiert. Subjektiv muß in der Seele ein fort-
Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. 97
währendes Sehen, Hören, Verspüren bestehen mit den fast rellexartigen Reak-
tionen von Sprechen, Bewegen, motorischem Drange ohne jedwede Hemmung
Die Wahrnehmungen der objektiven Sinnesreize und auch der Lust-
und Unlustgefühle entbinden eine progrediente Energiebesetzung, die
im ersten System bis zur Motilität unbehindert ablaufen würde, wenn
nicht das zweite System mit seiner regredienten Energiebesetzung seine
Hemmungen entgegenstellen würde. Zur Psychomotion respektive zur
Handlung kann es nur nach streng determinierten Versuchen der Besetzung
jener Vorstellungen kommen, die einer Zielvorstellung entsprechend ge-
eienet erscheinen, das gewünschte objektive Wahrnehmungserlebnis her-
beizuführen, Während dieses komplizierten regressiven Prozesses im Vor-
bewußten ist überhaupt jede Bewegung aufgehoben. Wenn wir dabeı
dennoch die mannigfaltigsten Handlungen ausführen, so sind dies Auto-
matismen, die durch die nicht vorherrschenden Zielvorstellungen entbun-
denen Enereien in den eingeschliffenen Bahnen zur Motilität ablaufen,
Naturgemäß wird die Energiebesetzung des Vorbewußten nicht bei
jeder Unterbrechung zur Entladung einer Handlung führen. Aber es hat
sich gezeigt, daß die bisher gehemmte und gestaute Energie bei einer
Entbindung sich in eine, wenn auch sehr minimale Motilität immer ent-
ladet. Es liegt der Gedanke nahe, daß das Ende der Besetzungsphase
im Vorbewußten, also die Unterbrechung der Assoziationen durch einen
Motilitätseffekt erkannt werden könnte.
Zu diesem Schlusse führte mich vor einigen Jahren nicht die
Spekulation, sondern die Empirie. Ich veröffentlichte damals eine Ab-
handlung über die psychologische und psychiatrische Bewertung der Augen-
bewegungen und kam damals ohne eine psychoanalytische Disziplin zu
dem auch heute bekennten Ergebnis, daß die zwei Phasen des Bewußt-
seinsaktes, die einander ständig ablösen, an der verschiedenen Einstellung
der Augen beobachtet werden können.
Es ist leicht verständlich, daß die Wahrnehmung der objektiven
Sinnesreize ohne Ausnahme mit einer Konvergenz und Fixierung des
Objektes einhergeht. In dem Momente, in welchem diese Wahrnehmungs-
besetzung aufhört und die regrediente Energiebesetzung ansetzt, löst sich
die Konvergenz der Augen in einem immer entfernteren Punkte, bis in
der größten Vertiefung der Assoziationsreihe die Augen sich ins Un-
endliche einstellen.
Kurz gefaßt:Während der Assoziationsphase derEnergie-
besetzung sind die Augen auf das Unendliche, während
der Wahrnehmungsphase auf das Endliche eingestellt.
Keineswegs dürfen wir bei der Kompliziertheit und dem raschem Verlaufe
der Phasen, wie auch bei ihrem oft gleichwertigen Bestande eine immer
auffallende Abwechslung der Augeneinstellung erwarten. Die Richtigkeit
dieser Aufstellung beweisen in erster Reihe die extremen Zustände.
98 Dr. Stephan Hollös,
Dieses Verhalten der Augen besagt, dab während der Legression
ein Stillstand der Motilität, also eine Reizlosigkeit in den motorischen
Bahnen auch den Zustand der Untätigkeit, das Nichtkonvergieren der
Augen nach sich zielıt. Es bedeutet aber auch denselben Zustand, welchen
wir bei der Regression im Traume sehen, nämlich „die Abschließung
der Außenwelt“. Im wachen Zustande ist das Einstellen der Augen aufs
Unendliche die einzige Möglichkeit einer solchen Abschließung. Der sich
in seinen Assoziationen vertieft und nachher von seinem Zustande Rechnung
abgeben will, muß erkennen, daß er während solcher Denkvorgänge
von seiner Umgebung abgeschlossen war. Und je tiefer und länger
dauernd dieser Zustand ist, um so mehr wird die Wahrnehmung der
objektiven Sinnesreize und auch die motorische Besetzung der Konvergenz
der Augen aufhören. Die oben angeführten zwei pathologischen Zustände
bestätigen auch diese Annahme, Der Katatone starrt vor sich ins Un-
endliche, konvergiert in den seltensten Fällen, der Maniaker konvergiert
von einem Objekt auf das andere fast: ohne Unterbrechung.
Man wird sich bei der Beobachtung der blitzartigen Augenbewe-
gungen nur allmählich zurechtfinden und ganz sicher nur nach einer
Zeit eine Abwechslung der Assoziations- und Wahrnehmungsphase
erkennen. Als klassische Empirie diene die Beobachtung, die jedermann
selbst öfters hat machen können. Man spricht mit jemandem. Es kommt
darauf eine peinliche Situation; man bemerkt, daß unser Wort nicht
beachtet wird, daß der andere uns nicht einmal hört, Man hat das ganz
sichere Empfinden, daß der andere nicht nur nicht zugegen ist, sondern
wo in der weiten Ferne in alten Erinnerungen o:ler in lirlebnissen vom
Vortage schwelgt. Man hat ganz pünktlich den Moment bemerkt, wo
er von uns, ohne ein Wort zu sagen, Abschied nahm, und können auch
sofort konstatieren, wenn er zu uns wiederkehrt. All das hat uns
empirisch die Einstellung der Augen verraten. Nicht die Richtung der-
selben. Der andere weiß ja auch, daß es unschicklich ist, unsere Ge-
sellschaft ohne weiteres zu verlassen. Er richtet die Augen auf unser
Gesicht. Die Einstellung der Augen verrät aber die geheime Tat dennoch,
denn die auf uns gehefteten Augen sehen nicht, sie schauen nur, die
Blicklinien treffen sich nicht in uns, sondern laufen durch uns, wie durch
die Luft ins Unendliche,
Wenn diese Verhältnisse richtig bestehen, so müssen sie sich auch
in allen unseren Bewegungen kundgeben. Freud hat in dem Gesichts-
ausdruck des Analysierten bemerkt, wenn das Nachdenken tiefer wurde
und dann beim Ergebnis des Denkens das Gesicht sich änderte. ') Die
Hemmung der Assoziationen bedeutet nicht eine günzliche Aufhebung
oder Abschwächung unserer Bewegungen, Hier spielen auch die tiefer
!, Freud: Die Traumdeutung, 4, Aufl, S. 77,
Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. 99
liegenden nicht vorherrschenden Zielvorstellungen eine Rolle, die unsere
Automatismen erhalten, welche aber von der Assoziationsphase dennoch
bemerkbar beeinflußt werden. So sehen wir oft den Gang eines m
Gedanken versunkenen nicht unterbrochen, sondern verlangsamt oder
beschleunigt, allerdings nicht der Zielvorstellung des Gehens entsprechend
abgeändert,
Am Ende sei noch erwähnt, daß diese abwechselnden Phasen auch
die rein somatischen Funktionen, in erster Reihe den Atmungsrhythmus
beeinflussen, Ein zu langes Verweilen in der Assoziationsphase geht mit
einem langen Verweilen zumeist im Expirium, demgegenüber die lange
äußere Wahrnehmungsphase (wie bei angestrengter Aufmerksamkeit, wo
die Augen starr fixieren, „glotzen“ und der Atem stocken bleibt) mit
Verweilen im Inspirium. Schon diese somatischen Folgen oder Begleit-
erscheinungen scheinen mit ihrem Unlustgefühl der gestörten Oxygen-
versoreung für die Unterbrechung der zu langen Besetzung und für den
Rhytımus der beiden Besetzungsphasen zu sorgen.
Und somit haben wir das Feld berührt, auf welchem das tiefste
und wesentlichste Spiel und der Kampf der Realität und Lust in ihren
unmittelbar somatischen Beziehungen zu verfolgen wären,
Be
=
Mit diesen Erörterungen sind nun einesteils jene Tatsachen be-
stätigt, die Freud in dem Satze ausgesprochen hat, daß „auch ein
Tagtraum nicht notwendig bewußt ist, daß es auch unbewußte Tag-
träume gibt“. „Und die kompliziertesten Denkleistungen ohne Mittun des
Bewußtseins möglich sind.“ Ich glaube aber mit der Erklärung einen
Beitrag des Entstehens der Tagträume und allen den minimalsten Re-
gressionen gegeben und diese zu dem Traume und zu den pathologischen
Zuständen näher gebracht zu haben.
Aus dieser Erklärung können wir auch leichter verstehen, von wo
der Traun die Menge jener Tazesreste hernimmt, die in uns kaum oder
car nicht bewußt waren, Die abgebrochenen Gedankengänge, die auch
Freud als Quelle dieser fertigen Gebilde annimmt, sind viel zahlreicher,
als wir sie uns vorstellen können, weil ja der Schein der Kontinuität
des Selbstbewußtseins die Annahme solcher unbewußten Besetzungen
unerklärlich macht. Die Assoziationsphase, die in uns, ohne daß wir
es bemerken, teilweise unbewußt abläuft, häuft ein nicht einschätzbares
Material auf, das fast fertig auf seine Aufnahme in den Traum wartet. Diese
unbewußten Tagträume und Phantasien können aber im Wachzustande
nicht zu richtigen Träumen werden, weil, wie schon erwähnt, die Ziel-
vorstellung des Wachseinwollens diese noch vorzeitig, also vor einer
Halluzinationsbesetzung unterbricht. Und eben darum können sie auch
nicht bewußt werden. Denn mit den Halluzinationen fängt wieder das
Selbstbewußtsein an. Ich machte die Aufstellung, daß zum Selbst-
100 Dr. Stephan Hollös.
bewußtsein das entsprechende Bewußtseinsverhältnis der äußeren und
inneren Wahrnehmungsphasen — das Optimum — notwendig ist, Im
Tagtraume ist dieses Verhältnis schon mit der Abschließung von dem
äußeren Sinnesreize verschoben worden, Im Nachttraume kommt aber
durch die Halluzination ein Surrogat der äußeren Sinnesreize als Material
einer Wahrnehmung in Betracht, und diese Besetzung stellt das Selbst-
bewußtsein, wenn auch auf einer gefälschten Sinnesreizbasis, her.
Ebenso können wir das Ineinandergreifen der normalen Zustände
mit den pathologischen, die ja Freud auf einer einheitlichen Basis stellte,
mit noch einer Beleuchtung erhärten. Der Stupor und die Manie gaben
ein Paradigma der ausschließlichen Assoziations- respektive Wahrnehmungs-
phase. Die Regression gewinnt im Stupor keine größere Tiefe, wie es
im Nachttraume der Fall ist, sondern eine Breite, wie das im Tagtraune
ist. Der Stupor ist nur ein verlängerter Tagtraum.
Es sind keine Halluzinationen, es ist keine Scheinwahrnehmung,
es besteht kein Bewußtsein, keine Motilität und keine Erinnerung. Dies
will nicht eine klinische Beschreibung des Stupors sein, sondern nur ein
schematisches Bild des wahrnehmungslosen seelischen Zustandes, das ım
Stupor oft nachzuweisen ist, Wenn schon Halluzinationen erscheinen,
beginnt damit die Wahrnehmungsphase der gefälschten Sinnesreize und
es ändert sich auch das äußere Krankheitsbild. Die Scheinwahrnehmung
wird als reale Wahrnehmung die Erregung in die Bahnen der Motilität
leiten; es werden Handlungen erscheinen, die „von allem Irdischen ab-
wesend“ den gefälschten Sinnesreizen entsprechen. Aber es wird ein,
wenn auch gefälschtes Selbstbewußtsein auf Grund des Bewußtseinsver-
hältnisses der zwei Phasen bestehen, mit Wahrnehmungen und Hand-
lungen. Solche Zustände finden wir oft in der Hysterie. Auch hier
können wir nebst Wachzustand, Halluzinationen eine teilweise Abschließung
der Außenwelt finden. Daß die Hulluzinationen ihr Material aus Tag-
träumen und aus dem Vorbewußten reichlich holen, beweist jede Analyse
dieser Kranken.
Wir können aber durch die Aufstellung der Assoziationsphase auch
ein Gegenstück der regressiven Erscheinungen unserem Verständnisse
näher bringen. Wenn Glieder oder ganze Reihen der Assoziationen in
der wahrnehmungsfreien Phase vom Unbewußten weggerissen werden
können, so könnte umgekehrt geschehen, daß durch die jäh dreinfallende
Wahrnehmungsbesetzung manche Glieder des Unbewußten bemerkt, erfaßt
werden, Bei diesem Erklärungsversuche denke ich an die gänzlich un-
verständlichen, isolierten und darum auch durch die Zensur leichter
passierbaren Einfälle auf die unverständlichen „Lichtblitze“. Ähnlich sind
auch jene gefühlsartigen Wahrnehmungen von unseren Träumen, die
zumeist nur wie ein Durchschimmern von weitem erfaßt und sogleich
verloren werden, ohne eine Spur von Erinnerung zurückzulassen. Und
Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. 101
hierher kann man die Einfälle reihen, die besonders mit der Einstellung
der psychoanalytischen Behandlung auftauchen,
Somit hat am Ende auch die Psychoanalyse von dieser Seite eine
bestätigende Motivierung gewonnen. Es wird dem Kranken eine zwei-
seitige Aufgabe auferlegt. Die eine sagt, daß er sich gänzlich ın der
Assoziationsphase fahren lasse. Wenn ausschließlich nur dies die Auf-
gabe wäre, so würde sie vielleicht leichter gelingen; man könnte mit
einer Ausschaltung der Sinnesreize in einem schlafähnlichen Zustande
auch über die Strenge ‘der Zensur passieren und man würde ganz frei
assoziieren. Aber das macht ja jeder unbewußte Tagträumer oder vielleicht
auch einer in der Hypnose, doch wird keiner von seinen Assoziationen
das mindeste in sein Bewußtsein bringen. Die Aufgabe ist gerade, dab
der Kranke von seinen Assoziationen auch wisse und daß er dieselben
uns mitteile. Diese zweite Aufgabe ist, daß er seine Assoziationen wahr-
nehme, Je mehr er einer Aufgabe entspricht, um so weniger kann er
der anderen gerecht werden. Und wenn die Aufgabe doch gelingt, so
ist das der Zielvorstellung der Genesung, dem Motor der Übertragung
und der Deutungskunst des Arztes zu verdanken.
Mit Hilfe dieser Faktoren ist das Eindringen ın das Unbewußte
durch die Lücken der Wahrnehmungsphase möglich. Diese blitzartigen
Lücken, Selbstbewußtseinsskotome, entstanden durch das gestörte Be-
wußtseinsverhältnis der inneren und äußeren Wahrnehmung, ermöglichen
durch die abgeschwächte Zensur jene Symptome von Versprechen, Ver-
gessen und Fehlhandlungen, die das Deutungsmaterial des Unbewußten
werden. Solche Lücken sind selbst der Traum und die neurotischen
wie psychotischen Zustände in ihren Symptomen.
Ich wollte mit diesen Erörterungen klarlegen, daß das Vorbewußte
den ontogenetischen Inhalt des Unbewußten während unseres Wachzn-
standes unaufhörlich bereichert und daß im Laufe unseres Selbstbewußt-
seins sich ständig, gesetzmäßig unbewußte Phasen einstellen, die aber
unbemerkt bleiben. Die Annahme, daß unbewußte psychische Aktionen
auch während der selbstbewußten Wahrnehmungsphase, also parallel mit
den bewußten einhergehen, wird mit dieser Aufstellung in keiner Weise
tangiert. Das Unbewußte, das ja auch Urphantasien, also phylogenetische
Besetzung inne hat, wird in seinen rein quantitativen Veränderungen
auch einen selbständigen Weg gehen, Die phasenartige Besetzung der
beiden Wahrnehmungen gibt aber die regelmäßige Gelegenheit, zu dem
Unbewußten eine ununterbrochene Strömung seitens der qualitativen
Veränderungen zu leiten,
Mitteilungen.
1,
Denken und Muskelinnervation.
Von Dr. 8. Ferenczi.
Es gibt Menschen, die dazu neigen, jedesmal wenn sie etwas durch-
denken wollen, in der Bewegung, die sie gerade ausführen (z. B. im Gehen),
innezuhalten und sie erst nach beendigtem Denkakt fortzusetzen. Andere wiederum
sind außer stande, einen irgendwie komplizierten Denkakt in Ruhe auszuführen,
sondern müssen dabei eine rege Muskeltätigkeit entfalten (vom Sitze aufstehen,
herumgehen ete.). Die Personen der ersten Kategorie erweisen sich oft als
stark gehemmte Menschen, bei denen jede selbständige Denkleistung die
Überwindung innerer (intellektueller und affektiver) Widerstünde erfordert, Die
Individuen der zweiten Gruppe (welche man als „motorischen Typus“ zu be-
zeichnen pflegt) sind im Gegenteil Leute mit zu raschem Vorstellungsablauf
und sehr reger Phantasie. Für den innigen Zusammmenliang zwischen dem
Denkakt und der Motilität spricht nun die Tatsache, daß der Gehemmte die
durch Einstellung der Muskelinnervationen ersparte Energie zum Überwinden
von Widerständen beim Denkakt zu verwerten scheint, während der „motorische
Typus“ allem Anscheine nach Muskelenergie verschwenden muß, wenn er im
Denkvorgang das sonst allzu „leichte Überfließen der Intensitäten‘* (Freud)
mäßigen, d. h. seine Phantasie hemmen und logisch denken will. Die Größe
der zum Denken erforderlichen „Anstrengung“ hängt — wie erwähnt —
nicht immer von der begrifflichen Schwierigkeit der zu bewältigenden Aufgabe ab,
sondern ist — wie uns Analysen zeigen — sehr oft aflektiv bedingt ; unlustbetonte
Denkprozesse erfordern ceteris paribus größere Anstrengung, gehemmtes
Denken erweist sich bei der Analyse sehr oft zensurbedingt, d.h. neurotisch,
Bei Personen mit leichter Cyklothymie sieht man den Zuständen gehemmter
und erleichterter Phantasietätigkeit, Schwankungen der Lebhaftigkeit der
Bewegungen parallellaufen. Aber auch beim „Normalen“ kommen zeitweise
diese motorischen Symptome der Denkhemmung oder Erregung vor.')
Bei näherer Untersuchung findet man allerdings, daß der Anschein, als
ob in diesen Fällen ganz einfach Muskelenergie in „psychische Energie“ um-
gewandelt würde, trügerisch ist. Es handelt sich um komplizierte Vorgänge,
!) Eine Patientin, die ihre Füße fast kontinuierlich zittern laßt (eine tikartige
Gewohnheit bei ihr), verriet mir während der Analyse durch plötzliches Innehalten
im Zittern stets den Moment, in dem ihr etwas einfiel, so daß ich sie immer mahnen
konnte, wenn sie mir einen Einfall bewußt vorenthielt. Während der, oft minuten-
langen Assoziationsleere bewegte sie ihre Füße unanfhörlich,
Frits van Baalte: Außerungen der Sexnalität bei Kindern. 103
um die Spaltung der Aufmerksamkeit resp. um die Konzentration,
Der Gehemmte muß seine Aufmerksamkeit ganz dem Denkorgane zuwenden,
kann also nicht gleichzeitig eine (gleichfalls Aufmerksamkeit erfordernde)
koordinierte Bewegung ausführen. Der Gedankenflüchtige hingegen muß seine
Aufmerksamkeit zum Teil vom Deukakte ablenken, um die sich überstürzenden
Gedankengänge einigermaßen zu verlangsamen.
Der im Denken Gehemmte muß also beim Nachdenken nur die koor-
dinierten Bewegungen einstellen, nicht aber den Aufwand an Muskeliunervation ;
bei näherem Zusehen findet man sogar, daß beim Nachdenken der Tonus der
(ruhiggestellten) Muskulatur regelmäßig ansteigt.!) Und beim „Type moteur“
handelt es sich nicht einfach um eine Erhöhung des Muskeltonus (des Inner-
vationsaufwandes), sondern um die Einschaltung von Widerständen für die
Aufmerksamkeit.
Auch darf man nicht denken, daß die Unfähigkeit zum gleichzeitigen
Denken und Handeln eine für die Neurose besonders charakteristische Er-
scheinung ist. Gibt es doch zahlreiche Fälle, in denen der Neurotiker eine
umschriebene komplexbedingte Denksperre gerade durch übertriebene Rührigkeit
und Lebhaftigkeit der nichtgesperrten Seelenbezirke maskiert.
Die Psychoanalyse könnte viel zur Aufklärung dieser komplizierten Be-
ziehungen zwischen psychischer Tätigkeit und Muskelinnervation beitragen.
Ich verweise auf die von Freud wahrscheinlich gemachte Erkläruug der
Traumhalluzinationen, wonach diese einer rückläufigen Erregung des
Wahrnehmungssystems (Regression) ihre Entstehung verdankt, die eine l'olge
der Schlafsperrung (Lähmung) am motorischen Ende des psychischen Apparates
ist, Der zweite bedeutsame Beitrag, den die Psychoanalyse zur Kenntnis der
Beziehungen zwischen Denkanstrengung und Muskelinnervation geleistet hat, ist
Freuds Erklärung des Lachens beim witzigen oder komischen Eindruck;
dieses ist nach seiner uns sehr plausiblen Erklärung die motorische Ent-
ladung überschüssig gewordener psyehischer Anspannung, Schließlich sei
noch auf die Breuer-Freudsche Ansicht über (ie Konversion psychi-
scher Erregung in motorische bei der Hysterie und auf die Erklärung
Freuds hingewiesen, wonach der an Zwangsvorstellungen Leidende
eigentlich das Handeln durch Denken ersetzt.
Das regelmäßige Parallellaufen motorischer Innervationen mit den psy-
chischen Akten des Denkens und Aufmerkens, ihre gegenseitige Bedingt-
heit und vielfach nachzuweisende quantitative Reziprozität sprechen allenfalls
für eine Wesensgleichheit dieser Prozesse. Freud dürfte also Recht behalten,
wenn er das Denken fürein „Probehandeln mit Verschiebung kleinerer
Besetzungsquantitäten* hält und auch die Funktion der Aufmerksamkeit,
die die Außenwelt periodisch „absucht“ und den Sinneseindrücken „entgegen-
geht“, an das motorische Ende des psychischen Apparates verlegt. |
Aus dem infantilen Leben.
2.
Äußerungen der Sexualität bei Kindern.
Von Frits van Raalte, Arnhem (Holland).
Es bat Zeiten gegeben, da die Menschen glaubten, die rechte Körper-
hälfte des Menschen sei wärmer als die linke; ein Napf mit Wasser sei mit
1) Das Ansteiven des Muskeltonus beim Denkakt ist physiologisch erwiesen.
104 Mitteilungen,
einem Goldfisch ebenso schwer als ohne Goldfisch: das Los der Menschen
werde beherrscht von den Sternen; der Bandwurm rühre her von Teilchen
der Därme wenn diese schwach sind; das Essen von trockenem Mumien-
pulver bilde eine Prophylaxe gegen Epilepsie; ein Weib sei imstande, auf
einem Besenstiel nach einem Hexenkongreß zu reiten; die Kinder sagen
immer die Wahrheit (ex ore parvulorum veritas) ; die Kinder seien so un-
schuldig und man meint damit, daß sie asexuell sind. Wer über Kinder
schreibt oder dichtet, ohne sie zu kennen, macht es wie die klassischen Ana-
tomen, welche behaupteten, daß die Arterien I’neumoa enthielten, anstatt Blut,
Sie kamen zu dieser Meinung, weil sie bei Sektionen immer fanden, daß die
Arterien leer waren, da das Blut sich ins Herz zurückgezogen hatte, und sie
hatten keiue klinischen Erfahrungen. Die fehlerhaften Meinungen über Kinder
rühren ebenfalls vom Mangel an klinisch-pädagogischen Erfahrungen her, be-
sonders die Auffassungen über die infantile Asexualität. Und so kommt es,
daß es noch immer sehr viele Leute gibt, welche glauben, daß die Sexu-
alität in den Pubertätsjahren in den kindlichen Körper geworfen wird und in
die Seele hineinfällt, etwa wie ein Stein, der von einem mutwilligen Knaben
in ein wohlgeordnetes Ladenschaufenster geworfen wird. Ein, sei es nur ober-
flächlicher Blick in die Literatur und das Leben wird bald unsere Meinung
ändern,
Der holländische Dichter Willem Bilderdyk (gestorben 1851)
schreibt in seiner Autobiographie, daß er von seinem zweiten Lebensjahre an
in Selbstbetrachtung vertieft war. Als Kind war er „mehr grübelnd als spiel-
süchtig“, er fand alles widerlich, nichtig, leeres Spreu oder sprudelnden
Schaum“ und er verlangte, „zwei Jahre alt“, aus dem Leben erlöst zu wer-
den ...... „Ich kann nicht einen grünen Zaun entlang gehen, ohne dab
die Effuvien des Laubes mir sogleich Schauder und Fieber verursachen .....».
Die Natur bietet mir nichts anderes als das unangenehme Gefühl von einem
in Verfall geratenen und von der Schöpfung Gottes entarteten Werkstück . .. +».
Nichts ist mir schädlicher als die Sonne, welche keinen Teil meines Körpers
bescheinen kann, ohne Ekel und Niedergeschlagenheit zu verursachen . .....
Die Frühlingsluft (in welcher jeder Mensch sich wieder aufleben fühlt) bringt
mich in eine Art von Delirium ...... Ich bin nicht geschaffen für diese
verfluchte Welt, ich muß, wenn ich leben soll, eine kleine Welt ä part
haben ..... „ Möchte es Gott gefallen, mir Rube im Grab, oder dem
Könige, mir Ruhe im Tollhaus zu geben ...... Ich will gerne nach den
Wildnissen von Sibirien gehen, wenn ich nur nicht mit Menschen umzugehen
brauche ...... ‘Ich kann nicht genießen, ich lebe nicht in der Außenwelt,
daher kommt es auch, daß ich niemals konkludiere aus externen Data, aber
immer aus abstrakten Grundwahrheiten.*
Wie man sieht, ein treffendes Bild des, Neurotikers und alle Sonderbar-
keiten Bilderdyks müssen von dieser Prämisse aus beurteilt werden. Seine
stark erotische Veranlagung — die ihn nicht hinderte, den strengsten Kalvi-
nismus zu predigen — äußert sich in sehr vielen seiner Poemen und er gibt
auch ein poetisches Rezept fürs Küssen (u. a. ein bißchen mit der Zunge
zwischen den Lippen die Geliebte kitzeln). Obgleich viele Autoren glauben,
daß Bilderdyk Anachronismen schreibt, darf man aber wohl annehmen, dab er
wirklich frühreif war und er sagt, daß er, als er drei Jahre alt war, ein
Gedicht schrieb „auf den sanften Hals und die elfenbeinweißen Knie“ eines
neunjährigen Mädchens, das mit ihm im Kindergarten war.
Zum Thema Dichtung und Neurose gehört, daß Bilderdyk seine
Dichtungen wirklich als ein Produkt seiner Krankheit sah. So schreibt er
Frits van Raalte: Äußerungen der Sexualität bei Kindern. 105
z.B. (im J. 1824 geschrieben au Hoff mann): „Das Verseschreiben ist mir
ebenso natürlich wie das Atmen, und ich kann es (wenn ich auch wollte)
nicht unterlassen.“
Noch viel deutlicher schrieb er 1816: „Vor kurzem hatte ich einen
Anfall wie ehemals, welcher mich 24 Stunden hintereinander einen Fluß
von Versen ausstürzen ließ: dabei war ein ziemlich großes Stück und ein Fluß
von kleineren Stücken.“
Und 1817: „Es hörte wieder auf mit der gewohnten Krisis, Flüssen
von Versen! .i..:. und später...... „Gestern und vorgestern war es
bloß Verse ausspucken, nolens volens, wie eine Fontäne das Wasser“ ......
Und an einer anderen Stelle schreibt er: „Es ist auch wahr, daß ich mich
über die Menschen stelle, wenn ich ein Gedicht schreibe und ich schreibe
nicht, was ich will, aber ich muß schreiben, wie ausstoßend, was mich
überbürdet,“
Also seine eingeklemmten Affekte bewußt machen und die Poemen zu
Symbolen seines Neuroseinhalts machen.
Auch die Kindheiterinnerungen mancher holländischer zeitgenössischen
Schriftsteller zeigen, wie oft Kinder von erotischen Neigungen gequält werden,
z. B. Henri Borel in: Het Jongetje; Lodewyk van Deyssel in: de
kleine Republiek; Krede ben Heik in: Achmed, gezegd de dorst
naar het Schoone: und schließlich auch in einem Roman: Liefdes
Verloren Pad, den ich im Jänner 1912 in der Zeitschrift „Nederland“
publizierte.
*
En
Der Direktor einer konfessionellen Schule erzählte mir vor einigen
Jahren folgendes: Er wurde vom Vormundschaftsgericht eingesetzt als Vor-
mund eines dreijährigen Knaben. Das Kind wurde untergebracht bei einer
Bauernfamilie ; die Pflegeeltern beschweren sich, daß das Kind onaniert, daß
es sich unten zu der Leiter stellt und nach oben schaut, wenn die alte
Großmutter auf der Leiter steht, und unter ihre Kleider guckt; wenn eine
der weiblichen Personen im Hause ihren Strumpf aufbindet, steht er dabei
und schaut mit großem Interesse zu,
Den folgenden Fall habe ich schon verwendet in meinem Buch: Over
de Waarde van het Getuigenis van Kinderen (= Über den
Wert der kindlichen Zeugenaussage), aber es scheint mir von ge-
nügendem Interesse, ihn hier zu wiederholen. Die Umstände sind mir sehr
genau bekannt: Betsy, ein elfjähriges, unschuldig und liebenswürdig aus-
sehendes Schulmädchen, schimpft ein anderes Mädchen. und wird zur Strafe
in die hintere Schulbank gestellt. Um sich dafür zu rächen, fragt sie auf
dem Spielplatz ein Mädchen aus einer anderen Klasse, bei wem sie lerne.
Das Mädchen sagt: „Ich sitze bei H,“ Da sagt Betsy: „Ich nicht, ich sitze
bei dem schmutzigen N. (sie sagt „vies“, was hier so etwas wie lüstern heißt).
Nun wollen die Mädchen wissen, weshalb sie Herrn N. schmutzig findet. Da
erzählt Betsy: Herr N. habe vor kurzem sie und einen Knaben zur Strafe
nach 12 in der Schule gehalten und da habe er den Knaben fortgeschickt
und er habe sie mitgenommen in einen Schuppen und dann habe er sehr
Unzüchtiges mit ihr getan. Und auch zeigte er jedesmal „etwas“ vor der
vollen Schulklasse!!!.... Sie fügte hinzu, das „schmutzige Ding“ sei
erectum.
Am selben Tage hört eine Lehrerin von einigen kleinen Mädchen aus
einer anderen Klasse einzelne Details und dann wird die Sache genau unter-
106 Mitteilungen.
sucht. Betsy gesteht unter einem Strom von Tränen, es sei nicht wahr, sie
habe es nur aus Rache gesagt und da wird sie verurteilt, in alle Klassen zu
gehen und zu sagen: „Kinder, es ist nicht wahr, was ich euch erzählt habe,
es war eine Lüge.“
Der Lehrer kam in diesem Fall nicht ins Gefängnis,
Später habe ich vernommen, daß mehrere Schwestern dieses Mädchens
ziemlich unzüchtig leben, daß ein zwölfjähriges Mädchen derselben Familie
wegen Sittenfehler in ein Kloster „Zum guten Hirt“ aufgenommen wurde
und daß Betsy jeden Abend für einen Buchhändler Zeitungen herumtragen
muß, daß sie dann gern zu den Kasernen kommt und mit Soldaten und
Husaren spricht und auch noch andere Dinge macht.
* »
e
Es passiert auch, daß kleine Mädchen sich wundern, daß die Erwach-
senen so treu glauben, Kinder seien so unschuldig und unwissend, \or einem
Jahre war ich in meinen Ferien in Pension bei einer lamilie von drei Per-
sonen: Großmutter, Tochter und der dreizehnjährigen Tochter einer ver-
heirateten Schwester der Tante. Das Mädchen, das Lehrerin werden sollte,
hatte auch Ferien, und da ich sonst niemand in der Gegend kannte, begleitete
das Kind mich dann und wann auf einem Spaziergang. Zu dieser Zeit bekam
ich Korrekturbogen des Buches „Über den Wert der Zeugenaussage
von Kindern“ und das Mädchen fragte mich, als wir wieder einmal in
den Dünen spazieren gingen, weshalb ich in meinen Ferien korrigieren muB,
Ich sagte ihr, daß es Korrekturbogen sind und daß ich ein Büchlein geschrieben
habe über die Aussage von Kindern. Dann sinnt das Mädchen einen Augen-
blick nach und erzählt mir dann folgendes, mit der Erlaubnis, es zu schreiben
und drucken zu lassen, unter der Bedingung aber, daß ich es nicht in eine
Zeitung schreibe, die ihre Familie liest: Sie gehe jeden Morgen früh mit
ihrer Freundin (ein Kind streng religiöser Eltern, wie sie selbst auch) in die
Dünen spazieren, denn es ist frühmorgens so herrlich in der Natur. Nun
begegneten sie seit einigen Tagen jeden Morgen einem Herrn, der ullein
in den Dünen spazierte. Am zweiten Morgen habe er sie gogrüßt, am dritten
auch und dann habe er freundlich gelacht, und ohne daß sie einander gesprochen
haben, wissen sie alle drei, daß sie sich nächsten Morgen wieder begegnen
sollen. Nun hat der Herr diesen Morgen seine Hosen geöffnet und er sei
so weiter spaziert, mit „etwas“ aus den Hosen Iüngend, und das haben sie
sehr drollig gefunden und haben deshalb sehr gelacht,
Ich frage, ob sie deshalb auch so gelacht haben diesen Morgen, als sie
‘dem Dienstmädchen etwas erzählte, und da gesteht sie, daß sie es dem Dienst-
mädchen erzählt habe, weil sie es jemandem erzählen mußte. Ich sage, dab
es doch gar nicht schön sei für ein junges Mädchen, daß sie selbst doch Ver-
anlassung gegeben habe zu dem sehr unzüchtigen Benehmen des Herın und
daß es auch sehr gefährlich sei, denn man lese oft in den Zeitungen von
Attentaten auf junge Mädchen. Ich frage weiter noch, ob sie schon früher
Interesse gehabt habe für derartige Demonstrationen, und sie gesteht, dab sie
schon vor einigen Jabren zu schauen versuchte, wenn Schulknaben bei einer
Mauer urinierten. Sie fleht mich an, ihrer Tante nichts zu sagen, und ich ver-
spreche das, aber ich sage ihr, daß ich es schrecklich finde und das fand ich
damals auch, als die Sachen mir noch ziemlich unbekannt waren. Seitdem
habe ich den Glauben an die kindliche Asexualität und an die Unwissenheit
der Kinder verloren, Der Glauben hat längere Zeit in mir gelebt, ich bin
Frits van Raalte: Äußerungen der Sexualität bei Kindern. 107
ein bißchen idealistisch veranlagt, publizierte z. B. einige Male Gedichte, schrieb
Märchen. Finzelheiten aus meiner eigenen Jugend sind in Verdrängung geraten,
aber was ich mir dann und wann, z. B. in diesem Augenblick, bewußt machen
kann, veranlaßt mich beständig zu leugnen, daß Kinder asexuell sind. Da ich
aber eine öffentliche Stelle bekleide, verzichte ich darauf, weitere Details zu
publizieren. :
%* %
*
Ein sehr ernster Lehrer erzählt mir, daß er vor vielen Jahren (er ist
jetzt 55 Jahre) einem zehnjährigen, hübsch aussehenden Mädchen von vor-
nehmen Leuten Privatstunden geben mußte. Däs Kind verlangte immer, so
nahe wie möglich bei ihm zu sitzen, und versuchte oft ihre Knie zwischen
die seinigen zu stellen. Stellte er seinen Stuhl ein wenig zurück, dann näherte
das Kind sich ihm wieder. Aus meiner Jugend erinnere ich mich zweier
kleiner Knaben von neun oder zehn Jahren. die nebeneinander saßen. Sie hatten
ein Spiel erfunden, das sie sehr zu amüsieren schien: Der eine Knabe ver-
steckte einen Griffel in seinen Hosen und der andere mußte denselben heraus-
holen. Auch bekam der eine eine Belohnung von dem anderen, wenn er sein
Membrum küßte. Kin kleines, auch neun- oder zehnjähriges Mädchen, an dessen
Namen ich mich auch jetzt noch gut erinnere. schaute voller Interesse zu,
wenn einer der Knaben versuchte, sein Membrum erectum in einen runden
Griffelkasten hineinzustecken. Und einige Jahre später war in einer Volks-
schule ein Mädchen von etwa elf bis zwölf Jahren, das Glaskorallen von ihrem
Halse in ihre Kleider gleiten ließ und welche sie dann unten aus ihren Hosen
herausnahm, Die Korallen waren durch ihre Körperwärme warm geworden
und das Mädchen verkaufte dieselben den Knaben für einen Bleistift oder
einen Griffel,
u
Als ich damals mein Studium über den Wert der kindlichen
Zeugenaussage publiziert hatte, bekam ich mehrere Briefe von Kollegen-
Lehrern die meine Behauptungen mit neuen Beispielen unterstützten.
Ein junger Dorfschullehrer schreibt mir u. a, daß ein zehnjähriges
Mädchen ihn in der Schule fragte (sie sprachen über fremde Sprachen) :
„Was heißt cunnum manu contingere auf französisch ?* Das Kind fragte
es selbstverständlich auf holländisch und benützte für cunnus ein Wort, das
man auf W. C.-Wänden oft liest. Dieser Lehrer gibt noch mehrere Beispiele,
daß die Kinder, besonders die Mädchen, Kochonnerien sagten oder schrieben
und er bittet mich, da er gelesen hat, daß ich einige Male Resultate von
pädologischen Experimenten veröffentlichte, ihm Anweisungen zu geben fürs
Experimentieren, Ichı habe dem jungen Manne geschrieben, daß Vorsicht sehr
geraten sei, daß ich mir nur mit Mühe vorstellen könne, wie eine Schülerin
derartige Dinge sagt, und daß er nicht erlauben solle, daß seine Schüler
solche Dinge sagen, daß ich ihm das Experimentieren überhaupt abrate und
besonders, daß er auf diesem Gebiete durchaus nicht experimentieren dürfe.
Zu diesem [hema bekam ich noch einen anderen Brief, auch von einem
Lehrer ; er schreibt anonym (Holland ist ein kleines Land):..... „Ich saß,
als ich damals noch jung war, in der fünften Klasse (als Schüler von + elf
Jahren), in welcher alle Knaben unter den Bänken einander die Genitalien
betasteten. Der Lehrer sah nichts davon. Auch saßen in dieser Klasse ein
Knabe und ein Mädchen, die oft zueinander ins Bett kamen und dann koi-
tierten, wie erzählt wurde. Sie wohnten in demselben Hause, das Mädchen
108 Mitteilungen.
war die Cousine des Knaben. Ich glaube, solche. Sachen passieren öfter in
der Welt der Kinder, als man meint; ich erinnere mich noch mehr solcher
Geschichten, denn die Zeit meiner Jugend ist noch nicht lange vorüber: ich
bin zwanzig Jahre. Sollte es nicht empfehlenswert sein, wenn Erzieher sich
nach solchen Sachen bei jungen Leuten erkundigten, denn gewöhnlich haben
die meisten ganz vergessen, was sie in ihrer Jugend gemacht haben, und sie
eründen mithin ihre Behauptungen auf Konjekturen. Hochachtungsvoll X.“
Er hat vollkommen recht in allen seinen Behauptungen und obgleich
er jung ist, hat er eine Ahnung von der verdrängten Idee bei älteren Menschen.
* *
Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich annelıme, daß jeder, wenn er
sich nur die Mülıe gibt, etwa verdrängte Erinnerungen bewußt zu machen, und
im stande ist, Beispiele zu liefern für den Beweis, daß die Zeit ante puber-
tatem nicht asexuell ist.
Und auch in den Träumen der Kinder findet man oft, daß der manifeste
Inhalt unverkennbar erotisch ist, z. B.: Ein Knabe von acht Jahren träumt,
daß er eine kleine Mitschülerin von etwa demselben Alter, als ein sehr kleines,
lebendiges Püppchen auf einem Tisch stehen sieht. Auf einmal schluckt er
das ganze Miniaturmädchen ein, ohne zu wissen, wie es in seinen Mund
kommt. In dem Augenblick, da es seine Kehle heruntergelit, hat er orgasmus-
artige Empfindungen und da stand Johanna v, d, W. (er kannte sie genau
im Traum) wieder auf dem Tisch und er schluckte sie wieder ein,
Wer eine Kasuistik sammeln will, sollte sich fast bei jedem Kind er-
kundigen können (selbstverständlich wird niemand es so machen).
Ich schließe für diesmal mit noch einem Beispiele: ... Vor einigen
Jahren erzählte Eduard... der fünfjährige Sohn meiner Hospita, daß seine
kleine Schwester unartig sei, und als ich fragte, was sie denn getan habe,
war er zuerst ein wenig verwirrt, dann errötete er, sann einen Augenblick
nach und sagte: „Mina hat diesen Morgen in der Küche Preiselbeeren ge-
nommen, ohne zu fragen.“ Nun sagte ich: „Das ist gar nicht hübsch von
Mina, aber was hat sie weiter gemacht?* Jetzt sagte er, Mina habe ihm vor
kurzem ins Bein gekniffen, O, sage ich, das macht nichts, das kann ich auch
und ich kneife ihm ins Bein. Eduard findet das drollig und er sagt lachend,
daß es immer sehr weh tue, wenn Mina kneift,
Ich sehe jetzt deutlich, daß er noch etwas zu sagen hat, aber es fällt
ihm schwer; drum frage ich, was Mina sonst noch für Böses macht, und nach
längerer Zeit sagt er, daß Mina ihm auch wohl in den Arm kneife. Der
Knabe bleibt aber verwirrt, lächelt schüchtern, zupft an seinen Kleidern.
Schließlich kommt heraus, daß Mina im Bett mit ihr... . spielt. Ich wollte
wissen, wie er das weiß; da sagt er: „dann schüttelt die Bettdecke so“,
Weiter frage ich nicht. Ich füge hinzu, daß ich die sechsjährige Mina als ein
wildes Kind kenne.
Es kann wahr sein, daß Mina wirklich ihre Genitalien betastet und in
diesem Falle liefert sie ein Beispiel kindlicher Sexualität, Oder Eduard lügt,
aber wenn er seine Schwester verleumdet, dann onaniert er selbst oder kennt
wenigstens dieses Laster.
| Was Freud und seine Schüler über die infantile Sexualität schrieben,
findet also Bestätigung in unseren pädologischen Erfahrungen und eine Er-
ziehung, die das Auge für diese Sachen schließt, ist eine Straußen- Erziehung,
Frau Professor Frost: Aus dem Kinderleben. 109
3.
Aus dem Kinderleben.
Mitgeteilt von Frau Professor Frost (Bonn).
Der folgende Bericht zeigt, wie man in taktvoller Weise helfend be
Kindern eingreifen kann, wenn der Blick des Menschenfreundes oder Erziehers
durch die Psychoanalyse geschärft ist. Selbst ohne zum Eingriff ermächtigt
zu sein, kann man durch ein schlichtes Wort da, wo uns das Leben an
leıdenden Kindern vorüber führt, bisweilen belfen und lindern. Die folgenden
Beobachtungen und Gespräche sind unmittelbar, nachdem sie geschehen waren,
wortgetreu fixiert worden. Ich lebte damals als Pensionärin in einer Familie,
von deren beiden Kindern, dem siebenjährigen Hansemann und dem fünf-
jährigen Paulchen, hier die Rede sein soll.
Eines Tages geht Hansemann drei Stunden am Nachmittag in die
kirche Auf meine Frage, warum er deun den ganzen Nachmittag in der
Kirche zeblieben sei, antwortet er: „Ich gehe heute abend nochmal hin,
unsere Lehrerin hat gesagt, wenn wir fleißig zur Kirche gehen, kommen wir
in den Himmel.* Nur mit Mühe gelang es mir, das Kind von einem noch-
maligen Kirchgang abzuhalten. Da die Eltern abwesend waren, mußte ich
an einem der folgenden Tage dem jüngeren Bruder Fieber messen; ich über-
raschte den Kleinen beim Önanieren. Auf meine Frage: „Tust du das oft?®
lautet seine Antwort: „Ja, jeden Tag, wenn ich zu Bett liege“ ; und er be-
schuldigte auch den größeren Bruder, es mit ihm getan zu haben, Darauf
entschloß ich mich, beide ins Gebet zu nehmen, und hatte sie einige Tage
ur zusammen vor mir. Es entwickelte sich nun folgendes Gespräch :
Ich: „Sage einmal, Hansemann, ist das wahr, Paulchen hat gesagt, du spieltest
immer mit seinem und deinem Dadamacher: ge
Hansemann (wird sehr verlegen): „Nein, das ist gar nicht wahr, das tut
Paulchen immer und ich sage ihm immer, er soll das nicht tun.“
(Paulchen bestätigt dies durch ein Nicken,)
Ich: „Warum sagst du denn, er soll das nicht tun?“
Hansemann (aufgeregt und ängstlich): „Das ist Sünde, große Sünde und
dann kommt man nicht in den Himmel. .
Ich: „Wer sagt das denn, daß man dann nicht in den Himmel kommt ?*
Hansemann: „Niemand,“
leh: „Sagt es der Vater, die Mutter?‘
Hansemann: „Nein, niemand, das habe ich mir nur gedacht.“
Ich: „Hast du denn das auch getan ?*
Hansemann: „Ja, früher, als ich drei Jahre alt war“ (beteuernd fährt er
fort), „aber jetzt tue ich das nicht mehr, und ich sage es doch immer
Paulchen, das ist doch Sünde und dann kommt man nicht in den
Himmel, *
Ich: „Hat dich denn mal jemand dabei gesehen, als du das tatest ?*
Hansemann (sehr bestimmt): „Nein, niemand. n
Ich: „Hast du denn Angst, daß das sehr schlimm ist, weil du das getan hast?*
Hansemann (ist nahe am Weinen): „Ja, ich komme nicht in den Himmel,
und ich habe solche Angst, daß ich nicht in den Himmel komme.“
ITelı: „Aber du hast dir doch nur gedacht, daß du nicht in den Himmel
kommst oder hast du das mal gehört?“
Hansemann: „Nein, ganz bestimmt nicht.“
Zeitschr. f. Arrtl. Paychonnalrse. VW 2.
110 Mitteilungen.
Ich: „Dann braucht das doch aber gar nicht wahr zu sein, was du dir ge-
dacht hast.“
Bei diesen Worten blickt Hansemann erstaunt und verständig auf, sagt
dann nochmals schüchtern :
„Aber es ist doch schlimm !“
Ich: „So schlimm ist das nicht, daß du deswegen nicht in den Himmel
kommst, das hast du dir doch nur gedacht, und da brauchst du gar
keine Angst zu haben, deswegen kommst du schon in den Iimmel.*
In dieser Art beruhigte ich ihn weiter. Ich sagte auch, daß Paulchen
nun wohl bald lernen würde, lieber mit anderen Sachen zu spielen ; worauf
Paulchen zustimmend nickt, aber die ganze Sache — entgegengesetzt zum
Bruder — weiter nicht tragisch nimmt. Hansemann erzählt darauf ganz zu-
traulich weiter, daß er jetzt sehr froh sei, daß er in den Himmel komme;
spontan fährt er fort: „Neulich war ich mal so lange in die Kirche gegangen,
weil das Fräulein, die Lehrerin, gesagt hat, dann käme man in den Himmel.“
Kurze Zeit später erzählt er seinen Eltern die Geschichte und daß ich gesagt
hätte, es wäre gar nicht so schlimm und er käme nun doch in den Himmel,
Hiermit wollte sich Hansemann wohl die Bestätigung und noch weitere Be-
ruhigungen holen.
Das Kind hatte Zustände nach der Art von Phobien, Angstanfälle, war
sehr schüchtern und schämte sich leicht, ich kenne es seit dem dritten Lebens-
jahr. Da er so leicht verlegen wurde und dann sehr drollig aussah, so trieb
die Mutter oft Scherz mit ihm, um diese Verlegenheit herbeizuführen, Sie
sagte bei jeder Gelegenheit, wenn er oder andere entblößt waren: „Pfui,
schäme dich“ ; sie entblößte sich wohl gar selbst, um das drollige Wesen und
die Verlegenheit des Kleinen zu genießen, Auch wurde er jahrelang durch
den Nikolaus in Angst und Schrecken gesetzt, den die Mutter bei jeder Ge-
legenheit selbst spielte und herzitierte. Die Angst artete so aus, daß er in
heftige Weinkrämpfe ausbrach, wenn er nur das Wort „Nikolaus“ oder „Hans
Muff“ hörte, er fürchtete sich vor jeder dunklen Ecke, Treppen u. dgl,,
träumte immer vom Nikolaus. Ich ließ mir einen Traum berichten, er erzählte:
„Immer träume ich vom Nikolaus, wie er ein ungezogenes Kind einsteckt,
und dann bin ich wach geworden und dann habe ich mich umgesehen und
überall waren Nikoläuse vor meinem Bett und hinter meinem Bett und überall,
und einmal als ich drei Jahre alt war, habe ich einen Hans Mufl gesehen,
nachts, als es dunkel war, der war ganz klein, kam in mein Zimmer und an
mein Bett und ich habe solche Angst gehabt.“ Ich hatte dann große Mühe,
ihn von der Unechtheit des Nikolaus zu überzeugen. Als dies gelang, zog
sich die neurotische Angst von dieser Stelle zurück ; um so mehr betonte er
jetzt seine Angst vor der Mutter und ihren Schlägen. Diese Angst war zu
einem Teil natürlich, denn die Mutter war eine ganz undisziplinierte Natur
und schlug ihn fast täglich und sehr ungerecht, Da ich das Kind vor diesen
Schlägen nicht schützen konnte, so versuchte ich, ihm zu einer leichteren Auf-
fassung derselben zu verhelfen, Er kam manchmal zu mir und sagte: „Heute
hat sie mich wieder gehauen, aber ich hatte nichts getan, sie war so böse,
sie hat sich geärgert, und da stand ich da, und da hat sie mich gehauen, *
— So war es wirklich. — Ich tröstete ihn unter anderem damit, daß es
doch nicht so weh täte und die Mutter ihn trotzdem lieb hätte; gab ihm
außerdem Aufklärungen und Beruhigungen. Er nahm darauf eine ganz ein-
sichtige vernünftige Einstellung an, was aus dem Gespräch, das er einige Tage
später mit seinem Vater darüber suchte, hervorging. lansemann berichtete
seinem Vater: „Weißt du, die Mutter ist nämlich sehr nervös, dann muB sie
Dr. Helene Deutsch: Der erste Liebeskummer eines 2 jährigen Knaben. ]]]1
sich manchmal so viel ärgern, und wenn ich dann gerade da stehe, dann
schwupp haut sie nur, und denkt nicht daran, daß ich der Hansemann bin
und doch nichts getan habe, aber weißt du, wenn ich das merke, dann laufe
ich weg, und sonst tut das ja auch nicht so weh.“ Dabei lachte er vergnügt.
Und allmählich verlor sich auch diese Angst vor der Mutter. Die Mutter
beschwerte sich dann später bei mir, er sei zu frei und frech geworden. Dies
war jedoch nicht der Fall; er hatte nur gelernt, sich seiner Haut zu wehren.
Dieser Bericht bestätigt den Zusammenhang zwischen sexuellem Schuld-
gefühl und kirchlichem Zeremoniell. Ferner zeigt er, wie durch unnatürliche
Reizungen des höheren Schamgefühls die niedere Sexualität verhängnisvolle
Nahrung erhält. Denn unzweifelhaft müssen ja doch die häufigen Auf-
schreckungen des Schamgefühls durch die gewissenlose Mutter Zustände der
sexuellen Erregung im Körper hinterlassen. Die Verwirrung und Verfinsterung
in diesem Punkte des kindlichen Gemütslebens beruht sowohl darauf, daß die
niedere Sexualität widernatürlich erregt wurde, als auch darauf, daß durch
die Schärfung des Gewissens die seelische Abwehr und Verdrängung der
niederen Triebreize verschärft wurde. Aus allen diesen Zuständen hat sich
eine neurotische Angst entwickelt, die bei relativ harmlosen Anlässen von der
Art der üblichen Neckereien und Scherze der Kindheit hervorbricht. Die
Schläge der Mutter hätten leicht zu einer schlimmen, rewohnheitsmäßigen
Art der Liebesbindung führen können, wenn nicht eine röchtzeitige Ermutigung
des Selbstgefühls eingetreten wäre. Hansemann nahm zuletzt den Kampf mit
der Wirklichkeit auf, sei es auch nur dadurch, daß er den Schlägen der
Mutter auswich, Vor allen schädlichen Folgen so übler Kindheitseinflüsse
werde ich ihn wahrscheinlich nicht haben bewahren können,
4.
Der erste Liebeskummer eines 2jährigen Knaben.
Von Dr. Helene Deutsch.
Rudi wurde eben zwei Jahre alt, als ihn seine Kinderfrau verließ. Durch
die Not der äußeren Umstände, durch die starke berufliche Inanspruchnahme
der Mutter bildete diese Kinderfrau durch zwei Jahre eine Art „Mutterersatz*“
für den kleinen Rudi. Sie war es, die sich vom Beginn seines Lebens gänzlich
zu Diensten seines Autoerotismus stellte — sie war es, die seinem Nahrungs-
bedürfnis nachkam, seine exkretorischen Vorgänge betreute, seine Wünsche erfüllte,
Die erste Objektwahl vollzog sich den Umständen entsprechend mit Umgehung
der eigenen Mutter, um so mehr, als die Kinderfrau es glänzend verstand,
die Exklusivität der Liebesbeziehungen des kleinen Rudi herzustellen, indem
sie niemanden zur Vollziehung der Liebesdienste zuließ.
Das Verhältnis der beiden zueinander war äußerlich kühl: der Wunsch
der Mutter, den Buben nicht zu verhätscheln, entsprach dem Temperament
und den Anschauungen seiner Pfiegerin. Bubi wurde von ihr mit einer gleich-
mäßig-kühlen Anhänglichkeit betrent — er erwiderte dieselbe in gleicher
Weise, — keine Zürtlichkeitsausbrüche, keine Küsse, kein Umarmen. Die
Zärtlichkeiten seiner Mutter nahm Bubi mit der Gebärde des Sichgefallen-
lassens entgegen,
Die Kinderfrau verließ das Hans olıne Abschiednahme von ihrem kleinen
Schützline. Eine junge, lustige Pflegerin rückte als Rudis Spielkameradin
ein. Das Kind war begeistert: es schleppte sein ganzes Spielzeug heraus, um
es der „Neuen“ zu zeigen, ließ sich von ihr Lieder vorsipgen, Bilder erklären,
R*
112 Mitteilungen.
wollte sie gar nicht mehr von sich weglassen. Die Sache schien viel leichter
zu gehen, als man sich vorstellte, Allerdings „vergaß“ das verspielte Kind
einige Male seine „kleine“ Notdurft zu melden; wenn er es aber tat, so
duldete er nur die Hilfe seiner Mutter.
Die Mahlzeiten nahm er mit einem gewissen Befremden, aber dennoch
entsprechend, von der neuen Pflegerin an,
Beim Schlafengehen verlangte er nach seiner Mutter, ließ sich vort
derselben ruhig ausziehen und niederlegen.
Nach 1—2 Stunden wachte er — gegen seine Gewohnheit — lau,
weinend auf, Seine Verzweiflung steigerte sich, als die Pflegerin Versuche
ihn zu beruhigen, vornahım, Rudi rief schluchzeud nach seiner Mutter und ließ
während der nachfolgenden schlaflosen Nacht dieselbe nicht mehr von sich.
Dieses . Verhalten war etwas merkwürdig, denn Bubi lehnte sonst seine Mutter
lebhaft ab und verlangte nur naclı seiner „La“ (Paula: Name der Kinder-
frau). In der Nacht umarmte Rudi seine Mutter, bat, sie möge sich zu ihm
niederlegen, küßte sie, gab ihr allerlei Kosenamen. Alle paar Minuten ver-
gewisserte er sich: „Mami, bist du da?“ Gegen früh schlief er für kurze
Zeit ein. Nach dem Erwachen lag er ruhig im Bett, ohne sich zu melden.
Erst der Geruch verriet den kleinen Missetäter, Zu ungewohnter Stunde ließ
Bubi, dem bereits seit einem Jahr Ähnliches nicht mehr passierte, seinen
Stuhl ins Bett. Der ehrgeizige Kleine, der bei gelegentlichem Naßwerden
seiner Höschen immer die tiefste Reue und das größte Entsetzen kundgab,
blieb jetzt bei der Aufdeckung seines Verbrechens vollkommen gleichgültig.
Absolut kein Affekt: weder Reue, noch Frohlocken, als ob ihm diese Tat
selbstverständlich erschiene,
Bubi ließ sich nun ruhig anziehen, spielte lustig und vergnügt mit der
Pflegerin, verweigerte aber vollkommen die Nahrungsaufnahme, Sein Gesicht
nahm bei jedem Versuch, ihm die Nahrung zu verabreichen, einen so bitterlich-
verzweifelten Ausdruck an, wie er bei ihm überhaupt noch nie beobachtet
wurde. Er war weder zornig noch trotzig —, im Gegenteil, er machte der
Pflegerin ein zärtliches „Ei, ei“ mit den Händchen, wie um ihr Trost für
sein Verhalten zu bieten. Der Mutter gelang es, ihm etwas Nahrung beizu-
bringen; aber auch von ihr nalım Bubi, der bei den Fütterungsversuchen der
Pflegerin verzweifelt die Mutter zu Hilfe rief, nur mit Widerstand die Speisen.
Rudi, bei dem sich der erzieherische Einfluß auf seine exkretorische
Tätigkeit bereits vollkommen geltend machte, ließ nun Stuhl und Urin unter
sich. Gelang es den kleinen Kerl „abzupassen“, d. h. im entsprechenden
Momente aufs Topferl zu setzen, so ließ er paar Tropfen Urin hinein, um
einige Minuten später seine Höschen naß zu machen. Ilie und da meldete er
sein Bedürfnis, erklärte aber der herbeieilenden Pflegerin: „Oh nein — Rudi
macht nur für Mami Wiwi.“
Bubi, der bis dahin einen großen Trotz in der Zurückhaltung der
Exkrete aufwies, der sichtlich eine Lust in der Aufhaltung seines stets ob-
stipierten Stuhles und in dem Aufheben des Urins bis zum letzten Moment
schöpfte, verzichtete jetzt auf diese Lustquelle. Sein ins Bett oder in die
Höschen erledigter Stuhl war von einer ideal breiigen Konsistenz, die vorher
durch keine medikamentösen und alimentären Maßnahmen erzielt werden Konnte,
Wie um zu betonen: „Ich habe es und wie schön — aber es ist eine Liebes-
gabe, nur an die Geliebte.“ Von seinem Besitz, von seinem Wertvollsten,
seinem Liebesbeladenen gab er jetzt, wo sein Liebesobjekt weg war, nichts
ab. Hie und da an den nächstliegenden Ersatz: „Nur für die Mami.“
Dr. Helene Deutsch: Der erste Liebeskummer eines 2 jährigen Knaben. 113
Bubi’s Zärtlichkeitsbedürfnis steigerte sich in den nachfolgenden Tagen,
Er umarmte und koste alle Personen der Umgebung, mit seinen Puppen
sprach er in den Ausdrücken der Zärtlichkeit, wie er sie von seiner Mutter
gehört hat: „mein kleines, süßes Hasi ete.“ — ja er verschwendete seine
Liebesäußerungen an alle unbeweglichen Gegenstände der Umgebung, wie nach
Hilfe für seine frei gewordene Liebe suchend,
Der Name der Verlorenen wurde die ganze Zeit nicht erwähnt. Bubi
versprach sich nur sehr häufig in seiner Ansprache an die Neue, korrigierte
aber jedesmal sein Versprechen (La... Rosa bitte...“ etc.). Als die
Pflegerin etwas siegessicherer fragte: „Wirst du weinen, weun die Rosa weg-
geht?* erklärte Bubi: „Nein, Rudi möchte weinen, wenn eine Paula
weggeht.“
In den nachfolgenden Nächten dasselbe Verhalten. Seine Mutter mußte
bei ihm wachen, ihn ihrer Liebe versichern, ihn hätscheln. Auf das Bett der
Pflegerin schaute er. zeitweise entset:t hin — als dieselbe auf ein gegebenes
Zeichen das bei ihrem Bett stehende Licht auslöschte, erklärte Bubi:
„Das Lichter! hat sich selbst ausgelöscht.“ Auf den Vorhalt, „die Rosa hat
es doch ausgelöscht“, wiederholte er: „Oh nein — von selbst. *
Am dritten Tag wagte es die Mutter, die Frage zu stellen, „wo ist
denn die Paula?“ Bubi mit gleichgültigster Gebärde „zum Schneider gegangen“
(ihr gewöhnlicher Weg bei den kurzen Ausgängen),
Am fünften Tag war Bubi bereits zimmerrein, doch blieb es noch immer
die Mutter, die ihm dabei behilflich sein mußte, Nur bei Abwesenheit der-
selben wurde es der Pflegerin gestattet, Gleichzeitig stellte sich sein früheres
Schlafvermögen ein.
Seine Nahrungsabstinenz blieb jedoch erhalten. Bei jedem Versuch, ihm
das Essen zu verabreichen, drehte das Kind den Kopf weg, knift die Lippen
zusammen und fing bitterlich zu weinen an — mit klagendem Tone wie hilfe-
suchend rief er: „Mama—Lina—Mama—Lina“ (Lina ist die mit Bubi gut
befreundete Köchin). Als eine der gerufenen Personen herbeieilte, beruhigte
sich Rudi, nahm paar Löffel Nahrung zu sich, um wiederum in die frühere
Verzweiflung zu geraten. Der Name der Ersehnten wurde nach wie vor nicht
erwälhnt.
Ein kleiner Aushungerungsversuch mißlang : Bubi pflegte in den Abstinenz-
tagen seinen Hunger in den Zwischenmahlzeiten, in denen er sich die klein-
geschnittene Nahrung immer selbst zum Munde führte, z. T. zu stillen. Flüssig-
keiten wurden ihm in einem langen, mühevollen Zeremoniell aufgenötigt, Am
sechsten Tage seines Kummers bekam Bubi vormittags nichts zu essen, in
einem längeren Spaziergang holte er sich einen tüchtigen Hunger, Beim
Mittagessen wurde die Suppe gierig verschlungen — bei den nachfolgenden
Speisen — die übrigens in allen diesen Tagen aus seinen Lieblingsgerüchten
bestanden, wiederum dasselbe Verhalten. Bubis glänzende Laune schlug plötz-
lich in Verzweiflung um, die Nahrung wurde konsequent weggeschoben.
Am neunten Trennungstage kehrte Bubi zur Realität zurück. Er war
wieder „der Alte“, doch machte sich in seinem Wesen eine Veränderung
kund, Er war gewissermaßen sozialer geworden, zärtlicher, liebesbedürftiger,
sein erotisches Verlangen schien größer, er interessierte sich bedeutend mehr
für Personen seiner Umgebung, die er alle mit einer gewissen Pietät behan-
delte, er wurde sehr freundlich gegen seine Puppen, Tiere, Spielsachen, fragte
bei jeder Gelegenheit „was ist das?“, „was heißt das?*, lernte gierig die
ihm vorgesagten Gedichte. Seine neue Pflegerin liebte er zärtlich, jedoch
nicht mit dieser krampfhaften Isolierung wie die erste. Schlaf, Nahrungs-
114 Mitteilungen.
aufnahme, Exkretion funktionierten wie früher — nur die Obstipation hatte
einer regelmäßigen Entleerung Platz gemacht.
Für den Psychoanalytiker sind Bubis kleine „Unarten“ der beschriebenen
neun Tage nur eine Bestätigung längst bekannter Tatsachen. Das besonders
eindeutige und klare Verhalten läßt diese Episode aus seiner Lebensgeschichte
mitteilungswert erscheinen.
Wir wissen, daß die infantile, autoerotische Sexualität ihre Befriedigung
in den organischen Bedürfnissen des eigenen Körpers findet : in der Nahrungs-
aufnahme und in der exkretorischen Tätigkeit — daß die Befriedigung des
Hungers sich mit dem ersten Lustgewinn am eigenen Körper deckt, daß die
Entleerung von Harn und Stuhl mit lebhaftem Lustempfinden verbunden ist.
Das Kind verziehtet auf die in der Exkretionstätigkeit gelegene Lustquelle,
um den Preis der Sympathie und der Anerkennung, die ihm als erzieherische
Maßregel von seiten seiner Pfleger geboten wird. Und an dieser Stelle des
vollzogenen Tauschhandels setzt die Wertschätzung seiner libidinös beladenen
Exkretionstätigkeit ein: die Exkrete werden zum wertvollen Geschenk an das
bereits auserwählte Liebesobjekt. Der kleine Rudi scheint eine besonders hohe
Einschätzung seiner Exkrete gehabt zu haben ; geizig wio in seinen Zärtlich-
keiten war er auch in seinen Liebesgaben an die Geliebte: seine Obstipation
und die Art seiner Leistungen im Harnlassen bieten den Beweis dafür,
Beim Entzug des Liebesobjektes verzichtet Rudi auf die bereits voll-
zogene, erzieherisch-erzwungene Versagung der Lustgewinnung an der Exkre-
tion — er leistet sich unbehindert die Lust, denn die, um deren Liebe er
verzichtet hat, ist nicht da.
Und als zweites: diese teure Liebesgabe verschenkt er nicht, solange
kein Ersatzobjekt für die Geliebte da ist — hie und da erscheint ihm die
Mutter, scheinbar als Reminiszenz der früheren libidinösen Bindung, der Liebe
wert zu sein: „Nur für die Mami.“ Erst als seine frei gewordene Libido
neue Objektbesetzungen geschaffen hat, gibt Rudi die bereits früher verlassene
Form seiner Sexualbefriedigung auf. Mit der Änderung der Art der Liebes-
beziehungen ändert sich auch die Form seiner Eixkretion — Rudi wird zärtlich,
in Liebe verschwenderisch — seine Obstipation verschwindet, sein Urinieren
erfolgt zur entsprechenden Zeit,
In bezug auf seine Nahrungsaufnahme drückt Rudi die zweite Form
seiner prägenitalen Sexualorganisation, d. h. die kannibalische aus. Die Nahrungs-
aufnahme ist noch bei ihm mit der Sexualtätigkeit enge verbunden, aber seine
Sexualstrebung von da aus ist bereits wie die mit der Eixkretion verbundene
zum Objekte gerichtet, was daraus zu ersehen ist, daß er die Nahrungsaufnahme
nur aus Liebe zu seinem Objekt bewilligt,
Beim Entzug des Objektes versagt auch die andere unktion, Der
Sexualtrieb erweist sich vorläufig als Sieger über den Hunger — erst bei
neuen Objektbesetzungen stellt sich die harmonische Tätigkeit in Diensten
beider Teile her.
Warum die Ablösung der mit der oralen Organisation verbundenen
Libido am längsten dauerte, ist nicht ganz klar: handelt es sich da um eine
individuelle Angelegenheit, oder entspricht dieses Verhalten der Norm? Viel-
leicht steht in irgend welchem Zusammenhange mit diesem Verhalten die
Tatsache, daß Rudi kein „Küsser“ war.
Der kleine Junge hatte in neun Tagen seine arge, erste Enttäuschung
erledigt. Aus der vollzogenen Leistung machte er in seiner Eintwicklung einen
großen Schritt in die Außenwelt. Was für die Zukunft seiner psychischen
Dr. E. Hitschmann: Über einen sporadischen Rückfall ins Bettnässen ete. 115
Funktionen, für seine Schicksale und für sein Streben diese erste Leistung
bedeutet, bleibt uns vorenthalten. Der Psychoanalytiker kann nur manches
vermuten,
9.
Zur infantilen Sexualität.
Von Dr. B.
Mädchen : drei Jahre. Sie sieht ihre Mutter im Bad und fragt: Mutti.
wann werde ich so große Knöpfe haben? (Brustwarzen,)
Mädchen ; Beginn der Latenzperiode. Sie nimmt einmal das Schürzen-
bändchen, bindet es vorne zusammen, hält das Ende von sich weg, stellt sich
breitbeinig hin und sagt: Jetzt bin ich ein Junge,
Dasselbe Mädchen. Man verspricht ihr eine Schokoladepuppe und fragt,
ob es ein Knabe oder ein Mädchen sein soll. Sie antwortet darauf prompt.
Ein Junge. Da ist mehr daran. !)
Mädchen: neun Jahre: „Onkel, wenn du in den Schützengraben gehen
wirst, wirst du verwundet werden: dann werde ich dich pflegen und dann
werde ich dich nackigt sehen.“ Als sie merkt, daß man über diesen Ausspruch
entrüstet ist, sagt sie: „Am nackigt liegt mir ja nichts. Ich meine nur so,
dann werde ich dich halt pflegen.“ — Dasselbe Kind duldet niemanden an-
wesend, wenn es sich wäscht. „Ich weiß schon, was du willst,“ pflegt sie zu
sagen, „du willst mich nackigt sehen.“
Knabe; drei Jahre. Er wird von der Mutter zur Belohnung nach der
Defäkation auf die Nates geküßt. „Mammi, Litzi küssen !“ ruft er aus. (Litzi
ist gleich Penis in seiner Sprache.)
Mädchen; drei Jahre. Sie sagt statt Fingerhut: Fingertopferl.
Knabe; sieben Jahre. Die französische Gouvernante fragt ihn: Was
heißt die Tür auf französisch ? Darauf er: Das sage ich nicht; ich sage Klosett.
(La porte. War vom Knaben als Witz gemeint, über den er stark lachte.)
Mädchen; zehn Jahre. Erzählte eine Phantasie, sie hätte ein Plakat
gesehen, auf dem stand, ein Mädchen könne durch eine Öperation ein Junge
werden. Sie überlege sich bei allen Mädchen, ob bei ihnen die Operation
noch wirken könnte, und entscheidet: „Bei dieser ist es noch Zeit, bei dieser
zu spät.“ — Ein andermal erklärt sie, fest davon überzeugt zu sein, sie
könnte noch einmal ein Junge werden: sie müßte nur Geduld haben.
6.
Über einen sporadischen Rückfall ins Bettnässen bei einem
vierjährigen Kinde.
Von Dr. E. Hitschmann.
Das kleine Mädchen machte an einem Sommertage die längere Bahn-
fahrt an den See mit und freute sich namentlich auf das Kahnfahren. Während
sonst Eltern oder Kindermädehen zu bestimmter Stunde daran denken oder
vom Kinde selbst gemahnt werden, ihm die Hose aufzuknöpfen, wonach es
auf dem Topf oder im Freien hockend Urin läßt, wird an diesem Tage
in der Fremde vergessen und nach der kurzen Kalınfahrt nach Tisch entdeckt
!) In einem Wiener Variet€ wurde vor einiger Zeit dieselbe Anekdote zum
großen Ergötzen der Zuschauer erzählt; ob der Erzähler sie erfunden hat, oder ob
auch die einer wirklichen Begebenheit entspricht, ist mir unbekannt.
116 Mitteilungen.
man, da man das Kind „setzen“ will, daß es sich eben auf dem Schiff ganz
voll genäßt hat, Die Mutter tadelt lebhaft das verantwortliche Kindermädchen
und betont dabei, das Kind sei ja — nicht rechtzeitig erinnert — unschuldig.
In der zweiten Nacht danach, gegen Morgen, findet man, daß das eben
harmlos erwachte Kind genäßt hat. Nach energischer Strafpredigt und
Drohung unter Tränen des Kindes bleibt die ungern gesehene Enuresis
dauernd aus,
Interessant wird der Fall erst durch seine Details. Das Kind, das etwas
später als der Durchschnitt, zur Trockenheit gelangt war, hatte mehrere
Wochen vor dem Vorfall auf dem See, als der Vater ihm von einem Schifls-
unglück erzählte, dessen Überlebende auf kleinen Kähnen tagelang im Meer
herumirrten, gefragt: „Machen die auch im Schifferl Lulu?“, d. h, es be-
schäftigte es bei diesem Bilde sofort der Gedanke des Harnlassens, Als am
Tage des Kahnfahrens dasselbe bei Tisch angekündigt wurde, sagte das Kind
neuerlich : „da macht man auch Lulu im Schiffer“, worüber die Großen vermutlich
lächelnd oder ausweichend hinweggingen. Das Kind aber verzichtete auf diesen
kumulierten Wassergenuß nicht, sondern sparte sich den Harn richtig bis zur
Kahnfahrt auf, die nicht ohne kleine Ängste für es verlief, Es sei noch erwähnt,
dab der Tag ein trüber war, an dem Nebelrieseln in veritablen Regen
gerade während der Kahnfahrt überging,. (Der Ausdruck „schiffen® für
Harnlassen ist dem Kinde unbekannt.)
Man muß für die Erklärung der Assoziation zwischen der Erzählung
vom Imschiffehenfahren und dem Woasserlassen wohl nicht an archaische
Assoziationen denken, sondern findet sein Genüge damit, daß die prägnante
Vorstellung so vielen Wassers ältere unbewußte Assoziationen aus der (onto-
genetischen) Entwicklung aufleben läßt, aus einer Zeit, von der auch die
persönliche Traumsymbolik ihre Elemente herdatiert. Das Nässen im Kahn
ist dann, durch das Versäumnis der Erwachsenen begünstigt, schon durch eine
rezente Assoziation gefördert (vgl. das Tischgespräch!), das nächtliche Nässen
darauf Folge eines Erinnerungs- und Wunschtraumes.
Das energische erzieherische Auftreten auch bei solchen Rezidiven ist
sehr am Platze, denn — so groß der libidinöse und unbewußte Anteil am
Nässen ist — so sicher ist doch anderseits die Hemmung vom Bewußten
her förderbar.
Es ist keine Frage, daß ein anläßlich eines solchen Zufalls wieder-
erlebter Genuß am Nüssen das Kind verleiten kann, dabei eine lüngere Zeit
zu bleiben und an Enuresis zu „erkranken“.
Dasselbe Kind hatte fast zwei Jahre vorher, als es noch nicht lange
vom Säuglingsnässen entwöhnt war, ein Rezidiv gezeigt, das auch auf ein
„Wasserereignis“ begonnen hatte. Das Kind durfte mit dem geliebten Kinder-
mädchen, dessen Arbeiten es sich identifizierend sehr gern mit- oder nach-
macht — Wäsche „spritzen“; so nennt man das Einspritzen der Wäsche vor
dem Bügeln, was mit der jedesmal frisch eingetauchten Hand geschieht, Es
folgten mehrere Bettnäß-Rückfälle, anläßlich deren erfolgreicher Abgewöhnung
das Kind eine Verkürzung des Morgenschlafes erfuhr — das Nüssen geschah
gewöhnlich nahe den Morgenstunden. Und so ist das Kind kein solches, das
etwa nach elf bis zwölf Stunden Schlaf noch weiter in den Tag hineinschliefe.
Wahrscheinlich hat es diese Eigenschaft auf Kosten des verläßlich Trocken-
werdens eingebüßt.
Dr. S. Ferenezi: Ekel vor dem Frühstück. 117
-
i
Ekel vor dem Frühstück.
Von Dr. S. Ferencezi.
Selır viele Kinder haben einen oft unüberwindlichen Ekel vor dem
Genuße des Frühstücks, lieber gehen sie mit leerem Magen in die Schule,
zwingt man sie aber zum Essen, so kommt es vor, daß sie sich übergeben,
— Ich weiß nicht, ob die Kinderärzte eine physiologische Erklärung für dieses
Symptom haben. Ich fand hiefür eine psychologische Deutung, die sich bei
einer psychoanalytischen Untersuchung ergeben hat.
Im Falle dieses Patienten perpetuierte sich diese Idiosynkrasie bis ins
erwachsene Alter und mußte als eine Verschiebung des unbewußten Ekels von
der Hand der Mutter gedeutet werden. Er wußte schon als junges Kind von
den Sexualbeziehungen der Eltern, verdrängte aber dieses sein Wissen, da es
mit seinen zärtlichen Regungen und seiner Achtung unvereinbar war.
Als aber die Mutter am Morgen aus dem Schlafzimmer kam und mit den-
selben Händen, die bei jenen verpönten Handlungen eine Rolle spielen mochten,
das Frühstück bereitete, möglicherweise zuvor noch die Hand vom Kinde
küssen ließ: da kam die unterdrückte Regung als Ekel vor dem Frühstück
zum Vorschein, olıne daß das Kind der wahren Ursache seiner Idiosynkrasie
bewußt geworden wäre.
Es wäre die Aufgabe der Kinderärzte, nachzuforschen, ob diese Deutung
auch für andere, oder etwa für alle Fälle zutrift, Auch der Weg zu
einer Therapie wäre so gegeben.
Bei einer anderen Gelegenheit wies ich darauf hin, daß die eigenartige
Assoziation *des Ekelgefühls mit der Ausdrucksbewegung des Spuckens und
Erbrechens darauf hinweist, daß im Unbewußten eine koprophile Tendenz
zum Schlucken des „Ekelhaften“ vorhanden ist, Spucken und Erbrechen also
bereits als Reaktionsbildungen gegen die Koprophagie aufzufassen sind. Diese
Auffassung gilt natürlich auch für den „Ekel vor dem Frühstück“.
8.
Zur Idiosynkrasie gegen Speisen.
Von Dr. B.
Fin Mädchen im Alter von 18 Jahren, intelligent und nicht ungebildet,
glaubt, Spinat wären zubereitete Kuhtladen, und vermag daher Spinat nicht
zu essen,
g,
Cornelia, die Mutter der Gracchen.
Von Dr. S. Ferenezi (Budapest).
Cornelia war viele Jahre lang die Frau des Tiberius Sempro-
nius, dem sie zwölf Kinder schenkte. Zwei Söhne, Tiberius und Cajus,
und eine Tochter, Sempronia (die dann Scipio Afrieanus Junior
heiratete), blieben ihr erhalten. Nach dem Tode ihres Gatten schlug sie die
Hand des ägyptischen Königs Ptolomäus aus, um sich ausschließlich ihren
Kindern zu widmen, Über ihr Geschmeide befragt, antwortete sie
einmal, auf ihre Kinder zeigend: „Dies sind meine Schätze,
118 Mitteilungen.
meine Juwelen.“ Das traurige Los ihrer beiden Söhne ertrug sie stand-
haft in der größten Zurückgezogenheit. Cornelia war eine der edelsten
Frauen Roms, die man auch ob ihrer großen Bildung verehrte; die Sprach-
schönheit ihrer Briefe wurde viel bewundert Das römische Volk verewigte
das Andenken der „Mutter der Gracchen®” in einer ehernen Statue.!)
Soviel erfahren wir über diese edle Römerin von Plutarchos; die Nach-
richten über ihre Person stammen aber durchwegs aus zweiter Hand und auch
die in den Schriften des Cornelius Nepos erhaltenen zwei Brieffragmente
werden von Sachverständigen nicht für echt gehalten,
Man darf es zewiß für eine Verwegenheit halten, wenn ich mich ge-
traue, nach mehr als zwei Jahrtausenden einen neuen Beitrag zum Verständnis
des Charakters der Cornelia zu liefern. Seine Veröffentlichung in dieser
Zeitschrift läßt es aber erraten, daß ich ihn nicht frischen Ausgrabungen,
sondern psychoanalytischer Erfahrung und Überlegung verdanke,
Es leben nämlich auch heute Frauen vom Typus der edlen Cornelia,
Frauen, die, selbst bescheiden, zurückhaltend, oft etwas herb, — mit ihren
Kindern wirklich wie andere mit ihrem Gesehmeide prangen ; es kommt auch
vor, daß solche Frauen an einer Psychoneurose erkranken, und da bietet sich
dem Seelenarzte die Gelegenheit, unter anderem auch diesen Charakterzug
der Analyse zu unterziehen. Er gewinnt dabei einen tieferen Einblick in die
Eigenart ihres Vorbildes Cornelia und lernt das universelle Interesse, das
der über sie erzählten Anekdote entgegengebracht wird, besser verstehen,
Ich verfüge über die zu einer Verallgemeinerung als Minimum erforder-
liche Zweizahl, habe wirklich zwei solche Frauen eingehend analysiert und
dabei merkwürdige Übereinstimmungen ihrer äußeren und inneren Schicksale
festgestellt.
Die erste, eine seit vielen Jahren verheiratete Frau, begann lange Zeit
hindurch fast jede Analysenstunde mit Lobeserhebungen über ihr ältestes und
ihr jüngstes Kind, oder aber mit Klagen über eines der mittleren,
„deren Betragen manches zu wünschen übrig läßt“. Doch die geistige Be-
gabung auch dieser Kinder gab ihr sehr oft Anlaß zu liebevollen Erzählungen.
Ihre äußerliche Erscheinung und ilır Betragen war einer Cornelia würdig.
Unnahbar entzog sie sich den Blicken der Männer, die ihre Schönheit mit
Begierde anzuschauen wagten, sie betrug sich dabei nicht nur reserviert,
sondern ausgesprochen ablehnend. Sie lebte einzig ihrer Pflicht als Gattin
und Mutter. — Leider war diese schöne Harmonie bei ihr durch eine hyste-
rische Neurose getrübt, die sich einesteils in lästigen körperlichen Erschei-
nungen und zeitweiligen Gemütsalterationen äußerte, anderenteils — wie die
Analyse bald aufdeckte — darin, daß ihr die Fähigkeit zur Genitalbefriedigung
sozusagen abging. Im Laufe der Analyse nahm die Art, in der sie sich ihrem
jüngsten Kinde gegenüber betrug, allmählich sonderbare Formen an, Sie be-
merkte zu ihrem Schreck, daß sie bei der Liebkosung dieses Kindes aus-
gesprochene erotische Anwandlungen, ja förmliche Genitalsensationen verspürt,
Sensationen, die sie beim ehelichen Verkehr vermissen mußte. In Form der
Übertragung auf den Arzt kamen dann ihr selbst ganz unerwartete Züge zum
Vorschein; hinter der etwas priüden und abweisenden Haltung zeigte sich all-
mählich eine ganz ausgesprochene, man möchte sagen: ganz normal frauen-
hafte Gefallsucht, die sich aller Mittel zu bedienen verstand, die die Auf-
merksamkeit auf ihre Reize zu lenken geeignet waren. Aus ihren 'Iräumen
ließ sich dann mit Hilfe einer uns sehr geläufigen Symbolik leicht erraten,
!) Aus dem Artikel „Öornelia“ des ung. „Pallas“-Lexikons.
Dr. $. Ferenezi: Cornelia, die Mutter der Gracchen. 119
daß für sie das Kindeigentlichdas Genitale bedeutete. Es gehörte
nicht viel Scharfsinn dazu, einen Schritt weiter zu gehen und zu erraten, dab
ihre Neigung, die Vorzüge der Kinder Anderen zu ‚eigen, ein Er-
satz für die normale Exhibitionslust war, Es kaın denn auch her-
aus, daß dieser Partialtrieb bei ihr sowohl konstitutionell, als auch infolge von
Erlebnissen recht prominent war, und dal) dessen Verdrängung einen erheb-
lichen Anteil an der Motivierung ihrer Neurose hatte. Einen besonders starken
Verdrängungsschub erfuhr dieser Trieb, als sie in recht jugendlichem Alter
eine kleine Operation an der Gevitalgegend erdulden mußte. Von da an fühlte
sie sich anderen Mädchen gegenüber entwertet, verlegte ihr Interesse aufs
Geistige, begann — wie die Cornelia — schöne Briefe, sogar kleine Ge-
dichte zu schreiben, entwickelte aber sonst den schon beschriebenen, etwas
prüden Öharakter. | Re
Ihr Verhältnis zu Schmucksachen verlilft uns „um Verständnis
jenes Vergleiches, dessen sich die edle Cornelia bediente. Sie war, was
Kleidung und Juwelen anbelangt, recht bescheiden, Sie kündigte aber die Er-
innerung an ihr peinliche Genitalerlebnisse der Kinderzeit jedesmal mit dem
Verlieren eines Schmuckgegenstandes an, so daß sie allmählich fast um ihr
ganzes Geschmeide gekommen ist. |
In dem Maße, als sie die Fähigkeit zum Sexualgenuß und das Bewußt-
sein ihrer Exhibitionslust erlangte, milderte sich ihre Überschwänglichkeit im
Zurschautragen der Vorzüge ihrer Kinder, wobei aber ihr Verhältnis zu den
Kindern natürlicher und inniger wurde, Sie schämte sich auch nieht mehr, ihr
Vergnügen an Frauenschmuck aller Art sich einzugestehen, und ließ von der
übertriebenen Hochschätzung des Geistigen im Menschen wesentlich ab,
Die die Patientin zuletzt so erschreckende erotische Sensation beim Be-
rühren ihres jüngsten Kindes fand in den tiefsten Schichten ihrer Persönlich-
keit und in der Erinnerung an die früheste Periode ihrer Entwicklung ihre
Erklärung. Diese Wollust war eine Keproduktion von (Gefühlen, die sie vor
der gewaltsamen Unterdrückung ihrer infantilen Selbstbefriedigung reichlich
genoß, die sich aber in Angst verwandelte und sie — beim unerwarteten
Durchdringen zum Bewußtsein — erschrecken mußte.
Wer wird sich angesichts solcher Erfahrungen noch von der „Als ob*-
Natur, von der Irrealität der Symbole etwas vorfaseln lassen ?! Für diese Frau
waren die Kinder und die Juwelen sicherlich Symbole, die an Realität und
Wertigkeit keinem anderen psychischen Inhalte nachstehen,
Die andere Patientin, von der ich berichten will, verriet ihr Verhältnis
zum Schmuck und zu den Kindern viel auffälliger. Sie wurde Diamantschlei-
ferin, liebte es, ihr Kind in persona mitzubringen, um es mir zu zeigen, und
hatte — im schärfsten Gegensatz zu ihrer überaus dezenten, wie sie selbst
sagte „zouvernantenliaften“ Kleidung — typische Nacktheitsträume,
Ich fühle mich nach diesen Beobachtungen berechtigt, auch den Fall
der berühmten Cornelia, trotz ihrer Antiquität, ebenso zu beurteilen, wie
den einer heute lebenden Frau und anzunehmen, daß ihre schönen Charakter-
züge die Sublimierungsprodukte derselben‘ „perversen* Exhibitionsneigung
waren, die wir hinter den nämlichen Eigenschaften unserer Patientinnen nach-
weisen konnten.
In der Reihe: Genitale — Kind — Schmuck ist letzterer sicherlich das
uneigentlichste, das abgeschwächteste Symbol. Es war also sehr angebracht,
daß Cornelia ihre Mitbürgerinnen auf das Unnatürliche in der Anbetung
jenes Symbols aufmerksam machte und mit ihrem Beispiel auf naturgemäßere
Liebesobjekte hinwies.. Wir können uns aber die Fiktion einer noch viel
| u
120 Mitteilungen.
älteren, einer urmenschlichen Cornelia gestatten, die noch weiter ging, und
wenn sie merkte, daß ihre Genossinnen mit ihrer Verehrung des Symbols
„Kind“ allzuweit gehen, auf ihr Genitale hinwies, als wollte sie sagen: Hier
sind meine Schätze, meine Juwelen und auch die Urquelle
des Kultes, den ihr mit euren Kindern treibt,
Übrigens braucht man sich um ein solches Beispiel nicht erst an die
Urzeit zu wenden. Die nächstbeste Neurotische oder Exhibitionistin kann uns
ein solches Zurückgreifen auf das Eigentliche dieser Symbolik „ad oculos“
demonstrieren,
In einem Aufsatze „Analyse von Gleichnissen“ (Intern, Zeitschr, für
Psychoanalyse 111, 1915, S. 270) behauptete ich, daß im Wortlaute achtlos
hingeworfener Vergleiche oft dem unbewußten Wissen entnommene tiefe Er-
kenntnisse enthalten sind. Das Gleichnis der Cornelia wäre den dort
angeführten Beispielen anzureihen.
10,
Nachtrag zur Kenntnis der Rettungsphantasie bei Goethe,
Mitgeteilt von Dr. J. Härnik (Budapest).
In einer Arbeit über Goethes „Wahlverwandtschaften“ („Imago“,
I. Jahrg., Heft 5, Dezember 1912) habe ich mich bemüht, in einem wichtigen
Ereignis dieses Romans das-symbolische Gewebe einer Rettungsphantasie
nachzuweisen und aufzudecken. Die Spuren dieses Motivs in Goethes
Schaffen hat dann O. Rank in einem sehr interessanten Artikel über „die
‚Geburtsrettungsphantasie‘ in Traum und Dichtung“ !) weiter verfolge. Nun
fand ich in Goethes „Italienischer Reise“ eine reizende löpisode, welche zu
beweisen scheint, daß die Rettungsphantasie (speziell die Phantasie der Rettung
einer Frau aus dem Wasser) auch in einem eigenen Erlebnis des Dichters
eine Rolle gespielt hat, die unser Interesse verdient. Denn es wird durch
dieselbe die Freudsche Auffassung über den Zusammenhang einer solchen
Phantasie mit der erotischen Objektwahl bestätigt und außerdem gehört der
Vorfall in seiner scheinbaren „Zufälligkeit* gewissermaßen zu den Phänomenen
der „Psychopathologie des Alltagslebens“.
Im Monate Oktober 1787 machte Goethe in Italien, während eines
Landaufenthaltes, die Bekanntschaft eines hübschen, jungen Mädchens, einer
Mailänderin, zu der er sehr bald eine Zuneigung gefaßt hatte, besonders, da
„in ihren Äußerungen etwas Strebsames zu bemerken war“, ?) So beklagte
sie sich bei ihm über die mangelhafte Erziehung der Mädchen, besonders,
daß man sie in fremden Sprachen, z. B. im Englischen nicht unterrichte,
Goethe erbietet sich, ihr einen Begriff vom Englischen beizubringen, und
schlägt vor, gleich einen Versuch zu machen, indem er „eins der grenzen-
losen englischen Blätter aufhob, die häufig umherlagen“. Dann heißt es
weiter :
„Ich blickte schnell hinein .und fand einen Artikel, dab ein Frauen-
zimmer ins Wasser gefallen, glücklich aber gerettet und den Ihrigen wieder-
gegeben worden. Es fanden sich Umstände bei dem Falle, die ihn ver-
wickelt und interessant machten : es blieb zweifelhaft, ob sie sich ins Wasser
gestürzt, um den Tod zu suchen, sowie auch, welcher von ihren Verehrern,
') Erschienen in dieser Zeitschrift, II. Jahrg., Heft 1, Januar 1914.
ne er en das Folgende aus der zweibändigen Ausgabe des Insel-Verlages, 1918,
or
Dr. J. Härnik: Kulturgeschichtliches zum Thema: Geldkomplex etc. 121
der begünstigte oder verschmähte, sich zu ihrer Rettung gewagt. Ich wies
ihr die Stelle hin und bat sie, aufmerksam darauf zu schauen. Darauf über-
setzte ich ihr erst alle Substantiva und examinierte sie, ob sie auch ihre Be-
deutung wohl behalten. Gar bald überschaute sie die Stellung dieser Haupt-
und Grundworte und machte sich mit dem Platz bekannt, den sie in Perioden
eingenommen hatten, Ich ging darauf zu den einwirkenden, bewegenden, be-
stimmenden Worten über und machte nunmehr, wie diese das Ganze belebten,
auf das heiterste bemerklich und katechisierte sie so lange, bis sie mir endlich,
unaufgefordert, die ganze Stelle, als stünde sie italienisch auf dem Papiere,
vorlas, welches sie nicht ohne Bewegung ihres zierlichen Wesens leisten
konnte.“
Wie schon oben angedeutet wurde, handelt es sich hier um eine
scheinbare Zufälligkeit, nämlich in der Auswahl des Lesestoffes durch
Goethe unter den unzähligen Zeitungsnachrichten. Aber es scheint nicht
zweifelhaft zu sein, daß in der getroffenen Wahl eine unbewußte Absicht mit-
wirkte, die von gefühlsbetonten Komplexen getragen wurde, ich meine die
Absicht einer verhüllten Liebeserklärung. Bei der von Rank und mir auf-
gezeigten Wichtigkeit des „Rettungsmotivs* bei Goethe kann man dies um
so mehr annelımen, da mit diesem Vorfall tatsächlich eine sehr ernsthafte
Liebesneigung des Dichters beginnt, der sonst während seines Aufenthaltes in
Rom sich von den Frauen „bis zur trockenen Unhöflichkeit* entfernt hielt.
Daß die liebliche Schülerin seine zärtliche Neigung nicht unerwidert ließ, sei
nur kurz erwähnt. Doch „wurde dies lebhafte wechselseitige Wohlwollen schon
im Keime zerstört“ durch die peinliche Entdeckung seinerseits, daß das lieb-
gewonnene Mädchen bereits verlobt sei. Seine Enttäuschung war so schmerz-
haft, dab er sogar an „ein Werther-ähnliches Schicksal“ denken mußte,
ks war mir mit dieser Mitteilung nur darum zu tun, darauf hinzuweisen,
daß der angeführte, harmlose Vorfall für Erlebnis und Schatien des Dichters
bedeutungsvoll erscheinen muß, wenn wir ihn in den uns schon vertrauten
Zusammenhang einzureihen vermögen. Daher verzichte ich darauf, die Vor-
geschichte und die weiteren Schicksale dieses kurz geschilderten Liebeserleb-
nisses — mit dem Goethe sich erst bei seinem Abschied aus Rom endgültig
abfand und das nach seiner eigenen Aussage ihm nie aus Sinn und Seele ge-
kommen ist = psychoanalytisch weiter zu verfolgen, oder sogar zu versuchen,
seinen Platz im Liebesleben des Dichters vergleichend und verknüpfend fest-
stellen zu wollen,
11.
Kulturgeschichtliches zum Thema: Geldkomplex und Analerotik.
Mitgeteilt von Dr, J. Härnik.
In Flögel-Bauers „Geschichte des Grotesk-Komischen “ !) finden sich
unter dem Titel „Batter il culo sul lastrone“ folgende interessante
Daten:
„In Neapel stieg ehedem der zahlungsunfähige Schuldner auf eine kleine
Säule auf dem Platze vor dem Justizpalast (Palazzo de’ Tribunali), wo er
sich die Hosen herunterlassen und den bloßen Hintern zeigen mußte, mit den
dreimal wiederholten Worten: Wer was zu fordern hat, komme her und
1) K. F. Flögel, Geschichte des Grotesk-Komischen, neu bearbeitet und heraus-
gegeben von Max Bauer, Verlag Georg Müller, München 1914, II. Bd. S. 374, Da-
selbst die Quellenangaben,
122 Mitteilungen.
mache sich bezalılt! (chi ha d’avere, si venga a pagare.) Dieser Brauch
reichte bis nach Sizilien.
„In Florenz war es ehedem gebräuchlich, daß insolvente Schuldner an-
gesichts des auf dem Mercato nuovo versammelten Volkes mit ihrem Hintern
auf einen großen Pflasterstein (lastra) stoßen mußten, wodurch sie von jedem
persönlichen Zwang seitens ihrer Gläubiger frei blieben, Daher die Redensart
„Batter il culo sul lastrone“, d. h. bankrott werden,
| „In den Niederlanden war es üblich, daß sich die insolventen Kaufleute
mit entblößtem Podex auf einen Stein setzen mußten, In Schwaben, .dem
Orte Pfaffenhofen bei Güglingen, soll einst eine ähnliche Sitte geherrscht
haben.“
Hiezu ist nur zu bemerken, daß ich die geographische Reihenfolge
der Mitteilung bei Flögel-Bauer (Florenz, Neapel, Niederlande) umgeän-
dert habe, da ich den Eindruck hatte, daß dadurch auch die Wirkung einer
entsprechenden, fortschreitenden Verdrängung des ursprünglichen 'Triebes
wahrzunehmen ist. Worte und Gebärden scheinen bei dem Volke der süd-
licheren Klimata lebhafter, ausdrucksvoller gewesen zu sein, und auch hier
ungenierter bei den Neapolitanern als bei den Florentinern, dagegen bemerken
wir im Norden eine Abschwächung der Geste zur einfachen lntblößung.
Beiträge zur Symbolik.
12.
Belege zur Symbolik „des ausgelöschten Lichtes“.
Mitgeteilt von Dr. J, Härnik (Budapest).
Vor mehreren Jahren erfuhr ich von Dr. S. Ferenezi, daß das Aus-
löschen eines Lichtes im Traume meistens den Tod (richtiger einen Todes-
wunsch) bedeutet. Bei dieser Gelegenheit machte er mich auf die ungarische
Redensart für „Töten“ aufmerksam : Jemandem „sein (Kerzen)licht ausblasen‘“,!)
Zur Ergänzung der diesbezüglichen psychoanalytischen Erfalırungen dürften
nachfolgende Belege aus der klassischen, deutschen Literatur mit Interesse
aufgenommen werden:
I,
In der wundervollen Beschreibung des römischen Karnevals widmet
Goethe das vorletzte Kapitel einer fremdartigen Belustigung des letzten
Karnevalstages, die wir am besten mit den Worten des Dichters wiedergeben: *)
„Nun wird es für einen jeden Pflicht, ein angezündetes Kerzchen in der
Hand zu tragen, und die Favoritverwünschung der Römer: Sia ammazzato !
hört man von allen Ecken und Enden wiederholen. Sin ammazzato chi
non porta moccolo! Ermordet werde, der kein Lichtstümpfchen
trägt! ruft einer dem anderen zu, indem er ihm das Licht auszublasen
! Vgl. auch ein von ihm mitgeteiltes Traumbeispiel — in welchem das Licht
we 7 „Lebenslicht“ gedeutet wird — diese Zeitschrift, IV, Jahrg, 1916,
‚s.
Die angeführte Redensart ist auch im Deutschen gebräuchlich. — Zur Symbolik
des Lichtauslöschens vgl. Rank und Sachs, „Die Bedeutung der Psychoanalyse für
die Geisteswissenschaften“, 1913, S. 14, und Freud, Traumdeutung, 4, Aufl,, S. 392,
Anhang 2, Traum und Mythus von Dr. Rank,
”) Goethes Italienische Reise, im Insel-Verlag zu Leipzig, 1918, II. Bd., S. 248,
Dr, J. Härnik : Belege zur Symbolik „des ausgelöschten Lichtes“, 123
sucht. Anzünden und Ausblasen und ein unbändiges Geschrei: Sia ammazzato!
bringt nun bald Leben und Bewegung und wechselseitiges Interesse unter die
ungeheure Menge.
„Uhne Unterschied, ob man Bekannte oder Unbekannte vor sich habe,
sucht man immer das nächste Licht auszublasen oder das seinige wieder an-
zuzünden und bei dieser Gelegenheit das Licht des Anzündenden auszulöschen,
Und je stärker das Gebrüll: Sia ammazzato! von allen Enden widerballt,
desto mehr vergißt man, daß man in Rom sei, wo diese Verwünschung um
einer Kleiniekeit willen in kurzem an einem und dem anderen erfüllt
werden kann,
„Die Bedeutung des Ausdrucks verliert sich nach und nach gänzlich. Und
wie wir in anderen Sprachen oft Flüche und unanständige Worte zum Zeichen
der Bewunderung und Freude gebrauchen hören, so wird Sia ammazzato!
diesen Abend zum Losungswort, zum Freudengeschrei, zum KHRefrain aller
Scherze, Neckereien und Komplimente.“
Zu den tiefsten Wurzeln aber dieser so mächtig komplexbetonten Sitte
führt uns der Dichter mit folgender Mitteilung:
„Alle Stände und Alter toben gegeneinander, man steigt auf die Tritte
der Kutschen, kein Hängeleuchter, kaum die Laternen sind sicher, der Knabe
löscht dem Vater das Licht aus und hört nicht auf zu schreien : Sia ammaz-
zato il Signore Padre! Vergebens, daß ihm der Alte diese Unanständigkeit
verweist ; der Knabe behauptet die Freiheit dieses Abends und verwünscht nur
seinen Vater Jdesto ärger..... ”
I.
In „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ erzählt uns Bettina
v. Arnim vom tragischen Ende ihrer Freundin, der Stiftsdame Karoline
v. Günderode, die ein halbes Jahr nach dem hier mitzuteilenden Erlebnis sich
selbst entleibte. (Sie erstach sich mit einem Dolch.) Die Ginderode trug sich
schon seit längerer Zeit mit bewußten Selbstmordgedanken und erschreckte
damit nicht wenig ihre jüngere Freundin, welche sich auch viel Mühe nahm,
sie von dem Vorsatz aozubringen. Sie bat auch die Günderode, daß sie ihr
rechtzeitig ein Zeichen gebe, wenn der Entschluß zur entsetzlichen Tat reif
werden würde. Nun erzählt ihr die Günderode eines Tages einen Traum
(richtiger eine Vision) über ihre unlängst verstorbene Schwester : Hs u WIOE
drei Nächten ist mir diese Schwester erschienen : ich lag im Bett und die
Nachtlampe brannte auf jenem Tisch; sie kam langsam herein in weißem
Gewand und blieb an dem Tisch steben ; sie wendete den Kopf nach mir und
senkte ihn und sah mich an; erst war ich erschrocken, aber bald war ich
ganz ruhig, ich setzte mich im Bett auf, um mich zu überzeugen, daß ich
nicht schlafe. Ich sah sie auch an und es war, als ob sie etwas bejahend
nickte ; und sie nahm dort den Dolch und hob ilın gen Himmel mit der rechten
Hand, als ob sie ihn mir zeigen wolle, und legte ihn wieder sanft und klang-
los nieder und dann nahm sie die Nachtlampe und hob sie auch in die Höhe
und zeigte sie mir, und als ob sie mir bezeigen wolle, daß ich sie verstelıe,
nickte sie sanft, führte die Lampe zu ihren Lippen und hauchte sie aus:
denk nur, sagte sie voll Schauder, ausgeblasen; — und im Dunkel hatte
mein Aug’ noch das Gefühl von ihrer Gestalt; und da hat mich plötzlieh
1) Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ von Bettina v. Arnim. Leipzig,
Reclamsche Ausgabe, S. 82.
EEE ET Zn un DE 9 5 rn u u 4 vie a - a u a u
& T
124 Mitteilungen,
eine Angst befallen, die ärger sein muß, als wenn man mit dem Tod ringt:
ja, denn ich’ wär lieber gestorben, als noch länger diese Angst zu tragen.*
Zur Epikrise „des Falles“ soll noch mitgeteilt werden, daß sich Bettina
diese Erzählung später, nach dem erfolgten Selbstmord ihrer Freundin, als
„das Zeichen“ auslegte, um welches sie diese gebeten hatte: „das war also
die Geschichte von ihrer toten Schwester, die sie mir ein halbes Jahr früher
mitteilte: da war der Entschluß schon gefaßt“.
Kritiken und Referate.
Dr, Ernst Simmel, Kriegsneurosen und „Psychisches Trauma‘.
Ihre gegenseitigen Beziehungen, dargestellt auf Grund psychoanaly-
tischer, hypnotischer Studien. (Verlag Otto Nemnich, Leipzig, München,
1918. Preis M. 2°50.)
Mit großer Freude wird jeder Analytiker Simmels Arbeit lesen. Nicht,
weil sie ihm Überraschendes oder Neues vermittelt, sondern weil von dritter
Seite hier eine kräftige Lanze für Freud und seine Lehre eingelegt wird.
Es ist mir unbekannt und geht auch nicht klar aus der Arbeit hervor, ob
der Verfasser sich schon früher mit analytischen Theorien befaßt oder sie sich
erst ad Ihıoc angeeignet hat. Ich nehme das letztere aus mehreren Gründen
an und muß seine Leistung und seine Erfolge daher um so höher werten.
Verfasser ist leitender Arzt eines Speziallazaretts für Kriegsneurotiker.
Ursprünglich sollte er nur suggestiv-hypnotisch arbeiten, Aber er sah zahl-
reiche Mißerfolge. So schien der „Gedanke naheliegend, die Freudsche
Lehre vom ,‚Psychischen Trauma‘ als Ursache dieser Neurose zu erforschen
und zu dem Zwecke die von ihm angegebene ‚Psychoanalytische Methode‘
an einem größeren Material zu erproben“.
Einleitend spricht Simmel über die Mannigfaltigkeit der Neurosen ; es
folgt eine Auseinandersetzung über den Begriff der Psychoneurose, die ein-
tritt, „wenn der Persönlichkeitskomplex nicht mehr die stärkste Gefühls-
bestimmung allen anderen Empfindungen gegenüber hat, wenn gleichstarke
oder stärkere Gefühlskomplexe im Innenleben des Menschen entstehen, die
dann selbständig als sogenannte ‚überwertige‘ Gefühlskomplexe wirken. Ge-
fühlskomplexe werden überwertig, wenn unter irgend welchen äußeren Ein-
flüssen die Abreaktion ihrer starken Gefühlsbetontheit in den adäquaten Affekt
nach außen behindert ist, während der Ichkomplex nicht im stande ist, diesen
im Abfluß gehemmten Komplex ins Bewußtsein zu ziehen und mit Hilfe des
Intellekts umzuarbeiten, der Tendenz der Gesamtpersönlichkeit unterzuordnen
und so seiner Selbständigkeit zu entkleiden“. Kindliche oder pathologische
Schwäche des Intellekts, auch solche unter toxischen, Ermüdungs- usw.
Einflüssen, begünstigen den Vorgang und schaffen eine Prädisposition für das
„Psychische Trauma“. Aber gegenüber „katastrophalen Umwälzungen“ kann
selbst der gesunde Intellekt zum Beispiel mangels Vergleichsmöglichkeiten ver-
sagen. Eine solche ist der Krieg. Nicht das kriegerische Ereignis allein,
„sondern sehr häufig auch der schwere Konflikt, den die Persönlichkeit in
sich mit der durch den Krieg veränderten Umwelt auszukämpfen gezwungen
ist in einem Kampfe, in dem der Kriegsneurotiker schließlich in stummer, oft
unerkannter Qual unterliegt“. Die Neurose entsteht durch Verdrängung dieses
Zeitschr. f, Arztl. Psychoanalyse. V/2, 9
126 Kritiken und Referate.
Kampfes ins Unterbewußtsein, wobei der Aflekt nicht ausgelöscht, sondern „ein-
geklemmt“ wird. Zum Verständnis der Neurose und ihrer Heilung ist es
also nötig, das Unterbewußtsein des Kranken kennen zu lernen. Zu diesem
Zwecke folgt Simmel Freud in der Deutung der Träume, der Fehlhand-
lungen, Assoziationen usw. Außerdem benutzt er, wie Freud es früher
tat und wie Frank es noch tut, die Hypnose (die Suggestivhypnose verwirit
er natürlich für diese Zwecke), die eine Beschleunigung und Vereinfachung
des Heilverfahrenus bedingen soll, und ohne die er bei den ungebildeten Leuten
nicht auskommen zu können glaubt. Ihm ist die Hypnose hier „nichts weniger
als der Traum, den der Kranke in meinem Beisein träumt, den ich vertiefe
‚ und aus dem heraus ich die in der Hypnose bestehende übernormale
Gedächtnissteigerung des Patienten benutze, um ihn aus dem Abschnitt seines
Lebens berichten zu lassen, in dem, wie ich merke, das aflekterregende Er-
eignis sich abgespielt hat*.
Es folgen nun eine ganze Reihe von Beispielen aus der Praxis, an denen
der Verfasser seine Ansichten im speziellen erläutert. Kr unterscheidet
zwischen solchen Kranken, die nur durch den Krieg erkrankt sind, und solchen,
bei denen der Krieg nur letzte auslösende Ursache zur Erkrankung war. Bei
den ersteren sind die Erfolge sehr viel schneller, oft bereits in einer einzigen
hypnotischen Sitzung zu erzielen. Bei den anderen gehört ein Eingehen auf
alte Erlebnisse dazu, die bis in die früheste Kindheit reichen können. Zur
ersten Gruppe bringt er folgendes Beispiel: Der Kranke (seit einem Jahr
Schüttler) berichtet in der Hypnose von den auslösenden Kriegserlebnissen.
Da wird die Frage eingeschaltet, wie er denn kämpfen könne, der Arm schüttle
ja, warım denn? Der Kranke antwortet: „Ich möchte doch aber mein Leben
schonen.“ Der Schütteltremor verschwindet, als nun dem Kranken gesagt
wird, er sei ja nicht in Gefahr, er komme nach Hause, — Zur anderen
Gruppe gehören die übrigen Beispiele, von denen einige etwas ausführlicher
hier folgen mögen. Eine Sprachstörung, eine Art Stottern, mit heltigem
Grimassieren und Zähnefletschen, daß sie den Kranken an fast jeder Ver-
ständigung hindert, löst sich auf als symbolische Wiedergabe einer bestimmten
Melodie, die der Kranke geblasen hatte, als ein stark mit Komplexen besetztes
Ereignis sich abspielte. Der Trompeter glaubt sich vom Kapellmeister schlecht
behandelt, Als er sich verteidigen will, wird ihm das Sprechen verboten.
Durch gutes Blasen will er sich die Neigung des Kapellmeisters wieder ge-
winnen, Minderwertigkeitsideen, in denen er sich mit seinen Brüdern ver-
gleicht, spielen hinein. Durch Erkenntnis dieser Zusammenliänge schwinden
die Symptome,
Eine alte Trigeminusneuralgie schwindet zu Beginn des Krieges, kehrt
aber angeblich infolge von Anstrengungen usw. mit solcher Heftigkeit wieder,
daß der Kranke seit zwei Jahren das Gesicht kaum mehr zu bewegen wagt.
Die Analyse ergibt, daß der Soldat in einem früheren Manöver bei nächtlichem
Melderitt gestürzt war und sich das Gesicht verletzt hatte. Am Abend vor-
her hatte er einen Brief erhalten, daß sein kleines Kind krank sei. Den
erbetenen Urlaub erhielt er nicht. Als er nach Hause zurückgekehrt ist,
stirbt das Kind bald, Ihn beherrscht seitdem das Gefühl, er hätte das Kind
retten können, und er glaubt sich später lange Zeit des traurigen vorwurfs-
vollen Blickes seines Kindes beim Abschied ins Manöver zu erinnern, als ob
es sagen wollte: „Ich muß sterben, wenn du weggehst.“ Die Neuralgie war
im Felde verstärkt wiedergekehrt, als er, zu einem Friedhof kommandiert,
eine trauernde Familie hinter einem Sarge sieht und dadurch an sein Kind
erinnert wird. Besserung nach gewonnener Erkenntnis.
Kritiken und Referate, 197
Noch einen Fall möchte ich kurz referieren, in welchem es sich schein-
bar um eine echte Kriegsneurose handelt, die sich bei einem vorher praktisch
Gesunden, wie wir es ja nicht selten sehen, während des Krankenlagers nach
einer Verwundung entwickelte, bei der aber die Analyse in klarer Weise ein
infantiles Sexualtrauma zu Tage förderte. Nach Schrapnellschuß zehn Wochen
Lazarett. Dort derartige Zunahme vorher geringer nervöser Beschwerden,
daß der Kranke d. u. mit 50°), entlassen wird. Zu Hause völlig arbeits-
unfähig, bedroht er das Leben seiner Angehörigen. Die Analyse eines Traumes
in der Hypnose ergibt lang fortgesetzte, in frühester Kindheit begonnene Ge-
schlechtshandlungen mit der älteren Schwester. Bei der analytischen Auf-
lösung explosiver Lachausbruch und Befreiungsgefühl. Auslösend für die
Manifestierung der Neurose war in diesem Falle nicht die Verwundung, sondern
die zelinwöchige Pflege durch Krankenschwestern.
Ich denke, daß ich für den Analytiker ausführlich genug berichtet habe,
um ihm ein deutliches Bild der Anschauung Simmels zu vermitteln. Im
Grunde handelt es sich bei seinem Verfahren um die von der engeren
Freudschen Schule aufgegebene kathartische Methode, Gegenüber Frank,
der ja mit geringen Modibkationen bei ihr stehen geblieben ist, bedeutet es
aber insofern einen Fortschritt, als manche Errungenschaften der neueren und
weiter ausgebildeten analytischen Technik Anwendung finden.
Man sieht, daß Simmel eine für den Nichtanalytiker ungeheure Menge
neuen Materials bringt. Dem Analytiker, der sich mit Kriegsneurotikern
bereits beschäftigt hat, bietet er nichts Überraschendes., Im Gegenteil sehen
wir, daß es ihm nicht gelungen ist, seine Analysen zu Ende zu führen. In den
meisten Fällen bleibt er nach analytischen Begrifien an der Oberfläche. Um
nur das in die Augen Springendste zu nennen, so sind z. B. im Falle der
Trigeminusneuralgie mit dem Fluche der Mutter der eigentliche Mutterkomplex,
im Falle des Vaters, der sein Kind nach dem Manöver verloren hatte, die
sicher vorhandenen Todeswünsche gegen das Kind, im Falle des Irompeters
der Vaterkomplex nicht herausgekommen usw. Warum Simmel die tiefer-
liegenden Dinge übersehen mußte, ist uns kein Rätsel, Es ist zuzugeben, daß
die Kürze der Behandlungszeit und die Einseitigkeit seines Materials ihn
zwingen abzubrechen, sobald der äußere Erfolg eingetreten ist, und ihn hindern
das Unbewußte so weit aufzudecken, wie wir es für eine gründliche Behandlung
für nötig erachten, Daß er dennoch so schöne Erfolge erzielt, liegt am Aufbau
des neurotischen Symptoms, das, wie Simmel ja anerkennt, sinnvoll ist. Er
begnügt sich mit den ersten sich darbietenden sinnvollen Deutungen, vergißt
aber die Uberdeterminierung der Symptome. Um ein Symptom zum Ver-
schwinden zu bringen, ist es nicht immer nötig, seine sämtlichen Bedeutungen
zn ermitteln, sondern es genügt oft, eine derselben, und nicht einmal die
wichtigste, zu finden. Bei der rein traumatischen Neurose mit ihrer Fixierung
ans Trauma wird eine nachträgliche Erledigung des unverarbeitet gebliebenen
Attektes zur Wiederherstellung des Kranken genügen, In den meisten Fällen
dagegen macht das Trauma eine vorher latente Neurose manifest. Gelingt es
hier, dem Unbewußten den rezenten traumatischen Sinn zu entreißen, so mag
eine Wiederherstellung des status quo ante möglich sein. Ähnlich liegen die
Verhältnisse, in denen, außer den traumatischen noch einige andere oberfläch-
liche Zusammenhänge aufgefunden wurden. Der dann eintretende Erfolg ist
aber kein echt analytischer, sondern häufig nur ein vorübergehender, ein
Scheinerfolg, der auf ganz andere Gründe als die Auflösung der Symptome
zurückgeführt werden muß. Der eine ist die Übertragung, die den Kranken
aus Sympathie für den Arzt sein Symptom aufgeben läßt, der andere ist der
g*
128 Kritiken und Referate,
Widerstand, der etwas opfert, um mehr zu retten. Widerstand und Über-
tragung, diese Hauptfördernisse und Hindernisse der wahren Analyse werden
aber mit Sicherheit übersehen, sobald die Hypnose zu Hilfe genommen wird.
In der hypnotischen Technik ist also der Grund zu suchen, warım Simmel
mit seinen Analysen an der Oberfläche des Unbewußten geblieben ist. Rück-
fälle werden ihn darüber belehren, wenn er seine Fälle im Auge behalten kann.
Trotz allem halte ich aber die Methode bei ausgesuchten Fällen für
praktisch ausreichend. Sicher wird sie manchmal noch helfen, wenn die
suggestive Hypnose versagt. Rückfälle würden eben eingehenderer Analyse
ohne Hypnose bedürfen,
Da, wie oben erwähnt, das Trauma meist wohl eine vorher latente
Neurose zum Ausbruch bringt, halte ich im Gegensatz zu Simmel die Frage,
warum das Trauma bei dem einen die Neurose auslöst, bei dem anderen nicht,
nicht für so völlig ungeklärt. Die angeborene Disposition scheint ihm als
Erklärung nieht auszureichen. Er nimmt an, daß die Erkrankung eine bereits
gespaltene Persönlichkeit voraussetzt, wie er überhaupt die Neurose als Folge
eines Minderwertigkeitskomplexes ansieht. Lassen wir die angeborene und
die durch äußere Verhältnisse, wie Überarbeitung, Sorgen usw. entstandene
Prädisposition sowie toxische und körperliche Einflüsse einmal ganz beiseite,
so dürfen wir vermuten, daß aus der Tatsache des Aufenthaltes im Felde allein
bereits eine Neurose vorbereitet werden kann, da hier Faktoren, die uns aus
der Neurosenlehre bekannt sind, eine Rolle spielen, und zwar eine um so
größere, je länger sie einwirken konnten. Die andauernde Gefahr zwingt zu
vermehrter Beschäftigung mit der eigenen Person. Im gleichen Sinne wirkt
die räumliche Trennung von der Familie und die Loslösung aus allen bis-
herigen Lebensbedingungen. Die sexuelle Abstinenz führt infolge unerledigter
Libido ebenfalls zur Regression auf den Narzißmus. Die ständige ausschließlich
männliche Umgebung läßt bei vielen die homosexuelle Komponente anklingen.
Da unbefriedigte Libido einen starken Anreiz zur Bildung des neurotischen
Symptoms bietet, so wirken alle diese Momente zusammen, um eine mehr oder
weniger starke Prädisposition zur Neurose herzustellen. Dieser Vorgang wird
häufig noch von anderer Seite unterstützt werden. Sadistische Triebe, die
zwar ihren Abfluß im Felde, in wenig sublimierter l’orm erleben, verlangen
häufig eine um so heftigere Verdrängung ; Subordination unter Vorgesetzten
läßt den alten Vaterkomplex aufflammen. Daneben spielen noch bewußte
Gefühle, wie Heimweh, Unlustempfindungen über die liriegsdauer usw, hinein,
die durch unbewußte Einflüsse, wie Überkompensation von feindlicher Familien-
einstellung und masochistische Tendenzen in krankhafter Weise verstärkt werden
können.
| Spuren einer so gewonnenen Prädisposition lassen sich bei vielen aus
dem Felde Zurückgekehrten nachweisen, bei denen eine Neurose im eigent-
lichen Sinne des Wortes nicht zum Ausbruch gekommen ist, die vielleicht
aber schwereren traumatischen Einflüssen nicht mehr gewachsen gewesen wäre,
Solche Personen zeigen ein gegen früher verändertes Wesen, Sie sind ernster,
ruhiger, abgesperrter, aber auch reizbarer und haben auffallend häufig eine
herabgesetzte sexuelle Libido. Gar nicht selten kommen auch durchsichtige
Eifersuchtsideen gegen die Gattin vor. Derartige Zustände pflegen nach lüngerem
Aufenthalt in der Heimat allmählich wieder zu verschwinden. Bei vorüber-
gehendem Heimatsurlaub treten sie seltener in Erscheinung,
Es ist schade, daß sich kein Fall von Insubordination, von unerlaubter
Entfernung oder von Angriff auf einen Vorgesetzten unter den veröffentlichten
Analysen findet. Diese typischen Verstöße gegen die Disziplin zeigen häufig,
Kritiken und Referate. 129
zumal es sich nicht selten um leicht Schwachsinnige handelt, einen ganz
schematischen Aufbau mit Vaterkomplex und Minderwertigkeitsideen, oft durch
homosexuelle paranoische Momente unterstützt. Auch andere Neurosenformen,
wie z, B. Stuporzustände lassen, ihren analytischen Aufbau in der stets zu
findenden Regression gut erkennen.
Es liegt in den Kriegsverhältnissen, die uns alle zwangen, an nicht freiwillig
gewähltem Platze zu arbeiten, daß die erste größere analytische Arbeit über
Kriegsneurosen von einem Außenstehenden geschrieben wurde. Ich halte das
nicht einmal für bedauerlich, weil ein Nichtanalytiker sich leichter Gehör
verschaffen kann. So hat Simmel der analytischen Bewegung einen groben
Dienst erwiesen, denn wir dürfen hoffen, daß seine Arbeit dazu beiträgt, die
Freudsche Auffassung von den Neurosen endlich in weitere ärztliche IKreise
zu tragen. D;. JB.
Dr. Otto Pötzl, Experimentell erregte Traumbilder in ihren
Beziehungen zum indirekten Sehen. (Zeitschr, f, d. ges. Neurol.
und Psychiatrie, Bd. 37, Heft 3/4, 1917.)
Die experimentelle Studie Pötzls knüpft an eine unter pathologischen
Verhältnissen gemachte Erfahrung an: daß nämlich bei allgemeiner Störung
der Abstraktion Eindrücke des indirekten Sehens verspätet und in Bruch-
stücken sukzessive „nachgeliefert“ werden können. P, stellte im Experiment
ähnliche Vorbedingungen her, indem er Bilder tachystoskopisch sehr kurz
exponierte oder die Eindrücke des indirekten Sehens benützte. Die Versuchs-
person mußte zu drei Zeiten ein Protokoll geben. Sie mußte unmittelbar nach
der Exposition des Bildes angeben, was sie aufgefaßt hatte. Ferner mußte sie
protokollieren, was ihr im Laufe des Versuchstages zur Ergänzung der ersten
Niederschrift noch einfiel. Endlich mußte sie schriftlich fixieren, was sie am
nächsten Morgen an hypnagogen Halluzinationen und an ‘räumen in Erinnerung
hatte. Dieser dritte Teil der Vernehmung wurde noch durch Zeichnungen
ergänzt. Im dritten Teile des Protokolls fand Verfasser nun die nämlichen
„Nachlieferungen“, wie er und andere Autoren sie bei organisch Hirnkranken
kennen gelernt hatten. Die sehr interessanten Einzelergebnisse der Versuche
können hier nicht wiedergegeben werden. Für den Psychoanalytiker ist es von
besonderem Interesse, zu vernehmen, daß P. bei sorgsamster Versuchstechnik
und größter Vorsicht in der Verwertung der Resultate die Freudsche
Traumlehre vollkommen bestätigt gefunden hat. Er bezeichnet seine Ergebnisse
geradezu als „experimentelle Illustrationen* der Freudschen Lehre und
hofft, diese mit Hilfe seiner Versuche auch den Experimentalpsychologen näher
bringen zu können. Wie in einer früheren Arbeit tritt P- auch in der
vorliegenden Schrift mit Entschiedenheit für die psychoanalytischen Lehren
ein. Zugleich wird aber erkennbar, daß Verfasser inzwischen mit den
psychoanalytischen Lehren um Vieles vertrauter geworden ist, So darf man
von seinen weiteren Arbeiten eine wesentliche Förderung unserer Wissenschaft
erwarten ; namentlich dürften sie zur Beleuchtung gewisser Grenzgebiete der
Psychoanalyse wertvolle Beiträge liefern. Abraham.
Fritz Giese, Deutsche Psychologie. Der Reihe I. Band, Heft 1.
(Langensalza 1916. Wendt & Klauwell. 108 Seiten. 3°50 M.)
Der Herausgeber der Deutschen Psychologie hat es leider nicht für nötig
befunden, seinem Unternehmen ein Vorwort beizugeben. Darum können wir
nicht beurteilen, ob das vorliegende erste Heft dem Programm gerecht wird,
und ebensowenig, ob dieses selbst zu wünschen wäre, Unter den Verlags-
130 Kritiken und Referate.
notizen finden sich die Sätze: „Die Deutsche Psychologie stellt eine Arbeiten-
reihe von Öriginalabhandlungen aus dem Gesamtgebiete wissenschaftlicher
Psychologie dar...“ und „Die Deutsche Psychologie behandelt folgende Ge-
biete: Theoretische, generelle, diflerentielle, verwertende, vergleichende, ana-
Iytische Psychologie, Tier- und Kinderpsychologie, Völkerpsychologie, Patho-
psychologie, Wirtschaftspsychologie und Taylorsystem, Psychotechnik, Sexual-
psychologie, Hypnotismus, Entwicklungspsychologie usw, und deren Hilfswissen-
schaften“. Dies läßt vermuten, daß hier ein Zentralorgan geschaflen werden
soll. Daß ein solches aber keinesfalls Originalabhandlungen bringen könnte,
sondern sich auf Referate beschränken müßte, wie etwa Peters treffliches
Zentralblatt der Psychologie, erscheint von vornherein gewiß. Und schon gar
nicht vertrauenerweckend wirkt auf uns die völlig willkürliche, unsystema-
tische und. widerspruchsvolle Aufzählung von Gebieten heterogenster Art, die
berücksichtigt werden sollen. Sollten wir uns mit der Idee einer „Deutschen
Psychologie“ befreunden können, so dürfte dies doch wenigstens nicht der
Name für ein Sammelsurium sein, sondern müßte die Arbeiten der führenden
deutschen Psychologen vereinen, anstatt daß diese vom Herausgeber unbescheiden
genug im „Merkblatt“ zensuriert, freundlich begutachtet und gütig beraten
würden, Zuletzt dürften wir auch gerade von einer deutschen Psychologie ein
edleres Deutsch erwarten, als auf den 30 Seiten Bücherschau geboten wird.
Müssen wir uns auch dieser Zeitschrift gegenüber zuwartend und selbst
ein wenig skeptisch einstellen, so bleibt sie uns doch interessant und erfreu-
lich durch ihre klare und positive Stellung zur Psychoanalyse. An mehreren
Stellen wird die Psychoanalyse erwähnt; immer als eine berechtigte wissen-
schaftliche Methode, die der übrigen Psychologie angeschlossen werden müßte,
Dies ist auch der Unterton von Dr. Else Voigtlünders Aufsatz „Über
einen bestimmten Sinn des Wortes ‚unbewußt‘*, Die Verfasserin „will keine
Kritik der Psychoanalyse geben, sondern nur auf eine Verwechslung zweier ver-
schiedener Sinne von Unbewußt hinweisen, die namentlich in der psychoanaly-
tischen Literatur eine verhängnisvolle Rolle spielen“. Die gemäßigten Aflekte
dieser Arbeit gäben die Möglichkeit einer sachlichen Diskussion, aber leider hat
die Verfasserin den Sinn des Begriffs Unbewußt in der Psychoanalyse nicht
voll aufgefaßt (oder wenigstens von ihrem besseren Wissen in dieser Arbeit
keinen Gebrauch gemacht), der freilich auch nicht aus Viktor Silberers kleinem
Aufsatz, sondern aus den schwierigeren aber auch tieferen Untersuchungen Freuds
hätte geschöpft werden müssen. Die Verfasserin unterscheidet fünf Fälle, in
denen psychologische Tatsachen „mit Recht als unbewußte zu bezeichnen wären:
1. Die Disposition, die Anlage... 2. Die momentan nicht gegenwärtigen Er-
lebnisse, das Vergangene, Vergessene ... 3. Alles schlicht erlebte Psychische,
was nicht bemerkt, anerkannt, ins Licht der bewußten Persönlichkeit gezogen
wurde, Das Verdrängte ist davon ein Spezialfall (sie !)... 4. Der Charakter ...
5. Die Träume, Phantasien, künstlerischen Einfälle kommen aus dem Un-
bewußten, d, h. sie werden nicht herbeigeführt, sie tauchen auf ohne Zutun,
ihre Herkunft ist dem Bewußtsein fremd...“ (Seite 64), Von diesem „realen
Unbewußten“ ist zu unterscheiden das „konstruierte Unbewußte“ (Seite 74),
das ein reales sein kann, aber nicht muß: „Der psychoanalytischen Praxis
liegt die Voraussetzung zu Grunde, daß die mögliche symbolische Bedeutung
eines Traumes, einer Phantasie auch bei dessen Bildung real wirksam gewesen sein
müsse. Aber in der weitgehenden Anwendung dieses Prinzips liegt ein verhäng-
nisvoller Irrtum.“ Ob Silberer, wie die Verfasserin meint, hierin zu weit
gegangen ist, sei an dieser Stelle nicht erörtert, aber in der Psychoanalyse
ist dieser Unterschied oft und gründlich hervorgehoben und behandelt worden
Kritiken und Referate. 131
(z. B. Freud, Traumdeutung VI). In diesem Sinne ist Dr, Voigtländer
jedenfalls zuzustimmen. Aber wenn sie nun als Kriterium des realen Unbewußten
angibt: „Man darf dem Unbewußten nichts zuschieben, was nicht auch unter Um-
ständen bewußt werden kann“ und dafür keinerlei andere Gründe geltend zu machen
weiß, als die öftere Wiederholung dieser Behauptung in verschiedener Aus-
schmückung, so können wir der Verfasserin den Vorwurf nicht ersparen, dab
sie die fundamentalsten Begriffe der Psychoanalyse Vbw. und Ubw. nicht erfaßt
hat. Die psychoanalytischen Forscher haben soviel Zeit, Energie und Scharf-
sinn gerade an den Nachweis des Ubw. als des notwendigerweise Bewußtseins-
unfähigen gewendet, daß diese Arbeitsleistung keineswegs durch eine bloße
kluge Geste abgetan werden kann; auch dann nicht, wenn die Psychoanalyse
nur als „Beispiel und Ausgangspunkt einer Untersuchung genommen wurde‘.
Das Thema der infantilen Sexualität wird unzulänglich gestreift, Die Ver-
fasserin gibt im Grunde das Wesentliche zu. Nur am Wort Sexualität nimmt
sie Anstoß, da es ihr nicht ganz gelungen ist, moralische Bedenken zu über-
winden, die überaus deutlich sich in verschiedenen Ausdrücken verraten, so
wenn statt sexuell im engeren Sinn „grob sexuell* gesagt wird und wenn z.B.
von „verdächtiger und gepfefierter Bedeutung des Konflikts“ Sohn-Vater,
Mutter-Tochter gesprochen wird, oder wenn die Autorin behauptet, „die Ana-
Iyse der menschlichen Gefüllsbeziehung ist noch ziemlich in den Anfängen.
Jedenfalls wird sie durch eine gewaltsame Sexualisierung nicht gefördert werden“.
Wir gestatten uns die Frage, woher kommt diese aprioristische Zukunfts-
prophezeiung, wo doch heute höchstens gesagt werden könnte: nicht sefördert
wurde? — Wichtig ist das eigentliche Problem, das Frau Dr. Yoigtländer
beschäftigt: „Jeder Gedanke hat ein doppeltes Gesicht. Er enthält einen
ideelen Wahrheitsgehalt.... Anderseits ist er eingewoben in die Sphäre der
Persönlichkeit, der er entstammt... an seinem Entstehen wirkt zweierlei mit :
der Zwang des logisch idealen Systems, und anderseits die konkrete Per-
sönlichkeit mit ihren Erlebnissen...“ und „nun entsteht das Problem des
/usammenhangs zwischen beiden, wie das Ideelle doch hervorwächst aus dem
Psychischen“. Das Problem wird scharf und klar gestellt, aber nicht gelöst;
nur die psychoanalytische Lösung ein wenig von oben her abgelehnt. „Ist es
nun möglich, das sexuelle Schema als eine in diesem Sinn wirkendes regulatives
System der Gedankenbildung anzusehen, ebenso wie den ideellen Wahrheits-
gehalt? .... Bei versuchsweiser Durchführung dieses Gedankens springt seine
Absurdität sofort in die Augen... Oder erschiene es nicht als absurd, wenn
man, da der Zeppelin mitunter in Träumen als Sexualsymbol fungiert hat,
dies als bestimmend für seine Form annehmen wollte, anstatt der inneren
Zweckmäßigkeit seiner Konstruktion.“ Das Wörtchen „anstatt“ macht freilich
diesen Gedanken absurd; aber es gehört nicht der Psychoanalyse zu, denn
einige Zeilen früher sagte die Verfasserin ganz anders, als sie kein eigenes
Beispiel, sondern das Hans Sperbers anwendete: „Für die Erfindung des
Pflügens ist (jener Gedanke) behauptet worden, aber warum sollte ein reales
Motiv, das Nahrungsinteresse, und als ideale Regulierung seine Zweckmälßig-
keit und Richtigkeit nicht genügen? Zu was noch die Sexualerregung
und als formendes Prinzip die Analogie zum Sexualakt annehmend?“ Wir
meinen, weil die bedeutsamen völkerpsychologischen Erscheinungen immer am
Schnittpunkt sehr zahlreicher Tendenzen, Bedingungen und Ursachen liegen,
wie es Wundt von der Sprache,!) aber nicht nur von ihr sagt: „... Und
wie irrie daher der so oft stillschweigend oder ausdrücklich befolgte Grund-
. er
1, Völkerpsychologie, Bd. I, 5.
132 Kritiken und Referate.
satz ist, da wo irgend ein Vorgang auf lautgeschichtliche Bedingungen zurück-
zuführen sei, werde damit die Mitwirkung anderer Momente von selbst hin-
fällig. Das Gegenteil ist richtig: bei einer so komplexen Funktion ‚wie die
Sprache ist eine komplexe Beschaffenheit der Ursachen von vornherein wahr-
scheinlich .... dem methodologischen Grundsatz aber, daß komplexe Erscheinungen
meist auch komplexe Ursachen haben,..., substituiert man zumeist den
anderen: wo irgend eine einzelne Bedingung einer Erscheinung nachge-
wiesen oder wahrscheinlich gemacht ist, da seien mitwirkende Ursachen aus-
geschlossen“. Das ist auch der Fehler der Verfasserin, die vermutlich von
Wundt auch dann nicht sagen würde: „Verzeihen Sie das harte Wort:
Unsinn“, selbst wenn sie ihm noch weniger zustimmte, als Hans Sperber.
Dr, Siegfried Bernfeld.
Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in
kritischer Betrachtung. (Stuttgart 1917, Ferd. Einke,)
Mit Recht weist der Verfasser darauf hin, daß die psychologische Wissen-
schaft verpflichtet wäre, sich unter Überwindung begreiflicher Widerstände
mit dem Unfug der Spiritisten und Gesundbeter, den Phantasien der 'Iheo-
sophen und den albernen Spitzfindigkeiten moderner Kabbalisten zu beschäf-
tigen, — nicht nur um Gauklern und Fälschern, halbtollen Frauenzimmern
und anspruchsvollen Wirrköpfen das Handwerk zu legen, also eine sozial-
hygienische Arbeit zu leisten, — sondern damit Wichtiges aus der Kultur-
geschichte sowie der Massen- und Einzelpsychologie gedeutet würde, Der
Autor bemüht sich zwar, dem Unbewußten und dem Traum gerecht zu wer-
den, aber mit geringem Wissen von den psychoanalytischen Ergebnissen. Man
müsse im Auge behalten, daß die erotischen Triebe äußerst wandlungsfähig
seien und sich bis zur Unkenntlichkeit verfeinern können: der Ödipuskom-
plex bedeute in Wahrheit, „daß die natürliche Sehnsucht des Kindes nach
Zärtlichkeit und seine Furcht vor der Härte des Pflichtlebens mit sehr
starken körperlichen Empfindungen durchsetzt sind.“ Weder Ferenczis
Theorie der Hypnose noch Pfisters Arbeit über das Zungenreden, noch
des Referenten Beiträge zur Kritik des Hellsehens und telepathischer Phän-
omene sowie über die Paranoia Swedenborgs werden bei der Besprechung
einschägiger Themata erwähnt. Die in diesem Buche recht vernachlässigte
Psychoanalyse wird durch völker- und einzelpsychologische Untersuchungen
Beiträge zum Verständnis historischer und aktueller mystischer Eirschei-
nungen bringend und die Deutung des mystischen Bedürfnisses des Einzelnen
erledigend, eine führende Rolle bei der Klärung der in diesem Buche dan-
kenswert zusammengestellten Themata der Geheimwissenschaft spielen! Dr, E,H.
Grete Meisel-Heß, Das Wesen der Geschlechtlichkeit. (Verlag
Eugen Diederichs, Jena 1916.)
Die Verfasserin hat die Aufgabe, die sie sich in der „Sexuellen
Krise“ I. Teil gestellt, weiter verfolgt und faßt sie für den II, Teil in die
Worte: eine Analyse der Geschlechtlichkeit zu geben, in allen
ihren Verzweigungen und ihren tiefsten Wurzeln.
Und sie, die in innerstem Erleben die sexuellen Nöte und Schäden
geschaut und erkannt hat, enthüllt mutig, heiß und ohne Scheu das Elend,
das aus der Verschmutzung der Erotik unserer Zeit erwachsen ist. Aus
diesem Mitempfinden entspringen ihre Ansichten über die unzulängliche soziale
Stellung der Frau, über das Bevölkerungsproblem, das Moralproblem, über
Kritiken und Referate. 133
die grauenhafte Verwahrlosung, der die „unverheiratete* Mutter und ihr
uneheliches Kind preisgegeben sind. Mit vollem Rechte stellt sie hohe strenge
Anforderungen bezüglich der Versorgung der Frau und des Kindes durch
den Staat, hinsichtlich des Mutterschutzrechtes und des Mutterschutzes und
wir wollen froh sein, wenn nur ein Teil davon Verwirklichung findet.
Aber so vieles Trefilliche und Wahre sie spricht, ist sie doch von
einer Schwäche nicht frei, vor der gerade die Frau, der eine Besserung,
durchführbare Reformen auf sexuellem Gebiete am Herzen liegen, sich hüten
muß: aus Rache gegen den Mann zu schreiben. (Ich meine nicht allein
die persönliche Rache, sondern die aus instinktivem Geschlechtshaß, wie er
wahrscheinlich in jedem Individuum nehen der Geschlechtsanziehung bereit
liegt, beim Weibe im unbewußten Sexualneid, beim Manne in der sexuellen
Selbstüberschätzung und Minderbewertung der Frau. wurzelnd.) Wie aus den
Worten eines Autors Haß klingt, läuft er Gefahr, zu erliegen, Der Forscher
und Reformer muß sich vom Persönlichen losgerungen haben, er muß über-
wunden haben. Er darf nicht schreiben, um sich zu rächen, sondern
nur um anderen zu helfen.
Unter der Verwahrlosung der Sexualität, der Verstellung und Heuchelei
auf erotischem Gebiet leidet nicht allein die Frau, ihre Geißel trifft ebenso
den Mann. Denn nicht jeden zieht es „zur Tiefe“. Der Mann leidet unter
der Prostitution, wenn er ein feingearteter ist, aber die Not zwingt ihn, sie
zu suchen, denn seine Physis ist eine andere als die der Frau. Er trägt auch
nicht allein die Schuld an den sexuellen Übelständen. Es klingt nicht gut
aus dem Munde einer so ehrlichen Kämpferin, wie Meisel-Heß es ist, in der
wichtigen Untersuchung über die Ursachen und die Folgen des Zusammen-
bruchs einer Ehe sich mit einem mehr als hypothetischen: „Nehmen wir
an, der Haß“ (=die Schuld) „liege an dem Manne“, oder der Bemerkung:
„Diese ‚Gifte und ‚Gase — das sind die Schandtaten, die, außer auf
geschlechtlichem Gebiet, durch einen Meuschen, weil er geschlechtlich ver-
dorben und verwüstet war, einem anderen angetan wurden, z, B. einer
Frau von einem Manne*, begnügt, da sie so gut weiß wie wir alle, daß
in zahllosen Fällen mißglückter Ehen die Schuld an der Frau liegt. Wie
denn überhaupt der Abschnitt „das Böse“ so leidenschaftlichen Haß gegen
den Mann atmet, daß die Überschrift „der Böse“ dem Inhalt weit besser
entspräche. Ob und inwieweit die Ausschweifung des Mannes als Ursache
des Weltkrieges bezeichnet werden darf, läßt sich in wenigen Worten nicht
dartun, doch glaube ich, hat auch da die Leidenschaftlichkeit die objektive
Erkenntnis überrumpelt.
Und wenn die Verfasserin in gewissen Betätigungsformen der Libido
des Mannes, in seiner Schrankenlosigkeit und Wahllosigkeit eine neue Krank-
heit, die „geile Sucht“, diagnostiziert und doch in hellem Zorn dem
Träger dieser Krankheit droht, so gleicht sie einem Arzte, der dem Patienten,
den er von seinem Leiden befreien möchte, mit Entrüstung und Wut begegnete.
Aus Erbitterung und Rache ist noch keinem Hilfe gekommen, nicht dem,
welchem sie gilt, noch dem, der sie nährt. Der Vorwurf, den Meisel-Heß
gegen Strindberg und Weininger erhebt, daß sie im Weibe das Übel
der Welt erblicken, trifft mut. mut. sie selbst. Es genügt nicht, in einer so
weit ausholenden Untersuchung gelegentlich dort und da einzuräumen, daß
auch die Frau Schuld trägt an den ungesunden sexuell-erotischen Verhält-
nissen; es läßt sich nicht abwägen, wo die größere Schuld liegt.
Für den Psychoanalytiker ist das Werk noch von einer anderen Seite
her interessant: Es atmet gegen die psychoanalytische Forschung eine ähnliche
134 Kritiken und Referate.
Fehdestimmung wie gegen den Mann, Meisel-Heb steht in ihrem Wissen
ihr gegenüber ungefähr auf dem Standpunkt, den sie zur Zeit des Erscheinens
ihres Romans „Die Intellektuellen“ einnahm, da sie in der Selbstver-
nichtung das Ziel der Psychoanalyse zu erkennen glaubte. Sie hat in diesen
Jahren keine psychoanalytische Erkenntnis angenommen, nichts dazugelernt.
Ja, der Gedanke, daß in der Seele des Kindes inzestuöse Regungen und
Wünsche gegen die erstgeliebten Personen seiner Umgebung, also gegen die
Eitern erwachen, ist für diese kluge Frau, die den sexuell erotischen _Ver-
irrungen der Erwachsenen so mutig ins Auge schaut, etwas so Abstoßendes,
daß ihr klares Urteil davor nicht standhält. Und in der lIintgleisung des
rubigen Denkens schreibt sie: „Es ist dies m. E, ein verhängnisvoller Abweg,
der in Manie auszuarten droht und eine abnorme Triebrichtung geradezu
züchtet. Außer dem Odipus gibt es in der Weltliteratur kein wesentliches
Beispiel hiefür, und dieses einzige Beispiel wird fortwährend von die-
ser Schule in eigens zu diesem Zwecke begründeten Zeit-
sehriften,!) Broschüren und Büchern abgewandelt. Jede Neurose, jede
Hysterie wird von ihnen auf die Quelle verdrängter Sexualgefülle für Vater
oder Mutter zurückgeführt; das ist der beharrliche Ausbau einer
fixen Idee,?) und eine Psychoanalyse mit einem solchen Steckenpferd
scheint mir nicht ungefährlich.“
In keiner anderen Wissenschaft erlaubt sich der Laie solch apodiktische
Urteile wie eben gegenüber der Psychoanalyse. Hätte M.-H. die Eintwicklung
der Freudschen Lehre in den letzten Jahren aus der einschlägigen Literatur
vorurteilsfrei und leidenschaftslos verfolgt, so wären ihr bei ihrer eigenen
großen Arbeit gewisse Zusammenhänge klar geworden, die ihr z, B. im Ab-
schnitte „Gefährliche und gefährdete Typen in der Erotik* zu nicht umschifft-
baren Klippen werden. Der „skrupellose* Mann, der in seiner „psychischen
Drehkrankheit“ von jedem Weibe „ohne Ansehen der Person“ zu „nehmen“
ist, auch „der hat einmal geliebt“. „Und er liebte — einmal in seinem
Leben eine Frau, die ihm wie ein Wesen höherer Art erschien und als
solches in sein Leben trat“ — aber die Verfasserin nennt diese Frau nicht;
sie weiß nicht oder will es nicht wissen, daß diese Frau die Muttergestalt
ist, daß gerade darum der Mann zwischen sich und der Frau, die er liebt
und in der sich ihm unbewußt das Mutterbild verkörpert, ein „ungreifbares
Etwas“ aufrichtet, „Ein Etwas, das ihn verhindert, seine Ehe mit ihr ganz
zu ‚erfüllen,‘ — ein Etwas wie aus dem tiefsten Schacht der Jörde, was
ihm die Füße lähmt, wenn er zu ihr eilen möchte. Es geht ihm wie dem
Manne der Judith, der sie unberührt lassen mußte — der sie nicht nehmen
konnte,* Nur aus der Bedeutung der Mutter-Imago verstehen wir auch restlos,
warum Kundry, da sie Parsifal zur Minne erwartet, ihn mit der Stimme
und Weise der Mutter ruft. Aber es ist nicht, wie Meisel-Heß meint, die
echt mütterliche Zärtlichkeit, die in jeder Weibesliebe wohne, die aus Kundry
spricht, sondern der Mutterlaut ist die einzige Form der Lockung, der
der knabenhafte Ritter nicht widerstehen kann.
Der Mangel an Verständnis für diese Zusammenhänge erklärt auch,
warum die Märchen- und Sagendeutungen, die Meisel-Heß mit vielem
Geschick versucht, sich nicht zur tiefsten Wurzel wagen. Wenn sie im Mär-
chen von Bruder und Schwester, die einander so lieb hatten, erzählt,
dab „jener sich furchtbar schuldig machte draußen in der Welt, als er von
zu Hause, von seiner Familie, von seiner Schwester fort war,“ und wenn sie,
ı) #2) Von der Ref. gesperrt hervorgehoben.
Kritiken und Referate. 135
da sie an anderer Stelle ihres Buches selber betont: „das geschlechtliche
Leben greift, wie sonst nichts anderes, an die Wurzel... .*, fortfährt:
„Vielleicht erschlug er irgendwo in der Notwehr einen Menschen, vielleicht
führte ihn die Gottheit in Versuchung und er stahl. Er tat etwas sehr Böses, “
so hätte die Märchendeutung folgerichtig auf eine große sexuelle Schuld hin-
weisen müssen. Dies hätte dann auch die Strafe der Verwandlung in einen
häßlichen Lurch verständlicher gemacht.
Natürlich kann einer, der sich der Anerkennung der ungeheuren Be-
deutung des ÖOdipuskomplexes und der inzestuösen Wünsche gegen Geschwister
hartnäckig verschließt, auch unmöglich die tiefsten Motive des Bruches zwischen
Kindern und Eltern, des Verhältnisses zwischen Bruder und Schwester, wie
es das zitierte feine Gedicht „Die Schwester“ von Leo Heller behandelt,
verstehen und bleibt ratlos gegenüber so vielen Fällen von Ehebruch, eines
verfehlten Sexuallebens des Mannes, wie des Weibes; er wird auch, wie die
Autorin es tut, einen Geschlechtshaß des Mannes gegen die Frau spüren,
ohne eine Begründung und Erklärung zu suchen.
Die einseitige Einstellung zum Sexualproblem läßt die Verfasserin auch
einen Irrtum bezüglich der Frigidität des Weibes begehen. Die An-
ästhesie der Frau hat keineswegs ihre Wurzel in den sexuellen Verfehlungen
des Mannes in oder außer der Ehe, wenn schon diese gewiß auf die Erotik
einer _fein organisierten Frau nicht ohne verhängnisvolle Wirkung bleiben :
auch hier müssen wir die tiefsten psychischen Wurzeln in den Erlebnissen in
der Kindheit und der Pubertät suchen. Ebenso irrig und der Haßeinstellung
geren den Mann entsprungen ist die Meinung der Autorin, daß die Frau
erst in reifen Jahren durch Enttäuschung und durch die Abkehr von dem
vordem geliebten Manne sich ihrem eigenen Geschlechte zuneige. Die Hom o-
sexualität ist beim Weibe wie beim Manne eine physisch und psychisch
bedingte abnormale Sexualentwicklung, deren Anfänge sich oft bis in die
frühesten Kinderjahre zurückverfolgen lassen.
Trotz der Schwächen, die dem Werke anhaften, bietet es jedem, der
sich mit dem Elend auf sozialem und sexuellem Gebiete beschäftigt, reiche
Anregung. Dr. Hermine von Hug-Hellmuth.
m a eg
Zur psychoanalytischen Bewegung.
4 + James J. Putnam.
EEE ARE ATZE ET TEEN
Unter den ersten Nachrichten, die mit dem Nachlaß der Absperrung
«us den angelsächsischen Ländern zu uns gedrungen sind, befindet sich
die schmerzliche Kunde vom Ableben Putnams, des Präsidenten der
großen panamerikanischen psychoanalytischen Gruppe. Er wurde über
72 Jahre alt, blieb geistesfrisch bis zum Ende und fand einen sanften Tod
durch Herzlähmung während des Schlafes im November 1918. Putnam,
bis vor wenigen Jahren Professor der Neuropathologie an der Harvard-
Universität in Boston, war die große Stütze der Psychoanalyse in
Amerika. Seine zahlreichen theoretischen Arbeiten (von denen einige
zuerst in der Internationalen Zeitschrift erschienen sind) haben durch
ihre Klarheit, ihren Gedankenreichtum und durch die Entschiedenheit
ihrer Parteinahme ungemein viel dazu getan, um der Analyse die Würdi-
gung im psychiatrischen Unterricht und im öffentlichen Urteil zu schaffen,
die sie jetzt in Amerika genießt. Vielleicht eben so viel wirkte sein
Beispiel. Er war als tadelloser Charakter allgemein geehrt und man
wußte, daß nur die höchsten ethischen Rücksichten für ihn maßgebend
waren. Wer ihn persönlich näher kannte, mußte urteilen, daß er zu
jenen glücklich kompensierten Personen vom zwangsneurotischen Typus
gehöre, denen das Edle zur zweiten Natur und das Paktieren mit der
Gemeinheit zur Unmöglichkeit geworden ist.
J. Putnams persönliche Erscheinung ist den europäischen Ana-
lytikern durch seine Teilnahme am Weimarer Kongreß 1912 bekannt
geworden. Die Redaktion der Zeitschrift hofft, in der nächsten Nummer
ein Porträt unseres verehrten Freundes und eine ausführliche Würdigung
seiner wissenschaftlichen Leistungen bringen zu können.
Der Herausgeber.
Zur psychoanalytischen Bewegung. 137
Internationaler psychoanalytischer Verlag und Preiszuteilungen
für psychoanalytische Arbeiten.
Im Herbst 1918 machte mir ein Mitglied der Budapester psychoanaly-
tischen Vereinigung die Mitteilung, daß aus dem Erträgnis industrieller Unter-
nehmungen während der Kriegszeit ein Fonds für kulturelle Zwecke beiseite
gelegt worden sei, über dessen Verwendung ihm im Einvernehmen mit dem
OÖberbürgermeister der Stadt Budapest, Dr. Stephan Bärczy, die Entscheidung
zustehe. Beide hätten sich entschlossen, den ansehnlichen Geldbetrag für die
Zwecke der psychoanalytischen Bewegung zu widmen und mir die Verwaltung
desselben zu übertragen. Ich nahm diesen Auftrag an und erfülle hiemit die
Pflicht, dem Oberbürgermeister, welcher bald darauf dem psychoanalytischen
Kongreß einen so ehrenhaften Empfang in Budapest bereitete, wie dem unge-
nannten Mitglied, das sich ein so hohes Verdienst um die Sache der Reyend®
“ analyse erworben, öffentlich zu danken.
Der auf meinen Namen getaufte und mir zur Verfügung gestellte Fonds
wurde von mir zur Gründung eines „Internationalen psychoanalytischen Ver-
lages“ bestimmt. Ich hielt dies für das wichtigste Erfordernis unserer gegen-
wärtigen Lage,
Unsere beiden periodischen Publikationen, die „Internationale Zeitschrift
für ärztliche Psychoanalyse“ und die „Imago“, sind in der Kriegszeit nicht wie
viele andere wissenschaftliche Unternehmungen untergegangen. Es gelang uns,
sie aufrecht zu erhalten, aber infolge der Erschwerungen, Absperrungen und
Verteuerungen der Kriegszeit mußten sie sich eine ausgiebige Verkleinerung
ihres Umfanges und unerwünscht große Intervalle zwischen den einzelnen
Nummern gefallen lassen, Von den vier Redakteuren der beiden Zeitschriften
(Ferenezi, Jones, Rank und Sachs) war einer als Angehöriger eines
feindlichen Staates von uns abgeschnitten, zwei andere eingerückt und durch
Kriegsdienstpflichten in Anspruch genommen, und nur Dr. Sachs war bei
der Arbeit verblieben, deren ganze Last er opferwillig auf sich nahm. Einige
der psychoanalytischen Ortsgruppen sahen sich überhaupt genötigt, ihre Ver-
sammlungen einzustellen ; die Anzahl der Beitragenden schrumpfte zusammen
wie die der Abnehmer; es ließ sich voraussehen, daß der begreifliche Mißmut
des Verlegers bald den weiteren Bestand der für uns so wertvollen Zeitschriften
in Frage stellen würde. Und doch wiesen die mannigfaltigsten Anzeichen, die
sogar aus den Schützengräben der Front zu uns kamen, darauf hin, daß das
Interesse für die Psychoanalyse sich bei der Mitwelt nicht verringert habe.
Ich meine, die Absicht war gerechtfertigt, diesen Schwierigkeiten und Gefahren
durch die Gründung eines Internationalen psychoanalytischen Verlages ein
Iinde zu setzen. Der Verlag besteht heute bereits als.G. m, b. H. und wird
von Dr. Otto Rank geleitet, dem langjährigen Sekretär der Wiener Vereinigung
und Mitredakteur beider psychoanalytischen Zeitschriften, der nach mehrjähriger
Abwesenheit im Kriegsdienst zur früheren Tätigkeit im Dienste der Psycho-
analvse wiedergekehrt ist,
Der neue, auf die Mittel der Budapester Stiftung gestützte Verlag stellt
sich die Aufgabe, das regelmäßige Erscheinen und eine verläßliche Austeilung
der beiden Zeitschriften zu sichern. Sobald die Schwierigkeiten der äußeren
Verhältnisse es gestatten, sollen sie auch ihren früheren Umfang wiederbekom-
men oder ihn im Falle des Bedarfs, ohne Steigerung der Kosten für die
Abnehmer, überschreiten können. Der Verlag wird aber außerdem, ohne eine
solche Besserung abzuwarten, in das Gebiet der ärztlichen und der angewandten
138 Zur psychoanalytischen Bewegung,
Psychoanalyse einschlägige Bücher und Broschüren zum Druck befördern, und
da er kein auf Gewinn zielendes Unternehmen darstellt, kann er die Interessen
der Autoren besser in Acht nehmen, als dies von Seite der Buchhändler-Ver-
leger zu geschehen pflegt:
Gleichzeitig mit der Einrichtung des psychoanalytischen Verlages wurde
der Beschluß gefaßt, alljährlich aus den Zinsen der Budapester Stiftung zwei
hervorragend gute Arbeiten, je eine aus dem Gebiet der ärztlichen und der
angewandten Psychoanalyse, mit Preisen auszuzeichnen, Diese Preise — in der
Höhe von eintausend österr, Kronen — sollten nicht den Autoren, sondern den
einzelnen Arbeiten zugesprochen werden, so daß es möglich bleiben mußte,
daß der nümliche Autor wiederholt mit einem Preis bedacht werde. Die
Entscheidung darüber, welche unter den in einem gewissen Zeitraum ver-
öffentlichten Arbeiten durch die Preiszuteilung hervorgehoben werden sollen,
wurde .nicht einem Kollegium übertragen, sondern einer einzelnen Person, der
des jeweiligen Fondsverwalters, vorbehalten. Im anderen Falle, wenn das
Richterkollegium aus den erfahrensten und urteilsfähigsten Analytikern gebildet
wäre, hätten deren Arbeiten aus der Bewertung ausscheiden müssen, und die
Institution könnte ihre Absicht, auf mustergültige Leistungen der psychoanaly-
tischen Literatur hinzuweisen, leicht verfehlen. Wenn der Preisrichter in die
Lage käme, zwischen zwei annähernd gleich wertvollen Arbeiten zu schwanken,
sollte ihm ermöglicht sein, den Preis zwischen beiden zu teilen, ohne daß die
Zuteilung eines halben Preises eine geringere Einschätzung der betreffenden
Arbeit bedeutete,
Es besteht die Absicht, diese Preiszuteilungen im allgemeinen alljährlich
zu wiederholen, wobei die gesamte in diesem Zeitraum veröffentlichte, für die
Psychoanalyse bedeutsame Literatur das Material für die Auswahl abgibt und
es nicht in Betracht kommt, ob der Autor der betreffenden Arbeit der Inter-
nationalen psychoanalytischen Vereinigung als Mitglied angehört.
Die erste Preiszuteilung ist bereits erfolgt und hat sich auf die in der
Kriegszeit, 1914 —1918, erfolgten Publikationen bezogen. Der Preis für ärzt-
liche Psychoanalyse wurde zwischen der Arbeit von K. Abraham „Unter-
suchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der Libido“ (Int,
Zeit, IV, 2, 1916) und der Broschüre von Ernst Simmel „Kriegsneurosen
und Psychisches Trauma“, 1918 geteilt, der für angewandte Psychoanalyse
fiel der Arbeit von Th. Reik „Die Pubertätsriten der Wilden“ (Imago IV,
3/4, 1915) zu. Freud
Lehrkurse über Psychoanalyse.
Am 3. Februar 1919 wurden die durch den Krieg unterbrochenen
Lehrkurse über Psychoanalyse von der Wiener ps. a. Vereinigung wieder
aufgenommen, Mit der Abhaltung der Kurse ist, wie bisher, das Mitglied der
Wiener Ortsgruppe, Nervenarzt Dr, Victor Tausk, betraut. Er liest gegen-
wärtig einen Elementarkurs, an den, wenn eine genügende Zahl von Hörern
dazu gemeldet sein wird, ein Kurs für Vorgeschrittene angeschlossen werden
soll. Die Vorlesungen werden im kleinen Hörsaal der psychiatrischen Klinik
der Wiener Universität abgehalten, Der erste Kurs ist im März zum
Abschluß gelangt. Für die Sommerkurse, die Mitte Mai beginnen sollen,
werden Anmeldungen bis Ende April d. J. vom Sekretär der Wiener
Ortsgruppe oder vom Vortragenden (Wien, IX. Alserstraße 32) entgegen-
genommen. Honorar für Ärzte 60 K, für Studierende 40 K.
Zur psychoanalytischen Bewegung. 139
Neue Erscheinungen.
Der vierte Band der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“
von Prof. Freud ist im Verlag von Hugo Heller in Wien erschienen. Derselbe
Verlag hat die zweite, unveränderte Auflage der „Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse“ ausgegeben.
Der erste und zweite Teil dieser „Vorlesungen“: Die Fehlleistungen und
der Traum, sind zusammen als I. Band der holländischen Ausgabe, die
Neurosenlehre als II, Band, eingeleitet und übersetzt von Dr. A. W, van
Renterghem, erschienen (Amsterdam 1918, Maatschappij voor goede en
goedkoope Lectuur). .
Von den in Amerika gehaltenen fünf Vorlesungen „Über Psychoanalyse“
ist soeben die vierte Auflage bei F. Deuticke erschienen.
Aus Anzeigen in englischen und amerikanischen Zeitungen ist zu ent-
nehmen, daß im Laufe der Kriegszeit folgende Werke von Prof. Freud ins
Englische übersetzt worden sind: Wit and its relation to the unconscious von
Dr. A. A. Brill, Leonardo da Vinci von demselben, und Reflections on war
and death von Brill und Kuttner. Verleger: Moflat, Yard & Co.,
New York. .
Derselbe Verlag brachte 1917 die Ubersetzung des bekannten Lehr-
buches von Pfister unter dem Titel: The psychoanalytic method, translated
by Ch. R. Payne. Ä
Die „Papers on Psycho-Analysis“ von Ernest Jones sind 1918 in zweiter,
stark vermehrter Auflage erschienen (Bailliere, Tindall and Co., London),
Im Ungarischen sind folgende Werke Professor Freuds erschienen :
„Lotem und Tabu“, übersetzt von Dr. Z. Pärtos (revidiert von Dr. S.
Ferenezi); ferner in 2. Auflage: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
und die kleine Studie „Über den Traum‘, beide übersetzt von Dr. 8.
Ferenezi. Von Dr. $S. Ferenczi selbst erschienen: „A hiszteria® und
„A pszichoanalisis haladäsa“. In 2. Auflage „Ideges Tünetek*“, (Sämtliche
ungarischen psychoanalytischen Werke bei M. Dick, Verlag, Budapest VII.)
„Der Künstler“, Ansätze zu einer Sexualpsychologie von Dr. Otto
Rank, ist kürzlich in vermehrter 2. und 3. Auflage bei Hugo Heller & Cie.,
Leipzig und Wien, erschienen.
Die Bibliographie, deren ausführliche Mitteilung in unserer Zeitschrift
durch den Krieg eine Unterbrechung erfahren hat, soll in der früheren Weise
wieder fortgeführt werden, und zwar wird der laufende Jahrgang nur die
den Psychoanalytiker interessierenden Neuerscheinungen des Jahres 1919
bringen, während die seit 1915 erschienene Literatur in den für Ende des
Jahres geplanten „Jahresbericht“ aufgenommen werden soll.
Die Redaktion.
Knapp vor Redaktionsschluß kommt uns die betrübliche Nachricht zu,
daß auch in Amerika der Weltkrieg zwei Opfer aus den Reihen unserer dor-
tigen Vereinsmitglieder gefordert hat. Prof, Reginald Allen in Philadelphia,
Mitglied der „American Psychoanalytic Association®, und Dr. Morris J. Karpas
in New York, Mitglied der New Yorker Ortsgruppe, sind beide im Jahre 1918
auf dem europäischen Kriegsschauplatz verschieden.
S prechsaal.
Zur Frage der Beeinflussung des Patienten in der Psychoanalyse.
Von Dr. 8. Ferenezi.
Am vorletzten internationalen psychoanalytischen Kongreß zu München,
wo so viele bis dahin latente Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern
klar zu Tage traten, hielt unter anderen Kollege Dr. Bjerre (Stockholm)
einen Vortrag, in dem er, nicht unähnlich den Züricher Sezessionisten, die
rein psychoanalytische Therapie mit einer ärztlichen und ethischen Erziehung
des Patienten zu kombinieren vorschlug. Da sich Bjerre damals ausdrücklich
gegen gewisse diesbezügliche und seiner Auffassung widersprechende Äußerungen
meinerseits wendete, salı ich mich veranlaßt, diese zu verteidigen und noch-
mals zu betonen, daß sich die psychoanalytise he Therapie in der methodischen
Aufklärung und. Überwindung der inneren Widerstände des’ Patienten er-
schöpfen muß und ohne sonstiges aktive Eingreifen wirkliche Erfolge erzielen
kann. Insbesondere warnte ich bei dieser Gelegenheit davor, die psycho-
analytische Kur mit der sogenannten Suggestion (Übertragungskur) zu ver-
mengen.
Nun finden sich in einer früheren Nummer unserer Zeitschrift!) zwei ein-
ander widersprechende Äußerungen über diese Frage. Jones sagt in seiner
klaren und scharfen Antikritik der Janetschen Auffassung der Psychoanalyse
unter anderem: „Niemals rate ein Psychoanalytiker dem Patienten, am
wenigsten zur Aufnahme des Geschlechtsverkehrs.* In den ersten Zeilen einer
Mitteilung von Sadger hingegen wird das Verhalten eines Patienten ge-
schildert, nachdem er „infolge meines (des Autors) Rates zum erstenmal
koitiert hatte“,
Ich glaube, daß die Wichtigkeit des Problems die neuerliche Aufrollung
der Frage, ob der Analytiker dem Patienten Ratschlüge erteilen darf, recht-
fertigt.
Nach dem, was ich in München darüber äußerte, scheint es, als ob ich
hier unbedingt Jones recht geben und Sadgers Verfahren verwerfen
müßte, Daß ich es nicht tue, sondern Jones’ Äußerung für eine Über-
treibung erkläre, bedarf also der Rechtfertigung.
In mehreren Fällen von Angsthysterie und hysterischer Impotenz machte
ich die Erfahrung, daß die Analyse bis zu einem gewissen Punkte glatt von
statten ging; die Patienten waren voll einsichtig, aber der therapeutische
Erfolg ließ immer noch auf sich warten, ja die Einfälle begannen sich mit
einer gewissen Monotonie zu wiederholen, als hätten die Patienten nichts mehr
zu sagen, als hätte sich ihr Unbewußtes erschöpft. Natürlich hätte. das —
") IV. Jahrgang, Heft 1, S. 39 und 48,
Sprechsaal. 141
wenn es wahr gewesen wäre — der psychoanalytischen Theorie von den un-
bewußten Quellen der Neurosen widersprochen.
In dieser Not kam mir ein mündlich erteilter Rat Prof. Freuds zu
Hilfe. Er klärte mich auf, daß man die Angsthysterischen nach einer gewissen
Zeit dazu auffordern muß, ihre phobisch gesicherte Einstellung zu verlassen
und gerade das zu versuchen, wovor sie am meisten Angst haben. Solche
Ratschläge kann der Arzt vor sich wie vor dem Patienten damit rechtfertigen,
daß jeder solche Versuch frisches, noch unberührtes psychoanalytisches Material
zum Vorschein bringt, das ohne diese Aufrüttelung nur viel später oder über-
haupt nicht zu erlangen gewesen wäre.
Ich folgte dieser Weisung meines Lehrers und kann von dem Erfolg
das Beste sagen. Die Heilung vieler Patienten ging wirklich in Schüben von
durch die „Aufmischungen“ hervorgebrachter Besserung vor sich.
Die Gegner der Psychoanalyse werden uns vorhalten, daß ja dies nichts
anderes als eine verkappte Form der Suggestion oder Gewöhnungskur sei. Ich
aber antworte ihnen: si duo faciunt idem, non est idem.
Erstens versprechen wir dem Patienten nie, daß er von dem Versuch
gesund werden wird; im Gegenteil, wir bereiten ihn auf die eventuelle Ver-
schlimmerung seines subjektiven Zustandes unmittelbar nach den Versuchen vor.
Wir sagen ihm nur — und das mit Recht — daß sich der-Versuch „in ultima
analysi“ als für die Kur vorteilhaft erweisen wird.
Zweitens verzichten wir dabei auf alle sonst gebräuchlichen Mittel des
gewaltsamen oder schmeichelnden Suggerierens und stellen es dem Patienten
anleim, ob er sich zu diesem Versuche entschließt, Er muß schon einen
ziemlich hohen Grad psychoanalytischer Einsicht in der Kur erworben haben,
wenn er unserer Aufforderung nachkommt.
Schließlich leugne ich es durchaus nicht, daß bei diesen Versuchen auch
Elemente der Übertragung — also desselben Mittels, mit dem die Hypnoti-
seure ausschließlich arbeiten — mitwirken. Während aber die Übertragung
auf den Arzt bei letzteren direkt als Heilmittel wirken soll, dient sie bei
der Freudschen Psychoanalyse nur dazu, die Widerstände des Unbewußten
zu lockern. Vor der vollen Beendigung der Kur läßt übrigens der Arzt den
Patienten sogar in diese seine Karten blicken und entläßt ihn in voller Un-
abhängigkeit.
In diesem Sinne meine ich, daß Sadger recht hatte, als er seinen
Patienten zu einer bislang gemiedenen Handlung anhielt, und daß Jones
übertrieb, als er sagte, daß der Psychoanalytiker überhaupt nie einen
Rat gibt.
Ich glaube, dab diese Auffassung der seinerzeit Bjerre gegenüber ver-
fochtenen Reinheit der psychoanalytischen Therapie nicht widerspricht.
Zeitschr, f. ärztl, Psychoaualysa, V/2. 10
Korrespondenzblatt
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Nr. 2. 1919, April,
Kedaktion:
Dr. Sandor Ferenezi, Dr. Anton v, Freund,
Zentralpräsident, Zentralsekretär,
I
Offizielle Mitteilung über das Vereinsstatnt.
Seitens mehrerer Zweigvereinigungen wurde der Wunsch nach Be-
kanntmachung der Statuten der „I. Ps. A, V.“ ausgesprochen.
Die Zentralleitung hat nun festgestellt, daß die auf dem Il. Kon-
greß in Nürnberg im März 1910 beschlossenen und seither nicht abge:
änderten Statuten in vielem überholt erscheinen, Sie hat daher in möglichster
Anlehnung an die veralteten Statuten neue verfaßt, die selbstverständlich
erst durch den nächsten Kongreß zum Beschluß erhoben werden können.
Um jedoch die Mitglieder über die Organisation der Vereinigung
auch bis dahin nicht im Unklaren zu lassen und insbesondere die Zweig-
vereinigungen in ihrer Entwicklung nicht zu hemmen, werden im Folgenden
die Statuten mitgeteilt, wie sie dem nächsten Kongreß vorgeschlagen
werden und wie sie auch bis dahin von der Zentralleitung auf eigene
Verantwortung gehandhabt werden sollen. Mit Rücksicht auf diesen pro-
visorischen Charakter der Statuten sind Veränderungen in der Organi-
sation der Zweigvereinigungen bis zum nächsten Kongreß nicht erwünscht,
11.
Statuten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
I, Name der Vereinigung,
Die Internationale Ps. A. Vereinigung als Zentralverband der bereits
bestehenden und der in Zukunft sich bildenden nationalen oder örtlichen
Vereinigungen (Zweigvereinigungen) trägt den Namen: „Internationale
Psychoanalytische Vereinigung“,
“u
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 145
II. Sitz der Vereinigung.
Der Sitz der „I. Ps. A. V.“ ist der jeweilige Wohnort der Zentral-
leitung.
III. Zweck der Vereinigung.
Pflege und Förderung der von Freud begründeten psychoana-
Iytischen Wissenschaft sowohl als reine Psychologie, als auch in ihrer
Anwendung in der Medizin und den Geisteswissenschaften ; gegenseitige
Unterstützung der Mitglieder in allen Bestrebungen zum Erwerben und
Verbreiten von psychoanalytischen Kenntnissen.
IV. Mitgliedschaft.
Die Vereinigung besteht aus den ordentlichen Mitgliedern der
Zweigvereinigungen. Somit sind zur Neuaufnahme von Mitgliedern die
diesfälligen jeweiligen Bestimmungen der Zweigvereinigungen maßgebend.
Bewohner von Orten, in denen keine Zweigvereinigungen existieren,
müssen sich einer der bestehenden Zweigvereinigungen anschließen.
V. Beiträge der Mitglieder,
Jedes Mitglied entrichtet einen für die Zentralleitung bestimmten
Mitgliedsbeitrag, welcher derzeit Kronen 15 — Mark 10 beträgt, sowie
den für Mitglieder bestimmten ermäßigten Abonnementspreis für die
beiden offiziellen Vereinsorgane von derzeit Kronen 75 = Mark 50. (In
besonders motivierten Fällen kann die Zentralleitung über Vorschlag
einer Zweigvereinigung fallweise einzelne Mitglieder, jeweils für die Dauer
eines Jahres, vom Bezuge einer der beiden Zeitschriften dispensieren.)
Diese Beiträge werden von den Zweigvereinigungen eingehoben und
von diesen einerseits der Zentralleitung, anderseits der Administration
der Vereinsorgane (d. Z. Adresse: I. Ps. A. Verlag G. m. b. H., Wien I,,
Grünangergasse 3--5) weitergeleitet.
VI. Rechte der Mitglieder.
Die Mitglieder haben das Recht, den Sitzungen aller Zweigver-
einigungen beizuwohnen;, sie haben Anspruch auf regelmäßige Zusendung
der offiziellen Vereinsorgane zu den für Mitglieder festgesetzten ermäßigten
Bedingungen und haben Anspruch auf Einladung zum Kongresse; sie
sind am Kongresse aktiv und passiv wahlberechtigt.
VN. Kongresse.
Die oberste Aufsicht über die „I. Ps. A. V.“ fällt dem Kongreß zu.
Der Kongreß wird von der Zentralleitung mindestens alle zwei Jahre
einmal einberufen und vom Präsidenten der jeweiligen Zentralleitung
geleitet. Der Kongreß wählt jeweils die Funktionäre der Zentralleitung.
10*
144 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung,
VII. Die Zentralleitung.
Die Zentralleitung besteht aus einem Präsidenten und einem über
dessen Vorschlag aus der Mitte der am gleichen Orte ansässigen Mit-
glieder vom Kongreß gewählten Sekretär; sie wird für die Zeitdauer
bis zum nächsten Kongreß, längstens aber für die Dauer von 2 Jahren
gewählt. Sie vertritt die I. Ps. A. V. nach außen, faßt die Tätigkeit der
Zweigvereinigungen zusammen, redigiert das Korrespondenzblatt und hat
dem Kongresse über die Tätigkeit Bericht zu erstatten,
IX, Vereinsorgane.
Offizielle Vereinsorgane sind die im „Internationalen Psychoanaly-
tischen Verlag, G. m. b. H.“ erscheinenden Zeitschriften „Interna-
tionale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“ u. „Imago,
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die
Geisteswissenschaften“.
X. Korrespondenzblatt.
Das Korrespondenzblatt der I. Ps, A. V. erscheint unter Redaktion
der Zentralleitung im Anhang an eines der offiziellen Vereinsorgane. Es
vermittelt den Verkehr zwischen der Zentralleitung und den Mitgliedern
in Form offizieller Mitteilungen und registriert die wichtigsten Vor-
kommnisse in den Zweigvereinigungen,
Al. Der Beirat der Zentralleitung.
Der Beirat besteht aus den Präsidenten der Zweigvereinigungen
und kann in besonderen Fällen vom Präsidenten einberufen werden.
XU. Zweigvereinigungen.
Die Aufnahme neuer Zweigvereinigungen bzw. die Anerkennung
der Vereinigungen als Zweigvereinigungen der I. Ps. A. V. unterliegt
der Entscheidung des nächsten Kongresses,
Bis dieser zusammentritt, wird die diesfällige Entscheidung von der
Zentralleitung getroffen.
Es müssen also die Statuten neuer Zweigvereinigungen der Zentral-
leitung vorgelegt und von dieser gutgeheißen werden. Ebenso unterliegt
jede Statutenänderung der Zweigvereinigungen der Einwilligung und
Gutheißung des Kongresses bzw. bis zu dessen Beschluß der Gutheißung
der Zentralleitung,
XIH. Statutenänderung.
Die Statuten können nur vom Kongreß geändert werden, wozu
die Zweidrittel-Majorität der anwesenden Mitglieder erforderlich ist. Der
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 145
Vorschlag auf Änderung der Statuten kann von jedem Mitglied der
I. Ps. A. V. gestellt werden, muß jedoch mindestens 14 Tage vor dem
Kongreßtermin der Zentralleitung in schriftlicher Form vorgelegt werden.
Die derzeitige Zentralleitung:
Dr. S. Ferenezi, Präsident. Dr. Anton v. Freund, Sekretär.
Budapest, am 1. März 1919.
— Er
II.
Berichte der Zweigvereinigungen.
1. Berlin.
Vorläufiges Mitgliederverzeichnis.
Dr. Karl Abraham, Berlin-Grunewald, Schleinitzstraße 6 (Vorsitzender).
Dr. Poul Bjerre, Stockholm, Oestermalmsgatan 43.
Dr. M. Eitingon, Berlin-Wilmersdorf, Güntzelstraße 2.
Dr. R. Gerstein, Hamburg, Colonnaden 96.
Frau Dr. K. Horney, Berlin-Zehlendorf, Sophie Charlottenstr.15 (Sekretärin).
Sanitätsrat Dr. Koerber, Berlin-Lichterfelde, Boothstraße 19.
Dr. H. Liebermann, Berlin-Charlottenburg, Kantstr. 18 (Pension Bauer).
Dr. J. Mareinowski, Haus Sielbeck am Uklei, Post Holsteinische Schweiz.
Dr, E. Simmel, Berlin SW., Großbeerenstraße 3.
Dr. E. Simonson, Berlin-Halensee, Georg Wilhelm-Straße 2.
Dr. U, Vollrath, Görden bei Brandenburg a. Havel, Reservelazarett 11.
Dr. G. Wanke, Friedrichroda (Thüringen), Gartenstraße 16.
2. England.
Am 20, Februar 1919 wurde nach Auflösung der vormaligen „Lon-
doner Ortsgruppe“, die während des Krieges ihre Tätigkeit eingestellt hatte,
eine „British Psycho-Analytical Society“ als Zweigvereiniguug der Interna-
tionalen Ps. A. V. gegründet. Die Gruppe zählt folgende 12 Mitglieder:
Major Berkeley Hill,
Dr. Douglas Bryan (Sekretär),
Mr. Cyril Burt,
Dr. Devine,
Mr. Flügel,
Dr. David Forsyth (Ausschußmitglied),
Mr. Erie Hiller,
Dr. Ernest Jones (Präsident),
Miß Barbara Low,
Dr. Stanford Read,
Mss Riviere,
Dr, Stoddart (Schatzmeister).
Außerdem gehören der Zweigvereinigung eine größere Anzahl (über 20)
„Associate Members“ an, die nur auf die Dauer eines Jahres zugelassen sind,
mit allen wissenschaftlichen Rechten (Vorträge, Diskussion, Bezug der Ver-
einsorgane usw.), jedoch ohne Stimme bei den geschäftlichen Agenden,
146 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Die psychoanalytische Bewegung in Yngland ist in stetem erfreulichen
Wachsen begriffen, Vorlesungen über Psychoanalyse werden für Studierende
der medizinischen Fakultät und für Hörer der Psychologie gehalten,
Am 27. Februar sprach Dr. Jones über die „Psychopathologie des
Alltagslebens“ in der London School of Eeonomies (University London) vor
einer Zuhörerschaft von etwa 150 Personen,
3. Holland.
Jahresbericht 1918 der Niederländischen Zweigvereinigung.
Infolge der allgemeinen ungünstigen Lage konnten im Jahre 1918 nur
eine geschäftliche und zwei wissenschaftliche Sitzungen abgehalten werden,
Am 24. März sprach Dr. van Emden. ber „Analyse von Sensationen im
Traume“ und Dr. Stärcke über „Die psychoanalytischen Wurzeln der
hysterischen Übertreibungssucht“. In den Sitzungen vom 3. November berich-
teten Dr. van Emden und Dr. van Ophuijsen über den V, Interna-
tionalen Kongreß in Budapest, Hierauf hielt Dr. v. d. Hoop einen Vortrag
über „Psychoanalyse derDementia praecox*.
Der Mitgliederstand blieb unverändert!). Das Bedürfnis nach größerer
Expansion der Niederländischen Zweigvereinigung veranlaßte Dr, van Ophu-
ijsen zum Vorschlag eines Reorganisationsentwurfes, der jedoch nach aus-
führlicher Diskussion in der Sitzung vom 3. November zurückgezogen wurde,
Der Fortschritt der psychoanalytischen Bewegung in den Niederlanden
befindet sich noch im Stadium der Latenz und ist aufdringlich erkennbar im
Auftauchen des Namens „Psychoanalyse“ in den Annoncen der Kurpfuscher,
in der schönen Literatur und in den Widerstandssymptomen der offiziellen
wissenschaftlichen Welt.
Erfreuliche Ausnahmen bildeten Einladungen des Vereines für Philo-
sophie und des Vereines für ärztliche Fortbildungskurse, beide im Haag, an
Dr. van Ophuijsen, Vorträge über Psychoanalyse für ihre Mitglieder zu halten,
| Schließlich spricht die Zweigvereinigung den Herren van Emden und
Ophuijsen den Dank aus für ihre Teilnahme am Budapester Kongreß und
für die Vertretung der niederländischen Gruppe dortselbst.
Jahresversammlung 1919,
Auf der heurigen Jahresversammlung der niederländischen Zweigvereini-
gung, die am 2. Februar 1919 stattgefunden hat, wurden als Funktionäre gewählt :
Dr. J. E. G. van Emden (Haag) zum Vorsitzenden ;
Dr. Ad. F.Meijer (Haag, Jan van Meerderstraat 245) zum Schriftführer ;
Dr. J. H. W. van Ophuijsen (Haag) zum Schatzmeister,
Ferner teilt die Zweigvereinigung mit, daß sie mit der endgültigen
Fassung ihrer Statuten beschäftigt ist, die sich an die Statuten der „Inter-
nationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ anlehnen.
4. Schweiz.
Die im Februar d. J. auf Anregung von Dr. Pfister und Herrn und
Frau Dr. Oberholzer in Zürich neu gegründete „Schweizerische Gesell-
schaft für Psychoanalyse“, der 21 Mitglieder aus der ganzen (deutschen und
welschen) Schweiz angehören, hat in ihrer Sitzung vom 24. März 1919 in
’) Siehe das Verzeichnis, diese Zeitschrift, IV. Jahrgang, Heft 4, 8. 217.
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 147
Zürich, der als Gäste Dr. Jones (London), Dr. Rank (Wien) und Dr.
Sachs (Wien) beiwohnten, den Anschluß an die I. Ps. A. V. beschlossen,
Nähere Mitteilungen über die neue Zweigvereinieung werden im nächsten
Korrespondenzblatt veröffentlicht.
5. Ungarn.
Nen aufgenommen: Dr. Jos. Mich. Euler, Nervenarzt, Budapest V.,
Nädorgasse 5.
Adressenänderung: Dr. Felszeghy, Budapest VIf., Damjanich-
utca 28/b.
6. Wien.
a) Tätigkeitsbericht:
Das Vereinsjahr 1918/19 wurde mit der Generalversammlung
am 22. Dezember 1918 eröffnet. Nach Ablegung des Rechenschaftsberichtes,
der zur Kenntnis genommen wurde, erfolgte die Neuwahl, bei der die
früheren Funktionäre wiedergewählt wurden; Dr. Reik wurde als 2. Sekretär
und Bibliothekar gewählt. Der Mitgliedsbeitrag, einschließlich des Bezuges von
„Imago“ und „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, wurde
mit K 100.— pro Jahr festgesetzt.
II. Sitzung am 5. Jänner 1919: Vortrag Dr. Theodor Reik: Die Geburt
der Musik aus dem Geiste der Tragödie.
Ill. Sitzung am 19. Jänner 1919: Gastvortrag Dr. Siegfried Bernfeld:
Das Dichten Jugendlicher.
IV. Sitzung am 2. Februar 1919: Vortrag Dr. Victor Tausk: Kriegsnen-
rosen und -psychosen.
V. Sitzung am 23. Februar 1919: Gastvortrag Dr. W. Fockschaner:
Analyse eines Falles von Paranoia.
Vl. Sitzung am 9. März 1919: Vortrag Dr. Josef K. Friedjung: Einige
Gedanken zum Willensproblem.
VII. Sitzung am 23. März 1919: Vortrag Dr. Paul Federn: Die vater-
lose Gesellschaft,
VIII. Sitzung am 2. April 1919: Vortrag Dr. Alfred Frh. v. Winterstein:
Die Entstehung der griechischen Tragödie.
IX. Sitzung am 16. April 1919: Fragestellungen aus der psychoanalytischen
Technik. Referent Dr, Tausk.
b) Liste der Vereinsmitglieder
(vgl. die letzte veröffentlichte Liste der Wiener Ortsgruppe vom 1. Jänner 1914:
diese Zeitschrift, II. Jahrg., S. 413 sowie die seither angezeigten Verän-
derungen im Mitgliederstande, IH. Jahrg., S. 184 u. 377).
Dr. Guido Brecher, Meran; Bad-Gastein.
Dr. Helene Deutsch, Wien, 1. Wollzeile 33.
Dr. Leonide Drosnes, Odessa, Sanatorium Frednefontanskaja 12.
Dr. Paul Federn, Wien, I, Riemergasse 1.
Prof. Dr. S. Freud, Wien, IX, Berggasse 19 (Vorsitzender).
Dr. Josef K. Friedjung, Wien, I, Ebendorferstraße 6.
Hugo Heller, Wien, I. Bauernmarkt 3.
Dr. Eduard Hitschmann, Wien, IX. Währingerstraße 24 (2. Vorsitzender).
148 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Prof. Dr. Guido Holzknecht, Wien, I. Liebiggasse 4,
Dr. H. v. Hug-Hellmuth, Wien, IX, Lustkandlgasse 10.
Dr. Ludwig Jekels, Wien, 1. Grillparzerstraße 5.
Dr. Michael Kaplan, Wien, XVIIL Sternwartestraße 35.
Dr. Karl Landauer, Frankfurt a. M., Kettenhofweg 17,
Dr. H. Nunberg, Wien, VIII. Florianigasse 20.
Dr. Richard Nepallek, Wien, VIII. Alserstraße 41.
Dozent Dr. Otto Pötzl, Wien, IX. Lazarethgasse 14. (Psychiatr. Klinik).
Dr. Otto Rank, Wien, I. Grünangergasse 3—5 (Sekretär).
Dr. Theodor Reik, Wien, IX. Lackierergasse 1 A (2. Sekretär).
Dr. Oskar Rie, Wien, III. Estegasse .
Dr. Tatjana Rosenthal (gegenwärtige Adresse unbekannt).
Dr. Hanns Sachs, Wien, I, Augustengasse 4 (dzt. Zürich 7, „Sonnenberg“).
Dr. J. Sadger, Wien, IX. Liechtensteinstraße 15.
Herbert Silberer, Wien, I. Annagasse 3 A.
Eugenia Sokolnicka, Warschau, Polna 46.
Dr. S. Spielrein-Scheftel (Adresse dzt. unbekannt).
Dr. Maxim Steiner, Wien, I. Rotenturmstraße 19 (Kassier),
Dr. Vietor Tausk, Wien, IX. Alserstraße 32.
Dr. Eduardo Weiß, Triest (nähere Adresse unbekannt),
Dr. Karl Weiß, Wien, IV. Schwindgasse 12.
Dr. Alfred Frh. v. Winterstein, Wien, IV, Gußhausstraße 14.
Dr. M. Wulff, Odessa, Puschkinskaja 55,
Veränderungen:
Ausgetreten: Dr. Jan van Emden (durch Übertritt in die hollän-
dische Gruppe). Dr. L. Binswanger, Kreuzlingen (durch Übertritt in die
schweizerische Zweigvereinigung).
Verstorben: Dr. Rudolf Reitler(Wien), Dr. J.Stärcke (Amsterdam).
Eingetreten: Dr. Helene Deutsch, Dr. W. Fockschauer, Do-
zent Dr. Otto Pötzl.
c) Nachtrag des Vereinsjahres 1917/18.
(Letzter Tätigkeitsbericht der Wiener Ortsgruppe, vgl. diese Zeitschrift,
IV. Jahrgang, 5. Heft, 8. 275.)
I. Sitzung am 10. Oktober1917: Generalversammlung, Rechenschaftsbericht.
Wiederwahl der Funktionäre, Festsetzung des Mitgliedsbeitrages
mit jährlich K 80.—.
Vortrag Dr. Hanns Sachs: Das Grundmotiv der letzten Schaflenszeit
Shakespeares und die Gestaltung im „Sturm“ (erschien in
„Imago“, V/4).
II. Sitzung am 14. November 1917: Mitteilungen und Referate, |
1. Frau Dr, Federn: Psychoanalyse und Dienstmädchen.
2. Dr. Paul Federn: Referat über „Ein neuer Symptomenkomplex
der Hypophysis cerebri“ von W. Fließ.
3, Dozent Dr. Pötzl: Ein Beispiel des Deja raconte.
4, Dr. M. Kaplan: Die Folgen eines Einschüchterungsversuches bei
einer Schizophrenie.
a Bi
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 149
6. Prof. Dr. Freud: a) Traumbeispiel.
b) Ein Symbol.
c) Beispiel einer Überzeugung in der Psycho-
analyse.
6. Dr. Nunberg: Ein Inzest mit der Tochter und seine psychischen
Folgen.
7. Dr. Hitschmann: a) Eine Stelle aus Jokai über Träume,
b) Referat über Pick „Sexualstörungen im
Kriege“ (erschien in dieser Zeitschr. V/1).
c) Referat über Wagner „Kriegsneurosen “
(erschien in dieser Zeitschrift. V/1).
d) Referat über Dessoir „Vom Jenseits der
Seele“ (siehe dieses Heft),
e) Ein Symptom.
Ill. Sitzung am 12. Dezember 1917: Vortrag Prof. Dr. S. Freud: Das
Tabu der Virginität (erschien in „Sammlung kl. Schr. z, Nen-
rosenlehre“. 4. Folge).
IV. Sitzung am 9. Jänner 1918: Kleine Mitteilungen und Referate.
V. Sitzung am 16. Jänner 1918: Vortrag Dr. Vietor Tausk: Die Ent-
stehung des Beeinflussungsapparates in der Schizophrenie (erschien
in dieser Zeitschrift V/1).
VI. Sitzung am 30. Jänner 1918: Kleine Mitteilungen und Referate.
1. Diskussion zum Vortrag von Dr. Tausk.
2. Referat über „Imago“, 1916 und 1917. -
VL. Sitzung am 13. Februar 1918: Wahl der Frau Dr. Helene Deutsch
zum Vereinsmitglied.
Vortrag Dr. Theodor Reik: Psychoanalytische Studien zur Bibel-
exegese I.
VII. Sitzung am 13. März 1918: Mitteilungen und Referate:
1, Dr. Hollös: Beiträge zur Psychopathologie des Alltagslebens und
aus der ps. a. Praxis.
. Dr. Sachs: Zwei Fälle von Verschreiben in Briefen.
Prof. Dr. Freud: Ein Fall von Versprechen. Eine Fehlhandlung.
Dr. Nunberg: Zwei Beiträge zur Symbolik.
‚. Dr. Hitschmann: Ein Fall von Melancholie,
. Frau Dr. H. Deutsch: Assoziationsversuch bei Melancholie.
. Prof. Dr. Freud: Eine Melancholie.
. cand. med. Fennichel: a) Brief eines 7jährigen Knaben.
db) Traumdeutung.
9. Dr. Federn: Nachtrag zur Frage des Hemmungstraumes.
IX. Sitzung am 17. April 1918: Gastvortrag cand. med. Fennichel: Über
ein Derivat des Inzestkonfliktes.
X. Sitzung am 15. Mai 1918: Vortrag Dr. Theodor Reik: Psychoanalytische
Studien zur Bibelexegese II.
XI. Sitzung am 5. Juni 1918: Vortrag Dozent Dr. Otto Pötzl: Meta-
psychologische Spuren in der räumlichen Anordnung der Sehzentren
des Großhirns. (Der Vortrag fand im kleinen Hörsaal der psych-
iatrischen Klinik statt.)
XII. Sitzung am 12. Juni 1918: Dozent Dr. Otto Pötzl: Fortsetzung und
Schluß des obigen Vortrages.
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Öriginalarbeiten.
I.
„Ein Kind wird geschlagen.“
Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen.
Von Siem. Freud.
T-
Die Phantasievorstellung: „ein Kind wird geschlagen“ wird mit
überraschender Häufigkeit von Personen eingestanden, die wegen
einer Hysterie oder einer Zwangsneurose die analytische Behandlung
aufgesucht haben. Es ist recht wahrscheinlich, daß sie noch öfter
bei anderen vorkommt, die nicht durch manifeste Erkrankung zu
diesem Entschluß genötigt worden sind.
An diese Phantasie sind Lustgefühle geknüpft, wegen welcher sic
ungezählte Male reproduziert worden ist oder noch immer reprodu-
ziert wird. Auf der Höhe der vorgestellten Situation setzt sich fast
regelmäßig eine onanistische Befriedigung (an den Genitalien also)
durch, anfangs mit Willen der Person, aber ebenso späterhin mit
Zwangscharakter gegen ihr Widerstreben.
Das Eıngeständnis dieser Phantasie erfolgt nur zögernd, die Er-
innerung an ihr erstes Auftreten ist unsicher, der analytischen Be-
handlung des Gegenstandes tritt ein unzweideutiger Widerstand ent-
gegen, Schämen und Schuldbewußtsein regen sich hiebei vielleicht
kräftiger als bei ähnlichen Mitteilungen über die erinnerten Anfänge
des Sexuallebens.
Es läßt sich endlich feststellen, daß die ersten Phantasien dieser
Art sehr frühzeitig gepflegt worden sind, gewiß vor dem Schulbesuch,
schon im fünften und sechsten Jahr. Wenn das Kind in der Schule
mitangesehen hat, wie andere Kinder vom Lehrer geschlagen wurden,
so hat dies Erleben die Phantasien wieder hervorgerufen, wenn sie
ehe waren, hat sie verstärkt, wenn sie noch bestanden, und
ihren Inhalt in merklicher Weise modifiziert: Es wurden von da an
Zeitschr, f. ärrtl. Psychoanalyse. YV/3. 11
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I.
„Ein Kind wird geschlagen.“
Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen.
Von Sigm. Freud.
T.
Die Phantasievorstellung: „ein Kind wird geschlagen“ wird mit
überraschender Häufigkeit von Personen eingestanden, die wegen
einer Hysterie oder einer Zwangsneurose die analytische Behandlung
aufgesucht haben. Es ist recht wahrscheinlich, daß sie noch öfter
bei anderen vorkommt, die nicht durch manifeste Erkrankung zu
diesem Entschluß genötigt worden sind.
An diese Phantasie sind Lustgefühle geknüpft, wegen welcher sis
ungezählte Male reproduziert worden ist oder noch immer reprodu-
ziert wird. Auf der Höhe der vorgestellten Situation setzt sich fast
regelmäßig eine onanistische Befriedigung (an den Genitalien also)
durch, anfangs mit Willen der Person, aber ebenso späterhin mit
Zwangscharakter gegen ihr Widerstreben.
Das Eingeständnis dieser Phantasie erfolgt nur zögernd, die Er-
innerung an ihr erstes Auftreten ist unsicher, der analytischen Be-
handlung des Gegenstandes tritt ein unzweideutiger Widerstand ent-
gegen, Schämen und Schuldbewußtsein regen sich hiebei vielleicht
kräftiger als bei ähnlichen Mitteilungen über die erinnerten Anfänge
des Sexuallebens. |
Es läßt sich endlich feststellen, daß die ersten Phantasien dieser
Art sehr frühzeitig gepflegt worden sind, gewiß vor dem Schulbesuch,
schon im fünften und sechsten Jahr. Wenn das Kind in der Schule
mitangesehen hat, wie andere Kinder vom Lehrer geschlagen wurden,
so hat dies Erleben die Phantasien wieder hervorgerufen, wenn sie
eingeschlafen waren, hat sie verstärkt, wenn sie noch bestanden, und
ihren Inhalt in merklicher Weise modifiziert. Es wurden von da an
Zeitschr, f. ärztl. Psychoanalyse. V/3. 11
152 Sigm. Freud.
„unbestimmt viele“ Kinder geschlagen. Der Einfluß der Schule war
so deutlich. daß die betreffenden Patienten zunächst versucht waren,
ihre Schlagephantasien ausschließlich auf diese Eindrücke der Schul-
zeit, nach dem sechsten Jahr, zurückzuführen. Allein dies ließ sich
niemals halten; sie waren schon vorher vorhanden gewesen.
Hörte das Schlagen der Kinder in höheren Schulklassen auf, so
wurde dessen Einfluß durch die Einwirkung der bald zu Bedeutung
kommenden Lektüre mehr als nur ersetzt. In dem Milieu meiner Pa-
tienten waren es fast immer die nämlichen, der Jugend zugänglichen
Bücher, aus deren Inhalt sich die Schlagephantasien neue Anregungen
holten: die sogenannte Bibliotheque rose, Onkel Toms Hütte u. del.
Im Wetteifer mit diesen Dichtungen begann die eigene Phantasie-
tätigkeit des Kindes, einen Reichtum von Situationen und Institutionen
zu erfinden, in denen Kinder wegen ihrer Schlimmheit und ihrer Un-
arten geschlagen oder in anderer Weise bestraft und gezüchtigt
werden.
Da die Phantasievorstellung, ein Kind wird geschlagen, regel-
mäßig mit hoher Lust besetzt war und in einen Akt lustvoller auto-
erotischer Befriedigung auslief, könnte man erwarten, daß auch das
Zuschauen, wie ein anderes Kind in der Schule geschlagen wurde, eine
Quelle ähnliches Genusses gewesen sei. Allein dies war nie der Fall.
Das Miterleben realer Schlageszenen in der Schule rief beim zuschau-
enden Kinde ein eigentümlich aufgeregtes, wahrscheinlich gemischtes,
Gefühl hervor, an dem die Ablehnung einen großen Anteil hatte. In
einigen Fällen wurde das reale Erleben der Schlageszenen als unerträg-
lich empfunden. Übrigens wurde auch in den raffinierten Phanta-
sien späterer Jahre an der Bedingung festgehalten, daß den gezüch-
tieten Kindern kein ernsthafter Schaden zugefügt werde.
Man mußte die Frage aufwerfen, welche Beziehung zwischen der
Bedeutung der Schlagephantasien und der Rolle bestehen möge, die
reale körperliche Züchtigungen in der häuslichen Erziehung des Kin-
des gespielt hätten. Die nächstliegende Vermutung, es werde sich hie-
bei eine umgekehrte Relation ergeben, ließ sich infolge der Einseitig-
keit des Materials nicht erweisen. Die Personen, die den Stoff für
diese Analysen hergaben, waren in ihrer Kindheit sehr selten ge-
schlagen, waren jedenfalls nicht mit Hilfe von Prügeln erzogen wor-
den. Jedes dieser Kinder hatte natürlich doch irgend einmal die über-
legene Körperkraft seiner Eltern oder Erzieher zu spüren bekommen ;
daß es an Schlägereien zwischen den Kindern selbst in keiner Kinder-
stube gefehlt, bedarf keiner ausdrücklichen Hervorhebung.
Bei jenen frühzeitigen und simplen Phantasien, die nicht offen-
kundig auf den Einfluß von Schuleindrücken oder Szenen aus der
Lektüre hinwiesen, wollte die Forschung gern mehr erfahren. Wer
iz;
„Ein Kind wird geschlagen.“ 153
war das geschlagene Kind? Das phantasierende selbst oder ein frem-
des? War es immer dasselbe Kind oder beliebig oft ein anderes? Wer
war es, der das Kind schlug? Ein Erwachsener? Und wer dann?
Oder phantasierte das Kind, daß es selbst ein anderes schlüge? Auf
alle diese Fragen kam keine aufklärende Auskunft, immer nur die eine
scheue Antwort: Ich weiß nichts mehr darüber: ein Kind wird ge-
schlagen.
Erkundigungen nach dem Geschlecht des geschlagenen Kindes
hatten mehr Erfolg. brachten aber auch kein Verständnis. Manchmal
wurde geantwortet: Immer nur Buben, oder: Nur Mädel; öfter hieß
es: Das weiß ıch nicht, oder: Das ist gleichgültig. Das, worauf es
dem Fragenden ankam, eine konstante Beziehung zwischen dem Ge-
schlecht des phantasierenden und dem des geschlagenen Kindes, stellte
sich niemals heraus. Gelegentlich einmal kam noch ein charakteri-
stisches Detail aus dem Inhalt der Phantasie zum Vorschein: Das
kleine Kind wird auf den nackten Popo geschlagen.
Unter diesen Umständen konnte man vorerst nicht einmal ent-
scheiden, ob die an der Schlagephantasie haftende Lust als eine
sadistische oder als eine masochistische zu bezeichnen sei.
1l.
Die Auffassung einer solchen, im frühen Kindesalter vielleicht
bei zufälligen Anlässen auftauchenden, und zur autoerotischen Befrie-
dıgung festgehaltenen Phantasie kann nach unseren bisherigen Ein-
sichten nur lauten, daß es sich hiebei um einen primären Zug von
Perversion handle. Eine der Komponenten der Sexualfunktion sei
den anderen in der Entwicklung vorangeeilt, habe sich vorzeitig selb-
ständig gemacht, sich fixiert und dadurch den späteren Entwicklungs-
vorgängen entzogen, damit aber ein Zeugnis für eine besondere,
anomale Konstitution der Person gegeben. Wir wissen, daß eine
solche infantile Perversion nicht fürs Leben zu verbleiben braucht,
sie kann noch später der Verdrängung verfallen, durch eine Reak-
tionsbildung ersetzt oder durch eine Sublimierung umgewandelt wer-
den. (Vielleicht ist es aber so, daß die Sublimierung aus einem beson-
‚ deren Prozeß hervorgeht, welcher durch die Verdrängung hintange-
halten würde.) Wenn aber diese Vorgänge ausbleiben, dann erhält
sich die Perversion im reifen Leben, und wo wir beim Erwachsenen
eine sexuelle Abirrung — Perversion, Fetischismus, Inversion — vor-
finden, da erwarten wir mit Recht, ein solches fixierendes Ereignis
der Kinderzeit durch anamnestische Erforschung aufzudecken. Ja
lange vor der Zeit der Psychoanalyse haben Beobachter wie Binet
die sonderbaren sexuellen Abirrungen der Reifezeit auf solche Ein-
11?
154 Sigm. Freud.
drücke, gerade der nämlichen Kinderjahre von fünf oder sechs an,
zurückführen können. Man war hiebei allerdings auf eine Schranke
unseres Verständnisses gestoßen, denn den fixierenden Eindrücken
fehlte jede traumatische Kraft, sie waren zumeist banal und für
andere Individuen nicht aufregend; man konnte nicht sagen, warum
sich das Sexualstreben gerade an sie fixiert hatte. Aber man konnte
ihre Bedeutung darin suchen, daß sie eben der voreiligen und sprung-
bereiten Sexualkomponente den wenn auch zufälligen Anlaß zur An-
heftung geboten hatten, und man mußte ja darauf vorbereitet sein,
daß die Kette der Kausalverknüpfung irgendwo ein vorläufiges Ende
finden werde. Gerade die mitgebrachte Konstitution schien allen
Anforderungen an einen solchen Haltepunkt zu entsprechen.
Wenn die frühzeitig losgerissene Sexualkomponente die sadisti-
sche ist, so bilden wir auf Grund anderswo gewonnener Einsicht die
Erwartung, daß durch spätere Verdrängung derselben eine Disposi-
tion zur Zwangsneurose geschaffen werde. Man kann nicht sagen,
daß dieser Erwartung durch das Ergebnis der Untersuchung wider-
sprochen wird. Unter den sechs Fällen, auf deren eingehendem Stu-
dium diese kleine Mitteilung aufgebaut ist (vier Frauen, zwei Män-
ner) befanden sich zwei Fälle von Zwangsneurose, ein allerschwerster,
lebenszerstörender, und ein mittelschwerer, der Beeinflussung gut
zugänglicher, ferner ein dritter, der wenigstens einzelne deutliche
Züge der Zwangsneurose aufwies. Ein vierter Fall war freilich eine
glatte Hysterie mit Schmerzen und Hemmungen, und ein fünfter, der
die Analyse bloß wegen Unschlüssigkeiten im Leben aufsuchte, wäre
von grober klinischer Diagnostik überhaupt nicht klassifiziert oder
als „Psychastheniker‘ abgetan worden. Man darf in dieser Statistik
keine Enttäuschung erblicken, denn erstens wissen wir, daß nicht
jegliche Disposition sich zur Affektion weiter entwickeln muß, und
zweitens darf es uns genügen zu erklären, was vorhanden ist, und
dürfen wir uns der Aufgabe, auch verstehen zu lassen, warum etwas
nicht zu stande gekommen ist, im allgemeinen entziehen.
So weit und nicht weiter würden uns unsere gegenwärtigen Ein-
sichten ins Verständnis der Schlagephantasien eindringen lassen. Eine
Ahnung, daß das Problem hiemit nieht erledigt ist, regt sich aller-
dings beim analysierenden Arzte, wenn er sich eingestehen muß, daß
diese Phantasien meist abseits vom übrigen Inhalt der Neurose bleiben
und keinen rechten Platz in deren Gefüge einnehmen, aber man pflegt,
wie ich aus eigener Erfahrung weiß, über solche Eindrücke gern
hinwegzugehen.
LIT.
Streng genommen — und warum sollte man dies nicht s0 streng
als möglich nehmen? —, verdient die Anerkennung als korrekte
„Ein Kind wird geschlagen.“ 155
Psychoanalyse nur die analytische Bemühung, der es gelungen ist,
die Amnesie zu beheben, welche dem Erwachsenen die Kenntnis seines
Kinderlebens vom Anfang an (d.h. etwa vom zweiten bis zum fünften
Jahr) verhüllt. Man kann das unter Analytikern nicht laut genug
sagen und nicht oft genug wiederholen. Die Motive, sich über diese
Mahnung hinwegzusetzen, sind ja begreiflich. Man möchte brauch-
bare Erfolge in kürzerer Zeit und mit geringerer Mühe erzielen.
Aber gegenwärtig ist die theoretische Erkenntnis noch ungleich wich-
tiger für jeden von uns als der therapeutische Erfolg, und wer die
Kindheitsanalyse vernachlässigt, muß notwendig den folgenschwersten
Irrtümern verfallen. Eine Unterschätzung des Einflusses späterer
Erlebnisse wird durch diese Betonung der Wichtigkeit der frühesten
nicht bedingt; aber die späteren Lebenseindrücke sprechen in der
Analyse laut genug durch den Mund des Kranken, für das Anrecht
der Kindheit muß erst der Arzt die Stimme erheben.
Die Kinderzeit zwischen zwei und vier oder fünf Jahren ist die-
jenige, in welcher die mitgebrachten libidinösen Faktoren von den Er-
lebnissen zuerst geweckt und an gewisse Komplexe gebunden werden.
Die hier behandelten Schlagephantasien zeigen sich erst zu Ende oder
nach Ablauf dieser Zeit. Es könnte also wohl sein, daß sie eine Vor-
geschichte haben, eine Entwieklung durchmachen, einem Endausgang,
nicht einer Anfangsäußerung entsprechen. |
Diese Vermutung wird durch die Analyse bestätigt. Die konse-
quente Anwendung derselben lehrt, daß die Schlagephantasien eine
gar nicht einfache Entwiceklungsgeschichte haben, in deren Verlauf
sich das meiste an ihnen mehr als einmal ändert: ihre Beziehung zur
phantasierenden Person, ihr Objekt, Inhalt und ihre Bedeutung.
Zur leichteren Verfolgung dieser Wandlungen in den Schlage-
phantasien werde ich mir nun gestatten, meine Beschreibungen auf
die weiblichen Personen einzuschränken, die ohnedies (vier gegen zwei)
die Mehrheit meines Materials ausmachen. An die Schlagephantasien
der Männer knüpft außerdem ein anderes Thema an, das ich in dieser
Mitteilung beiseite lassen will. Ich werde mich dabei bemühen, nicht
mehr zu schematisieren, als zur Darstellung eines durchschnittlichen
Sachverhaltes unvermeidlich ist. Mag dann weitere Beobachtung
auch eine größere Mannigfaltigkeit der Verhältnisse ergeben, so bin
ich doch sicher, ein typisches Vorkommnis, und zwar nicht von sel-
tener Art, erfaßt zu haben. |
Die erste Phase der Schlagephantasien bei Mädchen also muB
einer sehr frühen Kinderzeit angehören. Einiges an ihnen bleibt in
merkwürdiger Weise unbestimmbar, als ob es gleichgültig wäre.
Die kärgliche Auskunft, die man von den Patienten bei der ersten
Mitteilung erhalten hat: Ein Kind wird geschlagen, erscheint für
156 Sigm. Freud.
diese Phase gerechtfertigt: Allein anderes ist mit Sicherheit bestimm-
bar und dann allemal im gleichen Sinne. Das geschlagene Kind ist
nämlich nie das phantasierende, regelmäßig ein anderes Kind, zu-
meist ein Geschwisterchen, wo ein solches vorhanden ist. Da dies
Bruder oder Schwester sein: kann, kann sich hier auch keine konstante.
Beziehung zwischen dem Geschlecht des phantasierenden und dem
des geschlagenen Kindes ergeben. Die Phantasie ist also sicherlich
keine masochistische; man möchte sie sadistisch nennen, allein man
darf nicht außer acht lassen, daß das phantasierende Kind auch nie-
mals selbst das schlagende ist. Wer in Wirklichkeit die schlagende
Person ist, bleibt zunächst unklar. Es läßt sich nur feststellen: kein
anderes Kind, sondern ein Erwachsener. Diese unbestimmte erwach-
sene Person wird dann späterhin klar und eindeutig als der Vater
(des Mädchens) kenntlich.
Diese erste Phase der Schlagephantasie wird also voll wieder-
gegeben durch den Satz: Der Vater schlägt das Kind. Ich
verrate viel von dem später aufzuzeigenden Inhalt, wenn ich anstatt
dessen sage: Der Vater schlägt das mir verhaßte Kind. Man
kann übrigens schwankend werden, ob man dieser Vorstufe der spä-
teren Schlagephantasie auch schon den Charakter einer „Phantasie“
zuerkennen soll. Es handelt sich vielleicht eher um Erinnerungen an
solche Vorgänge, die man mitangesehen hat, an Wünsche, die bei ver-
schiedenen Anlässen aufgetreten sind, aber diese Zweifel haben keine
Wichtigkeit.
Zwischen dieser ersten und der nächsten Phase haben sich große
Umwandlungen vollzogen. Die schlagende Person ist zwar die näm-
liche, die des Vaters, geblieben, aber das geschlagene Kind ist ein
anderes geworden, es ist regelmäßig die des phantasierenden Kindes
selbst, die Phantasie ist in hohem Grade lustbetont und hat sich mit
einem bedeutsamen Inhalt erfüllt, dessen Ableitung uns später be-
schäftigen wird. Ihr Wortlaut ist jetzt also: Ich werde vom
Vater geschlagen. Sie hat unzweifelhaft masochistischen Cha-
rakter. ' |
| Diese zweite Phase ist die wichtigste und folgenschwerste von
allen. Aber man kann in gewissem Sinne von ihr sagen, sie habe
niemals eine reale Existenz gehabt. Sie wird in keinem Falle er-
innert, sie hat es nie zum Bewußtwerden gebracht. Sie ist eine
Konstruktion der Analyse, aber darum nicht minder eine Notwen-
digkeit.
Die dritte Phase ähnelt wiederum der ersten. Sie hat den aus
der Mitteilung der Patientin bekannten Wortlaut. Die schlagende
Person ist niemals die des Vaters, sie wird entweder wie in der ersten
Phase unbestimmt gelassen, oder in typischer Weise durch einen
< > er I b
„Ein Kind wird geschlagen.“ 157
Vatervertreter (Lehrer) besetzt. Die eigene Person des phantasie-
renden Kindes kommt in der Schlagephantasie nicht mehr zum Vor-
schein. Auf eindringliches Befragen äußern die Patienten nur: Ich
schaue wahrscheinlich zu. Anstatt des einen geschlagenen Kindes
sind jetzt meistens viele Kinder vorhanden. Überwiegend häufig
sind es (in den Phantasien der Mädchen) Buben, die geschlagen werden,
aber auch nicht individuell bekannte. Die ursprüngliche einfache
und monotone Situation des Geschlagenwerdens kann die mannig-
faltigsten Abänderungen und Ausschmückungen erfahren, das Schla-
gen selbst durch Strafen und Demütigungen anderer Art ersetzt wer-
den. Der wesentliche Charakter aber, der auch die einfachsten Phan-
tasien dieser Phase von denen der ersten unterscheidet, und der die
Beziehung zur mittleren Phase herstellt, ist der folgende: die Phan-
tasie ist jetzt der Träger einer starken, unzweideutig sexuellen Er-
regung und vermittelt als soleher die onanistische Befriedigung. Ge-
rade das ist aber das Rätselhafte; auf welchem Wege ist die nun-
ınehr sadistische Phantasie, daß fremde und unbekannte Buben ge-
schlagen werden, zu dem von da an dauernden Besitz der libidinösen
Strebung des kleinen Mädchens gekommen?
Wir verhehlen uns auch nicht, daß Zusammenhang und Aufein-
anderfolge der drei Phasen der Schlagephantasie wie alle ihre anderen
Eigentümlichkeiten bisher ganz unverständlich geblieben sind.
IV.
Führt man die Analyse durch jene frühen Zeiten, in die dıe
Schlagephantasien verlegt, und aus denen sie erinnert werden, so zeigt
sie das Kind in die Erregungen seines Elternkomplexes verstrickt.
Das kleine Mädchen ist zärtlich an den Vater fixiert, der wahr-
scheinlich alles getan hat, um seine Liebe zu gewinnen, und legt dabei
den Keim |zu einer Haß- und Konkurrenzeinstellung gegen die Mutter,
die neben einer Strömung von zärtlicher Anhänglichkeit bestehen, und
der vorbehalten sein kann, mit den Jahren immer stärker und deut-
licher bewußt zu werden oder den Anstoß zu einer übergroßen re-
aktiven Liebesbindung an sie zu geben. Aber nicht an das Verhältnis
zur Mutter knüpft die Schlagephantasie an. Es gibt in der Kinder-
stube noch andere Kinder, um ganz wenige Jahre älter oder jünger,
die man aus allen anderen Gründen, hauptsächlich aber darum nicht
mag, weil man die Liebe der Eltern mit ihnen teilen soll, und die man
darum mit der ganzen wilden Energie, die dem Gefühlsleben dieser
Jahre eigen: ist, von sich stößt. Ist es ein jüngeres Geschwisterchen
(wie in drei von meinen vier Fällen), so verachtet man es, außerdem
daß man es haßt; und muß doch zusehen, wie es jenen Anteil von
Zärtlichkeit an sich zieht, den die verblendeten Eltern jedesmal für
158 Sigm, Freud.
das Jüngste bereit haben. Man versteht bald, daß Geschlagenwerden,
auch wenn es nicht sehr wehe tut, eine Absage der Liebe und eine
Demütigung bedeutet. So manches Kind, das sich für sicher thronend
in der unerschütterlichen Liebe seiner Eltern hielt, ist durch einen
einzigen Schlag aus allen Himmeln seiner eingebildeten Allmacht
gestürzt worden. Also ist es eine behagliche Vorstellung, daß der
Vater dieses verhaßte Kind schlägt, ganz unabhängig davon, ob man
gerade ihn schlagen gesehen hat. Es heißt: der Vater liebt dieses _
andere Kind nicht, er liebt nur mich.
Dies ıst also Inhalt und Bedeutung der Schlagephantasie in
ihrer ersten Phase. Die Phantasie befriedigt offenbar die Eifersucht
des Kindes und hängt von seinem Liebesleben ab, aber sie wird auch
von dessen egoistischen Interessen kräftig gestützt. Es bleibt also
zweifelhaft, ob man sie als eine rein „sexuelle“ bezeichnen darf;
auch eine „sadistische“ getraut man sich nicht, sie zu nennen. Man
weiß ja, daß gegen den Ursprung hin alle die Kennzeichen zu ver-
schwimmen pflegen, auf welche wir unsere Unterscheidungen aufzu-
bauen gewohnt sind. Also vielleicht ähnlich wie die Verheißung der
drei Schicksalsschwestern an Banquo lautete: nicht sicher sexuell,
nicht selbst sadistisch, aber doch der Stoff, aus dem später beides
werden soll. Keinesfalls aber liegt ein Grund zur Vermutung vor,
daß schon diese erste Phase der Phantasie einer Erregung dient,
welche sich unter Inanspruchnahme der Genitalien Abfuhr in einem
onanistischen Akt zu verschaffen lernt.
In dieser vorzeitigen Objektwahl der inzestuösen Liebe erreicht
das Sexualleben des Kindes offenbar die Stufe der genitalen Organi-
sation. Es ist dies für den Knaben leichter nachzuweisen, aber auch
fürs kleine Mädchen nicht zu bezweifeln. Etwas wie eine Ahnung
der späteren definitiven und normalen Sexualziele beherrscht das
libidinöse Streben des Kindes; man mag sich füglich verwundern,
woher es kommt, darf es aber als Beweis dafür nehmen, daß die Ge-
nitalien ihre Rolle beim Erregungsvorgang bereits angetreten haben.
Der Wunsch, mit der Mutter ein Kind zu haben, fehlt nie beim
Knaben, der Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, ist beim
Mädchen konstant, und dies bei völliger Unfähigkeit, sich Klarheit
über den Weg zu schaffen, der zur Erfüllung dieser Wünsche führen
kann. Daß die Genitalien etwas damit zu tun haben, scheint beim
Kinde festzustehen, wenngleich seine grübelnde Tätigkeit das Wesen
der zwischen den Eltern vorausgesetzten Intimität in andersartigen
Beziehungen suchen mag, z. B. im Beisammenschlafen, in gemein-
samer Harnentleerung u. dgl. und solcher Inhalt eher in Wort-
vorstellungen erfaßt werden kann als das Dunkle, das mit dem Ge-
nitalen zusammenhängt.
„Ein Kind wird geschlagen.“ 159
Allein es kommt die Zeit, zu der diese frühe Blüte vom Frost
geschädigt wird; keine dieser inzestuösen Verliebtheiten kann dem
Verhängnis der Verdrängung entgehen. Sie verfallen ıhr entweder
bei nachweisbaren äußeren Anlässen, die eine Enttäuschung hervor-
rifen, bei unerwarteten Kränkungen, bei der unerwünschten Ge-
burt eines neuen Geschwisterchens, die als Treulosigkeit empfunden
wird usw., oder ohne solehe Veranlassungen, von innen heraus, viel-
leicht nur infolge des Ausbleibens der zu lange ersehnten Erfüllung.
Es ist unverkennbar, daß die Veranlassungen nicht die wirkenden Ur-
sachen sind, sondern daß es diesen Liebesbeziehungen bestimmt ist,
irgend einmal unterzugehen, wir können nicht sagen, woran. Am
wahrscheinlichsten ist es, daß sie vergehen, weil ihre Zeit um ist,
weil die Kinder in eine neue Entwicklungsphase eintreten, in welcher
sie genötigt sind, die Verdrängung der inzestuösen Objektwahl aus
der Menschheitsgeschichte zu wiederholen, wie sie vorher gedrängt
waren, solche Objektwahl vorzunehmen. (Siehe das Schicksal in der
Ödipusmythe.) Was als psychisches Ergebnis der inzestuösen Liebes-
regungen unbewußt vorhanden ist, wird vom Bewußtsein der neuen
Phase nicht mehr übernommen, was davon bereits bewußt geworden
war, wieder herausgedrängt. Gleichzeitig mit diesem Verdrängungs-
vorgang erscheint ein Schuldbewußtsein, auch dieses unbekannter
Herkunft, aber ganz unzweifelhaft an jene Inzestwünsche geknüpft
und durch deren Fortdauer im Unbewußten gerechtfertigt.
Die Phantasie der inzestuösen Liebeszeit hatte gesagt: Er (der
Vater).liebt nur mich, nicht das andere Kind, denn dieses schlägt er
ja. Das Schuldbewußtsein weiß keine härtere Strafe zu finden, als
die Umkehrung dieses Triumphes: „Nein, er liebt dich nicht, denn er
schlägt dich.“ So würde die Phantasie der zweiten Phase, selbst vom
Vater geschlagen zu werden, zum direkten Ausdruck des Schuld-
bewußtseins, dem nun die Liebe zum Vater unterliegt. Sie ist also
masochistisch geworden; meines Wissens ist es immer so, jedesmal ist
das Schuldbewußtsein das Moment, welches den Sadismus zum Maso-
chismus umwandelt. Dies ist aber gewiß nicht der ganze Inhalt des
Masochismus. Das Schuldbewußtsein kann nicht allein das Feld be-
hauptet haben; der Liebesregung muß auch ihr Anteil werden. Er-
innern wir uns daran, daß es sich um Kinder handelt, bei denen (die
sadistische Komponente aus konstitutionellen Gründen vorzeitig und
isoliert; hervortreten konnte. Wir brauchen diesen Gesichtspunkt
nicht aufzugeben. Bei eben diesen Kindern ist ein Rückgreifen auf
die prägenitale, sadistisch-anale Organisation des Sexuallebens be-
sonders erleichtert. Wenn die kaum erreichte genitale Organisation
von der Verdrängung betroffen wird, so tritt nicht nur die eine Folge
auf, daß jegliche psychische Vertretung der inzestuösen Liebe un-
160 Sigm. Freud,
bewußt wird oder bleibt, sondern es kommt noch als andere Folge
hinzu. daß die Genitalorganisation selbst eine regressive Erniedrigung
erfährt. Das: Der Vater liebt mich, war im genitalen Sinne ge-
meint; durch die Regression verwandelt es sich in: Der Vater
schlägt mich (ich werde vom Vater geschlagen). Dies Geschlagen-
werden ist nun ein Zusammentreffen von Schuldbewußtsein und
Erotik; es ist nicht nur die Strafe für die verpönte
genitale Beziehung, sondern auch der regressive Er
satz für sie, und aus dieser letzteren Quelle bezieht es die libi-
dinöse Erregung, die ihm von nun anhaften und in onanistischen
Akten Abfuhr finden wird. Dies ist aber erst das Wesen des Maso-
chismus.
Die Phantasie der zweiten Phase, selbst vom Vater geschlagen
zu werden, bleibt in der Regel unbewußt, wahrscheinlich infolge der
Intensität der Verdrängung. Ich kann nicht angeben, warum sie doch
in einem meiner sechs Fälle (einem männlichen) bewußt erinnert
wurde. Dieser jetzt erwachsene Mann hatte es klar im Gedächtnis
bewahrt. daß er die Vorstellung, von,der Mutter geschlagen zu
werden, zu onanistischen Zwecken zu gebrauchen pflegte; allerdings
ersetzte er die eigene Mutter bald durch die Mütter von Schul-
kollegen oder andere, ihr irgendwie ähnliche Frauen. Es ist nicht
zu vergessen, daß bei der Verwandlung der inzestuösen Phantasie des
Knaben in die entsprechende masochistische eine Umkehrung mehr
vor sich geht als im Falle des Mädchens, nämlich die Ersetzung von
Aktivität durch Passivität, und dies Mehr von Entstellung mag die
Phantasie vor dem Unbewußtbleiben als Erfolg der Verdrängung
schützen. Dem Schuldbewußtsein hätte so die Regression an Stelle
der Verdrängung genügt; in den weiblichen Fällen wäre das, viel-
leicht an sich anspruchsvollere, Schuldbewußtsein erst durch das
Zusammenwirken beider begütigt worden.
In zweien meiner vier weiblichen Fälle hatte sich über der
masochistischen Schlagephantasie ein kunstvoller, für das Leben der
Betreffenden sehr bedeutsamer Überbau von Tagträumen entwickelt,
dem die Funktion zufiel, das Gefühl der befriedigten Erregung auch
bei Verzicht auf den onanistischen Akt möglich zu machen. In einem
dieser Fälle durfte der Inhalt, vom Vater geschlagen zu werden,
sich wieder ins Bewußtsein wagen, wenn das eigene Ich durch leichte
Verkleidung unkenntlich gemacht war. Der Held dieser Geschichten
wurde regelmäßig vom Vater geschlagen, später nur gestraft, ge-
demütigt usw.
Ich wiederhole aber, in der Regel bleibt die Phantasie unbewußt
und muß erst in der Analyse rekonstruiert werden. Dies läßt viel-
leicht den Patienten recht geben, die sich erinnern wollen, die Onanie
„Ein Kind wird geschlagen.“ 161
sei bei ihnen früher aufgetreten, als die — gleich zu besprechende —
Schlagephantasie der dritten Phase; letztere habe sich erst später
hinzugesellt, etwa unter dem Eindruck von Schulszenen. So oft wir
diesen Angaben Glauben schenkten, waren wir immer geneigt anzu-
nehmen, die Onanie sei zunächst unter der Herrschaft unbewußter
Phantasien gestanden, die später durch bewußte ersetzt wurden.
Als solchen Ersatz fassen wir dann die bekannte Schlagephan-
tasie der dritten Phase auf, die endgültige Gestaltung derselben, in
der das phantasierende Kind höchstens noch als Zuschauer vorkommt,
der Vater in der Person eines Lehrers oder sonstigen Vorgesetzten
erhalten ist. Die Phantasie, die nun jener der ersten Phase ähnlich
ist, scheint sich wieder ins Sadistische gewendet zu haben. Es macht
den Eindruck, als wäre in dem Satze: Der Vater schlägt das andere
Kind, er liebt nur mich, der Akzent auf den ersten Teil zurückge-
wichen, nachdem der zweite der Verdrängung erlegen ist. Allein
nur die Form dieser Phantasie ist sadistisch, die Befriedigung, die
aus ihr gewonnen wird, ist eine masochistische, ihre Bedeutung liegt
darin, daß sie die libidinöse Besetzung des verdrängten Anteils über-
nommen hat und mit dieser auch das am Inhalt haftende Schuld-
bewußtsein. Alle die vielen unbestimmten Kinder, die vom Lehrer
geschlagen werden, sind doch nur Ersetzungen der eigenen Person.
Hier zeigt sich auch zum erstenmal etwas wie eine Konstanz
des Geschlechtes bei den der Phantasie dienenden Personen. Die ge-
schlagenen Kinder sind fast durchwegs Knaben, in den Phantasien
der Knaben ebensowohl wie in denen der Mädehen. Dieser Zug er-
klärt sich greifbarerweise nicht aus einer etwaigen Konkurrenz der
Geschlechter, denn sonst müßten ja in den Phantasien der Knaben
vielmehr Mädchen geschlagen werden; er hat auch nichts mit dem
Geschlecht des gehaßten Kindes der ersten Phase zu tun, sondern er
weist auf einen komplizierenden Vorgang bei den Mädchen hin. Wenn
sie sich von der genital gemeinten inzestuösen Liebe zum Vater ab-
wenden, brechen sie überhaupt leicht mit ihrer weiblichen Rolle. be-
leben ihren „Männlichkeitskomplex“ (v. Ophuijsen) und wollen
von da an nur Buben sein. Daher sind auch ihre Prügelknaben, die
sie vertreten, Buben. In beiden Fällen von Tagträumen — der eine
erhob sich beinahe zum Niveau einer Dichtung — waren die Helden
immer nur junge Männer, ja Frauen kamen in diesen Schöpfungen
überhaupt nicht vor und fanden erst nach vielen Jahren in Neben-
rollen. Aufnahme.
V.
Ich hoffe, ich habe meine analytischen Erfahrungen detailliert
genug vorgetragen und bitte nur noch in Betracht zu ziehen, dab
162 Sigm. Freud.
die oft erwähnten sechs Fälle nicht mein Material erschöpfen, sondern
daß ich auch wie andere Analytiker über eine weit größere Anzahl
von minder gut untersuchten Fällen verfüge. Diese Beobachtungen
können nach mehreren Richtungen verwertet werden, zur Aufklärung
über die Genese der Perversionen überhaupt, im besonderen des Maso-
chismus, und zur Würdigung der Rolle, welche der Geschlechtsunter-
schied in der Dynamik der Neurose spielt.
Das augenfälligste Ergebnis einer solehen Diskussion betrifft
die Entstehung der Perversionen. An der Auffassung, die bei ihnen
die konstitutionelle Verstärkung oder Voreiligkeit einer Sexualkomp»-
nente in den Vordergrund rückt, wird zwar nicht gerüttelt, aber
damit ist nicht alles gesagt. Die Perversion steht nicht mehr isoliert
im Sexualleben des Kindes, sondern sie wird in den Zusammenhang
der uns bekannten typischen — um nicht zu sagen: normalen — Ent-
wicklungsvorgänge aufgenommen. Sie wird in Beziehung zur in
zestuösen Objektliebe des Kindes, zum Ödipuskomplex desselben, ge-
bracht, tritt auf dem Boden dieses Komplexes zuerst hervor, und
nachdem er zusammengebrochen ist, bleibt sie, oft allein, von ihm
übrig, als Erbe seiner libidinösen Ladung und belastet mit dem an
ihm haftenden Schuldbewußtsein. Die abnorme Sexualkonstitution
hat schließlich ihre Stärke darin gezeigt, daß sie den Ödipuskomplex
in eine besondere Richtung gedrängt und ihn zu einer ungewöhnlichen
Resterscheinung gezwungen hat.
Die kindliche Perversion kann, wie bekannt, das Fundament für
die Ausbildung einer gleichsinnigen, durchs Leben bestehenden Per-
version werden, die das ganze Sexualleben des Menschen aufzehrt, oder
sie kann abgebrochen werden und im Hintergrunde einer normalen
Sexualentwicklung erhalten bleiben, der sie dann doch immer einen
gewissen Energiebetrag entzieht. Der erstere Fall ist der bereits in
voranalytischen Zeiten erkannte, aber die Kluft zwischen beiden wird
durch die analytische Untersuchung solcher ausgewachsener Perver-
sionen nahezu ausgefüllt. Man findet nämlich häufig genug bei
diesen Perversen, daß auch sie, gewöhnlich in der Pubertätszeit, einen
Ansatz zur normalen Sexualtätigkeit gebildet haben. Aber der war
nicht kräftig genug, wurde vor den ersten, nie ausbleibenden Hin-
dernissen aufgegeben, und dann griff die Person endgültig auf die
infantile Fixierung zurück.
Es wäre natürlich wichtig zu wissen, ob man die Entstehung
der infantilen Perversionen aus dem Ödipuskomplex ganz allgemein
tehaupten darf. Das kann ja ohne weitere Untersuchungen nicht
entschieden werden, aber unmöglich erschiene es nicht. Wenn wir
der Anamnesen gedenken, die von den Perversionen Erwachsener ge-
wonnen wurden, so merken wir doch, daß der maßgebende Eindruck,
„Ein Kind wird geschlagen.“ 163
das „erste Erlebnis“, all dieser Perversen, Fetischisten u. dgl. fast
niemals in Zeiten früher als das sechste Jahr verlegt wird. Um
diese Zeit ist die Herrschaft des Ödipuskomplexes aber bereits abge-
laufen; das erinnerte, in so rätselhafter Weise wirksame Erlebnis
könnte sehr wohl die Erbschaft desselben vertreten haben. Die Be-
ziehungen zwischen ihm und dem nun verdrängten Komplex müssen
dunkle bleiben, solange nicht die Analyse in die Zeit hinter dem
ersten „pathogenen“ Eindruck Licht getragen hat. Man erwäge
nun, wie wenir Wert z. B. die Behauptung einer angeborenen Homo-
sexualität hat, die sich auf die Mitteilung stützt, die betreffende
Person habe schon vom achten oder vom sechsten Jahre-an nur Zu-
neigung zum gleichen Geschlecht verspürt.
Wenn aber die Ableitung der Perversionen aus dem Ödipus-
komplex allgemein durchführbar ist, dann hat unsere Würdigung
desselben eine neue Bekräftigung erfahren. Wir meinen ja, der
Ödipuskomplex sei der eigentliche Kern der Neurose, die infantile
Sexualität, die in ihm gipfelt, die wirkliche Bedingung der Neurose,
und was von ihm im Unbewußten erübrigt, stelle die Disposition zur
späteren neurotischen Erkrankung des Erwachsenen dar. Die Schlage-
phantasie und andere analoge perverse Fixierungen wären dann auch
nur Niederschläge des Odipuskomplexes, gleichsam Narben nach dem
abgelaufenen Prozeß, gerade so wie die berüchtigte „Minderwertig-
keit“ einer solchen narzißtischen Narbe entspricht. Ich muß in dieser
Auffassung Marcinowski, der sie kürzlich in glücklicher Weise
vertreten hat (Die erotischen Quellen der Minderwertigkeitsgefühle,
Zeitschrift für Sexualwissenschaft, IV, 1918), uneingeschränkt bei-
stimmen. Dieser Kleinheitswahn der Neurotiker ist bekanntlich auch
nur ein partieller und mit der Existenz von Selbstüberschätzung aus
anderen Quellen vollkommen verträglich. Über die Herkunft des
Ödipuskomplexes selbst und über das dem Menschen wahrscheinlich
allein unter allen Tieren zugemessene Schicksal, das Sexualleben
zweimal beginnen zu müssen, zuerst wie alle anderen Geschöpfe von
früher Kindheit an und dann nach langer Unterbrechung in der
Pubertätszeit von neuem, über all das, was mit seinem „archaischen
Erbe“ zusammenhängt, habe ich mich an anderer Stelle geäußert und
darauf gedenke ich hier nicht einzugehen.
Zur Genese des Masochismus liefert die Diskussion unserer
Schlagephantasien nur spärliche Beiträge. Es scheint sich zunächst
zu bestätigen, daß der Masochismus keine primäre Triebäußerung ist,
sondern aus einer Rückwendung des Sadismus gegen die eigene Person,
also durch Regression vom Objekt aufs Ich entsteht. (Vgl. „Triebe und
'piebschicksale“ in Sammlung kleiner Schriften, IV. Folge, 1918.)
Triebe mit passivem Ziele sind, zumal beim Weibe, von Anfang zu-
164 Sigm. Freud.
zugeben, aber die Passivität ist noch nicht das Ganze des Masochismus ;
es gehört noch der Unlustcharakter dazu, der bei einer Trieberfüllung
so befremdlich ist. Die Umwandlung des Sadismus in Masochismus
scheint durch den Einfluß des am Verdrängungsakt beteiligten Schuld-
bewußtseins zu geschehen. Die Verdrängung äußert sich also hier
in dreierlei Wirkungen ; sie macht die Erfolge der Genitalorganisation
unbewußt, nötigt diese selbst zur Regression auf die frühere sadistisch-
anale Stufe und verwandelt deren Sadismus in den passiven, in ga
wissem Sinne wiederum narzißtischen Masochismus. Der mittlere
dieser drei Erfolge wird durch die in diesen Fällen anzunehmende
Schwäche der Genitalorganisation ermöglicht; der dritte wird not-
wendig, weil das Schuldbewußtsein am Sadismus ähnlichen Anstoß
nimmt, wie an der genital gefaßten inzestuösen Objektwahl. Woher
das Schuldbewußtsein selbst stammt, sagen wiederum die Analysen
nicht. Es scheint von der neuen Phase, in die das Kind eintritt,
mitgebracht zu werden, und wenn es von da an verbleibt, einer ähn-
lichen Narbenbildung, wie es das Minderwertigkeitsgefühl ist, zu
entsprechen. Nach unserer bisher noch unsicheren Orientierung in
der Struktur des Ichs, würden wir es jener Instanz zuteilen, die sich
als kritisches Gewissen dem übrigen Ich entgegen stellt, im "Traum
das Silberersche funktionale Phänomen erzeugt und sich im Be-
achtungswahn vom Ich ablöst.
Im Vorbeigehen wollen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß die
Analyse der hier behandelten kindlichen Perversion auch ein altes
Rätsel lösen hilft, welches allerdings die außerhalb der Analyse
Stehenden immer mehr gequält hat als die Analytiker selbst. Aber
noch kürzlich hat selbst E. Bleuler als merkwürdig und uner-
klärlich anerkannt, daß von den Neurotikern die Onanie zum Mittel-
punkt ihres Schuldbewußtseins gemacht werde. Wir haben von jeher
angenommen, daß dies Schuldbewußtsein die frühkindliche und nicht
die Pubertätsonanie meine, und daß es zum größten Teil nicht auf
den onanistischen Akt, sondern auf die ihm zu Grunde liegende, wenn
auch unbewußte Phantasie — aus dem Ödipuskomplex also — zu
beziehen sei.
Ich habe bereits ausgeführt, welche Bedeutung die dritte, schein-
bar sadistische Phase der Schlagephantasie als Träger der zur Onanie
drängenden Erregung gewinnen, und zu welcher teils gleichsinnig
fortsetzender, teils kompensatorisch aufhebender Phantasietätigkeit,
sie anzuregen pflegt. Doch ist die zweite, unbewußte und masochisti-
sche Phase, die Phantasie, selbst vom Vater geschlagen zu werden,
die ungleich wichtigere. Nicht nur, daß sie ja durch Vermittlung
der sie ersetzenden fortwirkt; es sind auch Wirkungen auf den Cha-
rakter nachzuweisen, welche sich unmittelbar von ihrer unbewußten
„Ein Kind wird geschlagen.“ 165
Fassung’ableiten. Menschen, die eine solche Phantasie bei sich tragen,
entwickeln eine besondere Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen
Personen, die sie in die Vaterreihe einfügen können; sie lassen sich
leicht von: ihnen kränken und bringen so die Verwirklichung der phan-
tasierten Situation, daß sie vom Vater geschlagen werden, zu ihrem
Leid und Schaden zu stande. Ich würde nicht verwundert sein, wenn
es einmal gelänge, dieselbe Phantasie als Grundlage des paranoischen
(Juerulantenwahns nachzuweisen.
VI.
Die Beschreibung der infantilen Schlagephantasien wäre völlig
unübersichtlich geraten, wenn ich sie nıcht, von wenigen Beziehungen
abgesehen, auf die Verhältnisse bei weiblichen Personen eingeschränkt
hätte. Ich wiederhole kurz die Ergebnisse: Die Schlagephantasie
der kleinen Mädchen macht drei Phasen durch, von denen die erste
und letzte als bewußt erinnert werden, die mittlere unbewußt bleibt.
Die beiden bewußten scheinen sadistisch, die mittlere, unbewudte, ıst
unzweifelhaft masochistischer Natur, ihr Inhalt ist, vom Vater ge-
schlagen zu werden, an ihr hängt die libidinöse Ladung und das
Schuldbewußtsein. Das geschlagene Kind ist in den beiden ersteren
Phantasien stets ein anderes, in der mittleren Phase nur die eigene
Person, in der dritten, bewußten, Phase sind es weit überwiegend nur
Knaben, die geschlagen werden. Die schlagende Person ist von Anfang
an der Vater, später ein Stellvertreter aus der Vaterreihe. Die un-
bewußte Phantasie der mittleren Phase hatte ursprünglich genitale
Bedeutung, ist durch Verdrängung und Regression aus dem in-
zestuösen Wunsch, vom Vater geliebt zu werden, hervorgegangen. In
anscheinend lockerem Zusammenhange schließt sich an, daß die Mäd-
chen zwischen der zweiten und dritten Phase ihr Geschlecht wechseln,
indem sie sich zu Knaben phantasieren.
In der Kenntnis der Schlagephantasieen der Knaben bin ich, viel-
leicht nur durch die Ungunst des Materials, weniger weit gekommen.
Ich habe begreiflicherweise volle Analogie der Verhältnisse bei Kna-
ben und Mädchen erwartet, wobei an die Stelle des Vaters in der
Phantasie die Mutter hätte treten müssen. Die Erwartung schien
sich auch zu bestätigen, denn die für entsprechend gehaltene Phantasie
des Knaben hatte zum Inhalt, von der Mutter (später von einer Ersatz-
person) geschlagen zu werden. Allein diese Phantasie, in welcher die
eigene Person als Objekt festgehalten: war, unterschied sich von der
zweiten Phase bei Mädchen dadurch, daß sie bewußt werden konnte.
Wollte man sie aber darum eher der dritten Phase beim Mädchen
eleichstellen, so blieb als neuer Unterschied, daß die eigene Person
des Knaben, nicht durch viele, unbestimmte, fremde, am wenigsten
166 Sigm, Freud,
durch viele Mädchen ersetzt war. Die Erwartung eines vollen Pa-
rallelismus hatte sich also getäuscht.
Meir. männliches Material umfaßte nur wenige Fälle mit infan-
tiler Schlagephantasie ohne sonstige grobe Schädigung der Sexual-
tätigkeit, dagegen eine größere Anzahl von Personen, die als richtige
Masochisten im Sinne der sexuellen Perversion bezeichnet werden
mußten. Es waren entweder solche, die ihre Sexualbefriedigung aus-
schließlich in Onanie bei masochistischen Phantasien fanden, oder
denen es gelungen war, Masochismus und Genitalbetätigung so zu
verkoppeln, daß sie bei masochistischen Veranstaltungen und unter
ebensolehen Bedingungen Erektion und Ejakulation erzielten oder
zur Ausführung eines normalen Koitus befähigt wurden. Dazu kam
der seltenere Fall, daß ein Masochist in seinem perversen Tun durch
unerträglich stark auftretende Zwangsvorstellungen gestört wurde.
Befriedigte Perverse haben nun selten Grund, die Analyse aufzu-
suchen; für die drei angeführten Gruppen von Masochisten können
sich aber starke Motive ergeben, die sie zum Analytiker führen.
Der masochistische Onanist findet sich absolut impotent, wenn er
endlich doch den Koitus mit dem Weibe versucht, und wer bisher
mit Hilfe einer masochistischen Vorstellung oder Veranstaltung den
Koitus zu stande gebracht hat, kann plötzlich die Entdeckung machen,
daß dies ihm bequeme Bündnis versagt hat, indem das Genitale auf
den masochistischen Anreiz nicht mehr reagiert. Wir sind gewohnt,
den psychisch Impotenten, die sich in unsere Behandlung begeben,
zuversichtlich Herstellung zu versprechen, aber wir sollten auch in
dieser Prognose zurückhaltender sein, solange uns die Dynamik der
Störung unbekannt ist. Es ist eine böse Überraschung, wenn uns die
Analyse als Ursache der „bloß psychischen“ Impotenz eine exquisite,
vielleicht längst eingewurzelte, masochistische Einstellung enthüllt.
Bei diesen masochistischen Männern macht man nun cine Ent-
deckung. welche uns mahnt, die Analogie mit den Verhältnissen beim
Weibe vorerst nicht weiter zu verfolgen, sondern den Sachverhalt
selbständig zu beurteilen. Es stellt sich nämlich heraus, daß sie in
den masochistischen Phantasien wie bei den Veranstaltungen zur
Realisierung derselben sich regelmäßig in die Rolle von Weibern
versetzen, daß also ihr Masochismus mit einer femininen Einstel-
lung zusammenfällt. Dies ist aus den Einzelheiten der Phantasien
leicht nachzuweisen ; viele Patienten wissen es aber auch und äußern
es als eine subjektive Gewißheit. Daran wird nichts geändert, wenn
der spielerische Aufputz der masochistischen Szene an der Fiktion
eines unartigen Knaben, Pagen oder Lehrlings, der gestraft werden
soll, festhält. Die züchtigenden Personen sind aber in den Phantasien
wie in den Veranstaltungen jedesmal Frauen. Das ist verwirrend
„Ein Kind wird geschlagen.“ 167
genug; man möchte auch wissen, ob schon der Masochismus der in-
fantilen Schlagephantasie auf solcher femininen Einstellung beruht.
Lassen wir darum die schwer aufzuklärenden Verhältnisse des
Masochismus der Erwachsenen beiseite und wenden uns zu den inian-
tilen Schlagephantasien beim männlichen Geschlecht. Hier gestattet
uns die Analyse der frühesten Kinderzeit wiederum, einen über-
raschenden Fund zu machen: Die bewußte oder bewußtseinsfähige
Phantasie des Inhalts, von der Mutter geschlagen zu werden, ist nicht
primär. Sie hat ein Vorstadium, das regelmäßig unbewußt ist und
das den Inhalt hat: Ich werde vom Vater geschlagen
Dieses Vorstadium entspricht also wirklich der zweiten Phase der
Phantasie beim Mädchen. Die bekannte und bewußte Phantasie: Ich
werde von der Mutter geschlagen, steht an: der Stelle der dritten
Phase beim Mädchen, in der, wie erwähnt, unbekannte Knaben die
geschlagenen Objekte sind. Ein der ersten Phase beim Mädchen ver-
gleichbares Vorstadium sadistischer Natur konnte ich beim Knaben
nicht nachweisen, aber ich will hier keine endgültige Ablehnung aus-
sprechen, denn ich sehe die Möglichkeit komplizierterer Typen
wohl ein.
Das Geschlagenwerden der männlichen Phantasie, wie ich sie
kurz und hoffentlich nicht mißverständlich nennen werde, ist gleich-
falls ein durch Regression erniedrigtes Geliebtwerden im genitalen
Sinne. Die unbewußte männliche Phantasie hat also ursprünglich
nicht gelautet: Ich werde vom Vater geschlagen, wie wir es vorhin
vorläufig hinstellten, sondern vielmehr: Ich werde vom Vater
geliebt. Sie ist durch die bekannten Prozesse umgewandelt worden
in die bewußte Phantasie: Ich werde von der Mutter ge-
schlagen. Die Schlagephantasie des Knaben ist also von Anfang
an eine passive, wirklich aus der femininen Einstellung zum Vater
hervorgegangen. Sie entspricht auch ebenso wie die weibliche (die
des Mädchens) dem Ödipuskomplex, nur ist der von uns erwartete
Parallelismus zwischen beiden gegen eine (remeinsamkeit anderer Art
aufzugeben: In beiden Fällen leitet sich die Schlage-
phantasıie von der inzestuösen Bindung an den Va-
ter ab.
Es wird der Übersichtlichkeit dienen, wenn ich hier die anderen
Übereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen den Schlage-
phantasien der beiden Geschlechter anfüge. Beim Mädchen geht die
unbewußte masochistische Phantasie von der normalen Ödipuseinstel-
lung aus; beim Knaben von der verkehrten, die den Vater zum Liebes-
objekt nimmt. Beim Mädchen hat die Phantasie eine Vorstufe (die
erste Phase), in welcher das Schlagen in seiner indifferenten Bedeu-
tung auftritt und eine eifersüchtig gehaßte Person betrifft; beides
Zeitschr. f. ärztl, Psychoanalyse, V/8. . 12
168 Sigm. Freud.
entfällt beim Knaben, doch könnte gerade diese Differenz durch
glücklichere Beobachtung beseitigt werden. Beim Übergang zur er-
setzenden bewußten Phantasie hält das Müdchen die Person des
Vaters und somit das Geschlecht der schlagenden Person fest; es
ändert aber die geschlagene Person und ihr Geschlecht, so daß am
Ende ein Mann männliche Kinder schlägt; der Knabe ändert ım
Gegenteil Person und Geschlecht des Schlagenden, indem er Vater
durch Mutter ersetzt, und behält seine Person bei, so daß am Ende
der Schlagende und die geschlagene Person verschiedenen Geschlechts
sind. Beim Mädchen wird die ursprünglich masochistische (passive)
Situation durch die Verdrängung in eine sadistische umgewandelt,
deren sexueller Charakter sehr verwischt ist, beim Knaben bleibt sie
masochistisch und bewahrt infolge der Geschlechtsdifferenz zwischen
schlagender und geschlagener Person mehr Ähnlichkeit mit der ur-
sprünglichen, genital gemeinten Phantasie. Der Knabe entzieht sich
durch die Verdrängung und Umarbeitung der unbewußten Phantasie
seiner Homosexualität; das Merkwürdige an seiner späteren bewußten
Phantasie ist, daß sie feminine Einstellung ohne homosexuelle Objekt-
wahl zum Inhalt hat. Das Mädchen dagegen entläuft bei dem gleichen
Vorgang dem Anspruch des Liebeslebens überhaupt, phantasiert sich
zum Manne, ohne selbst männlich aktiv zu werden, und wohnt dem
Akt, welcher einen sexuellen ersetzt, nur mehr als Zuschauer bei.
Wir sind berechtigt anzunehmen, daß durch die Verdrängung
der ursprünglichen unbewußten Phantasie nicht allzuviel geändert
wird. Alles fürs Bewußtsein Verdrängte und Ersetzte bleibt im
Unbewußten erhalten und wirkungsfähig. Anders ist es mit dem
Effekt der Regression auf eine frühere Stufe der Sexualorganisation.
Von dieser dürfen wir glauben, daß sie auch die Verhältnisse im Un-
bewußten ändert, so daß nach der Verdrängung im Unbewußten bei
beiden Geschlechtern zwar nicht die (passive) Phantasie, vom Vater
geliebt zu werden, aber doch die masochistische, von ihm geschlagen
zu werden, bestehen bleibt. Es fehlt auch nicht an Anzeichen dafür,
daß die Verdrängung ihre Absicht nur sehr unvollkommen erreicht
hat. Der Knabe, der ja der homosexuellen Objektwahl entfliehen
wollte und sein Geschlecht nicht gewandelt hat, fühlt sich doch in
seinen bewußten Phantasien als Weib und stattet die schlagenden
Frauen mit männlichen Attributen und Eigenschaften aus. Das
Mädchen, das selbst sein Geschlecht aufgegeben und im ganzen gründ-
lichere Verdrängungsarbeit geleistet hat, wird doch den Vater nicht
los, getraut sich nicht, selbst zu schlagen, und weil es selbst zum
Buben geworden ist, läßt es hauptsächlich Buben geschlagen werden.
Ich weiß, daß die hier beschriebenen Unterschiede im Verhalten
der Schlagephantasie bei beiden Geschlechtern nicht genügend auf-
„Ein Kind wird geschlagen.“ 169
geklärt sind, unterlasse aber den Versuch, diese Komplikationen durch
Verfolgung ihrer Abhängigkeit von anderen Momenten zu entwirren,
weil ich selbst das Material der Beobachtung nicht für erschöpfend
halte. Soweit es aber vorliegt, möchte ich es zur Prüfung zweier
Theorien benützen, die, einander entgegengesetzt, beide die Beziehung
der Verdrängung zum Geschlechtscharakter behandeln und dieselbe,
jede in ihrem Sinne, als eine sehr innige darstellen. Ich schicke vor-
aus, daß ich beide immer für unzutreffend und irreführend gehalten
habe.
Die erste dieser Theorien ist anonym; sie wurde mir vor vielen
Jahren von einem damals befreundeten Kollegen vorgetragen. Ihre
großzügige Einfachheit wirkt so bestechend, daß man sich nur ver-
wundert fragen muß, warum sie sich seither in der Literatur nur durch
vereinzelte Andeutungen vertreten findet. Sie lehnt sich an die bi-
sexuelle Konstitution der menschlichen Individuen und behauptet,
bei jedem einzelnen sei der Kampf der Geschlechtscharaktere das
Motiv der Verdrängung. Das stärker ausgebildete, in der Person
vorherrschende Geschlecht habe die seelische Vertretung des unter-
legenen Geschlechts ins Unbewußte verdrängt. Der Kern des Un-
bewußten, das Verdrängte, sei also bei jedem Menschen das in ihm
vorhandene Gegengeschlechtliche. Das kann einen greifbaren Sınn
wohl nur dann geben, wenn wir das Geschlecht eines Menschen durch
die Ausbildung seinef Genitalien bestimmt sein lassen, sonst wird ja
das stärkere Geschlecht eines Menschen unsicher, und wir laufen
Gefahr, das, was uns als Anhaltspunkt bei der Untersuchung dienen
soll, selbst wieder aus deren Ergebnis abzuleiten. Kurz zusammen-
gefaßt: Beim Manne ist das unbewußte Verdrängte auf weibliche
Triebregungen zurückzuführen; umgekehrt so beim Weibe.
Die zweite Theorie ist neuerer Herkunft; sie stimmt mit der
ersten darin überein, daß sie wiederum den Kampf der beiden Ge-
schlechter als entscheidend für die Verdrängung hinstellt. Im übrigen
muß sie mit der ersteren in Gegensatz geraten; sie beruft sich auch
nicht auf biologische, sondern auf soziologische Stützen. Diese von
Alf. Adler ausgesprochene Theorie des „männlichen Protestes“ hat
zum Inhalt, daß jedes Individuum sich sträubt, auf der minder-
wertieen „weiblichen Linie“ zu verbleiben und zur allein befriedi-
genden männlichen Linie hindrängt. Aus diesem männlichen Protest
erklärt Adler ganz allgemein die Charakter- wie die Neurosen-
bildung. Leider sind die beiden, doch gewiß auseinander zu haltenden
Vorgänge bei Adler so wenig scharf geschieden und wird die Tat-
sache der Verdrängung überhaupt so wenig gewürdigt, daß man sich
der Gefahr eines Mißverständnisses aussetzt, wenn man die Lehre
vom männlichen Protest auf die Verdrängung anzuwenden versucht.
12*
170 Sigm, Freud.
Ich meine, dieser Versuch müßte ergeben, daß der männliche Protest,
das Abrückenwollen von der weiblichen Linie, in allen Fällen das
Motiv der Verdrängung ist. Das Verdrängende wäre also stets eine
männliche, das Verdrängte eine weibliche Triebregung. Aber auch
das Symptom wäre Ergebnis einer weiblichen Regung, denn wir
können den Charakter des Symptoms, daß es ein Ersatz des Ver-
drängten sei, der sich der Verdrängung zum Trotze durchgesetzt
hat, nicht aufgeben.
Erproben wir nun die beiden Theorien, denen sozusagen die
Sexualisierung des Verdrängungsvorganges gemeinsam ist, an dem
Beispiel der hier studierten Schlagephantasie. Die ursprüngliche
Phantasie: Ich werde vom Vater geschlagen, entspricht beim Knaben
einer femininen Einstellung, ist also eine Äußerung seiner gegenge-
schlechtlichen Anlage. Wenn sie der Verdrängung unterliegt, so scheint
die erstere Theorie Recht behalten zu sollen, die ja die Regel auf-
gestellt hat, das Gegengeschlechtliche deckt sich mit dem Ver-
drängten. Es entspricht freilich unseren Erwartungen wenig, wenn
das, was sich nach erfolgter Verdrängung herausstellt, die bewußte
Phantasie, doch wiederum die feminine Einstellung, nur diesmal zur
Mutter, aufweist: Aber wir wollen nicht auf Zweifel eingehen,
wo die Entscheidung so nahe bevorsteht. Die ursprüngliche Phan-
tasie der Mädchen: Ich werde vom Vater geschlagen (d.h.: geliebt),
entspricht doch gewiß als feminine Einstellung dem bei ihnen vor-
herrschenden, manifesten Geschlecht, sie sollte also der Theorie zu-
folge der Verdrängung entgehen, brauchte nicht unbewußt zu wer-
den. In Wirklichkeit wird sie es doch und erfährt eine Ersetzung
durch eine bewußte Phantasie, welche den manifesten Geschlechts-
charakter verleugnet. Diese Theorie ist also für das Verständnis
der Schlagephantasien unbrauchbar und durch sie widerlegt. Man
könnte einwenden, es seien eben weibische Knaben und männische
Mädchen, bei denen diese Schlagephantasien vorkommen und diese
Schicksale erfahren, oder es sei ein Zug vom Weiblichkeit beim
Knaben und von Männlichkeit beim Mädchen dafür verantwortlich
zu machen; beim Knaben für die Entstehung der passiven Phan-
tasie, beim Mädchen für deren Verdrängung. ‘Wir würden dieser
Auffassung wahrscheinlich zustimmen, aber die behauptete Be-
ziehung zwischen manifestem Geschlechtscharakter und Auswahl des
zur Verdrängung Bestimmten wäre darum nicht minder unhaltbar.
Wir sehen im Grunde nur, daß bei männlichen und weiblichen Indi-
viduen sowohl männliche wie weibliche Triebregungen vorkommen
und ebenso durch Verdrängung unbewußt werden können.
Sehr viel besser scheint sich die Theorie des männlichen Protestes
gegen die Probe an den Schlagephantasien zu behaupten. Beim Kna-
„Ein Kind wird geschlagen.“ 171
ben wie beim Mädchen entspricht die Schlagephantasie einer femininen
Einstellung, also einem Verweilen auf der weiblichen Linie, und
beide Geschlechter beeilen sich durch Verdrängung der Phantasie
von dieser Einstellung loszukommen. Allerdings scheint der männ-
liche Protest nur beim Mädchen vollen Erfolg zu erzielen, hier stellt
sich ein geradezu ideales Beispiel für das Wirken des männlichen
Protestes her. Beim Knaben ist der Erfolg nicht voll befriedigend,
die weibliche Linie wird nicht aufgegeben, der Knabe ist in seiner
bewußten masochistischen Phantasie gewiß nicht „oben“. Es ent-
spricht also der aus der Theorie abgeleiteten Erwartung, wenn wir
in dieser Phantasie ein Symptom erkennen, das durch Mißglücken
des männlichen Protestes entstanden ist. Es stört uns freilich, daß
die aus der Verdrängung hervorgegangene Phantasie des Mädchens
ebenfalls Wert und Bedeutung eines Symptoms hat. Hier, wo der
männliche Protest seine Absicht voll durchgesetzt hat, müßte doch
die Bedingung für die Symptombildung entfallen sein.
Ehe wir noch aus dieser Schwierigkeit die Vermutung schöpfen,
daß die ganze Betrachtungsweise des männlichen Protestes den Pro-
blemen der Neurosen und Perversionen unangemessen und in ihrer
Anwendung auf sie unfruchtbar sei, werden wir unseren Blick von
den passiven Schlagephantasien weg zu anderen Triebäußerungen
des kindlichen Sexuallebens richten, die gleichfalls der Verdrängung
‚ unterliegen. Es kann doch niemand daran zweifeln, daß es auch
Wünsche und Phantasien gibt, die von vorn herein die männliche
Linie einhalten und Ausdruck männlicher Triebregungen sind, z. B.
sadistische Impulse oder die aus dem normalen Ödipuskomplex her-
vorgehenden Gelüste des Knaben gegen seine Mutter. Es ist ebenso-
wenig zweifelhaft, daß auch diese von der Verdrängung befallen
werden; wenn der männliche Protest die Verdrängung der passiven,
später masochistischen Phantasien gut erklärt haben sollte, so wird
er eben dadurch für den entgerenresetzten Fall der aktiven Phan-
tasien völlig unbrauchbar. Das heißt: die Lehre vom männlichen
Protest, ıst mit der Tatsache der Verdrängung überhaupt unverein-
bar. Nur wer bereit ist, alle psychologischen Erwerbungen von sich
zu werfen, dıe seit der ersten kathartischen Kur Breuers und durch
sie gemacht worden sind, kann erwarten, daß dem Prinzip des männ-
lichen Protestes in der Aufklärung der Neurosen und Perversionen
eine Bedeutung zukommen wird.
Die auf Beobachtung gestützte psychoanalytische Theorie hält
fest daran, daß die Motive der Verdrängung nicht sexualisiert werden
dürfen. Den Kern des seelisch Unbewußten bildet die archaische
Erbschaft des Menschen, und dem Verdrängungsprozeß verfällt, was
immer davon beim Fortschritt zu späteren Entwicklungsphasen als
172 Sigm. Freud: „Ein Kind wird geschlagen.‘
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unbrauchbar, als mit dem Neuen unvereinbar und ihm schädlich
zurückgelassen werden soll. Diese Auswahl gelingt bei einer Gruppe
von Trieben besser als bei der anderen. Letztere, die Sexualtriebe, _
vermögen es, kraft besonderer Verhältnisse, die schon oftmals auf-
gezeigt worden sind, die Absicht der Verdrängung zu vereiteln und
sich die Vertretung durch störende Ersatzbildungen zu erzwingen. Da-
her ist die der Verdrängung unterliegende infantile Sexualität die |
Haupttriebkraft der Symptombildung, und das wesentliche Stück
ihres Inhalts, der Ödipuskomplex, der Kernkomplex der Neurose.
Ich hoffe, in dieser Mitteilung die Erwartung rege gemacht zu haben,
daß auch die sexuellen Abirrungen des kindlichen wie des reifen Alters e.
von dem nämlichen Komplex abzweigen. A
II.
Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes
gegen die psychoanalytische Methodik.
Yon Dr. Karl Abraham (Berlin).
Wenn wir eine psychoanalytische Behandlung beginnen, so
machen wir den Patienten mit der Grundregel des Verfahrens be-
kannt, die er unbedingt zu befolgen habe. Das Verhalten unserer
Patienten gegenüber dieser Grundregel ist recht verschieden. Manche
erfassen sie schnell und ordnen sich ihr ohne besondere Schwierigkeit
unter, andere müssen wir häufig daran erinnern, dab sie frei zu asso-
ziieren haben. Bei allen Kranken erleben wir zeitweise ein Ver-
sagen der freien Assoziationstätigkeit-: Entweder bringen sie nun
Produkte des überlegten Denkens vor, oder sie erklären, es falle
ihnen nichts ein- Es kann dann eine Behandlungsstunde ablaufen,
ohne daß.der Patient in ihr der Psychoanalyse irgend welches Ma-
terial an freien Assoziationen zugeführt hat. Dieses Verhalten des
Patienten weist uns auf einen „Widerstand“ hin; ihn verständlich
zu machen, ist unsere nächste Aufgabe. Wir erfahren regelmäßig,
daß der Widerstand sich gegen’ das Bewußtwerden bestimmter psy-
ehiseher Inhalte richtet. Haben wir anfangs dem Patienten erklärt,
«eine freien Assoziationen vermöchten uns Einblicke in sein Unbe-
wußtes zu geben, so ist die Ablehnung des freien Assozuierens die
fast selbstverständliche Form, die sein Widerstand annehmen wird.
Sehen wir in den meisten Fällen einen derartiren Widerstand in
öfterem Wechsel auftauchen und verschwinden, so bietet ıhn eine
kleinere Gruppe von Neurotischen während der ganzen Behandlungs-
dauer ohne Unterbrechung dar. Dieser permanente Widerstand gegen
die Grundregel der Psychoanalyse kann zu einer außerordentlichen
Erschwerung der Therapie führen, ja er stellt ihren Erfolg gänzlich
in Frage. Er hat bisher in der Literatur, ebenso wie manche anderen
technischen Fragen, keine Beachtung gefunden. Seitdem ich der
geschilderten Schwierigkeit in einer Reihe von Krankheitsfällen be-
gegnet bin, habe ich von anderen Psychoanalytikern erfahren, dab es
174 Dr. Karl Abraham,
ihnen ähnlich ergangen ist. Neben dem theoretischen liegt daher ein
praktisches Interesse vor, diese Spielart der neurotischen Reaktion
auf die Psychoanalyse genauer zu untersuchen.
Die Patienten, von denen hier die Rede sein soll, erklären kaum
jemals spontan, daß ihnen „nichts einfalle“. Sie sprechen vielmehr
in zusammenhängender, selten unterbrochener Rede, ja einzelne von
ihnen sträuben sich dagegen, auch nur durch eine Bemerkung des
Arztes in ihrem Redefluß unterbrochen zu werden. Aber sie geben
sich nicht dem freien Assoziieren hin. Sie sprechen programmatisch,
bringen ihr Material nicht zwanglos vor; der Grundregel wider-
sprechend ist es unter bestimmten Gesichtspunkten orientiert und
einer weitgehenden, umgestaltenden Kritik von seiten des Ichs unter-
worfen. Die Mahnung des Arztes zu korrekter Einhaltung der Me-
thodik ist für sich allein ohne Einfluß auf das Verhalten der Pa-
tienten.
Dieses zu durchschauen, ist keineswegs leicht. Dem Arzt, dessen
Blick für die Form des Widerstandes dieser Patienten noch nicht
geschärft ist, täuschen sie eine außerordentliche und nie ermüdende
Bereitwilligkeit zur Psychoanalyse vor. Ihr Widerstand verbirgt
sich hinter scheinbarer Gefügigkeit. Ich gestehe, daß ich selbst
längerer Erfahrung bedurfte, bevor ich dieser Täuschungsgefahr zu
entgehen vermochte. Nachdem ich den systematischen Widerstand
erst einmal richtig erkannt hatte, wurde mir auch seine Herkunft
deutlich.
Die Neurotiker von diesem Typus, deren ich eine kleine Reihe
beobachten konnte, boten nämlich in ihren Neurosen zwar eine recht:
verschiedenartige Symptomatik; in ihrem Verhalten zur Psycho-
analyse und zum Arzt wiederholte sich dagegen eine Anzahl von
Zügen mit verblüffender Regelmäßigkeit. Auf diese Züge möchte ich
im nachfolgenden die Aufmerksamkeit lenken.
Was sich unter der geschilderten scheinbaren Gefügigkeit bei un-
seren Patienten verbirgt, ist ein ungewöhnliches Maß von Trotz, der
sein Vorbild im Verhalten des Kindes gegenüber dem Vater findet.
Lehnen andere Neurotiker das Produzieren freier Einfälle gelegent-
lich ab, so trotzen sie der Methode dauernd. Ihre Mitteilungen
sind quantitativ überreichlich; wie schon erwähnt, täuscht dieser
Umstand den Unerfahrenen über qualitative Mängel hinweg. Mit-
geteilt wird nur, was „ichgerecht“ ist. Die Patienten sind in beson-
ders hohem Grade empfindlich für alles ihr Ichgefühl Verletzende.
Sie neigen dazu, sich durch jede in der Psychoanalyse getroffene Fest-
stellung „gedemütigt“ zu fühlen und sind beständig auf der Hut vor
solchen Demütigungen. Sie liefern Träume in Menge, kleben aber an
Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes ete. 175
deren manifesten Inhalt und verstehen es, aus der Analyse der Träume
nur das zu erfahren, was sie bereits wußten. Meiden sie so mit .Be-
harrlichkeit jeden peinlichen Eindruck, so geht ihr Bestreben gleich-
zeitig dahin, aus der Psychoanalyse auch positiv das höchste Maß
von Lust zu ziehen.
- Gerade diese Tendenz, die Psychoanalyse unter die Herrschaft
des Lustprinzips zu stellen, läßt sich bei unseren Patienten mit großer
Deutlichkeit erkennen. Diese Erscheinung in Gemeinschaft mit einer
Anzahl änderer Eigentümlichkeiten ist der klare Ausdruck ihres
Narzißmus. Unter meinen Patienten waren es gerade die mit dem
stärksten Narzißmus behafteten, welche sich der psychoanalytischen
Grundregel wie geschildert widersetzten.
Die Neigung, ein Heilmittel lediglich unter dem Gesichtspunkte
des Lusterwerbs zu betrachten und darüber den eigentlichen Zweck
des Heilmittels zu vernachlässigen, muß als ein durchaus kindlicher
Zug aufgefaßt werden. Ein Beispiel möge dies erläutern. Einem
achtjährigen Knaben wird das Tragen einer Brille verordnet. Er ist
überglücklich, nicht weil er gewisse unangenehme Sehstörungen ver-
lieren soll, sondern weil er eine Brille tragen darf. In der nächsten
Zeit ergibt sich, daß er gar nicht darauf achtet, ob die Störungen
durch die Brille behoben sind: der Besitz der Brille, mit der er sich
in der Schule zeigen darf, befriedigt ihn so sehr, daß er darüber ihren
therapeutischen Wert vergißt. Nicht anders ist die Einstellung
unserer Patientengruppe zur Psychoanalyse. Der eine erwartet von
ihr interessante Beiträge zu seiner Autobiographie, die er in Roman-
form schreibt. Der andere hofft, die Psychoanalyse werde ihn in-
tellektuell und ethisch auf ein höheres Niveau bringen; dann wäre
er seinen Geschwistern überlegen, denen gegenüber er bisher peinliche
Gefühle der Minderwertigkeit hatte. Das Ziel der Heilung nervöser
Störungen tritt in gleichem Maße zurück, in welchem diese narzisti-
schen Interessen beim Patienten vorherrschen.
Ebenso narzistisch wie der Behandlungsmethode stehen sie aber
auch der Person des Arztes gegenüber. Das Verhältnis zum Arzt
ist bei ihnen gekennzeichnet durch mangelhafte Übertragung; sie
mißgönnen ihm die Vaterrolle Treten Ansätze zur, Übertragung
hervor, so zeigen sich die auf den Arzt gerichteten Wünsche be-
sonders anspruchsvoll. In eben diesen Ansprüchen sind gerade die
hier in Rede stehenden Patienten sehr leicht enttäuscht und reagieren
rasch mit einer völligen Einziehung der Libido. Sie wollen ständig
Zeichen des persönlichen Interesses von seiten des Arztes sehen,
sich von ihm liebevoll behandelt fühlen. Da der Arzt den An-
sprüchen ihres narzistischen Bedürfnisses nach Liebe nicht gerecht
176 Dr. Karl Abraham.
werden kann, so kommt eine eigentliche positive Übertragung nicht
zu stande.
An Stelle der Übertragung finden wir bei unseren Patienten die
Neigung, sich mitdem Arzt zuidentifizieren. Anstatt
ihm persönlich näher zu kommen, versetzen sie sich an seine Stelle.
Sie nehmen seine Interessen an und lieben es, sich mit der Psycho-
analyse als Wissenschaft zu beschäftigen, anstatt sie als Behand-
lungsmethode auf sich wirken zu lassen. Sie neigen zum Tausch
der Rollen, wie das Kind den Vater spielt. Sie belehren den Arzt,
indem sie ihm ihre Ansichten über die eigene Neurose vortragen,
halten letztere für besonders instruktiv und glauben, durch ihre
Analyse müsse die Wissenschaft eine besondere Bereicherung er-
fahren. So treten sie aus der Rolle des Patienten heraus und ver-
lieren dabei den Zweck der Psychoanalyse aus den Augen. Beson-
ders aber begehren sie, den Arzt zu übertreffen, seine psycho-
analytischen Fähigkeiten und Leistungen herabzusetzen ; für sich
selbst nehmen sie in Anspruch, „es besser zu können“, Überaus
schwer sind sie von vorgefaßten Meinungen abzubringen, die ım
Dienst ihres Narzißmus stehen; sie neigen zum Widerspruch und
wissen aus der Psychoanalyse ein Wortgefecht mit dem Arzt, ein
Debattieren ums „Rechthaben“ zu machen.
Hiezu einige Beispiele! Ein Neurotiker lehnt nicht nur das
freie Assoziieren ab, sondern auch die geforderte Ruhelage während
der Behandlung. Er springt oftmals auf, geht in die entgegengesetzte
Ecke des Zimmers und beginnt, in selbstbewußter Haltung und in
belehrendem Tone seine durch Reflexion gewonnenen Anschauungen
über seine Neurose vorzutragen. Ein anderer meiner Patienten bot
ein ähnlich dozierendes Verhalten. Er äußerte geradezu die Mei-
nung, die Psychoanalyse besser als ich zu verstehen, weil — er doch
die Neurose habe, und nicht ich. Nach langdauernder Behandlung
äußerte er einmal: „Ich fange jetzt an zu erkennen, daß Sie von der
Zwangsneurose etwas verstehen.“ Eines Tages stellte sich eine sehr
charakteristische Befürchtung des Patienten heraus: Die freien Asso-
ziationen könnten ihm fremdartiges, dem Arzt aber vertrautes Ma-
terial zu Tage fördern; der Arzt wäre dann der „Klügere“, Über-
legene. Der gleiche Patient, philosophisch stark interessiert, erwar-
tete von seiner Psychoanalyse nichts Geringeres, als daß aus ihr für
die Wissenschaft die „letzte Wahrheit“ hervorgehen solle.
In alldem ist ein Zug von Neid nicht zu verkennen. Solche
Neurotiker mißgönnen dem Arzt jede Bemerkung, die sich auf den
äußeren Gang der Psychoanalyse oder auf die Materialien bezieht.
Er soll keinen Beitrag zur Behandlung geliefert haben, sie wollen
vielmehr alles selbst und allein machen. Ich komme damit
=
—
Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes etc. 177
auf einen besonders auffälligen Zug, den mir diese Patienten sämtlich
darboten. Das in der Behandlungsstunde unterlassene freie Assoziieren
holen sie nach, wenn sie zu Hause sind. Mit der Neigung zur „Auto-
analyse“, wie sie dies Verfahren gern benennen, verbindet sich eine
deutliche Geringschätzung des Arztes. Die Patienten sehen in ihm
geradezu ein Hindernis des Fortschritts in den Behandlungsstunden
und sind überaus stolz auf das, was sie ohne sein Zutun glauben ge-
leistet zu haben. Die so gewonnenen freien Einfälle werden mit Er-
gebnissen der Reflexion vermengt und am nächsten Tage, nach be-
stimmten Gesichtspunkten orientiert, dem Arzt vorgetragen. Einer
meiner Patienten hatte infolge übergroßer Widerstände in mehreren
Behandlungsstunden nur geringe und in einer weiteren gar keine
Fortschritte der Analyse gesehen. Am nächsten Tage kam er zu mir
und erklärte, er habe zu Hause stundenlang allein „arbeiten“ müssen.
Natürlich sollte ich daraus die Unzulänglichkeit meines Könnens
entnehmen.
Es handelt sich bei dieser „Autoanalyse‘“ um ein narzistisches
Siehselbstgenießen, zugleich um eine Auflehnung gegen den „Vater“.
Die schrankenlose Beschäftigung mit dem eigenen Ich und das bereits
beschriebene Gefühl der Überlegenheit bieten dem Narzißmus reichen
Lustgewinn. Das Bedürfnis, bei dem Vorgang allein zu sein, nähert
diesen der Onanie und ihren Äquivalenten — den neurotischen Tag-
träumereien — außerordentlich an. Solchen waren meine sämtlichen
in Betracht kommenden Patienten schon früher in hohem Maße
ergeben. Die „Autoanalyse“ war ihnen ein durch therapeutisches
Interesse gerechtfertigtes, ja sogar gebotenes Tagträumen, ein vor-
wurfsfreier Masturbations-Ersatz.
Ich hebe an dieser Stelle hervor, daß die einschlägigen Fälle
meiner Beobachtung vorwiegend der Zwangsneurose angehörten; in
einem Falle lag eine Angsthysterie mit beigemischten Zwangs-
symptomen vor. Bei einem Kranken handelt es sich um eine para-
noide Strömung. Unter Berücksichtigung der neueren psychoanaly-
tischen Erfahrungen werden wir nicht erstaunt sein, in sämtlichen
Fällen ausgeprägte sadistisch-anale Züge vorzufinden. Die
feindselig-ablehnende Einstellung zum Arzt wurde schon erwähnt.
Das übrige Verhalten der Patienten wird aus analerotischen Motiven
voll verständlich. In dieser Hinsicht seien nur einige Hinweise
gegeben.
Das Sprechen in der Psychoanalyse, durch welches man sich
psychischer Inhalte entledigt, wird von unseren Patienten — wie
auch sonst von Neurotikern mit starker Analerotik — der Darm-
entleerung gleichgesetzt. (Einige identifizieren auch die freie Asso-
ziation mit dem Flatus.) Es handelt sich um Personen, die in ihrer
178 Dr. Karl Abraham,
Kindheit zur Beherrschung ihrer Sphinkteren und zur Regelmäßig-
keit der Entleerungen schwer zu erziehen waren. Zur vorgeschrie-
benen Zeit verweigerten sie die Entleerung, um sie zu ihnen belie-
bender Zeit nach Laune zu verrichten. Ganz ebenso verhalten sie sich
nun aus unbewußten Gründen der Psychoanalyse bzw. dem Arzt
gegenüber. Kürzlich hat Tausk!) darauf hingewiesen, daß kleine
Kinder die Erwachsenen gern hinsichtlich der Entleerung täuschen.
Sie strengen sich scheinbar sehr an, den Vorschriften der Erzieher
zu genügen, die Entleerung findet aber nicht statt. Tausk knüpft
hieran die Bemerkung, das sei vielleicht die früheste Gelegenheit, bei
welcher das Kind bemerke, daß eine Täuschung der Erwachsenen
möglich ist. Die hier in: Rede stehenden Neurotiker verleugnen diese
Vorgeschichte nicht. Sie kaprizieren sich gewissermaßen darauf,
selbst zu bestimmen, ob, wann und wieviel sie von ihrem unbe-
wußten psychischen Material herausgeben. Ihre Neigung, fertig ge-
ordnetes Material zur Behandlungsstunde mitzubringen, läßt nicht
nur die analerotische Lust am Ordnen und Rubrizieren, sondern noch
einen weiteren typischen Zug erkennen. Freud?) hat neuerdings
auf die unbewußte Identität von Kot und Geschenk mit beson-
derem Nachdruck aufmerksam gemacht. Narzistische Neurotiker mit
stark analer Veranlagung haben die Neigung, statt Liebe Geschenke
zu geben®). Die Übertragung auf den Arzt ist bei unseren Patienten
unvollkommen. Ein zwangloses Sich-ausgeben in freien Assoziationen _
gelingt ihnen nicht. Sie bringen dem Arzt gleichsam als Ersatz
Geschenke dar. Diese bestehen in ihren zu Hause vorbereiteten Bei-
trägen zur Psychoanalyse, welche der narzistischen Bewertung —
gleich den Körperprodukten — unterliegen. Der narzistische Vorteil
besteht für die Patienten: darin, daß sie die genaue Kontrolle darüber
behalten, was sie geben.
Einer meiner Zwangsneurotiker mit Grübel- und Zweifelsucht
verstand es, während der Behandlung die Psychoanalyse selbst, ihre
Methodik wie ihre Ergebnisse, zum Gegenstand des Grübelns und
Zweifelns zu machen. Von seiner Familie in hohem Maße abhängig,
quälte er sich u.a. mit dem Zweifel, ob seine Mutter oder ob Freud
„recht habe“. Seine Mutter, so erklärte er, habe ihm zur Besserung
seiner Stuhlverstopfung oft geraten, im Klosett nicht zu träumen,
sondern bei der Defäkation immer nur an diesen Vorgang selbst zu
denken. Freud gebe nun gerade die entgegengesetzte Regel: man
1) Intern. Zeitschr, für ärztl, Psychoanalyse, V, Jahrg. 1919, 8. 15, Fußnote 1.
?) „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“, in „Kl. Schriften zur
Neurosenlehre“, Bd. 4, 1918,
’) Vgl. hiezu meinen früheren Aufsatz über „Das Geldausgeben im Angst-
zustand“. Diese Zeitschrift, 4. Jahrg,, Heft 5,
Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes etc. 179
solle zwanglos assozılieren, dann „komme alles von selbst heraus“.
Es kostete lange Zeit, bis der Patient die Psychoanalyse nicht mehr
nach der Methodik seiner Mutter, sondern nach derjenigen Freuds
betrieb.
Der bekannten Sparsamkeit der Analerotiker scheint der
Umstand zu widersprechen, daß unsere Patienten für die Behandlung,
die sich aus den besprochenen Gründen in die Länge zieht, bereitwillig
materielle Opfer bringen. Dieses Verhalten wird aber aus früher
Gesagtem erklärlich. Die Patienten opfern ihrem Narzißmus. Die
Heilung der Neurose als Ziel der Behandlung verlieren sie allzu
leicht aus dem Auge. Es muß etwas anderes sein, das sie den 'Geld-
aufwand nicht achten läßt. Eine alte Anekdote variierend möchte
man sagen, für ihren Narzißmus sei ihnen nichts zu teuer.
Der Charakterzug der Sparsamkeit findet sich bei ihnen übrigens
an anderer Stelle. Sie sparen ihr unbewußtes Material auf. Sie
geben sich mit Vorliebe der Erwartung hin, eines Tages „werde alles
mit einem Male herauskommen“. Sie üben in der Psychoanalyse wıe
auf dem Gebiete der Darmtätigkeit das Verfahren der Obstipation.
Die Entleerung soll nach langem Aufschub einmal unter besonderer
Lust erfolgen; der Termin wird aber immer wieder hinausgeschoben.
Die Analyse solcher Patienten bietet erhebliche Schwierigkeiten.
Diese beruhen u. a. in der scheinbaren Gefügigkeit der Kranken, die
den Widerstand verdeckt. Die Beseitigung eines solchen Widerstandes
ist eine Aufgabe, die man nicht unterschätzen darf; handelt es sich
doch un ein Vorgehen gegen den Narzißmus der Patienten, gegen die-
jenige Triebkraft also, an welcher unser therapeutisches Bestreben
am leichtesten scheitert. Jeder mit den Dingen Vertraute wird also
begreifen, daß keiner der von mir behandelten Krankheitsfälle dieser
Art einen raschen Erfolg gestattete. Ich füge hinzu, daß ich auch
in keinem Falle einen vollkommenen Heilerfolg erzielt habe,
wohl aber eine praktisch wertvolle, bei einigen Patienten sogar recht
weitgehende Besserung. Meine Erfahrungen ergeben hinsichtlich der
therapeutischen Aussichten eher ein zu ungünstiges Bild. Als ich
die ersten einschlägigen Fälle behandelte, fehlte mir noch die tiefere
Einsicht in die Eigenart der Widerstände. Besonders ist zu bedenken,
daß erst Freuds grundlegende Schrift von 1914 uns das Verständnis
des Narzißmus vermittelte. Ich habe durchaus den Eindruck, daß die
Überwindung solcher narzistischer Widerstände leichter gelingt, seit
ich derartige Patienten gleich am Anfang der Behandlung in das
Wesen ihres Widerstandes einführe. Ich lege das größte Gewicht auf
eine erschöpfende Analyse des Narzißmus der Patienten in allen seinen
180 Dr. Karl Abraham: Über eine besondere Form d. neurotischen Widerstandes eto.
Äußerungen, besonders in seinen Beziehungen zum Vaterkomplex. |
Gelingt es, die narzißtische Verschlossenheit des Patienten zu über- Be
winden und — was dasselbe bedeutet — eine positive Übertragung
zu bewerkstelligen, so kommen eines Tages zu seiner Überraschung
freie Assoziationen auch in Gegenwart des Arztes zu stande. AÄn-
fangs zeigen sie sich vereinzelt; mit dem Fortschreiten des geschil-
derten Vorganges werden sie reichlicher. Wenn ich anfänglich die i
Schwierigkeiten der Behandlung hervorgehoben habe, so möchte: ch MM
daher zum Schlusse vor einer prinzipiell ungünstigen Prognosen
stellung in solchen Fällen warnen.
| a m
III,
Zur psychoanalytischen Technik.
Von Dr. S, Ferenczi.')
I. Mißbrauch der Assoziationsfreiheit.
Auf der „psychoanalytischen Grundregel‘ Freuds, der Pflicht
des Patienten. alles mitzuteilen, was ıhm ım Laufe der Analysen-
stunde einfällt, beruht die ganze Methode. Von dieser Regel dari
man unter keinen Umständen eine Ausnahme gestatten und muß un-
nachsichtig alles ans Tageslicht ziehen, was der Patient, mit welcher
Motivierung immer, der Mitteilung zu entziehen sucht. Hat man
aber den Patienten, mit nicht geringer Mühe, zur wörtlichen Befol-
gung dieser Regel erzogen, so kann es vorkommen, daß sich sein Wider-
stand gerade dieser Grundregel bemächtigt und den Arzt mit der
eigenen Waffe zu schlagen versucht.
Zwangsneurotiker greifen manchmal zum Auskunftsmittel, daß
«is die Aufforderung des Arztes, alles, auch das Sinnlose mitzuteilen,
wie absichtlich mißverstehend, nur sinnloses Zeug assoziieren. Läßt
man sie ruhig gewähren und unterbricht sie nicht, in der Hoffnung,
daß sie dieses Vorgehens mit der Zeit müde werden, so wird man
oft in seiner Erwartung getäuscht, bis man schließlich zur Überzeu-
gung gelangt, daß sie unbewußt die Tendenz verfolgen, den Arzt
ad absurdum zu führen. Sie liefern bei dieser Art oberflächlicher
Assoziation zumeist eine ununterbrochene Reihe von Worteinfällen,
deren Auswahl natürlich auch jenes unbewußte Material, vor dem
der Patient sich flüchtet, durchschimmern läßt. Zu einer eingehenden
Analyse der einzelnen Einfälle kann es aber überhaupt nicht kommen,
denn wenn wir etwa auf gewisse auffällige, versteckte Züge hin-
weisen, bringen sie statt der Annahme oder Ablehnung unserer Deu-
tung einfach — weiteres „sinnloses“ Material. Es bleibt uns da nichts
anderes übrig als den Patienten auf das Tendenziöse seines Vorgehens
!) Vortrag, gehalten in der ungarländischen psychoanalytischen Vereinigung (Freud-
Verein) in Budapest,
182 Dr. S, Ferenczi.
aufmerksam zu machen, worauf er nicht ermangeln wird, uns gleich-
sam triumphierend vorzuwerfen: Ich tue ja nur, was Sie von mir
verlangen, ich sage einfach jeden Unsinn, der mir einfällt. Zu-
gleich macht er etwa den Vorschlag, man möge von der strengen
Einhaltung der „Grundregel“ abstehen, die Gespräche systematisch
ordnen, an ihn bestimmte Fragen richten, nach dem Vergessenen
methodisch oder gar mittels Hypnose forschen. Die Antwort auf
. diesen Einwand fällt uns nicht schwer; wir forderten vom Patienten
allerdings, daß er jeden Einfall, auch den unsinnigen mitteile, ver-
langten aber durchaus nicht, daß er ausschließlich unsinnige oder un-
zusammenhängende Worte hersage. Dieses Benehmen widerspricht
— so erklären wir ihm — gerade jener psychoanalytischen Regel,
die jede kritische Auswahl unter den Einfällen verbietet. Der scharf-
sinnige Patient wird darauf erwidern, er könne ja nichts dafür, daß
ıhm lauter Unsinn eingefallen sei, und kommt etwa mit der unlogi-
schen Frage, ob er von nun an das Unsinnige verschweigen solle. Wir
dürfen uns nicht ärgern, sonst hätte ja der Patient seinen Zweck er-
reicht, sondern müssen den Patienten zur Fortsetzung der Arbeit
verhalten. Die Erfahrung zeigt, daß unsere Mahnung, mit der freien
Assoziation keinen Mißbrauch zu treiben, meist den Erfolg hat, daß
dem Patienten von da an nicht nur Unsinn einfällt.
Eine einmalige Auseinandersetzung hierüber genügt in den sel-
tensten Fällen; gerät der Patient wieder in Widerstand gegen den
Arzt oder die Kur, so beginnt er nochmals sinnlos zu assoziieren, ja
er stellt uns vor die schwierige Frage, was er wohl tun soll, wenn
ihm nicht einmal ganze Worte, sondern nur unartikulierte Laute,
Tierlaute, oder statt der Worte Melodien einfallen. Wir ersuchen
den Patienten jene Laute und Melodien wie alles andere getrost laut
werden zu lassen, machen ihn aber auf die böse Absicht, die in seiner
Befürchtung steckt, aufmerksam.
Eine andere Äußerungsform des „Assoziationswiderstandes“ ist
bekanntlich die, daß dem Patienten „überhaupt nichts einfällt“. Diese
Möglichkeit kann auch ohne weiteres zugegeben werden. Schweigt
aber der Patient längere Zeit, so bedeutet das zumeist, daß er etwas
verschweigt. Das plötzliche Stillwerden des Kranken muß also
stets als „passageres Symptom“ gedeutet werden.
Langdauerndes Schweigen erklärt sich oft dadurch, daß der Auf-
trag, alles mitzuteilen, immer noch nicht wörtlich genommen wird.
Befragt man den Patienten nach einer längeren Pause über seine
psychischen Inhalte während des Schweigens, so antwortet er viel-
leicht, er hätte nur einen Gegenstand im Zimmer betrachtet, eine
Empfindung oder Parästhesie in diesem oder jenem Körperteil ge-
habt usw. Es bleibt uns oft nichts anderes übrig, als dem Patienten
Zur psychoanalytischen Technik. 185
nochmals auseinanderzusetzen, alles, was in ihm vorgeht, also Sinnes-
wahrnehmungen ebenso wie Gedanken, Gefühle, Willensimpulse, an-
zugeben. Da aber diese Aufzählung nie vollständig sein kann, wird
der Patient, wenn er im Widerstand rückfällig wird, immer noch eine
Möglichkeit finden, sein Schweigen und Verschweigen zu rationali-
sieren. Manche sagen z. B., sie hätten geschwiegen, da sie keinen
klaren Gedanken, sondern nur undeutliche, verschwommene Sen-
sationen gehabt hätten. Natürlich beweisen sie damit, daß sie ihre
Einfälle trotz gegenteiligen Auftrags immer noch kritisieren.
Sieht man dann, daß die Aufklärungen nichts fruchten, so muß
man annehmen, daß der Patient uns nur zu umständlichen Aufklä-
rungen und Erklärungen verlocken und dadurch die Arbeit aufhalten
will. In solchen Fällen tut man am besten, dem Schweigen «les Pa-
tienten das eigene Schweigen entgegenzusetzen. Es kann vorkommen,
daß der größte Teil der Stunde vergeht, ohne daß Arzt oder Patient
auch nur ein Wort gesprochen hätten. Das Schweigen des Arztes
kann der Patient schwer ertragen; er bekommt die Empfindung, dab
ihm der Arzt böse ist, das heißt, er projiziert sein schlechtes Gewissen.
auf den Arzt, und das bringt ihn schließlich dazu, nachzugeben und
mit dem Negativismus zu brechen.
Selbst durch die Drohung des einen oder anderen Patienten, vor
Langweile einzuschlafen, dürfen wir uns nicht beirren lassen; aller-
dings schlief in einigen Fällen der Patient für kurze Zeit wirklich
ein, doch aus dem raschen Erwachen mußte ich darauf schließen, daß
das Vorbewußte auch während des Schlafens an der Kursituation
festgehalten hatte. Die Gefahr, daß der Patient die ganze Stunde
verschläft, besteht also nicht).
Mancher Patient erhebt den Einwand gegen das freie Assoziieren,
daß ihm zu vieles auf einmal einfällt, und er nicht weiß, was er da-
von zuerst mitteilen soll. Gestattet man ihm, die Reihenfolge selbst
zu bestimmen, so antwortet er etwa, er könnte sich nicht entschließen,
dem einen oder dem anderen Einfall den Vorzug zu geben. In einem
solchen Falle mußte ich zum Auskunftsmittel greifen, vom Patienten
1) Es gehört zum Kapitel „Gegenmübertragung“, daß auch der Arzt in man-
chen Stunden an den Assoziationen des Kranken vorbeihört und erst bei ge-
wissen Äußerungen des Patienten aufhorcht; das Einnicken für wenige Sekunden
kann unter diesen Umständen vorkommen. Die nachträgliche Prüfung führt
meist zum Ergebnis, daß wir unbewußt auf die Leere und Wertlosigkeit der
gerade gelieferten Assoziation mit dem Zurückziehen der bewußten Besetzung
reagierten; beim ersten, die Kur irgendwie angehenden Einfall des Patienten
werden wir wieder munter, Also auch die Gefahr, daß der Arzt einschläft und
den Patienten unbeachtet läßt, ist gering anzuschlagen. (Einer mündlichen
Aussprache mit Prof. Freud über dieses Thema verdanke ich die volle Be-
stätigung dieser Beobachtung.)
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse. V/3. 13
184 Dr. S. Ferenczi.
alles in der Reihenfolge erzählen zu lassen, wie es ihm eingefallen ist.
Der Patient antwortete mit der Befürchtung, es könnten so, während
er den ersten Gedanken der Reihe verfolgt, die anderen in Vergessen-
heit geraten. Ich beruhigte ihn mit dem Hinweis, daß alles, was
wichtig ist — auch wenn es zunächst vergessen scheint — später von
selbst zum Vorschein kommen wird !).
Auch kleine Eigenheiten in der Art des Assoziierens haben ihre
Bedeutung. Solange der Patient jeden Einfall mit dem Satze ein-
leitet: „Ich denke daran, daß....“, zeigt er uns an, daß er zwischen
Wahrnehmung und Mitteilung des Einfalles eine kritische Prüfung
einschaltet. Manche ziehen es vor, unliebsame Einfälle in die Form
einer Projektion auf den Arzt zu kleiden, indem sıe etwa sagen:
„Sie denken sich jetzt, ich meine damit, daß....“, oder: „Natürlich
werden Sie das so deuten, daß....“. Auf die Aufforderung, die Kritik
auszuschalten, replizieren manche: „Kritik sei schließlich auch ein
Einfall“, was man ihnen ohne weiteres zugeben muß, nicht ohne sie
darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn sie sich streng an die
Grundregeln halten, es nicht vorkommen kann, daß die Mitteilung
der Kritik der des Einfalls vorausgeht oder sie gar ersetzt.
In einem Falle war ich genötigt, der psychoanalytischen Regel
direkt widersprechend, den Patienten dazu zu verhalten, den ange-
fangenen Satz immer zu Ende zu erzählen. Ich merkte nämlich, daß,
sobald der begonnene Satz eine unangenehme Wendung nahm, er ihn
nie zu Ende sagte, sondern mit einem „Apropos“ mitten im Natze auf
etwas Unwichtiges, Nebensächliches ausglitt. Es mußte ihm erklärt
werden, daß die Grundregel zwar nicht das Zuendedenken eines
Einfalles, wohl aber das Zuendesa gen des einmal Gedachten fordert.
Es hatte aber zahlreicher Mahnungen bedurft, bis er das gelernt hatte.
Auch sehr intelligente und sonst einsichtsvolle Patienten ver-
suchen manchmal, die Methode der freien Assoziation dadurch ad ab-
surdum zu führen, daß sie uns vor die Frage stellen: was aber, wenn
ihnen einfiele, plötzlich aufzustehen und wegzulaufen, oder aen Arzt
körperlich zu mißhandeln, totzuschlagen, ein Möbelstück zu zertrüm-
mern usw. Wenn man ihnen dann erklärt, daß sie nicht den Auftrag
bekamen, alles zu tun, was ihnen einfällt, sondern nur alles zu
2) Es ist wohl kaum nötig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß der
Psychoanalytiker dem Patienten gegenüber jede Unwahrheit meiden muß; dies
gilt natürlich auch in Fragen, die sich auf die Methode oder auf die Person
des Arztes beziehen. Der Psychoanalytiker sei wie Epaminondas, von dem 4
uns Cornelius Nepos erzählt, daß er „nec joco quidem mentiretur“. Aller-
dings darf und muß der Arzt einen Teil der Wahrheit, z, B, den, dem der
Patient noch nicht gewachsen ist, ihm zunächst vorenthalten, das heißt, das
Tempo der Mitteilungen selber bestimmen.
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Zur psychoanalytischen Technik. 185
sagen, so antworten sie zumeist mit der Befürchtung, sie könnten
Denken und Handeln nicht so scharf von einander scheiden. ‚Wir
können solche Überängstliche beruhigen, daß diese Befürchtung nur
eine Reminiszenz aus der Kinderzeit ist, wo sie solcher Unterscheidung
tatsächlich noch nicht fähig waren.
In selteneren Fällen werden allerdings die Patienten von einem
Impuls förmlich überwältigt, so daß sie anstatt, weiter zu assoziieren,
ihre psychischen Inhalte zu agieren anfangen. Nicht nur, daß sıe
statt der Einfälle ‚‚passagere Symptome‘ produzieren, sondern sie
führen manchmal bei vollem Bewußtsein komplizierte Handlungen
aus, ganze Szenen, von deren Übertragungs- oder Wiederholungsnatur
sie nicht die geringste Ahnung haben. So sprang ein Patient bei ge-
wissen aufregenden Momenten der Analyse plötzlich von dem Sofa
auf, ging im Zimmer auf und ab, und stieß dabei Schimpfworte aus.
Die Bewegungen sowohl als die Schimpfworte fanden dann in der
Analyse ihre historische Begründung.
Eine hysterische Patientin vom iniantilen Typus überraschte
mich, nachdem es mir gelungen war, sie zeitweilig von ihren kind-
lichen Verführungstechniken (fortwährendes flehentliches Anschauen
des Arztes, auffällige oder exhibitionistische Toiletten) abzubringen,
mit einer unerwarteten direkten Attacke; sie sprang auf, verlangte
geküßt zu werden, wurde schließlich auch handgreiflich. Es ver-
steht sıch von selbst, daß den Arzt auch derartigen Vorkommnissen
gegenüber die wohlwollende Geduld nicht verlassen darf. Er muß
immer und immer wieder auf die Übertragungsnatur solcher Aktionen
hinweisen, denen gegenüber er sich ganz passiv zu verhalten hat.
Die entrüstete moralische Zurückweisung ist in einem solchen Falle
ebenso wenig am Platze, wie etwa das Eingehen auf irgend eine
Forderung. Es zeigt sich dann, daß die Angriffslust der Kranken
bei solchem Empfange rasch ermüdet und die — übrigens analytisch
zu deutende — Störung bald beseitigt ist.
In einem Aufsatz „über obszöne Worte‘!) stellte ich bereits die
Forderung, daß man den Patienten die Mühe der Überwindung des
Widerstandes gegen das Aussprechen gewisser Worte nicht ersparen
darf. Erleichterungen, wie das Aufschreibenlassen gewisser Mittei-
lungen, widersprechen den Zwecken der Kur, die ja im Wesen gerade
darin besteht, daß der Patient durch konsequente und immer fort-
schreitende Übung über innere Widerstände Herr wird. Auch wenn
der Patient sich anstrengt, etwas zu erinnern, was der Arzt wohl
weiß, darf ihm nicht ohne weiteres geholfen werden, sonst kommt
man um die eventuell wertvollen Ersatzeinfälle.
1) Zentralblatt für Psychoanalyse, I. Jahrg. 1911, $. 390 {f.
13°
186 Dr. S. Ferenozi.
Natürlich darf dieses Nichthelfen des Arztes kein durchgängiges
sein. Wenn es uns momentan weniger um das turnerische Üben der
Seelenkräfte des Kranken, als um die Beschleunigung gewisser Auf-
klärungen zu tun ist, so werden wir Einfälle, die wir im Patienten
vermuten, die aber jener nicht mitzuteilen wagt, einfach vor ihm
aussprechen und ihm auf diese Art ein Geständnis abgewinnen. Die
Situation des Arztes in der psychoanalytischen Kur erinnert eben
vielfach an die des Geburtshelfers, der sich ja auch möglichst passiv
zu verhalten, sich mit der Rolle des Zuschauers bei einem Natur-
prozeß zu bescheiden hat, in kritischen Momenten aber mit der Zange
bei der Hand sein muß, um den spontan nicht fortschreitenden Ge-
burtsakt zum Abschluß zu bringen.
II. Fragen der Patienten. — Entscheidungen während
der Kur.
Ich machte es mir zur Regel, jedesmal wenn der Patient eine
Frage an mich richtet oder eine Auskunft verlangt, mit einer (Fegen-
frage zu antworten, der nämlich, wie er zu dieser Frage kommt.
Hätte ich ihm einfach geantwortet, so wäre die Regung, die ihn zu _
dieser Frage bewog, durch die Antwort beseitigt worden; so aber
wenden wir das Interesse des Patienten den Quellen seiner Neugierde
zu, und wenn wir seine Fragen analytisch behandeln, vergißt er zu-
meist daran, die ursprüngliche Frage zu wiederholen; er zeigt uns
damit, daß ihm an diesen Fragen eigentlich gar nicht gelegen war,
und daß sie nur als Äußerungsmittel des Unbewußten eine Bedeutung
hatten.
Besonders schwierig gestaltet sich aber die Situation, wenn der
Patient sich nicht mit einer beliebigen Frage, sondern mit der Bitte
an uns wendet, in einer für ihn bedeutsamen Angelegenheit,. z. B. in
der Wahl zwischen zwei Alternativen, die Entscheidung zu treffen.
Das Bestreben des Arztes muß immer darauf gerichtet sein, Eintschei-
dungen so lange hinauszuschieben, bis der Patient durch die in der
Kur zu gewinnende Sicherheit in die Lage kommt, selbständig zu
handeln. Man tut also gut daran, der vom Patienten betonten Not-
wendigkeit der sofortigen Entscheidung nicht ohne weiteres Glauben
zu schenken, sondern auch an die Möglichkeit zu denken, daß solche
anscheinend sehr aktuelle Fragen vielleicht von dem Patienten selbst
unbewußt in den Vordergrund geschoben wurden, wobei er entweder
das eben anzuschneidende Analysenmaterial in die Form der Problem-
stellung kleidet, oder sein Widerstand sich dieses Mittels bemächtigt,
um den Fortgang der Analyse zu stören. Bei einer Patientin war
letzteres so typisch, daß ich ihr in der gerade herrschenden Kriegs-
Zur psychoanalytischen Technik. 187
terminologie erklären mußte, sie werfe mir, wenn sie keinen anderen
Ausweg mehr finde, solche Probleme wie Gasbomben entgegen, um
mich zu verwirren. Selbstverständlich kann der Patient während
der Kur wirklich einmal über Bedeutsames unaufschiebbar zu ent-
scheiden haben; es ist gut, wenn wir auch in diesen Fällen möglichst
wenig die Rolle des geistigen Lenkers nach Art eines „direeteur de
conscience“ spielen, sondern uns mit der des analytischen „Confes-
seur“ begnügen, der alle (auch die dem Patienten unbewußten) Mo-
tive möglichst klar von allen Seiten beleuchtet, den Entscheidungen
und Handlungen aber keine Richtung gibt. Diesbezüglich steht die
Psychoanalyse in diametralem Gegensatze zu allen bisher geübten
Psychotherapien, der suggestiven sowohl als auch der „über-
zeugenden“.
Unter zweierlei Umständen kommt auch der Psychoanalytiker
in die Lage, in den Lebenslauf des Patienten unmittelbar einzugreifen.
Erstens, wenn er sich überzeugt, daß die Lebensinteressen des Kranken
wirklich unaufschiebbar zu einer Entscheidung drängen, zu der der
Patient allein noch unfähig ist; in diesem Falle muß, sich aber der
Arzt dessen bewußt sein, daß er dabei nicht mehr als Psychoanalytiker
handelt, ja daß aus seinem Eingreifen für den Fortgang der Kur ge-
wisse Schwierigkeiten erwachsen können, z. B. eine unerwünschte
Verstärkung des Übertragungsverhältnisses. Zweitens kann und muß
der Analytiker zeitweise auch insofern „aktive Therapie“ betreiben,
als er den Patienten dazu drängt, die phobieartige Unfähigkeit zu
irgend einer Entscheidung zu überwinden. Er erhofft von den Ver-
änderungen der Affektbesetzungen, die diese Überwindung mit sich
bringt, den Zugang zu bisher unzugänglichem unbewußten Ma-
terial !).
II. Das „Zum Beispiel“ in der Analyse.
Kommt uns der Patient mit irgend einer Allgemeinheit, sei es
eine Redensart oder eine abstrakte Behauptung, so frage man ihn
immer, was ihm zu jener Allgemeinheit speziell einfällt. Diese Frage
ist mir so geläufig geworden, daß sie sich fast automatisch einstellt,
sobald der Patient allzu allgemein zu reden beginnt. Die Tendenz,
vom Allgemeinen zum Speziellen und immer Spezialisierteren zu über-
gehen, beherrscht eben die Psychoanalyse überhaupt; nur diese führt
1) Siehe dazu meinen Aufsatz „Technische Schwierigkeiten einer Hysterie-
Analyse“, Diese Zeitschrift, Jahrg. V, Nr. 1 (aufgenommen in des Autors Buch:
„Hysterie und Pathoneurosen“, Intern. Ps.-A. Verlag, 1919) und Freuds Vortrag
am V, Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest: „Wege der
psychoanalytischen Therapie“ (diese Zeitschrift, V, 2, 1919).
188 Dr. S. Ferenozi.
zur möglichst vollkommenen Rekonstruktion der Lebensgeschichte des
Patienten, zur Ausfüllung seiner neurotischen Amnesien. Es ist also
unrichtig, dem Hange der Patienten nach Generalisierung folgend,
das bei ihnen Beobachtete allzu früh irgend einer allgemeinen These
unterzuordnen. In der richtigen Psychoanalyse ist wenig haum für
moralische oder philosophische Allgemeinheiten, sie ist eine ununter-
brochene Folge von konkreten Feststellungen.
Daß das „Zum Beispiel“ wirklich das geeignete technische Mittel
ist, die Analyse vom Entfernten und Unwesentlichen geradewegs
zum Naheliegenden und Wesentlichen hinzuleiten, dazu lieferte mir
eine junge Patientin in einem Traume die Bestätigung.
Sie träumte: „Ich habe Zahnschmerzen und eine ge
schwollene Backe; ich weiß, daß dies nur gut werden
kann, wenn Herr X. (mein einstiger Bräutigam) daran
reibt; dazu muß ich aber die Einwilligung einer
Dame einholen. Sie gibt mir die Einwilligung wirk-
lich und Herr X. reibt mit der Hand an meiner Backe;
da springt ein Zahn heraus, als wäre er soeben ge
wachsen und als wäre er die Ursache des Schmerzesge- ;
wesen.“
Zweites Traumstück: „Meine Mutter erkundigt sich
beı mır darüber, wie es wohl bei der Psychoanalyse
zugeht. Ich sage ihr: Man legt sich hin und muß
hersagen, was einem einfällt. — Was sagt man denn,
fragt mich die Mutter. — Nuneben alles, alles, ohne
Ausnahme, was einem durch den Kopf geht. — Was
geht einem aber durch den Kopf, fragt sie weiter —
Alle möglichen Gedanken, auch die unglaublichsten.
— Was denn zum Beispiel? — Zum Beispiel, daß eseinem
geträumt hat, daßeinen der Arzt geküßt und ......... s
dieser Satz blieb unbeendigt und ich erwachte.“
Ich will hier nicht in die Einzelheiten der Deutung eingehen, und
teile davon nur so viel mit, daß es sich hier um einen Traum handelt,
dessen zweites Stück das erste deutet. Die Deutung geht aber |
ganz methodisch zu Werke. Die Mutter, die hier offenbar die Stelle
des Analysierenden einnimmt, begnügt sich nieht mit den Allgemein-
heiten, mit denen sich die Träumerin aus der Affäre zu ziehen ver-
sucht, und gibt sich nieht zufrieden, bis sie auf die Frage, was ihr
zum Beispiel einfällt, die einzig richtige sexuelle Deutung des
Traumes zugibt. |
Was ich in einer Arbeit über „Analyse von Gleichnissen“!) be-
1) Diese Zeitschrift, Jahrg. ILl, 1915, S. 270 £f.,
Zur psychoanalytischen Technik. 189
hauptete, daß nämlich hinter den anscheinend flüchtig hingeworfenen
Vergleichen immer gerade das bedeutsamste Material verborgen ist,
gilt also auch von jenen Einfällen, die die Patienten auf die Frage:
‚was zum Beispiel?“ zum besten geben.
IV. Die Bewältirung der Gegenübertragung.
Der Psychoanalyse — der überhaupt die Aufgabe zugefallen zu
sein scheint, Mystik zu zerstören — gelang es, die einfache, man
möchte sagen naive Gesetzmäßigkeit aufzudecken, die auch der kom-
pliziertesten medizinischen Diplomatie zu Grunde liegt. Sie ent-
deckte die Übertragung auf den Arzt, als das wirksame Moment bei
jeder ärztlichen Suggestion, und stellte fest, daß eine solche Über-
tragung in letzter Linie nur die infantil-rotische Beziehung zu den
Eltern, der gütigen Mutter oder dem gestrengen Vater, wiederholt,
und daß es von den Lebensschicksalen oder der konstitutionellen An-
lage des Patienten abhängt, ob und inwieweit er der einen oder der
anderen Suggestionsart zugänglich ist!).
Die Psychoanalyse entdeckte also, daß die Nervenkranken wie
Kinder sind und als solche behandelt werden wollen. Intuitive ärzt-
liche Talente wußten dies auch vor uns, wenigstens handelten sie
so, als wüßten sie es. Der Zulauf zu manchem „groben“ oder „lie-
benswürdigen“ Sanatoriumsarzt erklärt sich daraus.
Der Psychoanalytiker aber darf nicht mehr nach Herzenslust
milde und mitleidsvoll oder grob und hart sein, und abwarten, bis sich
die Seele des Kranken dem Charakter des Arztes anpaßt; er muß es
verstehen, seine Anteilnahme zu dosıeren, ja er darf sich seinen
Affekten nicht einmal innerlich hingeben, denn das Beherrschtsein
von Affekten oder gar von Leidenschaften schafft einen ungünstigen
Boden zur Aufnahme und richtigen Verarbeitung von analytischen
Daten. Da aber der Arzt, immerhin ein Mensch, und als solcher
Stimmungen, Sym- und Antipathien, auch Triebanwandlungen zu-
gänglich ist — ohne solche Empfänglichkeit hätte er ja kein Ver-
ständnis für die Seelenkämpfe des Patienten —, so hat er in der
Analyse fortwährend eine doppelte Arbeit zu leisten: einesteils muß
er dem Patienten beobachten, das von ihm Erzählte prüfen, aus seinen
‚Mitteilungen und seinem Gebaren sein Unbewußtes konstruieren ;
andernteils hat er gleichzeitig seine eigene Einstellung dem Kranken
gegenüber unausgesetzt zu kontrollieren, wenn nötig richtigzustellen,
das heißt die Gegenübertragung (Freud) zu bewältigen.
1) „Introjektion und Übertragung.“ Jahrbuch für Psychoanalyse, I. Jahrg.
1909. (Vom Verfasser.)
190 Dr, S. Ferenczi.
Die Vorbedingung dazu ist natürlich das Analysiertsein des
Arztes selbst, aber auch der Analysierte ist von Eigenheiten des Cha-
rakters und aktuellen Stimmungsschwankungen nicht so unabhängig,
daß die Beaufsichtigung der Gegenübertragung überflüssig wäre.
Über die Art, wie die Kontrolle der Gegenübertragung einzu-
greifen hat, ist es schwer, etwas Allgemeines zu sagen, es gibt hier
allzu viele Möglichkeiten. Will man einen Begriff davon geben, so
tut man wohl am besten, wenn man Beispiele aus der Erfahrung her-
anzieht.
Am Anfang der analytisch-ärztlichen Tätigkeit ahnt man natür-
lıch von den Gefahren, die von dieser Seite her drohen, am, wenigsten.
Man ist in der seligen Stimmung, in die einen die erste Bekanntschaft
mıt dem Unbewußten versetzt, der Enthusiasmus des Arztes über-
trägt sich auch auf den Patienten, und der frohen Selbstsicherheit
verdankt der Psychoanalytiker überraschende Heilerfolge. Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß diese Erfolge nur zum kleineren Teil ana-
Iytisch, zum größeren aber rein suggestiv, das heißt Übertragungs-
erfolge sind. In der gehobenen Stimmung der Honigmonate der
Analyse ist man natürlich auch von der Berücksichtigung, geschweige
denn von der Beherrschung der Gegenübertragung himmelweit ent-
fernt. Man unterliegt allen Affekten, die das Verhältnis Arzt—
Patient nur hervorzubringen vermag, läßt sich von traurigen Erleb-
nissen, wohl auch von Phantasien der Patienten rühren, entrüstet sich
über alle, die ihnen übelwollen und ihnen Übles antun. Mit einem
‚Wort, man macht sich alle ihre Interessen zu eigen und wundert
sich dann, wenn der eine oder der andere Patient, in dem unser Be-
tragen irreale Hoffnungen erweckt haben mag, plötzlich mit leiden-
schaftlichen Forderungen auftritt. Frauen verlangen vom Arzt ge-
heiratet, Männer von ihm erhalten zu werden, und konstruieren aus
seinen Äußerungen Argumente für die Berechtigung ihrer Ansprüche.
Natürlich kommt man über diese Schwierigkeiten in der Analyse
leicht hinweg; man beruft sich auf ihre Übertragungsnatur und be-
nützt sie als Material zur weiteren Arbeit. Man; bekommt aber so
einen Einblick in die Fälle, wo es in der nichtanalytischen oder wild-
analytischen Therapie zu Beschuldigungen oder gerichtlichen An-
klagen gegen den Arzt kommt. Die Patienten entlarven eben in ihren ,
Anklagen das Unbewußte des Arztes. Der enthusiastische Arzt, der
in seinem Heilungs- und Aufklärungsdrange seine Patienten „hin-
reißen“ will, beachtet nicht die kleinen und großen Zeichen von un-
bewußter Bindung an den Patienten oder an die Patientin, doch diese
perzipieren sie nur zu gut und konstruieren aus ihnen ganz richtig
die ihr zu Grunde liegende Tendenz, ohne zu ahnen, daß sie dem
Zur psychoanalytischen Technik. 191
Arzte selbet nicht bewußt war. Bei solchen Anklägen haben also
merkwürdigerweise beide gegnerischen Parteien recht. Der Arzt kann
es beschwören, daß er — bewußt — nichts anderes als die Heilung
des Kranken beabsichtigte; doch auch der Patient hat recht, — denn
der Arzt hat sich unbewußt zum Gönner oder Ritter seines Klienten
aufgeworfen und ließ das durch verschiedene Anzeichen merken.
Die psychoanalytische Aussprache schützt uns natürlich vor
solehen Unzukömmlichkeiten ; immerhin kommt es vor, daß die mangel-
hafte Berücksichtigung der Gegenübertragung den Kranken in einen
Zustand versetzt, der nicht mehr rückgängig zu machen ist, und den
er als Anlaß zur Unterbrechung der Kur benützt. Man muß sich
eben damit abfinden, daß jede neue psychoanalytisch-technische Regel
dem Arzte einen Patienten kostet.
Hat dann der Psychoanalytiker die Würdigung der Gegenüber-
tragungssymptome mühsam erlernt und es erreicht, daß er in seinem
Tun und Reden, ja auch in seinem Fühlen alles kontrolliert,
was zu Verwicklungen Anlaß geben könnte, so droht ihm die Ge-
fahr, ins andere Extrem zu verfallen und den Patienten gegenüber
allzu schroff und ablehnend zu werden; dies würde das Zustande-
kommen der Übertragung, die Vorbedingung jeder erfolgreichen
Psychoanalyse, hintanhalten oder überhaupt unmöglich machen. Diese
zweite Phase könnte als Phase‘ des Widerstandes gegen die
Gegenübertragung charakterisiert werden. Die übergroße Ängstlich-
keit in dieser Hinsicht ist nicht die richtige Einstellung des Arztes,
und erst nach Überwindung dieses Stadiums erreicht man vielleicht
das dritte: nämlich das der Bewältigung der Gegenübertragung.
Erst wenn man hier angelangt ist, wenn man also dessen sicher
ist, daß der dazu eingesetzte Wächter sofort ein Zeichen gibt, wenn
die Gefühle gegen den Patienten im positiven oder negativen Sinne
das richtige Maß zu überschreiten drohen: erst dann kann sich der
Arzt während der Behandlung so „gehen lassen“, wie es die psycho-
analytische Kur von ihm fordert.
Die analytische Therapie stellt also an den Arzt Anforderungen,
die einander schnurstracks zu widersprechen scheinen. Einesteils ver-
langt sie von ihm das freie Spielenlassen der Assoziationen und der
Phantasie, das Gewährenlassen des eigenen Unbewußten; wir
wissen ja von Freud, daß uns nur hiedurch ermöglicht wird, die im
manifesten Rede- und Gebärdenmaterial versteckten Äußerungen des
Unbewußten des Patienten intuitiv zu erfassen. Andernteils
muß der Arzt das von seiner und des Patienten Seite gelieferte
Material logisch prüfen, und darf sich in seinen Handlungen und
Mitteilungen ausschließlich nur vom Erfolg dieser Denkarbeit leiten
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192 Dr. S. Ferenezi.
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lassen. Mit der Zeit lernt man es, das Sichgehenlassen auf gewisse
automatische Zeichen aus dem Vorbewußten zu unterbrechen und“ =
die kritische Einstellung an seine Stelle zu setzen. Diese fort-
währende Oszillation zwischen freiem Spiel der Phantasie und ker ie)
tischer Prüfung setzt aber beim Arzte eine Freiheit und ungehemmte r:
Beweglichkeit der psychischen Besetzungen voraus, wie sie auf einem
anderen Gebiete kaum gefordert wird. | .
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Mitteilungen.
Klinische Beiträge.
| 1.
Ein Fall von krankhafter „Schamsucht“.
Von Dr. Josef Eisler (Budapest).
So manches Problem der Psychoanalyse, dessen Lösung vorläufig
noch auf sich warten läßt, erscheint in den zahlreichen Arbeiten von
Freud zumindest in Zusammenhang mit anderen Fragen des Seelen-
lebens einer teilweisen Klärung nähergebracht; auch fehlt es daselbst
in der Regel nicht an verwertbaren Hinweisen, wie diese glücklich er-
faßten Zusammenhänge psychologisch durchzubilden und in den Schatz
unserer bisherigen Kenntnisse einzureihen sind. In einer seiner jüngsten
Publikationen hat Freud!) andeutungsweise eine solche wichtige Be-
ziehung zwischen der unfreiwilligen Harnentleerung und der Reaktion
der Beschämung (sowie eine zwischen der unwillkürlichen Harninkontinenz
und dem Feuer) aufgedeckt, eine Beziehung, welche er in die letzten
Hintergründe der Kulturgeschichte zurückverfolgt wissen will. Diese allzu
knappe Notiz, deren ausführliche Begründung durch Freud man in je-
dem Belang erhoffen möchte, enthält bereits eine Andeutung über die
Genese des Schamgefühls. Im folgenden werden nun die Ergebnisse einer
Psychoanalyse mitgeteilt, die hierüber — jedoch nur soweit aus einem
vereinzelten Falle Schlüsse gezogen werden können — näheres aussagen.
Die speziellen Tatsachen sollen dabei in erster Reihe zur Würdigung
kommen. Auch sonst dürfte der gewählte Fall dazu geeienet sein, in
den Einzelheiten theoretisch erwogen zu werden.
Es handelt sich um ein 25jähriges Mädchen aus mittleren Bürger-
kreisen der Provinz und ohne besondere Intelligenz, das in Gesellschaft
an Ausbrüchen eines für sie höchst peinlichen und quälenden Scham-
gefühls litt. Ihre Klagen, die sie nach manchen gescheiterten Heil-
versuchen durch verschiedene Ärzte schließlich zu mir führten, lauteten
dahin, daß sie den Menschen nicht in die Augen schauen könne und
1) Kleine Schriften etc. IV. Folge 1913. „Aus der Geschichte einer infan-
tilen Neurose.“ Seite 682 Anmerkung. Eine weitere Literaturquelle, auf welche
sich die Analyse eines Sonderfalles von krankhaftem Schamgefühl bezüglich
der Auswertung dieses Symptoms berufen könnte, ist mir nicht bekannt gewesen.
194 Mitteilungen.
immerfort erröte, weshalb sie denn auch jeden Verkehr außerhalb ihres
engeren Familienkreises meide., Andere Klagen bezogen sich auf ständigen
Druck im Kopf, gestörten Schlaf, Ungeduld und eine sonderbare Unruhe
in Händen und Füßen; insbesondere mit dem linken Beine mache sie
in Gesellschaft unwillkürlich ausfahrende Bewegungen. Dieser Zustand
habe sich im großen und ganzen vor zwei Jahren entwickelt. Mit Rück-
sicht auf ihr Alter und weil ihre Eltern sie dazu drängen, müsse sie
ans Heiraten denken, aber sie fühle keinen Beruf zur Ehe, Bewerber
hatten sich auch schon eingestellt, was sie durch Anspielungen zu Hause
erfahren habe, sie wäre jedoch vorläufig unfähig, irgend eine Wahl zu
treffen. „Ich denke mir alles bis zu Ende aus, was geschehen könne,
und dann verliere ich alle Lust“, bemerkte sie über sich, Mit Rück-
sicht auf diese peinlichen Zustände willigte sie in die psychoanalytische
Kur ein,
Wohl unter der Leitung des Gedankens, daß sich hinter dem Scham-
gefühl vielleicht eine das Schuldbewußtsein belastende Erinnerung ver-
berge, brachte die Analyse das Mädchen zum ersten Geständnis, Etwa
drei Jahre vorher war sie von einem verheirateten Mann, der im Rufe
eines großen Schürzenjägers stand, verführt worden. Sie gab sich ihm
nach langem Werben seinerseits „nur aus Neugierde“ hin, war aber so-
fort ernüchtert und versagte ihm eine zweite Zusammenkunft. Spätere
Einsichten in ihr Wesen veranlaßten mich, dieser Erzählung vollen Glau-
ben zu schenken. Sie war tatsächlich nicht dazu geeignet, ein regel-
rechtes Verhältnis zu beginnen. Schon hier konnte ich bemerken, daß
sie trotz einer gewissen Offenheit und Mitteilsamkeit im Charakter nur
geringes Interesse an der Umwelt nahm und von dieser nicht solcherart
angeregt wurde, wie man das ihrem Alter entsprechend erwarten durfte,
Auch von einem eigentlichen Schuldgefühl ob der Verführung konnte
keine Rede sein. Sie behandelte diese, die natürlich geheim geblieben
war, durchaus wie einen Zufall in ihrem Privatleben und sprach ihren
Angehörigen das Recht, sich hier einzumengen, ausdrücklich ab, Einige
Träume ergaben dann den Beweis, daß sie den Männern nicht viel mehr
als „Neugierde“ entgegenbringen konnte (es war das erste Zeichen einer
schwachen Übertragung), bald darauf zeigten sich in Verbindung mit
beträchtlicher Exhibitionslust im Unbewußten — ohne Verschiebung mit
dem Hinweis auf ihr Genitale — einzelne Onaniephantasien. Die er-
reichte Übertragung fixierte sich zugleich an diese. Die Bestätigung
einer im Kindesalter gepflogenen unbewußten Masturbation erbrachte sie
mit der Angabe, daß sie zur Zeit ihres ersten Schulbesuches an Enurese
gelitten habe.
In der Folge wurde ein mit fünf Jahren erlebtes Trauma in allen
Einzelheiten aufgedeckt. Sie spielte eines Tages unter mehreren Kindern |
auf der Straße, als ein Mann (Handlungsgehilfe?) hinzukam und die
kleine Gesellschaft in einen Keller lockte, Er versprach ihr Süßigkeiten,
die er in der Tasche hatte, legte sie auf den Boden hin und hob ihr
in Gegenwart der Gespielinnen die Kleider auf, Er tat irgend etwas,
wie sie sagte, denn nach seinem Weggehen bemerkte sie, daß sie „unten
naß sei“. Später war sie zur Überzeugung gelangt, daß er auf ihr Ge-
nitale uriniert hatte; ein Akt von Unzucht im engeren Sinne wurde an
ihr nicht verübt. Diesen Vorfall hatte sie vor den Eltern, insbesondere
aber vor dem Vater, immer geheim gehalten, wessen sie sich ganz genau
zu erinnern wußte. Kurz nachher trat die bereits erwähnte Harninkontinenz
Dr. Josef Eisler: Ein Fall von krankhafter „Schamsucht*. 195
auf, die wir nach Freud!) nicht mehr als Rückfall (der Säuglings-
enurese), sondern in neuer Verwertung als unbewußte Onanie aufzufassen
haben. Infolge dieser „Unart“ konnte sie die Schule nur unregelmäßig
besuchen; einmal ließ sogar die Lehrerin ihren Vater kommen und riet
ihm, sie ärztlich untersuchen zu lassen. Im achten Lebensjahr trat bei
ihr zuweilen eine Harnretention auf, die sich jedesmal erst nach langer
Zusprache von Seite der Eltern besserte. Als sie die Blase einmal nicht
recht entleeren wollte, brachte sie der Vater endlich zum Arzt. Mit,
Mühe und weil er ihr verschiedene Versprechungen machte (Bonbons),
konnte dieser ihr anfängliches Sträuben besiegen und die Inspektion der
Geschlechtsteile vornehmen, von diesem Tage an war aber die Retention
geschwunden. Ich glaube in dieser Erinnerung nicht nur die Angst des
Kindes zu erkennen. der Arzt möchte bei der Untersuchung die Spuren
der Onanie merken, ?) sondern sehe in der Szene zugleich eine Wieder-
holung des traumatischen Erlebnisses aus dem fünften Lebensjahre: hier
wie dort wird ihr von einem Mann ein Versprechen gemacht, dem die
Entblößung ihrer Schamteile folgt. Welchen aktiven Anteil sie an der
Repetition jener ersten Szene hatte, läßt sich natürlich schwer ent-
scheiden, aber der Ratschlag, den die Lehrerin dem Vater gab, mag
leicht ihre Phantasie beeinflußt haben. Im übrigen ist die Anwesenheit
des Vaters dabei nachträglich wichtig geworden, denn in ihren unbe-
wußten Onaniephantasien (Träumen) ist er häufig anwesend.
Nach diesen Feststellungen konnte ich nunmehr die Frage an sie
stellen, ob sie auch eine aktive Masturbation kenne, Vorher erklärte
ich ihr noch eine jener Symptomhandlungen, die sie während der Analyse
häufig ausführte. Sie ergriff nämlich wiederholt beim Erzählen ihren
Halsschmuck, zog daran und spielte damit vor dem Munde, Sie verstand
die Anspielung sogleich und teilte mir offen mit, daß sie dieses „Spiel“
auch auf der Straße und in Gesellschaft betreibe, um ihre Verlegenheit
zu unterdrücken, insbesondere aber, wenn sie an jemandem vorüber
müsse, dem sie nicht in die Augen blicke, Sie gestand die aktive Mastur-
bation ein, die etwa nach dem achten Lebensjahr einsetzte und die sie
ohne Unterbrechung bis zu ihrem 23. Jahre ausübte. Anfänglich voll-
führte sie diese ohne nennbare Mitbeteiligung der Phantasie, jedoch in
Verbindung mit einem gewissen Zeremoniell. In Gesellschaft eines jün-
geren Mädchens sperrte sie sich in ein Zimmer ein, nahm das kleine
Mädchen auf den Schoß und masturbierte, indem sie das Hemd nach
hinten anzog und die Schenkel gegeneinanderrieb. Später, mit dem Ein-
tritt der Pubertät, leitete sie die Masturbation mit verschiedenen Phan-
tasien ein, die anfänglich durchsichtig und harmlos, mehr und mehr
verworrene und abstruse Formen annahmen, ohne eine andere, als im
Grunde genommen sehr dürftige Individualität zu verraten. Da die
Analyse an einem gewissen Punkte, der noch zu erörtern sein wird, ab-
gebrochen wurde, ist es schwer, unter diesen Phantasien eine Auswahl
nach dem Wert zu treffen. Ich zähle deshalb vor allem diejenigen
auf, in welchen sich übertragungsfähige Elemente zeigten und füge zur
Charakteristik des Falles hinzu, daß während der ganzen Kur ihr Wider-
stand einzig der Preisgabe dieser Phantasien galt, die eigentlich nicht
1) Kleine Schriften ete., II. Folge 1909. „Bruchstück einer Hysterieanalyse.
SSie Sörrisäfeke. Uber verschiedene Quellen kindlicher Schamhaftigkeit.
Intern. Zeitschrift für ärztl. Psychoanalyse, I. Jahrg., 4. Heft, 1913.
196 Mitteilungen.
unbewußt und zum größten Teile überwunden waren. Die (spärlichen)
Kindheitserinnerungen teilte sie unbefangen mit. In den früheren Phan-
tasien stellte sie sich als große Bühnenkünstlerin vor, die plötzlich ins
Licht der Berühmtheit tritt: irgend eine bekannte Schauspielerin in der
Großstadt sagt infolge plötzlicher Krankheit ab, im Theater herrscht
Ratlosigkeit, da fährt sie rasch vom Hause weg, übernimmt die vakante
Rolle und erntet reichen Beifall, In diesem Wachtraum, auf dessen Höhe |
die Masturbation erfolgt, fehlt noch die Beziehung zur Wirklichkeit;
das Interesse für schöne und gefeierte Frauen ist homosexuell deter- °
miniert, auch erscheint die Flucht vom Elternhause bedeutsam, Diese
letztere Phantasie bildet den Kernpunkt der späteren und stabilisiert
sich in folgender Abänderung. Die Flucht ist virtuell vollzogen: die
Phantasierende hat andere, vornehme Eltern. Auch ihr Selbst ist anders
geworden. Es führt eine Existenz für sich, hat Geheimnisse, geht eigene
Wege, ist verschlossen und trotzig.!) Die phantasierte Mutter ist eine
bestimmte schöne Dame der feinen Welt, doch von nicht 'tadellosem
Rufe, deren zweiter Gatte der neue Vater, der ihr durch elegantes Auf-
treten gefiel; als Dritter kam später ein Lehrer hinzu, bei dem sie
schon als erwachsenes Mädchen eine Zeit lang Privatstunden genommen
hatte. Durch erdichtete Unfolgsamkeit zieht sie den Zorn dieser auf
sich und erhält dafür Strafen. Sie muß sich ihnen auf den Schoß
setzen?) und wird mit eigens dazu bereitgehaltenen Instrumenten (Stöcken,
Reizmitteln) auf den Geschlechtsteilen und am Gesäß gezüchtet, In dieser
„Inquisitionsszene“ hat sie eigene knappe Kleider an, die mit den Straf-
mitteln zusammen in ihrem erdichteten Mädchenzimmer (neben dem
Schlafzimmer der phantasierten Eitern) aufbewahrt werden. In anderen
ergänzenden Phantasien (erdachte Schreckbilder) ist deren ausgesprochen
masochistischer Charakter ebenso erkennbar. #
Wie stark die masochistische Libidofixierung bei ihr war, bewies
sie durch ein in der Kur wiederholtes passageres Symptom (im
Sinne von Ferenczi), indem sie durch scheinbares Unverständnis gegen-
über meinen Erklärungen und Ermahnungen sich verstockt zeigte und
mich zwang, sie energischer anzusprechen, worauf sie unter Lachen ant- 1:
wortete. Erst nachdem ich die zuletzt geschilderten Phantasien im Zu-
sammenhang mit ihrem unbewußten Seelenleben erkannt hatte, wurde:
es mir klar, daß sie damit eine „Strafszene“ provozierte, um den infan-
tilen Masochismus für einen Moment zu beleben, Vielleicht läßt sich
von hier aus auch die Annahme weiter bestätigen, daß sie bei jenem
ärztlichen Untersuchung im achten Lebensjahre das Trauma aus der
Kindheit mit einiger Absicht zurückgerufen hat.
Die Masturbationsphantasien verloren mit den Jahren an Intensität.
und blaßten ab. Schließlich wurde auch die aktive Onanie aufgegeben.
Ihr Ende ist etwa um die Zeit zu setzen, als sie 23jährig, ein Ver--
hältnis anzuknüpfen versuchte, Es läßt sich annehmen, daß wir in.
diesem Übergang zur Öbjektliebe einen sonst normalen Prozeß vor uns
haben, mit dem Unterschied, daß die masturbatorischen Phantasien nach
so langer Vorherrschaft überstark geblieben waren und zuletzt den Sieg
davontrugen. In der zweiten Verführung haben wir aber tatsächlich
einen „Fluchtversuch in die Gesundheit“ zu erblicken. Da die Rückkehr
!) Dieser analerotische Charakterzug ist nur in den Phantasien erkennbar-
gewesen. Ein knickerischer Sparsinn war manifest,
2) Eine Verkehrung jener masturbat, Situation vor der Pubertät.
Dr. Josef Eisler: Ein Fall von krankhafter „Schamsucht“. 197
zu den alten Phantasien nunmehr unmöglich oder zumindest nicht ganz
erwünscht schien, fand sich kurz nach dem abgebrochenen Verhältnis
der Ausweg in ein neues Symptom: das exzessive Erröten.!)
Ehe ich dieses Symptom, in welchem alle bisher begangenen Wege
gleichsam zusammentreffen, einer näheren Betrachtung unterziehe, möchte
ich zur Unterstützung meiner Schlußfolgerungen vorher einiges zur
Sprache bringen. Ist es doch einzig nur dem krankhaften Erröten zu
verdanken, daß dieser Fall einer analytischen Untersuchung überhaupt
zugänglich gemacht wurde. Sonst finden sich die Menschen im Leben
mit ähnlichen Zuständen — wohl aus Scham, oder weil sie mit den
Anforderungen der Wirklichkeit kaum in Konflikt geraten — einfach
ab und meiden den Arzt.
Zur allgemeinen Charakterologie des Falles füge ich folgendes hin-
zu: Es handelt sich um eine an Gefühlen und Erlebnissen stark be-
grenzte Individualität mit geringer Aufnahmsfähigkeit gegenüber neuen
Eindrücken, die auch dann nur verspätet, weit hinter dem aktuellen
Anlaß verarbeitet werden. Die Jahre ihrer Pubertät schildert sie sum-
marisch und gibt es selbst zu, daß sie bei Tage immer zerstreut war
und mit großer Ungeduld auf die Nächte, mit der Gelegenheit zu phanta-
sieren, wartete. Eine Folge davon war, daß sich auch in der analytischen
Kur der richtige Kontakt nur gehemmt herstellte; das feinere Spiel der
Übertragung, das sonst den Gang der Behandlung so bedeutsam macht,
blieb hier gänzlich aus. Was sich zu Beginn der Analyse als Übertragung
zeigte, wurde bald durch den Strom der autoerotischen Phantasien abge-
lenkt, Die Fähigkeit zu sublimieren war kaum entwickelt?) und so blieb
ihren libidinösen Vorstellungen nur der geringe Spielraum der Regression
von der Stufe eines Autoerotismus zur prägenitalen Organisation®). Ich
habe im klinischen Teil dieser Darstellung auf die Spur einer analen und
masochistischen Erotik bereits hingewiesen. Diese selbst am Orte ihres
Entstehens aufzusuchen, war der kurzen Analyse nicht mehr möglich.
Ich muß es hier gestehen, daß ich alle diese Ergebnisse, wenn sie auch
eine gewisse Abgeschlossenheit in sich aufzeigen, durchaus nur als Frag-
mente betrachte, die einer weiteren Vertiefung bedürfen, um allgemeiner
gültig zu sein. Die eigentliche Aufgabe wäre es gewesen, den im Leben
äußerst retardierten Gesundungsprozeß im Schmiedefeuer der Psycho-
analyse zu verkürzen. Es ist dazu nicht gekommen, weil eben die Be-
einflußbarkeit der Patientin eine geringe war. Man wird selten einen so
reinen Fall von autoerotischer Libidofixierung vors Auge bekommen. Die
einzige Hilfe, die wir bringen konnten, galt der Beseitigung des exzessiven
Schamgefühles, eines „Konversionssymptoms“, wie wir das noch sehen wer-
den. Bine zweite Grenze ihrer Beeinflußbarkeit boten die unbewußten
gleichgeschlechtlichen Neigungen, die hier das Ausmaß der Norm über-
schritten.
Welche Rolle ist nun der aktiven Masturbation im Haushalte ihres
Seelenlebens zugefallen? Betrachtet man den Fall in seiner Ganzheit,
1) Beim Abbruch der Analyse war dieses Symptom (ebenso der Druck im
Kopf und der gestörte Schlaf) so weit geschwunden, daß sie sich in Gesellschaft
frei bewegen und sogar die Männer beobachten konnte. Zuletzt berichtete sie
mir freudig, sie hätte an einem bekannten Arzte eine Befangenheit ihr gegen-
über bemerkt, was leicht eine Projektion ihrer früheren Phantasien sein mochte.
2) Ebenso fehlte die Fähigkeit zur beharrlichen Objektwahl.
3) Ein Patient, der sich zwang, seine Onanie aufzugeben, litt in der ersten
Zeit an Stuhlverhaltung.
198 Mitteilungen.
so sieht man, daß die sexuellen Triebkräfte, die noch nicht zur ener-
gischen Objektwahl vorgegangen sind, durch autoerotische Gebundenheit
eine Entwicklungshemmung der Individualität erzeugt haben. Es besteht
hier also ein Dauerzustand zu Ungunsten der Objektlibido !). Diese Tat- }
sache aber macht eine dringende Erklärung notwendig. Der erste Ein-
druck würde lauten, ihre Libido habe eben diese pathogene Umwandlung
erfahren. Eine schärfere kritische Sondierung des Falles läßt jedoch eine
solche Annahme nicht zu. Die gesamte Persönlichkeit der Patientin hat
sich im Autoerotismus verankert und hat dadurch einer pathogenen Einzel-
fixierung ihrer Libido den Riegel vorgeschoben. Eine derart generalisierte,
alle Gefühlskreise gleichmäßig umfassende Erscheinung muß tiefere Gründe
haben. Wir werden diese auffinden, wenn wir den autoerotischen Betä-
tigungen in den verschiedenen Lebensaltern eine verschiedene Rolle zu-
erkennen. Die erste Onanie beim Kinde hat den biologischen Zweck, durch
„Sensibilisierung“ der Genitalzone, deren spätere Suprematie über den
anderen erogenen Zonen zu sichern ®). Ist dies einmal geschehen, so kann
jede spätere Onanie nur teilweise als „Rückfall“ gelten; in Wirklichkeit
ist der Anlaß, der den Rückfall hervorruft, zumindest in gleicher Weise
daran konstituierend beteiligt. Ich kann den ganzen Entwicklungsweg
nicht im einzelnen verfolgen und will nur in Hinblick auf den Fall von
der Pubertätsonanie reden. Die einsetzende physiologische Funktion der
Keimdrüsen ruft vor allem eine mächtige Steigerung aller libidinösen
Triebkräfte hervor, die mangels aktueller Aufgaben, in erster Reihe die
inzestuösen Phantasien der Kindheit rmeaktiviert. Dies läßt sich in der
Krankheitsgeschichte der Neurotiker leicht nachweisen, Der Weg zu diesen
Phantasien, sofern er nicht schon verlegt ist, wird durch teilweise Ge-
fühlsablösung (Entfremdung), mehr noch durch die fast ausnahmslos aus-
geübte Onanie in diesem Alter weiter verbaut. Wir können im vorliegenden
Falle annehmen, daß eine sehr starke Belebung der inzestuösen Libido er-
folgt war, die aber nicht zur Geltung kam, weil die aktive Masturbation
alle Phantasien auf sich abzog. (Es spricht nicht dagegen, wenn in die
regulative Aufgabe der Onanie auch die Abfuhr der unbewußten Homo-
sexualität wnit eingerechnet wird.) Eine Spur dieses Vorganges finden wir
in jenen Phantasien, die sich mit den „‚Ersatzeltern“ beschäftigen. Die
Beharrlichkeit der Phanwzeien soll uns da der Gradmesser für den Weiter-
bestand der dahinter liegenden Inzestgedanken sein. "va
Mit dem Gesagten ist zugleich die Antwort auf die Frage gegeben,
welche symptomatische Bedeutung dem exzessiven Schamgefühl zukommt,
Es fällt durchaus nicht aus der Reihe der übrigen Symptome®), und ist
wie diese zu werten. Es steht in enger Beziehung zu den lange gepflogenen
Masturbationsphantasien und zur Onanie selbst, deren Stelle es zuletzt ganz
einnimmt. Das einfache Erröten verdeckt — oder entdeckt — in der Phan-
R 2 Siehe Freud, Zur Einführung des Narzißmus. Kleine Schriften, IV, Folge,
5 i
?) Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905, Seite 42, .
| 3) Die in der Anamnese erwähnten Zuckungen mit dem linken Beine sind.
durch die frühere Masturbation bedingt, Ich möchte hier auf ein beobachtetes
Symptom hinweisen, das in erster Reihe die Musikpädagogen interessiert, Es
gibt Schüler, die beim Spielen das Zeitmaß nicht einhalten und in der Pra
zision des Taktes leise schwanken. Oft gehört ein geübtes Ohr dazu, diesen
Fehler überhaupt zu merken. Er verrät as durch Dissoziation der Gedanken
(Wachträume) gestörte Aufmerksamkeit und beeinträchtigt die musikalische
Erziehung. Daß dabei Önaniephantasien eine Rolle spielen, beweist die Mit-
beteiligung der Finger, | |
Dr. Aug. Stärcke: Ein einfacher Lach- und Weinkrampf. 199
tasie auftauchende sexuelle „Nebengedanken“, die meist unbewußt sind.
Im vorliegenden Falle ist die biologische Anbahnung dazu benützt, Trägerin
einer speziellen Aufgabe zu sein. Wir werden uns nicht sehr von der Wahr-
heit entfernen, wenn wir annehmen, daß es sich diesmal um ein sogenanntes
Onanieäquivalent handelt, wie es Ferenczi!) jüngst beschrieben
hat. Den Mechanismus dieses Symptoms können wir uns kurz auf folgende
Weise klarmachen. Eine (aus den Träumen erkennbare) infantile Exhibi-
tionslust mag sich in sehr frühen Stadien innig mit den Masturbations-
phantasien verbunden haben und ermöglichte diesen „die Verschiebung
von unten nach oben“, d.i. auf das Gesicht, dem dauernd freigehaltenen
Teile des Körpers.?2) Auch die Natur der unbewußten Phantasien, welche
sich hinter dieses exzessive Erröten verbergen, läßt eine Deutung zu, wenn
wir uns den eingangs erwähnten Zusammenhang zwischen der Scham-
reaktion und der Harnentleerung vorhalten. Die Funktion des Urinlassens
hat für die Patientin im Unbewußten stets eine doppelte Bedeutung gehabt:
die der infantilen Selbstbefriedigung (früheste Onanie) und die der männ-
lichen Rolle im Sexualakt (Trauma). Ihre ‚Schamsucht“ nimmt auf beide
Bezug; sie ist primitiv-erotisch. Die Analyse hat deren Herkunft aufge-
deckt und der Objektliebe dadurch Spielraum verschafft ?®).
2.
Ein einfacher Lach- und Weinkrampf.
Von Dr. Aug. Stärcke.
(Anstalt Willem Arntsz Hoeve, den Dolder, Holland.)
Während der vorigen Epidemie von influenzaähnlicher Rachenkrank-
heit wurden mehrere Pflegerinnen einer Abteilung zugleich von der In-
fektion ergriffen, und es war notwendig, sie alle zusammen in ein gemein-
schaftliches Krankenzimmer übersiedeln zu lassen, um sie besser pflegen
zu können, und die gesund gebliebenen nicht zuviel zu belasten. Bis dahin
war es üblich gewesen, daß die kranken Pflegerinnen in ihrem eigenen
Zimmer gepflegt wurden, wie es auch dann noch mit der Oberin und ihrer
Stellvertreterin, die an anderen Krankheiten litten, der Fall war.
Eines Morgens höre ich beim Morgenbericht, daß auch die junge Pfle-
gerin, die notgedrungen einige Tage als Haupt eines Pavillons fungiert hatte,
sich krank fühle und zu Bette gehen wolle Nichtsdestoweniger sehe ich
sie die folgende Stunde auf meinem Kurse. Gleich darauf ist sie zu Bett
gegangen.
Von der mich begleitenden Pflegerin höre ich, daß sie schon erklärt
habe, sich unter keinen Umständen in das Krankenzimmer bringen lassen
zu wollen,
Bei meinem Hereintreten sitzt sie aufrecht, fängt gleich krampfhaft
zu lachen an, was sich bald mit Schluchzen mischt, wirft sich auf die
1) Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse. Intern, Zeitschrift
für die Psychoanalyse, V. Jahrg,, 1. Heft.
2) Es besteht ein Unterschied zwischen dem Schamgefühl der Kleinen
und der Erwachsenen. Die ersteren kennen das Erröten noch nicht; ihre Scham
ist mehr motorisch, sie verbergen ihr Gesicht in den Händen oder sonstwie.
8) Völkisches zum Thema: Auf dem ungar. Lande wird das fiebergerötete
Gesicht der Kranken oft mit dem eigenen Urin gewaschen. Die jungen Dorf-
schönen wollen wissen, daß Urin ein kosmetisches Mittel ist.
Zeitschr. f, ärztl, Psychoanalyse. V/3. 14
WE WERE 7
ständen nicht mehr gewachsen ist. Auch hat sie Kopfschmerz, Mr
200 Mitteilungen.
linke Seite, d.h. mit dem Rücken zu uns gewendet, zieht das rechte Bein
krampfartig auf und streckt das linke Bein. Nach einigen Augenblicken
wird sie ruhiger und sagt, sie fühle sich so nervös, daß sie den Uns
Darin bestand das einfache Symptom von kleiner Hysterie. Obgleich
eine eigentliche Analyse nicht stattfand, will ich ihm einige Worte wid-
men, weil es hier ein übrigens gesundes junges Mädchen betraf, und weil *
die Besonderheiten zur Erforschung der Ursachen günstig waren, Dam |
wollen wir unsere Betrachtungen Schicht für Schicht vertiefen. N:
Die erste Überlegung ergibt dies: die Patientin war in einem Zu- 7 .
stand ängstlicher Erwartung. Sie fürchtete, aufs Krankenzimmer Br
schickt zu werden. Ihr Stolz empörte sich dagegen. z
Diesen Eindruck mit ihrem Charakter vergleichend, insoweit wir ;
kennen, ist es wohl erlaubt, „Stolz“ durch „Narzißmus“ zu ersetzen, Fr
Sie zeigt eine gewisse Selbstüberschätzung, sie ist oft von tückischer
Laune, kann mit Pflegerinnen, die unter ihrer Aufsicht arbeiten m ei
nicht leicht auskommen. Im Gespräch zeigt sie eine Geringschätzung ne
Kolleginnen, berühmt sich einigermaßen, daß sie hier keine einzige Frenns ie
din hat, mit niemand umgeht, A
Es {ist auch nicht das erstemal, daß wir mit ihrem übertriebenen Ai
Narzißmus Bekanntschaft machen. Vor etwa zwei Jahren wurde sie wäh
rend des Urlaubs eines Kollegen auf seiner Abteilung von mir krank :
Bette getroffen. Sie war damals seit zwei Wochen krank. Ich konstatiert
einen Spitzenkatarrh, und stellte, falls nicht durch Ruhe bald Besserung
erfolge, Behandlung durch einen Spezialisten in Aussicht, Dies ward
schon zuvor von ihr abgewiesen, und zwar, wie sie später auslegte, weil sie
die Idee, Tuberkulose zu haben, so abscheulich fand. Lieber als die Wirk
lichkeit anzuerkennen und die geeigneten Mittel dagegen anzuwenden, will
sie die Vogel-Strauß-Politik spielen und sich am narzißtischen Gesunc
heitswahne festklammern. |
Die Tuberkulose besserte sich durch Ruhe so weit, daß sie wieden fi
dienstfähig 'war, sei es auch mit fortwährender geringer Gewichtes al me |
und etwas erhöhter Abendtemperatur, Meist nahm sie aber die Temperatur
nicht auf, aus demselben Grunde. Das letzte Jahr arbeitete sie auf ein Br
weniger schwierigen Abteilung und nahm dort an Gewicht zu; augeı n-
scheinlich ist die Tuberkulose abgeheilt. 2
Es kann nicht befremden, daß, als sie sich nach einer beschäftig 2.-
Woche etwas ermüdet fühlte, der Gedanke: sollte es wieder die Tuberkulos
sein, die den Kopf wieder erhebt, sich ihr aufdrängte (am a d:
Tage spontan von ihr erklärt), während dagegen der narzißt 7
Faktor, welcher diesen Gedanken eben fortzuschaffen strebte, dadu Rn
verstärkt war, daß sie während dieser Woche mit melr Autorität als - £
wöhnlich bekleidet gewesen war, n-
Also: Verstärkung des Konflikts durch Verstärkung der beidenn st
tenden Kräfte. | F
Bei meinem Hereintreten wurde er akut: Jetzt wird man’s haben, nun
sollte die Wahl getroffen werden, wahrscheinlich wird der Doktor mich
aufs Krankenzimmer senden wollen und ich werde entscheiden müssen, ob
ich mich unterwerfen — was meine Unfehlbarkeit und Allmachtsphantasien
antasten würde — oder mich dagegen auflehnen würde, — was mich dann
Dr. Aug. Stärcke: Ein einfacher Lach- und Weinkrampf. 201
wohl in Schwierigkeiten verwickeln könnte, So ungefähr könnte man sich
ihre Gedanken, ins Bewußte übersetzt, vorstellen.
Dieser schwierigen Entscheidung entzieht sie sich dadurch, daß sie
sich für einige Augenblicke ins Beratungszimmer, d. h. in den Traum-
zustand, zurückzieht.
Sie ‚wendet sich dabei von uns ab, zum Unbewußten, wo kontradikto-
rische Kräfte nebeneinander bestehen können, und äußert sich ambivalent
(Lachen und Weinen).
Die Technik entnimmt sie vielleicht der unmittelbar vorangehenden
Kursstunde, wo der Unterschied zwischen hysterischem und epileptischem
Krampfanfall das zuletzt Besprochene gewesen war.
Es versteht sich, daß wir vom analytischen Standpunkt mit dieser
Deutung nicht zufrieden sein können. a}
Eine weitere Schicht können wir abbauen von der Erwägung aus,
daß eine derartige Handlung eine Übertragung von erotischen Gefühlen
demjenigen gegenüber andeutet, dem sie sich zur Schau stellt. Diese Zur-
schaustellung eines Affektes hat hier außerdem den Zweck, mich zur Milde
zu verlocken, nach der alten Vorschrift des Liedchens:
„Ach, Kapitänchen, zürne mir nicht,
Ich bin dein Liebchen, wie du es siehst,“
Das Weib meint, seine Schuld immer mit Liebe bezahlen zu können
(und hat damit vielleicht Recht).
Wenn sie sich vor dem Krankenzimmer fürchtet, ist das nicht nur,
weil sie sich dadurch zur Kranken gestempelt fühlt, denn das gälte ja
auch dem Krankliegen auf ihrem eigenen Zimmer. Vielmehr dürfen wir
vermuten, daß ein starkes Schamgefühl, auch ihren eigenen Geschlechts-
genossinnen gegenüber, im Spiele ist, mit anderen Worten, daß der Nar-
zißmus hier in einem verdrängten homosexuellen Faktor eine Hilfskraft
findet, der in erster Linie seine negative Seite manifest zeigt.
Die Furcht vor dem Bewußthalten des Gedankens, tuberkulös zu sein,
weist auf die Verknüpfung des Krankheitsbegriffes mit einer Erinnerung,
die nicht bewußt werden darf, mit anderen Worten auf die Auffassung
der Tuberkulose als Bestrafung. Wir könnten weiter vermuten, daß eine
Ausbreitung der Kastrationsfurcht, des Gedankens, körperlich beschädigt
zu sein, als Bestrafung von erotischen Sünden, dahinter stecke, aber hätten
dann kein faktisches Material, um dies zu begründen. Jedenfalls steckt
hinter der Furcht ein Wunsch, aber ein verbotener Wunsch, der einen
Bestrafungsgedanken nach dem Taliongesetz nach sich schleppt. Der
Wunsch darf nicht bewußt werden, und darum die Bestrafung auch nicht.
Der Weg zu einer dritten, tieferen Schicht wird uns von einer Be-
gebenheit einige Wochen vorher gewiesen.
Nach dem Krankenbesuch nahm sie mich dann beiseite und teilte mir
mit, daß sie an Hämorrhoiden zu leiden glaube. Sie fühle einen harten
Knoten, der ihr Schmerz verursache und beim Sitzen hindere. Ich erklärte
Inspektion für notwendig, was sie nach kurzem Sträuben auch gut fand.
Es fand sich eine große, entzündete, äußere Hämorrhoide; sie bekam
einen Prießnitz und den Rat, den Knoten, falls er nicht verschwinden
würde, nach zwei Tagen noch einmal zu zeigen.
Ein paar Tage später fragte ich sie, ob es ihr besser wäre; es war
aber ihrer Meinung nach unverändert. „Dann werden wir noch mal nach-
14*
202 Mitteilungen.
sehen,“ sagte ich, „Nein,“ sagte sie dann; weitere Auskunft war nicht
herauszubekommen, man bekam keine andere Antwort als ein trotziges
Kopfschütteln. Endlich fragte ich: „Ist das nun Furcht vor Schmerz
oder falsche Scham?“ „So schmerzempfindlich bin ich nicht,“ war dann
ihr Bescheid. Darauf erhielt sie eine Bemerkung und die Entscheidung,
sie müsse es selbst wissen, und auch die Verantwortung selbst tragen.
Zwei Umstände muß ich noch erinnern. Bei der Untersuchung hatte
ich ihr einige Zeit gelassen zur Ördnung ihrer Kleider, Bei meinem
Hereintreten hatte sie aber diese Gelegenheit noch nicht benutzt, wie
sich herausstellte, sondern wartete neben ihrem Bette, Also wollte sie
entweder mich diesem Akte beiwohnen lassen oder sie schwankte noch,
ob sie die Untersuchung gestatten wolle oder nicht.
Der zweite vermeldenswerte Umstand betrifft die Körperhaltung bei
der Untersuchung. Ich ließ sie auf die linke Seite legen, das linke Bein
gestreckt, das rechte gebeugt, d, h. genau die Haltung, welche sie in
krampfhafter Weise während des Lach-Weinkrampfes einnahm. Diese
Übereinstimmung könnte zufällig sein, doch wird sie wichtiger bei der
Erinnerung, daß ich noch einmal einem, wenn auch noch weniger auf-
fallenden, nervösen Schluchzen von ihr beigewohnt habe. Das war eines.
Abends; sie stand im Korridor und schluchzte ein bißchen; als Ursache
gab sie an, nervös zu sein wegen des Ringens mit den Kranken. Ein
paar Minuten früher hatte sie nämlich mit fünf oder sechs ihrer Kol-
leginnen einen Thermometer einführen müssen bei einer Dame, die krank
zu sein und zu fiebern erklärt, aber die Temperaturaufnahme verweigert
hatte.
Die sich aufdrängende Vorstellung ist diese: eine starke Analerotik
ringt bei dieser Pflegerin mit der Verdrängung und hat während der
ersten gestatteten ärztlichen Untersuchung zum Teil bewußt gewordene
Versuchungsvorstellungen veranlaßt. Diese wieder haben ein Nachdrängen
verursacht, worauf die Verweigerung der zweiten Untersuchung zurückgeht.
Bei meinem Hereintreten in dasselbe Zimmer tritt die Versuchungs-
vorstellung wieder auf und kommt in dem kurzen Dämmerzustand zum
Durchbruch, wobei sie die ee ar u ER wiRGeLz ein-
nimmt. |
Ich finde eine Bestätigung dieser A in den Fragen, auf die
sie im Kurse mit einer Art Stupor reagiert hatte, wobei keine Antwort
zu erhalten war. Es waren:
ä des bewußtlosen Kranken (gemeint war IE. p. Rectum);
Mans Entleeren der Blase (mit einem Finger per R.);
Anwendung von physiologischer Salzlösung (hiebei u. a. das Tropf-
klysma),
Zur Theorie übergehend, finden wir, daß die Hauptrolle hier dem
Narzißmus und der Analerotik zufällt, wie wir mit einiger Wahrschein-
lichkeit aussagen können.
Es scheint mir, daß von diesen beiden Momenten der Narzißmus
nur dann als das ältere angesehen werden kann, wenn man das intrauterine
Leben außer Betracht läßt. Ich kann mir den Narzißmus nur als Verdich-
tung ältester mnemischer Reizwirkungen vorstellen, dem zeitlebens noch
mächtige Zuflüsse aus allerlei erogenen Zonen zuströmen, Neben dem
gewöhnlichen genitalerotischen Kerne des Narzißmus kennt man
z.B. den Ehrgeiz der Harnerotiker. Vom oralerotischen Nar-
Dr. Karl Abraham: Bemerkungen zu Ferencezis Mitteilung üb. „Sonntagsneurosen*, 203
zißmus zeugt die hervorragende finanzielle Position der Zahnärzte. Der
Trotz, den wir bei dieser Pflegerin mit ihrem Narzißmus in Verbindung
zu bringen Ursache hatten, ist, wenn nicht identisch, doch wenigstens
nahe dem Eigensinn verwandt, einem analerotischen Charakter- °
zuge. Es kommt mir vor, daß der Narzıßmus ein sehr zusammengesetztes
Endergebnis einer Entwicklung sein muß, bei der u. a. eine starke Anal-
erotik eine gewisse Rolle spielt. Weit davon, daß er als primär erklärender
Faktor dienen könne, bedarf er selbst der Erklärung und der Analyse!),
sonst würde er in der Theorie dieselben Dienste leisten wie bei den Pa-
tienten, nämlich diejenigen einer Maske der Analerotik,
Im allgemeinen ist wohl das Lob, welches das kleine Kind für seine
exkrementellen Funktionen erntet, ein als Prämie für das Aufgeben einer
Lust oft übertriebenes Lob, vom Kinde als Selbstüberschätzung ange-
nommen, eine der Quellen des Narzibmus.
Je mehr Mühe dieses Stück der Erziehung kostet, desto mehr Lob
wird daran gespendet, desto mehr Ursache gibt es aber für spätere Selbst-
überschätzung,
In unserem Falle können wir annehmen, daß starke analerotische
Quantitäten in narzißtische Charakterzüge verarbeitet wurden. Die Si-
tuation fordert das Aufgeben der narzißtischen Position. Durch eine
anale Krankheit gelockert, geht im kritischen Augenblick der gereizte und
bestrittene Narzißmus in Regression und gibt dabei einen analerotischen
Faktor frei. |
Inter faeces et urinas nasceimur; diese Position bleibt entscheidend
für unser Leben.
3.
Bemerkungen zu Ferenezis Mitteilung über „Sonntagsneurosen“.?)
Von Dr. Karl Abraham (Berlin).
Temporäre Verschlimmerungen nervöser Zustände im Zusammenhang-
mit Sonn- und Feiertagen, Ferien usw. sind auch mir nicht selten begegnet.
Die folgenden Bemerkungen zur Ätiologie dieser Schwankungen sollen
Ferenczis Ausführungen in keiner Weise widersprechen, sondern sie
in gewisser Richtung ergänzen,
Eine erhebliche Anzahl von Menschen vermag sich vor dem Ausbruch
schwererer neurotischer Erscheinungen nur durch intensives Arbeiten zu
schützen. Infolge zu weitgehender Triebverdrängung besteht bei ihnen
dauernd die Gefahr, daß Erregungsquantitäten sich in neurotische Sym-
ptome umsetzen. Durch die angestrengteste Tätigkeit im Berufe, im Stu-
dium oder in ihrem sonstigen Pflichtenkreis lenken sie sich gewaltsam
von den Forderungen ihrer Libido ab. Sie gewöhnen sich an Arbeits-
leistungen, die weit über das objektiv Notwendige hinausgehen. Die Arbeit
wird ihnen ähnlich unentbehrlich — und zwar in immer gesteigerten
Dosen —, wie dem Morphinisten sein gewohntes Gift. Bricht bei diesen
Neuropathen eines Tages eine eigentliche Neurose aus, so sind Ärzte und
Laien rasch mit einer Scheinätiologie zur Hand; sie lautet: „Überarbei-
1) Dies wurde 1916 geschrieben. Seitdem hat vor allem die wichtige
Arbeit von V. Tausk (Heft 1 dieses Jahrganges) vieles aufgeklärt,
2) Heft 1 dieses Jahrganges, S. 46 f.
204 Mitteilungen. 2
tung.“ In einem Teile der Fälle vermag die Arbeit das Drängen der
Libido nicht dauernd niederzuhalten; irgendwann bricht diese sich auf
dem Wege der Konversion dennoch Bahn. In anderen Fällen — die uns
hier besonders angehen — treten neurotische Symptome, mehr oder weniger
schwer und akut, dann hervor, wenn die Arbeit durch äußere
Umstände unterbrochen wird. Das durch die Arbeit mühsam
erhaltene seelische Gleichgewicht geht so für die Dauer des Sonntags,
der Feiertage usw., oder aber für längere Zeit verloren. Bei Wiederbeginn Bi
der Arbeit fühlen sich die Patienten sogleich wieder wohler, ba
Aber noch ein anderer Faktor verdient Beachtung. Die große Mehr-
zahl der Menschen benützt den Sonntag zum Lebensgenuß, sucht den
Tanz und überhaupt die Gesellschaft des anderen Gesohlechtes. So er-
innert der Sonntag unsere Patienten in unerwünschter Weise an die Ge
bundenheit des eigenen Trieblebens, besonders an ihre Unfähigkeit "sur"
Annäherung an das andere Geschlecht. Einer meiner Patienten mied am
Sonntag die Straße, um dem Anblick der Liebespaare zu entgehen. Int ze
trüber Stimmung und quälender Unruhe hielt er sich im Hause Die
Pein dieser Insuffizienzgefühle schwindet mit dem Ablauf des
Sonntags. ‘Am nächsten Arbeitstag vermögen unsere Patienten sich im
Gegenteil ihren Mitmenschen überlegen zu fühlen, weil diese ihnen
an Arbeitsleistung nicht gleichkommen. 3 Sm
Während des Krieges sah ich eine Reihe von Soldaten den militä-
rischen Dienst mit übertriebener Gewissenhaftigkeit ausführen, Sie hielten
sich auf diese Weise relativ symptomfrei, Jeder Urlaub wirkte nachteilig
auf sie, indem er stärkere neurotische Erscheinungen auslöste. Ein Offizier
litt während der unfreiwilligen Ruhe des Stellungskrieges unter starken
neurotischen Beschwerden; er bat seine Vorgesetzten stets, ihn an einen
möglichst bewegten Teil der Front zu versetzen, damit er von seinen Be-
schwerden frei werde. |
Körperliche Erkrankungen oder Unfälle, die den Betroffenen zur Un-
tätigkeit zwingen, ziehen nicht selten den Ausbruch oder die Verschlim-
merung einer Neurose nach sich, Man bringt dann die Neurose gern in
einen ätiologischen Zusammenhang mit der vorausgegangenen Infektion,
dem Unfall usw. Nicht selten läßt sich alsbald feststellen, daß die unter-
drückte Libido den Patienten zu der Zeit überwältigt hat, als er zur Un-
tätigkeit genötigt war. >
Mit Hinblick auf die regelmäßige Wiederkehr der „Sonntagsneurosen“
möchte ich daran erinnern, daß ein anderes, rhythmisch sich wieder-
holendes An- und Abschwellen der Neurose zwar in seiner Erscheinung
wohlbekannt ist, aber noch keine Berücksichtigung in der psychoanalyti-
schen Literatur gefunden hat. Ich meine die alltäglichen Schwan.
kungen im Zustand der Neurotiker. Geläufig ist dem Arzte besonders —
der Typus des Neurotikers mit depressiver Stimmung am Morgen und
Euphorie am Abend. Es würde sich verlohnen, auch diese Eigentüm-
lichkeit im Ablauf vieler Neurosen einer gesonderten Bearbeitung zu unter-
ziehen. Aus einer einzelnen Beobachtung kenne ich ferner die jährliche
Exazerbation einer Neurose (Angsthysterie) im Winter um die Zeit der
kürzesten Tage; sie schwand jeweils mit dem Eintritt der längeren Tage.
Dr. E. Hitschmann: Über eine im Traume angekündigte Reminiszenz. 205
4.
Über eine im Traume angekündigte Reminiszenz
an ein sexuelles Jugenderlebnis.
Von Dr. E. Hitschmann.
Nach l4tägiger Behandlung erzählte eine Patientin folgenden Traum:
„Ich habe zu Hause Klavierstunde; der Professor verlangt, ich solle
spielen. Er hat aber ein längliches Zeug (ein Brett?) mitgebracht und
zündet es an einem Ende an. Ich soll die Hand ins Feuer stecken,
weigere mich erst und tue es dann doch. Einige Mädchen ärgern sich,
daß ich mit dem Professor sitze und sie nicht ins Zimmer hereinkönnen,
Dann kommen sie herein und ich soll eine Operette spielen. Ein Mädchen
frisiert mich, worauf der Professor aufsteht, zur Tür geht und spöttisch
lächelt. Ich finde das Frisieren im Salon am Klavier auch lächerlich.“
Die Deutung des Traumes auf Grund von Einfällen zeigt, daB es ein
Übertragungstraum auf den Arzt ist; die ersten paar Stunden waren der
Patientin zu Hause gegeben worden, der „Professor“ hatte die Augen des
Arztes und ein an ihm gesehenes spöttisches Lächeln. Die Eifersucht
der Mädchen (Schwestern) auf die Behandlung, die ihnen die Schwester-
Patientin mit Beschlag belegt, ist deutlich. Die Einfälle aber versagen
bei jenem länglichen Holzstück, das auf Befragen als 6 Zentimeter breit
und 1/, Meter lang charakterisiert wird, sowie dem Hineingreifen ins Feuer.
Erst elf Tage später wird die dem Arzte sofort klare, aber der Patientin
verschwiegene Sexualsymbolik (Angreifen des erigierten Penis) durch eine
von der Patientin unter Widerstand berichtete, seit fünf Jahren vergessen
gewesene und nun plötzlich aufgetauchte Erinnerung aus dem zehnten
Lebensjahre voll bestätigt. Sie lautet: „Als ich mit etwa zehn Jahren
mit meinem damals 17jährigen Onkel allein, im Garten von einem Baume
Pflaumen pflücken wollte, hob er mich hoch in die Höhe und kitzelte mich
dabei an den Beinen. Ich warf die Pflaumen erzürnt zu Boden und ad
einige. Der Onkel steckte andere in seine Hosentaschen, legte sich auf
die Wiese und ich nahm ihm die Pflaumen aus den Taschen. Eine Hosen-
tasche war zerrissen und ich zog eine Weile an seinem Grliede, als wäre
es eine Pflaume, ohne es recht zu wissen. Er war befriedigt. Endlich
aber merkte ich es, war sehr erzürnt, nannte ihn ein Schwein und lief
davon. Ich wusch mich, hatte, aber noch lange einen Ekel vor ihm
und ließ mich nicht mehr von ihm küssen, obwohl er mich den Schwestern
vorzog. Nun fiel mir auch das angezündete Holz, das ich angreifen sollte,
qus dem neulichen Traum ein und ich glaubte es zu verstehen.” — Die
Reminiszenz des Jugendtraumas ist im Traume angekündigt worden, die
Übertragung auf den Arzt hat das alte Sexualerlebnis mit Energie be-
setzt, auftauchen und auf das neue „Liebesobjekt“ übertragen lassen.
Für die Zweifler an der Sexualsymbolik des Traumes ist auch ein gutes
Stück Belehrung an diesem Beispiel zu holen.
206 Mitteilungen.
5
Eine besondere Äußerungsform der Kastrationsangst.
Von Dr. Sändor Rädo (Budapest),
Ein junger Student, der wegen Zwangsneurose in psychoanalytischer
Behandlung steht, sprach mir im Laufe der Kur öfters von der Abneigung,
die er gegen die Wissenschaft der darstellenden Geometrie ver-
spürt. Diese Disziplin sei ein Ballast des Lehrplanes, ein uninteressantes,
langweiliges, steriles Wissen, habe in seinem zukünftigen Berufe —
er will Maschineningenieur werden — gar keine praktische Verwendung
u.dgl. Diese Ansicht des Kranken war mit seiner Intelligenz und seinem
sonstigen Verständnis für die technischen Wissenschaften nicht gut ver-
einbar. Ich mußte annehmen, daß sie durch unbewußte Motive deter-
miniert ist, konnte aber den Sachverhalt zunächst nicht durchschauen.
Eines Tages erzählte nun der Kranke, dessen Seelenleben u.a. von
starker Kastrationsangst beherrscht war, verschiedene Szenen aus seinem
Leben, in denen er dem Schweineschlachten zugesehen hatte, was ihm stets
die peinlichsten Affekte bereitete. In die Schilderung einer solchen Be-
gebenheit vertieft, gebraucht er plötzlich bei der trivialen Beschreibung
der Arbeit des Selchers das in diesem Zusammenhange seltsam anmutende
Wort „Schnittfigur“ Ich mache ihn auf diese sonderbare stilistische
Wendung aufmerksam und halte ihm vor, der von ihm gebrauchte Aus-
druck sei ja ein Terminus technicus der darstellenden Geometrie, Hierauf
folgen Einfälle, die den Patienten zu der eigentlich so naheliegenden Er-
kenntnis verhelfen, daß die darstellende Geometrie mit Ausdrücken wie
„Schnitt, Schnittebene, Schnittfläche, Schnittpunkt, Schnittlinie, Schnitt-
gerade etc.“ förmlich gesättigt ist, ja daß schließlich diese ganze Wissen-
schaft von Darstellungen in Ebenen handelt, welche den Raum durch-
schneiden. Er gibt dann unter lebhafter Affektäußerung zu, daß seine
sonderbare Abneigung gegen die darstellende Geometrie durch die Kastra-
tionsangst bedingt war und verspricht sich, seine vernachlässigten Studien
in diesem Gegenstande von neuem in Angriff zu nehmen.
Wir haben noch in anderem Zusammenhange gewonnenes Material
zur Sicherung dieser Deutung heranziehen können. An dem Kranken
wurde zur Zeit der Pubertät unter dem Vorwand einer Röntgenunter-
suchung eine Blinddarmoperation vorgenommen. Ohne in die Wür-
digung dieses Ereignisses — das auch in anderer Hinsicht schwere psy-
chische Folgen zeitigte — hier näher einzugehen, beschränke ich mich
auf die schematische Darstellung der Gedankenkette, welche beim Zu-
standekommen obiger Affektverschiebung mitbeteiligt war:
Röntgenaufnahme— Darstellung in der Ebene En geg-
die en-
Kastrations- Z ! ! Da schaft der dar-
Sa RE re, F stellenden
Operation — —— Wissenschaft Geometrie.
Kritiken und Referate,
E. Bleuler, Die psychologische Richtung in der Psychia-
trie, (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. Band II,
Heft 2. Sonderdruck. Zürich 1918. Orell Füßli.)
Bleuler, der sich unentwegt für die Anwendung der Psychologie in
Neurosologie und Psychiatrie einsetzt, tat dies mit besonderer Energie
vor seinen Landsleuten auf der Jahresversammlung der Schweizerischen
Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1917. Seine Indignation über
das Mißverstehen und die Verstocktheit der offiziellen Psychiater ist tief.
Die sterile Psychologie der Philosophen behandelt er mit Verachtung:
„In der kleinsten Abhandlung von Freud ist mehr von dem, was man
brauchen kann, als in der ganzen Psychologie Herbarts oder in den
beiden Bänden von Volkmann von Volkmar.“ Freuds Verdienste
um die Psychologie der Psychosen und Neurosen werden nicht ohne
Einschränkungen, aber mit Überzeugung gewürdigt.
Dr. E. Hitschmann.
Dr. Oskar Pfister: „Wahrheit und Schönheitin der Psycho-
analyse.“ (Zürich 1918, Rascher & Cie.)
Derselbe: „Ein neuer Zugang zum alten Evangelium.“ (Gü-
tersloh 1918, C. Bertelsmann, Preis M. 2-50.)
Im Pfarrer Pfister findet die Psychoanalyse den unermüdlichsten
und enthusiastischesten Propagierer. In klarer, bildreicher und immer
origineller Darstellung wendet er sich in Vorträgen an Theologen und Päda-
gogen und gibt dieselben dann in handlichen Bändchen gesammelt heraus.
Die Heilerfolge an seinen Gemeinde- und Schulkindern sind anscheinend
ausgezeichnete, und ohne die Wirkung seiner Persönlichkeit und seiner
beruflichen Stellung nicht ganz zu erklären: denn seine Analysen sind
ungenügend, vielfach kursorisch oder Torsi. „Es gibt auch Fälle,“ sagt
Pfister in der bereits (diese Zeitschrift IV. Jahrg., Heft 6, S. 344)
besprochenen Arbeit „Was bietet die Psychoanalyse dem Erzieher?“, „in
denen selbst die Psychoanalyse in wenig Minuten oder Stunden eine
sehr schwere seelische Verwicklung bleibend lösen kann“, Ein Lehrer
„wird nach einigen Wochen analytischer Arbeit von Lebensüberdruß,
schwerer religiöser Angst, Absperrung von den Menschen und einigen
anderen Symptomen befreit“. Teils mag vielleicht des Autors große Er-
fahrung die Analysen abkürzen, teils ist es seine Stellung als Pädagoge
und Seelsorger, die ihn alsbald ‚nach der rein negativen Erlösungs-
arbeit der Psychoanalyse“ mit großer Autorität gegenüber dem meist
208 Kritiken und Referate,
jugendlichen und bildsamen, oder doch mehr weniger religiösen Ma-
terial Suggestionswirkungen ausüben läßt: er vertauscht bewußt die
Rolle des Analytikers mit der „des Vermittlers großer Lebensinbalte“,
Seine Analysanden entsprechen nicht unseren schweren chronischen Pa-
tienten, denen gegenüber Freud bekanntlich übergroßen erzieherischen
Ehrgeiz ebensowenig zweckmäßig findet wie den therapeutischen, und
durch eine sorgfältige Technik das Zustandekommen vorläufiger Sug-
gestionserfolge zu verhüten sucht, „Nur bei der Lösung von Entwicklungs-
hemmungen macht es sich von selbst, daß der Arzt in die Lage kommt,
den frei gewordenen Strebungen neue Ziele anzuweisen“ (Freud). Zu
dieser bescheidenen Zurückhaltung des Arztes, die Pfister nach Gebühr
schätzt, fühlt er sich als Erzieher und Pfarrer gar nicht verpflichtet
und läßt überall christliche und moralische Einflüsse mit Erfolg Boden
gewinnen. Es wäre interessant zu hören, wie erfolgreich und wie viele
Lehrer und Seelsorger auf Pfisters Anregung sich gleichfalls psycho-
analytisch betätigen. Wertvolles Material, das bizarre Sekten, schwär-
merische Agitatoren mit verschrobenen Gedanken, krankhafte Privat-
religionen u, a. der Religionspsychologie bieten, werden wir den ana-
lysierenden Seelsorgern zu danken wissen.
Treffliche Worte der Ablehnung gegen Adlers Überschätzung der
Minderwertigkeitsgefühle und seine Desexualisierung der Psyche sowie
gegen gewisse Schweizer Willkürlichkeiten in der Traumdeutung zeigen
Pfister als unabhängigen Beobachter. Er versteht es ausgezeichnet, | F
die Lehren der Psychoanalyse zu popularisieren und den Argumenten der
Gegner die Spitze abzubrechen, Seine Ehrlichkeit der Überzeugung und
sein Mut des Vorkämpfens sind vorbildlich; er nennt die Psychoanalyse
eine Kopernikus-Tat. Dr. E. Hitschmann.
A. Maeder, Heilung und Entwicklung im Seelenleben
Die Psychoanalyse, ihre Bedeutung für das moderne Leben. (Zürich
1918, Rascher & Cie.)
Maeder machte mit seiner Überzeugung von einer „teleologischen
Funktion der Träume“ eine vollkommene Bekehrung, einen Wandel der
Persönlichkeit durch. „Die Entdeckung dieser ganz unbewußten und doch
so sicheren Tätigkeit, die Existenz einer höheren Instanz in der dunklen
Tiefe des Unbewußten machte mir“ — erzählt er — „persönlich
einen überwältigenden Eindruck; zumerstenmal wurde
mein Positivismus und meine mechanische Lebensauf-
fassung erschüttert.... Ein Wort Christi, das ich als
Kind auswendig gelernt, aber nie erfaßt hatte — ‚Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!‘ — warinmir
lebendig geworden. Es warein Gefühl von neuer Kraft
und von neuem Vertrauen zu unserer menschlichen Na-
tur und Bestimmung,“ Referent glaubt hier eine richtige religiöse
Bekehrung durch Regression zu erkennen, eine Rückkehr von der Wissen-
schaft zum Glauben, zu affektbetontem religiösen Jugenderleben. Ge-
steigertes Selbstgefühl läßt Maeder dann den Zeitgeist und die psycho-
logischen Ursprünge des Weltkrieges verstehen und erklären. Auch die
Züge der Askese fehlen nicht: „Sinnenlust und Geldgier bemächtigten
sich der Herzen und knechteten sie,... Der Mensch hat seinen Willen
"
#
D
v
Kritiken und Referate. 209
durch den Mißbrauch von Reizmitteln aufgepeitscht, er hat seine Er-
nährung in unnatürliche Bahnen gelenkt.... Zur Selbsttäuschung sucht
er einen Ersatz im Alkohol und anderen Giften.“
Es handelt sich um eine Bekehrung, die sich unter dem Einfluß
Jungs, Bergsons, Flournoys u. a, und vorauszusetzender persön-
licher Erlebnisse vollzogen hat. „Nichts ist natürlicher”, sagt Maeder,
„im Lande Zwinglis, Calvins, Rousseaus, Pestalozzis, als ein lebhaftes
Interesse für die Phase des Wiederaufbaues. Die Reedukation (Wieder-
erziehung) des Nervösen wird zur kommenden Aufgabe.“ Maeder er-
setzt konsequent das rein Psychoanalytische durch das Psychosynthe-
tische; eine neue Kunst der Führung des Seelenlebens (Psychogogie) ent-
wickelt sich ihm aus der analytischen Praxis heraus.
„Das Wort Christi erfordert, daß jede wirklich geborene oder neu-
geborene, lebendige Persönlichkeit selbst ihre Bahn sucht. Es handelt
sich nicht mehr darum. Nachfolger Christi zu werden und eine verarbei-
tete, verblaßte Lehre anzuwenden: wir haben in uns hinabzusteigen, in
die letzte Tiefe unserer Seele, um daselbst den Funken des wahren Lebens
zu finden, den wir durch unsere Pflege zu einem inneren, wärmenden und
leuchtenden Feuer entwickeln können.“
Wie wenig mehr diese neue Religion mit Freuds nüchterner For-
schung und Therapie zu tun hat, ist jedem rechten Psychoanalytiker klar;
wir verwahren uns dagegen, daß die Psychoanalyse in Zusammenhang mit
Spiritismus, Christian Science, Theo- und Anthroposophie genannt und
in Beziehung zur Mystik gebracht wird. Der Satz: „Freuds Psycho-
logie behandelt die menschliche Seele hauptsächlich vom kollektiven Stand-
punkt aus“ (S.14), widerspricht vollkommen den Tatsachen. Maeder will
„den Kontakt mitderanderen Welt, der Welt des Irrationalen, wiedererlangen,
eine Synthese des Mittelalters mit der modernen Zeit vollführen“. Man
fragt sich verwundert, was das mit der Freudschen Psychoanalyse zu
tun hat und verliert das Zutrauen zur Voraussetzungslosigkeit der Mae-
derschen Analysen und Traumdeutungen. Die Bekehrung auf Veran-
lassung der Entdeckung ‚der teleologischen Traumfunktion“ — entwertet
diese Veranlassung: denn erfahrungsgemäß ist die große Wirkung des
Anlasses bereits Ausdruck der vollen unbewußten Bereitschaft zum Wandel
der Persönlichkeit! | Dr. E. Hitschmann.
Dr. J. Mareinowski, Ärztliche Erziehungskunst und Cha-
rakterbildung. (Verlag von Ernst Reinhardt, München 1916,
Preis M. 1:20.)
In ungemein temperamentvoller Weise verteidigt der Autor die Psycho-
analyse gegen die bekannten Vorwürfe wegen ihrer angeblich demorali-
sierenden Wirkung. Er verweist auf die durch die Psychoanalyse geför-
derte Wahrheitsliebe und Selbsterkenntnis des Behandelten, auf seine Be-
freiung von Hemmungen, und Abhängigkeiten, wodurch erst das Nachreifen
des Analysierten und eine Erhöhung des sittlichen Niveaus ermöglicht ist.
Marcinowski begnügt sich aber nicht mit diesen im Zuge einer
Analyse „automatisch“ eintretenden Veränderungen, sondern setzt sich
für ein aktives erzieherisches Eingreifen, für planmäßigen Neuaufbau der
Persönlichkeit des Behandelten ein.
Gegen ein erzieherisches Eingreifen Menschen gegenüber, die es nötig
haben und sich hiezu eignen, ist gewiß nichts einzuwenden, aber ein solcher
210 Kritiken und Referate,
Vorgang liegt außerhalb der eigentlichen Psychoanalyse und hängt mit
ihr nur insofern zusammen, als die Psychoanalyse Vorbedingung und Anlaß
hiezu gewesen ist. Dr. Nepalleok,
Herbert Oczeret, Med. prakt,, Zürich, Die Nervosität als Pro-
blem des modernen Menschen. Ein Beitrag zur psycho-
logischen Weltanschauung. (Zürich 1918, Verlag Art. Institut Orell
Füßli.)
Eine Arbeit, in der der Autor sich nicht bloß als Arzt, sondern als
Psychologe mit der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Ner-
vosität des Menschen und ihrer Bedeutung als soziologisches Phänomen
und als Problem des modernen Menschen beschäf tigt. Nach einem kurzen
Überblick über die älteren Ansichten über die Nervosität, über die Ansätze
einer weiteren Auffassung bei Winternitz, unterzieht er die Theorien
von Freud, Jung, Adler einer Würdigung, in der er sich auf den
Boden der Jungschen Typentheorie, als über Freuds Lehre weit
hinausgehend, stellt. Nach Oczerts Meinung erfährt die Sexualität
durch Freud eine Überwertung auf Kosten anderer Triebe, und wird dem
Konflikt Ich-Sexualität gegenüber anderen Konflikten eine prädominie-
rende Stellung eingeräumt, die ihm nicht zukomme, Wenn Oezeret
auch die Verdienste Freuds um die Therapie der Neurosen anerkennt,
so dünken ihn doch Freuds Vorstellungen vom Triebleben zu eng; denn
er übersehe die Bedeutung des Machttriebes, die Adler voll erfasse,
und vollends einen dem Sexualbegehren gleich starken Trieb, die Faul-
heit. Wie Freud die Sexualität zu konkret fasse, verfalle Adler ins
Gegenteil, indem er alles nur als Symbol, Sprache, Bild werte, Daß beide
trotz ihrer verschiedenen Auffassungen Heilerfolge haben, erkläre sich
daraus, „daß sich unter den Patienten nach und nach eine gewisse in-
stinktive Arzttypenwahl gebildet hat“ Der Autor billigt Adlers Psycho-
logie als die richtigere, greift aber dessen Lehre von der angeborenen
Organminderwertigkeit an, Die Jungsche Typentheorie hält O,
für eine bedeutsame Verbreiterung der Basis der Neurosenlehre, Jungs
Auffassung des Machttriebes für einen Weg, ein besseres Verständnis des
Arztes für den seelisch leidenden Patienten zu erzielen, Sicher hat 0,
recht, wenn ihm das psychologische Verstehen des Arztes als unerläßlich
erscheint, nur ist diese Forderung, wenn auch in praxi selten erfüllt, in
ihrer Formulierung nicht neu und nicht erst aus Ju ngs Typentheorie
gewonnen,
Im Schlußkapitel des ersten Teiles der Untersuchung bringt OÖ. eine
interessante Zusammenstellung der kulturellen Einflüsse auf die Nervo-
sität und kommt zu der bekannten Erkenntnis, daß der „nervöse“ Mensch
ein Zeitphänomen und ein Produkt der kulturgeschichtlichen Entwicklung
ist und daß die mißglückten Anpassungsversuche dieses neuen Menschen-
schlages mit seinen neuen Zielen und Bedürfnissen an das Bisherige uns.
als Neurosen entgegentreten.
Der zweite Teil der Arbeit behandelt einige spezielle Probleme, das.
der Kindererziehung in den schon anderwärts und oft gehörten Worten
über sexuelle und religiöse Aufklärung, über Mangel und Übermaß an
Liebe etc., Worte, die sich trotz der steten Wiederholung so schwer in
die Praxis übersetzen lassen; die Mahnung des Autors an die Eltern, sich.
im Interesse ihrer Kinder zu einer klaren Weltauffassung durchzuringen,
Kritiken und Referate, 911
ist vielleicht weniger häufig ausgesprochen worden, aber gewiß ist sie
von hohem pädagogischen Werte.
Im Kapitel „Die nervöse Frau“ unterscheidet der Verfasser nach
einem kurzen historischen Rückblick auf die soziale Stellung der Frau
drei Typen: das normale, das neurotische Weib vor und in der Ehe und
die Virago, ihre Einfügung, resp. ihr Scheitern in ihrer Stellung als
Gattin und Mutter, wobei er in der Virago nur die Studentin sieht und
diesen Typus deshalb einseitig und nicht erschöpfend faßt. Ob die neuro-
tische Frau und ihr Gatte wirklich durch bloßen Zuspruch und Rat,
wie OÖ. in den „Briefen“ ihn gibt, aus der Versumpfung ihrer Ehe sich
reißen lassen und reißen können, bleibe dahingestellt.
Vom ‚„nervösen“ Mann erfahren wir zu wenig, allerdings macht der
Verfasser dafür Papiernot und Druckschwierigkeiten der gegenwärtigen
Zeit verantwortlich, Dr. H. Hug-Hellmuth.
Dr. Rafael Becker, Die Nervosität bei den Juden. Kin Bei-
trag zur Rassenpsychiatrie für Ärzte und gebildete Laien. (Zürich
1919, Verlag Art. Institut Orell Füßli.)
Derselbe: Die jüdische Nervosität, ihre Art, Entstehung
und Bekämpfung. (Zürich 1918, Verlag Speidel & Wurzel.)
Zwei rassenpsychiatrische Studien über die jüdische Nervosität, von
einem Juden geschrieben. Die Einstellung des Autors zum Stoffe hat
überall auf die Darstellung eingewirkt und ihr eine subjektive Färbung
gegeben. ‘Sicherlich nicht zu ihrem Nachteil; denn sie ist lebendig und
eindrucksvoll, ohne indes unwissenschaftlich zu sein. Dafür sorgen schon
die vielen statistischen Daten, die dem Verfasser als Material und als
Grundlage für seine Behauptungen dienen. Von diesen ist die wesent-
liehste: die Juden sind an den Geisteskrankheiten relativ stärker betei-
ligt als die anderen Völker, unter denen sie leben. Und zwar an den
Formen von angeborenem Schwachsinn, von senilen Demenzen, allen funkt
tionellen Neurosen, den Psychosen, die endogen bedingt sind (manisch
depressives Irresein, Dementia praecox, Paranoia), endlich an den durch
Syphilis hervorgerufenen Psychosen, wie Paralyse und Hirnlues. (In pa-
renthesi bemerkt, scheint mir der Ausdruck Psychosen für diese letzt-
genannten Erkrankungen nicht zutreffend. Ref.) An den Alkoholpsychosen
und der Epilepsie ist der Anteil der Juden ein geringerer, und zwar des-
halb, weil einesteils Alkoholismus unter den Juden überhaupt selten vor-
kommt, anderseits der ätiologische Zusammenhang zwischen alkoholischen
Eltern und epileptischen Kindern festgestellt erscheint, Die größere An-
fälligkeit der Juden gegenüber den übrigen genannten Geisteskrankheiten
ist auch nur eine scheinbare, Sie erklärt sich für die senilen Demenzen
aus der durchschnittlich längeren Lebensdauer der Juden, für die Formen
von angeborenem Schwachsinn u.dgl. aus dem bekanntermaßen hochent-
wickelten jüdischen Familiensinn, der sich auch in der Sorge um die geistig
minderwertigen Kinder bestätigt. Lediglich für die endogen-konstitu-
tionell bedingten Psychosen und alle funktionellen Psychoneurosen ist
ein unbedingter prozentualer Überschuß bei den Juden zu konstatieren.
Aber auch er darf nicht als Beweis für eine Rassendegeneration angesehen
werden, sondern er ist eine Folge der besonderen Artung der jüdischen
Psyche und ihrer Beeinflussung durch das Milieu. In diesem Zusammen-
hang gelangen die „seelischen Konflikte“ als ätiologische Momente bei
212 Kritiken und Referate,
en
den Psychosen und Psychoneurosen zu ihrem Rechte. Und dabei versi N it
Becker nicht der Verdienste zu gedenken, die sich Freud um die Auf f-
hellung dieser dunklen Gebiete erworben hat, ohne jedoch diese Verdienste
nach ihrem wahren Werte einzuschätzen oder zu erkennen. Sonst Beni R:
er wohl kaum Freud als Repräsentanten — „wenn auch als einen (
besten“ — der modernen Psychiatrie bezeichnet. | in K-
Die psychischen Konflikte bei den Juden sind die Folge eines M 1a
derwertigkeitsgefühles, das seinerseits aus ihren Lebensbedingungen her-
vorgeht, und zwar: Erstens und hauptsächlich durch die un-
normale rechtliche Lage, die die Juden unter andere
Völkern einnehmen. Eine Lage, die allein schon Per
lische Konflikte hervorrufen kann Zweitens äuroh
die aus dieser Lage resultierende Bevorzugung der für
das Nervensystem schädlichen Berufe, und dritten s
durch das durch Bevorzugung dieser Berufe bedingte u
anormale geschlechtliche Leben der Juden. =
Diese Sätze machen also die „jüdischen Komplexe“ für die Häufigkeit
der Neurosen bei den Juden verantwortlich, Wenn diese Auffassung auc
auf Zustimmung rechnen darf, so scheint sie doch zu übersehen, daß die
Neurose nicht rein aus philogenetischen Gesichtspunkten zu erklären it, }
daß vielmehr zu ihrem Entstehen notwendig auch der a
psychische Konflikt gehört. Gerade für die jüdische Neu:
dürfte in diesem Sinne der Komplex Väter-Söhne von Bedeutung &
gr
Dr. Georg Flatau, Kursus der Psychotherapie und dos
Hypnotismus. (Berlin 1918, Verlag von S. Karger. Preis M. 6—
geb. M. 8-—.) me.
BY h
Wenn in einem Buche, dessen erste drei Kapitel teils einleitend, teil
allgemeiner Natur sind, in dem acht Kapitel ausschließlich dem Hypno-
tismus und nur drei der ganzen übrigen Psychotherapie gewidmet sind d,
die Freudsche Psychoanalyse in einem eigenen Abschnitt auf ehn |
Seiten abgehandelt wird, so kann das immerhin als Beweis dafür gelten,
daß sie sich auch in der gefährlichen Nachbarschaft des Hypnotism ae
zu behaupten weiß, ;
Um gerecht zu sein, muß man im übrigen feststellen, daß sich deı
Autor bemüht — auch gegen Widerstände —, eine objektive Darstellun
der Freudschen Lehren zu geben und daß er, im Gegensatz zu ande
Kritikern, darauf verzichtet, aus negativen Erfolgen, die seinen Psycho-
analysen beschieden waren, ein Urteil über den therapeutischen Wert ie Tr
Methode zu fällen. Die oben erwähnten Widerstände werden namen
in der wohlwollenden Art manifest, in der die Einwände verschieden
Autoren gegen die Theorien Freuds aufgezählt werden. Der des ve re >
fassers selbst, daß die kindliche Exhibition Folge des Lustbedürfnisses”
sei und zu einer Lustgewinnung geschehe, die mit Sexualität nichts 2; En -
tun habe, sei nebenbei erwähnt, Ei = |
Einspruch ist dagegen zu erheben, daß dort, wo — sichtlich etwas
ironisierend — von der systematischen Symboldeutung die Rede ist, der
für sie verantwortliche Autor (Stekel) nicht genannt wird. Be
Kritiken und Referate. 213
In der Abhandlung über den Hypnotismus zeigt sich Flatau als
genauer Kenner sowohl der Theorie als des praktischen Verfahrens, dem
man seine Erfolge auf diesem Gebiete gern glauben mag. Daß er sie auch
bei Zwangsneurosen erzielt hat, dürfte andere Adepten der hypnotischen
Therapie mit Neid erfüllen. E;-W.
August Forel, Der Hypnotismus oder die Suggestion und
die Psychotherapie. VII. Auflage. (Stuttgart 1918, F. Enke.)
Gestützt auf Semons .„Mneme“-Theorie entwickelt Forel seine
Ansichten über das Bewußtsein sowie über das Verhältnis der Nerventätig-
keit zur Nervensubstanz und zu den Bewußtseinszuständen, geht dann zur
Besprechung des Hypnotismus und der verwandten Erscheinungen über,
wobei auch Spiritismus, Okkultismus, Telepathie etc. zur Erörterung ge-
langen,
Kapitel VI und XII enthalten wertvolle Winke für die Ausübung der
Hypnose zu therapeutischen Zwecken,
Der Besprechung der Psychoanalyse war schon in der sechsten Auf-
lage ein eigenes Kapitel (Kapitel VII) gewidmet. Dort schließt der Autor
seine an Mißverständnissen reichen Ausführungen mit der Bemerkung,
daß er sich nicht anmaße, mit seiner Skizze „über eine Frage aburteilen
zu wollen, die“ er „viel zu wenig selbst nachprüfen konnte“. Es ist zu
bedauern, daß der greise Gelehrte zu einer solchen Nachprüfung seither
keine Gelegenheit mehr gefunden hat. Dr. Nepalleck.
Paul Häberlin, Über das Gewissen. Nach einem öffentlichen Dis-
kussionsvortrag vom 21. November 1914 in Bern. (Basel, Verlag von
Kober, C. F. Spittlers Nachfolger, 1915.)
Eine rein philosophische Abhandlung über Begriff und Form des
Gewissens, in der Häberlin den Standpunkt vertritt, das Gewissen sei
ein absolutes Urteil und eine absolute Forderung an das Sein mit den
untrennbaren Attributen der Konstanz und der Einheitlichkeit. „Gewissen“
ist ihm „die Idee als absolute Norm unseres Verhaltens“; da sie
unser eigentliches Wesen ist, liegt unsere einzige Pflicht in
der Realisierung der Gewissensforderungen.
Einwänden, die Häberlin vom „Relativismus“ erwartet, begegnet
er nicht immer mit Glück, nicht immer mit der Klarheit und Einfachheit
des Ausdrucks, die allein geeignet wäre, andere zu überzeugen, Dieser Mangel
zeigt sich besonders in dem Abschnitt, in dem Häberlin, ohne die
wissenschaftliche Richtung näher zu bezeichnen, gegen die Auffassung
der Freudschen Schule spricht, die im Gewissen den Niederschlag der
Einflüsse der Umgebung in bezug auf das; was ihr als gut und böse er-
scheint und was sie vom Kinde in gleicher Weise gewertet wissen will,
sieht.
Häberlin gibt wohl die Existenz eines Gewissens, das ein Produkt
der autoritativen Einflüsse aus‘ frühjugendlicher Zeit und der Identifika-
tionsbestrebungen. des Einzelnen ist, zu, aber es ist für ihn kein Gewissen
im 'wahren Sinne, sondern ein „falsches, heteronomes ‚Gewissen‘, das
diese Bezeichnung überhaupt nicht verdiene Auch hinsichtlich der Be-
deutung der Autorität des Erwachsenen für das Kind scheint Häberlin
nicht die richtigen Beziehungen zu erfassen; die Autorität wurzelt in der
214 Kritiken und Referate.
Liebe und weil das Verhältnis des Kindes auch zu den Eltern nicht ein-
deutig auf Liebe eingestellt ist, kritisiert das Kind ihre Handlungen.
Gewiß ist es den Erziehern und Psychotherapeuten bekannt, dab es „unter
Umständen möglich ist, Kinder von der Autorität der Eltern frei zu machen
— und daß das gelegentlich nötig ist, wenn das Kind sich gesund ent-
wickeln soll“. Aber dieses Freiwerden, diese Kritik des Kindes, setzt
nicht, wie Häberlin meint und was zu wissen er von Erziehern und
Psychotherapeuten fordert, „immer dann ein, wenn zwischen dem autori-
tativen Willen der Eltern und der eigenen innersten Überzeugung des
Kindes ein Widerspruch besteht“, sondern wenn das Gefühlsmoment zu
Gunsten einer neuen autoritativen Persönlichkeit spricht. Der Autor er-
hebt gegen jene Erzieher und Psychotherapeuten, die autonome Überzeu-
gungen, die nicht durch irgend welche heteronome Autoritäten verdrängt
werden können, wenigstens für das kindliche Alter nicht anerkennen, den
Vorwurf der Befangenheit, ohne die sie sehen müßten, „wie die Heilung
des Konfliktes nur dadurch möglich sei, daß der Heilende mithilft, die
heteronome ‚Autorität (also vielleicht die elterliche, wenn sie falsch ist)
durch die autonome zu ersetzen“. Dies hat 'seine Richtigkeit für das reife
Alter, für die kindliche und jugendliche Altersstufe müssen wir froh sein,
wenn es uns gelingt, den Zögling durch eine heteronome richtige Autorität
in die für seine einstige Bestimmung förderliche Bahn zu lenken.
Auch was Häberlin über die ‚beiden, das ganze Triebleben um-
fassenden Richtungen unserer Triebhaftigkeit und darum auch unserer
triebhaften Wünsche“ sagt, scheint mir nicht erschöpfend.
Es ist auch nicht klar, auf welcher Altersstufe Häberlin das Kind
als für „noch nicht beeinflußt“ hält, da die Einflüsse der Umgebung sich
in den Analysen regelmäßig bis in die früheste Kindheit verfolgen lassen,
Freilich dient dem Autor seine Annahme dazu, seine These vom „echten
Gewissen“ zu stützen. Meines Wissens ist auch niemals behauptet worden,
daß das „gute“ und das „schlechte“ Gewissen Gefühlsmodifikationen si nd,
sondern daß sie von solchen begleitet werden. Dadurch wird die Entgeg-
nung Häberlins, diese Behauptungen seien ungenau, hinfällig, Ich
glaube, der Autor sieht Gegner, wo keine sind, und deshalb spricht er in
manchen Punkten an den Tatsachen vorbei.
Dr. H. Hug-Hellmuth,
Theodor Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters
einschließlich des Schwachsiuns und der psychopathischen Konsti-
tutionen. (Berlin, Reuther & Reichard, 1915, Zwei Hälften, 491 Seiten,
53 Abbildungen,)
Der bekannte, überaus fruchtbare Autor gibt eine recht übersichtliche
Systematik seines Stoffes, zumeist gute, zum Teile sehr anschauliche
Beschreibungen der äußeren Erscheinungen kindlicher Geistesstörungen
mit gewissenhafter Benützung zahlreicher, freilich einseitig in seiner For-
schungsrichtung gelegener Literatur, Bezeichnend für sie ist die Tat-
sache, daß sich in der die funktionellen Psychosen behandelnden zweiten
Hälfte des Werkes der Name Freuds nur einmal findet, bei der Schil-
derung der „Geistesstörungen aus Zwangsvorstellungen“. Der Satz lautet:
„Der Hypothese Freuds, daß verhaltene Sexualerregungen eine wichtige
ätiologische Rolle spielen, kann ich nicht beipflichten.“ In dieser Form
hat das Freud wohl niemals behauptet, aber der sonst so gewissenhafte
a |
Kritiken und Referate. 915
Verfasser hätte doch wohl sagen müssen, auf Grund welcher Erfahrungen
er „nicht beipflichten“ könne. — Seine Darstellung ist rein beschreibend,
fast möchte man sagen naiv-beschreibend, und steht dem Inhalte der
Geistesstörungen vollkommen ratlos gegenüber. Daß sie gelegentlich als
unsinnig bezeichnet werden, wird eine zielbewußte Behandlung nicht gerade
erleichtern. Es ist natürlich auch „zu dumm“, wenn ein bis heute normaler
Kinderrachen plötzlich unter Fieber gerötet und von diphtherischen Mem-
branen bedeckt erscheint; aber mit dieser unmutigen Feststellung glaubt
der Kinderarzt der Wissenschaft und dem Kranken nichts geleistet zu
haben. Und daß Freud es zuerst unternommen hat, in das Dunkel jenes
sinnvollen „Unsinns“ der Geistesstörungen ‚hineinzuleuchten, diese ge-
schichtliche Tat darf um so weniger mit einer leichten Handbewegung
abgetan werden, da die Psychiatrie ja sonst über viel tiefe Einsichten
gerade nicht verfügt. |
In der Ätiologie weist Ziehen der Rachitis eine große Bedeutung
an. Bei der Verbreitung dieser Krankheit auf fast alle unsere Kinder ist
diese Beweisführung wenig überzeugend. Am gelungensten ist wohl der
Abschnitt über die angeborenen „Defektpsychosen“ (mit Intelligenzdefekt).
Gute Abbildungen unterstützen die Absichten des Autors.
Dr. J. K. Friedjung.
Dr. W. Hoffmann, Über Nervosität im Kindesalter. Zweite
verbesserte Auflage. (W. Schneider & Komp., St. Gallen 1919.)
Ein anspruchsloses Büchlein von 62. Seiten für Laien von einem er-
fahrenen Kinderarzte. Es ist erfreulich, daß er mehrfach auch den For-
schungsergebnissen Freuds und seiner Schule Rechnung trägt. Manche
Einzelheit fordert zum Widerspruche heraus: so konnte z.B. Freuds
Annahme, daß die Onanie oft schon im Säuglingsalter einsetze, vom Re-
ferenten bestätigt werden; die immer wieder behauptete Beziehung zwi-
schen Rachitis und Neuropathie der Kinder wird wie von anderen auch
vom Verfasser zweifellos überschätzt. Die Rachitis ist unter den mittel-
europäischen Kindern so verbreitet, daß es wenig besagt, wenn „von den
minderbegabten Kindern die Hälfte Zeichen von überstandener englischer
Krankheit aufweist“ Bei den normal begabten dürfte der Prozentsatz
nicht viel kleiner sein. Dr. J. &. Friedjung.
Prof. Dr. Emil Utitz, Psychologie der Simulation. (Verlag
Ferd. Enke, Stuttgart 1918.)
Der Verfasser spricht in dieser Arbeit lediglich als Psychologe, aber
er wendet sich nicht bloß an Psychologen, sondern auch an Pädagogen,
Ärzte und Kriminalisten, in deren aller Forschungsgebiete die Simulation
eine Rolle spielt, und bemüht sich deshalb, seine Darstellung diesem ver-
schiedenartigen Leserkreis anzupassen. Er beleuchtet den Einfluß des
Krieges auf die Entwicklung der Psychologie, das Verhältnis zwischen
Psychologie und Psychiatrie und der erhöhten Bedeutung der Simulation
durch den Krieg und macht nun diese zum Gegenstand experimenteller Prü-
fungen, eine Methode, die, wie er betont, vielfach Zweifel an ihrer Zu-
lässigkeit und Brauchbarkeit erfährt, aber nach Utitz günstige, ernst
zu nehmende Resultate ergibt. Seine Versuche bezogen sich auf künst-
liche Simulation von Taubstummheit gegen akustische Signale und „An-
sprachen“ während des Addierens einstelliger Zahlen unter Benützung des
„Kraepelinschen Rechenheftes“. Die 20 Versuchspersonen werden auf
Zeitschr. f, ärztl. Psychoanalyse, V/S. 3D
916 Kritiken und Referate.
u
Pulsfrequenz, Unsicherheiten und Fehler im Rechnen und auf ihre subjek-
tiven Beobachtungen geprüft.
Nach einer allgemeinen Bestimmung des Begriffes Simulation und
ihrer charakteristischen Merkmale, die sie zugleich von der Lüge unter
scheiden, nämlich die Ausführung oder die Unterlassung bestimmter Hand-
lungen, bespricht Utitz die Simulation Heeresdienstpflichtiger im ee
die Simulation im Tierreich, z.B. das Totstellen als „sehr wirksame
Schutzanpassung“, die Frage nach der Häufigkeit. der Simulation und.
nach ihrem Zusammenhang mit der Intelligenz und scelischer Kr krank
In der Mechanik der Simulation sieht der Verfasser keinen einfachen Vor-
gang, sondern bemüht sich, zwölf Teilmomente zu erkennen; aber diese
Vielzahl der Faktoren ersetzt nicht das Übergehen einer wichtigen, ja z -
wichtigsten Beziehung der Simulation zum Unbewußten, Es sind nicht,
wie Utitz meint, „vielleicht“, sondern gewiß „tiefste Sehnsucht, ge-
heimste Wünsche, geliebteste Ideale, die in der Simulation eine Verwirk-
lichung gewonnen“, wenn das Ladenmädchen, die Dame, der Kellner,
der ‚Ausgang‘ hat, den Kavalier markiert, der Student den Lumpen, die
vornehme Dame die Dirne ‚mimt‘, Diese Zusammenhänge hat die psycho.
analytische Forderung aufgedeckt, aber diese Ergebnisse voll zu erfassen,
genügt es, sich gelegentlich Freudscher Termini zu bedienen, „Auflas-
sungen, die durch Freud allgemein bekannt geworden sind“ — wohl
richtiger, dievonihm stammen — zu streifen, „ohne aber in irgend
einer Weise den Folgerungen beizupflichten, die Freud in einem von
Jahr zu Jahr mehr erstarrendem Dogmatismus ziehen zu müssen wähnt“,
In diesem einen Satz legt Utitz sein psychologisches Glaubensbekenntnis
ab, wenigstens insoweit als er damit seine Verständnislosigkeit gogenübesg
der Bedeutung der Freudschen Lebensarbeit offen bekundet.
In den weiteren Kapiteln unterzieht der Autor seine vier Typen 2
Simulation, nämlich die freie, die induzierte, die gebundene und die schau-
spielerische, einer Zergliederung in bezug auf ihre Quelle, ihr Auftreten
und ihr Verhältnis zur Intelligenz. Ein besonderes Kapitel ist endlich &
den Formen der „Entlarvung“ gewidmet und in diesen weist der Autor
— ohne die lehrreichen Arbeiten der psychoanalytischen Forscher auf
diesem Gebiete auch nur zu erwähnen — auf die fließenden Grecien A
zwischen Simulation und Neurose resp. Hysterie hin, .
Dr. H, Hug-Hellmuth.
Dr. Walter Hirt, Ein neuer Weg zur Erforschung der
‚Seele. Eine psychologische Skizze. (Verlag von Ernst Reinhardt,
München 1917. Preis M. 6-—. ) |
Die Voraussetzung, daß auch die anorganische Welt lebt, auf die
Hirt seine erste Arbeit „Das Leben der anorganischen Welt“
baut, ist auch Grundlage seines neuen Werkes. Auf dem Wege der Syn-
these sucht er die Psyche zu erforschen, was der Analyse nicht in befrie-
digender Weise gelinge. Aus einem tiefen, reichen Wissen auf physika-
lisch-chemischem und biologischem Gebiete schöpfend, gründet er seine 7
Lehre vom Wesen der Seele auf die das Weltall beherrschenden drei
Daseinsgesetze, das Gesetz der Anziehungskraft des einzelnen Kör-
pers, das Gesetz der Umgebung und das der beständigen Bewegung, ud
leitet aus ihnen das Prinzipder Wechselkraftab, das ihm wieder
die Basis zur Erforschung des Sittengesetzes wird; Egoismus Fe. =R
Altruismus werden aus dem ersten und dem zweiten Daseinsgasetz erklärt
Kritiken und Referate. 217
und mit der Klarheit des entwicklungsgeschichtlichen Denkens die Ana-
logien der Phänomene im Kosmos und des psychischen Geschehens auf-
gezeigt.
Auf demBoden des psychophysischen Parallelismus fußend, entwickelt
Hirt seine Lehre von den drei Seelenströmungen, deren erste
das Denken, die zweite das Empfinden (= Sinnestätigkeit — Füh-
len) umschließt, während in der dritten das Spannungsverhält-
nis zwischen Egoismus und Altruismus seinen Ausdruck
findet. Aus der Synthese der drei Seelenströmungen bildet sich das
Wollen. “Durch die Analogien zwischen ihnen und den drei Daseins-
gesetzen wird die Seele zum Spiegelbild des Kosmos. Das seelische Ge-
schehen wird uns durch die ‚seelischen Figuren“ veranschaulicht, deren
Unzulänglichkeit der Autor selbst erkennt, aber von späteren Forschungen
ihren Ausbau erhofft.
So richtig es ist, daß Hirt die Vorschiebung des Spannungsverhält-
nisses zwischen Egoismus und Altruismus als bedeutsam für das Ver-
ständnis einer Reihe von Psvchosen bezeichnet, so wird aber der Gewinn
ein geringer sein, so lange das Unbewußte unberücksichtigt bleibt. Und
dieser Begriff findet in Hirts Lehre keinen Platz. Für ihn ist, wie für
die landläufige Psychologie überhaupt, seelisch identisch mit be-
wußt und darin liegt die Enge, das Unzureichende seiner Theorie.
Als wichtigstes Ergebnis seiner Arbeit wertet Hırt die von ihm ge-
fundenen Beziehungen des „egoistischen und des altruistischen Bausteines“
zur Größe des Schädelbinnenraumes in der Formulierung, daß nicht die
wachsende Intelligenz, sondern der altruistische Baustein eine Vergröße-
rung des Schädelbinnenraumes bedingt und weist die Richtigkeit dieser
These an den diesbezüglichen Untersuchungen bei den Chinesen etc., aber
auch im Tierreich nach.
Dem Zusammenhang zwischen der seelischen Entwicklung des Indi-
viduums und .der Entwicklung des Alls, seiner Bedeutung für das Er-
ziehungsproblem, ist ein besonderer Abschnitt gewidmet, aber was sich
gerade hier als schwerer Mangel fühlbar macht, ist eben die enge Aiuf-
fassung Hirts vom Seelischen als Bewußtem. Wir können einer Psycho-
logie, die dem Unbewußten keinen Platz zuweist, nicht beipflichten, und
wenn sie noch so reich an biologischen Erkenntnissen ist.
Dr. H. Hug-Hellmuth.
R. Hennig, Lektüre-Vorstellungsbilder und ihre Ent-
stehung. (Zeitschr. für Psychol., I. Abt., Bd.79, 1918, Heft 4—6.)
Es wird besonders durch Selbstbeobachtung, aber auch durch andere
Beispiele bewiesen, daß die Vorstellungsbilder der Wohnräume, die während
einer Lektüre beim Vorstellen irgend einer sich in geschlossenen Räumen
abspielenden Handlung spontan auftauchen, aus der frühen Kindheit stam-
men, Der Garten Eden, das Paradies der Bibel, wird von Hennig in
der Größe und mit der Weganordnung vorgestellt, wie sie der Garten
seiner Eltern aufwies. Ja es kommt sogar vor, daß das Lektüre-Vorstel-
lungsbild der Wirklichkeit eher entspricht, als die bewußte Kindheits-
erinnerung. Interessant ist, daß der Autor es als selbstverständlich findet,
daß der Abort seiner frühkindlichen Wohnung in diesen Phantasie-
vorstellungen nicht vorkommt. Demgegenüber wird (als von einem
Zimmer die Rede ist, welches ebenfalls kaum auftaucht, wo aber die
Familienfeierlichkeiten abgehalten wurden) selbst behauptet: „Es ist fast
15*
218 Kritiken und Referate,
unbegreiflich, daß mir an alle diese, dem Kinde so unendlich wichtigen
Feiern keine noch so leise Erinnerung geblieben ist, während das Ge-
dächtnis unzählige andere, viel unwichtigere Ereignisse jener Zeit ge-
treulich bewahrt hat.“ — Hier sieht der Psychoanalytiker doch etwas
weiter! Dr. Hermann (Budapest).
Dr. Max Marcuse, Wandlungen des Fortpflanzungsgedan-
kens und Willens. Abhandlungen aus dem Gebiete der Sexual-
forschung. Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Sexual-
forschung, Band I, Heft 1, 1818/19, (Bonn, A. Markus und E. Webers
Verlag.)
Die sehr belehrende und interessante Arbeit vereinigt die weiteste
Literaturkenntnis, große Erfahrung auf sexualpathologischem Gebiete und
Kenntnis der modernen Geistesströmungen, um mit meist einleuchtender
Kritik alle Einflüsse darzustellen, welche die „Geburtlichkeit“ seit Kultur-
beginn beeinflussen und in der neuesten Zeit mehr und mehr herabsetzen.
Die vielen Komponenten der Entwicklung, die sich in der Entstehung der
Ehe, in den immer mehr sich komplizierenden ökonomischen, nationalen,
politischen, frauenrechtlichen, erotischen, religiösen und philosophischen
Strömungen sich äußern und wirken, werden dargestellt, so daß die Schrift
eine sehr konzentrierte, von einem originellen Blickpunkte aus aufgefaßte
Kulturgeschichte wurde. Diese Vielseitigkeit macht sie zum Referate
ungeeignet. Bei manchen Einzelfragen erscheint die Erledigung zu knapp,
weil es dem Autor mehr auf die historische Kritik als auf die Begründung
seiner Stellungnahme ankommt.
Die sexuellen Zustände im heutigen Deutschland werden ausführlich
unter Berücksichtigung der neuesten Einflüsse der Frauenbewegung, des
Krieges, der Eugenik und auch in Hinblick auf biologische Fragen der
Anpassung und Degeneration erörtert. Die Stellung des Autors wird durch
folgende Zitate gekennzeichnet: |
serrrnn. 88 ist nämlich eine weitgehende Unabhängigkeit
der neuzeitlichen Fortpflanzungsunlust von allen so-
zialen und wirtschaftlichen Besonderheiten festzu-
stellen. Nicht ob arm oder reich, ....... bestimmt nunmehr den Willen
zur Kinderlosigkeit und Kinderarmut, sondern allein die psychische
Einstellung des modernen Kulturmenschen zum Leben und damit auch
zur Weitergabe des Lebens und Neuerweckung von Leben,
Was er vom Leben fordert, und was er ihm schuldig zu sein glaubt,
das entscheidet über seinen Fortpflanzungsgedanken und Willen,“
Als das Wesentliche lassen sich etwa folgende Tatsachen herausheben:
„1. Daß wir unsere gesamte praktische Orientierung an ‚kultu-
rellen‘ Aufgaben und Werten, nicht dagegen an konstitutiven
gewonnen haben, daß wir uns von privatwirtschaftlichen und
sozialen, nicht dagegen von nationalen und volklichen
Interessen haben leiten lassen; Be,
2. daß wir unsere theoretische Aufklärung immer ausschließ-
licher von den Naturwissenschaften und der Technik be-
zogen und damit einer materialistischen Auffassung der Zu-
sammenhänge uns zuwendeten,,,,..., während dem rein Geistigen, der
Religion vor allem, und jeglicher Beziehung auf ein Leben nach diesem,
Bedeutung und Berechtigung immer mehr gekürzt wurden;
Kritiken und Referate. 219
3. daß zwar der organische Zusammenhang unserer praktischen Orien-
tierung und theoretischen Aufklärung mit der überkommenen jüdisch-
hellenistisch-christlichen Denk- und Empfindungsweise all-
mählich fast völlig gelöst worden, diese aber gleichwohl den Kern unseres
Wesens und die Grundlage unserer Erziehung, unserer Sitten und unserer
Moral geblieben ist — mit der auf diese Weise notwendigen Folge einer
Spaltung der Persönlichkeiten und Unsicherheit der
Lebensziele.“
Mit der Entwicklung der modernen Weltanschauung hat sich gleich-
zeitig die „Rationalisierung“ des Geschlechtsverkehres im Sinne der Kinder-
einschränkung eingestellt, während in den meisten früheren Perioden die
Rationalisierung der Steigerung des Nachwuchses diente. „Rationalisie-
rung“ heißt beim Autor Unterstellung des früher naiven Triebauslebens
unter bewußte Kontrolle und verstandesmäßige Beeinflussung zu einem
menschlichen Zwecke. Rationalisierung ist also nicht gleichbedeutend mit
der „Rationalisation* Jones’ in der psychoanalytischen Literatur.
In dieser Rationalisierung sieht der Verfasser aber keine Entartung —
wie es diejenige zur Zeit des Unterganges der antiken Welt war —, sondern
eine aufsteigende Entwicklung des menschlichen Sexualtypus, des mensch-
lichen Individuums überhaupt. Denn die Ursachen dieser modernen Ra-
tionalisierung sind Ausdruck höherer Entwicklung, nämlich das Gefühl
eigener Verantwortung, ein größeres Persönlichkeitsbewußtsein, ein starkes
Verinnerlichungsbedürfnis der Menschen, welche den Willen zur Fortpflan-
zung dem Willen zur Liebe unterordnet. So hat im Kampfe zwischen
Trieb und Bewußtheit die letztere bei gleichzeitig höherer Ethisierung der
Menschheit obgesiegt.
Der Psychoanalyse steht der Autor ablehnend gegenüber. So sehr
das bedauerlich ist, die Arbeit erhält dadurch einen weiteren historischen
Wert, denn sie zeigt, zu welchem Resultat die heutige Wissenschaft, selbst
bei voller Beherrschung der anderen Methoden, in der Lösung des Problems
kommen kann. So wird im ersten Kapitel auch richtig erörtert, wie spät
die Primitiven den Zuasmmenhang von Begattung und Geburt erfaßt haben:
Bee unbegreiflich wieder Todist dem Primitivenauchdie
Entstehung des Menschen.“ Der Autor setzt dann fort: „Die Seelen-
wanderung und der Unsterblichkeitsglauben haben hier ihre Wurzeln,
denen auch die anscheinend so rätselhafte Erscheinung des Totemismus
entstammt. Das Totemtier befruchtet die Frau..... “ Wenn man die
Forschungen Freuds über den Totemismus ignoriert, begnügt man sich
mit einer so vagen Erklärung, die aber auch offensichtlich falsch ist, weil
der Primitive die Befruchtung durch das Totemtier erst annahm, als er
die Befruchtung schon erkannte. (S. Freud, Totem und Tabu, 8. 109.)
Eine grundlegende Voraussetzung der Arbeit sei noch hervorgehoben.
Mit großer Sicherheit wird vom Autor für beide Geschlechter angenommen,
daß der Sexualtrieb nur Begattungstrieb, aber kein Fortpflanzungstrieb
sei, Die Psychoanalyse wird für den Mann völlig zustimmen. Für das
Weib werden viele Psychoanalytiker widersprechen. Es ist auch unwahr-
scheinlich, daß ein so lebenswichtiger Trieb, der in dem ganzen höheren
Tierreich sich findet, beim normalen Menschenweibcehen verschwunden
sein soll. Und die Mitteilungen normaler Frauen bekumden ebenso ein
triebhaftes primäres Verlangen nach Gebären und Stillen, besonders nach-
dem sie geboren haben, wie die neurotischer und krimineller Frauen
wegs Züge verstärkter Uberempfindlichkeit, überstiegenen Ehrgeizes und
220 Kritiken und Referate.
die Verkehrung des Triebes. Danach ist das Problem für das männliche
und weibliche Geschlecht ganz verschieden zu werten. Beim Weibe han-
delt es sich um eine Verdrängung resp. Verkümmerung eines normalen
Trjebes, beim Manne um den Grad einer nicht triebhaften Bindung. Die
Psychoanalyse müßte erforschen, aus welchen bewußten und unbewußten Grün- r
den beim Manne die Identifizierung mit dem kinderreichen Vater und das
Ideal der Mütterlichkeit an Wert eingebüßt haben, und aus welchen kom-
pliziert infantilen Bedingungen beim Weibe die Wertung des Kindes so
sehr abgenommen hat. Es könnte dann die Rationalisierung doch zum
Teile als eine „Rationalisation“ im Sinne Jones’ sich herausstellen, .
Dr, Paul Federn. _ hr
Dr. Alfred Adler, Das Problem der Homosexualität. (Ernst
Reinhardt, München 1917.) u
Adler beschreibt abermals den aus seinen früheren Schriften be-.. >
kannten „nervösen“ Charakter, ie.
„Das Gemeinsame an den Erscheinungen jeder sexuellen Perversion
(Homosexualität, Sadismus, Masochismus, Masturbation, Fettischismus
usw.) läßt sich nach den Ergebnissen der individual-psychologischen Schule
in folgenden Punkten zusammenfassen: m
1. Jede Perversion ist der Ausdruck einer vergrößerten, seelischen ”
Distanz zwischen Mann und Frau; u
2. sie deutet gleichzeitig eine Revolte gegen die Einfügung in die
normale Geschlechtsrolle an, und äußert sich als ein planmäßiger, aber
unbewußter Kunstgriff zur Erhöhung des eigenen gesunkenen Persönlich-
keitsgefühles; Be:
3. niemals fehlt dabei die Tendenz der Eutwertung des normals zu
erwartenden Partners i | Eu
e2 1 B
Di:
4. Perversionsneigungen der Männer erweisen sich als kompensato-
rische Bestrebungen, die zur Behebung eines Gefühles der Minderwertig- a
keit gegenüber der überschätzten Macht der Frau eingeleitet und erprobt
werden .....; 1
5. Perversion erwächst regelmäßig aus einem Seelenleben, das durch-
Trotzes aufweist..... Mangel tieferer Kameradschaftlichkeit, gegen-
seitigen Wohlwollens, der Gemeinschaftsbestrebungen...., egozentrische N
Regungen, Mißtrauen und- Herrschsucht prävalieren. Die Neigung ‚mit-
zuspielen‘, sowohl Männern als Frauen gegenüber, ist gering,“ .. ET
In den weiteren Ausführungen werden diese Erscheinungen erörtert, -
aber keinerlei Faktor angegeben, der zu dieser „Gesamterkrankung der
Individualität“ hinzutreten muß, damit gerade Homosexualität als Mittel
zur Aufrechterhaltung eines solchen unbewußten Lebensplanes benützt
werde. Die Erfahrung und neuerdings das Werk Blühers sprechen sehr
dagegen, alle Homosexuelle, als egozentrische, mißtrauische, lebensfeige,
distanzsuchende Individuen aufzufassen, Aber dem Autor kam kein Zweit al a
in den Sinn, ob denn sein Material nervöser Homosexueller für die
Erörterung der Ursache der Homosexualität überhaupt geeignet ist, ob
die Homosexualität in den vorliegenden Fällen nicht mit dem nervösen. 3
Charakter gleichzeitig bestehe oder dieser zum großen Teile eine Folge
der Homosexualität sei. Adler ist noch so sehr bestrebt, seinen eigenen
Fund immer wieder vor Augen zu führen, daß er darüber vergißt, daß E
Kritiken und Referate. 221
doch derselbe überall wiederkehrende Ursachenkomplex — ohne Kom-
bination mit anderen Ursachen — nicht im stande sein kann, so wesens-
verschiedene Zustandsbilder, wie Masturbation, Perversionen, alle Neu-
rosenarten, Angstzustände, Verstimmungen und noch mehr, zu erklären!
An dieser mangelnden Selbstkritik und an dieser Übertreibung ist die
eigene Sicherungstendenz des Autors gegen alles, was Freud mittels
Psychoanalyse entdeckt hat, schuld. Er geht so sehr darauf aus, die durch
die psychoanalytische Methode aufgedeckte und in jedem einzelnen Falle
wieder aufzufindende infantile libidinöse Komponente nicht zu finden,
daß er sie selbst dort leugnet, wo sie manifest geblieben ist. So entstand
die absurde Theorie, daß die Homosexualität nichts mit der sexuellen
Konstitution zu tun habe!
Statt jeder weiteren theoretischen Überlegung genügt der im Jahre
1917 von Steinach bereits erbrachte Beweis, daß absolut homosexuelle
Individuen durch eine Operation zum heterosexuellen Triebe und zur
normalen Sexualbetätigung gebracht wurden, indem man ihnen den kryptor-
chischen Hoden eines Heterosexuellen transplantiert hat. Damit - ist
für diese Fälle bewiesen, daß die Homosexualität nicht das arrangierte
Hilfsmittel seines Lebensplanes sein kann, sondern eine primäre Trieb-
komponente ist, daß sie ein Teil der von Freud vor 20 Jahren er-
schlossenen individuellen, sexuellen Konstitution sei, welche Adler auf
Seite 4 als „theoretisches Postulat eines voreingenom-
menen Systems“ bezeichnet.
Für denjenigen, der die Abspaltung der individual-psychologischen
Richtung von der Psychoanalyse Freuds miterlebt hat, macht es einen
wunderlichen Eindruck, wie gern Adler psychoanalytische Funde um-
benennt, und überhaupt nicht erwähnt, daß auch er die Psychoanalyse
verwendet, Charakteristisch für seine Polemik ist, daß er z.B. ‚jeden
erfahrenen Kenner der Kindesseele“ auffordert, die Beweiskraft seiner ‚„Tat-
bestände“ mit den „Willkürlichkeiten“ Freuds zu vergleichen, der die
seelische Entwicklung des Knaben mit all ihren Verästelungen von einer
durch den Sexualtrieb bedingten inzestuösen Neigung herleitet.“ Nun
hat Freud die sexuelle Entwicklung und die Neurose mit dem infantilen
Inzeste in Zusammenhang gebracht, aber niemals „die seelische Entwick-
lung mit all ihren Verästelungen“, auch hat er.immer das Ich im Kampfe
mit der Sexualität und anderen Wünschen dargestellt. Adler hat hin-
gegen diese Sexualität als nicht vorhanden angenommen und Konflikte
mit anderen Tendenzen ausschließlich zu finden geglaubt. DaB sogenannte
„erfahrene Kenner der Kinderseele” ihm Beifall spenden werden, wird
den nicht wundern, der es gesehen hat, eine wie kurze Zeit sich die
intensivste inzestuöse Sexualität beim Kinde manifest der naiven Beob-
achtung darbietet, und wie schnell sie dann bei manchen Kindern sich
verbirgt, weil die Verdrängung einsetzt. Das Studium der kindlichen
Sexualität verlangt eben vorurteilsfreie Beobachter; solche werden sie
in jedem Falle feststellen. Dr. Paul Federn.
Dr. Karl Frank, Die Parteilichkeit des Volks- und Lasse-
abergläubischen. (Anzengruber-Verlag Brüder Suschetzky, Wien,
„Der Aufstieg“, Heft 6/7, 32 Seiten.)
Die aktuelle, anregend geschriebene Arbeit war als Vortrag im Verein
für Individualpsychologie gehalten. Der ‚Verfasser steht nicht einseitig auf
Adlerschem Standpunkt und baut die pathologischen Befunde richtig auf
222 Kritiken und Referate,
der Annahme des infantilen Narzißmus auf. Die Grundidee der Arbeit ist,
daß dieselben Vorgänge, die der Entstehung von individuellen Verfolgungs-
ideen mit ihren Urteilstrübungen, eventuellen hysterischen Halluzinationen
und Wahnbildungen auch zu dem Rassenhasse und des Rassenfanatismus
der Menge führen. Da er die Bedingungen dazu überall gegeben sieht, wo
Freunde in größerer Anzahl als Nebenbuhler auf wirtschaftlichem Gebiete
auftreten, erübrigt sich ihm eine spezifische Ätiologie des Antisemitismus,
und er lehnt den von Freud als tiefste Ursache vermuteten Zusammen-
hang von Antisemitismus und der infantilen Gleichstellung von Beschnei-
durig und Kastration ab. Dabei übersieht er, daß eine allgemeine Ätiologie
nicht ausreicht und eine spezifische Überdeterminierung erst recht erfordert.
Daß der Autor die allgemeinen sexuellen Minderwertigkeitsgefühle an
Stelle des Kastrationskomplexes setzt, entspricht dem Adlerschen Stand-
punkte. Die Verknüpfung und Auseinanderhaltung dieser beiden psychi-
schen Faktoren, die verschiedenen Schichten des Bewußtseins und der
Entwicklung angehören, wäre ein dankenswertes ‘Thema einer psychoanaly-
tischen Arbeit. Dr. Paul Federn.
Dr. Otto Pötzl, Über einige Wechselwirkungen hysterie-
former und organisch zerebraler Störungsmechanis-
' men. (Jahrbuch für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXXVIL, 1917.)
Die Pathologie der Kriegsverletzungen hat uns neben den rein orga-
nisch-zerebralen Folgezuständen nach Kopfschuß usw. und den rein psy-
chischen Nachwirkungen von Kriegstraumen häufige Mischbilder ge-
zeigt. In diesen treffen organogene und psychogene Erscheinungen zu-
sammen. Die Analyse derartiger klinischer Bilder kann sehr schwierig
sein. Pötzl untersucht in der vorliegenden Schrift zwei einschlägige
Fälle in erschöpfender Weise, Er beschränkt sich aber nicht auf eine
Zerlegung des Krankheitsbildes in seine Komponenten, sondern untersucht,
die dynamischen Vorgänge, welche aus Resten organischer Läsionen hyste-
tische Symptome entstehen lassen. Er begnügt sich nicht wie andere
Autoren mit dem Hinweis auf einen durch die Verletzung hinterlassenen
Locus minoris resistentiae oder auf den Einfluß zerebraler Ausfallserschei-
nungen auf die Lokalisation der hysterischen Symptome. Auch erklärt
er die Verschiebung des Pröblems auf das morphologische Gebiet —— durch
Annahme „mikroorganischer“ Veränderungen — für unstatthaft. Das Er-
wachsen hysterischer Symptome aus den Rudimenten organischer Ver-
änderungen (anklingender, abklingender und latenter) sucht er auf einem
der Breuer-Freudschen Konversion ähnlichen Wege zu erklären,
An dieser Stelle kann auf die mitgeteilten Krankheitsfälle nicht näher
eingegangen werden. Das Referat muß sich auf das für den Psycho-
analytiker Wesentliche beschränken, In diesem wird die wiederholte un-
umwundene Erklärung des Verfassers, er stimme den psychoanalytischen
Auffassungen vom Aufbau der Neurosen in weitem Umfang zu, eine be-
rechtigte Spannung erzeugen. Denn ein derartiges Bekenntnis findet sich
zum erstenmal in einer Arbeit, die aus der Wiener psychiatrisch-neurologi-
schen Klinik stammt. Die Sympathie, welche das offene Bekenntnis des
Autors uns abnötigt, darf uns aber an einer kritischen Untersuchung, in-
wieweit es die Psychoanalyse theoretisch anerkennt und inwieweit
seine eigenen Untersuchungsergebnisse sich den psycho-
analytischen nähern, nicht verhindern.
Es wäre unberechtigt, eine mehr oder minder vollkommene Psycho-
Kritiken und Referate. 993
analyse der beiden Krankheitsfälle zu erwarten. Schon der Titel der
Schrift besagt, daß nicht der neurotische Anteil der Krankheitsbilder
im Freudschen Sinne analysiert, sondern daß die Wechselwirkung der
organischen und psychischen Komponente untersucht werden soll. Es
kommt hinzu, daß das Material einer psychoanalytischen Durchdringung
ungünstig war. Im zweiten Falle — anfänglich organische Sprachstörung
(Wortsturumheit), später neurotisches Stottern — liegt der Grund auf der
Hand. Im ersten Falle liegen die Verhältnisse nicht viel anders. Wenn
ein Autor auf Grund eines solchen klinischen Materials überhaupt zu den
psychoanalytischen Lehren Stellung nehmen will, so kann es naturgemäß
nur in den allgemeinsten Zügen geschehen.
Tritt man mit solchen, auf das berechtigte Maß reduzierten Erwar-
tungen an Pötz1s Arbeit heran, so wird man dennoch eine Einttäuschung,
und zwar in mehrfachem Sinne erfahren,
Pötzl gelangt wiederholt zu dem Resultat, daß die Breuer-
Freudschen Lehren in seinem kasuistischen Material ihre Bestätigung
finden. Breuer und Freud haben bekanntlich vor mehr als 20 Jahren
auf (die Bedeutung unerledigter „Reminiszenzen” für die Entstehung hyste-
rischer Symptome hingewiesen; es handelt sich dabei um vom Bewußtsein
abgespaltene affektbetonte Erlebnisse. Wo Pötzl feststellt, daß sich der
Affekt der Ausgangssituation (Kriegstrauma) fixiert habe, wird man ihm
folgen können. Gegen den klaren Sinn der Bre uer-Freudschen Lehre
faßt Pötzlaber die „Reminiszenzen“ an vielen Stellen imorganischen
Sinne auf. Die Reste organischer Hirnveränderungen wirken als Reminis-
zenzen des Traumas und werden auf einem der „Konversion“ ähnlichen
Wege in hysterische Symptome umgewandelt! Mit diesem Begriff des
Autors hängt ein zweifer untrennbar zusammen. Er verschiebt nämlich
auch den Freudschen Begriff des Unbewußten aus dem Psychischen ins
Organische. Richtiger gesagt: er verwechselt das Somatische (Nicht-
psychologische) mit dem Nichtbewußten (cf. 5. 16: „daß es sich um un-
bewußt unter der Schwelle des bewußten Erlebens fortwirkende organische
Einflüsse aus einer lokalen Hirnläsion handelt, die in das hysterische
Gesamtbild eingehen, vielleicht ohne je in voller Klarheit unmittelbar erlebt
worden zu sein“). Der Autor mag damit im Recht sein, daß organische
Restsymptome einen Einfluß auf die Bildung neurotischer Phänomene üben.
Man mag auch darüber streiten, ob sich die erwähnten psychologischen
Begriffe in der von Pö tz] angewandten Weise erweitern lassen, Zweifel-
los beruft sich Pötzl aber zu Unrecht auf Breuer und Freud. Auch
auf S. 17, wo Pötzl sich auf Freuds Seite stellt, der die Hysterie
nicht einfach als „ideogen“ auffasse, sondern auf das Unbewußte verweise,
faßt Pötzl das Unbewußte unrichtig auf. Auf S. 18 spricht er sogar
von einem „unbewußten, mnemisch im Sinne Semons fortwirkenden
Nachhall“ einer organischen Sehstörung! Ähnlich verfährt Pötzl auch
mit der „Verdrängung“, indem er z.B. die Unterdrückung störender opti-
scher Bilder des einen Auges in nahe Nachbarschaft der Freud schen
Verdrängung rückt. Die klaren Definitionen Freuds geben zu einer
solchen Verwischung der Grenzen doch keinen Anlab.
Nötigt der Verfasser uns also in verschiedener Hinsicht zu einer ab-
wehrenden Kritik, so darf man ihm an anderen Stellen mit gewissen Vor-
behalten ‘oder auch vorbehaltlos folgen. So macht er z.B. die Bedeutung
des Locus minoris resistentiae für die Entstehung hysterischer Symptome
auf organischem Boden verständlicher, indem er Freu ds Lehre vom
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224 Kritiken und Referate. Fu
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somatischen Entgegenkommen heranzieht. Interessant, wenn auch viel-
leicht nicht im vollen Umfang berechtigt ist beispielsweise die Parallele Br
bi awischen der Symptome hervorrufenden Wirkung organischer Herde und
der Träume anregenden Wirkung von Leibreizen. |
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In der Anerkennung Breuers und Freuds beschränkt der Autor
sich in der vorliegenden Schrift auf die Mechanismen der neuroti-
schen Symptombildung. Die Sexualtheorie berührt er kaum im Vorüber-
gehen. Schon eingangs wurde anerkannt, daß das Material ein gründ- D
liches Eingehen auf die Beziehungen zwischen Symptomen und Libide
nicht erlaubte. Verfasser hätte aber ohne Mühe immerhin gewisse Ein-
blicke in dieser Hinsicht gewinnen können. An einer Stelle gibt
er wohl einen Hinweis, versichert aber sofort, daß in dem gegebenen
Beispiel das erotische Moment „natürlich“ fortfalle, mindestens für die
Betrachtung in den Grenzen der beabsichtigten Untersuchung, „wenn
diese nicht ins Uferlose geraten soll“. (S. 80.) Dieses Verfahren steht in
auffälligem Gegensatz zu der unendlichen Gründlichkeit, mit welcher der
- Verfasser im übrigen zu Werke geht. Seine-klinische Analyse ist äußerst
subtil. In den Krankengeschichten aber fehlt selbst die einfachste Befra-
gung der Patienten, nach dem Zustand ihrer bewußten Sexualität. Ref,
durch dessen Hände während des Krieges ein großes Material einschlä- —
giger Fälle gegangen ist, versäumt niemals, sich über Libido und Potenz
der Kranken vor und nach dem Trauma zu erkundigen und kann versich Br,
daß wenige Fragen oft zu tiefen Einblicken in die sexuellen Ursachen
neurotischer Begleitsymptome verhelfen. Mindestens kann man sich so
vor dem Fehlschluß hüten, daß das erotische Moment überhaupt nicht ine
Frage komme, (Übrigens irrt Pötzl in der Annahme, daß die Anhänger
Freuds den Kriegshysterien nur wenig Interesse zugewandt hätten)
Am Schlusse nimmt Pötz] Stellung zur Bedeutung der psychoanaly-
tischen Therapie. Während er Freuds Theorien für wichtig, ja unent-
behrlich zum Verständnis der Neurosen findet, verhält er sich zur psycho- i
analytischen Therapie ablehnend, freilich ohne jede polemische Schärfe
Wenn man aber den von Freud eingeschlagenen Forschungsweg aner-
kennt, so ist nicht begreiflich, warum man die auf dem gleichen Wege
| liegenden therapeutischen Möglichkeiten ablehnen sollte, zumal da gewisse {
7 Neurosen (wie z.B. die Grübelsucht) einzig auf diese Therapie reagieren.
Die Pötzlsche Arbeit leidet an einem inneren Widerspruch. Der
Autor erkennt Freuds Schlußfolgerungen im weiten Umfang an und dies
mit einer seltenen Offenheit. Er selbst aber begnügt sich mit der aller-
elementarsten psychologischen Erfassung seines Materials. Er meint auf
Pfaden der Psychoanalyse zu wandeln, wenn er einige den ursprünglichen
Breuerschen Lehren ähnelnde Gesichtspunkte auf seine Krankheitsfälle
anwendet. Auch scheidet er ungenügend zwischen den Anfängen unserer —
Wissenschaft und ihrer heutigen Gestalt. So versperrt er sich selbst den
Weg zu tieferer psychologischer Einsicht. 2.
Nach Fertigstellung dieses Referats, welches aus technischen Grü, a
den verspätet erscheint, konnte ich mich davon überzeugen, daß Pötzl
sich in einer inzwischen publizierten neuen Arbeit !) den psychoanalyti-
schen Lehren auch praktisch angenähert hat. Diese erfreuliche Tatsache
läßt uns seiner weiteren Mitarbeit an unserer l'orschung erwartungsvoll
entgegensehen. Abraham. x
!) Siehe mein Referat in der vorigen Nummer, $, 129 f, A
7 Vietor Tausk.
Zu den glücklicherweise nicht zahlreichen Opfern, die der Krieg
in den Reihen der Psychoanalytiker gefordert hat, muß man auch den
ungewöhnlich begabten Wiener Nervenarzt rechnen, der — noch ehe der
Frieden zum Abschluß gelangte — freiwillig aus dem Leben geschieden ist.
Dr. Tausk, der erst im 42. Lebensjahre stand, gehörte seit mehr
als einem Jahrzehnt dem engeren Kreise der Anhänger Freuds an. Ur-
sprünglich Jurist, war Dr. Tausk bereits längere Zeit als Richter in
Bosnien tätig, als er unter dem Eindruck schwerer persönlicher Erlebnisse
seine Laufbahn aufgab und sich der Journalistik zuwandte, zu der ihn
seine umfassende allgemeine Bildung besonders befähigte. Nachdem er
längere Zeit in Berlin journalistisch tätig gewesen war, kam er in der-
selben Eigenschaft nach Wien, wo er die Psychoanalyse kennen lernte
und bald beschloß, sich ihr ganz zuzuwenden, Bereits als gereifter Mann
und Familienvater scheute er nicht vor den großen Schwierigkeiten und
Opfern eines neuerlichen Berufswechsels zurück, der eine mehrjährige
Unterbrechung in seinem Erwerbsleben bedeuten mußte. Sollte ihm das
langwierige Studium der Medizin doch nur ein Mittel sein, um die
Psychoanalyse praktisch ausüben zu können,
Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges hatte Tausk das zweite Dok-
torat erworben und etablierte sich als Nervenarzt in Wien, wo er nach
verhältnismäßig kurzer Zeit im Begriffe war, sich eine ansehnliche Praxis
zu schaffen, in der er schöne Erfolge erzielte Aus dieser Tätigkeit,
die dem ehrgeizigen jungen Arzt volle Befriedigung und Existenzmög-
lichkeit verhieß, wurde er durch den Krieg plötzlich gewaltsam gerissen.
Sofort zur aktiven Dienstleistung einberufen, hat Dr, Tausk, der bald
zum Oberarzt avancierte, auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im
Norden und auf dem Balkan (zuletzt in Belgrad) seine ärztlichen Pflichten
mit Aufopferung erfüllt und dafür auch offizielle Anerkennung geerntet.
Es muß hier rühmend hervorgehoben werden, daß Dr. Tausk während
des Krieges mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit und mit Zurück-
setzung aller Rücksichten gegen die zahlreichen Mißbräuche offen auf-
getreten ist, die leider so viele Ärzte stillschweigend geduldet oder sogar
mitverschuldet haben.
Die mehrjährige aufreibende Felddienstleistung konnte an dem
äußert gewissenhaften Menschen nicht ohne schwere seelische Schädigung
vorübergehen. Schon auf dem letzten psychoanalytischen Kongreß im
September 1918 in Budapest, der die Analytiker nach langen Jahren
226 + Vietor Tausk.
der Trennung wieder zusammenführte, zeigte der seit Jahren körperlich
Leidende Zeichen besonderer Gereiztheit,
Als Dr. Tausk dann bald darauf, im Spätherbst vorigen Jahres,
aus dem Militärdienst schied und nach Wien zurückkehrte, stand -der
innerlich Erschöpfte vor der schwierigen Aufgabe, sich zum drittenmal
— diesmal unter den ungünstigsten Äußeren und inneren Verhältnissen — .
eine neue Existenz zu gründen. Dazu kam, daß Dr, Tausk, der zwei
herangewachsene Söhne hinterläßt, denen er ein fürsorglicher Vater war,
vor einer neuen Eheschließung stand, Den vielfachen Anforderungen,
welche die harte Wirklichkeit an den Leidenden stellte, war er nun
nicht mehr gewachsen. Am Morgen des 3. Juli machte er seinem Leben
ein Ende. er -
Dr. Tausk, der seit dem Herbst 1909 Mitglied der Wiener psycho- "
analytischen Vereinigung war, ist den Lesern dieser Zeitschrift durch
verschiedene Beiträge bekannt, die sich durch scharfe Beobachtung,
treffendes Urteil und eine besondere Klarheit des Ausdrucks auszeichnen.
In diesen Arbeiten kommt deutlich die philosophische Schulung, die der
Autor glücklich mit den exakten Methoden der Naturwissenschaft
zu verbinden wußte, zum Ausdruck, Sein Bedürfnis nach philosophischer
Fundierung und erkenntnistheoretischer Klarheit zwang ihn, die so schwie-
rigen Probleme in ihrer ganzen Tiefe und umfassenden Bedeutung zu
erfassen, aber auch bewältigen zu wollen. In seinem ungestümen For-
scherdrang ist er vielleicht manchmal in dieser Richtung zu weit ge
gangen; vielleicht war es auch noch nicht an der Zeit, der im Werden %
begriffenen Wissenschaft der Psychoanalyse eine allgemeinere Grund-
lage dieser Art zu geben, Die psychoanalytische Betrachtung philo-
sophischer Probleme, für die Tausk eine besondere Begabung bewies, verr
spricht immer mehr fruchtbar zu werden; eine der letzten Arbeiten des 4
Verstorbenen, über die Psychoanalyse der Urteilsfunktion, die — bis-
her noch unveröffentlicht — auf dem letzten psychoanalytischen Kon-
greß in Budapest von ihm vorgetragen wurde, beweist diese Richtung
seines Interesses. Mr, »
Neben seiner philosophischen Begabung und Neigung zeigte Tau sk» 5
auch ganz hervorragende medizinisch-psychologische Fähigkeiten und hatte u
auch auf diesem Gebiete schöne Leistungen aufzuweisen. Seine klinische
Tätigkeit, der wir wertvolle Untersuchungen über verschiedene Psychosen
(Melancholie, Schizophrenie) verdanken, berechtigte zu den schönsten %
Hoffnungen und gab ihm die Anwartschaft auf eine Dozentur, um die er ’
in Bewerbung stand, B
Ein ganz besonderes Verdienst um die Psychoanalyse hat sich
Dr. Tausk, der über eine glänzende Rednergabe verfügte, durch die
Abhaltung von Vortragskursen erworben, in denen er, mehrere Jahre
hindurch, zahlreiche Zuhörer beiderlei Geschlechtes in die Grund agen
und Probleme der Psychoanalyse einführte, Seine Zuhörer wußten die
pädagogische Geschicklichkeit und Klarheit seiner Vorträge ebenso zu
bewundern wie die Tiefe, mit der er einzelne Themata behandelte. Bei:
Alle, die den Verstorbenen näher kannten, schätzten seinen lauteren
Charakter, seine Ehrlichkeit gegen sich und andere und seine vornehme e
Natur, die ein Bestreben nach dem Vollendeten und Edlen auszeichnete,
Sein leidenschaftliches Temperament äußerte sich in scharfer, manchmal
überscharfer Kritik, die sich aber mit einer glänzenden Darstellungsgabe
verband. Diese persönlichen Eigenartigkeiten hatten für viele eine große
u
f Vietor Tausk. 997
Anziehung, mögen aber auch manche abgestoßen haben. Keiner jedoch
konnte sich dem Eindruck entziehen, daß er einen bedeutenden Menschen
vor sich habe.
Was ihm die Psychoanalyse — bis zum letzten Augenblick — be-
deutet hat, davon zeugen hinterlassene Briefe, in denen er sich rück-
haltlos zu ihr bekennt und die Hoffnung auf ihre Anerkennung in nicht
allzu ferner Zeit ausspricht. Der allzu früh unserer Wissenschaft und
dem Wiener Kreise Entrissene hat gewiß dazu beigetragen, daß dieses
Ziel erreicht werde. In der Geschichte der Psychoanalyse und ihren
ersten Kämpfen ist ihm ein ehrenvolles Andenken sicher.
Die Redaktion.
Zi
Zur psychoanalytischen Bewegung.
Dr. S. Ferenczi, der gegenwärtige Zentralpräsident der „I. Ps-
A. V,“, wurde von der ungarischen Räteregierung zu einer der ordent-
lichen Professur gleichwertigen Stellung an der Universität Budapest
berufen und hält bereits im laufenden Sommersemester vor einem schr
zahlreichen Auditorium ein dreistündiges Kolleg über „Psychoana
lytische Psychologie für Ärzte“, BER.
Gleichzeitig leitet Dr. Ferenezi die neugegründete psychoanaly-
tische Universitätsklinik in Budapest. 5
In Leipzig hat sich über Anregung des Herrn R. H. Voitel,
stud. med., eine „Gesellschaft für psychoanalytische Forschung“ gebildet,
welche bereits eine beträchtliche Anzahl von Personen der verschieden
sten akademischen Berufe umfaßt und sich in ernster Arbeit durch Vor
träge, Diskussionen und gemeinsame Lektüre um die Verwirklichung
ihrer Absichten bemüht. Die junge Gesellschaft, der das beste ‚Ge= ee
deihen zu wünschen ist, hat ihren Kontakt mit der Intern. psychoanalyt. Dr:
Vereinigung hergestellt. ER
In Warschau hat sich eine psychoanalytische Vereinigung ge- =
gründet, der bis jetzt 12 Mitglieder, vorläufig ausschließlich Ärzte, an
gehören. Be
Dr. Hanns Sachs, der zurzeit in Zürich weilt, hält dort private
Kurse über Psychoanalyse für Anfänger und Vorgeschrittene, die eine
erfreuliche Teilnehmerzahl aufweisen.
Dr. Emest Jones hat am 17. Mai an der Universität London
einen zweistündigen Vortrag über die „Psychopathologie des Alltags-
lebens“ vor einer sehr zahlreichen Zuhörerschaft gehalten. In der fol- h
genden Woche sprach er in der „Psychotherapeutic Society“ „über die
Handhabung der Traumdeutung in der psychoanalytischen Kur“. Be
Im „Internationalen Psychoanalytischen Verlag“, Leip-
zig und Wien, sind die drei ersten Bände der „Internationalen
Psychoanalytischen Bibliothek“ ausgegeben worden. Nr. 1:
„Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen“ mit Beiträgen von
Prof. Freud, Dr. Ferenezi, Dr. Abraham, Dr. Simmel und
Dr. Jones. Nr. 2: „Hysterie und Pathoneurosen“ von Dr. 8.
Ferenezi. Nr. 3: „Zur Psychopathologie des Alltags-
lebens“ von Prof. Dr. Sigm,. Freud. Sechste, vermehrte Auflage —
Im Druck befinden sich: Nr. 4: „Probleme der Religionspsychologie“ von
Dr. Th. Reik. Nr. 5: „Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung“
von Dr. Otto Rank. Nr. 6: „Spiegelzauber“ von Dr. Geza Röheim. —
Ferner erschien im „Internationalen Psychoanalytischen Verlag“ das 4
ui, “
% .
, - 2
*
+ Fe
a
Zur psychoanalytischen Bewegung. 229
Heft von „Imago“ mit folgendem Inhalt: Dr. Hanns Sachs: Der Sturm;
Dr. Sigmund Pfeifer: Äußerungen infantil-erotischer Triebe im Spiele;
Dr. Siegfried Bernfeld: Zur Psychoanalyse der Jugendbewegung; Dr.
Ludwig Levy: Ist das Kainszeichen die Beschneidung; Vom wahren
Wesen der Kinderseele.,
Von der Traumdeutung ist die fünfte, neuerdings vermehrte
Auflage im Verlage von F. Deuticke erschienen.
„Bine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“
von Prof. Freud erschien in zweiter, wesentlich vermehrter Auflage
in den „Schriften zur angewandten Seelenkunde“ (Verlag Deuticke).
Von Dr. Paul Federn erschien ein in der „Wiener psychoanalyti-
schen Vereinigung“ gehaltener Vortrag „Die vaterlose Gesell-
schaft“, Zur Psychologie der Revolution, als Broschüre im Anzengruber-
Verlag, Brüder Suschitzky, Leipzig und Wien,
In den Schriften zur angewandten Seelenkunde er-
schien als Heft XVII: Jakob Boehme: Ein pathographischer Beitrag
zur Psychologie der Mystik. Von Dr. med. A. Kielholz, Königsfelden.
PERL VE
BI 3%
u “= Ä
er,
BL
Korrespondenzblatt
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Nr. 3. 1919, Juli.
Redaktion: Br
Dr. Sändor Ferenecai, Dr. Anton v. Freund, u
Zentralpräsidont, Zentralsekrotfir. | ; . \
I. | = &
Offizielle Mitteilungen.
Infolge der schwierigen Verbindung mit der gegenwärtigen Zentral-
leitung in Budapest übernimmt die Zweigvereinigung Wien in
der Person ihres Vorsitzenden Prof. Dr. Freud und ihres Sekretäns
Dr. Otto Rank vorübergehönd die Führung der Angelegenheiten der
„Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ und wird nach Tun-
lichkeit die Verbindung mit der Zentralleitung aufrechterhalten. Ale
Zuschriften und Sendungen für die „I. Ps.-A. V.“ sind daher bs uf
Widerruf nach Wien zu richten, von wo sie, soweit dies notwendig nd
möglich sein wird, nach Budapest weitergeleitet bzw. direkt erledigt
werden sollen, ;
II.
Berichte der Zweigvereinigungen.
1. Berlin.
Tätigkeitsbericht 1919,
23. Jänner: Vorbereitende Sitzung,
6. Februar: Vortrag von Dr. Abraham: Über eine besondere Form des
neurotischen Widerstandes,
20. Februar: Vortrag von Dr. Liebermann: Zwangsneurose und Bi-
sexualität.
6. März: Vortrag von Dr. H. Koerber: Neurotische Lesestörungen,
16. März: Vortrag von Dr. Abraham: Tiertotemismus. Fu
20. März: Vortrag von Dr. M. Eitingon: Referat über Freud: „Aus der
Geschichte einer infantilen Neurose,“ 0
8. April: Vortrag von Frau Dr. K. Horney: Phantastischer Infantilis-
mus bei einem Grenzfall zwischen Neurose und Psychose. ud
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 231
17. April: Vortrag von Dr. Abraham: Über den weiblichen Kastrations-
komplex.
24, April: Geschäftliche Sitzung.
8. Mai: Vortrag von Dr. Boehm: Über einen Fall von Exhibitionismus.
22. Mai: Vortrag von Dr. H. Liebermann: Psychoanalytisches zum
Kulturproblem.
5. Juni: Dr. H. Koerber und E. Simmel: Referat und Korreierat
zur Frage „Hypnose und Psychoanalyse“.
19. Juni: Vortrag von Frau Dr. K. Horney: Zur Psychoanalyse des
Psychoanalytikers.
2. Holland.
Dr. Adolph F. Meyer, der Schriftführer der Niederländischen Zweig-
vereinigung, hat seine richtige Adresse: Haag, Laan van Meerder-
voort 245.
Dr. J. H. W. van Ophuijsen wohnt Haag, Prinse Vinkenpark 15.
3. Wien.
Änderungen im Mitgliederstand.
Eingetreten: Dr. Siegfried Bernfeld, Wien, XIIL, Dietlgasse 13.
Verstorben: Dr. Vietor Tausk, Wien.
Adressenänderung: Dr. W. Fockschaner, Wien, VI., Kasernen-
gasse 2,
Fortsetzung des Tätigkeitsberichtes.
X. Sitzung am 30. April 1919: Mitteilungen und Referate:
1. Prof. Freud: Bericht über Gründung einer psa. Gesellschaft
in Leipzig.
2. Dr. Rank: Bericht über die psychoanatytische Bewegung
in der Schweiz und im übrigen Ausland.
83. Dr. Hitschmann: Über einen Fall von Eßstörung.
4. Dr. Reik: Referat über Giese: Religionspsychologie.
XI. Sitzung am 14. Mai: Dr. Alfred Winterstein: Die Nausikaa-
episode in der Odyssee (erscheint in „Imago‘“).
XII. Sitzung am 4. Juni: Dr. H. Nunberg: Über einen Fall von Kata-
tonie (erscheint in der „Zeitschrift‘“).
XIII, Sitzung am 18 Juni: Dr. W. Fockschaner: Bemerkungen zu
einem Fall von Mondsucht.
XIV, Sitzung am 2. Juli: Mitteilungen und Referate:
1. Dr. Hug-Hellmuth: Eine Kinderanalyse.
2. Dr. Rank: Eine Kinderdichtung.
3. Dr. Nunberg: Deutung einer Ornamentzeichnung.
4. Dr. Federn: Über einen Fall von Zwangsneurose.
Merkwürdige Träume,
Schluß des Vereinsjahres 1918/19.
Zeitschr. f. ärztl, Psychoanalyse, Wj3. 16
“ ‘ KW) v }
iS v iv Yi t,
“ N w \ 1}
1
“ 4 FAN
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R | Berichtigung. 1
\ Dr. Hans Liebermann (Berlin) hat auf m T, Tntartakach le wi
! psychoanalytischen Kongreß in Budapest, Söptember 1918, einen Vortre ag a
> über „Morphinismus“ gehalten, der in dem Kongreßbericht in
Ks: Heft 1.d. Jg. durch ein Versehen weggeblieben ist. u
__ Ferner ist zu bemerken, daß das irrtümlich mit Dr. J. H. gersichnne Ai
Ber Referat über Simmel: „Kriegsneurosen“ im vorigen Heft dieser Zeit- %
“is schrift (S. 125 ff.) von Dr. Hans Liebermann verfaßt ist. N
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