Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud
X. Band 1924 Heft 3
Der Untergang des Ödipuskomplexes
Von
Sigm. Freud
Immer mehr enthüllt der Ödipuskomplex seine Bedeutung als das
zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode. Dann geht
er unter, er erliegt der Verdrängung, wie wir sagen, und ihm folgt
die Latenzzeit. Es ist aber noch nicht klar geworden, woran er
zugrunde geht; die Analysen scheinen zu lehren: an den vor-
fallenden schmerzhaften Enttäuschungen. Das kleine Mädchen,
das sich für die bevorzugte Geliebte des Vaters halten will, muß
einmal eine harte Züchtigung durch den Vater erleben und sieht
sich aus allen Himmeln gestürzt. Der Knabe, der die Mutter
als sein Eigentum betrachtet, macht die Erfahrung, daß sie Liebe
und Sorgfalt von ihm weg auf einen neu Angekommenen richtet.
Die Überlegung vertieft den Wert dieser Einwirkungen, indem
sie betont, dcLÖ solche peinliche Erfahrungen, die dem Inhalt des
Komplexes widerstreiten, unvermeidlich sind. Auch wo nicht besondere
Ereignisse, wie die als Proben erwähnten, vorfallen, muß das
Ausbleiben der erhofften Befriedigung, die fortgesetzte Versagung
des gewünschten Kindes, es dahin bringen, daß sich der kleine
Verliebte von seiner hoffnungslosen Neigung abwendet. Der Ödipus-
komplex ginge so zugrunde an seinem Mißerfolg, dem Ergebnis
seiner inneren Unmöglichkeit.
Eine andere Auffassung wird sagen, der Ödipuskomplex muß fallen,
weil die Zeit für seine Auflösung gekommen ist, wie die Milchzähne
Internat. Zeitschr. f, Psychoanalyse, X/j. . „
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
246 Si gm. Freud
ausfallen, wenn die definitiven nachrücken. Wenn der Ödipuskomplex
auch von den meisten Menschenkindern individuell durchlebt wird,
so ist er doch ein durch die Heredität bestimmtet, von ihr angelegtes
Phänomen, welches programmgemäß vergehen muß, wenn die
nächste vorherbestimmte Entwicklungsphase einsetzt. Es ist dann
, ziemlich gleichgültig, auf welche Anlässe hin das geschieht, oder
ob solche überhaupt nicht ausfindig zu machen sind.
Beiden Auffassungen kann man ihr Recht nicht abstreiten. Sie
vertragen sich aber auch miteinander; es bleibt Raum für die
ontogenetische neben der weiter schauenden phylogenetischen.
Auch dem ganzen Individuum ist es ja schon bei seiner Geburt
bestimmt zu sterben und seine Organanlage enthält vielleicht
bereits den Hinweis, woran. Doch bleibt es von Interesse
zu verfolgen, wie dies mitgebrachte Programm ausgeführt wird,
in welcher Weise zufallige Schädlichkeiten die Disposition aus-
nützen.
Unser Sinn ist neuerlich für die Wahrnehmung geschärft
worden, daß die Sexualentwicklung des Kindes bis zu einer Phase
fortschreitet, in der das Genitale bereits die führende Rolle über-
nommen hat. Aber dies Genitale ist allein das männliche, genauer
gezeichnet der Penis, das weibliche ist unentdeckt geblieben.
Diese phallische Phase, gleichzeitig die des Ödipuskomplexes,
entwickelt sich nicht weiter zur endgültigen Genitalorganisation,
sondern sie versinkt und wird von der Latenzzeit abgelöst. Ihr
Ausgang vollzieht sich aber in typischer Weise und in Anlehnung
an regelmäßig wiederkehrende Geschehnisse.
Wenn das (mäimliche) Kind sein Interesse dem Genitale
zugewendet hat, so verrät es dies auch durch ausgiebige manuelle
Beschäftigung mit demselben und muß dann die Erfahrung
machen, daß die Erwachsenen mit diesem Tun nicht einverstanden
sind. Es tritt mehr oder minder deutlich, mehr oder weniger
brutal, die Drohung auf, daß man ihn dieses von ihm hoch-
geschätzten Teiles berauben werde. Meist sind es Frauen, von
denen die Kastrationsdrohung ausgeht, häufig suchen sie ihre
Der Untergang des Üdipuskomplexes- 34.7
Autorität dadurch zu verstärken, daß sie sich auf den Vater oder
den Doktor berufen, der nach ihrer Versicherung die Strafe voll-
ziehen wird. In einer Anzahl von Fällen nehmen die Frauen
selbst eine symbolische Milderung der Androhung vor, indem sie
nicht die Beseitigung des eigentlich passiven Genitales, sondern
die der aktiv sündigenden Hand ankündigen. Ganz besonders
häufig geschieht es, daß das Knäblein nicht darum von der
Kastrationsdrohung betroifen wird, weil es mit der Hand am
Penis spielt, sondern weil es allnächtlich sein Lager näßt und
nicht rein zu bekommen ist. Die Pflegepersonen benehmen sich
so, als wäre diese nächtliche Inkontinenz Folge von und Beweis
für allzueifrige Beschäftigung mit dem Penis und haben wahr-
scheinlich Recht darin. Jedenfalls ist das andauernde Bettnässen
der Pollution des Erwachsenen gleichzustellen, ein Ausdruck der
nämlichen Genitalerregung, welche das Kind um diese Zeit zur
Masturbation gedrängt hat.
Die Behauptung ist nun, daß die .phallische Genitalorganisation
des Kindes an dieser Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aller-
dings nicht sofort und nicht ohne daß weitere Einwirkungen
dazukommen. Denn der Knabe schenkt der Drohung zunächst
keinen Glauben und keinen Gehorsam. Die Psychoanalyse hat
neuerlichen Wert auf zweierlei Erfahrungen gelegt, die keinem
Kinde erspart bleiben und durch die es auf den Verlust wert-
geschätzter Körperteile vorbereitet sein sollte, auf die zunächst
zeitweilige, später einmal endgültige Entziehung der Mutterbrust
und auf die täglich erforderte Abtrennung des Darminhaltes.
Aber man merkt nichts davon, daß diese Erfahrungen beim
Anlaß der Kastrationsdrohung zur Wirkung kommen würden.
Erst nachdem eine neue Erfahrung gemacht worden ist, beginnt
das Kind mit der Möglichkeit einer Kastration zu rechnen, auch
dann nur zögernd, widerwillig und nicht ohne das Bemühen, die
Tragweite der eigenen Beobachtung zu verkleinem.
Die Beobachtung, welche den Unglauben des Kindes endlich
bricht, ist die des weiblichen Genitales. Irgend einmal bekommt
17-
248 Sigm. Freud
das auf seinen Penisbesitz stolze Kind die Genitalregion eines
kleinen Mädchens zu Gesicht und muß sich von dem Mangel
eines Penis bei einem ihm so ähnlichen Wesen überzeugen. Damit
ist auch der eigene Penisverlust vorstellbar geworden, die Kastrations-
drohung gelangt nachträglich zur Wirkung.
Wir dürfen nicht so kurzsichtig sein wie die mit der Kastration
drohende Pflegeperson und sollen nicht übersehen, daß sich das
Sexualleben des Kindes um diese Zeit keineswegs in der Mastur-
bation erschöpft. Es steht nachweisbar in der Ödipuseinstellung
zu seinen Eltern, die Masturbation ist nur die genitale Abfuhr
der zum Komplex gehörigen Sexual erregung und wird dieser
Beziehung ihre Bedeutung für alle späteren Zeiten verdanken.
Der Ödipuskomplex bot dem Kinde zwei Möglichkeiten der
Befriedigung, eine aktive und eine passive. Es konnte sich in
männlicher Weise au die Stelle des Vaters setzen und wie er
mit der Mutter verkehren, wobei der Vater bald als Hindernis
empfunden wurde, oder es wollte die Mutter ersetzen und sich
vom^ Vater lieben lassen, wobei die Mutter überflüssig wurde.
Worin der befriedigende Liebesverkehr bestehe, darüber mochte
das Kind nur sehr unbestimmte Vorstellungen haben; gewiß
spielte aber der Penis dabei eine Rolle, denn dies bezeugten seine
Organgefühle. Zum Zweifel am Penis des Weibes war noch kein
Anlaß. Die Annahme der Kastrationsmöglichkeit, die Einsicht, daß
das Weib kastriert sei, machte nun beiden Möglichkeiten der
Befriedigung aus .dem Ödipuskomplex ein Ende. Beide brachten
ja den Verlust des Penis mit sich, die eine, männliche, als Straf-
folge, die andere, weibliche, als Voraussetzung. Wenn die Liebes-
befriedigung auf dem Boden des Ödipuskomplexes den Penis
kosten soll, so muß es zum Konflikt zwischen dem narzißtischen
Interesse an diesem Körperteile und der libidinösen Besetzung
der elterlichen Objekte kommen. In diesem Konflikt siegt normaler-
weise die erstere Macht; das Ich des Kindes wendet sich vom
Ödipuskomplex ab.
Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, in welcher Weise dies
Der Untergang des Ödipuskomplexes
249
vor sich geht. Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und
durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder
Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom
Vater die Strenge entlelint, sein Inzestverbot perpetuiert und so
das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzung
versichert. Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen
Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert, was
wahrscheinlich bei jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht,
zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt.
Der ganze Prozeß hat einerseits das Genitale gerettet, die Gefahr
des Verlustes von ihm abgewendet, anderseits es lahmgelegt, seine
Funktion aufgehoben. Mit ihm setzt die Latenzzeit ein, die nun
die Sexualentwicklung des Kindes unterbricht.
Ich sehe keinen Grund, der Abwendung des Ichs vom Ödipus-
komplex den Namen einer „Verdrängung" zu versagen, obwohl
spätere Verdrängungen meist unter der Beteiligung des Über-Ichs
Zustandekommen werden, welches hier erst gebildet wird. Aber
der beschriebene Prozeß ist mehr als eine Verdrängung, er kommt,
wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung und Aufhebung des
Komplexes gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf
die niemals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und
Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht viel
mehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat, dann
bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später seine
pathogene Wirkung äußern.
Solche Zusammenhänge zwischen phallischer Organisation,
Ödipuskomplex, Kastrationsdrohung, Über-Ichbildung und Latenz-
periode läßt die analytische Beobachtung erkennen oder erraten.
Sie rechtfertigen den Satz, daß der Ödipuskomplex an der
Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aber damit ist das Problem
nicht erledigt, es bleibt Raum für eine theoretische Spekulation,
welche das gewonnene Resultat umwerfen oder in ein neues
Licht rücken kann. Ehe wir aber diesen Weg beschreiten, müssen
wir uns einer Frage zuwenden, welche sich während unserer
350 Sigm. Freud
bisherigen Erörterungen erhoben hat und so lange zur Seite
gedrängt wurde. Der beschriebene Vorgang bezieht sich, wie
ausdrückhch gesagt, nur auf das männliche Kind. Wie vollzieht
sich die entsprechende Entwicklung beim kleinen Mädchen?
Unser Material wird hier — unverständlicherweise — weit
dunkler und lückenhafter. Auch das weibliche Geschlecht ent-
wickelt einen Ödipuskomplex, ein Über-Ich und eine Latenzzeit.
Kann man ihm auch eine phallische Organisation und einen
Kastratiouskomplex zusprechen? Die Antwort lautet bejahend,
aber es kann nicht dasselbe sein wie beim Knaben. Die femi-
nistische Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter
trägt hier nicht weit, der morphologische Unterschied muß sich
in Verschiedenheiten der psychischen Entwicklung äußern. Die
Anatomie ist das Schicksal, uro ein Wort Napoleons zu variieren.
Die Klitoris des Mädchens benimmt sich zunächst ganz wie ein
Penis, aber das Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem-
männlichen Gespielen war, daß es „zu kurz gekommen" ist, und
empfindet diese Tatsache als Benachteiligung und Grund zur
Minderwertigkeit. Es tröstet sich noch eine Weile mit der
Erwartung, später, wenn es heranwächst, ein ebenso großes
Anhängsel wie ein Bub zu bekommen. Hier zweigt dann der
Männlichkeitskomplex des Weibes ab. Seinen aktuellen Mangel ver-
steht das weibliche Kind aber nicht als Geschlechtscharakter, sondern
erklärt ihn durch die Annahme, daß es früher einmal ein ebenso großes
Glied besessen und dann durch Kastration verloren hat. Es scheint
diesen Schluß nicht von sich auf andere, erwachsene Frauen
auszudehnen, sondern diesen, ganz im Sinne der phallischen
Phase, ein großes und vollständiges, also männliches, Genitale
zuzumuten. Es ergibt sich also der wesentliche Unterschied,
daß das Mädchen die Kastration als vohzogene Tatsache akzep-
tiert, während sich der Knabe vor der Möglichkeit ihrer Voll-
ziehung fürchtet.
Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch ein
mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und zum Abbruch
Der Untergang des Ödipuskomplexes 251
der infantilen Genital Organisation. Diese Veränderungen scheinen
weit eher als beim Knaben Erfolg der Erziehung, der äußeren Ein-
schüchterung zu sein, die mit dem Verlust des Geliebt werdens droht.
Der Ödipuskomplex des Mädchens ist weit eindeutiger als der des
kleinen Penisträgers, er geht nach meiner Erfahrung nur selten
über die Substituierung der Mutter und die feminine Einstellung
zum Vater hinaus. Der Verzicht auf den Penis wird nicht ohne
einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen gleitet
— man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung —
vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in
dem lange festgehaltenen Wunsch, vom Vater ein Kind als
Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären. Man hat den
Eindruck, daß der Ödipuskomplex dann langsam verlassen wird,
weil dieser Wunsch sich nie erfüllt. Die beiden Wünsche nach
dem Besitz eines Penis und eines Kindes bleiben im Unbewußten
stark besetzt erhalten und helfen dazu, das weibliche Wesen für
seine spätere geschlechtliche Rolle bereit zu machen. Die
geringere Stärke des sadistischen Beitrages zum Sexualtrieb, die
nian wohl mit der Verkümmerung des Penis zusammenbringen
darf, erleichtert die Verwandlung der direkt sexuellen Strebungen
in zielgehemmte zärtliche. Im ganzen muß man aber zugestehen,
daß unsere Einsichten in diese Entwicklungsvorgänge beim
Mädchen unbefriedigend, lücken- und schattenhaft sind.'
Ich zweifle nicht daran, daß die hier beschriebenen zeitlichen
und kausalen Beziehungen zwischen Ödipuskomplex, Sexual-
einschüchterung (Kastrationsdrohung), Über-Ichbildung und Eintritt
der Latenzzeit von typischer Art sind; ich will aber nicht
behaupten, daß dieser Typus der einzig mögliche ist. Abände-
rungen in der Zeitfolge und in der Verkettung dieser Vorgänge
müssen für die Entwicklung des Individuums sehr bedeutungs-
voll werden.
Seit der Veröffentlichung von O. Ranks interessanter Studie
über das „Trauma der Geburt" kann man auch das Resultat
dieser kleinen Untersuchung, der Ödipuskomplex des Knaben gehe
25^ Sigm. Freud
an der Kastratio nsaugst zugrunde, nicht ohne weitere Diskussion
hinnehmen. Es erscheint mir aber vorzeitig, heute in diese
Diskussion einzugehen, vielleicht auch unzweckmäßig, die Kritik
oder Würdigung der Rankschen Auffassung an solcher Stelle
zu beginnen.
Professor G. Jelgersma und die Leidener
psychiatrische Schule
(Zum filnfundzwanzigjährigen Amtsjubiläum, von Professor G. Jelgersma)
Von Dr. A. J. Westerman Holstijn (Amsterdam)
Es kann hier nicht die hervorragende Bedeutung Jelgersmas
als Neurologe und Psychiater im allgemeinen gewürdigt werden j
an dieser Stelle soll nur zusammengefaßt werden, was er für die
Psychoanalyse und für die Entwicklung seiner analytisch orientierten
Schüler getan hat.
Im Jahre 1911 bekannte er sich als Rector Magnificus in seiner
Rektoratsrede öffentlich als Anhänger der Psychoanalyse, und
seitdem hat er stets mit ernster Begeisterung die Analyse
studiert, verteidigt und ausgeübt. Die Folgen dieses Vorgehens
können nicht leicht überschätzt werden. Denn viele, die aus
innerem Widerstand oder Unkenntnis der Analyse fern geblieben
wären, veranlaßte die Autorität des besten Psychiaters im Lande
sich der neuen Richtung zuzuwenden, und seitdem sind eine stets
wachsende Anzahl von Psychiatern, Laien und Fachleuten aus
anderen Gebieten durch sein Beispiel ermuntert worden, die
Analyse zu studieren, ihre Widerstände ins Auge zu fassen und
zu überwmden. Ohne ihn und seine in Vorlesungen und Vor-
trägen, in seinen Schriften und in der Praxis durchgeführte Ver-
teidigung der analytischen Grundsätze, hätte die niederländische
/ wissenschaftliche und Laienwelt, die von anderer autoritativer
Seite noch stets gegen die Analyse aufgehetzt wird, nicht in so
kurzer Zeit die üblichen oberflächlichen Einwürfe überwunden,
die einen so großen Nachteil für jede wissenschaftliche Einsicht
B54 ^^- ^- J- Westerman Holstijn
und für so viele Patienten bilden, die nur durch Analyse geheilt
werden können. 1917 finden wir Jelgersma unter den Gründern
der „Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse", welcher
Vereinigung er stets ein lebhaftes Interesse entgegenbrachte.
Von besonderer Bedeutung ist aber Jelgersmas Wirken für
seine Leidener Schule. Obwohl natürlich nach einer fünfund-
zwanzig] ährigen Professur viele Ärzte und Psychiater seine Schüler
sind, hat sich erst nach seinem Übertritt zur Analyse ein bestimmter
Kreis um ihn gebildet, der sich vor einigen Jahren in der
„Leidsche Vereeniging voor Psychoanalyse en Psychopathologie"
enger zusammenschloß. Trotzdem naturgemäß verschiedene
Strömungen in diesem Verein bestehen, gibt es doch ein gemein-
sames Streben und eine gemeinschaftliche Geistesrichtung, die man
als eine vom „Hordenvater" gegebene Prägung ansprechen darf.
Es ist in seinem Kreis als Regel aufgestellt, daß jeder Theorie
die Empirie voranzugehen hat. Jelgersma gab schon in seinem
„Leerboek der Psychiatrie" verschiedene neue Theorien, haupt-
sächlich jedoch zur Erklärung und Neuordnung des damaligen
Materials der psychiatrischen Wissenschaft. Auch Freud brachte
seine ersten analytischen Theorien erst, als gewisse neue Wahr-
nehmungen ihn zwangen, sie nach einer neuen Ansicht zusammen-
zufassen. Da aber in den letzten Jahren bei Psychiatern und
Analytikern so viele hypothetische Theorien auftauchen, bei
denen es nicht immer für jeden einleuchtend ist, daß diese
Theorien auf einer genügenden Anzahl überhaupt nicht oder
schwierig anders zu begreifender Wahrnehmungen beruhen, ist
es vorläufig wohl angebracht, noch immer die Forderung zu
erheben; „Zurück zu den Tatsachen, zur Klinik und Praxis."
Nichtsdestoweniger steht Jelgersma keiner Hypothese, wenn
sie nur von stichhältigen Gründen gestützt wird, a priori ablehnend
gegenüber, nur fordert er stets, daß keine metaphysischen Gründe
als Stütze für psychologische Theorien angeführt werden, wie
dies noch viel zu oft geschieht. Überhaupt ist eine weitgehende
Toleranz gegenüber anderen Meinungen für seine Persönlichkeit
Jelgersma und die Leidener Schule 25g
charakteristisch. Da sich nun so viele Tatsachen auf ganz ver-
schiedene Weise theoretisch auffassen lassen, könnte diese Haltung,
der sich auch seine Schüler immer befleißigen, bei weniger
kritischen Geistern doch einen guten Nährboden für das Entstehen
ganz verschiedener Auffassungen ergeben.
In der Tat finden in Her Leidener Schule neben den Freud-
schen Auffassungen verschiedene andere, teilweise auch abweichende
Meinungen, sehr wohlwollende Berücksichtigung: z. B. Jung,
Kretschmer, Hirsch feld und andere, doch können die
„Dissenters'' sich hier nie auf zu weit führende Irrwege begeben,
auf Grund der von Jelgersma stets wiederholten Forderung
exakten Denkens, und des Strebens all seiner Schüler, die Praxis
der Theorie, die Empirie der Deduktion, das Individualisieren
dem Generalisieren vorangehen zu lassen. Und es ist merkwürdig,
daß wir so oft aufs neue anerkennen müssen, daß die Freud-
schen Auffassungen, die auch uns anfänglich öfters so wenig
begründet schienen, doch schließlich die besten sind.
Aus meiner Forderung; „Zurück zur Praxis" soll aber nicht
gefolgert werden, daß die Schule Jelgersmas das Theoretisieren
als überflüssig betrachte. Objektive Wahrnehmung und subjektive
Anschauung, sowie Praxis und Theorie sind „ungeschieden unter-
schieden", können ohne einander gar nicht vorkommen. Es sind
denn auch von Jelgersmas selbst mehrere theoretische Studien
erschienen, während an dieser Stelle auf die wichtige Arbeit
seines Schülers Muller: „Denken, Streven en Werkeiijkheid"'
hinzuweisen wäre. Von besonderer Bedeutung ist es auch, daß
die theoretischen Auffassungen Jelgersmas, die er in seiner
voranalytischen Periode vertrat (welche zu besprechen hier zu
weit führen würde), mit den Freudschen Theorien sich ganz
gut in Emklang bringen lassen: ein Beweis dafür, daß, wenn
genaue Beobachter sich nur vorsichtig ausdrücken, sie sich vom
Wege der Wahrheit nicht weit entfernen können, und schließlich
einander auch finden müssen.
1) Referiert in dieser Zeitschrift, Band VII, Seite 377.
agö Dr. A. J. Westerman Holslijn
Mehr als sonst irgendwo in der Medizin ist in der Psychiatrie
Individualisieren notwendig. Dort hat man es mit dem von
allgemein gültigen Gesetzen beherrschten Körper zu tun, hier
außerdem mit der Seele, für die mehr Normen als Gesetze
gelten, und deren Reaktionen nie mit Bestimmtheit vorauszusagen
sind. In dem hier notwendigen Einfühlen und Verstehen des
Individuums liegt nun aber Jelgersmas große Kraft ; sein
intuitiv psychologisches Nachfühlen, sein klares Durchschauen
komplizierter psychischer Situationen erfüllt jeden, der mit ihm
in nähere Berührung kommt, stets mit Bewunderung. Unstreitig
hat er in dieser Beziehung seine größte Entwicklung erreicht,
seit er mit der Psychoanalyse bekannt geworden ist. Seitdem ist
auch wohl die größte Anziehungskraft von ihm ausgegangen, und
er ist, obschon ein bescheidener Mensch, ohne agitatorische oder
propagandistische Neigungen, mehr und mehr zum geistigen
Zentrum eines wachsenden Schülerkreises geworden. In mehreren,
in Schrift und Vortrag publizierten, bedeutenden Analysen hat er
von seinem höheren Verstehen und therapeutischen Können
Beweise geliefert, und seine persönlichen Auffassungen und neuen
Erwerbungen auch anderen zu lehren versucht. Es geschieht
auch in seinem Geist, wenn seine Schüler sich gegen das Gene-
ralisieren, in das Psychiater und Analytiker zu oft verfallen, auf-
lehnen, und wenn sie Gewicht auf individuelles Verstehen und
Einfühlen legen.
Die Analyse hat den Akzent unseres Denkens, der früher an
die physisch-kausale Reihe gebunden war, nach den verständ-
lichen und (wenn man so sagen darf) verständlich- kausalen.
Relationen verlegt. Nicht, daß die erstere uns weniger wichtig
erscheint, momentan stehen nur die zweiten im Zentrum unseres
Interesses, denn (wie Jelgersma in einem Vortrag sagte); „Die
Entdeckungen von Freud und seiner Schule öffneten uns die
Pforte, die zum psychologischen Begreifen der Psychosen Zugang
gibt und die, laßt uns es gestehen, bis jetzt fast hermetisch
geschlossen war. Dieses ist etwas ganz Neues und sehr Großes."
Jelgersiiia und die Leidener Schule 257
Seit Jahren verteidigt Jelgersma die These, daß Psychiatrie
und Neurologie nicht mehr in einer Hand zu vereinigen sind.
Es sind essentiell verschiedene Disziplinen: Neurologie reine
Naturwissenschaft, Psychiatrie zugleich Geistes wissenschajft. Und
obendrein mit Psychoanalyse und Anatomie vereinigt, umfassen
sie ein so ausgedehntes Arbeitsfeld, daß nur die Nervenärzte, die
ihre eigene Unzulänglichkeit in dieser oder jener Richtung nicht
bemerken, die Kombination beider verteidigen können. Niemand
ist hier so berechtigt, ein Urteil abzugeben, wie Jelgersma, der
alle diese Abteilungen so gründlich studiert hat, der vor vierzig
Jahren auf dem naturwissenschaftlichen Weg anfing und allmählich
die ganze Evolution mitmachte.
Mit um so größeren Nachdruck aber weist die Leidener Schule
darauf hin, daß ein andauernder Kontakt zwischen dem klinischen
Psychiater und dem analysierenden Psychotherapeuten für beide
Seiten notwendig ist. Trotz des glänzenden, grundlegenden Werkes
von Freud und seinen Mitarbeitern stehen wir noch am Anfang
unserer Kenntnis vom Unbewußten. Wir haben noch viel zu
lernen, vieles von dem, was wir heute so formulieren, wird
später besser ausgedrückt werden. Das vergleichende Studium
aber von Neurose und Psychose, wobei Unbewußtes und Ver-
drängung sich so ganz anders äußern, ist die erste Bedingung
zu weiterem wissenschaftlichen Fortschritt und besserem individuellen
Verstehen unserer Patienten. Wenn in Holland überhaupt in den
letzten fünfzehn Jahren eine Entwicklung des psychologischen
Verständnisses stattgefunden hat, so ist dies der bahnbrechenden
Tätigkeit Jelgersmas auf diesem Gebiet zuzuschreiben und
nur auf dem von ihm gezeigten Wege kann eine weitere Ent-
wicklung stattfinden.
Die Rolle der prägenitalen Libidofixierung
in der Perversion
Von Dr. E. A. D. E. Carp (erster Assistent)
(Aus der P^rcliiatriich-Neurologischen Poliklinik von Prof. Dr. Jelgersma, Rhijngeest.)
Es ist bekannt, daß die Entwicklungshemmung der Libido, welche zu
einer Fixierung in jenen Stadien führt, die bei der normalen Entwicklung
nur verhältnismäßig kurze Zeit zutage treten, namentlich in den Perver-
sionen studiert werden kann. Die Erscheinung der Verdrängung und
Symptombildung tritt hiebei viel weniger in den Vordergrund als bei den
Neurosen, so daß das infantile Gefühlsleben sich unverhüiher offenbart.
Der folgende Fall eines an einer Zwangsneurose und einem in perverser
Richtung entwickelten Geschlechtstriebe leidenden Patienten bot Gelegen-
heit, die Libidofixiei-ung und ihre Entwicklungshemmung bis zu prägeni-
talen Stadien zu verfolgen, während bei der Analyse die Pathogenese
einer eigentümlichen Form von Homosexualität manifest wurde, die ihr
Entstehen ebenfalls dieser primitiven Fixierung der Libido verdankte.
Es handelt sich um einen s/jährigen gebildeten Mann (Kaufmann), der
seit einigen Jahren verheiratet und Vater eines fünfjährigen Töchterchens
ist. Er begab sich ursprünglich wegen Zwangsvorstellungen in Behandlung.
Diese bestanden in dem für ihn sehr unbehaglichen Gefühl, Menschen
auf der Straße fortgesetzt ansehen zu müssen. Dies führte zu heftigen
Angstzuständen, die sich noch verschlimn^erten, wenn die von ihm ange-
blickten Menschen ihrerseits nun auch ihn, und dann meistens verwundert
oder gereizt, ansahen, so daß er zuweilen fast ohnmächtig zu werden
drohte. Wenn er stille Nebenstraßen einschlug, konnte er sich seinem
Zwange noch entziehen, wobei er dann mit niedergeschlagenem Blicke
seines Weges ging. Außer dieser seit Jahren bestehenden Zwangsneurose
kamen bereits seit seiner frühesten Jugend homosexuelle Gefühle bei ihm
vor, die namentlich in pä de ras tischen Neigungen und Handlungen zum
Ausdruck gelangten. Als einziges Kind war er von seiner Mutter sehr
liebevoll erzogen worden und wurde immer gegenüber dem strengeren
Piägenitaie Libidof ixierung in der Perversion agg
Vater in Scliutz genommen. Er liebte seine Mutter sehr und diese nahm
ihn in Abwesenheit des Vaters oft mit ins Bett, was er herrlich fand.
Eine Erinnerung aus sehr früher Jugend (ungefähr im Alter von vier
Jahren) wußte er noch zu erzählen: Als seine Mutter sich einmal ankleidete
und in Hemd und Hose vor dem Spiegel stand, konnte er der Neigung
nicht widerstehen, ihre Nates zu sehen ; er näherte sich ihr leise von
hinten und lüpfte ihr Hemd, worauf er heim Anblick der ihm riesig
erscheinenden Nates laut zu weinen anfing. In seinen homosexuellen
Gefühlen trugen seine Phantasien und Handlungen immer einen aktiven
pädei-astischen Charakter. Ferner bestand, als eine Art homosexueller
Gemeinschaft, eine besondere Vorhebe für die aktive orale Befriedigung.
Von Impotenz im Ehelehen war niemals Rede ; die Harmonie war gut, da
seiner Frau seine sexuellen Abweichungen verborgen geblieben waren. Noch
auf andere Weise verschaffte er sich sexuelle Befriedigung, und zwar
dadurch, daß er Tieren und Menschen an der Nase sog; er besaß einen
Foxterrier, den er zu diesem Zwecke gebrauchte und der sich dies willig
gefallen ließ. Obwohl hiebei weder Ejakulation noch Erektionen auftraten,
teilte er mit, daß er sich durch das Saugen ein Wonnegefühl verschaffe.
Auch das Betasten und Küssen der Nase bei Menschen und Tieren im
allgemeinen verschaffte ihm dieses Lustgefühl. Diese perverse Neigung
bestand ebenfalls seit seiner frühesten Jugend und äußerte sich später in
seinen homosexuellen Neigungen durch Saugen an Nase und Penis seiner
Kameraden, die dies dann wohl oder übel zuließen. Bei diesen Handlungen
erfüllte er immer die aktive (saugende) Rolle. Nach Eintritt der Pubeität
wandte sich sein Interesse auch Mädchen zu, insbesondere älteren. Den
fortgesetzten päde rastischen Handlungen a tergo folgten in der Regel
keine Verstimmungsphasen; seine heterosexuellen Neigungen vnirden mit
zunehmendem Alter allmählich stärker, behielten aber einen stark narziß-
tischen Charakter; seine Verliebtheitsperioden dauerten in der Regel nur
sehr kurze Zeit. Als er im Alter von etwa 32 Jahren heiratete, hatte er
den Koitus noch niemals ausgeübt.
Eine aus den ersten Kinderjahren auftauchende Erinnerung brachte
eine Aufklärung hinsichtlich seiner ausgeprägten Vorliebe zum Saugen an
bestimmten Körperteilen. Als fünfjähriges Kind war er gewohnt, mit dem
Speicherarbeiter zu spielen und er erinnerte sich nun, diesen einmal beim
Spielen an die Brust gefaßt und an dessen Brustwarze gesogen zu haben,
was der Arbeiter geschehen ließ. Von Interesse ist ferner der Umstand,
daß er bei Beginn der Masturbation noch sehr unzulängliche Kenntnis
von Bau und Funktion der Geschlechtsorgane besaß. Noch zu Anfang der
36o Dr, E. A. D. E. Carp
Pubertät vertiefte er sich in wunderliche Phantasien über den Geburtsakt,
wobei er sich unter anderem vorstellte, daß sich der Leib in der Weise
zweier Türen öffne, um das Kind hindurchzulassen. Auch bestand noch
lange Zeit die Meinung, daß das Kind längs des analen Weges geboren
und der Koitus ebenso wie bei den Tieren a posteriori ausgeführt werde.
Ferner erinnerte er sich einer merkwürdigen Vorstellung, die er sich bei
seiner „Sexualforschung" schuf. Veranlaßt durch die eigentümliche Kon-
sistenz des Spermas und in seiner Unkenntnis bezüglich dessen Ursprungs,
kam er zu der Meinung, daß analog des Dickerwerdens der Milch durch
Schütteln, wobei der Rahm abgeschieden wird, das Sperma wohl Harn
sein könne, der durch die Friktion des Penis eine andere Konsistenz
bekommen habe. Als seine homosexuellen Neigungen und Handlungen ein
zielbewußteres Gepräge annahmen, traten namentlich beim analen Koitus
, Mordphantasien auf. Diese hatten zum Inhalt, den Anderen zu erwürgen
oder zu durchstechen. Auch in seinen gewöhnlichen Tagträumen spielen
diese sadistischen Phantasien eine große Rolle. Eine dieser Phantasien, die
er mitteilt, war folgende : „In einem Badezimmer meiner Villa liege ich
auf einem Diwan. Da tritt mein Negersklave ein, mir beim Ankleiden
zu helfen; da er sich hiebei aber sehr u,ngeschickt benimmt, werde ich
sehr böse; ich schlage ihn mit einer Peitsche, bis ich nimmer kann, und
schenke ihm danach Verzeihung, als er genug hat." Er fügt noch hinzu,
daß beim Durchleben dieser und ähnlicher Phantasien seine Fäuste sich
ballen konnten und er selbst bisweilen erschrak vom Knirschen seiner
zusammengebissenen Zähne.
Einer seiner Träume möge etwas ausführlicher mitgeteilt werden: „Mir
träumte, daß ich Mitglied eines Fußballklubs werden wollte; mein Vater
aber sagte, daß kein Platz mehr sei und daß ich bei der Wahl keine Auf-
nahme finden („deballotiert") würde, ich dachte mir nicht besonders viel
dabei und wurde wach."
Bei dem Wort Fußball assoziierte er die Vorstellung: ein rundes Ding,
Gesäß; es kann auch wohl eine Brust sein; bei „Fußballklub" i Verein,
ein Mehrfaches (die beiden Hinterbacken oder die beiden Brüste); bei
„Mitglied werden": ich habe eine Vorliebe für Hinterbacken, mehr als
für Geschlechtsteile. Weiters wird Mitglied (Glied) mit Geschlechtsglied
verglichen; bei „deballotiert" assoziierte er: „Dann würden meine Bälle
{= Hoden) — im Holländischen bezeichnet man die Hoden als „teel-
hallen" = Zuchtbälle — entfernt werden müssen, oder ich würde meine
geschlechtlichen Gefühle für Hinterbacken (holländisch = billen) nicht
mehr behalten dürfen." Ferner ist es für ihn nach seinem Gefühl deut-
lich, daß der geträumte Ausdruck seines Vaters, daß „kein Platz mehr sei,
Prägeniiale Libido fixierung in der Perversion 261
Mitglied eines Fußballklubs zu werden" bedeute: „Mein Vater gönnte mir
die beiden Nates oder Brüste meiner Mutter nicht, und weil der Vater
ein Recht darauf hatte, war für mich kein Platz." (Ödipuskomplex.)
Rekonstruiert wurde die Bedeutung dieses Traumes folgendermaßen: Mit
dem Verlangen, Mitglied eines Fußballklubs werden zu wollen, wollte er
den Wunsch andeuten, die beiden Nates oder Brüste seiner Mutter dauernd
zu behalten. Dem widersetzte sich der Vater durch den Ausdruck „kein
Platz mehr"; hierauf folgt die Drohung des „Deballotiertwerdens".
(Kastrationskomplex.)
Undeutlich blieb vorläufig die sonderbare Reaktion des Träumers auf
die Bedrohung mit Kastration seitens des Vaters, wobei die Entziehung
des geliebten Mutterobjekts nicht mit einem Unlustgefühl verbunden war
(„ich fand es nicht so schlimm"). Dies wurde deutlicher, als näher auf
seine Perversion betreffs des Saugens am Penis von anderen und an der
Nase seines Hundes eingegangen wurde. Er teilte mit, daß er auch seiner
Frau an der Brust sauge und sich selbst auch mit Lustgefühlen die Brust
betaste. Diese Äußerungen von Saugerotik, die er in seiner Erinnerung
(vergleiche seine Erinnerung an das Saugen an der Brust des Arbeiters)
bis in seine früheste Jugend zurück verfolgen konnte, waren also teilweise
unverändert geblieben, da auch das Saugen an der Nase und Penis hiermit
in näherem Zusammenhange stand; der Penis war für ihn ein Surrogat
für die Brustwarze, wie sich aus seinen weiteren Einfällen herausstellte:
„Ich meinte, daß das Sperma eine Art abgeschiedener Rahm des Harns
sei; die Vorstellung, daß ich Milch haben könne, fand ich töricht; aber
ich konnte damals keine andere Erklärung finden." (Bei Hinweis auf die
Euter der Kuh, die dem Genitalapparat ähneln und, an der genitalen
Stelle befindlich, Milch geben, teilte er noch mit, während des Mastur-
bierens sehr oft durch die Ähnlichkeit zwischen dieser Handlung und den
von den Bauern beim Melken der Kühe verrichteten Manipulationen über-
rascht worden" zu sein. Sowohl das Saugen am Penis als an Nasen waren
Surrogate für das Saugen an der Brustwarze.) Indem femer von dem
Mutterkomplex und der Fixierung an der Brustwarze ausgegangen wurde,
lag es nahe, einen Zusammenhang zwischen dieser oralen Erotik und der
Analerotik, die außer in päderastisch-homosexuellen Neigungen auch in
früheren Erinnerungen zutage trat, zu vermuten. In seinen Einfällen bei
dem mitgeteilten Traum brachte er selbst für einen Teil die Lösung. Zu
dem „Deballotieren" assoziierte er neben einer symbolischen Handlung
(Kastration) das Wegnehmen der Nates. Hier kam die Analogie zwischen
Mammae und Nates als wechselseitig ersetzbare Symbole zum Vorschein.
Während die Bedeutung des Genitalapparates gering blieb, waren Mammae
InteiTlat. Zeitachr. £. Firchoannlysc, X/5. iS
362 Dr. E. A. D. E. Carp
und Nates stark libidobesetzt. Diese beiden Körperteile sind indessen, was
die Libidoi'erteilung anbelangt, nicht gleichwertig. Was die Analerotik des
Patienten betrifft, trat diese auch noch in dem Lustgefühl zutage, das er
bei der Defakation empfand. „Ich finde es immer sehr angenehm, auf dem
Abort zu sitzeü, und das Verrichten dieses Bedürfnisses verschafft mir ein
herrliches Gefühl." Es waren bei ihm keine ausgesprochenen Kennzeichen
jenes Charakters vorhanden, der als der analerotische bekannt ist. Es schien,
als ob die Libidofixierung auf das analerotische Stadium ziemlich unver-
ändert geblieben sei, während keine Verdrängung dieses Partialtriebes und
daher auch keine Sublimierung oder Umwandlung desselben in Charakter-
eigenschaften des Ich stattgefunden hat. Allerdings hat die analerotische
Fixierung einen wichtigen Beitrag zur homosexuellen Libidofixierung
geliefert, Freud' sagt: „Die Betonung dieser Analerotik auf der prägenitalen
Organisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame Prädisposition zur
Homosexualität hinterlassen, wenn die nächste Stufe der Sexualfunktion, die
des Primats der Genitalien, erreicht wird." Auch in diesem Falle findet man,
daß die bestehende Homosexualität in der Analerotik wurzelt, die als solche
einerseits zum größten Teil unverdrängt weiter bestand, andererseits einen
Beitrag zur homosexuellen Libidofixierung lieferte. Weiter findet man bei
unserem Patienten deutliche sadistische Neigungen (vergleiche Mordphantasien,
Schlagen aufs Gesäß), so daß dieser Sadismus als ein „Bemächtigungstrieb
im Dienste der Sexualfunktion", als prägenitale Entwicklungsphase der
Libido weiter besteht. Auch in seinen aktiven homosexuellen Neigungen
findet man diesen sadistischen Faktor wieder. Daß eine Zwangsneurose
sich gerade auf diesem hiezu prädisponierenden Boden, der durch die anal-
sadistisch fixierte Libido gebildet wurde, entwickeln konnte, ist ebenfalls
kein Zufall. Der Ausbruch dieser Neurose deutete jedoch auf eine
Verdrängung eines Teiles dieser anal -sadistischen Libido, so daß die Angabe,
daß keine Verdrängung stattgefunden hat, einer Ergänzung bedarf. Was
die Saugerotik des Patienten betrifft, haben wir hierin ein Verlangen zur
Rückkehr zu der Mutterbrust gefunden; in seinen Symptom handlungen
(Saugen an Penis und Nase von anderen) wurde dieses Verlangen wenigstens
symptomatisch erfüllt. Aber hiermit war dieser Wunsch noch nicht
hinreichend befriedigt ; denn in seinem Traume erstrebte er einen dauernden
Besitz der Mutterbrust,
Von S t ä r c k e wurde die Ansicht geäußert („Der Kastrationi-
komplex"), daß in der Laktationsperiode die mütterliche Saugwarze vom
Säugling als ein Teil seines Selbst aufgefaßt wird und somit autoerotische
i) Disposition lur Zwangsneurose, S. 120. Ges. Schriften Bd. V. S. 877-
Prägenitale Libido fixierung in der Perversion 265
und objekterotische Libido im Saugakt zusammenfallen würden. Das
Entziehen der Brustwarze soll als eine widerrechtliche Handlung und ein
Wegnehmen eines Teiles des eigenen Körpers, als eine Urkastration dem
später 'auftretenden Kastrationskomplex zugrunde liegen. Der vom Patienten
mitgeteilte Traum bringt die Bestätigung dieser Auffassung, Das Streben
die Mutterbrust zu behalten, wird mit Kastrationsdrohungen zurückgedrängt.
Das vom Vater im Traume angeführte Argument „kein Platz mehr"
deutet auf ein Entziehen der mütterlichen Brustwarze seitens des Vaters,
der wieder seine alten Rechte auf die Mutter geltend macht und das
Kind der Brust entwöhnt (die Brust vorenthält, deballotiert, kastriert).
Der Traum lieferte Material aus den allerersten Stadien der Libidofixierung
und in diesen Stadien ist eine bleibende Hemmung aufgetreten, die teils
unverdrängt, teils in Symptomhandlungen (Penis- und Nasensaugen) zum
Ausdruck kam. Was nun den Zusammenhang zwischen dem oralerotischen
und dem anal-sadistischen Stadium betraf, war bei diesem Patienten schon
seine sexuelle Fixierung an Nates und Mammae auffallend, während der
Genitalapparat der Frau im engeren Sinne sehr in den Hintergrund trat.
In seinen homosexuellen Verhältnissen waren es wieder die Nates und der
Penis, welche die Libido auf sich zogen; letzteres Organ wurde in der
Vorstellung des Patienten zum Brustwarzensurrogat, wahrend es nahe lag,
in den Nates ein Mammasymbol zu sehen. Diese Annahme wurde durch
die Einfälle beim letzten Traumelement bestätigt. Der Wert, den der
Träumer dem Deballotieren (Kastrieren) beilegt, wird durch die Erwägung
gekennzeichnet: „Ich fand es nicht so schlimm"; wozu er den Einfall
brachte: „Meinen Penis können sie ja nicht wegnehmen. Wenn man
sich nun seiner Phantasie über das Entstehen des Spermas (als Rahm)
und der beim Masturbieren aufsteigenden Gedanken an das Melken eines
Kuheuters erinnert, wird man durch die von ihm selbst empfundene
Ähnlichkeit zwischen Penis tmd Brustwarze (Zitze) überrascht. In der Tat
besitzt er in seinem Penis eine funktionierende (milchgebende)
Zitze und diese „können sie ihm nicht wegnehmen". Dadurch wird es
auch verständlich, daß das Entziehen der Mutterbrust (Deballotieren) von
ihm als nicht so achlimm empfunden wird, da er selbst eine Brustzitze
wiedergefunden hatte, die ihm dieselbe Lust verschaffte und ihm nicht
genommen werden konnte. Die Wunscherfüllung gelangte dabei vollkommen
zum Ausdruck, Der eigene Penis erfüllte somit bei ihm die Funition
einer funktionierenden Brustzitze. Hiermit fällt auch ein neues Licht auf
die homosexuelle Libidofixierung, die sich aus der Analerotik entwickelt
hatte: In seinen aktiven päderastischen Äußerungen hat er sich mit der
Mutter identifiziert; in seiner aktiven Rolle dringt sein Penis (Zitze) in
i8'
264
Dr. E. A. D. E. Carp
den Anus eines anderen. Wir finden hier eine Umkehrung der Symptom-
handlung des Saugens am Penis, wobei der Anus eine Verlegung des
Mundes nach unten war.
Es möge noch auf eine andere Erscheinung hingewiesen werden.
Eines Tages sagte der Patient: „Wollen Sie wohl glauben, daß ich mich
nie glücklicher fühle, als wenn ich in Schlaf falle." Dies kam zur Sprache
anläßlich seiner Klagen über häufiges Einschlafen am Tage, das ihn seit
Jahren bei seiner Arbeit überaus hinderte, aber andererseits von einem stark
luatbetonten Gefühl begleitet war. Seine kräftige körperliche Konstitution
machte schon a priori physische Faktoren sehr unwahrscheinlich, um so
mehr, als er selbst schon geneigt war, diese Erscheinung in psychischem
Sinne aufzufassen. Auf diese Schlaflust ist von Eis! er in seinem „Beitrag
zur Kenntnis der oralen Phase der Libidoentwicklung" hingewiesen worden.
Auf Grund seiner Untersuchungen gelangte er zu der Schlußfolgerung,
daß bei einer Regression der Libido zu der oralen Phase zugleich Spuren
des ursprünglichen Schlafzustandes aktiviert werden, eines Schlafzustandes,
wie man diesen beim Säugling findet, wenn die orale Befriedigung an
der Mutterbrust stattgefunden hat. In dieser lethargischen oder apnoischen
Phase, wie Eisler diesen Zustand nennt, bei welchem die Libido sich
auf die Stufe des Umarzißmus zurückzieht, findet man die stärkste
Regression.
Dieser Fall schien mir wegen der allen genannten Erscheinungen
zugrunde liegenden oralen Libidofixierung von Bedeutung. Daß diese Form
von Homosexualität, welche einer anormal starken oralen Libidofixierung
entspringt, vielleicht nicht selten ist, lehrte mich ein zweiter Fall.
Es handelt sich um eine 4oiährige, ledige, mit einem sehr guten
Intellekt begabie Dame, die sich eine überwertige Idee von einer geistigen
Schöpfung gebildet hatte; letztere bestand in einer sehr umfangreichen
Abhandlung über ein von ihr erdachtes analytisches System, das sich mit
der von Freud begründeten psychoanalytischen Methode auf eine Linie
stelhe und in welchem die Saugerotik eine alles beherrschende RoUe
spielte. Es würde zu weit führen, dieses System wiederzugeben; hier möge
nur bemerkt werden, daß es eine in ziemlich geordneter Form verfaßte
Beschreibung ihrer eigenen Triebregungen war und daß bei ihr noch eine
starke orale Fixierung bestand. Aber ebenso auffallend war ihre manifeste
Homosexualität, die sich im homosexuellen Verkehr in aktiver Form
äußerte. Für Männer hegte sie weitgehende Geringschätzung, die sie noch
durch den Umstand demonstrierte, daß sie sich mit einem sozial weit
unter ihr stehenden Manne verlobte, den sie durch Zuwendung von
Taschengeld am Gängelbande führte. Bei dieser Verlobung, bei der sie
Prägenitale Libidof ixierung in der Perversion 265
selbst die ganze aktive Rolle gespielt hatte, war bei ihr durchaus
■keine Rede von irgendwelcher sexueller Neigung. Sie fühlte sich selbst
männlich und hatte sich einst von einem Sexuologen untersuchen
lassen, da sie an ihrem Geschlecht zweifelte. Ihr „Penisneid" trat
femer noch deutlich in ihrer Vorliebe zutage, im Stehen zu urinieren
und Männerkleidung zu tragen. Ihr Verlangen nach dem Penis als
Surrogat für die Mutterbrust führte zu ihrer feindlichen Einstellung dem
Manne gegenüber, wobei der weibliche Kastrationskomplex (Abraham)
eine Rolle spielte.
Freud hat auf den Einfluß hingewiesen, den der Ödipuskomplex auf den
überstarken Partialtrieb ausübt. Von Sachs wurde die Aufmerksamkeit auf die
Rolle hingelenkt, welche das Ich einem Teile der Partialtriebe auferlegt,
wodurch diese bei der Verdrängung, namentlich des Ödipuskomplexes, tätig
sind und wobei diese Triebregungen „ichgerecht" werden.^ Man findet in
dem mitgeteilten Falle die Wirkung des Ödipuskomplexes deutlich wieder ;
in der abnorm starken Fixierung an der mütterlichen Saugwarze in einem
Zeitraum, in welchem von einem Ödipuskomplex noch keine Rede ist
(Laktationsperiode), liegt wahrscheinlich der Kern für den starken oralen
Partialtrieb, der nicht zu verdrängen war. Wenn beim Entwöhnen von
der Brust schon Spuren des Ödipuskomplexes zur Wirkung kommen, wie
sich dies unter anderem aus dem mitgeteilten Traume ergab, dann verrichtet
dieser Komplex in gewissem Sinne die Funktion einer Zensur, unter deren
Einfluß der ursprünglich starke Partialtrieb sein Objekt ändern muß, aber die
erogene Zone dieselbe bleibt. Während einerseits der Partialtrieb den Ödipus-
komplex [durch Introjektion des libidobesetzten Teiles des geliebten Mutter-
objektes (Übertragung von Libido der Mutterbrustwarze auf den eigenen Penis
durch Identißzierung) zur Losung bringt, tritt später bei der Objektfixierung
wieder das Objekt in den Dienst der alten Organlust, wobei in Symptom-
handlungen (Nasen-, Penissaugen) die primäre lustbetonte Handltmg
wiederholt wird. In der Analyse eines anderen Falles von Perversion war
ein ähnlicher Mechanismus auffallend: Bei einem männlichen Transvestiten
bestand unter anderem die Symptomhandlung, sich in Frauenkleidem mit
entblößten Genitalien vor den Spiegel zu stellen, wobei er den Penis
zwischen den Beinen verbarg und auf diese Weise den äußeren Eindruck
einer Frau hervorrief, wonach Orgasmus und Ejakulation erfolgte. Es
zeigte sich, daß dies auf einer Inzesthandlung beruhte, durch Introjektion
der Mutter in sich selbst. Auch in homosexuellen Handlungen ergab sich
eine Mutteridentifikation. Nicht allein durch Verdrängung des ödipus-
i) Zur Genese der Perver«ionen, Int. Zeitschr. f. PsA. 1915.
266
Dr. E. A, U. E. Carp
komplexes, sondern ebenfalls durch Introjektion des geliebten Mutterobjektes
oder eines Teiles desselben kann das Ich den Übergang eines bestehenden
abnorm starken Partialtriebes in eine Perversion bewirken. Der Umstand,
daß dabei auch stets eine Verdrängung auftritt, beweist das Bestehen einer
Neurose in dem erstgenannten Falle, ein Zusammenfallen, auf das auch
Sachs hingewiesen hat.
über Askese und Macht
Von Dr. J. M. Rombouts
ehem. erstem Assistenten an der psychiatrisch- neurologischen Klinik
von Prof. Dr. Jelgersma, Arit an der Anstalt Endegeest bei Leiden
In seinen Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose hat
Freud einen Fall beschrieben, bei dem er den Eindruck bekommen hatte,
als ob der Patient gleichsam in mehrere Persönlichkeiten zerfallen wäre :
eine unbewußte umschloß die frühzeitig unterdrückten, als leidenschaftlich
und böse zu bezeichnenden Regungen; in seinem Normal zustande war er
gut und lebensfroh, überlegen, klug und aufgeklärt; in einer dritten
psychischen Organisation huldigte er dem Aberglauben und der Askese.
Diese vorbewußte Person enthielt vorwiegend die Reaktionsbildungen auf
seine verdrängten Wünsche und es war leicht vorherzusehen, daß sie bei
weiterem Bestände der Krankheit die normale Person aufgezehrt hätte.
Eine andere Patientin war in eine tolerante, heitere und in eine schwer
verdüsterte, asketische Persönlichkeit zerfallen.
Aber nicht nur bei Zwangsneurotikern, sondern auch bei Schizoiden
und Schizophrenen kann man eine Aljfteilung der Persönlichkeit finden,
bei der eine asketische Teilpersönlichkeit vorkommt.
An erster Stelle möchte ich aus der Krankengeschichte eines zirka
fünfunddreißigi ährigen Zwangskranken folgendes mitteilen: Als Knabe wollte
er immer Arzt werden, während er die Möglichkeit, daß er Pfarrer werden
könnte, mit Geringschätzung ablehnte. Nach einem überstandenen Tj'phus
abdominalis fühlte er sich abgespannt und hatte eine gewisse Lebens-
schlaif heit. Nachdem er auf der Oberrealschule durchgefallen war, entschloß
er sich auf Drängen seiner Mutter und ihrer Familie, sich durch Privat-
studien für das Gymnasium vorzubereiten, um später Theologie studieren
zu können. Über seine späteren Amtspflichten machte er sich keine
Vorstellungen; nur hoffte er, in einem idyllischen Pfarrhause in einem
kleinen Dörflein später vom Kampfe des Lebens befreit zu sein. Auch
die Heiligkeit des Priesteramtes übte einen großen Reiz auf den schwan-
kenden Knaben aus. Sein Vater, ein zwangsneurotischer, streng orthodoxer
268 Dr. J. M. Rombouts
Kaufmann, führte eine rigoros pietistische Erziehung durch, wahrend er
durch seine Kälte, seinen Abscheu vor allen sinnlichen Genüssen, das
Leben der Mutter verdarb und alle Poesie verbannte. Die Mutter war eine
lebensfrohe, mutige, etwas überschwangliche Frau, eine Gefühl sfromme.
Unser Patient, der schon früh einen heißen Kampf gegen Onanieantriebe
zu führen hatte, verehrte seine Mutter, deren romantische Neigungen,
deren Vorliebe für deutsche Lyrik, ebenso wie ihre sexuelle Stärke (deren
sie sich rühmte und durch die sie unanfechtbar gegenüber allen Ver-
führungen blieb) einen mächtigen Eindruck auf ihn machten, während er
seinen Vater haßte und ihn wegen seiner neurotischen Schwächen gering-
schätzte. Nachdem die große Ejitscheidung seines Lebens gefallen war,
fühlte der schwache, unschlüssige, wenig aktive junge Mann die zentner-
schwere Last seiner heiligen Berufung, während er von starken sexuellen
Anfechtungen gequält wurde. Er bekam hypochondrische Beschwerden,
glaubte, sein Penis sei zu groß, ging in Museen, um an Statuen zu messen,
ob dem so sei usw. Demgegenüber hatte er Perioden, in denen er einer
so starren, unbeugsamen, unerbittlichen Moral huldigte, daß er Luther
einen viel zu weichlichen Gefiihlsfrommen fand, während er sich mehr
zu einem despotischen Fanatismus hingezogen fühlte, so daß seine Mutter
fürchtete, er würde noch einmal ein katholischer Asket werden. Viele
Jahre hatte unser Patient Angst vor Grachten und Menschenansammlungen.
Wenn er an einer Gracht entlang ging, fühlte er den Grund unter sich
schwanken, wobei er sich nach dem Wasser hingezogen fühlte. Aus seinen
Träumen ging deutlich hervor, daß die Gracht für ihn bedeutete:
schmutzig — schleichend — unheimlich — fäkal — ekelerregend — die
Neigung zu nervösem Lachen hervorrufend wie beim Kitzeln. Hiermit
waren auch Gedanken über zügellose Weiber verknüpft, die mit ihren
betäubenden Düften an einem nationalen Festtage auf den geschmückten
Grachten seine seelische Ruhe störten und ihn dazu veranlaUten, sich aus
seinen Fesseln loszureißen und seine theologischen Studien aufzugeben.
Darnach hatte er bald wieder eine Periode heftiger Reue und Selbst-
anklagen. Auch die Erinnerung an eine brünstige Stute, die sehr viel
urinierte, als sie geschlagen wurde, welche Szene unter anderem durch
Hitze und Duft des Urins ihn stark erregte und wo er die Neigung hatte,
sich darin zu baden, und noch viele andere, analerotische, urethralerotische,
masochistische, sadistische und andere niedere und perverse Triebe hingen
mit seiner Grachtenphobie zusammen. Im Weltkriege waren seine
Sympathien unbedingt auf Seite Deutschlands, welche Sympathien noch
größer wurden, als Deutschland geschlagen wurde. Deutschland war das
Land, das seine Mutter so sehr liebte, das mächtige, streng wissen-
über Askese und Macht 069
schaftiiche Land. (Schon als Knabe schämte sich unser Patient seiner
Krankheiten und seiner Schwäche.) Der deutschen Frau, blond, gesund,
freundlich, sonnig, stellte er die französische gegenüber: graziös, fein,
leidenschaftlich, dunkel, abenteuerlich, pervers, zugleich anziehend und
abstoßend. Während unser Patient früher sehr emporblickte zu der
unbefleckten Reinheit des Weibes, meinte er, nachdem er reichlich eigene
Erfahrungen gesammelt hatte, daß alle niederen Antriebe und Perversitäten
natürlicherweise zur Frau gehörten (wobei er sich selber auch für einen
mehr weihlichen Typus hielt), wogegen er sich nicht vorstellen konnte, dai3
große Männer auch solche niedern Antriebe haben sollten, wie die zur
Defakation und zur geschlechtlichen Betätigung. Seine Mutter ist für ihn
zum großen Teil die Repräsentantin des mächtigen, über jedes Kleinliche
erhabenen Männlichen. Sein wirklicher Vater war nur ein sehr dürftiger
Repräsentant seines Vaterideals.
Die asketischen Tendenzen unseres Patienten vergegenwärtigen unzweifel-
haft, wenigstens zum Teil, eine Bestrafung und Buße für sündhafte
Neigungen (so lagen zum Beispiel inzestuöse Neigungen ausgesprochen
vor). Daneben spielte aber das Streben, seine Schwächen zu überwinden,
ein Mann zu sein, zur Macht, eine große Rolle. Ein derartiges Streben zur
Macht ist oft sehr deutlich bei den asketischen Tendenzen von Schizoiden
und Schizophrenen. Als Argumente für den Vegetarismus hört man zum
Beispiel: Wenn wir Fleisch essen, stehen wir nicht über dem Tier, über
dem Fleisch in uns. Das Essen von Fleisch fördert die Blutbildung: daher
vollblutig, leidenschaftlich, sich nicht beherrschen können, Sklave sein
seiner eigenen Lüste. Moses strebte danach, das Volk unterworfen zu halten
— daher ließ er sie Fleisch essen. Im Paradies aß der Mensch Früchte.
Indem der Mensch die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und
Bösen aß, bekam er die klare Einsicht und wurde er Gott gleich. Das
Essen von Früchten macht nicht demütig und lenksam. Wenn man sich
vom Fleische lostrennt, erhebt man sich darüber und kommt dem
Göttlichen näher.
Alkoholabstinenz, Mäßigkeit im Essen und Trinken schützen das Ich
gegen Antriebe, die, wenn sie zu stark werden oder Hemmungen weg-
fallen sollten, die Herrschaft des Ich über sich selbst vernichten würden.
Auch Abstinenz auf sexuellem Gebiet kann zusammenhängen mit dem
Wunsche zur Herrschaft des Ich über seine Gelüste, zum Herrschen des
Geistes über das Fleisch. „Man fühlt den Feind in sich selbst, es ist die
eigene Liebesglut, die einen mit der eisernen Notwendigkeit zu dem
zwingt, was man nicht will", sagte Spielrein. Ein anderer wichtiger Faktor
ist die Furcht, daß beim sexuellen Akt ein Teil des Ich verloren gehe.
I
270 Dr. J. M. Rombouts
I
Der Samenverlust ist ein Problem für viele Schizophrene, wie man zum
Beispiel auch aus den Analysen von Itten und Nelken ersehen kam. „Im
Samen besitzt man die Unsterblichkeit. Der Verlust des Samens ist eine
Sünde, weil man das Leben hingibt. Wenn die Menschen keinen Samen
mehr verlören, würden sie nie mehr sterben und ohne Ausnahme zu
Göttern werden." Die Askese kann also auch der Ausdruck des Strebens
sein, die Verarmung des Ich durch Libidobesetzungen der Objekte zu
bekämpfen und ein Wiedererlangen der primitiv-narzißtischen Allmacht
zu fördern. Hierdurch wird das Ich unabhängig, es braucht sich um die
Welt und die Menschen nicht mehr zu kümmern, weil es in sich genug
hat; das Ich nähert sich dem Göttlichen.
Solange das Ich, das eine völlige Freimachung und Macht erstrebt,
durch seine fleischlichen Neigungen zurückgehalten und zur Erde hin-
gezogen wird, bekämpft es diese als feindliche Mächte, die sehr oft
depersonalisiert werden. Jede Demütigung, jeder Schlag dem niederen,
tierischen Ich zugefügt, ist ein Beweis für die zunehmende Macht des
höheren, vergeistigten Ich. Es ist denn auch sehr gut zu verstehen, daß
die Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung stärker sein wird, je stärker die
verurteilten Strebungen sich aufdrängen. Je mehr das Fleisch gedemütigt
wird, desto mehr fühlt sich das Ich erhoben. Wenn das Ich seine Schuld
erkennt und zu sühnen wünscht, ist es demütig ; wenn es sich mit seinem
Ichideal identifiziert, ist es hochmütig. Prinzipielle Wehrlosigkeit kann
auch den erreichten Sieg über alle sadistischen und agressiven Tendenzen
demonstrieren. Ein Schizophrener, der den Militärdienst verweigerte und
deshalb ein Jahr Gefängnisstrafe bekommen hatte, fand die Strafe sehr
angenehm: „er hatte Neigung dazu". Er wollte Buddha nachfolgen, nahm
Haltungen des Buddha an, lebte in den größten Entbehrungen, suchte
das größte Elend: Hunger, Kälte, nichts war ihm genug. Er hatte die
Überzeugung, daß damit eine gewisse Heiligung verbunden sei. Ungeachtet
seiner prinzipiellen Wehrlosigkeit, bereitete er der Polizei manchmal
Schwierigkeiten, da ihn weder Befehle noch Zwangsmaß regeln störten.
Auch mit den anderen Menschen konnte er sich nicht gut verstehen, da
er sich ihnen gegenüber zu erhaben fühlte. Ein Schizoider, welcher
betonte, daß der Mensch nicht zu seinem Vergnügen auf der Erde sei,
wollte wie ein Eremit in der Einsamkeit leben, weil die Wucht seiner
Sünden ihm zu schwer wurde. Anderen gegenüber stellte er sehr hohe
moralische Anforderungen, war dabei sehr strenge, meinte, daß er ein
höherstehender Mensch sei als die anderen, weil er mehr opferbereit war
und für andere leben wollte, unter Übergehung seiner eigenen Wünsche.
„Eigentlich war das ebensogut Egoismus wie Liebe, denn ich schmeichelte
ÜberAskeseundMacht 271
meiner Eigenliebe damit", mußte er sich gestehen. Durch ein asketisches
Leben erstrebte er ein höheres, heiligeres Leben. Er fühlte sich deshalb
stolz: „Das macht es, daß ich mich nicht viel mit anderen abgab."
Es wird sich die Askese dort stark ausgeprägt zeigen können, wo eine
Aufteilung in mehrere Teilpersönlichkeiten besteht, die verurteilten
Strebungen stark verdrängt oder depersonalisiert sind und wo einem Ideal
der absoluten Reinheit, der völligen Herrschaft des Ich über alle niedrigen
Lüste und Strebungen, der Heiligkeit und Gottähnlichkeit nachgestrebt
wird. Indem das Ich sich mit diesem Ichideal mehr identifiziert, fühlt es
sich über die gewöhnlichen Menschen erhaben. Dieses Ideal hat eine sehr
stark narzißtische Färbung und fast alle objektlibidinösen Tendenzen wirken
ihm entgegen. Wenn eine starke Fixierung an die Mutter besteht, kann
die Tendenz zur Identifikation mit der als rein und erhaben vorgestellten
Mutter, neben dem aus der Inzestscheu stammenden Abscheu vor allem
Sexuellen, sich sehr stark in dieser Hinsicht geltend machen, ebenso wie
eine Identifikationstendenz mit dem Vaterideal, der weit erhaben über
alles Schwächliche und Niedrige dasteht. In der Ekstase und bei Schizophrenen,
wo die Objektbesetzungen ganz eingezogen sind, kann wieder ein Zustand
der absoluten narzißtischen Allmacht erreicht werden, indem das Ich sich
ganz mit seinem Ideal identifiziert, keine Libido mehr an Objekte verloren
geht, kein Zwiespalt im Ich mehr besteht: das Ich ist gottähnlich oder
selber Gott geworden.
Eine eigenartige Sitte auf der Insel Marken
in Holland
Von Dr. med. H. C. Jelgersma
Aisistent an der Univei-sitätskliiiik Leiden
t
Schon viele Male ist die Psychoanalyse bestrebt gewesen, ihre Methoden
und Gesichtspunkte auf die Völkerpsychologie anzuwenden. Es liegt dabei
in der Art der Sache, dal3 nicht die kuhivierten Völker an erster Stelle
Gegenstand ihres Studiums wurden, sondern daß es sowohl die Sitten und'
Gebräuche der in alter Zeit lebenden Völker als auch die der in der
Gegenwart lebenden unkultivierten Volksstamme waren, die ihr Interesse
erweckten. Sind doch im Laufe der Entwicklung die Lebensverhältnisse
bei den kultivierten Völkern viel zu komplizien geworden. Die einfachsten
Lebensbedingungen finden wir bei den Naturvölkern; bei ihnen werden
wir den Sinn ihrer Sitten und Gebräuche am leichtesten verstehen können.
Aber auch heute begegnen wir in den zivilisierten Ländern isoliert
lebenden Stämmen, deren Sitte in auffallender Weise von den gebräuch-
lichen abweichen und die in völkerpsychologischer Hinsicht unser Interesse
erwecken. Dies ist zum Beispiel der Fall bei den Bewohnern der Insel
Marken in Holland, einer kleinen Insel von kaum 1500 Einwohnern,
in der Zuidersee, vier Kilometer von der Küste entfernt, gelegen. Die
Ursache dafür haben wir vielleicht in der bereits seit vielen Jahrhunderten
andauernden Isolation von der übrigen Mitwelt zu suchen; möglich, daß
auch der Starrsinn und der Konservatismus der Einwohner das Seinige
dazu beigetragen hat.
Die Insel Marken ist etvra im Anfang des XIII, Jahrhunderts aus dem
Meere entstiegen; um die Zeit siedelte eine kleine Sippe aus Friesland
hinüber. AUe Bewohner waren Fischer; die Männer hefuhren das Meer,
die Weiber dagegen blieben zu Hause und führten die Wirtschaft. Der
Stamm lebte bis vor kurzem noch in großer Zurückgezogenheit und
Abgeschlossenheit und erst in den letzten Jahrzehnten ist der Verkehr
zwischen Marken und der übrigen Welt lebhafter geworden. Heute vrird
Eine eigenartige Sitte auf der Insel Marken in Holland 275
die Insel des öfteren von Ausländem besucht; besonders im Sommer
strömen aus allen Teilen der Welt Touristen dorthin, um Marken, seine
Einwohner und ihre eigenartige Kleidertracht zu betrachten. Im Winter
dagegen ist die Insel von Tonristen verlassen und die Einwohner leben
wieder wie ehedem einsam in ihren einfachen, auf Pfählen gebauten
Häusern, da im Winter die Insel des öfteren überschwemmt ist. Seit Jahr-
hunderten schon lebt hier derselbe Volksstamm ; sie heiraten ausschließlich
untereinander, ja es ist sogar die Eheschließung mit Nichteinwohnem auf
Marken verboten. Dieses Verbot wird aber in den letzten Jahrzehnten
nicht mehr so strenge gehandhabt als früher. Auch körperlich unter-
scheiden sich die Marker von den übrigen Holländern ; sie sind ohne
Ausnahme groß, von derbem Wuchs und sie haben gelbes Haar.
Es ist nicht das erste Mal, daß die Insel Marken und seine Einwohner
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sind. Schon Blumenbach
hat im Jahre i8a8 einen Markerschädel beschrieben, der noch heute im,
anatomischen Museum zu Göttingen aufbewahrt wird. Er hat denselben
seiner sonderbaren Form wegen den „Batavus Genuinus" genannt und
behauptet, daß in ihm die Urform der Germanenschädel sich am reinsten
erhalten hat. Auch Virchow verglich im Jahre 1877 den „Batavus
Genuinus" mit dem Neandertaler. Die Untersuchungen von Bolk und
Bärge im Jahre 1910 aber haben erwiesen, daß die sonderbaren Konturen
des Markerschädels durch die eigenartige Sitte verursacht werden, den
Schädel der Kinder gleich nach der Gebtirt und auch dauernd zusammen-
zuschnüren. Wir wollen hierbei jedoch nicht lange verweilen, sondern zu
unserem eigentlichen Thema übergehen.
Eine der merkwürdigsten Gebräuche auf Marken ist, daß die Knaben
bis zu ihrem siebenten Lebensjahre Mädchenkleider
tragen. Sie tragen dieselben Röcke und Mützen und auch dieselben
Locken; nur die Jacke trägt bei den Knaben vome einen hellfarbenen
vertikalen Streifen, wodurch die Knaben sich von den Mädchen unter-
scheiden. Außer einigen Geringfügigkeiten in der Stickerei imd des schon
erwähnten hellfarbenen Streifens unterscheidet sich die Kleidung der
Knaben in nichts von der der Mädchen. Sobald die Knaben aber ihr
siebentes Jahr erreicht haben, bekommen sie die übliche Männertracht
mit weiten, kurzen Hosen und engem Wams. Damit sind sie eine Miniatur-
ausgabe der erwachsenen Männer geworden. Es liegt auf der Hand, anzu-
nehmen, daß diese eigenartige Sitte einen Grund hat. Die Marker selber
wissen darüber nichts mitzuteilen und wenn sie den Grund je gewußt
haben, so ist er offenbar in Vergessenheit geraten. Fragt man sie danach,
so wissen sie nur mitzuteilen, daß es so „Mode" ist. Wir haben aber
I
274 Dr. H. C. Jelgersma
allen Grund für diese Eigenart starke Motive anzunehmen, Motive, die
die Bevölkerung selber nicht weiß, Ist doch die Kleidung für kleine
Knaben dermaßen unpraktisch, daß die Jungen bei ihren Jugendspielen
beträchtlich dadurch behindert werden. Wir sind daher darauf ange-
wiesen, ohne Zuhilfenahme der Einwohner den Sinn dieser interessanten
Sitte zu ergründen.
Zunächst könnte man annehmen, daß dieser Brauch einfach den Grund
hatte, daß die Marker damit beide Geschlechter einander gleichzustellen
versuchten, um somit, aus übertriebener Prüderie, die sexuelle Aufklärung
aufzuschieben. Warum aber hat man dann die Knaben in Mädchenkleider
■gesteckt und nicht die Mädchen in Knabenkleider, was viel einfacher und
praktischer wäre. Es ist deutlich, daß eine so einfache Erklärung nicht
ausreicht. Auf der Suche nach einer solchen, ist die wichtige Tatsache zu
berücksichtigen, daß der Brauch sich nur gegen die Knaben richtet, die
Mädchen dagegen unbehelligt läßt.
Wollen wir uns zur Erklärung einen unparteiischen Beurteiler zu Hilfe
rufen, nämlich einen kleinen Knaben von etwa sechs Jahren. Wenn wir
ihm das Bild eines Markerknaben in Mädchenkleidern zeigen und ihn
fragen, ob es ihm gefallen würde, wenn er so gekleidet wäre, so äußert er
unumwunden seinen Abscheu darüber und empfindet diese Zumutung
offenbar als eine Beleidigung und Erniedrigung. Damit gibt er uns den
Schlüssel zur Lösung des Rätsels selbst in die Hand. Offenbar ist der
Grund dieser eigenartigen Sitte eine wirkliche Erniedrigung und besteht
in der Absicht, den Knaben dem Mädchen gleich zu machen. Wir können
hier von einer durch fremde Hand vollzogenen symbolischen Kastration
sprechen. Und wenn wir die kleinen Markerknaben in Mädchenkleider
spielen und sich herumtummeln sehen, können wir uns des Eindruckes
einer wohlgelungenen Erniedrigung nicht verwehren. Von der Annahme
ausgehend, daß in Wirklichkeit, aber unbewußt, die Absicht besteht, die
Knaben in symbolischer Weise den Mädchen gleichzustellen, wollen wir
diese Voraussetzung als feste Basis für weitere Schlußfolgerungen annehmen.
Wenn wir uns die Frage vorlegen, woher diese Erniedrigung kommt,
so kommen hiefür nur zwei Personen in Betracht, die die Macht dazu
haben, nämlich der Vaier und die Mutter. Die Kenntnis versteckter
Seelenregungen, welche die psychoanalytische Untersuchung einzelner
Menschen uns lehrt, gestattet uns, in diesem Falle den Vater als denjenigen
zu betrachten, der den Markerknaben erniedrigt. Nur der Vater hat Grund,
seinen Sohn zu fürchten und dessen wachsende sexuelle Potenz zu untei^
drücken. Auffallenderweise aber werden den Knaben, sobald sie sieben
Jahre alt geworden sind, Männerkleider verliehen, ein Umstand, der uns dazu ver-
Eine eigenartige Sitte auf der Insel Marken in Holland 275
helfen kann, das Rätsel ganz zu lösen. Wie oben bereits vermerkt, ver-
weilen die Männer vorwiegend auf dem Meere, während die Weiber mit
den Kindern auf der Insel zurückbleiben Deswegen ist die Annahme be-
rechtigt, das früher, als es auf Marken noch keine Schule gab, die Knaben,
sobald sie sieben Jahre alt geworden waren, mit dem Vater mitfuhren und
somit der Gesellschaft der Mutter und Schwestern entzogen wurden. Der
Brauch erklärt sich demnach als ein Schutz gegen die inzestuösen
Neigungen des Sohnes, die väterlicherseits in angegebener Weise unterdrückt
werden. Derartige fast magische Handlungen finden wir auch in „Totem
und Tabu" von Freud beschrieben, wo ihnen eine ähnliche Erklärung
gegeben wird. Es ist eine auffallende Tatsache, daß in unserem Falle der-
artige Gebräuche nicht bei einem unkultivierten Volksstamme, sondern bei
einer kleinen Gruppe von Menschen, mitten zwischen einem hochzivilisierten
Volke gefunden werden. Meiner Ansicht nach haben wir den Grund hier-
für in dem Umstand zu suchen, daß die Marker schon seit etwa sieben
Jahrhunderten ganz isoliert leben und ausschließlich untereinander heiraten.
Der Inzest, den sie so fürchten, ist auf Marken keine Fiktion, sondern im
Laufe der Jahrhunderte im Gegenteil Tatsache geworden. Erwähnenswert
ist in unserem Falle noch das Gebot, nie Fremde zu heiraten, was ja bei
einer so kleinen Gruppe von Menschen einem Inzestgebot gleichkommt;
ganz das Gegenstück zu dem übertriebenen Inzestverbot bei dem Totemis-
mus, aber beide, Gebot und Verbot, entstammen demselben Triebe, nämlich
dem Inzest. Die merkwürdige Abwehrhandlung, die Knaben in Mädchen-
kleider zu stecken, zeigt uns, daß auch die Einwohner von Marken nicht
straflos seit Jahrhunderten den Inzest getrieben haben.
über die Projektion und ihre Inhalte
Von Dr. J. H. van der Hoop (Amsterdam)
In seinen „Psychoanalytischen Bemerkungen über einen Fall von
Paranoia" (1911) behält Freud sich vor, die Frage der Projektion und
der paranoiden Symptom bil düng „für einen anderen Zusammenhang auf-
zusparen", und in diesem Artikel wird die schwierige Frage dann nicht
weiter behandelt. Auch später ist Freud nicht zu einer ausführlichen
Besprechung dieses Punktes gekommen. Man braucht sich darüber nicht
zu sehr zu wundern. Denn erstens war die Frage nur eine von den vielen,
die der Scharfsinn Freuds gestellt hat, und zweitens ist das Problem sehr
verwickelt. Das zeigt sich, wenn wir in Betracht ziehen — wie Freud
in dem betreffenden Artikel schreibt — daß die Projektion auch .ein
Faktor im normalen Seelenleben, in dessen Verhältnis zur Außenwelt sei.
„Wenn wir die Ursachen gewisser Sinnesempfindungen nicht wie die
anderer in uns selbst suchen, sondern sie nach außen verlegen, so verdient
auch dieser normale Vorgang den Namen einer Projektion", bemerkt er.
Damit berühren wir dann die wichtige Frage, woher es kommt, daß ein
Teil der psychischen Prozesse sich auf eine Außenwelt richtet, ein anderer
Teil aber auf das Innenleben gerichtet ist. Auch wenn wir als Psychologen
von den Erscheinungen ausgehen und die philosophische Seite der Frage
unbeachtet lassen, so bleibt das Problem noch schwierig genug. Denn die
Projektion spielt eine Rolle in psychischen Prozessen von großer Ver-
schiedenheit. Versuchen wir, einige dieser Formen der Projektion zu über-
blicken.
Zuerst müssen wir etwas deutlicher zu machen suchen, was Projektion
eigentlich heißt. Freud beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen:" Eine
innere Wahrnehmung wird unterdrückt und zum Ersatz für sie kommt
ihr Inhalt, nachdem er eine gewisse Entstellung erfahren hat, als Wahr-
nehmung von außen zum Bewußtsein."' Für viele pathologische und manche
normale Erscheinungen scheint mir diese knappe Formulierung zu genügen,
1) P r e u d, Psychoanalytische Bemerkungen über einen Fall von Paranoia,
Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 417.
über die Projektion und ihre Inhalte
277
aber doch nicht für alle. Nehmen wir gleich ein Beispiel bei Normalen.
Beim Argwohn werden oft unbewußte eigene Haß- und Neidgefühle
anderen Menschen hinzugedichtet. Es ist klar, daß es sich da leicht um
verdrängte Regungen handeln kann, die das Weltbild in stärkerem Maß
beeinflussen, als es mit der objektiven Wahrnehmung übereinstimmt.^ Das
Gleiche sehen wir aber auch bei Menschen, die selber gutmütig sind und
oft betrogen werden, weil sie anderen immer zu sehr die eigene Einstellung
zumuten. Hier kann man doch nicht von verdrängten Gefühlen sprechen.
Zwar sind diese Gefühle den Menschen meistens zum größten Teil nicht
bewußt, aber Widerstände dem Bewußtwerden gegenüber gibt es doch
kaum. Man kann dagegen einwenden, daß die Sache meistens viel ver-
wickelter ist, und daß eine solches allgemeines Beispiel wenig besage. Ich
glaube doch hiemit die Frage gekennzeichnet zu haben und werde es hier
dabei bewenden lassen, um so mehr, weil auch Freud in seinem letzten
Buche^ klar auseinandergesetzt hat, daß nicht nur das Verdrängte unbewußt
.sei, sondern daß es auch im Ich nicht verdrängte Einstellungen geben
kann, die unbewußt sind und auch nicht zum Vorbewußten gerechnet
werden können. So können wir also in der Projektion auch Inhalte erwarten,
die nicht infolge von Verdrängung unbewußt sind. Dies trifft um so mehr
zu als wir bei Kindern und Primitiven vieles in die Außenwelt projiziert
finden, was wahrscheinlich nicht infolge von Verdrängung dortselbst wahr-
genommen wird, sondern einfach, weil die bewußte psychische Organisation
nicht fähig ist, es als innere Wahrnehmung aufzufassen. Wenn ein Kind
das Tischbein schlägt, an dem es sich gestoßen, oder wenn ein Primitiver
als Ursache für den Tod durch Krankheit feindliche Magie annimmt, so
können wir da schwerlich von Verdrängung sprechen. Die Handlung gehört
ganz in das Weltbild des unentwickelten Geistes hinein. Wohl aber fäUt
es uns auf, daß dort zwischen Person und Sache, zwischen inneren und
äußeren Einflüssen viel weniger eine Grenze gezogen wird, als bei weiter
entwickehen Menschen. Auf diesen Zustand, der die Projektionen natürlich
sehr begünstigt, komme ich nachher zurück. Hier wollen wir zunächst
den Wunsch aussprechen, daß Freuds Beschreibung des Projefctions-
vorganges etwas weiter gefaßt werden möge, und zwar so, daß nicht nur
unterdrückte innere Wahrnehmungen als Projektion erscheinen können,
sondern auch Wahrnehmungen, die wegen der ungenügend entwickelten
Geistesverfassung nicht im be'.vußten Geiste assimiliert werden können.
1) Freud hat auf diese Einflüsse noch vor kurzem hingewiesen in seinem
Artikel: „Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia, und Homo-
sexualität". Intern. Zeitschr. f. Psa., 1922, S. 250. (Ges. Schriften, Bd. V, S. 587.)
a^Preiid, Das Ich und das Es, S. 16. (Ges. Schriften, Bd. VI.)
Internat Zeitschr. f. Psychoanalyse, X/5.
19
378 U r. J. H. van der lioop
Wenden wir uns nun dem Gebiete des Pathologischen zu, wo die Pro-
jektion am meisten aufgefallen ist, so finden wir da ein breites Gebiet,
das allmählich ins Normale übergeht und wo die Projektion eine große
Rolle spielt, nämlich den Bezieh ungswahn. Wem icke hat gezeigt, wie
der Beziehungswahn aus einer überwertigen Idee entsteht und somit die
Form näher erklärt. Der Inhalt wurde aber besser verständlich, nachdem
die psychoanalytische Orientierung tiefer in die Grundlagen des Gefühls-
lebens eingedrungen war. Da wird der gefühlsbetonte Komplex immer
besser erkannt, wie auch Kretschmer unter psychoanalytischem Einfluß
in seinem ,, Sensitiven Beziehungswahn" auseinandergesetzt hat. Für den Ana-
lytiker ist es klar, daß es eich da meistens um verdrängte Gefühlsregungen
handelt, die in der Projektion wiedererscheinen. Die merkwürdigen Inhalte,
die auch schon in dem Bezieh ungswahn manchmal entstehen können und
die der Eewußtseinspsychologie gänzlich unverständlich bleiben, werden von
dem Analjrtjker dann weiter als Entstellungen regressiver Inhalte entlarvt.
Noch viel mehr braucht man die Hilfsmittel der analytischen Psycho-
logie, wenn man den Projektionen gegenübersteht, die einem bei den
Schizophrenen begegnen. Hier ist es am allerdentlichsten, daß die Objekti-
vität durch Subjektives verzerrt wird. Sogar die Wahrnehmung wird durch
Halluzinationen umgestaltet und die Wahnbildung ändert den Aspekt der
ganzen Außenwelt. Am einfachsten erscheint die Projektion hier, wenn die
eigenen Gedanken zum Teil nicht als solche anerkannt, sondern als „gemacht"
und von anderen verursacht angesehen und so objektiviert werden. Wenn
aber hier die Formen als Projektionen augenfäUig sind, so sind die Inhalte
nur zum Teil verständlich. Zwar findet man meistens bei länger dauernden
Krankheitsfällen Äußerungen, die die Gefühlskomplexe so offen zeigen, daß
sie als einfachste Beweise für die psychoanalj'tischen Ansichten gelten
können, aber daneben ist das meiste doch sehr verworren und wild, so
daß es auf den er.sten Blick viel näher zu liegen scheirtt, die Störungen
einem somatischen Prozeß zuzuschreiben. Nun haben zuerst Jung in
seiner ,, Psychologie der Dementia praecox" (1907), dann Freud in seiner
Erforschung der , .Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" und nachher
viele andere gezeigt, wie vieles von diesen verworrenen Erscheinungen sich
dort erklären läßt und sich dann als Ausdruck der verdrängten Regungen
erweist. Damit ist die Schizophrenie dem psychologischen Verständnis
nähergerückt, aber man kann nicht sagen, daß sie damit crkläi-t wäre. Denn
viele der Erscheinungen, z. B. die Halluzinationen, sind durch dieses
psychologische Verstehen ihrer Inhalte doch ebenso weit von der normalen
Psychologie stehen geblieben wie vorher. Und wenn Kritiker uns vor-
werfen, daß die gefundenen Gefühlskomplexe in jedem Menschen ihre
über die Projektion und ihre Inhalte aj-q
Rolle spielen und es also nicht wunder nehme, daß man sie in den
schizophrenen Äußerungen wiederfinde, so ist diese Bemerkung nicht
unrichtig. Es wäre an uns, zu beweisen, daß die Formen und Inhalte sich
in bestimmten, gut zugänglichen Fällen restlos aus den verständlichen
Zusammenhängen und aus den bekannten Psychismen' erklären ließen;
doch so weit sind wir noch nicht. Da bleibt es meines Erachtens bis jetzt
dann jedem freigestellt, körperliche Faktoren zur weiteren Eiklamng
heranzuziehen, wenn er nur nicht dai-aus einen Vorwand macht, sich den
psychologischen Einblicken zu verschließen, und wenn er nm- nicht meint,
irgendwie festeren Grund unter den Fußen zu haben als andere, die sich
bloß auf psychologische Tatsachen zu stützen suchen. Jedenfalls scheint
mir der psychologische Ausgangspunkt für Untersuchungen nach den
heutigen Erfahrungen der fruchtbarere. Also müssen wir versuchen, hier
näher in die Erscheinungen einzudringen, und es kann dabei versucht
werden, die Projektion näher durch die Schizophrenie zu ergründen und
auch umgekehrt das Wesen der Schizophrenie näher zu erfassen durch eine
klarere Einsicht in den Psychismus der Projektion.
Für die Untersuchung dieser Frage ist die primitive Psychologie überaus
wichtig; denn hier haben wir ein Gebiet des normalen Geisteslebens, wo
die Projektion eine große Rolle spielt und dessen Erscheinungen mit
manchem aus dem Seelenleben der Schizophrenen viel Ähnlichkeit zeigen.
Das Studium der primitiven Psyche hat gezeigt, wieviel Unterscheidungen,
die wir machen, dort keine Gültigkeit haben, und vor allem, wie die eigene
Persönlichkeit und die eigene Gedankenwelt viel weniger scharf umrissen
sind und weniger von der Außenwelt gesondert werden wie bei uns. Vor
allem hat Levy-Bruhl in seinem Buche „Les fonctions mentales dans
les soci^tes inferieures" diese Erscheinung an vielen Beispielen beleuchtet
und als ,,loi de parti^ipation" dargestellt. Das Selbstbewußtsein ist in diesem
Stadium wenig entwickelt, und direkte Beeinflussungen des Selbst durch
äußere Geschehnisse werden als ebenso selbstverständlich und natürlich
angesehen wie in demiWahn der Schizophrenen. Diese Einsicht in die
Tatsachen führt uns zu der Annahme, daß ursprünglich die Unterscheidung
zwischen Außen- und Innenwelt für das erste Bewußtwerden der Welt
gar nicht bestanden und daß diese sich erst allmählich aus der Unge-
schiedenheit heraus gebildet hat. Diese Meinung ist für die individuelle
Entwicklung auch von Analytikern wiederholt ausgesprochen worden.'^ Es
i) Ich ziehe dieses Wort dem auch vielfach gebrauchten ..Mechanismen'- vor.
2) Zuerst wohl von F e r e n c 2 i, Introjektion und Übertragung, Jahrbuch I, 1909,
und niich von Stärcke in: „Der Kastrationskomplex". Intern. Zeitschrift f. Psa.'
1921, S. 50.
19'
z8o
Dr. J. H. van der Hoop
ist sehr wahrscheinlich, daß das sehr Weine Kind zwischen dem eigenen
Körper und den Dingen der Welt nicht unterscheidet, zum Beispiel der
Mutterbrust. Für die Untersuchung ist eine große Schwierigkeit, daß das
Kind in diesem Alter noch keine deutlichen Mitteilungen geben kann. In
dem Alter, wo das möglich ist, wird die Scheidung schon als etwas Selbst-
verständliches angesehen, und auch für den erwachsenen Menschen bedarf
es einer besonderen philosophischen Anstrengung, hier ein Problem zu
erblicken. Bei der MenschheitsentwicUung haben wir viel mehr Anhalts-
punkte, da hier das Stadium der allmählichen Herausbildung der Unter-
scheidung viel länger gedauert hat und viel mehr Erscheinungen ergibt.
Doch ist es auch hier nicht leicht, sich eine einigermaßen klare Vor-
stellung von dem psychischen Erleben zu bilden, und die Gefahr einer *
Mißdeutung von unserem ausgebildeten Standpunkt aus ist nicht zu unter-
schätzen. So viel ist aber wohl sicher, daß die Projektion von eigenen psychischen
Inhalten dort eine viel größere Rolle spielt als bei uns. Wenn die ganze
Natur als belebt geschaut wird, wenn in Bäumen, Felsen, Flüssen bestimmte
psychische Mächte wohnen, so erklären wir das als eine Projektion des
eigenen psychischen Lebens. Ja, man kann sagen, daß das eigene Wesen
sich auf diese Weise zum erstenmal psychisch ausdrückt. (Vorher offen-
bart es sich natürlich auch schon in den Handlungen und den ganzen
Lebensäußerungen.) Und auch in der entwickelten Psyche geschieht das
gleiche zum Teil immer noch, wenn uns aus der Natur Stimmungen und
Ahnungen zu begegnen scheinen. Aber bei den meisten Menschen ist
dieses Erleben sehr abgeschwächt. Stärker kommt die Projektion da zum
Vorschein in dem Verhältnis zu anderen Menschen, wo die Projektion
eigener Inhalte oft das richtige Einfühlen ersetzen muß, und weiter oft bei
Eigenschaften, die der Gottheit angedichtet werden. Man kann also behaupten,
daß die objektive Wahrnehmung der Außenwelt wie unserer Psyche sich
allmählich loslösen muß aus der Ungeschiedenheit beider, ein Prozeß, der
noch immer fortdauert, auch in dem modernen Geist. Daher ist die Pro-
jektion unbewußter Inhalte als eine normale Erscheinung zu betrachten.
Jung spricht von einer „archaischen Identität von Subjekt und Objekt"
und hält die Projektion für „einen Identitätszustand, der merkbar und dadurch
Gegenstand der Kritik geworden ist, sei es der eigenen Kritik des Sub-
jektes, sei es der Kritik eines anderen."' Statt des Wortes „Identität", das
meines Erachtens zu Mißverständnissen führen kann, möchte ich lieber „Un-
geschiedenheit" setzen. Weiter ist es aber klar, daß ein Inhalt erst als Projek-
tion erkannt wird, wenn man unterscheidet zwischen dem Anteil, den die
eigene Erfahrun g und die Einflüsse der Außenwelt an diesem Punkt haben.
i) Psychologische Typen, S. 658,
über die Projektion und ihre Inhalte 281
Wenn man also in der Projektion an sich nichts Abnormales sieht, so
fragt sich, was denn das Pathologische an den Projektionen bei dem
ßeziehungswahn und der Schizophrenie ist. Ich will hierauf gleich ant-
worten, daß es mir scheint, daß hier nach zwei Seiten Abnormes ent-
stehen kann, nämlich erstens dadurch, daß die Projektion >viel intensiver
als sonst das Seelenleben beherrscht, und zweitens, wenn abnorme Inhalte
in ihr erscheinen. Bei dem Beziehungswahn finden wir vor allem das
erste bei der Schizophrenie daneben auch das zweite meistens stark ent-
"wickelt.
Wenn wir uns fragen, welche Faktoren das Zunehmen der Neigung
zur Projektion beeinflussen, so muß dem Analytiker zuerst der Einfluß
der Verdrängung auffallen, da diese eine Zunahme der Spannungen im
Unbewußten und der indirekten Äußerungen desselben herbeiführt. Aber
daneben kommt doch noch ein anderer Faktor in Betracht! denn wir wissen,
daß nicht alle Verdrängung zu Projektionen führt. Dieser Faktor w.ard
klarer, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Jelgersma zwischen der
Paranoia und dem normalen Seelenleben den Begriff der „paranoiden Kon-
stitution" eingeschaltet hat.^ Wie es in den Psychismen alle möglichen
Übergänge von der überwertigen Idee bis zum vollentwickelten paranoiden
Wahn gibt, so bestehen auch in der allgemeinen Geistesverfassung Über-
.sänge, und es fragt sich, ob wir das Wesen dieser Übergänge nicht psy-
chologisch näher feststellen können. J elgersma erwähnt als bezeichnend
für diese Charakteranlage Eigenschaften wie Mißtrauen, Eifersucht, Mysti-
zismus, Religiosität, Utopismus, Fanatismus. Kretschmer hat ebenfalls
auf die Beziehung zwischen Konstitution und Beziehungswalm hingewiesen.^
Es scheint mir, daß das Eigentümliche solcher Charaktere noch präziser von
Jung gefaßt worden ist. Jungs letzte Arbeit beschäftigt sich intensiv
damit, den Einfluß zu zeigen, den zwei mögliche psychische Einstellungen
auf verschiedenen Gebieten des Lebens haben können. Obwohl nämlich
<ier Einfluß der eigenen Anlage wie auch die äußeren Umstände bei
jedem Menschen zur Gestaltung seines Lebens mitwirken, so zeigt sich
doch bei dem Einzelnen meistens ein Übergewicht eines dieser beiden.
Dieses Überwiegen einer Seite wird zur Gewohnheit und charakterisiert
dann den Standpunkt, den solche Menschen den Umständen und Schwie-
rigkeiten gegenüber einnehmen. Jung nennt diese beiden typischen Ein-
stellungen, die auch von anderen gefunden worden sind, den extra-
vertierten oder nach außen gekehrten und den introvertierten
oder nach in nen gekehrten Typus.
i) Jelgersma, Leerboek der Psychiatrie, 1911, a. Teil, S. 168,
a) Kretschmer, Der sensitive Beziehungswahn, igi8.
282 Dr. J. H. van der Hoop
Extravertierte Menschen werden lebhaft berührt von ihrer Umwelt.
Ihre Wahrnehmungen und die Meinungen anderer Menschen gelten ihnen
als sehr wichtig und eventuelle fehlerhafte Meinungen werden dadurch
oft leicht korrigiert. Zur Introspektion haben sie wenig Neigung und
die Wirkung ihres eigenen Wesens bleibt ihnen meistens gänzlich
unbewußt. Demgegenüber ist die subjektive Seite eben dasjenige, was den
introvertierten Menschen etm meisten auffällt. Es scheint diesen Menschen
oft so, als ob die Außenwelt nur da wäre, um dem, was innerlich in
ihnen vorgeht, Ausdruck zu verleihen, und nur an zweiter Stelle ist sie-
eine Welt objektiver Wirkung und Gesetze. Damit ist eine gewisse Distanz
der Außenwelt gegenüber aufgestellt und oft wird dieselbe auch als ein
fremdes und mehr oder weniger feindliches Gebiet empfunden. Wo das
Innenleben überstarken Einfluß hat, wird die innere Überzeugung viel
wichtiger genommen als die Meinungen anderer Leute, ja, sogar wichtiger
als Tatsachen und Wahrnehmungen. Zwar ist die innere Erfahrung ebenso-
entscheidend auf ihrem Gebiete (z, B. bei introspektiven oder ethischen
Entscheidungen) wie die Sinneserfahrung auf dem Gebiete der Außenwelt.
Aber es ist klar, daß es nicht erlaubt ist, eine solche Evidenz weiter als
auf das betreffende Gebiet auszudehnen. Diese Neigung besteht aber bei
den meisten Menschen, allerdings verschieden, je nach ihrer überwiegenden
Einstellung. Der introvertierte Mensch, dessen Eigentümlichkeiten für
unsere Frage speziell wichtig sind, hat nun die Neigung, die Gültigkeit
der Evidenz seiner Innenwelt auch auf seine Auffassung der Außenwelt
ausdehnen zu wollen. Es fällt ihm schwer, einzusehen, daß, wenn er
bestimmte Verhältnisse zwischen den Menschen auf eine bestimmte Weise
auffaßt, diese Auffassung in der Objektivität nicht zutrifft, weil er seine
Erfahrungen nicht in der richtigen Weise anwendet. Je stärker jemand
introvertiert ist, je mehr seine Aufmerksamkeit durch die Erscheinungen
des eigenen Seelenlebens gefesselt wird, um so schwerer wird es ihm
fallen, unrichtige Urteile in diesem Punkte zu korrigieren. Wenn wir-
die vonJelgersma genannten Eigenschaften der paranoiden Konstitution
noch einmal betrachten, so wird es klar, daß bei diesen allen ein über-
triebener Glaube an die eigene innere Überzeugung vorherrscht. Miß-
trauen, Eifersucht, Mystizismus, Religiosität, Utopismus, Fanatismus, diese
alle haben in verschiedener Weise den Schwerpunkt in dem inneren
Leben. Nur Religiosität würde ich lieber nicht hiezu rechnen, weil hier niir
eine Seite derselben in Betracht kommt und so leicht Mißverständnisse ent-
stehen können. Wenn wir daneben den Psychismus des Beziehungswahnes be-
trachten, wie dieser sich aus einer nicht korrigierten überwertigen Idee
entwickelt, so zeigt sich auch da das Übergewicht der inneren Erfahrung.
über die Projektion u'n d ihre Inhalte 285
Wenn wir das alles überlegen, so liegt der Schluß nahe, daß die
Neigung zur Projektion eigener unbewußter InhcQte und Verbindungen
zunimmt, wenn die Introversion stärker wird.
Bei dem Begriff der Introversion muß ich hier einen Augenblick
verweilen, da ich mir bewußt bin, diesen hier anders zu verwenden, wie
dies meistens in der psychoanaljtischen Literatur geschieht. Ich folge
hierin Jung, der den Begriff prägte und ihn nachher anders gefaßt hat,
■weil ich einen Vorzug darin sehe, die Introversion von einer bestimmten
Art der Regression zu trennen, die oft für untrennbar damit verbunden
gehalten w^ird. Introversion heißt für mich Abwendung von der Außenwelt
und Zuwendung zu dem eigenen Wesen und zu den Produkten des Innen-
lebens. Ein Mensch, der sich gedanklich mit seinen Plänen in der Außen-
welt beschäftigt, ist also nicht introvertiert, wohl aber ein Dichter, der
seinen Gefühlen nachgeht oder ein Mathematiker, der sich auf seine
abstrakten Probleme konzentriert, und zwar sind die letzteren dabei meines
Erachtens nicht regrediert, sondern nur den inneren Gesetzen angepaßt.
Demgegenüber kann man natürlich regredieren, ohne introvertiert zu sein,
zum Beispiel ein Mensch, der wegen einer Operation in ein Krankenhaus
aufgenommen wird und dort ganz die kindlichen Einstellungen zeigt, oder
ein altersschwacher kindischer Mensch. Zwar wird einer Regression meistens
eine Abwendung der Objekte vorangegangen sein, aber ganz notwendig
scheint mir das nicht; denn statt des alten Objektes (zum Beispiel des
Gatten) kann auch gleich das frühere Objekt (zum Beispiel der Vater)
vtfiedergewähli werden. Man muß da unterscheiden zwischen der Rolle,
die die Introversion spielen kann bei dem Entstehen einer Regression und
einer bestinamten Form der Introversion als Faktor der Regression. Denn
obwohl die psychische Einstellung als Introversion oder Extraversion meines
Erachtens über die Frage der Regression oder der Progression gar nichts
entscheidet, so ermöglicht diese Einstellung doch speziell bestimmte
Formen der Regression (wie auch der Progression). In einem nach
innen geliehrten Zustand wird eher Regression zu narzißtischen und auto-
erotischen Befriedigungen stattfinden, bei einem extra vertierten Zustand
werden alte Objekte oder ihre „Imagines die Gefühle an sich ziehen,
oder die Objekte werden die gleichen bleiben, aber alte infantile Befriedi-
gungen werden versuchen, sich durchzusetzen, oder auch beides wird
geschehen. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen einem jetzigen
Introversionszustand und alten Formen des psychischen Geschehens in
früheren Introversionszuständen früherer Stadien. Man darf aber aus diesem
Zusammenhang nicht folgern, daß die Introversion nun auch jedesmal
notwendig mit einer solchen Regression verbunden sein müsse. Wohl kann
b84 Dr. J. H. van der Hoop
man hieraus schließen, daß die Regression bei Introversionstypen, wenn
sie eintritt, in der Hauptsache durch narzißtische und autoerotische
"Erscheinungen charakterisiert sein wird, während die infantilen Formen,
die sich in dem Verhältnis zu den Obj ekten auch hier gegebenenfalls
zeigen können, eigentlich mehr infantil geblieben als regrediert sind, ', 1
Bei den Extraversionstypen finden wir das Umgekehrte, Die Regression
drückt sich da aus in dem Verhältnis zu den Objekten, das nach innen
gerichtete Geschehen ist bei einseitig extravertierter Entwicklung aber
stark infantil geblieben. Bei einem Extraversionstypns bleibt die
introverse Seite aber meistens verdeckt, weil nur ausnaiimsweise ein mehr
überwiegender Introversionszustand entsteht. Dasselbe gilt für die (infantil
und archaisch gebliebene) extraverse Seite des Introversionstypus, Es kann
aber geschehen, daß ein Extraversionstypus durch Umstände, die ich hier
außer Betracht lasse, in einen ausgesprochenen Introversionszustand kommt,
und dann werden die psychischen Formen, die dieser Zustand zeigt, große
Ähnlichkeit mit den Regressionsformen des regredierten Introversions-
typus in dem bei diesem dann viel tieferen Introversionszustand aufweisen.
So ist es meines Erachtens zu erklären, daß die Hysterie, zumal bei
unentwickelten Menschen, Formen annehmen kann, die man sonst gewohnt
ist bei der Schizophrenie zu finden. Auch umgekehrt sind manische und
hysterische Erscheinungen bei einer beginnenden Schizophrenie so zu
verstehen. Für die Diagnose und Prognose ist es dann überaus wichtig,
zu entscheiden, ob wir eine Reaktionsform auf die gewöhnliche
psychische Einstellung (zum Beispiel eine primitive Art der
Extraversion bei einem Introversionstypus) oder eine Steigerung und
Regression der gewöhnlichen Einstellung (zum Beispiel
einen manischen Zustand bei einem gewöhnlich schon stark extravertierten
Menschen) vor uns haben. Wahrscheinlich wird sich bei näheren Unter-
suchungen über diese Frage zeigen, daß die Reaktionsformen meistens,
wenigstens was diese Erscheinungen betrifft, viel schneller vorübergehen *
und weniger ernst zu nehmen sind als die Regressionserscheinungen.
Kehren wir jetzt zurück zu der Frage der Projektion. Wir kamen zu
der Annahme, daß die Neigung zur Projektion zunimmt, je nachdem die
Introversion stärker wird. Wir fanden aber, daß es verschiedene Arten der
Introversion geben kann, daß dieser Zustand z. B. bei einem Extraversions-
typus mehr infantile Elemente zeigen und somit leichter Verdrängungen
herbeiführen kann, als bei einem Introversionstypus. Daraus ließe sich
schließen, daß die Verdrängungserscheinungen hier bei einer Introversion
leichter entstehen können. Zum Teil können diese auch Projektionen ver-
ursachen und wir finden diese auch ohne Zweifel, z. B. bei der Hysterie-
über die Projektion und ihre Inhalte 385
Mißtrauen, Eifersucht, Mystizismus, Religiosität, Utopismus, Fanatismus
sind da ebenfalls möglich, wie bei anderen Menschen. Aber doch hat
Jelgersma recht, wenn er diese zur paranoiden Konstitution rechnet ;
denn bei den Extraversionstypen werden diese Erscheinungen nie so sehr
zu Charalitereigenschaften. Meistens sind es vorübergehende Äußerungen
und wenn sie längere Zeit den Zustand beherrschen, so zeigt dieser sich
deutlich als Krankheit und wird dann auch regelmäßig von anderen
Symptomen begleitet, wobei diese meistens überwiegen.' Bei einer solchen
krankhaften Introversion können Projektionserscheinungen also auch auf- .
treten, aber sie beherrschen nie ganz das Krankheitsbild.
Bei einem Introversionstypus liegt die Sache anders. Introversion führt
hier nicht gleich zur Verdrängung. Denn erstens gibt es hier mehr
Gelegenheit zur Sublimierung in das innere Leben selbst, und zweitens
ist die Möglichkeit zur inneren Verstellung durch das -reichere Innenleben
größer als bei den Extraversionstypen. Bei der inneren Verstellung wird
das Ungewünschte nicht verdrängt, sondern nur anders ausgelegt und so
beschönigt und entschuldigt. Hierauf hat z. B. Paulhan in seinen „Les
Mensonges du Caractfere" den Nachdruck gelegt. Hier sieht auch Adler
das Wichtigste. Dennoch findet man meines Erachtens auch hier Ver-
drängung; aber diese wird mehr für spezielle Fälle reserviert, wo die anderen
Psychismen nicht ausreichen. Eben weil hier aber Introversion nicht gleich
Verdrängung bezeichnet, kann man hier aber am besten sehen, wie die
Projektion an erster Stelle mit der Introversion zusammenhängt und nicht
notwendigerweise mit der Verdrängung. Denn die allgemeine Neigung,
Inneres auch dort auf die Außenwelt zu übertragen, wo es nicht paßt,
gehört zu dem Überwiegen der Introversion. Diese Tatsache bewirkt, daß
der gutmütige Mensch in dem Betrüger einen Bruder sieht, auch wo es
gar keine Verdrängung zu übei-winden gibt, um seine eigenen Eigenschaften
zu studieren. Diese selbe allgemeine Neigung bewirkt aber auch, daß,
wenn bei einer Regression krankhafte Inhalte als Projektion erscheinen,
diese einen viel tiefer wirkenden Einfluß ausüben als bei Extraversions-
typen, weil hier ja die Korrektion der Außenwelt sich viel weniger geltend
macht.
Hiermit kommen wir zu der Frage der Inhalte der Projektion. Hier
müssen wir also die nonnalpsychologischen Inhalte unterscheiden, die bei
Kindern, bei unentwickelt en Menschen und vor allem bei Introvertierten
1) Diese anderen üh erwiegenden Eradieinimgen kann man mit Ferencii als
Introiektion beieichnen, was genau das Gegenteil der Projelction bedeutet. Während
der Patient mit Beiiehiuigswalm imbewußt ein Stück Innenwelt zur Außenwelt macht,
tut die Hysterische in ihren Phantasien und deren körperlichen und psychischen
Ausbildung genau das umgekehrte.
b86
Dr. J. H. van der llüop
mehr auftreten als bei anderen, die aber überall vorkommen wegen der
nie ganz gelungenen Scheidung von Objekt und Subjekt. Daneben gibt
es dann die psychopathologisclien Inhalte, die durch Regression und
Verdrängung der regredierten Formen entstehen. Hier begegnen wir
dann der Frage, ob es für den Beziehungswahn und für die Schizophrenie
eine bestimmte Regression gibt, die durch Fixation an ein bestimmtes
Entwicklungsstadium näher angegeben und studieil werden kann. Ich
habe hier nicht die Möglichkeit, diese Frage zu ■ erörtern. Also will ich,
hier nur ganz kurz, meine Meinung wiedergeben, ohne sie an Material zu
erhärten.
Was den Beziehungswahn betrifft, so habe ich in Inhalten dieses
Wahnes weder bei eigenen Patienten noch bei mitgeteilten Fallen etwas
gefunden, das wir auch nicht sonst als Inhalte bei Neurosen linden, wo
die Regression sich in anderen Formen äußert. Ich neige also dazu, hier
die starke Introversion, die sich überall in solchen F'ällen findet, wo der
Charakter einbezogen ist (die wechselnden Beziehungsideen der Extraver-
sionstypen kann man eigentlich nicht als Wahn bezeichnen), für die spezielle
Form der vorherrschenden Projektion verantwortlich zu machen. Daneben
geben nichtspezifische Regressionen dann die Inhalte derselben. Für die
Schizophrenie aber genügt das nicht, und schon früher wurde von
verschiedenen Forschern (Jung, Freud, Abraham) eine Regression
angenommen zur autoerotischen Entwicklungsphase. Zwar wurden bei der
Schizophrenie alle möglichen, auch sonst bekannten Komplexe gefunden,
aber das Bestimmende schien doch diese frühe Fixierung zu sein. Das
scheint mir nicht unrichtig, aber doch ziemlich vage, denn obwohl einige
Erscheinungen der Schizophrenie (so das Verhältnis zu den Exkrementen)
deutlich genug auf diese Phase hinzielen, so sind andere daraus doch
gewiß nicht leicht zu erklären. Man denke nur an die phantastischen
Geistesprodukte mancher Schizophrenen und an die besondere Wichtigkeit,
die sprachliche Produkte für sie haben können. Hier kann man zum
Vergleich nur weniges aus der Kinderzeit heranziehen; um so mehr wird
man hier aufmerksam auf Übereinstimmungen mit dem Seelenleben
primitiver Völker. Es ist, als ob da psychische Formen erscheinen, die aus
der grauen Vorzeit als Möglichkeiten im menschlichen Gehirn aufbewahrt
sind, Formen, die auch in der Kinderzeit meistens nicht oder nur sehr
flüchtig erscheinen. Das Bestehen solcher Formen, das von Jung in
seinen „Wandlungen und Symbole der Libido" begründet und nachher
in der Hypothese des kollektiven Unbewußten gefaßt worden ist,' wird
1) Jung formuliert dies wie folgt (Psjchologisclie Typen, S. 689); „Wir können
ein persönliches Unbewußtes unterscheiden, welches alle Akquiiitionen der persönlichen
über die Projektion und ihre Inhalte 287
auch von Freud anerkannt und erklärt als „phylogenetisch mitgebrachte
Schemata, die wie philosophische „Kategorien" die Unterbringung der
Lebenseindrücke besorgen."* Nicht nur die Erscheinungen bei der Schizo-
phrenie, sondern auch die bessere Kenntnis des Unbewußten, wie die
Psychoanalyse der Neurosen sie entwickelt hat, nötigt uns, eine solche
ältere psychische Organisation in uns anzunehmen. Aber nirgends zeigen
die Eigen tu mhchkeiten dieser Organisation sich so offen, wie bei der Schizo-
phrenie, obwohl wir auch hier noch immer Mischungen von der kollektiven
Organisation mit der Persönlichkeitsorganisation vor uns haben, was das
Studium dieser Erscheinungen sehr erschwert.
Wie ist nun aber das Verhältnis zwischen einer solchen Einsicht und
der Erklärung durch Regression zu der autoerotischen Phase? Sind dies
zwei gesonderte Versuche, die keine Verwandtschaft besitzen ? Gewiß nicht.
Die Verwandtschaft besteht darin, daß beide zurückweisen auf eine Phase
der Entwicklung, wo die persönliche Organisation wenig oder gar nicht
entwickelt war. Diese Phase wird für die individuelle Entwicklung
abgeschlossen, wenn die autoerotischen Befriedigungen sich immer mehr
zur narzißtischen Befriedigung am neugefundenen Ich verdichten. Es
scheint mir ganz dasselbe, ob man dieses Stadium als autoerotisch oder als
archaisch bezeichnen will, denn man zielt mit diesen Worten nur auf
bestimmte Seiten der ursprünglichen Anlage, die sich in den Erscheinungen
dieser Phase zeigen. Die psychische Ursache dieser Erscheinungen bildet
aber, das ganze noch wenig bekannte Entwicklungsstadium des menschlichen
Geistes. Dieses Ganze wird als hypothetische Ursache gestellt, und wie alle
Ursachen in der Wissenschaft dann weiter an den Tatsachen geprüft und
ausgebaut werden müssen, so auch diese.
Eine solche Ursache kann verschiedenes in der Schizophrenie erklären.
Ich will hier nur darauf hinweisen, wie dadurch verständlich wird, daß
die Projektion in so ungeheurer Weise überwiegt. Die Regression zu
diesem infantil-archaischen Stadium der Ungeschiedenheit erfolgt nämlich
im Introversionszustand. Wir sahen, wie schon bei dem Beziehungswahn
durch die Eigentümlichkeiten dieses Zustandes die regressiven Inhalte als
Projektionen erscheiner. Das geschieht um so leichter bei der Schizo-
Existenz umfaßt, also Vergessenes, Verdrängtes, unterschwellig Wahrgenommenes,
Gedachtes und Gefühltes. Neben diesen persönlichen unbewußten Inlialten gibt es
aLer andere Inhalte, die nicht aus persönlichen Akquisitionen, sondern aus der ererbten
Möglichkeit des psychischen Funktionierens überhaupt, nämlich aus der ererbten
Himstruktur stammen. Das sind die mythologischen Zusammenhänge, die Motive und
Bilder, die jederieit und überall ohne historische Tradition oder Migration neu
entstehen können. Diese Inhalte bezeichne ich als kollektiv unbewußt."
1) Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. (Ges, Schriften, Bd. V.)
288 Dr. J. H. van der Hoop
phrenie, weil bei dieser Regression zugleich das Eigene und Persönliche
immer mehr verwischt wird. Diese Persönlichkeit, die sich auflöst, hat
sich aber im Gegensatz zum Weltbild entwickelt und wenn sie verschwindet,
läuft auch das Psychische und das Weltbild wieder mehr durcheinander.
Daß dabei das letztere mehr vom ersteren verzerrt wird als umgekehrt,
kommt dann durch die nach innen gekehrte Blickrichtung zustande. Die
Projektion wird aber immer weniger durch Kritik gehemmt, da die
Organisation, die diese Kritik ausüben könnte, nämlich die Persönlichkeit,
ia immer schwächer wirken kann.
- Suchen wir die Resultate dieser Untersuchung kurz zusammenzufassen.
Es zeigt sich dann, daß die objektive Wahrnehmung sowohl der Außen-
welt wie unserer eigenen Psyche sich allmählich loswickeln muß aus
der üngeschiedenheit beider. Daher ist auch die Projektion als eine
normale Erscheinung zu betrachten. Nur der Grad und die Inhalte können
abnormal sein. Der Grad nimmt zu bei einem zunehmenden Introversions-
zustand, die abnormen Inhalte w^erden durch Regression bestimmt.
Die Schizophrenie muß psychologisch als ein intensiver Introversions-
zustand betrachtet werden, wobei zugleich eine immer zunehmende
Regression stattfindet nach einer infantil-archaischen Phase der Entwicklung,
welche gekennzeichnet ist durch eine geringe oder keine Trennung von
Subjekt und Objekt, weshalb die Projektion einen überaus mächtigen
Einfluß in den Erscheinungen erlangen kann.
über die zwei Arten des Narzißmus
Von Dr. F. P. Muller (Leiden)
Haben wir schon seit etiwa einem Jahrzehnt, seit dem Erscheinen von
Freuds „Zur Einfiihnmg des Narzißmus und anderen Veröffentlichungen
die bedeutende Rolle des Narzißmus im kranken und normalen Seelenleben
kennen gelernt, so ist dabei doch vielleicht eine Sache ungenügend beachtet
worden, und zwar diese, daß die Personen, welche mit einem krankhaften
Narzißmus behaftet sind, sich in zwei Gruppen teilen lassen, die einen merk-
würdigen Gegensatz bilden. Auch die narzißtischen Züge Normaler lassen eine
solche Zweiteilung diu-chführen, insofern sie das eine Mal eine Zugehörigkeit
zu der einen Gruppe aufweisen, das andere Mal sich als zu der anderen
Gruppe gehörig zeigen.
Den Leuten, bei welchen der Narzißmus die Bedeutung einer Perversion
hat, ist ihr eigener Korper Sexualobjekt, das heißt ihr Körper, so wie er wirk-
Hch existiert, sowie sie ihn wenigstens wahrnehmen. Wenn schon alles weiter
Existierende ihnen gleichgültig ist, bildet ein Stück Kealitat oder sagen vrir
etwas ObjektiTCS ihr Sexiialohjekt. Nennen -wir jemand narzißtisch, nicht ^veil
er seinen Körper, sondern weil er in Selbstbewundenmg seine -Geistesfähig-
keiten zu seinem Sexualobjekt gemacht hat, so ist es wieder etwas Objektives,
etwas psychisch Reales, woran er fixiert ist. Öfters schätzen jedoch solche
Narzißtische auch die Bewunderung anderer Leute und zeigen damit eine ihren
eigenen Körper überschreitende Bindung an die Außenwelt. Aus ihrem Benehmen,
aus ihrer ganzen Erscheinung ergibt sich manchmal unzweideutig ein Streben,
anderen zu gefallen, und ohne jede Übertragung auf diese anderen wäre das
wohl unmöglich.
Die Sache ändert sich nicht, wenn der Narzißtische anstatt seines wirklichen
Körpers oder' seiner wirklichen Geistes fahigkeiten eine Schöpfiuig seiner Ein-
bildungskraft liebt: einen phantasierten eigenen Körper oder die phantasierten
eigenen Geistesfähigkeiten. Es ist immer schwer, wenn man etwas liebt, zu tmter-
scheiden, was daran Wirklichkeit und was Phantasie ist, und falls das eigene
Ich Sexualobjekt ist, liebt man leicht ein physisches oder psychisches Selbst,
das vom wirklichen Selbst mehr oder weniger abweicht. Aber auch dann
bleibt es immer noch etwas Objektives: was einmal die Phantasietatigkeit
geschaffen hat, wird nachher als scheinbare Wirklichkeit erfahren und entbehrt
die ursprüngliche Willkürlichkeit. Sei es Spiel, sei es Tagtraum, sei es Wahn:
inuner handelt es sich um Scheinerfahrungen auf Grund einst gemachter
290 D r. F. P. Muiler
Annahmen, und darin ist iins etwas Objektives gegeben, gleicliwie in echten
Erfahrungen. Wer also in seinem Größenwahn ein irreales Seihst liebt, hat
doch wieder ein Objekt mit Libido besetzt, nämlich das seinem (phänomeno-
logischen) Ich gegenüberstehende Selbst, und hat damit eine Freiheit eingebüßt,
welche eine vollständige Entziehung der Libido ermöglicht; es droht sogar
die Gefahr, daß sich das Objekt dem Icli weiter entfremdet, denn das bewunderte
Selbst kann teilweise durch ein Ichideal oder Idealpersonen ersetzt werden.
Nun. gibt es dennoch Leute, w^elche jeder Bindung an Objekten entwischen
möchten und für welche also auch eine derartige Objektbesetzung etwas Unerträg-
liches ist. Sie bilden die zweite Gruppe von Narzißtischen. Zu dieser Gruppe
gehören Paraphreniker, hei denen Gleichgültigkeit gegenüber allem das am
meisten auffällige Symptom ist. Da ihnen die Außenwelt ganz wertlos ist,
kümmert sie keine Bewunderung oder Hochschätzung von selten anderer. Sie
lassen aber auch keine Selbstschätzung verspüren, welclie ohnehin bei einer
absoluten Entwertung der Außenwelt sinnlos wäre; ist der Wert einer Person,
doch nur möglich in Beziehung auf eine (reelle oder imaginäre) Außenwelt,
die seihst einen gewissen Wert hat. Diese Kranken vernachlässigen ihr Äußeres
und sind in ihrem Benehmen rücksichtslos. Weniger extreme Fälle zeigen uns
Personen, die Kretschmer zu den Schizoiden rechnen würde. Bei Normalen
findet man einerseits in allen möglichen Weisen von Selbstwürdigung und
ihren Folgen die erste Form des Narzißmus angedeutet, während andererseits
ein gewisses Maß von Bindungsscheu und ihrem Gegenteil : der Sacht nach
absoluter Freiheit, auch bei ihnen gar kein seltenes Symptom der zweiten Form
des Narzißmus ist. Der Tod kann dem Menschen begehrenswert sein, weil
■er eine solche Freiheit verspricht, und man wünscht sich ein Nirwana, da
man von jeder Bindung an etwas Objektives befreit sein möchte.
Ein mit vielen narzißtischen Zügen behafteter Mann träumt, er will einen
Wagen der elektrischen Straßenbahn einholen, aber jedesmal, wenn er bei einer
Haltestelle den Wagen nahezu erreicht hat, fälirt dieser wieder ab und der
Abstand zwischen ihm und dem Wagen erweitert sich wieder. Dann erhebt
er sich auf einmal von der Erde, in der Absicht, fliegend den AVagen einzu-
holen, Während er über dem Wagen schwebt, kommt ihm jedoch der Gedanke,
er könne sich jetzt von all dem Irdischen befreien, und nun sieht er, indem
er immer höher steigt, die Erde, worauf ^ alles stets kleiner wird, in immer
größerer Entfernung. Da erschreckt ihn jedocli der Gedanke, wemi er sich
immer weiter von der Erde entfernen würde, so könnte er sich in dem leeren,
einsamen Weltraum ganz verlieren, und ein derartiger Zustand wäre dem
Tode gleich. Somit gibt er die eroberte Freiheit wieder preis und kehrt
nach der Erde zurück.
Dieser Traum zeigt auf unzweideutige Weise den Konflikt zwischen Lehens-
und Todestrieben, er hat weiter als Flugtraum eine sexuelle Bedeutung und
verrät auch in dem Sich-Erheben ein narzißtisches Streben: den Wunsch, zu
überragen. Aber noch ein anderer Konflikt tritt ganz evident aus ihm hervor:
der Streit zwischen Freiheitssucht und Bindungshedürfnis. Der Träumer erhebt
sich nicht nur über die Erde, sondern entfernt sich auch von dieser, und
damit droht der Verlust aller Objekte, an die er sich binden, sowohl als
worüber er sich erheben könnte. Sein Selbst ohne Außenwelt wäre ihm wohl
ungenügend.
über die zwei Arten des Narzißmus 301
Ich möchte dennocli zeigen, daß der Verlust aller Objekte, auch wenn das
Selbst dabei inbegriffen ist, noch nicht jede Möglichkeit, sich zu befriedigen,
aufhebt. Nicht nur Größenwahn, sondern jede Form eines aus einer Zugewandt-
heit nach innen entsprießenden Genusses ist o!me Bindung an ein Selbst
undenkbar. Die Befriedigung im objektlosen Narzißmus, den icli wegen des
Mangels an einer erotischen Bindung vorschlage, Anerotismus zu nennen,
muß ohne jede Zugewondtheit zustande kommen, Sie geht hervor aus der
Tätigkeit an sich.
Wenn jemand mit etwas bescliäftigt ist, kann ihn zweierlei befriedigen: die
Objekte, mit denen er sich beschäftigt, aber auch die Tätigkeit selbst. Diese
braucht nicht immer ein Objekt — man hat ja Verba transitiva und intransi-
tiva — und wenn also jemand läuft oder radfahrt oder schwimmt bloß
wegen der angenehmen Tätigkeit und nicht wegen der angenehmen Bewegungs-
empfindungen, hat man Beispiele, wie eine objektlose Befriedigung möglich
ist. Denn die Tätigkeit tritt dem Ich (in phänomenologischer Bedeutung)
nicht als etwas objektiv Gegebenes gegenüber, sondern wird als ein Ichzustand
erlebt, als etwas, das dem Subjekt anhaftet.
Auch das Denken an sich kann Befriedigung verschaffen. Vielleicht
kann man sich beim Denken besser wie bei einer anderen Tätigkeit davon
überzeugen, daß es die Tätigkeit selbst ist, welche befriedigt, weil man, wenn
aus der Tätigkeit Handlungen hervorgehen, zweifeln möchte, ob diese nicht
die eigentliche Lustquelle wären. Handlungen können jedoch, wenn dabei Hinder-
nisse zu überwinden sind, auch den freien Ablauf der Tätigkeit stören und
dadurch gerade die Befriedigung erschweren.
Denn eine ungehinderte Tätigkeit ist die Quelle'der anerotischen Befriedigung.
Sie findet sich beiin Ideenfluchtigen, wenn er, unbekümmert um die Erzeugnisse
seines Denkens, mit Assoziieren immer fortfährt. Sie findet sich In allerhand infan-
tilen Formen der Denktätigkeit, wie Reimereien, Wiederholungen und Rhythmen,
und treibt namentlich den Paraphreniker zu manchem sonderbaren Gedanken-
spiel. Weil in dem Inhalt der Gedanken hier keine Lustquelie gesucht wird,
bedürfen sie gar keines Objektivitatswertes; dadurch unterscheiden sich diese
Denkformen gänzlicli vom eigentlichen produktiven Denken, vom Erfahren und
Phantasieren. Wenn ein Tagträumer annimmt, er heirate die Tochter eines
Millionärs, so ist seine vi^eiter auszuspinnende Phantasie von dieser Annahme
wie von etwas Objektivem abhängig; eine solche, die freie Denktätigkeit
hindernde Abhängigkeit fehlt jedoch im Anerotismus. Die Musik in der
Form eines Vorsich-Hinsummens oder -Singens eignet sich ■wohl besonders zu
einer anerotischen Befriedigung, ^venn es sich nicht um das Hervorbringen
einer bestimmten Melodie, sondern um eine ungehinderte Äußerung an sich
handelt. Es gibt jedoch noch manch andere Form einer objektlosen Affekt-
entladung,
Ich meine, daß der Anerotismus auf frühe Entwicklungsstadien hindeutet.
Die Bewegungen niederer Tiere bezwecken wohl nicht ausschließlich Orts-
weclisel, Ernährung und Fortpflanzung, sondern vielfach aucli eine objektlose
Befriedigung. Gleichfalls haben der Lärm und die ausgiebigen Bewegungen
welche viele höhere Tiere — auch Menschen — machen, unzweifelhaft manch-
mal die Bedeutung einer Affektentladung, die innere Sparmungen aufhebt;
mit einer solcheh Aufhebung von Spannungen tritt jedoch ein Zustand von
sga
Dr. A. Endtz
Befriedigimg ein.' Also gelingt es dem Individuum, noch einen hohen Grad
■von Unabhän^keit zu behalten, und mancher Mensch mag wohl, wenn die
Gebundenheit ans Objektive auf seiner Kulturstufe zu groß geworden ist, ver-
suchen, sie zurückzufinden in weit- und selbstentrückter Einsamkeit.
Der hier nur skizzierte Anerotismus wird meines Erachtens viele sonst
befremdenden Erscheinungen auf psychologischem und psychopathologischem
Gebiete erläutern.
Über Träume von Schizophrenen
Von Dr. A. Endtz (Irrenanstalt Oud-Rosenburg in's-Gravenhage)
Um einen Einblick in das Traumleben gerade dieser Kranken zu gewinnen,
beauftragte ich die Pflegerinnen meiner Abteilung in vorgenannter Anstalt,
einige Monate hindurch Träume dieser Patienten zu sammeln. Ich ersuchte
die Schwestern, morgens die Patienten zu befragen, ob sie in der vergangenen
Nacht geträumt hätten, und den Inhalt der Träume soweit als möglich in
der Ausdrucksweise der Patienten, ohne Zusätze oder Auslassungen, aufzu-
schreiben. Bald zeigten sich verschiedene Schwierigkeilen, sowohl seitens der
Patienten als auch des Pflegepersonals. Nicht jeder hatte hinreichende Geduld,
Lust und Fähigkeit zu dieser Aufgabe und einige ließen sich mit der Antwort
abspeisen: „Mir hat nichts geträumt. Es war mir namentlich um Träume
alter Anstaltspatienten, besonders Schizophrenie-Patienten, zu tun; aber gerade
diese waren am wenigsten bereit, Mitteilungen zu machen. Träume von Psycho-
pathen, Imbezillen, Epileptikern waren leichter zu erhalten, aber diese
interessierten mich diesmal weniger. In der geringen Zuverlässigkeit der von
Schizophrenen gemachten Mitteilungen lag eine andere Gefahr, da zu erwarten
war, daß sie einen Teil ihrer autistischen Phantasien für Träume ausgeben
oder daß die Pflegerinnen Jene Phantasien als Traume auffassen würden. Es
kam auch vor, daß eine Patientin auf die Frage der Schwester: „Was hat
Ihnen geträumt?" selbst warnend zur Antwort gab; „Schwester, fragen Sie
mich so etwas nur nicht wieder, denn dann fange ich doch an, zu phanta-
sieren.
Der Ausgangspunkt dieser Umfrage war ein Gespräch mit einem meiner
Kollegen, wobei wir zu der Auffassung gelangten, daß Psychosepatienten und
insbesondere Schizophrene eine ganz andere EinsteEung zu der Realität ihrer
Träume haben als Gesunde. Wir glaubten beide bemerkt zu haben, daß,
während Gesunde die Unwirklichkeit ihrer Träume steU einsehen, wenn dies
denn oft auch nicht in den ersten Augenblicken nach dem Erwachen geschehen
mag, Schizophrene ihre Träume eher als wirklich erlebt betrachten und den
Trauminhalt mit dem Inhalt ihrer psychotischen Produkte verweben. Es müßte
also interessant sein, zu verfolgen, inwiefern sich die obige Meinung durch
die konkreten Fälle bestätigen ließe.
,) Beim Kinde finden wir die (anerotischB) Lust an der Tätigkeit früher als die
feigentiich narzißtische) kritiklose Bewunderung für die eigenen Taten welche noch
später von der Vergleichung des eigenen Könnens mit dem anderer gefolgt wird.
über Träume von Schizophrenen
293
Abweichungen im Trauminhalt bei Scliizophrenen waren zu erwarten in
Verbindung mit dem gemeinschaftHchen Ursprung vom Traum und scbizo
phrenem Wahn. Den Traum müssen wir ja nach den Entdeckungen der
Psychoanalyse als eine halluzinatorisdie Befriedigung der Strebungen in unserem
Unbewußten m einer von der Zensur zugelassenen Form auffassen, und in dem
Geistesprodukt des Schizophrenen pflegen wir etwas Analoges zu sehen
Jelgersma drückte dies in dem Sinne aus, daß der Kampf, der zwischen
bewußter Persönlichkeit und dem Unbewußten bei der Neurose besteht bei
der Psychose bereits entschieden ist, und zwar mit einem völligen Sieg des
Unbewußten.' Wovon soUte denn ein Schizophrener noch träumen müssen,
wenn er den ganzen Tag seine Strebungen in emer unwirklichen Welt
befriedigt fmdet?
Sowohl Traum als schizophrener Wahn sind Produkte eines autistischen
Mer wie Bleuler es gegenwärtig nennt, der^ferenden) Denkens, also eines
Denkens, wo Strehungen überwiegen und der Wirkliclikeit Erfahrung entzogen
wird. 5 Der gesunde Kulturmensch steht seinen Träumen mit einem ange-
messenen Wirklichkeitssinn gegenüber; er sieht das Unwesentliche derselben
em und geht selbst oft so weit, ihnen alle Realität abzusprechen, auch die
psychologische. Wir müssen hier hinzufügen: der „Kultur"-Mensch; denn beim
primitiven Menschen liegen die Dmge ganz anders; dieser glaubt wohl daß
dasjenige, wovon ihm nachts geträumt hat, wirklich geschehen ist Beweise
hierfür kann man in Fülle ans den für den Psychiater so interessanten Werken
von Ldvy- Brühl* schöpfen. In dem prälogischen Denken der primitiven
Volker, wie Levy- Brühl uns dieses beschreibt, findet man eine fortgesetzte
Analogie mit dem schizophrenen Denken imd damit wieder eine weitere
Bestätigung für die Übereinstimmung zwischen der Geistesverfassung
des archaischen Menschen und dem Geisteskranken, welche Auffassung wir
Freud verdanken. Ist es nicht, als ob wir viele unserer Anstaltspatienten
vor uns sahen, wenn wir lesen, was Kn. Rasmussen von den Eskimos
sagt, unter denen er geraume Zeit lebte? „Toutes leurs iddes tournent autour
de U pSche ä la baieine, de la chasse et du manger. Bors de ceUt, pensee
pour eux est en general synonyme d'e7inui ou de chagrin" „A quoi penses-tu?"
demandais-je un jour ä la chasse, ä un Esquimau, qui paraissait plonge dam
ses reßexions. Ma guestwn le ftt rire. „Vous voilä. bien, vous autres blancs,
c/ui vous occupez tous de pensees; nous Esquimaux, nous ne pensom qu'ä
nos Caches ä viande: en aurions-nous assez ou non pour la longue nuk de
l'hiver? Si la viande est en quantite süffisante, alors nous n'avons plus besoin
de penser. Mai, j'di de la viande plus qu'il ne men faut." Je campris que
je l'avais blesse en lui attribuant des „pensees".^
A priori dürfen wir somit von dem Schizophrenen erwarten, daß auch
er seinen Träumen mit einer verminderten Einsicht für ihre Unwirklichkeit
1) S. dazu auch Freuds Darstellung der Psychose als Üb er wältigt wer den durch
das Unbewußte. (Anm, d. Red.)
2) E. Bleuler. Naturgeschichte der Seele und ihres Bewußtwerdens Berlin .no,
5) Vgl. P. P. Muller. Denken, streven en werkelykheid. Leiden loiq
4) L6vy-Bruhl. Les fonctions mentales dans les societes inferieures und La
mentante primitive, "-"^
S Ä/'frr ^" L^vy. Brühl nach K. Rasmussen. Neue Menschen.
Internat Zeilfichr. f. Psjchoanalysc, X/5.
2 94
Dr. A. Endtz
gegenüberstehen wird. Der Umstand, daß Traum und Wahn autistische
Gebilde sind, besagt nichts über ihren Wirklichkeitscharakter ; denn man kann
autistisch denken und die Wirklichkeit davon erleben, und man kann sehr
realistisch denken, ohne daß man das subjektive Gefühl von Wirklichkeit
be<iit7.t. Letzteres kommt in einigen Depersonalisationszu ständen vor.
Es möge nunmehr ein Beispiel folgen. Eine meiner Patientinnen erzählte
die folgenden Träume (lo. JuH 1923)= Sie er^-ählte, einen kurzen Traum
gehabt zu haben; sie sah sich von einem Kreise schön gekleideter Damen
umgeben. Eine Dame hatte einen schwarzen Schleier vor dem Gesicht; aher
doch konnte sie sehen, daß das Gesicht blaß vfhr. Patientin konnte sich nicht
erinnern, was die Damen taten; sie war erschreckt aufgewacht und hörte
längs der Wand Flüstern.
11, Juli 1923. Patientin erzählte, nur ganz kurz geschlafen zu haben und
träumte, daß ein Kerl vor ihr stehe und eine Dame, die sagte, daß sie sich
hingeben müsse. Auch träumte ihr von Elektrizität. Sie erwachte mit einem
beklemmenden Gefühl und fühlte sich getrieben, mit Sclielten fortzufahren.
12. Juli 1923, Patientin sagte, nicht viel von dem zu wissen, was ihr ge-
träumt hatte. Nach zwei Stunden schlief sie ein und sah dann eine in Schwarz
gekleidete Dame vor sich; diese sagte zu ihr, daß sie den betreffenden Kerl
gehörig ausschelten soUe. Auf ihre Frage, welchen Kerl, wurde oben nach der
Wand gezeigt. Als sie dahin blickte, sah sie dort einen alten, betrunkenen
Menschen, der sie angrinste. Sie fing an zu schelten und erwachte darüber.
15. Juli 1923. Patientin träumte von einem Herrn, der sie falsch anlachte
und betrunken war. Sie schalt ihn aus und wurde darüber wach; sie fühlte
sich sehr wann.
17. Juli 1925. Patientin erzählte, daß sie in ihrem Traum flüstern hörte;
auf die Frage, wen, sagte sie: „Ja, natürlich einen Herrn; er ging längs der
Wand, und so falsdi, und da wurde ich glühend."
Die Patientin befindet sich seit Jahren in der Anstalt und leidet an der
paranoiden Form der Schizophrenie. Sie arbeitet niemals und den ganzen Tag
verbringt sie auf der unruhigen Abteilung, wo sie sich an die Wand lehnt
und sich von Zeit zu Zeit in heftigem Schimpfen gegen ihre vermeintlichen
Verfolger ergeht. Oft beklagt sie sich über die unsittlichen Handlungen, welche
Männer, die sie hört und sieht, nachts mit ihr vornehmen. Auch tagsüber
halluziniert sie eifrig, namentlich über diesen Fall. Im Schlafsaale wird sie
sehr lästig durch ihr heftiges Schelten gegen den Mann auf der Wand. Es
zeigt sich, daß sich in ihren Träumen derselbe Vorgang wiederholt und daß
sie nach ihrem Erwachen fortfährt, denjenigen auszuschelten, der sie in ihrem
Schlafe belästigt. Es läßt sich also eine deuüiche Übereinstimmung zwischen
ihrem Trauminhalt und ihrem Wahn nachweisen, und es zeigt sich, daß sie
für die UnWirklichkeit ihrer Träume nicht hinreichende Einsicht hat. Indessen
bleibt auch bei ilir Traum und Wahn phänomenologisch etwas ganz Ver-
schiedenes, da sie immer strenge zwischen ihrem Trauminhalt und den
Erfahrungen aus ihrer Scheinwelt zu unterscheiden weiß. Da von einer etwas
tiefer gehenden Analyse keine Rede sein kann, wird auf die naheliegende
Deutung der Traume ebenso wie bei der nächsten Patientin nicht eingegangen.
Von einer anderen Patientin kann ich zu meinem Bedauern nur einen
Traum mitteilen, da sie wegen ihres Negativismus schwer zu Auskünften
'^,
..■A,\h
über Träume von Schizophrenen
295
üher ihr Geistesleben za bewegen ist und außerdem meint, daß wir alles
Gefragte schon wissen. Sie leidet ebenfalls an einer seit Jahren bestehenden
Psychose in Form einer paranoiden Schizophrenie. Fortgesetat wähnt sie sich
verfolgt, und zwar bedroht durch Gift im Essen und durch Injektionen, die
man ihr im Bett appliziert, durch die sie tags erschöpft und müde ist und
die ihr Schmerzen verursachen. Dieser Patientin träumte nun am 12. Dezember
) 925, daß sie voller Inj ektionen sitze ; es brannte bis in ihr Gebein ;
Schurken hätten das getan; weiter weiß sie nichts. Auch hier sehen wir im
Traume die Fortsetzung der Verfolgung, der sie in ihrem Wachleben aus-
gesetzt ist. Der primitive Mensch macht denjenigen, der in seinen Träumen
auftritt, für dasjenige verantwortlich, was er nachts getan haben soll und die
Folge ist dann oft eine Vergeltungshandlung oder bisweilen sogar ein Krieg
zwischen verschiedenen Stammen. Der vermeintliche Täter nimmt außerdem
die Verantwortlichkeit auf sich und weiß sich nur dadurch zu entschuldigen,
daß er sagt, nicht er, sondern seine Seele, die während des Schlafes seinen
Körper verließ, hätte die Tat begangen.' Ebenso macht unsere Patientin für
die verabfolgten Injektionen uns verantwortlich; da wir jedoch dem prälogischen
Denken entwachsen sind, weisen wir diese Verantwortlichkeit ab.
Schließlich möge noch der Traum einer schizophrenen Patientin erzählt
werden, die in ihrem Wahn allerlei von außen her üir zugefügte unangenehme
Gefühlsempfindungen durchmachte. Sie glaubte der Teufel zu sein und damit
die Ursache alles Bösen in der Welt, wofür sie nun von Gott allerlei Ver-
folgungen seitens der Menschen ausgesetzt wurde. Eine dieser Folterungen
bestand darin, daß sie glaubte, die Wände des Zimmers rückten einander
immer näher und zerdrückten sie. Ihr träumte am 15. Juli 1925, daß sie in
eine kleine Kiste gelegt werde (mit den Händen gab sie ungefähr 20 cm an)
und dann wurde die Kiste je länger um so kleiner und der Körper je länger
um so größer und „dann barst und erstickte ich, oh, oh, so schaurig, davon müßt
ihr nie sprechen." Auch hier findet sich ein übereinstimmender Inhalt von
Traum und Halluzination. Diese Patientin hielt indessen das im Traum Ge-
schehene nicht für einen vidrklichen Vorgang, wie unsere beiden anderen
Patientinnen dies taten.
Zusammenfassend glauben wir aus vorstehenden Beispielen folgern tai dürfen,
daß bei einigen (gewiß nicht allen, wie sich aus meinem Material zeigte)
Patientinnen mit Schizophrenie 1. der Trauminhalt dem Inhalt ihres Wahnes
entspricht; 2. daß das im Traum VorgefaUene als wirklich geschehen ange-
sehen wird.
Retentio Uiinae
Von Dr. A. J. WestermanHolstijn
Aus der Analyse einer 47 jährigen Patientin mit seit acht Jahren bestehender
Retentio Urinae und Ischuria Paradoxa und Obstipation teile ich einige Träume
mit welche die Genese genügend erklären. Von den Assoziationen und Deutungen
gebe ich nur, was zum Verstehen notwendig ist. Patientin lebt in einer nicht
1) Vgl. Kap. ni von L^vy-BruU: La mentalit^ primitive.
sgö Dr. A. J. We s te r m a n Holstijn
ganz glücklichen Ehe, da sie ihren Gatten wohl liebt, aher sehr unter seinen
schlechten Stimmungen leidet. Sie hat eine Tochter,
Traum A. Ein Mann mit einem großen Hut steht vor mir, er schlägt die
Decke zurück und zieht alles, was in meinem Leib ist, unten aus demselben
weg. Ich sage: Meinen Körper kannst du vernichten, aber mein Geist bleibt frei.
Zunächst sagte sie hierbei: Ich las vor kurzem ein Buch von Jack London:
„The Jacket." Es handelte sich um einen Mann, der in einer Zwangsjacke
lag und gefoltert wurde, während sein Geist sich darüber erhob. Alles, was
Geist ist, zieht mich immer besonders an. Tatsächlich macht sich in diesem Roman
der Geist des Gefangenen ganz frei vom Körper. Der Traum gab ihren
Zustand gut wieder: Ihr bewußter Geist war ganz frei von den körperlichen
Wünschen, die dem Unhewußten gehörten und ihren Körper krank machten
(durch Konversion). Zw^eitens erzählt sie nun ganz von selbst, daß sie den
Geschlechtsverkehr fast immer mit großem Widerwillen duldet. Nur' in der
Gravidität hatte sie keinen Widerwillen. Sie hat aber trotzdem Orgasmus.
Weitere Einfalle: Der Hut: Es war ein Riesenhut, spitz, zulaufend, wie von
einem Wunderdoktor. Der Mann: Es war ein sehr langer Mensch, ein großer,
breiter Mann. Ich denke jetzt an Dr. P. (den Hausarzt), aber der ist ein kleiner
alter Herr, und dieser war von mittlerem Alter. Meine Tochter konnte sich
als Kind so hübsch vermtiromen, wie ein Wunderdoktor. Der Mann im Traum
hatte dieselbe Gestalt wie mein Vater, der war auch lang und breit. — Der
Mann, der seine Hand in ihre Vagina einführte, und dem ihr Körper gehörte,
hatte also ganz die Gestalt ihres Vaters. Warum sie hierbei auch an Dr. P,
und an ihre Tochter gedacht hatte, wurde erst später deutlicli. Erst kam nun
ihre sehr starke libidinöse Bindung an den Vater zur Sprache, der bereits starb,
als sie sieben Jahre alt w^ar. Inzwischen erzählt sie
Traum B. Es kam ein Mann herein, später eine Frau mit einem Körbchen,
der Mann sagte: „Jetzt muß es geschehen", da durchstach er mich mit einem
Messer, da fiel ich in Ohnmacht,
Den Mann erkennt sie wieder als den Vater. Der Traum ist den Lesern
ohne weiteres deutlich; daß die Frau (die ihre Mutter vorstellte) dem Manne
folgte, drückt aus, daß in der Jugend der Patientin der Periode von Vater-
bindung eine Periode von homoerotischer Fixierung an die Mutter folgte.
Schon als Kind hat sie Enuresis nocturna gehabt und öfters „Kälte auf
der Blase", dasselbe bremiende Gefühl an der Urethra, das sie jetzt stets hat.
Ihre Mutter heilte dies dadurch, daß sie Urethra, Klitoris usw. gut mit
Öl einrieb, welche Behandlung als so angenehm empfunden wurde, daß die
Kälte auf der Blase sich sehr oft wiederholte. Immer blieb sie dabei, diese
Region zu verzärteln, und befeuchtete sich dieselbe auch selbst öfters, wie
früher mit Öl, so jetzt mit Harn. Und als sie nach der Analyse schon genesen
war, hat sie noch längere Zeit gezaudert, ihr Stopftuch wegzulassen, nur weil
es da so schön warm war.
Homoerotische Strebungen zu einer Freundin im späteren Leben ließen sich
auch leicht analysieren. Sie erzählt mir noch
Traum C., den sie als junges Mädchen träumte: Sie segelte mit dieser
Freundin zusammen in Unterhosen (gesegelt hat sie nie). Mit Angst erwachte
sie. Wir wissen: zusammen schiffen ist zusammen urinieren, aber da sie dabei
erzählt, damals gewiß keinen Harndrang empfunden zu haben, wie jetzt immer,
^
Kelentio Urinae 307
darf der Traum nicht als Schemerscher Hamreiztraum aufgefaßt -werden, seine
Ertlärung und seinen Grund findet er in der sexuellen Symbolik. ,
Im Traum D. träumt sie jetzt, daß sie mit dieser Freundin einen eben-
solchen schönen Crapaud kauft, wie ihn die Freundin hat, und als die
Bekleidung abgestreift wurde, war er „beige" mit einer braunen Figur: die
Farben des Körperteils, für den der Crapaud stand.
In Traum E. hat Patientin zwei Flaschen, die eine mit Wasser, die andere
mit Speiseresten (Stückchen Bohnen und Kohl) und es stecken sie und die
Mutter nacheinander einen Federhalter - in die Wasserflasche. Die Assoziationen
bestätigten, was den Lesern schon deutlich ist, daß die beiden Flaschen die
unteren Körperöffnungen symbolisieren.
Wir verstehen nun, daß die vom Gynäkologen zweimal vorgenommene
Katheterisierung eine starke Verschlimmerung bringen mußte und Patientin
den Katheter noch jahrelang zu fühlen meinte. Solche fehlerhafte Therapie
kann doch bei genügender psychologischer Kenntnis vermieden werden. Der
Eingriff vairde vom UnhewuiSten als ein sexueller Eingriff in ein sexuell sehr
empfindliches Organ aufgefaßt und erhöhte die intrapsychische Spannung.
Eine ähnliche schlechte Wirkung hatte natürlich die längere Zeit angewandte
Lavementspritze auf die Obstipation: hier wurde ja die zweite „Flasche"
gereizt.
Unbewußte Phantasien über einen Coitus more ferarum und verdrängte
koprophUe Tendenzen gehörten zu den Determinanten der Obstipation: nacli
deren Analyse verschwand die bestehende zirkumanale und anale Anästhesie
und Patientin begann es bewußt angenehm zu finden, zu defäzieren.
Aus Traum F., in einer Zeit von wachsender Übertragung geträumt, führe
ich eine Stelle an wegen eines feinen Penissymboles, Sie hatte im Traum in
einem gynäkologischen Stuhl Platz genommen. Durch eine Operation an ihrem
Daumen hatte ich die Anästhesie des Anus auf den Daumen übertragen und
dort genesen. Da sagte ich; „Jetzt muß es nocli auf Ihrem Bauch geschehen ,
und mit einem scharfen Gegenstand berührte ich denselben. Zu diesem Gegen-
stand assoziierte sie:- „E^ war eine Art Blumenzange, womit man Blumen
macht; als ob Sie damit ganz feine Muskeln berührten. Es war ein Ding,
■womit man Samenkörnchen ausstreut.
Nachdem in einem anderen Traum der Wunsch, wieder zu gebären, als
Determinante besprochen war, sagte Patientin einmal beim Nachhaus egehen zu
sich selbst: „Es -würde eine w^ahre Erlösung sein, wenn ich genesen könnte!
(HoU. „Verlossing" ist sowohl Erlösung wie Entbindung.) Und beim Aussprechen
des Wortes Verlossing durchzuckte es sie plötzlich ; Aber es ist eine Verlossing
(Entbindung)! Und sie fühlte zugleich mit absoluter Gewißheit, daß das
befreiende Gefühl vom Ablaufen all ihres Harnes, das sie von Zeit zu Zeit
hatte, gewissermaßen einer Entbindung gleichwertig sei; dasselbe Gefühl hatte
sie bei ihrer Niederkunft gehabt. Nun zeigte die weitere Analyse bald, daß
die Symbolisierung einer Gravidität die Retentio usw. determinierte. Die
gefüllte Blase lag wie eine Flasche, wie ein scliwangerer Uterus im Bauch
und gab ihr dieselben Sensationen. Dasselbe Brennen an der Urethra hatte
sie in. der Gravidität gehabt, dieselben Spannungen in den Bauchmuskeln.
Last not least: ihre Menses sistierten seit acht Jahren, obschon sie noch gar
nicht klimakterisch war. (Patientin hatte sich in der ganzen Ehe kränklich
2g8 Dr. A. J. Westerman Holstijn
gefühlt, nur in der Gravidität war sie vollkommen gesund, ganz „normal
gewesen.)
Traum G: Dr. P. angelte mit einer Angelrute und einem Holzschuh daran.
Mein Töchterchen setzt sich hinein. Nun sclileudert der Doktor das Ganze
herum. Erst ging es gut, aber dann richtete die Kleine sich auf, ich rief:
Nicht tun! aber schon fiel sie ins Wasser. Ich lief hinzu, und als ich sie
aufhob, war sie eine Puppe. Der Doktor rief: Den Kopf nach unten halten,
das Wasser muß oben herauslaufen ! Dann lag ich auf einem Bettgestell,
eine Pflegerin deckte mich zu. Schon ohne Assoziationen ist dieser Traum
teilweise deutbar. Es ist eine Geburtsrettungsphantasie. Rank' sagt anläßlich
eines ähnlichen Traumes: „Das Herausaielien (Ketten) des Kindes aus dem
Wasser symbolisiert nach der Freudschen Anffassiiiiig ganz wie im ,Mythus
von der Geburt des Helden' den Geburtsakt; das HineJngleiten (schlüpfen)
des Kindes wiederholt einerseits den Zeugungsakt (das sexuelle ,Naflwerden'),
andererseits stellt es auch auf dem bekannten Wege der .Umkehrung' das
Herausziehen selbst (die Geburt) dar. Hier finden ivir drei Tempi: i. Doktor
„schleudert seine Angelrute, wobei die Kleine sich aufrichtet" ; 2. Das Kind
fällt ins Wasser. 5. Es wird herausgeholt. Dr. P. repräsentiert ihren Vater
und mich, (Man vergleiche Traum A, wo ihre Assoziationen erst nach Dr. P.
gingen!) Sie träumt hier ihr Kind zurück in den Penis des Vater- Arztes und
läßt es dann neu geboren werden. Eine merkwürdige Assoziation muß ich
noch erwähnen. Obwohl die Geburtssyrabolik für den analytischen Laien nicht
ohne weiteres deutlich sein kann und dieser Traum in der Zeit vor der
Besprechung der ,,/^e7-/osj[n^" Symbolik fiel, gingen ihre Assoziationen direkt
nach dem Begriff der Geburt; Daß das Wasser aus dem Kopfe des Kindes
fortlief, erinnerte Patientin an die Geburt Minervas aus dem Kopfe Zeus."
Wir müssen hier eine Umkehrung annehmen, denn der Strom des leben-
bringenden Wassers kommt hier nicht aus dem Mutterkörper, sondern aus
dem Kinde (mit einer Verlegung nach oben). Hiermit stimmt nun aber das
Ende des Traumes schön überein: Die Pflegerin, die sie (nach dem Partus)
zudeckt, ist ihre Tochter und zugleich hat sie das Gefühl, als ob sie selbst
ihre Tochter ist. Identifikationen mit der Tochter also, die sich auch sonstwo
zeigte, aber die es hier möglich 'machte, daß im manifesten Traum der
Partus teilweise am Kind stattfand. Da Patientin, wie wir wissen, fort- ,
währenden Harndrang hat, könnten wir hier Schemersche Symbolik vom
ausströmenden Wasser annehmen. Doch ist es deutlich, daß hier psychische
Komplexe im Spiele sind. Ich möchte denn auch hier Ranks Worte zitieren.'
Wie nicht selten in derartigen Geburtsträumen, spielt auch hier der Harndrang
hinein . . . Wie ich zeigen konnte, deckt sich diese aus dem frühinfantilen
Leben (Enuresis) stammende Harnsymbolik vollauf mit der im späteren
Leben hinzugekommenen Sexualsymbolik, welche dieselben Elemente, nur in
anderem- Sinne verwendet, (Urinwasser wird zu Geburtswasser, kleines Kind,
das sich naß maclit, wird zu kleinem Kind, das geboren wird, das enuretische
Naßwerden wird zu sexuellem Naßwerden, zur Befruchtung.) Unsere Patientin
i) Diese Zeitschrift, Jalirg. TT, S. 44.
2) Eine ähnliche direkte Assoziation bei einem nnvorbereiteten Laien fand ich
bei einem anderen Patienten, beschrieben diese Zeitschrift Jahrg. VII, S. 289.
5) Diese Zeitschrift, Jahrg. II, S. 48.
i
Retentio Urinae 299
nun hatte zwar Harnzwang, aber es waren die psychischen Komplexe, die
Traum und Harnzwang verursachten. Auch die ^nächsten Träume verbergen
dieselben Komplexe. „, „ , • r. v
Traum H- Ich kleidete mich um. Meinen Flanell hatte ich eben ausgezogen
und er lag neben mir. Ich denke: Was ist darin? Mein Mann hebt es auf.
Es war ein Nestchen, wie von einer Spinne. Ich wagte nicht, danach zu
gucken. Es war ein Kätzchen drin. n a a
Traum I- Die nächste Wacht war dieses Kätzchen ganz groß geworden und
von Stein Es saß mit dem Kopf schief bei der schmutzigen Wasche Ich
fürchtete mich vor ihm. Da war eine Tür mit einem Yorh^g .wonach es
guckte Es kam auf mich zu, ich schob mich vorsichtig nach der Tur, mit
einer Tischdecke in der Hand, um diese über das Kätzchen zu werfen, ich
fürchtete, daß es wie ein Löwe auf mich zukommen wurde. Bei der lur
fiel ich auf die Knie und begann es schrecklich anzublasen. Aus der kompli-
zierten Analyse nur soviel: Sie hatte das Gefühl, als ob das Nestchen aus ihrer
Seite gekommen war, aus der SteUe, wo sie öfters Schmerzen hat. Das
Kätzchen steUt hier ihre Tochter vor. war auch das Kätzchen dieser Tochter.
Der Vorhang erinnerte sie an em Gemälde, auf dem mehrere Menschen die
auf verschiedene Weise durchs Leben gehen, schließlich hinter emem Vorhang
verschwinden, da war der Tod. Die Katze, die ihr nahte, nahte der Pforte
des Lebens, der Vagina. Auch hier wieder Wiedergeburt, Zurückkehren des
Kindes in den Uterus.
Hiermit ist nun auch erHärt, daß in Traum A. Assoziationen vom angreifenden
Vater zur Tochter gingen. „ . . , ^ ■ j„„
Ganz kurz könnten wir den Fall so beschreiben-. Patientin konnte m der
Ehe ihre Libido nicht ganz auf den Gatten übertragen, darum kamen mtantüe
Komplexe wieder, und v^nschte sie, geschwängert von ihrem Vater, ihre
Tochter wieder in den Bauch zurück. Die Blasensymptome symbolisierten
diesen Wunsch. ^ •.
Die Genesung ging ziemlich flott, auch die Menses kamen für kurze Zeit
(Patientin wurde jetzt klimakterisch) zurück. Auch in den Träumen spiegelte
ich die Besserung ab. Im Traum J. träumte ihr daß ein Haus Bf^^'^'^^^
Dach wurde schon aufgesetzt, und sie dachte: Das bedeutet, daß meme
Genesung bald vollendet sein wird. In K. träumt ihr, daß sie ms Wasser
fiel und ich Sie rettete; eine Übertragung ihrer Geburtsrettungskomplexe auf
mich zugleich besagend, daß ich sie von der Krankheit retten wurde^
S L trtot ihr: „Es war, als ob ich mich entpuppte. Mein Korper blieb
heg^; und ich kam" durch meinen Mund heraus^ Wie eine Spinne ^e ans
ihrer Haut kriecht. Einen Moment zuckte es durch memen Kopf daß ich tot
wäre Ich ließ das Alte liegen und kam neu heraus. Es war eine Erneuerung
e'w edergeburtstraum Sso, worm wir manche BUder aus früheren angst-
liefen Träumen jetzt ohne Angst wiederfinden. In M. schließlich träumte ihr:
E Hühte aus meinem Bauch em großer Rosenhaum auf -" ^f ^ --
Lsen mid ich sah dabei ein Gedicht vor mir, das hieß: „Geduld gebart
Rosen " Sie war die Geduld, weil sie so lange hatte geduldig sem müssen.
Jetzt eebar sie aber weder eine steinerne Katze noch wurde es mit Gewalt
aus ihrem Körper gerissen, aber die mit der Blumenzange in ihr ausgestreute
Saat war aufgeblüht zu einem Baum des Glückes. Patientin weiß in sozialer
50O
DJ- W. J. J. de Sauvage-NoHing
Arbeit Ihre LiLido zu sublimieren und ist geistig und körperlich total zu
Ihren Gunsten verändert. Erst am Ende der Analyse erzählte sie, daß sie
vor 15 Jahren eine Pseudogravidität durcligemaclit hatte. Sie wurde so dick
daü die ganze Umgebung dachte, daß sie schwanger sei, und sie selbst Tühlte
auch Kindesbewegungen. Dies wurde also das tatsächliche Bestehen eines
^chwangerschaftskomplexes objektiv beweisen für den, der dies aus den
I räumen usw. nicht hätte lernen können.
Über den Verfolgungswahn beim Weibe
Von Dr. W. J. J. de Sau vage-Nolting
Wie von Freud und seiner Schule stark betont wurde, bemht der Verfolgungs-
wahn auf der Projektion eines unbewußten Wunsches, welcher als solcher
nicht hewui3t werden durfte und darum nur mit negativem Zeichen die Zensur
passieren konnte.
Dieser Wunsch würde dann wohl fast immer ein homosexueller sein der
also nach seiner Projektion bewirkte, daß der Patient von einer Person ;eines
Wn-esJ e.genen Geschlechtes verfolgt wird und dies als unangenehm empfindet.
WH 7 -rt'"' ' ^^'^ ""■■ "^ ^'''^^' Tatsachenmaterial imstande sein
S. R ■? T' "?/''^*"^" '^'^^^ ^" dementieren, und so hoffe ich, einige
kleine Beitrage dazu liefern zu können. ^
docf^w.!!5*^'':;^^""^^"-''n'°5"' '^""^ "^'^^^ ""^ ^"^ weibliche Patientinnen;
BeoLcM^ ^ ^^ese spezieU betrachtet, weü gerade die meisten Analysen und
ßeobachtungen bis jetzt bei Männern gemacht wurden
Die untersuchten Patienten gehörten fast die zu der Gruppe der Schizo-
WeT Sb TT'", ""i^^"" '^""^"'^'^ P™-'^- -' Paraphrenie.
Weil sich eine regelrecht durchgeführte Analyse als unmöglich erwies, war
ich auf die spontanen Äußerungen der Patienten in mehreren Stadien der
Entwiddung Ihrer Psychose angewiesen. Die Frage ob diese Äußerungen, die
n Gestalt von Halluzinationen und Wahngedanken erfolgten, Material liefern
konnten zur eventuellen Bestätigung der obenerwähnten Theorie, meinte ich
bejahen zu dürfen. Denn gerade die Psychotiker äußern ungehemmt jene
Gedanken, die sowohl vom Neurotiker wie vom Normalen gewaltsam zurück-
gedrängt werden. Daß dabei doch eine gewisse Verdichtung stattfindet und
die Komplexe in symbolischem, aber durchsichtigem Gewände hervorkamen,
konnte meines Eracbtens kein Grund dazu sein, die Äußerungen der Patien-
tinnen als unzuverlässig zurückzuweisen. Welcher Äußerung, der Halluzination
oder dem Wabngedanken, mehr zu trauen sei, schien mir nicht so scliwer zu
entscheiden. Im Gegensatz zu der Auffassung, daß die Halluzination die direkte
Folge des geäußerten Wahngedankens sei, meinte ich, beide als aus einer unter-
bewußten Quelle entstandene Gebilde auffassen zu können. Nur mit diesem
Unterschied, daß der Wahngedanke, so wie er sich für uns gestaltet, eine
(wenn auch abgeschwächte) Zensur passiert, dadurch an Ursprünglichkeit viel
über den Verfolgungswahn beim Weibe 301 (
1
verloren hat und zum Teile rationalisiert wurde, während die Halluzination
als ein durch Kurzschluß nach außen proiizierter unbewußter Gedanke auf-
gefaßt werden konnte (siehe Jelgersma Leerboek der Psychiatrie I, S. 189).
Dadurch konnte der ursprüngliche, primäre, unbewußte Gedanke aho in reinerer
Form geäußert werden, Wenn nun der Psychotiker in der AVahnbildung seine
Sprache anwendet, um seine Gedanken zu maskieren, ist un Gegenteil die
Halluzination aufzufassen als ein unmittelbar in sinnesorganliche Sprache über-
setzter und der Zensur entschlüpfter Gedanke.
Es fiel nun auf, daß i. die erwartete homosexuelle Verfolgung bei Frauen
nur dami und wann bei diesen Fällen angctroifen wurde, während sie bei
Männern im Gegenteil immer sehr deutlich war; 2. wie von vielen Schrift-
stellern schon betont wurde, statt eines rein negativen Zeichens der Gefühls-
betonung gebenüber dem Verfolger ein ambivalentes Zeichen bemerkt werden
konnte; 5. der sexuelle Charakter der Verfolgung so deutlich war, daß Zweifel
daran ganz ausgeschlossen erschienen. (Körperbewegungen in genitalen Regionen,
Gehörshalluainationen erotischer Art usw.) Die Möglichkeit besteht nun zwar,
daß sich hinter dem Manne als Verfolger eine tiefer verdrängte Person von
entgegengesetztem Gesohlecht befinden konnte. Nur wurde dies selten ganz
deutlich (so wie dies auch bei männlichen Patienten nicht der Fall war.)
Doch wurden oft deutliche homosexuelle und narzißtische Komponenten der
Libido manifest, die jedoch selten in offenkundigem Zusammenhang mit der
Verfolgung standen.
Diese Komponenten sind außerdem bei Psychosen so allgemein, daß ihr Auf-
treten fast regulär ist. Die auch hei Frauen öfters vorkommenden Halluzi-
nationen in der Analgegend sollen natürlich nicht als homosexuelle Verfolgung
aufgefaßt werden. Im Gegenteil, sind diese in engen Zusammenhang 7.u bringen
mit mannlicher Agression a posteriori (diese stellt auch die phylogenetisch
ältere Form der Kohabitation dar, bevor sich die aufrechtgehende Haltung,
die Sprache und die Sexualisierung des Mundes und der Augen entwickelten).
Die Zahl der untersuchten Fälle war leider so klein, daß die mitgeteilten
Resultate nur sehr wenig Wert haben können. Reine Verfolgungsfähe waren
selten und öfters waren die Patientinnen zu verwirrt oder zu verschlossen für
eine tiefgehendere Untersuchung.
Wie oben mitgeteilt wurde, fanden sich als Verfolger meistens männliche
Personen, unabhängig vom Geschlecht der Verfolgten. Hinter diesen Verfolgern
Verfolgerinnen zu suchen oder eine tief verdrängte und üb er kompensierte
Homosexualität anzunehmen, würde schon darum erfolglos sein, weil das
negative Vorzeichen der Gefühlskomponente schon eine solche Verstümmelung
des tiefliegenden Wunsches ergibt, daß eine weitere gründliche Veränderung
der Persönlichkeit oder des Geschlechtes des Verfolgers nicht mehr nötig war.
Diese konnte deshalb auch nicht festgestellt werden.
Eine allgemeine Regel für den Entstehungsmechanismus des Verfolgungs-
wahnes konnte man natürlich bei einer so kleinen Anzahl von Fällen nicht
aufsteUen, höchstens die Hypothese, daß hier eine so geartete Regression
auftrete die bei Männern immer, bei Weibern öfters zum homosexuellen
Stadium der Libidoentwicklung zurückgehe. Der agressive Moment des
Verfolgens kann die Ursache sein, daß der Mann öfters diese Rolle spielt als
das Weib. Hinter dem Manne als Verfolger kann indes dann und wann eine
502 Dr. W. i. i. de Sau v age - Noi ti n g
aufsteigende homosexuelle Neigung bemerkt werden, welch letztere mit einer
Verfolgung vom Manne gestraft wird.
Es folgen mm kurze Angaben über einige weibliche Patienten:
i) Frau S., Tcrheiratet, 57 Jahre alt, seit drei Jahren irrsinnig, hat in ihren
Wahnvorstellungen mehrere Anknüpfungspunkte zur Homosexualität. Sie
halluziniert. Frau S- hat ein sexuelles Verhältnis mit Frau D. Sie verdgchtigt
ihren Mann, Verhältnisse mit fast jedem Weibe zu haben. (Siehe Freud:
Über einige neurotische Mechanismen hei Eifersucht, Paranoia und Homo-
sexualität, Ges. Schriften, Bd. V. S. 587 ff.; auch Stekel: Homosexualität und
Onanie.) Sie wird hypnotisiert von Frau P. Der Mann dieser P. verfolgt sie
darauf mit seiner Stimme und zeigt so seine Feindschaft. Allmählich wird
jedoch mehr der Mann Verfolger imd sie halluziniert: sie fühle wie ein Mann
a tergo ihr beikomme und empfindet dies als sehr unangenehm. Zeigt deutliche
manifeste liomosexuelle Neigungen gegenüber ihren Mitpatientinnen.
2) Frau B., 45 Jahre alt, ist zwölf Jahre krank und wird von männlichen
Engeln verfolgt, die ihr Schlechtes antun wollen. , Der Arzt wird ilir Mann
werden. Andere Männer versuchen ihre Libido aufzuwecken und verfolgen
sie deshalb.
jj Frau K., 44 Jahre alt, ist zwölf Jahre krank. Schurke und Schufte verfolgen
sie und Stimmen sagen, sie habe sexuelle Verhältnisse mit anderen Männern.
4) Frau V. Herzog H. hat es auf ihr Erbgut abgesehen. Ärzte und Bürgermeister
verkleiden sich, um sie ungestört beobachten zu können. Die Krankenschwestern
wollen ihr ihre „Frauen Schönheit" rauben. Der Arzt sticht mit Instnunenten
in ihren Rücken, weil sie keine sexuelle Agression zulassen will. Halluziniert
nachts von Offizieren in ihrem Bette.
i) Frau B. Ihr Onkel hat ihre Königsrechte geraubt und hält sie mit
magnetischer Kraft gefangen. Er belästigt sie fortwährend.
6) Frau B. Ihre Schwester hatte ihr vor ihrem Tode gesagt, sie komme nach
ihrem Tode zurück. Es wurde gesagt, die Patientin werde Gottes Ehefrau.
Bekam ein hysteriformes Abzeß und wollte das Bildnis ihrer Schwester haben.
Hat einige spiritistische Seancen mitgemacht mit einer homosexuellen Freundin
und beschuldigt diese Seancen, ihre Krankheit verursacht zu haben. Träumt
von vier Weihern entehrt au werden. Stimmen sagen, sie sei hermaphroditisch
veranlagt, auch sie habe homosexuelle Handlungen mit ihrer Mutter vollzogen,
was sie entsetzlich findet. Schreibt dem Bürger hieister, oh er dafür sorgen
wolle, daß die Beeinflussung durch ihre spiritMtischen Freundinnen aufhöre.
Ein gewisser Mann läßt sie alle möglichen sexuellen Handlungen begehen.
Die sehr narzißtische Patientin hat kaum heterosexuelle noch homosexuelle
Handlungen begehrt, sie möchte „rein bleiben.
y) Frau S. Wird mit elektrischen Strömungen von einem Herrn M. verfolgt.
Dies hat nach dem Tode ihres Bruders angefangen.
8) Frau K. Wird seit Jahren von Pastoren verfolgt, die ihr sexuelle Vorschläge
machen. Sie bleibt jedoch eine anständige Person.
Frau K., geb. 1868, ist zehn Jahre krank, halluziniert, von Herrn B.
entehrt imd auch von einem anderen Herrn verfolgt zu wenden. Später sagt
sie, ihre Schwester sei mit Herrn B. verlobt. Wird jetzt noch immer von
-4hm verfolgt.
KRITIKEN UND REFERATE
Aus der holländischen Literatur
Dr. F. P.MÜLLER: Psychopathologie en Psychoanalyse. Inaugura-
tionsvortrag als Privatdozent in Leiden, i. November 192a. E. J. Brill,
Leiden, 1922.
Ein in vollendet akadcmi scher Form
gehaltener Vortrag" als erster einer Serie,
die der auch philosophisch geschulte
Verfasser aU Privatdozent der Psycho-
pathologie in Leiden aizuhalten gedenkt.
Er stellt klar und in vornehmem Stile
der Entwicklungshemmung der Psycho-
pathologie durch himanatomische Denk-
fixierungen diese beiden Fortschritte
gegenüber: den K r aep elinschen, wel-
cher das AufsteUen von Krankheitsein-
heiten beiweckte, aber psychopalho logisch
niclit über das Samraehi von krankhaften
Äußerungen hinauskommen konnte, in
welchen man nur das negative Merk-
mal einer Zerstörung des zusammen-
hängenden normalen Assoziations Verlaufes
fand, und den Freudschen, welcher das
konstruktive Prinzip des Krank-
haften herausfand und in dem Begriffe
der Regression kulminierte. Dieser
besagt, das Krankhafte sei eine Rückkehr
JULIUS DE BOER: Bydrage to
Pathologie van het Onbewu
en Neurologische Bladen 1918.
Der Verfasser wül eine Lücke aus-
füllen, nämlich den Begriff des Unbewußt-
Psychischen philosophisch begründen. Er
bezieht sich dabei auf F r e u d, dessen
AufsteUungen er verteidigt oder vielmehr
zu verteidigen meint, denn bei seinen
Betrachtungen erlaubt er sich manche
zu überwundenen, aber nicht verschwun-
denen Entwicklungsstufen. Hier scheint
ein gewisser Gegensat'i zwischen Körper
und Geist zu bestehen; der Körper ver-
liert im Alter viel von dem, was er als
Kind besaß, der Geist scheint nur Neues
hinzuiuhekommen. In der Krankheit sehe
man neue Gewebsaxten auftreten, da-
gegen scheine der kranke Geist sein er-
wachsenes Kleid nur abzustreifen. Neu
und gut erscheint des Verfassers Ver-
mutimg, daß die Assoziationspsychologie
ihre Herrschaft namentlich dem mikro-
skopischen Bilde des Z. N. S. — die
Verbindung der Ganglienzellen durch
Fasern — verdankt, das in den Forscher-
seelen blendend auftritt. Verfasser schließt
seinen Überblick mit der Erwähnung des
narzißtischen Widerstandes gegen die
Psychoanalyse.
A. Stärcke (den Dolder^
t de Psychologie en Psycho-
st e. Festschrift Winkler. Psychiatrische
wichtige Abweichung, ohne daß ihm
deren Bedeutung bewußt zu sein scheint.
Es ist unzweifelhaft sein Recht, eigene
Meinungen lu haben, nur sollten sie
nicht mit denjenigen Freuds zusammen-
geworfen werden.
Nach de B o er sind die bewußten
^1
304
Kritiken und Referate
und die imbewußteii paychischen Aktivi-
täten die wesentlichen Komponenten des
Psychisclien, die in der Tatsache des
Eewußtwerdens ihre Einheit verwirklichen.
Das Bewußtsein ist ein unaufhörliches
EewuQtwerden und nicht siihstantiell,
sondern als Aktivität zu verstehen. Die
Bewi^ßtseinskoniplexe, mit hellem Auf-
merksamkeitsieatrum imd peripherischer
Verdunklunglüsensich ab und verschwinden
als Depositionen in das unbewnQt Psychi-
sche „imter der Bewußtsseinschwelle", mit
Erhaltung ihres aktiven und affektiven
Vermögens. (Dieses Unbewußt-Psychische
ist offenbar ungefähr das Vorhewußte
Freuds [Ref.].) Das Fee hn ersehe
Wellenschema, von dem (nach Verfasser)
naiven Zusammenhange seiner Unterwelle
, mit dem pl an etari sehen Unbewußten ent-
kleidet, wird mit dem Ziehen sehen
Schema verglichen und erweist sich
brauchbar. Einen besseren Begriff von
der Wirkung der Verdrängung verspricht
sich Verfasser von seinem Schema. Die stark
affektiv und aktiv geladene Aktionsvor-
stellung kann, statt in Aktion überzugehen,
lieben den lahllosen Erinnerungen „depo-
niert" werden (unter der Schwellel. Durch
ihre sLarke Ladung wird sie sich leicht
mit übereinstimmenden Sinneseindriicken
und Vorstellungen assoiiieren und so stets
mit Entladung, insbesondere durch Kuri-
schluß, drohen. „Gelingt es aber, diese
Deposition zum Beispiel durch liühere
ethische Motive zu erhalten und auf die
Dauer sogar zu verdrängen, dann kann
sie in gewissen Fällen pathogen wirken."
Die Kurzschlüsse als Resultate von Übung
und Gewohnheit gehen unbewußt vor
sich, die emotionellen Kurzschlüsse da-
gegen hauptsächlich als Entladungen längs
bewußt-psychischen Verbindungen, obwohl
die Ausstrahlung sicli auch über Elemente
unter der Bewußtseinsschwelle aiisdehnt.
Zum Schlüsse nennt der Verfasser als
seinen Beitrag die Idee, nach welcher
das Unbewußt-Psychische als wirksames
Moment der vollständigen psychischen
Wirklichkeit neben dem Bewußtsein ver-
standen wird, während in dem Begriffe des
Bewußtwerdens die Kategorie, in welcher
die beiden Momente ineinander über-
gehend zusammenarbeiten, dargestellt wird.
Es ist ein Verdienst des Autors, auf
Freud überhaupt hinzuweisen, aber dies
enthebt ihn nicht der Pflicht, den erwähnten
Autor auch zu lesen und sicli nicht der
Illusion hinzugeben, ihn verstanden zu
haben, bevor das tatsächlich der Fall ist.
Die Aufstellungen im d Schemata des Ver-
fassers zeigen keine Beeinflussung diu-ch
diese Lektüre. Sein „Unbewußtes" ist das
„Vorbewußte" Freuds, in anderer Hin-
sicht wieder mit dem „Unbewußten"
Freuds zusammengeworfen. Verdrän-
gung ist für ihn kein dynamischer Begriff,
sondern bloß ein Sinken unter eine
gewisse In tensitntssch welle. Wo er sie
dynamisch anführt, zum Beispiel als
ethische Hemmung, findet sie in seinem
eigenen Schema keinen Platz. Von dem,
was er in seiner Schlußzusammenfassung
seine Hauptidee nennt, ist der Begriff
des Unbewußten als eigentliche psychische
Wirklichkeit durchaus von Freud ent-
nommen; was Verfasser hinzufügt, wirkt
nur abscliwächend. Seine beiden psychi-
schen Faktoren, das Unbewußt-Psychische
und das Beivußtsein, sind entschieden
schwächer konzipiert als der Preud-
sche Gegensata zwischen dem Ich und
dem Verdrängten. Daß das Bewußtwerden
aus der Zusammenarbeit des Bewußt-
seins und des Unbewußt -Psychischen
hervorgeht, kann, wenn es nicht über-
haupt sinnlos sein soll, nur bedeuten,
daß unbewußte Inhalte bewußt werden
können.
Zieht man dabei in Betracht, daß er
mit „unbewußt" einfach „nicht bewußt"
meint, dann ist seine These eine Bana-
lität, keinesfalls aber eine Entdeckung oder
eine Theorie.
Sollte es bedeuten, daß zwei psychische
Wirklicldceiten, nämlich „Unbewußtes"
und „Bewußtsein", nicht jede für sich,
sondern nur zusammen das Phänomen
des Bewußtwerdens hervorbringen können,
dann stimmt das nicht mit dem auf den
vorhergehenden Seiten angegebenen Kri-
terium c[uantltativer Art.
Dieses Schwanken dürfte vielleicht
einem innerlichen Zweifel zwischen Par-
teinahme für, respektive gegen Freud
entsprechen.
A. Stärcke (den Dolder).
Kritiken und Referate
305
J. M. E.OMBOUTS : Psychiatrische onderzoekingsmethöden
voor het gebruik in de praktyk bewerkt. Mit Vorwort von
den Prof. Jelgersma, Winkler und Wiersma, Leiden, S. C. Van Doesburgh 1922.
Eine unter den Auspizien der drei
Relchsiuiiversitäten herausgegebene An-
leitung lum psychiatris eil- klinischen
Praktikum. Sehr viele Para llel- Unter -
suchungsmethoden sind aufgenommen
worden, so daß derselbe Kranke auf ver-
schiedene Arten imtersucht werden kann,
darunter Binet-Simon, Bohertag,
Stanfords Revision, Herde r-
s c h e e s Intellektuntersuchungsmethode
hei Taubstummen, das Assoziationsexpe-
riment nach Jung. Die via Jung hei
Kraepelin entnommene Verwendung des
W. M. ist anfechtbar. Bei einer even-
tuellen Neuauflage könnten noch einige
Normangaben, ein Paar der einfachen
und praktischen amerikanischen Unter-
suchungskrten, namentlich der Handlun-
gen und der Arheitskapaiität wie auch
eine Tabelle mit Daten der normalen
Entwicklung (wie lum Beispiel die in
Tredgolds „Mental Deficiency") auf-
genommen werden.
Mit diesem liandlichen Büchlein wird
auch der bessere Säugling Psychiatrie
treiben können, leider fehlt die Therapie.
Ai Stärpke (de» Dolder).
Dr. H. W. Ph. E. VAN DEN BERGH VAN EYSINGA: Eros. Een boek
von liefde en Sexe. (Verlag: A.W. Sythoffs Vitgeversmaatschoppy, Leiden, igso.)
Dieses Buch ist das letzte einer Reihe,
in welcher Verfasser seine Ideen über
die menschliche Gesellschaft, deren Ge-
schichte und zukünftigen Fortscluritt aus-
führt.' Leider wird dieses Buch das letzte
bleiben, denn im vorigen Jahre, kurze Zeit
nach Erscheinen dieses Buches, ist der
Verfasser gestorben.
In diesem Buche soll die Liebe ihre
Würdigung finden. Der Verfasser bemerkt,
daß die Behandlung dieses Problems
sehr schmerig ist, denn erstens ist es
sehr kompliziert und zweitens darf man
sich nicht um Lüge und Konvention
kümmern, wenn man die Wahrheit
sagen will. Aber das Problem ist äußerst ■ Sinne,
wichtig und die soziale Bewertung der "
Sexualität in unserer Gesellschaft ganz
unrichtig.
Es wird dann in mehreren Kapiteln
in dichterischen Worten die Entwicklung
der Sexualität geschildert. Verfasser
schließt sich dabei ganz den Ansichten
P r e u d s an, dessen geniale Entdeckungen
er anerkennt und dessen Werke er mehr-
fach zitiert. Die Leitmotive dieser
Kapitel sind in kurzem die folgenden :
Die tierische Sexualität ist nur 2Ur
Fortpflanzung bestimmt, die menschliche
hat höhere Bedeutung. Das Gesetz der Ent-
wicklung ist VergeJstigung. Deshalb soll
auch die Sexualität „sublimiert" werden.
Auch die Erotik als solche kann
künstlerisch gestaltet werden ; zu diesem
Zwecke sollen die Liebenden zielbewußt
die Sublimierung der Sexualität anstreben,
Das Wesen jeder Kunst ist eben die Liebe
zu einem Objekt, aber nicht im materiellen
Die Entwickliuig der Erotik wird be-
einträchtigt durch die jetzige Form unserer
menschlichen Gesellschaft. Eine Besse-
rung erwartet Verfasser nur von einem
Kommunismus, der sich auf wahre Geistig-
keit gründet.
Dr. Adolph P. Meyer (Haarlem).
Dr. ADOLPH F. MEYEK: De on der zoekingen van Sir William
Crookes omtrent „Psy chic Force". Vragen des Tyds, Juli S. 331— 350.
September S. 351 — 384. ^9^^- Haarlem, Tjeenk Wiliink & Zoon.
Der Verfasser hat sich der nützlichen Tatsachenmaterial kritisch zu revidieren.
Arbeit unterzogen, das okkultistische Darunter hat der berühmte Name des
5o6
Kritiken und Referate
englischen Forschers Crookes von jeher
großen Eindruck gemacht, und manche,
die anfanglich der Geisterweh skeptisch
gegenüber standen, instande gesetzt, sich
ruhigen Gewissens ihrem Aberglauben
hinzugeben, indem sie ihr logisches Ge-
wissen auf ihn projizierten. Darum ist ea
interessant, au sehen, wie klaglich das an-
gebliche Tatsachenmaterial Crookes' unter
dem kritischen Detektivblick des Ver-
fassers zu Nichts zusammensclinimpft,
und wie der große Physiker sich von
seiner Katie wie ein Kind hat an der
Nase herumführe» lassen.
A. Stärcke (den Dolder).
Dr. C. J. WYNAENDTS FRANCKEN: Hat sexueele leven. H. D.
Tjeent Willink & Zoon, Haarlem 1921.
Eine ruhige, fast vorurteilsfreie Be-
sprechung einschlägiger Themen. Im Ab-
schnitte über sexuelle DifEerenzierung wird
mit Heymans der Frau größere Emo-
tivitSt, stärkerer Einfluß des Unbewußten,
geringerer Bewußtseins um fang, Vorliebe
zum Konkreten und Naheliegenden zu-
geschrieben. Die vom Verfasser Darwin
entuominene, von Bolk für das Hlm-
gewicht bekräftigte Behauptung, das Weib
sei weniger variabel als der Mann, soll
bekanntlich nach Pearsons exakten
Untersuchungen dahin korrigiert werden,
daß eher das Umgekehrte der Fall ist.
Es folgen Abschnitte über den Geschlechts-
trieb, Liebesneigung und -Werbung, weib-
Kches Geschlechtslehen, Mutterschaft.
Eugenetik, Heirat, Ehescheidung, Prosti-
tution, sexuelle Aufklarung, Sexualethik,
Abstinenz, Doppelmoral und Feminismus.
Die verschiedene VPeise, in welcher bei
Mann und Weib Liebe hervorg-emfen
wird, beschreibt der Autor wie folgt; „Beim
Manne geht diese meist von den Sinnen
ZTir Seele, beim Weibe umgekehrt, von der
Seele zu den Sinnen. Die Männer ver-
lieben sich anfüuglich in das Äußere
ihrer Auserwählten, beim Weibe wird die
Liebe mehr durch das, was man ihr ins
Ohr flüstert, geweckt." Diese Unter-
scheidung würde besser durch Hinweis
auf den Unterschied zwischen narziß-
tischer und objekterotischer
Objektwahl beleuchtet, von denen die
erstere vielleicht beim Weibe häufiger
vorkommt. Auch die Rolle der Über-
tragung bei der normalen Objektwahl
wird mit keinem Worte cnvähnt; dagegen
wird die Meinung Freuds über das
Bestehen einer infantilen Sexualität kurz,
aber frei von sittlicher Empönmg mit-
geteilt. Als Partialtrieb nennt' er nur die
Moll scheu Koutrektations- und Detu-
raeszenitriebe. Verfasser bestreitet aus
eu genetischen Gründen die gesundheit-
liche Fürsorge für schwachsinnige Kinder.
Demgegenüber darf darauf hingewiesen
werden, daß die Möglichkeit besteht, daß
starke fluktuierende Variabilität an sich
eine erbliche Eigenschaft sei, so daß
in diesem Falle eben aus eugenetischen
Gründen die Beschützung und sogar die
Züchtung der Familien, in welchen jene
Min US Variationen vorkommen, verteidigt
werden kann, weil aus ihnen auch die
großen Talente stammen, ohne die die
Gemeinschaft zugrunde ginge. So lange
es also nicht feststeht, welche patho-
logische Variationen genotypisch bedingt
sind, Ware es unvorsichtig, sie jetit schon
auszuschalten.
Sympathisch ist des Verfassers Aus-
einandersetzimg mit dem Verbot der
Fruchtabtreibimg, in welcher eine deut-
liche Neigung zutage tritt, die Milderung
dieses Verbotes zu empfehlen. Im Ab-
sclmitte über Prostitution vermißt man
jedes Ergebnis der Psychoanalyse (inze-
stuöse Fixierung, Prinzip der Erniedrigung,
Homosexualität usw.). Freud wird an
mehreren Stellen litiert, am wirksamsten
auf Seite 277 : Die Ergebnisse der
Freud scheu Untersuchungen bedeuten
eine ernsthafte Warnung, die ursprüng-
lichen Instinkte der menschlichen Natur
nichtzuviel zu vernachlässigen undnichtzu
übersehen, daß diegeschlechtliche Befriedi-
gung des einzelnen nicht den allgemeinen
Kulturideen geopfert werden darf, wenn
auch der Geschlechtstrieb größtenteils in
sozial wertvollen Balmen sublimierbar ist.
Verfasser verteidigt aus physiologi-
Kritiken und Referate
307
sehen und biologischen Gründen die
doppelte Moral. Er weist darauf hin, daß
der Feminismus nach Erlangung aller
Rechte strebt, mit Ausnahme des wert-
vollstfn, des Rechtes auf Liebe.
Das Buch ist für gebildete Laien ge-
schrieben und in dieser BücherUasse
ein Fortschritt.
A. StäTcke (den Bolder).
Dr. F. H. FISCHER: Mythe on Sage. Groot-Nederland. Mei 1920.
Verfasser berichtet, wie Freud die
Psychoanalyse xur Erforschung und
Heilung der Neurosen geschaffen hat und
wie er dabei im- Analyse der Träume
geführt wurde.
Die „Traumdeutung" war vielen Men-
schen ein Dom im Auge, Auch Verfasser
lehnte dieselbe anfangs ab. Nachdem es
ihm jedoch gelungen war, einige semer
eigenen Träume befriedigend lU deuten,
hat er ihren Wert erhannt; jedoch kann
er nicht allem beistimmen, was F r e n d
behauptet. Manchmal veraUgemeinerl
Freud vorschnell und seine sUrke ner-
vöse Sexualität beeinflußt immer seine
Phantasie. „Fortwährend genötigt, se^Tielle
Gefühle zu unterdrücken, rächen sich
diese an seiner Phantasie wegen ihrer
Verdrängung. Sein wissenschaftlicher Sinn,
der ihn einerseits behütet, erfüllt ander-
seits die Rolle des entladenden Traumes,
indem er in der Form einer Sexuallheorie
die Welt so gestaltet, wie der Träumer
sie wünscht, nämlich so me er selber ist.
Die ,Drei Abhandlungen zur Sexual-
ÜieorieS wenn auch in wissenschafüicher
Absicht verfaßt, enthalten tatsächlich die
langweilige Erzählung des Traumes eines
Hypersexuellen." Verfasser gibt eine ver-
zerrte Beschreibung von Freuds Auf-
fassung der infantilen Sexualität. Schließ-
lich aber meint er: „Jedoch kann man
annehmen, daß die Innigkeit zwischen
Mutter und Sohn und Vater und Tochter
nicht mit Umgehung des Geschlechtlichen
besteht. Und dieses lugegehen, kann man
nicht verneinen, daß einige Kmder m
dieser Hinsicht unbewußt sehr weil gehen
können!" , ^
Dann führt Verfasser ans, daß zwei
wichtige Quellen des Traumes von
Freud gefunden \vurden, nämlich die
Ereignisse des Traumtages und die der
Kindheit, und erläutert dies durch viele
Beispiele. Er fährt fort: „Eine dritte,
nicht weniger wichtige QueUe ist der
Geschlechtstrieb, aber nicht der hypothe-
tische Freuds, welcher zwischen dem
dritten und fünften Jahr so Stark sein
soll, sondern der reelle des Erwachsenen."
— Dieser Trieb gibt sich kund in Sym-
bolen und deren Bedeutung soll gefunden
werden. Er erwähnt dann mehrere
Beispiele von Traumsyrabolik, welche
von Freud imd Jung veröffentlicht
wurden. Er meint aber, ,die Traumanalyse
habe die Gesetze, welche die Phantasie^
beherrschen, noch nicht zu finden ver-'
mocht. Die Schlußfolgeningen Freuds
seien wenig überzeugend und ungenügend
erläutert.
In einem folgenden Aufsatz will Ver-
fasser das Wertvolle der Freud sehen
Ideen in ihrer Anwendimg auf Mythus
und Sagen erörtern. Vorläufig hofft er
dazu beigetragen ju haben, daß der Leser
den Ernst und die hohe Bedeutung der
psychoanalytischen Untersuchungen nicht
verkennen wird.
Referent meint, daß dieser Aufsatz,
weil er in einer der angesehensten hol-
ländischen Hterarischen Monatsschriften
veröffenüicht wurde, viel zur Verbreitung
der psychoanalytischen Ansichten bei-
tragen kann; vielleicht um so mehr des-
halb, weil Verfasser sich in einigen
Punlcten ahlehnend verhält, jedoch jedes-
mal von dieser Ablehnung etwas auf-
geben muß.
Dr. Adolph F. Meyer (Haarlem).
508
Kritiken und Referate
Aus der südamerikanischen Literatur
H. F. DELGADO: El dibujo de los psicopatas. Lima 1922,
Velrfasser gibt in dieser Schrift eine
Anzahl instruktiver Beispiele von Zeich-
nungen Geisteskranker, die er unter
psa. Gesichtspunkten betrachtet. Ins-
besondere weist er den Zusammenhang- der
Zeichnungen mit der kindlichen Sexuali-
tät der Patienten nach und beschäftigt
sich mit der Symbolik, deren Identität
mit der Traumsymbollk er nachweist.
Dr. K. Abraham (Berlin).
H. F. DELGADO: La higiene tnental. Lima igzs.
D. stellt eine Reihe von Porderungen
auf, um die Fürsorge für die geistige
Gestmdheit der Kinder und die Pflege luid
Behandlung seelisch abnormer Kinder m
fördern. Unter den Forderungen wird
besonders die Beschäftigung des Erziehers
mit der Psychoanalyse hcrA'Orgehobeu.
Dr. K. Abraham (Berlinl.
H. VALDIZAN und H. F. DELGADO: Factores psicoUgicos de la
demencia p r e c o z, Revista de psiquiatria 1923, Nr. 4.
Aniahl der Arbeil beigegebener Zeichnun-
gen dieser Patienten, aus welchen interes-
sante Zusammenhänge mit den verdrängten
sexuellen Kindhcitswiinschen hervorgehen.
Dr. K. Abraham (Berlin),
Die Verfasser bringen einen Ausschnitt
aus zwei Beobachtungen an Geisteskranken
und suchen den Zusammenhajig der Sym-
ptome mit dem. Unbewußten nach in weisen.
Sie benutzen dazu unter anderem eine
BALTAZAR CARAVEDO (Lima): Actitudes reg'resivas en Ibs
esquizofrenicos. Revista de Psiquiatria Vol. V. Nr. 2, Lima 192A.
Verfasser nimmt für . alle Haltungs-
stereotjpien der Geisteskranken eine
regressive Bedeutung an, das heißt ihre
Herkunft von der Haltung des Fötus.
Er geht von der Beugehaltung des Kindes
im Mutterleib aus, nimmt an, daß sie
milustvoll sei und das Kind zu reaktiven
Streckbewegungen veranlasse. Die Streck-
bewegungen entstehen sekundär und sind
im extrauterinen Leben lustvoll. Während
alle Beugehaltungen „Unlust, Schmerz,
Trauer, Schwäche, Demut, Impotenz" aus-
drücken, bedeutet die Körp erstreckung
„Lust, Stolz, Kraft, Befriedignng".
Die stereotypen Haltungen der Schizo-
pfarenen sind größtenteils Beugehaltungen,
und als solche stellen sie den Versuch
im- Rückkehr in die intrauterinen Ver-
haltnisse dar. Der Kranke kehrt zur
ältesten Haltungsform lurück. Die
Nahrungsverweigerung der nämlichen
Patienten schließt ebenfalls eine Rück-
kehr zu pränatalen Verhältnissen in sich.
Bei manchen Kranken bezieht sich die
Abstinenz nur auf feste Speisen; die
Regression geht dann nur bis zur aus-
schließlichen Aufiiahme von Flüssigkeiten;
Andere weigern sich, auch diese anzu-
nehmen, so daß vielfach künstliche Er-
nährung mit dem Schlauch nötig wird.
Der Verfasser hat diese bei seinen Kranken'
vermeiden gelernt, indem er ihnen wie
kleinen Kindern die Milch in der Saug-
flasche verabreicht.
Diese Angabe des Verfassers verdient
entschieden Nachprüfung ; selbst wenn
das Verfahren sich nur in einem Teil
solcher Fälle bewahrte, wäre der Nutzen
erlieblich. Verfasser gibt an, daß die
Patienten noch einiger Zeit von selbst
wieder zur normalen Form der Nahrungs-
aufnahme übergehen,
Verfasser erwälmt nur eine stereotype
Streckhaltimg bei Geisteskranken: Die
Streckung des ganzen Körpers, die ihm
eine mimische Darstellung des Todes zu
sein scheint.
Dr. K. Abraham (Berlin).
Kritiken und Refe-rate
509
J. R. BELTRAN: La Psicoanalisi
1 o g i a. (Buenos Aires, Talleres graficos
Der Verfasser hat in einer Strafanstalt
einen wegen -Mordes verurteilten Ge-
fangenen einer eingehenden psychologi-
schen Untersuchung luiterworfen. Der
Untersuchte, ein chronisch Geisteskranker
mit den Erscheinungen der Schizophrenie,
hatte seine europäiKche Heimat verlassen,
weil er sich ängstigte, seinen Vater er-
morden lu müssen. In Buenos Aires wurde
er Angestellter eines Hotels. Als er aus
dieser Stelle entlassen wurde, folgte er
eines Tages dem Impuls, seinen Vorge-
setzten zu töten.
Verfasser weist ntm nach, wie das
s al servicio de la crimino-
de la penitenciaria nacional, 1925.)
gesamte Handeln des Kranken einschließ-
lich der Mordtat unter dem Einfluß der
kindlichen Ödipuseinstellung stand. Des
weiteren zeigt er die regressiven, beson-
ders die narzißtischen Vorgänge im Trieb-
lehen seines Patienten. Es ist bemerkens-
wert, in welchem Grade der Verfasser
wesentliche Gesichtspunkte der Psycho-
analyse erfaßt und lur Anwendung ge-
bracht hat. Es wäre lu wünschen, daß
auch Lei uns ähnliche Versuche sur
psychologischen Erforschung des Ver-
brechens gemacht würden.
Dr. K. Abraham (Berlin).
Dr. HERMINE HUG-HELLMUTH : Neue Wege zum Verständnis
der Jugend, Wien, Deuticke 1924.
Eine Arbeit, welche einem Kreis von
analytisch ungeschulten Hörern die Resul-
tate analytischer Forschung vermitteln
vrill, läuft immer Gefahr, entweder zu
viel Kompromisse an die üblichen Wider-
stände TU machen und damit die wissen-
schaftlichen Ergebnisse zu verwässern —
oder den Hörern unvermittelt zu viel zu-
zumuten und sie damit abzustoßen. In
den vorliegenden Vorträgen sind beide
Gefahren mit viel Takt und Geschick
vermieden. Es sind nicht nur den päda-
gogisch interessierten Kreisen die psa,
Erkenntnisse von der Entwicklung des
Kindes und deren Schwierigkeiten sowie
von den möglichen Angriffspunkten päda-
gogischer Arbeit zugänglich gemacht,
sondern es ist hier insbesondere durch
die zahlreichen anschaulichen Beispiele
ein Bild des kindlichen Trieblebens leben-
dig gestaltet. Dieses war von der Autorin
kaum anders zu erwarten, ist doch Frau
Dr. Hug-Hellmuth diejenige Frau, die als
erste sich das Gebiet der Kinder analysen
praktisch erarbeitet hat und die weitaus
meisten Erfahrungen bierin gesammelt hat
Eine Kritik konnte an vielen Punkten
einsetzen und erscheint doch mehr oder
weniger willkürlich, denn so eine populäre
Schrift bringt ihrer Natur nach eine Aus-
wahl voi> Gedankengängen, weiche in
weiten Grenzen von des Autors persön-
licher Einschätzung ihrer Bedeutsamkeit
abhängt. So vermißte ich zum Beispiel
bei den Eßstorungen ihre Zurückführung
auf die oralen Sexualtheorien, bei der
Besprechung des unersättlichen Liebes-
bediirfnisses vieler Kinder seine Be-
gründung in Schuldgefühlen wegen der
eigenen verdrängten Haßregungen. Es
scheint mir auch, als ob der Ödipus-
komplex noch prinzipieller in seiner
zentralen Bedeutung hätte hervorgehoben
werden können. Endlich drängt sich bei
einigen der im übrigen so sehr instruk-
tiven Beispielen gelegentlich das Bedenken
auf, daß sie bei analytisch ungeschulten
Lesern vielleicht den Eindruck einer allzu
einfachen Bedingtheit neurotischer Sym-
ptome hervorrufen könnten. Andererseits
liegt gerade in der Materialfülle einer
der Hauptreize des Werkes und sie ist
natürlich nur möglich auf Grund einer
vereinfachten Linienführung.
AUe diese kritischen Einwände sind
aber unwesentlich gegenüber dem großen
Wert des Buches, nicht nur für analytisch
interessierte Pädagogen, sondern auch für
den Analytiker selbst. Denn es bietet ihm
nicht nur eine nachhaltige Anregung dnrct
den Reichtum an Beispielen, sondern auch
durch vielerlei neue Gesichtspunkten, die
Internat, Zeitschr. f. Psychomalyse, X/3.
•S
510
Kritiken und Referate
der Verfasserin aus iiirer pralltischen Er-
fahrung erwachsen sind, wie die Auf-
stellung von zwei Latenzzeiten, von einem
zweiten Fragealter in der Vorpubertät,
die Hinweise auf die Unterschiede in der
weiblichen und männlichen Sexualneu-
gierde und manches andere mehr.
Dr. Karen Horney (Berhn).
J. VARENDONCK. (Docteur ^s Sciences P^dologiques, Ancien Charg^ de Cours
ä la Faculte de Pedologie de Bruxelles) : L' Evolution des Facultas
Conscientes. Gand, I. Vanderporten ; Paris, Felix Alcan, 1921.
die Außenwelt. Die fortwährenden Ver-
änderungen in der Außenwelt stellen sich
aber dieser Trägheit entgegen und ver-
hindern die Herstellung einer Stabilität
Es ist ein Mangel dieses Buches, dafl
man ihm seine ursprünglicheBestimniung
zur Doktorarbeit an seinem Zuschnitt
ansieht, der eher den Anforderungen einer
Prüfungskommission als den Bedürfnissen
der gewöhnlichen Leser gerecht wird. Die
Tatsachen, die Dr. Varendonck
vorbringt, könnten bei einer knap-
peren Fassung in mehr konzentrierter
Form nur gewinnen ; auch verschiedene
langatmige Ausführungen dürften ge-
strichen werden, ohne dem. Verständnis
zu schaden.
Von diesen formalen Nachteilen ab-
gesehen, enthält die vorliegende Arbeit
viel Interessantes. Dr. Varendonck
bespricht die von ihm. so genannte „dupli-
kative Erinnerungstätigkeit" (einfaches
Wiederauftauchen der Erinnerungsbilder),
ferner die „synthetische Erinnerungs-
tätigkeit", wie sie bei den Vorgängen der
Perzeption und Konzeption wirksam ist.
Die Perzeption betrachtet er als eine durch
Reize aus der Außenwelt hervorgerufene
Synthese; Vorstellungen, Gedanken tmd
Begriffe sind ebenfalls SyntJiesen, angeregt
durch Reize, die von innen, aus dem
Bewußtsein oder dem Unbewußten der
Person kommen; Gedanken definiert er
als „die Anpassung wiederbelebler Er-
innerungen an eine aktuelle Situation,
imter der Herrschaft eines Affektes oder
des Willens." Im Anschluß an P e r r i e r
und R i b o t (die Autoren, die er in diesem
Zusammenhang zitiert) ist Dr. Varen-
donck der Ansicht, daß eine der Haiipt-
funktionen des Bewußtseins die Hemmung
der Motilität ist, da diese Hemmimg die
wesentlichste Vorbedingung zu einer Wahl
der Handlung bedeutet. Das automatische
Handeln, das jede Wahl ausschließt, ist
dem Bewußtsein entgegengesetzt und ent-
spricht einer Tendenz zum Beharren bei
einer einmal vollzogenen Anpassimg an
des psychischen Gleichgewichtes. Mit
fortschreitender Entwicltlung scheint das
Seelenleben in Kampf mit der Variabilität
der Außenwelt zu treten. Es läßt sich
von den Umständen nicht überwältigen,
sondern versucht sich ihnen durch Re-
aktionen anzupassen, die im Laufe der
Entwicklung immer zahlreicher werden.
Die Lebensgefahr, die bei mangelnder
Anpassungsfähigkeit drolit, verstärkt den
Selbsterhaltungstrieb; das gewohnheits-
mäBige Handeln wird als unzulänglich
aufgegeben und aus den Mögliclikeiten
zur Synthese, die im Gedächtnis bereit-
liegen, eine oft ganz unerwartete Losung
ausgewählt. Bei Tieren und Kindern tritt
das Bewußtsein intermittierend auf, das
heißt es setzt aus, sobald keine Notwen-
digkeit zur Wahl der Handlung mehr
besteht. Bei erwachsenen Menschen er-
scheint das Bewul]tsein, dem Andauern
ihrer Triebregungen lufolge, mehr per-
manent. Die Triebregungen der Tiere
sind relativ einfach und daher leicht
befriedigt, bei den Menschen anders in-
folge der Komplizierung und Verzweigung
der primitivsten Begierden. Nach Doktor
Varendonck sind die biologischen
Vorteile des Bewußtseins „das Resultat
einer langen Entwicklung, während deren
das Seelenleben gezwungen wurde, seine
eigene Trägheit lu überwinden (eine
Trägheit, die es zur beständigen Repro-
duktion der im Gedächtnis bereitliegenden
Synthesen treibt) und die Spontaneität in
der Handlung zu unterdrücken, wodurch
die mehr primitiven, der Außenwelt nicht
angepaßten Trtebregungen im Ausdruck
gehemmt werden," Die Aufgabe des Be-
wußtseins ist also die Herstellung einer
Kritiken und Referate
t11
immer vollkommeneren Anpassung an die
Außenwelt,
Wir sehen aus den eben st eh enden
Ausführung eil, daß Dr. Varendoncks
Gedankengänge den Gedankengängen
Freuds in seinen neueren „metapsycho-
logischen" Arbeiten nahestehen, nur finden
wir bei Freud die Folgerungen aus
diesem Streben nach Anpassung, nämlich
das völlige Aiifhiiren der Lebenstätig-
keiten als Ziel der Todestriebe, schärfer
gefaßt. Da das vorliegende Buch keinen
Hinweis auf diese letzten Arbeiten Freuds
enthält, so scheint es, daß die beiden
Forscher unabhängig von einander zu
ähnlichen Ergebnissen gelangt sind.
J. C. Flügel (London).
H. RORSCHACH :Zur Auswertung des Formdeutversuches
£iir die Psychoanalyse. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben
von E. OBERHOLZER. (Zschr. f. d. ges. Neuro!, u. Psychiatrie, Bd. LXXXII.)
Das Deutungsverfahren beginnt bei
der Beieiclinung und statistischen Be-
rechnung der Antworten der Versuchs-
person. Dabei werden die Bezeichnungen
„Helldunkeldeutmig" und „Vulgär an twort"
neu eingeführt. Die nun folgende Inter-
pretation des Befundes ergibt, dai3 die
„Vulgärantworten" die Anpassung an die
Auffassungs weise der Kollektivität dar-
stellen, und die „Helldunkeldeutungen"
merkwürdigerweise einerseits mit einer
ängstlich-vorsichtig angepaßten Affekti-
vität, andererseits, wenn originell, mit
tonstruktorischera Talent, räumlichem
V ors tellunga V e rm ögen lu s am m e n zub an g en
scheinen; sie zeigen auch ausgesprochen
Komplexmerkmale ; Korrektiu-en, Wunsch-
erfüllimgen werden in ihnen deutlich.
Das gewählte Versuchsbeispiel gibt im
weiteren Anlaß, die Äußerungen der Ver-
drängiuigen im Befunde aufzuzeigen; es
sind dies Farbenschock als Hauptsjmptom,
Ausbleiben der Kinästhesien bei der ersten
Tafel bei tui verkennbar introversiver
Veranlagung, Starrheit in der Aufeinander-
folge von Färb- oderBewegungsantworten.
Beim „komplexfreien" Menschen herrscht
nämlich ein freies Durcheinander dieser
Antworten, ein freier Wechsel von intro-
versiven und extratensiven Einstellungen.
Den Zustand der Einengung der Erlebnis-
fähigkeit durch die Verdrängungen be-
zeichnet Rorschach als Koartation;
sie betrifft meist die introversiven und
die extratensiven Elemente nicht gleich-
stark, aber doch wohl immer beide. Das
Verhältnis der Kinästhesien zu den Farb-
antworten nennt Rorschach den „Er-
Diese letzte Arbeit des fr üb verstor-
benen H, R r s c h a c h ist eine Er-
gänzung und Fortführung seiner i ga i
erschienenen „Psycho diagnostit", in der
Methodik und Ergebnisse eines wahr-
nehmiingsdi agn ostischen Experimentes
mitgeteilt wurden. Das Experiment, be-
stehend im Deutenlassen von Zufalls-
formen (symmetrischen Klexbildem), er-
gab, daß die zu den Texttafeln gegebenen
Deutungen ganz bestimmte Symptomwerte
haben, von denen Rorscbach in seiner
Psycho diagBöstik eine Reihe der wich-
tigsten erläutert, die er gani empirisch
aufgefunden hat. So zeigte sich, daß die
Kinästhesien (als bewegt gedeutete Bilder)
die Repräsentanten der Inner licbi ei t, der
introversiven Elemente des Deutenden
sind, die „Farbantiv orten" (durch die
Farbe des Klexes beeinflußte Deutungen)
diejenigen der Affektivität Die reinen
„Form.ant Worten" (Deutung nur durch die
Form des Klexes beeinflußt) lassen mit
anderen Faktoren zusammen auf Umfang
"und Art des disziplinierten Denkens
schließen, das Verhältnis der Kinästhesien
zu den Färb deutun gen auf Macht und
Umfang des autisti sehen Denkens.
In der vorliegenden Arbeit zeigt
Rorschach einmal den Gang des
Deutungsverfahrens bis in alle Einzel-
heiten hinein, was in der „Psychodia-
gnostik" noch nicht geschehen war, und
erläutert dabei zwei neue Antwortarten
und ihren Symptomwert; hierauf folgt in
gemeinsamer Arbeit mit E. O b e r-
h o 1 z e r die Auswertung des Formdeut-
versuches für die Psychoanalyse.
ai*
512
Kritiken und Referate
lebnistypus" und findet Beziehungen
zwischen diesem iind der Neurosenwahl:
bei vorwiegend extratensivem Erlebnis*
typus herrschen hysterische, hei intro-
versivem neurasthenische und psychasthe-
nische Symptome vor, bei mittlerem,
„amhiäqualen" Erlehniätypus treten
Zwangs erscheinungen in den Vordergrund.
Die neurotische PersÖnlichteitsspaltung
macht sich im Befund in Widersprüchen
g-eltend und schließlich wird im Verlauf
der Interpretation bei Betrachtimg der
gedeuteten Zwischenfiguren die Neurose
außerordentUcb deutlich sichtbar. Im
weiteren wird auf einige ausgesprochen
intuitive Antivorten und ihre Komplex-
erfiilltheit hingewiesen, ein kurzer
Charakterabrifl der Versuchsperson ent-
worfen, und dann geht Rorschflch
auf das eigentliche Thema ein, die Aus-
wertung des Versuches für die Psycho-
analyse.
Dieser wichtigste Teil der Arbeit be-
ruht auf dem Vergleich der Interpretation
mit den Analysenergebnissen Dr. Ober-
holzers, indem die Versuchsperson
nach der Befund au fnahm.c bei Dr. Ober-
hol a e r in analytische Behandlung trat.
Die Charakteristik der Versuchsperson
durch Rorschach erwies sich nach
den aus mehrmonatiger Analyse ge-
wonnenen Erfahrungen Dr. O b e r-
h o 1 z e r s als absolut autreffend, und aus
diesen Erfahrungen ergab sich des
weiteren für die Beiiehungen zwischen
Formalem und Inlialtlichera der Deutungen
in der Hauptsache etwa folgendes: die
kinästheti sehen Deutungen stehen in
engstem Zusammenhang mit dem Unbe-
ARTHUR KRONFELD: Sexuaipa
Deuticke, Wien 1925).
Ein lesenswertes Buch, das eine emp-
findliche Lücke in der spezifisch sexuoto-
gischen Literatur zum Teil auszufüllen
imstande ist: die offizielle Sexuologie
hatte sich bisher nur sehr wenig psycho-
analytischer Forschungsergebnisse über die
Sex'ualität bedient, dieses Buch steht, man
darf es sagen, im Zeichen Freuds. Die
Fr eudscheLibidotheorie, insbesondere die
Lehre vonderinfantilenSexualentwicklung,
wuQten der Versuchsperson, sie verraten
die unbewußte Tendern derselben, ihre
grundlegenden Erwartuiigseinslellimgen.
Die Inhalte der Farben de utun gen sind
Symbole im Sinne der Traum symh ole ;
sie verraten die starke Affekthesetzimg
des latenten Inhaltes. Die Formdeutungen
sind meist „kömplexfrei", außer bei den'
ausgesprochen irrationalen Typen, bei
denen fast jede Äußerung Unbewußtes
unmittelbar verrät, und bei Versuchs-
personen, die sich lur Zeit der Befund-
aufnahnie in ausgesprochen guter Laune
befinden, deren Erlebnistypus dadurch
dilatiert und von Verdrängungen befreit
ist. Je starker die Verdrängimgen, desto
mehr wird alles Komplexhafte von den
Formdeutungen femgehalten, um so deut-
licher findet man ee aber in den Farb-
und Bewegungsantworten. Die abstrakten
Deutungen, für die Verrechnung der
Antworten nicht sali Unmäßig erfaßbar,
sind dadurch wichtig, daß sie augen-
scheinlich Beziehujigen zwischen Kin-
ästhcsienund Farben deutun gen herstellen,
zwischen den unbewußten Erwartungs-
einstellungen und den affektbetonten
Zielen des Uubevniflten. Der Versuch
gestattet eine Prognose für eine Analyse
zu stellen. Er kann zur Erkenntnis der
Systeme Ubw, Vhw, ßui und ihrer Zu-
sammenhänge beitragen, andererseits kann
die theoretische Erfassung des Versuches
durch die Psychoanalyse möglich sein.
Es bleibt noch Dr. E. Oberholzer
für die Herausgabe dieser letzten Arbeit
H. Rorschaehs zu danken.
Dr. A. Webe r.
thologie (Handbuch der Psychiatrie,
den erogenen Zonen, ja sogar der „poly-
morph -perverse"' Charakter des Kindes sind
zum größten Teile angenonimen und in ver-
ständnisvoller Weise bei Erörterung der
sexualpathologischen Phänomene ver-
wertet. Man hat den Eindruck, daß der
Autor die Psychoanalyse verarbeitet hat,
trotzdem wird oft, auch an Stellen, wo
so ziemlich alle wesentlichen Grund-
thesen der Psychoanalyse akzeptiert sind.
Kritiken und Referate
515
vom „schematisch verallgemeinerten und
dogmatisch erstarrten Charakter" der von
der Preud schule vertretenen Theorie
gesprochen.
Die Ablehnung der psychoanalytischen
Anschauung, daß zu j e d e r Neurose psy-
chogenetisch der sexuelle Konflikt dazu-
gehöre, andere variieren könnten, führt
zur Aufstellung einer speziellen Gruppe
„Sexueller Neurosen", deren Besprechung
ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Sie um-
faßt allerdings sc ziemlich alle Formen
neurotischer Erkrankung, wie Hysterie,
Angst-, Zwangsneurose, Neurasthenie usw.
Der Autor weist auf nichtsexuelle Neu-
rosen nicht einmal mit Beispielen hin.
Seine ambivalente Einstellung lu jener
Anschauung ist am. besten diu-ch folgende
Sätze charakterisiert (S. S5): Alle Er-
scheinungen in der Zwangsneurose
weisen „auf eine besonders typische und
starke Verflechtung der Psycho genese
von Zwangshildungen mit sexuellen
Verdrängungen" hin. „Es muß freilich
hervorgehoben werden, daß mit dieser
Feststellung ein p r i.n i i p i e 1 1 e r Zu-
sammenhang . . . nicht behauptet werden
soll." . . . „Trotzdem weist die Gesamt-
heit der ZwBUgserscheinungen doch auf
eine besondere Beziehung zur Sexualität
hin, gleichviel, welcher Art diese Bezie-
hung sein mag." . . . „Für die Angstzu-
stände ... ist . . . auch jenseits der
eigentlichen Freud sehen Doktrin, kein
Zweifel, daß sie fast stets aktuellen
Schädigungen des Sexuallebens ent-
stammen."
Weniger tief ist der Autor in das
psychoanalytische Verständnis der Per-
versionen, insbesondere der Homosexua-
lität eingedrungen. Wo sich der Autor
auf ausgebaute analytische Befunde nicht
stützen konnte, so zum Beispiel bei Be-
sprechung des Fetischismus, der Zoo-
philie usw., sind die Ausführungen nicht
befriedigend ; das ist allerdings nicht
seine Schuld.
Vielfach wird noch mit dunklen Be-
griffen, wie „abnorme allgera einpsychi-
sche Disposition" imd ähnlichem, gear-
beitet. — Im allgemeinen: eine vorur-
teilsfreie, geschickte Arbeit, die einen
sehr guten Überblick über den gegen-
wärtigen Stand der Sexualforschung gut.
In ihrem Wesen als Üb ersichts arbeit ist
es gelegen, daß sie wenig Neues bringt
und an der Oberfläche der Erscheinun-
gen haftet. Dr. W. Reich CWien).
ARTHUR XRONFELD: Über neuere grundsätzliche Auffassun-
genin derPsychotherapie. (Monatsschr, f. Psych, u. Neur., Bd. 52, 1925.)
Autor bespricht die diversen psycho the-
rapeutischen Methoden, darunter am
ausführlichsten die Psychoanalyse: Sie
verdankt ihre außerordentliche Verbrei-
tung dem Umstand, daß sie eine voll-
wertige Überwindung der Unzulänglich-
keit auf psychotherapeutischem Gebiet
versprach. Alle Metboden der Psycho-
therapie haben nur ein eng begrenztes
Gebiet: alle biologisch angelegten Or-
ganneurosen, vasolabile Symptome, re-
spiratorische oder artikulatorisch-phone ti-
sche Funktionsstörungen, nervöse Dys-
funktionen der Eingeweide und des Uro-
genitalsystems seien unbeeinflußhar durch
verstandesmäßige Belelu-img. Aber auch
die Psychoanalyse habe nicht gehalten,
was sie versprochen hat. Sie hat es nicht
halten können, weil auch ihr therapeuti-
scher Grundiug die „Übertragung", das
heißt die Suggestion sei. Hier bat sich
beim Autor, wie schon bei so vielen
anderen, ein grobes Mißverständnis ein-
geschlichen. Er meint nämlich, Freud
habe die therapeutische Wirksamkeit der
Psychoanalyse ursprünglich aus dem Ab-
reagieren, später aus der Übertragung
erklärt. Es wird übersehen, wie oft in
den betreffenden psychoanalytischen Ar-
beiten betont wittde, daß die Übertra-
gung nur das wesentlichste Vehikel der
Kur bleiben darf. Ist es doch geradezu
ein technischer Fehler, suggestive Erfolge
nicht als solche zu erkennen und zu zer-
stören. Sicherlich ist das Problem, wie die
Psychoanalyse heilt, auf welchem Wege
die psychoanalytische Heilung
eintritt, nicht völlig gelöst. Die Heilun-
gen laufen je nach Leiden, Charakter usw.
verschieden ab. In dem einen Falle steht
L
314
Kritiken und Referate
das Abreagieren, im zweiten das Erinnern,
im dritten die Überzeugung (die aber
von der suggestiv erzielten Überzeugung
grundverschieden ist) im Vordergrunde,
Es sind wahrscheinlich heterogenste Ele-
mente, die als heilende Faktoren mit-
spielen, je nach Neurose, Konstitution und
Charakter.
Im übrigen bedeutet die Arbeit eine
totale Wendung des Autors zur Psycho-
analyse im positiven, bejahenden Sinne.
Erst seit der Psychoanalyse sei das rich-
tige psychologische Verständnis in die
PAUL SCHILDER : Die Angstneu
Ein ausführliches Referat über die
Freud sehe Theorie der Ängstneurosen.
Der Autor nimmt an, daß in den Angst-
luständen die vasovegetativen Zwisuhen-
himapparate, zum Teil die Umgebung
des dritten Ventrikels in Anspruch ge-
nommen werden und bringt dies damit
in Zusammenhang, daß die Zentren für
die Sexualität in derselben Gegend liegen.
Bei Enzephalitikera sind AngstEUStände
Psychiatrie gedrungen, „eine völlig neue
Ära im Verständnis der neurotischen und
psychotischen Erlebens- und Keaktions-
weisen." Die kritische Stellung sei not-
wendig „angesichts einer unduldsamen,
kleinlichen und bis zum Unfug gehenden
psychoanalytischen Orthodoxie von mehr
oder weniger ärztlich »m gebildeten
Freud-Epigonen", „wir wünschen nichts
sehnlicher, als daß sie durch die weitere
Entwicklung der Freud sehen Lehre
selber überwunden werde."
Dr. W. Reich (Wien).
rose. {Wien. Med. W^. 1925, Nr. 57.)
zu beobachten, welche sich dem Bilde
nach nicht von angstneurotischen unter-
scheiden. „Wir müssen annehmen, daß
diejenigen Hirnstellen, welche in der
Neurose durch die konvertierte Sexual-
erregung beeinfluDt werden, gelegentlich
auch durch einen körperlichen Prozeß
geschädigt werden können."
Dr. W. Reich (Wienl.
PAUL SCHILDER; Zur Lehre von der Hy p o ch o n dr i e. (Monatsschr.
f. Psych, u. Neur., B. 56, 1924.}
Mit der Zuwendung mm Gegenstand
geht immer eine „Resonanz am eigenen
Körper" einher (Spannungs-, Gemein-
empündungen und ähnliches). Der Nor-
male erlebt die Resonanz nur mit. „Bei
der Hypochondrie verschiebt sich der
Akzent auf die Resonanz. Damit erhalten
die Mitschwingimgen eine Bedeutsam-
keit, die ihnen sonst nicht zukommt, sie
treten aber gleichzeitig in die Objekt-
welt hinaus . . . der Körper . . . beziehungs-
weise die kranke Partie wird ,ichfemer',"
Es handelt sich fast stets mit P e r e n c z i
und Freud um „grobe Sexualsymbolik".
Im erkrankten Organ gibt es also kör-
perliche Veränderungen, die wir noch
PAUL SCHILDER: Medizinische Psychologiefür Ärzte und Psychologen.
(Verlag J. Springer, Berlin 1924.)
nicht näher kennen. Wie bei den hyste-
rischen Konversionen strömt Energie von
verdrängten Erlebnissen auf „vorgezeich-
nete körperliche Balm^n ab."
In der alten Streitfrage, ob die
Hypochondrie nur als Symptomenkom-
plex innerhalb der großen Gruppen der
Neurasthenie, des manisch-depressiven
Irresein und der Schizophrenie oder als
selbständige Erkrankung aufzufassen sei,
neigt der Autor eher zur letzteren An-
nahme mit dem Hinweis, daß sich hypo-
chondrische Symptome gesetzmäßig und
chronisch behaupten können.
Dr. W. R e i c h (Wien).
Es ist kein Lehrbuch der Psychologie
im gewöhnlichen Sinne luid unterscheidet
sich von der sonst üblichen Art, psycho-
logische Erkenntnisse und Probleme zu
übermitteln, wohltuend dadurch, daß
immerwälircnd im Flusse der Darstellung
Problematik auftaucht, die den Leser zu
angestrengtem IVlitdenken anhält. Diesem
Kritiken und Referate
3*5
Vorteil wird wohl der Nachteil anhaften,
daß das Buch für weitere Kreise umn-
gänglich bleiben wird. Es werden letzte
Dinge der wissenschaftlichen Psychologie
angeschnitten, die „wichtigen Beziehungen
iwischen Geist und Körper" charakte-
risieren den Gmndton des Werkes, das
„auf den Pfeilern analytischer Anschau-
imgen" ruht iind den Versuch darstellt,
„Phänomenologie, Psychoanalyse, experi-
mentelle Psychologie und Hirnpathologie
zu einem Ganzen zu vereinigen,"' Die
Darstellung des Trieblebens, der ÄiTekte,
des Willens imd der Handlung ruht fast
vollkommen auf psychoanalytischer Basis.
Formal psychologisch steht der Autor voll-
kommen auf dem Boden der Aktpsycho-
logie; von der Wundtschen Assoiiations-
psychologie, die das Seelenleben aus
Empfindungen mosaikartig aufgebaut
wissen will, wird sehr wenig übernommen.
Aber auch die Phänomenologie des Er-
lebens hat durch den Unterbau psycho-
analytischer Trieb psych ologie bei Schil-
der, im Gegensatz lu den Schulphäno-
menologen (Husserl. Jaspers usw.),
das Gepräge einer wirkliclikeitsnahen
Lebendigkeit. Es wird bei den Ausfüh-
rungen über phänomenologische Erkennt-
nisse immer wieder auf die Psychoanalyse
verwiesen. Und gerade dieses innige
Ineinandergreifen von Psychoanalyse und
Phänomenologie macht das Buch auch
für den Psychoanalytiker, der formalen
Problemen im allgemeinen fernsteht, zu
einer Quelle neuer und wichtiger Prage-
steUungen.
Der Autor steht auf dem Standpunkt,
daß die psychische Kausalreihe unzerreiß-
bar, aber durch organische Prozesse ab-
änderbar ist. Die psychische Kausalität
greift aber auch in die körperliche ah-
Ändemd ein. ( Wechsel wirkungstheorie.)
Die Lehre von der Himlokalisation wird
insoweit ühemommen, als bestimmte
Jiimapparate zu bestimmten seelischen
Funktionen besonders enge Beziehungen
haben,undVoUzugsapparate darstellen. StÖ-
xungen dieser Apparate ändern seehsches
Geschehen ab. Dies wird im einzelnen
an den aphasischen, apraktischen und
alektischen Phänomenen sowie an den
Punktionen der suhkortikalen Apparate
(Linsenkem usw.) nachgewiesen. Die
übliche Lehre, daß sich die Willkür-
handlungen über den Reflexen axifbauen,
wird abgelehnt und ins Detail widerlegt.
Die Handlung bedient sich der Reflexe.
Im Detail wird immer wieder nachdrück-
lichst der Standpunkt vertreten, daß
hinter jedem körperlichen Apparat und
seiner Funktion die biologische Gesamt-
persönlichkeit mit ihren Einstellungen,
Trieben, Hemmungen usw. steht. Der
„Wirkungswert" von Erlebnissen ist
mannigfaltig determiniert. „Es gibt
eine psychische Energie, diese steht im
Austauschverhältnis mit Energien, welche
rein organisch zerebraler Natur sind.
Die Energie ist an bestimmte Himappa-
rate in besonderer Weise gebunden.
Diese Himapparate sind gestaffelt und
es scheint, daß nur die höheren dieser
Staffeln zu psychisch faßbaren Erlebnissen
in Beziehung treten. ... die einzelnen
Himapparate (sind) Sammel- und Ver-
teilimgsstätten organischer und psychischer
Energie !" Wozu nur zu bemerken wäre,
daß die Vorstellung einer „organisch-
zerebralen" Energie (übrigens auch die
einer psychischen Energie) unfaßbar
bleibt, wenn sie nicht biologisch gedacht
wird, „Es hat keinen Sinn, zu sagen,
eine seelische Funktion ... sei lokalisiert.
Das seelische Erleben setzt das Gesamt-
him, ja, den Gesamtorganismus voraus,
aber die Intaktheit des Gehirns ist nötig
zum Vollzug der Pmiktionen . . . Psychi-
sche Akte sind und bleiben Leistungen
einer Gesamtpersönlichkeit, auch dann,
wenn durch Himlasion der psychische
Ablauf abgeändert ist." Vom psycho-
analytischen Standpunkt ist diese heu-
ristisch wertvolle These nur zu bejahen.
Auch die Demenz bedeutet nicht Zer-
störung, sondern Abänderung seelischer
Akte.
Weniger klar und einheitlich in Bezug
auf herausgearbeitete Problematik ist das
Kapitel über das Gedächtnis. Auch hier
wirkt sich analytisches Denken aus.
Trotzdem erfährt man kaum mehr als
das landläufig Bekannte.
Das Unbewußte Freuds in seinem
strengen Sinne wird abgelehnt. Seine
Ersetzung durch die „Sphäre" bewahrt
%
5i6
Kritiken und Referate
sich einiig in sehr wertvollen Formu-
lierungen über die Gcdankenentwick-
lung und das Denken überhaupt. Die
Annaliine, daß jeder Gedanke jeweils
aus einem Keime sphärischer Natur
neu entsteht, verträgt sich in der
Tat schlecht mit der AunaJime eines
totalen Versunkenseins von Erlebnis stücken
im Sinne Freuds. Diesem theoretischen
Gewinn steht aber leider ein beträcht-
Ucher Verlust auf dem Gebiete der
Psychopathologie gegenüber, deren Phä-
nomenen die „Sphäre" nicht gerecht
werden kann.
Wertvolle neue Anschauungen ßnden
sich in den Kapiteln über „Ich und
Persönlichkeit" sowie in „Zur Psychologie
der Ästhetik". Im Anschluß an die
Widersprochenheit des Erlebens in der
Depersonalisation werden verschiedene
Arten der PersÖnlichkcitserlebnisse erör-
tert, was hier im Detail nicht referiert
werden kann.
Auf dem engeren Gebiete der Psycho-
analyse erfahren wir nichts Neues. Die
gesamte psychoanalytische Theorie wird
aber lum Teil in eigenen Kapiteln, xura
Teil eingestreut in andere Erörterungen
in lebendiger, sprachlich vollendeter,
wenn auch nicht immer leicht verständ-
licher Form gegeben. Das Buch wird
der Psychoanalyse sicher viele Freunde
erwerben und ist jedem dringend zur
" Lektüre zu empfehlen, der sich einen
Gesamtüberblick über den gegenwärtigen
Stand psychologischer Erkenntnis imd
Problematik verschaffen will. Die Lek-
türe ist an sich ästhetischer Genuß, setzt
aber ein ziemlich hohes Maß psycho-
logischer, insbesondere psychoanalytischer
Schulung voraus,
Dr. W. Reich (Wien).
PAUL SCHILDER; Über den Wi rkungswert psychischer Er-
lebnisse und über die Vielheit der Quellgebiete der
psychischen Energie. (Arch. f. Psych., B. 70, H. 1. 19Z3.)
I
Der Autor, welcher schon in früheren,
hier referierten Arbeiten den Versuch
anstellte, psychoanalytische Anschauungs-
weisen auf himpathologische Phänomene
anzuwenden, kommt zu allgemeinen
Formulierungen über die Quellgebiete
der psychischen Energie, wobei unter
„Quellgebiet" nicht der Entstehungsort,
sondern die Umschaltung s-, biw.
Verteilungsstelle verstanden wird.
Die „psychische Energie" ist durchaus
biologisch gemeint, imd der Gehalt des
Begriffes knüpft innigst an Freuds
EegrifF der ühidinösen Energie an. Neben
dem psychischen Wirktmgswert der Er-
lebnisse gibt es auch somatische Kom-
ponenten. Die Hyper- und Akinesen der
PostenzephaUtis, die Paraphasien Apha-
sischer sowie gewisse katatone Haltungen
der Schizophrenie weisen auf die Be-
deutung des Korteic und Subkortex als
abändernde Schaltapparate der Energie
hin. Die kortikalen Antriebs Störungen
sind ichnäher als die subkortikalen. Die
,,GesetzniäOigkeiten, die die Psychoanalyse
auf psychischem Gebiet festgestellt halte
(gelten auch) für Energie Verschiebungen
tieferer Stufen." (Schon frülier wurde vom
Autor auf die Ähnlichkeit zwischen
aphasi scher Paraphasie und Versprechen
hingewiesen.) „Man kann geradezu sagen,
daß die Arbeitsweise des psychischen
Apparates, die wir mittels der Psycho-
analyse feststellen, auch die Arbeitsweise
des Körpers und der primitiven Hirn-
npparate sein muß ... So erscheint , . . der
körperliche Himapparat als Ausfüllung,
als starr gewordenes psychisches Leben
(hier nähert »ich der Autor der Auf-
fassung Bergsons in ,Schiipferische
Entwicklung', d. Ref.), und die organische
Struktur wird von der Psyche her am
besten verständlich." Die Himapparate
sind Sammler, Verteiler psychischer Ener-
gien, ebenso wie das verdrängte Erlebnis.
Der Autor selbst faßt diese Arbeit als
Vorarbeit auf, zur „Einordnmig der
F r e u d sehen Erkenntnisse in eine all-
gemeine Theorie der Natur,"
Dr. W. Reich (Wien).
Kritiken und Referate
317
PAUL SCHILDER: Zur Psychologie epileptischer Ausnahms-
zustände (mit tes. Berücksichtigung des Gedächtnisses). (Zschr. f. Psych., B. 80.)
Psyclioanalytiscli handelt es sicli beim
epileptischen An snohnisiu stand um eine
Wiedergebtirtsphantasie, daneben liegen
auch andere typische unbewußte Ein-
stellungen (Ödipuskomplex) zutage. Die
Religiosität und Reizbarkeil Epileptischer
ist mit einem starken Sadismus in Ver-
bindung zu bringen,
Dr. W. Reich (Wien).
Der Autor weist mittels der „Erspamis-
jnetliode" nach, daß die Amnesie des
epileptischen Ausiialunszuslandes keine
vollständige ist. Im Ausnab ms zustand
Gelerntes wird später reproduziert, das
Erlebte geht nicht verloren, ^venn auch
weitgehende Abänderungen, bzw. Lücken-
haftigkeit im Reproduzierten (im Klärtings-
Etadium) die Regel sind.
KURT SCHNEIDER: Die psychop athi seh en Persönlichkeiten.
{Handb. d. Psychiatrie, 7. Aht., 1923.)
Eine klinisch- deskriptive Studie ohne
eingehendere Analyse, die sich in Be-
schreibung und Klassifizierung erschöpft.
Die Psychoanalyse findet nur kurze Er-
wähnung beim Thema der Zwangsneurose.
Sie werde „vielfach als sexuelles Äijui-
valent aufgefaßt, so insbesondere von
Strohmeyer, der vor alleni sadistisch-
masochistische Komplexe fand". (!) Freuds
Fragestellung bei der Zwangsneurose sei
eine heuristisch sehr wertvoMc,
Dr. W. Reich (Wien).
KURT SCHNEIDER: Die D as einsweisen der Hysterie. (Ztschr. f.
d. ges. Neur. u. Psych., 82.. B. 1925.)
Der Autor will als „liysterJsch" nur
die „isolierte, seelisch entstandene und
seelisch fixierte Punktionsstonmg" ver-
stehen. Es gibt eine „Organhysterie", eine
„Ausdruckshysterie", eine,, Refleshysterie"
usw. Daß Gemütsbewegungen verdrängt
werden, sei „ohne weiteres abzulehnen"
oder eine unbeweisbare Hypothese, es
gebe auch ein „Verlernen" (?) von Be-
wegungen und Funktionen.
Dr. W. Reich tWienl.
Die Psycholog: e und ihre Bedeutung für die ärztliche
Praxis. Acht Vorträge, herausgegeben vom Zentralkomitee iiir das ärztliche
Fortbildungswesen in Preußen, redigiert von Professor Dr. C. ADAM. (Jena,
G. Fischers Verlag, 1921.)
Es erscheinen in diesem Sanunelbande
folgende Vorträge im Druck: Über prak-
tische therapeutische Ergebnisse der gegen-
seitigen Beeinflussung kärperlicher und
seelischer Vorgänge und Psychotherapie
(B e r g e r) ; Über die Grundbegriffe der
Psychologie und die Beziehungen des
Seelischen zum Leiblichen (Liepmann)j
Angewandte Psychologie (Moll); Die
Psychologie des Kindes (C ? e r n y) ;
PsyclioanalyBe und ihre Kritik (Schultz);
Die Indikation SS tellung in der modernen
Psychotherapie (Schultz); Neuere
Methoden in der Psychologie (Bumke);
Der Psychopatli (Leppmann). — Der
Laie in Psychologie und Psychoanalyse
kann sein Wissen durch diese Vorträge
sicher bereichern. Die Psychoanalyse wird
von mehreren Autoren erwähnt, eingehen-
der von Bumke, ganz besonders von
S c h u 1 1 z behandelt. Nach ersterem
sollen die Freud sehen Lehren als Sauer-
teig gewirkt haben. „In der Tat iväre die
ganze Auffassung der Kriegshysterie ohne
Freud nicht möglich gewesen. Aber
auch seine Psychologie des Alltagslebens,
die Lehre von der Verdrängung und vieles,
was hierher gehört, ist allmählich All-
5i8
Kritiken und Referate
gemeingut geworden . . ." Doch bestreitet
derselbe Vortragende die Berechtigung
der Annahme von unbewußten Proiesseii:
es soll der Begriff des u n a h a ch a ii-
lichen Denkens lur Erklärung der
entsprechenden Tatsachen genügen. (Es
ist also der Unterschied der Unbewußten-
und Vorbewußtensj Sterne doch noch kein
Allgemeingut geworden, sonst wäre
Bumke mit seiner Erklämng nicht
zufrieden!) In der Zurückweisung der
„Üterschätiiing" sexueller Motive trifft
sich Bumke mit J. H. Schultz.
Letzterer will in Freud einen genialen
„Einfühler" sehen, der aber trotz jeder
Genialität nicht neben Kopernikus,
sondern in ,, dankbarer Erkenntnis" neben
Gall zu setzen wäre. S c li u 1 1 1 unter-
scheidet zwischen einer Breuer-
Freud sehen „Psychokatharsis" und einer
Freud sch*n „Sexualpsyclioanalyse". Die
Psych okatharsis sollte nach Schultz
eine allgemein anerkannte psychothera-
peutische Methode mit einer breiten
Indikationsstellung (Charakleranomaüen,
Perversitäten, Verstimmungen, Zwangs-
erscheinungen, Psychoneurosen, sonst re-
fraktäre Orgjuineurosen, degenerative
Psychosen) werden; die Sexualpsyclio-
analyse sollte sich anf die Behandlung
schwerer Tülle von Neurgse sexucUer
Färbung beschranken.
Endlich soll eine kurze Bemerkung
nicht vom Standpunkte der Wissenschaft,
sondern vom Standpunkte — müde gesagt
— der Schicklichkeit gestattet sein: Wird
Freud für den genialen Forscher, wie
er beschrieben wird, gehalten, wiire es
dann nicht schicklich, seine Lehren
von einem seiner Schüler, wenigstens
mit dem Korreferate betraut, anzuhören?
Oder wiire vielleicht auch von der Wahr-
heit allzuviel ungesund?
Dr. I. Hermann (Budapest).
LEON PANNIERund HEINRICH MENG: Einführung in das Studium
der Homöopathie. Hahneinanniü, Stuttgart, 1922.
OTTO LEESER: Grundlagen de
Homöotherapie. Allgemeiner
Wenn ich hier zwei Bücher über
Homöopathie nicht niu: anzeige, sondern
(vor allem das zweite) dem Studium emp-
fehle, so geschieht dies nicht nur deshalb,
weil sich die Homöopathie gleich der
Analyse in einem theoretischen Kampf
mit der Schulmedizin befindet, während
die Praxis heute auch die Gegner zwingt,
von den Errungenschaften des Verpönten
Nutzen zu ziehen. Ich tue es auch nicht
deshalb, weil mich die theoretischen
Deduktionen von der Richtigkeit der Lehre
überzeugt haben; das könnte niu" die Er-
fahrung tun. Auch nicht, weil die Homöo-
pathie ein hochinteressantes psycho-
logisches Problem ist, sowohl ihre Vor-
geschichte, ihre Schaffung durch Hahne-
mann, die Reaktion, die sie hervorrief,
ihr individuelles Neuentstehen in jedem
einzelnen Jünger, zum Beispiel Meng,
der heute auch in unseren Reihen ficht;
das erforderte eine eingehende Analyse,
namentlich der Protokolle der Arznei-
mittelprüfungen. Vielmehr muß et getan
r Heilkunde. Lehrbuch der
Teil. Konkordia- Verlag, Bühl, 1925.
werden, weil »ich direkte Berührungen mit
der Psychoanalyse finden. Und es ist eine
Freude, weil es sich um {wenigstens teil-
weise) ganz besonders kluge Buch er handelt.
Das erste Buch allerdings ist ungleich-
mäßig. Es besteht ans einem intellektua-
listischen Teil von V a n n i e r, der Über-
setziuig eines französischen Lehrbuches,
der „Einführung" eines Schulhomöopathen
in seine Sekte. Nichts wird bewiesen, nur
behauptet. Wie „klar" ist doch alles! So
gar keine Probleme, nur miio, wie wir
sie von der Schule her leider nur zu gut
kennen. Um diesen Kern hat Meng
melirere AtifsStze gegeben, von denen
der erste und der letile hier nicht inter-
essieren, während der zweite, „Homöo-
patliie, biologische Medizin imd moderne
wiBsemchaftliche Forschung", eine stu-
pende Beherrschung der Medizin, eine
frappierende Umfassung wirklich der
gesamten Naturwissenschaft verraten. Das
sind weilblickende und tiefschürfende
Bctrachtimgen, wie sie einem sonst kaum
Kritiken und Referate
319
begegnen. Leider sind die Berührungs-
punkte mit der Psychoanalyse Frends
noch nicht deutlich herausgearbeitet, aber
man erkennt bereits den Weg, der Meng
in seinem Drang nach Klarheit und innerer
Ehrlichkeit nacli Wien führen mußte.
Denn die Praxis der Homöopathie hat
Beträchtliches gemein mit der Analyse,
TOr allem den Respekt vor den subjek-
tiven Beschwerden der Kranken, denen
in alle Einzelheiten nachgegangen wird.
Dem L e e s e r sehen Buch vollends
wüßte ich in der gesamten medizinischen
Literatur — trotz Kraus — nur e i n
Buch zur Seite zu stellen, was die
souveräne Beherrschimg i.mseres Wissens
betrifft: Krehls „Pathologische Physio-
logie". Wohl ist vieles im Einzelnen
angreifbar i^ich erwähne nur, daß Muchs
sehr stark angezweifelte Theorie schon
als richtig hingestellt wird). Aber das ver-
schwindet bei der Bewunderung des Genius
dieses jungen Denkers. Denn das ist
L e e s e r vor allem. Seine „Erkenntnis-
theoretischen Grundlagen" bleiben, auch
wenn sich alles folgende als falsch erweisen
sollte. In diesem ersten Haupt ab EcJmitt des
Buches setzt er sich mit den Prinzipien
des Verstandes (dem energetischen Prinzip,
der Kausalität, dem Systembegriff) aus-
einander, bespricht dann „die besonderen
Gesetze des Lebens"; die Selbsterhaltung,
den Begriff der Zweckmäßigkeit, die
Selbstregulierung, Beanspruchung und
Funktion, die psychosomatische Einheit, .
Hier werden bereits die Gemeinsamkeiten
mit Freud ganz eindeutig. In der
„Krankheitskunde" ist das, was L. über
die Bedingungen des Erkrankens schreibt,
ihre sogenannte Scheidung in „äußere" und
„innere" Bedingungen, die „subjektiven"
und „objektiven" Symptome, die Krank-
heitserscheinungen als Hegulierungsver-
suchedes Organismus, für den Analytiker
von spezieller Wichtigkeit. Der zweite
HauptabsclmJtt „Die Methoden der Krank-
heitsbehandlung" ist, der Einstellung des
Autors entsprechend, an dieser Stelle we-
niger erwähnenswert. Doch widmet er hier
einen eigenen Abschnitt der Psychotlierapie.
deren Gebiet, die Neurosen, er nur schein-
bar — für den durch die Schule Einge-
eugten — begrenzt. Wie L. sich die Ent-
stehung der Neurosen denkt, wird am besten
durch ein Zitat beleuchtet: „Ganz in
Übereinstimmung mit den übrigen Er-
krankungen beobachten wir auch bei den
seelischen die krankhaften Vorgänge als
" R-egulierungsversiiche auf sogenannte
,psychische Traumen'. Was individuell
zu einem psychischen Trauma werden
kann, ist natürlich abhängig von der
psychischen Konstitution. Die psychischen
Reguli er ungs versuche entspringen einem
tiefen, natürlichen Trieb nach Erhaltung
der psychischen Persönlichkeit . . . Schon
für gewöhnlich wird das verdrängt, was
unangenehm ist . . . Die meisten alltäg-
lichen Plänkeleien . . . enden mit dem Sieg
der Persönliclikeit, der Konflikt wird er-
kannt und endgültig erledigt . . . Wird
nun der seelische Konflikt nicht endgültig
überwunden, sondern das psychische
Trauma nur verdrängt . . ., so kommt es
zur Neurose. . . . Der ungelöste Konflikt
spukt im Triebleben weiter . . ." L.
charakterisiert dann sehr gut die suggestive
Therapie und ihren Erfolg: „Die seelische
Widerstandskraft des Kranken ist am Ende
nicht gesteigert, sondern geschwächt. Den
Namen einer wirklichen seelischen Heil-
kunde verdient mu" ein Verfahren, das
gründliche Erziehungsarbeit leistet. Auf
diesem zweiten Wege führt nun die
Psychoanalyse ein gutes Stück voran." Er
betont die Bedeutung der Selbsttätigkeit
des Kranken. Von der Bewußtmachung
der Konflikte sei der Scluritt zur Heilung
nicht weit. Häufig gelinge sie dem Kranken
selbst. Die chronischen vergeblichen
Reguli er ungs versuche würden mit den
angemessenen psychischen Mitteln in. ein
akuteres Stadium überführt. Der qualvolle
Streit wird in einen entscheidenden Kampf
unter günstigeren Bedingimgen ver-
wandelt. Dal3 „das angemessene Mittel"
für uns die „Übertragung" ist, wird nicht
gesagt. Hier scheint es mir, als ob L.
sich selbst untreu werde, byperalitiv, indem
er von ,,Psycho Synthese" spricht, die doch
nicht der Arzt, sondern nur der Patient
leisten kann. Wenngleich er sich auch
von der Kimst des „geborenen" Psycho-
therapeuten das Höchste verspricht, „der
wisseivschaflliche, lehrbare Weg allerdings
ist die Psychoanalyse."
520
Kritiken und Referate
Wenn wir also auch in Widitigem
nicht mit Leeser einig sind, so be-
grüßen wir doch mit Freuden das feine
Verständnis für Psychoanalyse. Vor ollem
aher sei nochmals eindringliclist darauf
hingewiesen, daß wir aus den erkenntnis-
theoretischen Grundlagen wertvolles Rüst-
PAUL HÄBERLIN: Der Leih und
Es ist der Philosoph Häberlin,
nicht der Psychologe, der dieses Buch
geschrieben hat, Wir erhalten darum
nicht et\va neue psychologische Aufklärung
iiher das Problem, sondern eine neue
Philosophie.
Zuerst werden die bestehenden Theo-
rien über das Verhältnis von Leib und
Seele kur? skizziert, an Beispielen dar-
gestellt und abgetan. Der psycho-
physische Parallelismus erleidet
das gleiche Schicksal, wie die Systeme der
kausalen Zusammenhänge (Ab-
hängigkeit des seelischen vom körperlichen
Geschehen, Abhängigkeit des körperlichen
vom seelischen Geschehen, Wechael-
wirkungstheorie) und die „m e t a p h y-
sische Losung", welche seelisches
und körperliches Geschehen als Emana-
tionen eines unerkennbaren und unwahr-
nehmbaren Dritten zu erklüren g;esucht hat.
Das unerkennbare und unwahrnehm-
bare Dritte ist etwa als „das Leben" be-
leichnet worden, seelische und körperliche
Auswirkungen als dessen Punktionen.
Häberlin erklärt eine solche Theorie
als „Umgehung des Problemes'', weil die
„konstruierte metaphysische Wirklichkeit"
durch die Elemente der Wahrnehmung
nicht gegeben sei, aus demselben Grunde
seien derartige LÖsungs versuche wissen-
schaftlich nicht diskutierbar.
„Was fehlt, ist die Unklarheit der
Begriffe. Es kommt alles darauf an,
daß man konsequent denke, unbeirrt durch
landläufige, abkürzende und oberflächliche
Betrachtungsweisen." Mau habe bis jetit
seine Systeme auf Erfahrungen auf-
gebaut. Aber Erfahrungen seien keine
Elemente, sie seien schon durch denke-
rische Kombination bearbeitete und (in
diesem Falle) gefälschte Wuhmehmimgen.
Eine Wahrnehmung müßte eine nackte
Wirklichkeitsanerkennung sein.
zeug für unsere psychoanalytischen Be-
strebungen entnehmen können, daß die
Grundlagen der Heilkunde, wie er sie
sieht, auch die Grundlagen der Psycho-
analyse sind,
Dr. K. Landauer (Prankfurt a. M.).
die Seele. Verlag Kober, Basel 1925.
Sein System baut nun der Autor auf
solche angeblich unreflektierte Wahrneh-
mungen auf. Er kommt dabei vor allem
au einer Scheidung der Begriffe Körper
— Leib — Seele: Körper bedeutet (im
Gegensatz lu Leih) eine minimal „ver-
standene" Körperlichkeit ^ die KÖrper-
liclikeit ist dinglich nnd kann nicht mehr
organisch-biologisch verstanden werden,
sie ist bloße Erscheinungsform. Leib
ist maximal „verstandene" Körperlichkeit,
er ist „für jeden die individnell-subjektive
Fremdform der (fremdenl Seele", die
sinnliche Erscheinungsform der Seele und
ihr verständliches Symbol. Seele ist,
was wirkt und darum wirklich ist, sie ist
ein Funktionssuhjekt, sie allein ist Wirk-
lichkeit.
Mit dieser einheitlichen seelischen
WirklicJxkeit erhalten die Erscheinungen
Leib und Körper ganz andere Qualitäten,
das Problem der Beziehungen von Seele:
Leib (Körper) wird überwunden, indem
es eigentlich gar nicht mehr existiert.
Wenn Häberlin behauptet, die
Medikamente seien Energien, darum
seelische Kräfte, so reizt es einen ge-
radezu, diesen Gedanken ad ahsurdum
auszudenken, obschon wir die suggestive
Kraft der Medikamente (die jedoch meist
mehr mit dcnj verordnenden Ant und
der Übertragung des Patienten auf ihn
ira Zusammenhang stehen) wohl aner-
kennen. (Ich habe an Kamillentee als
„ein Seelisches" denken müssen, der gegen
Bauchweh „wirkt" — und habe einge-
sehen, daß ich kein Philosoph bin.)
Am Schluß des Buches sagt Häberlin:
„Die .Seele' im engeren Sinn der ver-
ständlichen und hewußtseins-
fähigen Partie des Menschen
ist iwar nicht an den Körper, aber an
den ,Leib' (ira Sinne der unverständlichen
Partie der Gesamtseele) gebunden . . . Der
Kritiken und Referate
521
,L e i b' im oben definierten Sinne ist
nicht, wie der Körper, bloße Erscheinimgs-
forni, sondern selber Realität...
doch soll hier das praktische Problem
als solches nicht behandelt werden; dies
wäre nur in viel grÖOerem Zusammen-
hange möglich und dort müßte dann
auch der Begriff des Geistes untersucht
und mit den hier besprochenen Begriffen
im Zusammenhang gebracht werden."
Also einen Geist gibt es dann auch
noch — die Seele H ä b e r li n s ist nur
„bewuDtseinsfähige Partie des Menschen".
Das Unbewußte gehört demnach nicht
zur Seelle, nachdem kurz vorher sogar
Anorganisches (Medikamente) als „see-
lische Kräfte" bezeichnet wurden.
Diese Unklarheit wird nicht dadurch
wettgemacht, daß uns der Autor immer
und immer wieder versichert, es hätten alle
HEINRICH VIEROEIDT: Das Buch
Itta, Konstanz, Baden.
Der Karlsruher Dichter breitet vor
dem Leser eine Reihe eigener Traume
aus, die aus den Jahren 1890 bis 1921
stammen. Die Beweggründe des Au£-
aeichnens imd der Veröffentlichung setit
er in seinem Vorworte auseinander. Ein
angeheirateter Verwandter des Dichters,
ein Pfarrer M, Zimmer, hatte durch lange
Jalire seine Träume gesammelt und sie
im Drucke veröffentlicht.
„Das Beispiel dieses Greises mochte
es, halb unbewußt, gewesen sein, das mich
veranlaßte, vom Janner 1890 an meine
Träume gleichfalls aufzuzeichnen. Mich
leitete ledighch die Bilderfreude; ich bin
kein Traumdeuter wie der biblische
Joseph. Und so möchte ich meine Traum-
bilder von anderen Genossen wissen,"
Wir Stoßen auf eine Anzahl von Traum-
worten, zum Beispiel: „Frau Bassano,
Lot Dörfer, Omromollis"; das Traum-
wort „Troll" wird auf einen am Vortag
geborten Hundenamen zurückgeführt.
Viele Träume machen den Eindruck
von Tagesphantasien und erinnern
an die dichterischen Phantasien eines
Albrecht Schaeffer in seinem
„Josef Montfort".
Z. B. folgender Traum (pag. 41I:
vor ihm, die das Problem Leib und Seele au
lösen versuchten, mit unklaren Begriffen
gearbeitet, was er vermeide. Auch die
vielen komplizierten und reichlich durch
einschränkende und erläuternde Paren-
thesensätze unterbrochenen Satzgefüge
erwecken nicht den Eindruck der Klarheit.
Schließlicli fragen wir uns, ob der Begriff
der Seele als „Funktions Subjekt", die an
sich also ebensowenig wahrnehmbar ist als
die „konstruierte metaphysische Wirk-
lichkeit" des „Lebens" oder „Gottes"
(p. 97 xmd. 100), nicht der gleiche Vor-
wurf treffen konnte, den Häberlin dem
„metaphysichen" Lösungsversuche macht:
daß das Problem umgangen worden sei,
indem den Begriffen eine besondere und
zweckdienliche Umschreibung gegeben
worden ist.
Hans Z u II i g e r (Ittigen).
lein der Träume. 1922. Reuß &
„Mein Vater hatte die überaus selt-
same Gewohnheit, jeden Gast mit dem
Kopf anzurennen. Da kam mein Vetter
Ludwig Arnold aus Stuttgart, imd siehe,
mein Vater rannte auch ihm, wie ein
wütender Stier auf ihn ansprengend, mit
vorgehaltenem Kopf dermaßen in den
Rücken, daß der arme Vetter über eine
Stuhllehne taumelte und im Sturze sich
den Kopf abbrach. Dieses abgespellte
Menschenliaupt, das rätseUiafter weise mit
einem türkischen Turban bedeckt war,
rollte durch das Zimmer mir vor die Füße,
imd seine hin und her gehenden hervor-
quellenden Augen sahen schauerlich zu mir
auf . . , Der Kopf, noch immer auf dem
Estrich vor mir liegend, sah mich mit
unbeschreiblich komischer Wehmut an,
rollte gräßlich die Blicke hin und her . . ."
Die unerschöpfliche Anregung, die dem
Dichter aus der Beschäftigung mit seinem,
eigenen Genitale zuzuströmen scheint,
tritt uns aus mehreren Träumen entgegen;
einmal sind's große Schwäne, „Tiere mit
som.ächtiglangenHälsen,daß ihre Häupter
weit über das Verdeck des Dampfers
emporragten; sie waren durchaus gut-
mütig und von graugelh lieber Farbe"
fpag. 5SJ usiv. Ein anderes Mal (pag. 55)
5aa
Kritiken und Referate
sind es: „Seltsame, braun und gelb ge-
scheckte Mäuse, die ich aber gar nicht
unangenehm fand . . . [während mir im
wachen Zustand eine heftige Abneigung
gegen Mause eigen lu sein pflegt)".
Der folgender Traum erinnert an selbst-
quälerisch gefärbte Masturbation mit an-
schließendem Erguß. Ich glaube kaum,
daß der Dichter mit solchen Deutungen
sich einverstanden erklären wird. Es
würde seine Träume auch nicht so ohne
weiteres einem großen Leserkreis lu-
gänglich gemacht haben. Übrigens ver-
wahrt er sich gegen die Traumdeutung
schon im Vorworl, wenn er sagt: „Ante
des Leibes und der Seele deuten die
Träume der Dichter meiner Ansicht nach
oft viel zu einseitig oder gar irrig und
pflegen alles über einen Leisten lu
schlagen."
Der Traum aber lautet (pag. 75) : «Auf
meinem Bett saß ein menscheiigroßer,
grasgrüner Frosch. Ich wollte ihn töten
und kam auf den scheußlichen Gedanken,
ihm Tinte aus einer Einlaufspritie in die
weiten, offenen Nasenlöcher lu spritien,
woraiif er eine Unmenge scIineeweiDe
Milch in das Bett brach."
Zartes Schamgefühl läßt den Dichter
Phantasien analen Inhaltes mit griechischen
Lettern in den Text einrücken. Er schreibt :
„Woupax" und „*oupi;".
Die Furcht vor dem Vater erscheint
deuüich, ebenso die Angst, der Mutter
beraubt lu werden.
Einmal ergeht er sich im Traum breit
über die „Schloßfreiheil", wird dann beim
öffnen einer Türe von schwarien Händen
geheimnisvoll festgehalten. Aber nur
Traumgedanken könnten uns versichern,
welche Freiheit und welche Türe eigeiit-
Hch gemeint sei. Darüber läßt uns der
Dichter aber im Dunkeln.
Dr. Ph. S a r n s i n (Basel).
Dr. WILLI SCHOHAUS: Die theoretischen Grundlagen und die
wissenschaftstheoretische Stellung der Psychoanalyse.
Verlag Ernst Bircher, Bern.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift
hat sich die nicht geringe Aufgabe ge-
stellt, die theoretischen Fundamente der
Psychoanalyse aufzudecken und lu prüfen
tmd äußert sich folgendermaßen : „Wir
werden uns im folgenden nicht mit
Freuds inhalthch psychologischen Ein-
sichten, die auf seinen Intuitionen beruhen,
und in denen seine große wissenschaft-
liche Bedeutung liegt, beschäftigen, Wir
haben uns die Darstellung und Beurtei-
lung der theoretischen Grundlagen seiner
wissenschaftlichen Arbeit zur Aufgabe
gestellt" (pag. 6). Er spricht sich auch
darüber aus, von welchem Gesichtspunkte
aus dieses Unternehmen angesetzt wird :
„Die vorliegende Untersuchung fußt auf
der von Professor H ä b e r 1 i n in seinem
Buche J3er Gegenstand der Psychologie'
entwickelten Auffassung der Grund-
lagenjeder empirischenWissen-
schaft" (pag. 7).
Der Autor fügt hinzu: „So werden
wir ihm (Freud) auf einem Gebiete —
eben demjenigen der Wissenschafts-
theorie — begegnen, auf welchem seine
Stärke nicht liegt. Unzulänglichkeiten,
Inkonse^enzen und Lücken in Freuds
grundsätzlichen wissenschaftlichen Posi-
tionen werden uns nötigen, dieselben
wiederholt anzugreifen."
Bekanntlich wuchs die Psychoanalyse^
aus der unmittelbaren Anschauung psychi-
schen Geschehens heraus und schuf sich
ihre Terminologie und tiieoretische Be-
grifFswelt sukzessive nach Bedürfnis luid
wird sie wieder preisgehen oder durch
bessere ersetzen, wenn es notwendig
wird.
Für den philosophisch Gebildeten ist
es nun ganz sicher von großem Interesse,
mit Hilfe seiner logischen und speku-
lativen Schulung die psychoanalytische
Begriffswelt au prüfen, wenn er nicht
außer acht läßt, daß das scheinbar Fest-
gelegte an den theoretischen Darstel-
lungen Freuds Hilfs Vorstellungen sind,
die nur so lange dienen, bis sie durch
Besseres ersetzt werden können.
Der Verfasser geht von den Prinzipien
einer „empirischen Wisiensc haft"
aus, die von Professor H ab erlin fest-
Kritiken und Referati
525
gelegt wurden, in der vorliegenden Arbeit
aber nicht klar und ausführlich genug
behandelt werden, um fruchtbare Ein-
sichten lu bieten.
Er bespricht Gesichtspunkte, die ihm
relativistisch und pragmatisch erscheinen.
Das psj'chopliyische Problem wird disku-
tiert und die Bemerkung angesclüossen :
„Freuds Schriften enthalten also durchaus
keine eindeutige Stellungnahme gegenüber
der psychophysi sehen Präge" (pag. 37)>
' Im allgemeinen vermißt er eine
konsequente Diurchführung bestimmter
Gesichtspunkte. Auch glaubt er, daß sich
unzulässige „Wertungen" in die Dar-
stellung eingeschlichen hätten, was aber
offenbar auf Mißverständnis beruht. Wenn
von „höheren" Funktionen, von „Sublimie-
rungen", von Begriffen wie „krank —
gesund" die Rede ist, so schließt sich
hier Freud der landläufigen Sprache
an, um bestimmte psychische Leistungen
eindeutig lu bestimmen. Wer die Freud-
sche Geisteswelt genauer kennt, ^vird
bald bemerken, daß hier dem Menschen
in all seinen Erscheinungsformen, seien
sie körperlich oder geistig, animalisch
oder sublimiert, ein gleichschw eben des
Interesse entgegengebracht wird, das in
seiner Konsequenz geradezu überrascht
und den Moralisten beleidigt. Wen-
dtuigen wie ,,in diesem Zusammenhange
gerät Freud immer ins Werten" (pag. 4a)
sind nicht gerechtfertigt.
Weiterhin werden Hilfs vor Stellungen
diskutiert, die sich zur Erforschung des
Seelenlebens als fruchtbar erwiesen haben:
die topischen, die dynamischen und die
ökonomischen Darstellungen, wobei daran
Anstoß genommen wird, daß Freud
zur Erläutenmg, wenn auch mit aller
Vorsicht und Vorbehalt, das Bild eines
seelischen Apparates gebraucht.
Jung, Adler und S t e k e I werden
ebenfalls behandelt, aber ohne sie mit
der Analyse Freuds zusammenzuwerfen,
was entschieden zu begrüßen ist.
Wenden wir uns aber nun dem Schluß-
worte zu, wo in einer Zusanim.enfassung
die Tendenzen und Absichten des Autors
deutlicher hervortreten.
Es wird nochmals anerkennend darauf
hingewiesen, daß erst die Psychoanalyse
Einsicht und Klarheit in seelische Zu-
sammenhänge gebracht hat; er fährt
aber dann einschränkend fort (pag. 79):
„Gemeinsam sind aber auch ,der ganzen
psychoanalytischen Richtung' innerhalb
der Psychologie folgende Züge, die wir
als Trüblingen der empirisch- wissen schaft-
lichen Einstellung beurteilen und im
Interesse der Psychologie als der reinen
empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis-
aufgabe abwerten." Und nun folgen sechs
abgezirkelte Einwendungen, wovon wir
einiges anführen wollen.
i. „Ein Einschlag eines philosophischen
Relativismus." Es handelt sich offenbar
um den für den Naturforscher innerlich
notwendigen Gesichtspunkt der Vorurteils-
losigkeit, der wohl nie erreicht, aberj
angestrebt werden muß, um möglichst
imgetrübte Abbilder der Wirklichkeit zu
gewinnen ; für den Analytiker ist be-
kanntlich die Einstellung der schwebenden
Aufinerksamkeit besonders bedeutungsvoll.
2. „Eine eudämonistische philosophische
Position (damit im Zusammenhang über-
all eine einseitige Trieb psychologie)." —
Abgesehen davon, daß die Analyse über-
haupt keinerlei Weltanschauung vertritt,
wird vom Verfasser die Erfahrung, daß
im seelischen Haushalt das Streben nach
Gesundheit und Genuß ein starkes Motiv
abgibt, allgemein gewertet; andererseits
vergißt er, daß die leibliche Gesundlieit
des Patienten vom Arzte ein tieferes
Interesse erheischt als vom Philosophen
oder Metaphysiker. Darum kann sicli der
Verfasser auch folgendermaßen äußern :
3, „Eine Verquickung mit ärztlichen
und anderen praltti seh- ethischen Inter-
essen." Die Analyse ist eben eine ärzt-
liche Kunst und kein metaphysisches
System.
Im ganzen scheint der Verfasser mit
bestimmten Er war tungs Vorstellungen an
die Analyse herangetreten zu sein, die
sich nicht erfüllt haben, imd übersieht,
daß es nicht in der Aufgabe der Analyse ,
liegt, eine logisch abgeschlossene Dar-
stellung zu bieten, sondern Einsicht au
gewinnen in wirkliche Zustände
und Zusammenhänge der menschlichen
Seele.
Dr. Ph. Sarasin (Basel).
L
3^4
Kritiken und Referate
W. BECHTEREW : Die Perversitäten und Inversitäten vom
Standpunkt der R e f le x o 1 o g i e,
Die über loo Seiten lanpe Arbeit
bemühtsich, dieÄtioIogie der Perversionen
vom Standpunkt der sogenannten Reflexo-
log-ie aus aufiudecken. Der Autor glaiibt,
mit folgendem Gedankengang das Wesent-
liche getroffen lu haben:
Im Normalfall gibt es schon beim
kleinem Kinde einen „Erektionsretlex",
erst in der Pubertät einen „ Ejakulat ions-
reflex", der dann durch jenen unterstützt
wird und sich mit ihm lusammen ent-
wickelt. Mit dieser Verbindung entsteht
erst der Geschlechtstrieb, das ist die Summe
„aggressiver Reflexe" lur Entladung des
►mit der Erektion verbundenen Spannungs-
austandes. [!) Wenn es Sexualrindementrcn
gibt, sind diese von den (ihrerseits hor-
monal bedingten) Reflexen abhängig, in
denen das Wesentliche des Geachiechls-
triehs lu suchen ist. Der dieee Reflexe
auslösende Reii ist bei den Tieren zu-
nächst der Geruch des Sexualpartners,
später durch „Assoaiationsreflexe" auch
sein Anblick, seine Stimme u. dgl.
Zum Verständnis der Perversionen
wird nun an eine „Regel in der Reflejto-
logie" erinnert, „nach der ein durch die
grundreflexogene Reiiuwg hervorgerufener,
Reflex sich in Gestalt eines Assoiiations-
reflexes mit der vorhergehenden und sie
begleitenden, assoilativen Reizung ver-
bindet." Mit anderen Worten: Wenn
durch mehrminder lu fallige Umstände
der Geschlechtstrieb gleichzeitig mit
einem „perversen" Rei« geweckt wurde,
verbindet sich dieser als „Assoiiations-
reflex" mit jenem und so entsteht die
Perversion. Das wird im einzelnen für Ejo-
culatio praecox, Ona^iie, eine „Tastungs-
perversion", eine „Kampf per Version", für
den „Eifersüchtler", den Exhibitio-
nisten und Voyeur, den „Lecker", den
Sadisten und Masochisten, den Fetiachisten,
Gerontophilen und Kinderliebhalber imd
endlich für den Inversen ausfülirlich
gezeigt. Immer handelt es sich um die
Ausbildung von pathologischen „Asso-
ziationareflexen'', bei den „vollständig Per-
versen" geht diese auf eine „Umleitung
der Geschlechtafunktion in der Anfangs-
(Arch. f. Psychiatr. 68, 1/2.)
Periode der Geschlechtsreife zurück",
eine unvollständige Perversion kann auch
durch spätere „Gewohnheit" festgelegt
sein,
Dieses Resultat besagt also im Grunde
nichts anderes, als daß die Perversionen
auf einer Fixierung an ein erstmalig
perverses Erleben berulien. Der Autor
hüll dieses ReEultat scheinbar für etwas
grundlegend Neues.
Wenn mit solch gewaltigem Apparat
nur solch unzulängliches Resnltiit erreicht
wird, so interessiert wesentlich die Me-
thode, mit der der Apparat in Funktion
gesetzt wurde. Die Psychoanalyse, die
voll von „psychoanalytischen Phanta-
stereien" sein soll, wird abgelehnt. Ihre
Benutzung weist Bechterew mit der
Bemerkung zurück, daß er sich überzeugt
habe, daß sie dem Patienten alle möglichen
E ntst eh ungs weisen seiner Perversion
suggestiv einflöße. „Anstatt der Psycho-
analyse" — so sagt er selbst — „benutzte
ich die von mir angewandte Methode
der Konzentrierung. Ich bitte solche
Kranke, sich in ihrer freien Zeit auf die
ursprünglich zur Entwicklimg ihrer
Krankheit dienenden Ursachen 2U kon-
aertrieren." Bechterew setzt also ohne
weiteres voraus, daß die Patienten diese
Ursache kennen.
Es ist hier nicht der Ort um die voll-
ständige wissenschaftliche Unaulanglich-
keit solcher Metliode entsprechend klar-
lustellen. Der Methode entsprechen die
zahlreichen ausführlich geratenenKranken-
geschichten, die sich durch nichts von
ähnlichen Krankengeschichten — etwa
bei Hirschfeld — imterscheiden und
dem, der von der Wirksamkeit eines Unbe-
wußten in der menschlichen Seele über-
zeugt ist, absolut nichts bieten können.
Um so mehr bieten sie Bechterew,
der einer solchen Krankengeschichte etwa
folgendes als „Erklärung" hinzufügt;
„(Es) ... ist erwähnt worden, daß die
Worte ,Frau' und ,nccoucheusi^ eine
Pollution hervorrufen. Das läßt sich daran
erklären, daß der Onanismus von einer
verstärkten Reproduktion beim Anblick
.,
Kritiken und Referate
525
nackter Frauen begleitet gcH-esen ist,
weswegen sich auch der assoziative
Geschlecht srefles beim Wort ,Prau' und
gleichfalls beim Wort ,accoucheui^ ge-
bildet hat." Die Logik des Autors läßt
auch sonst manchmal zu wünschen übrig.
Aus dem negativen Genitalbefund eines
psychisch Impotenten wird z.B. geschlossen,
daß die Impotenz „. . . aufs Konto der
gewohnlichen Befriedigung durch Ona-
nismus . . . geschrieben werden muß."
Die durch die ganze Arbeit verstreute
Polemik gegen die Psychoanalyse steht
auf gleichem Niveau, So kann z. B. das
von P r e u d aufgestellte Kriterium der
Perversion, das in der „Überschreitung
der anatomischen Grenzen" gelegen ist,
nicht zu Recht bestehen, weil eine solche
Überschreitung infolge „einfacher Kor-
ruption" entstehen tonne. Über die Deutung
eines Fußfetischismus, dem der Fuß der
Frau ihren vergebens gesuchten Penis
bedeutet, heißt es: j,Muß man es sagen,
daß diese, besonders einem Kinde zu-
geschriebene Dummheit, sich schlecht mit
der Wirklichkeit verträgt, weil im frühesten
Killdesalter das Kind vom Penis als vom
Geschlechtserreger keinen Begriif hat,
und sich später sein Bewußtsein, wenn
auch mit dem Fehlen des Penis bei der
Prau (wenn es nicht selbst weiblichen
Geschlechtes ist) nicht abfinden kann,
woran es überhaupt gestattet ist zu aweifeln.
so doch bestimmt nicht der Fuß den
fehlenden Penis bei der Frau ersetzt"
Eine bessere Erklärung des Fetischismus
scheint dem Autor zu sein, „daß das einem
geliebten Wesen gehörende Symbol oder
der Fetisch den Erektionsreflex mit ent-
sprechendem mimisch-somatischem Zu-
stand und überhaupt allen mit dem Ge-
schlechtstrieb verbundenen Erscheinungen
hervorruft. Die Eigenschaft des Symbols
oder Fetischs hat keine wesentliche Be-
deutung". — Entsprechend ist die späteren
Exhibitionismus verursachende kindliche
Exhibition eine „Ungezogenheit" und
„dumme Kinderei", die späteren Sadismus
verursachenden Raufereien eine „üble Ge-
wohnheit" mid die „kindliche Anhäng-
lichkeit zum Pflegepersonal", die ihre
„Befriedigung in Umarmungen und
Küssen . . . u. dgl." sucht, hat . . .„schon
deshalb nichts mit dem Geschlechtstrieb
gemein, weil sie überhaupt nicht mit einer
sich durch Erektion des Geschlechtsorgans
charakterisierenden Erregung verbunden
ist". Diese Proben mögen genügen. —
Therapeutische Maßnahmen, die sonst
sehr wohl möglich wären (Suggestion,
„Umerziehung", pharmakologische und
physiotherapeutische Maßnahmen), schei-
tern oft an der Unmöglichkeit, „Bedin-
gungen für normale Geschlechtsfunktionen
zu schaffen,"
Dr. 0. Penichel (BerKn),
HANS VON HATTINGBERG: Über die Bedeutung der Onanie
und ihre Beziehung zur Neurose, (Münch. Med. W. 70, 28.)
Obwohl Hattinherg der Psychoanalyse
nachrühmt, daß sie durch Befreiung von
einseitiger Voreingenommenheit erst ein
Studium der Onanie ermöglicht hat, ver-
nachlässigt er dennoch bei der Würdigung
ihrer psychologischen Bedeutung die Rolle
des Inlialts der sie begleitenden Phanta-
sien und des Ödipuskomplexes völlig. Die
einzige Bedeutsamkeit der Onanie schreibt
H. dem Umstand au, den wir als „Intro-
version" bezeichnen würden, der Abkehr
von der Wirklichkeit, von der sozialen
Umwelt, der „Tsoherung" des Onanisten.
Dieser handle dem Geschlechtstrieb ent-
gegen (1), als welcher auch die „seelische
Vermischung mit dem Geschlechtspaitner"
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Xl$.
anstrebe. Auf deren Fehler führt H., den
Inhalt der Phantasien nicht beachtend, den
Katzenjammer nach onanistischem Orgas-
mus zurück. Nur in solcher Isolierung sieht
H. auch die Gefahren der Onanie, die eralso
nurbeidauemderUnbefriedigungdes„Hin-'
gabedranges« für schädlich hält. „Freuds
Auffassung der Neurasthenie als einer
Aktualneurose durch die Onanie läßt sich
mit der hier vertretenen nicht vereinbaren,"
In Verwirrung gerät H., wenn er, die
„Isolierung" für das Kriterium der Onanie
haltend, sich der Untersuchung der Be-
ziehungen zwischen Onanie, Perversionen
und Neurosen luwendet. Denn auch alle
Perversen und Neurotiker sind introver-
tiert, weniger als ajidere an der sozialen
Wirklichkeit, melir an ihrem Phantasic-
leben interessiert. Dies erkennt auch
Hattingberg, Da er aber die Beieichmmg
jedes unter Jsolienaig" erfolgenden
Liebesaktes als „Onanie" nicht aufgeben
will, kommt er bezüglich der Perver-
sionen lur begriffsverwirrenden Auffas-
sung: „Die Perversionen werden so in
einem weiteren Sinn als besondere Formen
der Onanie imlergeordnet, die alles um-
faßt, was außerhalb des normalen Liebes-
aklea, das heißt der gleichzeitigen körper-
lichen und seelischen Vermischung liegt",
und bezüglich der Neurosen meint er
nicht nur, „der Onanismus" sei „die
häutigste monosymplomatische Neurose",
ALBERT MOLL: Die sogenann
Frau. (Med. Klinik 1923, Nr. 20 u.
Nach einleitenden Betrachtungen über
das gegenseitige Verhältnis von Kon-
trektations-, Detumesienz-, Geschlechts-
trieb, Orgasmus tind Ejakulation kommt
M o 11 auf die weibliche Frigidität %a
sprechen; diese beruht darauf, daß die für
den Mann ejakulations- und orgasmusaua-
lösenden Reiie nicht auch bei der Frau
die gleiche Wirkung haben. Als Ursachen
oder mögliche Ursachen werden be-
sprochen: Daß der Geschlechtsakt bei
der Frau langsamer verlaufe, mangelnde
Potenz des Mannes, weibliche sexual-
hemmende Erziehung, Elektiviemus der
Frau (dabei ist von „starker Beteiligung
sondern auch in jeder Neurose stecke
ein Stück Onanie. (Es kann nur gemeint
sein: Ein Stück Introversion). Der Neu-
rotiker drücke sich vor der Lebensauf-
gabe wie der Onanist vor der Verant-
wortung für Frau und Kinder (!). In jeder
Neiu-ose handle es sich um eine „Trieb-
verschränkung" von Ich imd Sexualtrieben,
deren Resultat wie bei der Onanie zur
„Isolierung" führe.
Ob solche isolierte Heraushehung
eines einzigen Umstandes, nämlich der
Introversion — unter neuer Nomen-
klatur — etwas Wesentliches zur Psycho-
logie von Onanie und Neurose beiträgt,
möchte Referent dahingestellt sein lassen.
Dr. O. Fenichel (Berlin).
te sexuelle Anästhesie der
2L.)
der Psyche hei der sexuellen Anästhesie
der Frau" die Kedc), örtliche Erkran-
kungen, Erregbarkeit nur an der Klitoris,
statt an der Vagina (dieser Punkt wird
recht kurz abgeliandcltl, hysterische
Anästhesie, fortgesetzte Masturbation, die
an bestimmte, beim Koitus nicht auslös-
bare Reise fixiert — ob Anästhesie zur
Sterilität führen kann, erscheint Moll
sehr fraglich — die Therapie müsse je
nach der Ui-Bachc eine verschiedene sein :
Hypnose, bloße Belehrung und Auf-
klärung, gynäkologische Behandlung.
Dr. 0. Fenichel (Berlin).
WILLIAM BOVEN: Reflexions sar l'Attention en Psycho-
pathologie. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. Bd. 11. igsa
Hypothetische Überlegungen und Ver-
suche, die Aufmerksamkeit vom topischen
imd dynamischen Gesichtspunkt ans zu be-
trachten, die zu nichts Neuem geführt haben.
Die Aufmerksamkeit wird für eine
konstante Kraft gehalten oder für eine
Energiequelle, die wie ein Scheinwerfer
die drei Gebiete psychischen Geschehens
(Centithesit ^ les srnsations interTus, extsthi-
Sit ^ le monde extcrieur, endesthisU = Us
Processus mentaux) ableuchtet, respektive mit
Energie ausstattet. In der Nacht konzen-
triert sich die Aufmerksamkeit ganz auf
die cincithiüie und aktiviert dort die unbe-
wußten Wünsche, Instinktregungen und
Affekte. Sie ist die Hüterin des Traumes,
den sie vor dem Einflüsse der txesthisie
beschützt, sie übt die Zensur aus, ist also
auch eine hemmende Instanx. Lokalisiert
wird sie, wie die Zensur F r e u d s in» Voi>
bewußte.
Psychopathologisches: Der
Rausch erklärt sich als Aufmerksamkeita-
störimg mit Überhandnähme der cinesthdsie.
Manie und Melancholie zeigen gestörte
cintsthisie. Und bei der Hysterie konien-
Kritiken und Referate
527
triert sich die Aufmerksamkeit auf eine
Gruppe Ton ungestümen Vorstellungen.
Weitere ßetra^tungen über die Hysterie
führten den Verfasser, wie er uns
anvertraut, schon zu einer Zeit, als er
Freuds Lehren nur unvollständig kannte,
zu Schlüssen, die mit diesen doch ganz
übereinstimmen !
In der vorliegenden Abhandlung ist
die Übereinstimmung nicht so groß wie
es den Anschein hat. Wenn auch Preud
reichlich zitiert wird und UnbevmfiteB,
Vorbewußtes, Äensur usw. ganz nach ana-
lytischer Auffassung dargestellt werden,
so gleitet Verfasser doch, sobald er eigene
Gedanken bringt, vom analytischen Boden
ab. Die an Metaphern überreiche Aus-
drucksweise kann die Unklarheiten der
Darstellung nur oberflächlich verdecken.
Dr. E. Blum (Bern).
A . HOCHE : Besprechung von
Ps ychol ogi e*". (Z. f. Psychologie 91
Obwohl im allgemeinen die Einstellung
der of^ziellen deutschen Psychiatrie zur
Psychoanalyse sich ändert — wie es un-
längst erst Prinzhorn ausführlich
festgestellt hat, hält H o c h e sein kritik-
los abweisendes Urteil über die Psycho-
analyse aufrecht und hält es wieder ein-
mal für nötig, seine Einsichtslosjgkeit
expressis verbis festzulegen. Aus Anlaß
einer Buchbesprechung Kretschmers, den
er dabei luiter die „Freud ianer" rech-
net, schreibt er unter anderem wörtlich:
„Und zwar liegt diese Gefahr ... in der
wissenschaftlichen Methodik oder, besser
gesagt, in einer Methodik, die einen Teil
der bisher allgemein gültigen wissen-
schaftlichen Grundsätze ignorieren muß,
um zu den für den Autor selbst befrie-
digenden Resultaten zu kommen, eine
Methodik, deren Hauptkennzeichen im
Leichtnehmen der Beweislast besteht. Es
ist dies eine — wie es scheint — gesetz-
mäßige Begleiterscheinimg der Versen-
Kretschmers „Medizinische
)
kung in die Lehren der P r e u d scheu
Sekte. — Falls der Zusammenhang nicht
richtiger andersherum darin zu suchen ist,
daß man schon die Fähigkeit zum Verzicht
auf gewisse wissenschaftliche Voraussetzun-
gen und Forderungen in sich tragen oder
züchten muß, ehe man Freu dianer
werden kann; dazu gehört zum Beispiel,
daß man — wie Freud selbst — im-
stande ist, ohne vor sich selbst zu erröten
oder auch nur den Mangel an intellek-
tueller Präzision zu bemerken, Denkmög-
lichkeit mit Tatsächlichkeit, Wahrschein-
lichkeit mit Sicherheit, Analogie mit
Identität, Einfälle mit gesicherter Er-
kenntnis zu verwechseln und gleichzu-
setzen." Er hält es nicht für nötig, so
ungeheuerliche Vorwürfe im einzelnen
zu belegen. Wir wieder halten es nicht
für nötig, auf ein so schiefes, nur durch
affektiven Ursprung der Ablehnung ver-
ständliches Urteil zu erwidern.
Dr. O. P e n i c h e 1 (Berlin).
GASTON ROFFENSTEIN: Experim
f. d, ges. Psych, u. Neur., B. 87, 1923.
In Fortsetzung der Schrötter sehen
Versuche wird einer Versuchsperson auf-
getragen, gewisse sexuelle Szenen ver-
stellt zu träumen. Der Versuch gelingt,
„die meisten Symbolisierungen (entspre-
chen) ganz dem Freud sehen Schema."
Von der Bestätigung der bekannten Sym-
bolbedeutungen abgesehen, strotzt der
Aufsatz von Zweifeln, Warnungen vor
Verallgemeinerung, geradezu phobisch
anmutender Sicherung gegen die Mog-
eutelle Symholträume. (Ztschr.
lichkeit, daß dieser gelungene Versuch
für die Richtigkeit auch anderer Freud-
schen Griuidthesen spräche, und erschöpft
sich schließlich in methodologischen Be-
denken. „ . . . Durch diese experimentelle
Methode des Nachprüfens (ist) auch die
psycho analytische Methode als Verfahren
wenigstens bis zu einem gewissen Grade
und mit aller gebotenen Kritik sicher-
gestellt, ihre Brauchbarkeit erwiesen."
Dr. W. R e i c h (Wien).
\
528
Kritiken und Referat«
E. SIGG (Zürich); Zur Kausuistik des nervösen Tic (Ztschr. f. d.
ges. Neur. und Psych., 82, B. 1925,)
In drei referierten Fällen handelt e«
sich um „Verdrängung des normalen
Lieheslebens" und dadurch bedingte
stärkere Entwicklung auto erotischer und
homosexueller Tendenzen. Auf den ona-
nistischen Sinn des Tics wird hinge-
wiesen. Zwei Falle wurden durch Analyse
geheilt. , Dr. W. R c i c h (Wien).
einem
A. VON MURALT : Zur Frage der Traumdeutung. (Nach
Vortrag, gehalten im Februar 1921 im psychiatrisch-neurologischen Verein
in Zürich.) Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Bd. 11, 1922.
Obwohl Verfasser selbst davor warnt,
die Traumdeutung zu einer handwerks-
mäßigen Deuterei nach einer für allemal
feststehenden Symbolik zu degradieren,
imtemimmt er doch den Versuch, die
Pmge der Übereinstimmung der „Deu-
tungaarbeit" verschiedener Deuter „ex-
perimentell" nachzuprüfen. Er verschickte
lu diesem Zwecke an neun Nervenürito
der Freud sehen. Jung sehen und
Genfer Schule den Text eines Traumes,
„sämtliche" (in Wirklichkeit acht 1) As-
soziationen sowie eine kurze Schilderung
des nervösen Zustandes des Patienten, mit
dem Ersuchen, den Traum lu deuten.
Eigentlich ist es bedauerlich, daß diese
Rundfrage sogar zu einem Resultat ge-
führt hat, und zwar zu dem, daß eine
recht erfreuliche Übereinstimmung in den
eingegangenen Deutungen herrscht, woraus
dann geschlossen wird, daß die Traum-
deutung wissenschaftlich sicher basiert
sei. Glücklicherweise hat die Psycho-
analyse es nicht nötig, sich hei Verfasser
die Beweise für die Wissenscbaftlichkeit
ihrer Methode zu holen. In der vor-
hegenden Arbeit sind die Grundregeln
der Analyse so wenig eingehalten, daß
sich eine Kritik darüber gar nicht lohnt.
Amüsant ist immerhin, was der eine
und andere dieser Trauradeuter lu sagen
weiß : Zwei der Deuter machen zu An-
fang wohl yichtige Einwendungen gegen
die Art dieses Experimentes, können aber
dann doch nicht umhin, lauge Beiträge
heiiusteueni. Ein dritter wirft bereits die
Frage auf, ob sich Patient für seine
Berufstätigkeit eignet, und denkt, daß ein
Berufswechsel unter gewissen Bedingungen
angezeigt sei.
Sehr illustrativ sind die „Ratschläge",
die ein Deuter der J ung sehen Schule
dem Patienten erteilen will; Er würde
ihm „raten", die Phontasien zu beob-
achten, die von der verdrängten Seite,
vom unmoralischen Unbewußten auf-
steigen, „um ihm die Annahme der un-
bewußten Tendenz zu erleithtem". Femer
„riete" er ihm, „sich der Bedeutung seines
Vaters völlig klar zu werden und der
Widerstände gegen ihn" und schließlich
„sich wenigstens mit dem Mädchen (das
im Traum eine Rolle spielt) zu unter-
halten, da ja Moral ohne Versuchung
nichts wert ist". Hoffentlich hält dieser
Arzt seine ..Beratungen" nicht für Psycho-
analyse! Den anderen Mitarbeitern an
diesem „Experiment" und seinem Ur-
heber möge nochmals gesagt sein, daß
diese Art „Traumdeutung" unwissen-
schaftlich und unanalylisch ist.
Dr. E. Blum (Bern).
Dr. ERICH WULFFEN : Das
P, Langenscheidt, Berlin, 1925.
Das Weib sieht Wulffen als geborene
Sexual verbrecherin an, weil bei dem
Weibe die meisten kriminellen Auswir-
kungen aus psycho-physiologi sehen Grün-
den in irgendeinem näheren oder ent-
Weib als Sexualverbrecherin.
femteren Zusammenhang mit seinem
Geschlechtsleben stehen, Die Grausam-
keit ist so sehr ein auffälliger Zug des
Weibes, daß die Betrachtung der grau-
samen Verhrccherin als Muttor, Hausfrau,
Kritiken und Referate
529
Erüieherin und politischen Verbrecherin
ein besonderes Kapitel ausfüllt. Der große
Band von iiher 400 Seiten bringt ein
überreiches, lehrreiches Material aus
Gegenwart und Vergangenheit (mit über-
flüssigen sensationellen Illustrationen nach
kriminalistischen Originalaufnahmen). Daß
die Psychoanalyse besonders tief in die
Menschenseele hinableuchtet, wird an-
erkannt und eine neue Befruchtung der
Kriminalpsychologie von ihr erwartet.
Der Autor bezieht sieb auf Stekels Bücher
und vertritt, Stekel irrtünilich 'für einen
Vertreter der Freudschen Psychoanalyse
haltend — was er längst nicht mehr ist!
— kritiklos dessen Aufstellungen, zum
Beispiel dessen Theorie der Homo-
sexualität. Dadurch, daß er sich nur an
Stekel hält, entgeht ihm andererseits zum
Beispiel der wichtigste Ursprung des
weiblichen rtssentünent, der Kastrations-
komplex, vollkommen. Die Wahrheit über
die Psychogenese der Verbrecherin ist
nur von eingehender Analyse zu erwarten,
die hier gar nicht erwähnt wird.
Dr. E. H i t s c h m a n n (Wien).
OTTO MAGENAU: Verlauf sformen paranoider Psychosen der
Schizophrenie. (Versuch einer Typenbildung.) (Ztschr. f. d. ges. Neur.
79. B., 1922.)
11. Psych., 79. B.,
Die Arbeit beschäftigt sich mit jenen
■schizophrenen Endzuständen, die
mit vorwiegender Wahnbildiuig einher-
gehen. Es lassen sich folgende Einheiten
hermisheben : ]. solche, bei denen in der
akuten Periode ein Wahn plötzlich ge-
bildet wird {Eruptivwahn), von nun an
persistiert und unverändert im Vorder-
grunde des Bildes hleiht, 2. je nach
prozeflhaftcr Verstimmung wechselnde
Wahnbildung, 5, rein paranoischer Wahn,
4. von manisch-depressiven Phasen ab-
hängiger Wahn, Die Paraplirenie läßt
sich von der Dementia praecox nicht
abgrenzen. Die 115 Seiten starke Arbeit
ist reich an ausführlichen Kranken-
geschichten und sehr vrichtigemund inter-
fissantem Material, die sich in einigen
Fällen über Jahrzehnte erstrecken. Klinisch
ist die Arbeit wertvoll, Hätte aber der
Autor auch nur einige psychoanalytische
Gesichtspunkte zu den seinen gemacht,
so wären wir um ivesentliche Erkennt-
nisse bereichert : das vorzügliche Material
hätte Anhaltspunkte geliefert, wie sie
dem Kliniker selten zur Verfügung stehen.
Der Autor weiß, wie er selbst zugibt,
nichts zu der Frage zu sagen, wie „gerade
die so und so formulierten Vorstellungen
lu der unsinnig (!) heftigen Affektbe-
tonung"' kommen, „Sie sind eben prozeß-
baft." Freuds „Ausdeutungen" der
Dem. par. des Senalspräsidenten Schreber
werden kritisiert : „Wenn .je Freud
sich er- und nachweislich geirrt hat, so
in diesem Falle. Nicht als ob die von
ihm dargelegten Zusammenhänge bei
Schreber nicht vorhanden gewesen sein
künnten oder meinetwegen auch vor-
handen waren — irrig sind aber die
Schlußfolgertuigen imd Verallgemeine-
nmgen. Sekimdäres und Akzidentelles
erhebt Freud zum Typischen und
kausal Bedingten und Bedingenden. Nach
Freud soll bei paranoiden Erkrankungen
die Abwehr des homosexuellen Wunsches
im Mittelpunkt des Krankheitskonfliktes
zu erkennen sein, sie seien aUe an der
Eewältigiuig ihrer unbewußt verstärkten
Homosexualität gescheitert. Leider muß
Freud selber betonen,' daß Schreber in
den Zeiten der Gesimdheit kein Zeichen
von Homosexualität in vulgärem Sinn
geboten habe (sie!), er ergänzt daher
eine ungewöhnliche Anzahl von Pollutionen
in einer Nacht im KranJdieitsbeginn durch
unbewußt gebliebene homosexuelle Phan-
tasien!" Die heftige erotische Erregung
bei paranoiden Schizophrenen sei ur-
sprünglich objektlos. Der gleichgeschlecht-
liche Inhalt könne auch aus der äußeren
Situation, dem Krankenhause stammen
und sekundär fixiert bleiben. Wie würde
Autor demnach den homosexuellen Inhalt
paranoider Ideen bei neu aufgenom-
menen Schizophrenen erklären? Wahr-
scheinlich so: der physikalische Verfol-
gungswahn „veranschaulicht die Störungen
der Willensan triebe, die Sperrungen, die
Aulomalismen." Dr. W. Reich (Wien).
."
L
M. ISSERLIN: Neuere Anscliauu
Anomalien und ihre Bedeutung i
Psycholog, u. exp. Pädagogik 23, 10.
Der Inbegriff neuerer Anschauungen
über das Wesen sexueller Anomalien und
ihrer Bedeutung im Aufbau der Kultur
ist Isserlin Blühers Lehre vom homo-
sexuell-libidinöseii Ursprung des Staates.
In eiuer affektvoUen Ablehnung dieser
werden Psychoanalyse, Blühers wissen-
schaftliche Ansichten \md Blühers EÜiik
vielfach durcheinandergeworfen. Alle posi-
tive Bewertung der Homosexualität, aber
auch alle nicht wertenden Lehren von
einer Bedeutung der Homosexualität im
Kulturaufbau werden als unberechtigtes
Bestreben der Homosexuellen aufgefaßt,
sich Geltung zu verschaffen; die Möglich-
keit solcher Lehrer aber sei in einer von
der Psychoanalyse ausgehenden Reaktion
auf den überwundenen Rationalismus der
vorangegangenen Epoche begründet, Is-
serlin meint daher mit einer vernichten-
den Kritik der Psychoanalyse auch diese
Lehre lu vernichten. Die Argumente
dieser vernichtenden Kritik sind die alt-
bekannten des Unverständnisse» und der
Entstellung ; Das Vorhandensein eines
„■Widerstandes" beweise keine „Verdrän-
gung"; in Wahrheit sei das so, daß, wenn
Lücken in der Assoiiationsreihe sich ein-
stellen, der Arit besonders dränge, bis der
Patient etwas sage, und das solle dann
ngen über das Wesen sexueller
m Aufbau der Kultur. Z. f. pädagog.
„verdrängt" gewesen sein! Die Psycho-
analyse des aliquis in der „Psychopatho-
logie des Alltagslebens*- sei unwahr-
scheinlich. Hcihmgcn seien wohl sugge-
stiv. Die Deutungen erfolgen nach „sehr
einfachen, dem Mechanismus der Zote
entnommenen Maximen", für ein „Un-
bewußtes" gäbe CS keine Möglichkeit
erfahrungswissenschaftlicher Begriffsbil-
dung. Mit dieser „Widerlegung" der
Psychoanalyse falle auch jede höhere
Einschätiung der Perversionen (wobei
Isserlin immer so schreibt, als hielte
die Psychoanalyse die Perversen für die
Erretter der Menschheit); in Wahrheit
seien die Homosexuellen Schwächlinge»
Psychopathen und Verführer der Jugend.
„Und so haben wir es heute nicht mehr
nötig, uns auf langatmige Diskussionen
einzulassen, sondern bezeichnen es als
gänzlich unbegründeten Unsinn, daß etwa
der ,Staramtisch' einen symbolischen Er-
satz fiü- eine homosexuelle Betätigung
darstellt." Außerdem sei die Psychoanalyse^
für ihre Jünger sehr gefälirlich wegen
der Gefahr ewiger Selbslaergliedcrung.
Als Schuts täte eine intensivere Be-
kämpfung der Perversionen not, „Auf
die Jugendbewegung ist vor^süglich aui
achten." Dr. O. Fenichel (Berlin).
ärztliche Volksbuch", gememverstÜnilliche Darstellung der
„Das - • ^
Gesundheitspflege und HeUkunde, herausgegeben in 2 Bänden von Dr. Heinrich
MENG und Dr, Karl August FIESSLER (Wagnersche Verlagsanstalt, Stuttgart).
geschrieben sind. Hervorzuheben sind die
von Federn verfaßten Kapitel über die
körperliche und seelische Hygiene des
Geschlechtslebens. Alle wichtigen normalen
und krankhaften Erschcinnngen werdet»
in kuncr und anschaulicher Weise be-
Das „Äritliche Volksbuch", dessen erster
Band erschienen ist, beabsichtigt eine um-
fassende Darstellung des medizinischen
Wissens in gemeinverständlicher Form
zu geben. Die einleitenden Kapitel be-
handeln Bau und Funktionen des Körpers,
Fortpflaniung, Entwickliuig usw. Es folgen
Abschnitte über Hygiene und über die
Vorbeugung der Krankheiten.
Bemerkenswert ist, daß mehrere der
Mitarbeiter der psychoanalytischen Schule
angehören und daß wichtige Kapitel vom
Standpunkt der psychoanalytischen Lehre
handelt; dabei werden stets auch sozial-
hygienische Gesichtspunkte berücksichtigt.
Im Gegensatz lu vielen populären Dar-
steUungen des gleichen Gegenstandes sind
diese Kapitel geeignet, über die den
Laien am meisten interessierenden Fragen
Aufklärung zu verbreiten, ohne hypo-
Kritiken und Referate
33»
chondrische Ängstlichkeit zu erzeugen.
Vom gleichen Verfasser stammen zwei
weitere Kapitel über „Schutz vor Nerven-
iind Geisteskrankheiten" sowie über die
psychoanalytische Behandlungsmethode.
Sie enthalten eine gedrängte Darstellung
des Wissenswerten über psychoanalytische
Theorie und Praxis.
Nicht minder geeignet, psycholo-
gisches Verständnis zu verbreiten, sind die
Beiträge von Meng (Stuttgart), ins-
besondere diejenigen zur körperücben und
seelischen Hygiene des Kindes.
Von Schneider (Riga) stammt eine
Darstellung der seelischen Entwicklung des
Kindes während der verschiedenen Kind-
heitsperioden. Verf. berücksichtigt ein-
gehend die Erscheinungen des Narzißmus
imd der Objektliebe, die Erscheinungen des
Ödipuskomplexes usw.
Man darf sagen, daß in diesem ersten
Bande, soweit es sich um speziell für den
Psychoanalytiker Wichtiges handelt, eine
vortreffliche Idee in mustergültiger und
nachahmenswerter Weise zur Durch-
führung gebracht ist.
Dr. K. Abraham (Berlin),
Dr. MAX SCHWAB (Nürnberg): Die Ursache des unstillbaren
Erbrechens- Zentralblatt für Gynäkologie, Bd. 4g, H. 27 u. 4z, 1921-
Nachdem dem Autor durch die Lek-
türe von S t e k e ) die Augen für psycho-
gene, unbewußte Ursachen geöffnet
w^orden waren, fand er die psychoana-
lytische AufFassung der Frigidität in jedem
Falle bestätigt. Auf Grund seiner Erfah-
rung erkannte er und vertritt er aus-
nahmslos die psychogene Natur des un-
stillbaren Erbrechens. „Unstillbares Er-
brechen bedeutet nicht ein Erbrechen,
das nicht gestillt werden kann, sondern
Erbrechen, dessen Ursache nicht beseitigt,
nicht aufgedeckt und nicht überwunden
wird." Das Erbrechen ist ein Symptom
unbewußter Abwehr der Schwangerschaft
überhaupt oder der Empfängnis von dem
betreffenden Erzeuger. Der Tod durch
solche schwerste Zustände ist wie ein
unbewußter Hungerstreik, als auf unbe-
wußten Motiven beruhender Selbstmord,
aufzufassen.
In einem Nachtrag wird als weiteres
Argument für die obige Auffassung mit-
geteilt, daß von den vielen ledigen
Müttern, die ihre Schwangerschaft nicht
wahr haben wollen und sofort den Arzt
um künstliche Unterbrechung bitten, kein
einziges Mal anamnestisch von Erbrechen
berichtet wurde. Ferner wird ein Fall
enählt, der die psychogene Wurzel eines
— übrigens bald überwundenen — Er-
brechens so deutlich bewies, daß die
Patientin selbst sie erkannte. Diese Frau
begrüßte freudig die Gravidität, wollte
aber nach Eintritt derselben nicht weiter
mit dem Manne verkehren. Sie überwand
sich, empfand aber Ekel über den Orgas-
mus des Mannes imd erbrach diu-ch acht
Tage. Von da an konnte sie das Er-
brechen beherrschen, aber mit Auftreten
dauernden Heißhungers. Die psychoana-
lytische Erfahrung bestätigt, daß das
Erbrechen gravider Frauen meist als
Symptom des Ekels gegen das Sperma,
seltener gegen das Glied ausgelöst wird.
Die Beobachtung, daß der so häufige
Heißhunger als Reaktion gegen das so
ausgelöste Ekelgefühl auftreten kann, ist
wahrscheinlich auch eine typische.
Dr. P. Federn (Wien).
MAX LEVY-SUHL: Über hysterische und andere psychogene
Erscheinungen; ihr Wesen und ihre soziale Bedeutung.
(Z. f. Psychotherapie u. medizin. Psychologie VIII. 5/4. 1922.)
Obwohl Freud in dieser Arbeit die Hilfe der Artgenossen" sein. Dabei
mehrmals litiert wird, bleibt des Autors ist der Autor der sonderbaren Meinung :
Verständnis für die Psychoanalyse äußerst jJJer ethische Gewinn soll ja der letzte
oberflächlich undungenügend.Der „tiefere aller Forschung sein."
Sinn" der Hysterie »oll ein „Appell an Dr. O. F en ic h e 1 (Berlin).
53»
Kritiken und Referate
P. MATTHES: Die Konstitutio
(KJin. Wochenschr. 2, 7. 1925.)
Die weiblichen Konstitutionen werden
ziuiächst — in Anlehnung an Kretschmer
— in pyktiische und schizoide eingeteilt.
Die pyknischen sind sexuell hoch- und
eindeutig di ff eren ziert, imter den schizoiden
Frauen fljidet man „Jugend-" und „Zu-
kunftsformen" und darunter häufig Inter-
sexe wegen „mangelhafter Entwicklungs-
fähigkeit der Geschlechtschromosome".
Diese schizoiden Intersexe erwecken da-
durch imser Interesse, daß sie besonders
leicht an Angstneurosen erkranken sollen :
„Alles Sexuelle ist dem Intersexuellen ein
Problem. Kein Wunder, daß bei ihm
sexuelle Kindheitserlebiiisse eine besondere
Affekthetonung erhalten ; das Erlebnis als
solches darf aber nicht als Ursache einer
späteren Angstneurose angesehen werden,
Es ist nur deren Vorbote imd hat rein
symptomatische Bedeutung." Die Vor-
n« typen in der Gynäkologie.
schlage zur Therapie sind solcher Ein-
sicht entsprechend: Neben Beltruhe und
Hypophysen ex trakten wird „die Zufuhr
von Vorstellungen" empfohlen, „die die
Kranken über ihren Zustand auflilären,
sie dazubringen, sexuelle Bestrebungen
entweder überhaupt zu unterdrucken imd
dafür andere meist vorhandene wertvolle
seelische Qualitäten au pflegen, oder das
in leichten Fällen in ihrer Seele zu
wecken und zu fordern, was an ein-
deutiger Sexualität zu schwach und zu
kümmerlich vorhanden ist." Hat man also
bereits von der Psychoanalyse gelernt,
daß Neiu-osen auf sexuelle Konflikte
zurückgehen, so meint man jetzt durch
den Ratr „Geben Sie Ihre Sexualität
ganz auf oder bekennen Sie sich zu ihr!"
die Psychoanalyse doch ersparen zu können.
Dr. O. Penichel (Berlin).
MAX LÖWY; Vergleichende Betrachtung einiger Fälle
erotischer Wahnbildung. (Gouvemantenwahn, sexuelle Eigenbeziehung,
Paraphrenie.) (Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 55, 4.)
Eingangs wird darauf verzichtet, das
Wähnen oder das Irresein überliaupt aus
der Sexualität abzuleiten, wie es die Psy-
choanalyse angeblich tue, wobei die
Lehre von den „narzißtischen Neurosen"
nicht ganz richtig wiedergegeben wird.
Vielmehr sollen nur Fälle manifester
erotischer Wahnbildung untersucht wer-
den, bei denen die Erotik im Krankheits-
bild dominiert. Das kann auf zweierlei
Weise geschehen: 1. in Form direkter
Wunscherfüllung, a, in „Abwehrfassade"
(Klagen wegen sexueller Verfolgung, Be-
einträchtigung und dergleichen). Beide
Arten werden in verschiedenen Erschei-
nungsformen dem Leser vorgeführt,
wobei nicht nur echte Wahnbildungen,
sondern auch Pseudologien, hysterische
imd psychopathische Szenen und Reak-
tionen, zum Teil durch Krankengeschich-
ten erläutert und mit differentialdia-
gnostischen Bemerkungen versehen, zur
Besprechung gelangen. Besonderen Baum
nimmt dabei die Beschreibung eines
„G'Ouvemantenwahnes" in Anspruch (nach
Ziehen), bei der alternde Gouvernanten
sich vom Herrn des Hauses geUebt, von
der Frau eifersüchtig verfolgt glauben,
ohne sonst krank zu sein, L. trennt solche
Fälle scharf von solchen, bei denen die
erotische Wahnbildung nur Teil einer
Prozeflpsychose (Schizophrenie) ist, die er
für eine organische Störung ansieht.
Interessant ist, daß im Verlaufe der
Erörterungen mehrmals psychoanalytische
Deutungen vorgenommen werden, die —
dem Fehlen von Psychoanalysen und der
Beschränkung auf das manifeste Material
entsprechend — oberflächlich bleiben.
So wird ein einer Patientin „ins Rind-
fleisch gespritzter Fischgeschmack" sym-
bolisch gedeutet, in einem von Schul-
mädchen dem Vater überbrachten obszö-
nen, in Wahrheit selbst verfaßten
Liebesbrief die erotische Bindung an den
Vater erkannt und dergleichen mehr.
Auch Ödipus- und Kastrationskomplex
werden (flüchtig) herangezogen, ver-
schiedene Psychoanalytiker wiederholt
zitiert, Dr. O. Fenichel (Berlin*.
Kritiken und Referate
533
TH. PULVERMACHER: Der Wes
Charakters. (Med. Klinik XIX, 35.)
Pulvermachers Ansicht ist, „daß die
hysterische Gemütsart auf dem Fehlen,
beziehungsweise der mangelhaften Aus-
bildung derjenigen psychischen Dauer-
verfassung beruht, die man Charakter
oder — weiter gefaßt — Persönlichkeit
nennt." Seinen Patientinnen gegenüber
„kommt" er „sich manchmal vor ^vie ein
Dompteur". Über das Unbewuflte denkt
er so: „Auch spielen diese psychischen
Vorgänge ja größtenteils im Unterbewußt-
sein. Sie sind eine Art zerebraler Reflexe."
Über den Geschlechtsunterschied so :
„. , . daß die Prau mehr Gattungswesen
und daher schon normalerweise weniger
Persönlichkeit ist als der Mann . . ," Über
das Verhältnis der Physis zur Psyche so:
„Meine Erklärung der hysterischen
ensgrund des hysterischen
Eigenart bleibt gani im Psychologischen.
Wenn sie sich als richtig erweist, so wird
uns vielleicht auf Grund der Erfahrungs-
tatsache, daß gewisse organische Krank-
heiten, wie Epilepsie und multiple Skle-
rose, auÜfallend oft mit Hysterie verge-
sellschaftet sind, die histologische For-
schung späterer Tage über das materielle
Substrat dessen, was wir Charakter nennen.
Auf klär Uli g verschaffen."
Solche Denkart hat es naturgemäß
nicht nötig, sich um das zu kümmern,
was die Psychoanalyse über den „Wesens-
grund des hysterischen Charakters" zu
sagen hat. Aber immer noch kann sie
in unseren klinischen Zeitschriften Platz
beanspruchen !
Dr. 0. F e n i c h e 1 (Berlin).
G. HEYMANS und H. J. F. W. BRUGMANS: Eine Enquete über
die spezielle Psychologie der Traume. (Zeitschr. f. angewandte
Psychologie, 1921, Bd. 18. S, 201 — 224.)
Diese Enquete gibt hauplsachlich nur
Fragen über äußerliche, formale Daten
(zum Beispiel Frage 10: Versetzte Ihr
Traum Sie in die Zeit, wo Sie die Ele-
mentarschule, die Mittelschule
besuchten, oder bezog sich derselbe auf
die Jetztz ei t? — Frage 12: Träumten
Sie von bekannten oder von durchaus
unbekannten Personen?) und zwar 18
Fragen bezüglich des Träumens, 15 Fragen
andere „allgemeine" Eigenschaften des
Befragten betreffend, auf, Die Antworten
werden statistisch aufgearbeitet. Er-
wälmenswert ist vielleicht aus dem Er-
ERWIN MOOS: Kausale Psych
chiale. {Münch. med. W. 70, 25.)
Moos empfiehlt eine „psychoanalyti-
sche synthetische Methodik". Bei dieser
sind erst im „Unterbewußtsein" verdrängte
Affekte aufzufinden, woran sich „deren
Abbau und ihre Reguherung durch die
Kranken" anschließt. Dazu sind 40—50,
exentuell 100 Sitzungen nötig — Ursachen
für die Anfälle sind psychischer Schock,
„Flucht in die Krankheit", Erinnerung
an frühere Anfälle; auch während der
gehnissc, daß die Emotionellen ihre
Träume eher vergessen als die Nicht-
emotionellen, was durch die hei den
Emotionellen wirkenden Hemmungen
verursacht werden soll. Wir staunen, daß
Heymans, der die Psychoanalyse kennt
und in einer anderen Arbeit {siehe das
Referat über Heymans „Über die An-
wendbarkeit des Energiebegriffes in der
Psychologie") deren Ergebnisse zur Stütze
seiner eigenen Auffassimg heranzieht, die
Psychologie der Träume durch diese
Enquetemethode fordern zu können
glaubt. Dr. I. Hermann (Budapest).
otherapie beim Asthma bron-
Behandlung treten die Anfälle auf, wenn
an das Unbewußte gerührt wird.
So erfreulich es ist, daß von klini-
scher Seite der Psychoanalyse des
Asthma Aufmerksamkeit geschenkt wird,
so sehr kann doch gefordert werden, daß
der Aufmerksamkeit Schenkende die
PsA. auch kennt und nicht den Unsinn
einer „psychoanalytischen Syntliese" vor-
schlägt. Dr. 0. Fenichel (Berlin).
534
Kritiken und Referate
RUNGE: Psychopathie und chronische Encephalitis epide-
mica mit eigenartiger Symptomologie (larvierte Onanie). (Ar eh. £.
Psychiatr. 68, 5/5.)
vergleicht es mit dem Masturbieren der
Kinder, und all die», „wenn man sich
hier nicht auf Deutun g:s versuche einlassen
will, wie sie der Freudschen Schule eigen
sind." — In Alisführung solcher Ver-
meidung wird angenommen, daß die
Kompression der Schilddrüse auf inner-
sekretorischem Wege Wollust errege
(zwei ähnliche Fälle [Haas] werden berich-
tet). ~ Wir meinen auch, daß R. sich
nicht auf Deutungs versuche hätte ein-
lassen sollen, wie sie der Freudschen
Schule eigen sind. Denn das wäre so
lange sinnlos gewesen, als der Patient
nicht vorher einer Psychoanalyse tmter-
jogeii worden wäre. Daß dies aier mit
solchen Fällen, wie überhaupt mit neu-
rosenähnlichen Restiuständen nach Ence-
phalitis epidemica geschähe, wäre ge-
wiß im Interesse der Forschung und
wahrscheinlich auch der Kranken sehr
wünschenswert.
Dr. 0. P c n i c h e 1 (Berlin).
I
Ein 20 jähriger weichlich femininer
Psychopath leigi im Verlauf eines chro-
nischen, zweifellos enzephalitischen. amyo-
statischen Zustandes unter anderem fol-
gendes Symptom: Er würgt mit der
Hand oder mit Tüchern seinen eigenen
Hals, um so „eine angenehme Art von
Sctwindel" Sil erregen ; er wiederholt
dies hemmungslos, bis zu 90 mal am
Tage, kann durch keine Maßnahmen
davon abgehalten werden, kommt dabei
in einen orgaSmus ähnlichen. Zustand. P.
entdeckte dieses Lustgefühl anläßlich
eines Suizidversuclies wegen einer un-
glücklichen Liebe. — Im Verlauf der Be-
nbachttmg traten femer tachypnoische An-
fälle auf, die ein Äquivalent für das
Würgen zu sein schienen, sowie später
echt tetanische Anfälle. — R. hält das
Würgen für durch den enzephaliti sehen
Proieß nicht genügend determiniert; er
erkennt darin ein sexuelles, und iwar
Onanietisches Äquivalent, zitiert Stekel,
Dr. A. PICK : Die neurologische
Psychopathologie und ander
Für denjenigen, welcher gewohnt ist,
psychpatho logische Erscheinungen unter
dem Gesichtspunkt der Psychoanalyse zu
betrachten, ist es sehr instruktiv, gele-
gentlich einmal zu beobachten, wie
andere Forsch ungsrich tun gen, von der
unserigen völlig unbeeinflußt, ihren Weg
verfolgen und sich bemühen, denjenigen
Fragen auch nur um einen kleinen Schritt
näher lu kommen, die wir bereits au
einem erheblichen Teil gelöst zu haben
glauben.
Das vorliegende Werk enthält sozu-
sagen ein Extrakt der ärztlichen Lebens-
erfahrung des verdienten Prager Psy-
chiaters. Für uns allerdings haben nur
der erste und letzte Aufsatz des Bandes
Interesse, während die übrigen sich we-
sentlich mit Erscheinungen der organi-
schen Gehirnkrankheiten befassen.
In dem ersten Aufsatz, dessen Über-
schrift im Titel des Gesamtbandes ge-
Forschungsrichtung in der
e Aufsätze. Berlin 1921.
nantit ist, erläutert Pick das Wesen
seiner Methodik. Überall da, wo neiu-o-
logisch erfaßbare Erscheinungen, neben
psychischen vorkommen, versucht er von
den ersteren aus das Wesen der letzteren
zu ergründen. Die Forschungsrichtung ist
wesentlich lokalisatorisch orientiert, Aus-
fallserscheinungen bei organisch beding-
ten Sprachstörungen usw. bilden die
Quellen der Erkenntnis, aus welcher im»
Vorgänge des normalen Seelenlebens
verständUch werden sollen. Man sieht
hier so recht den grundlegenden Unter-
schied der Auffassung. Wir können der
Auffassung Picks für rein intellcktuello
Vorgänge zustimmen, so zum Beispiel
wird seine Forschungsrichtung vieles
über die Zusammenhänge zwischen Den-
ken und Sprache ermitteln können. Der
Psychologie, wie wir sie auffassen, wird
auf diesem Wege kein Nutzen erwachsen,
denn über die seelischen Motive, die in
Kritiken und Referate
355
unserem Denken und Handeln zum Aus-
rnck kommen, über das Trieblehen,
welches alle unsere psychischen Vorgänge
beinflußt. werden wir auf diesem Wege
niemals auch nur den geringsten Auf-
schluß erhalten,
Auch dem Versuch, Hemmungen bei
gewissen Geisteskranken mit organischen
Hemmungen (wie «um Beispiel bei
Apraktischen) gleich lu setzen, können
wir aufGnmd unserer psychoanalytischen
Erfahrungen keinen 2u hohen Wert bei-
legen. Leider fehlt in dem Buch, wel-
ches eine Fülle interessanter Beobach-
tungen enthält, jede Brücke in unserer
Forschungsrichtung. Alle möglichen
Autoren, die irgendwie einen Beitrag zur
Psychopathologie geliefert haben, werden
herangeiogen, nur die psychoanalytische
Schule findet keine Erwähnung.
Besonders kraß tritt diese Vernach-
lässigung unserer Forschungsergebnisse
in dem letiteu Aufsatz hervor, der von
HABALD SIEBERT: Über Parhed
„Perversionen" sind in den letzten
Jahren in den ehemals russischen Rand-
staaten viel häufiger geworden. Ob aber
die Zalil anhaltender „Perversitäten" in
Ziusammenhang mit den Kriegs- und Be-
volutions ersehe in un gen gestiegen sei, hält
Siebert für fraglich. Daß perverse
Akte bei Terroristen häufig vorkommen,
spreche für einen Zusammenhang von
Terror und Sadismus, obwohl eine psycho-
analytische Erklärung jenes durch diesen
R. WOLLENBERG: Röntgenster
für Psychiatrie 26, 5/4.
Eine sechsundiwanzigjähzige Frau, die
bis daliin nichts Auffälliges geboten hat,
beginnt, während ihr Mann im Felde
weilt, zunächst ein Verhältnis; sie hat
dann durch Vermittlung einer Prosti-
tuierten^ der sie dafür Geld gab, Sexual-
verkehr mit vielen Unteroffisiercn und
Soldaten. Wegen sexueller Exzesse und
Verschwendungssucht kommt sie in eine
Privatanstalt, wo sie unter anderem scham-
los Details aus ihrem Sexualleben eriählt.
Später wird sie entmündigt, lebt in gleicher
Sinnestäuschungen bei geistig Gesunden
handelt. Auch hier erwartet der Ver-
fasser Aufschlüsse über das Wesen der
Sinnestäuschungen vom Studium der or-
ganischen Grundlagen solcher Vorgänge.
Geeignete Fälle sollen genau studiert
werden. Das hauptsächliche Interesse
wendet Verfasser, der einige ihm selbst
widerfahrene Sinnestäuschungen be-
schreibt, solchen Fragen zu, die eigentlich
außerhalb des psychischen Gebietes liegen,
so zum Beispiel der Frage des hellen oder
dunklen Hintergrundes der Sinnestäuschun-
gen oder dem Sitz der betreff enden Affektion
im^ Gehirn. Die seelischen Determinie-
rungen jener Sinnestäuschungen (Worte
und Wortstücke, die in Druckschrift vor
dem Auge erscheinen) werden nicht be-
rücksichtigt. Die in Freuds Traumdeu-
tung gegebene Theorie der Sinnestäu-
schungen findet keine Erwähnung.
Dr. K. Abraham (Berlin).
onien. Allg. Z. f. Psychiatrie 78, 5/6.
als einseitige Übertreibung zurückgewiesen
wird. Es wird der Fall eines dreißig-
jährigen Offiziers ohne Erklärungsversuch
geschildert, der bei der Vorstellung, an-
geschossen zu werden, iimi Orgasmus
kam und deshalb ein Duell provozierte.
Auch wird betont, daß Leute, die den
Koitus per os ausüben, sonst nicht Psycho-
pathen lu sein brauchen.
Dr. O. Fenichel (Berlin),
ilisierung und Libido. Archiv
Weise weiter, akijuiriert eine Lues, kommt
wieder in eine Anstalt, Der Vormund
schlägt eine Röntgenkastration vor. Autor
lehnt sie ab und begründet dies ethisch
(es wäre eine Unaufrichtigkeit gegenüber
der Frau) und medizinisch (der Erfolg
wäre sehr fraglich; Versuche, HomoseKua-
lität durch Röntgenkastration zu besei-
tigen, sind fehlgeschlagen). Kein Hinweis,
der ein psychoanalytisches Verständnis
des Falles anbahnen könnte.
Dr. O. Fenichel (Berlin),
336
Kritiken und Rei'erale
M. MARCUSE: Orgasmus ohne
Wochensdir.j 48, Nr. 55, igzz.)
Orgasmus mit zeitweilig feh-
lender Ejakulation ist mehrfach be-
schrieben. Perenczi berichtet über
einen orgastischen Traum ohne Pollution
(Int. Ztsclir. f. PsA., 1917, Nr. 4). Er
meint dort, daß der unbewußte Sesual-
wunsch in schwach sei, um den Sanieu-
erguD lu erzeugen; nur der starke, imfce-
wiißte Wunsch habe Zugang zur Körper-
lichkeit, wahrend vorbeivußte Wünsche
nur psycliische Vorgänge auszulösen ver-
mögen.
Der Autor berichtet hier über eine
Potenzstörung, die sich durch konstant
N. COSTA: Zur Lehre vom Asth
Wochenschr., 193a, Nr. 41,' S. 1373.)
Es wird über einen Fall von Asthma
berichtet, bei dem eine in der Hypuoae
gegebene beruhigende Suggestion nur
vorübergehende Besserung erzielen konnte.
Eine analytische Behandlung, von der man
in der Arbeit jedoch nur erfährt, daß
„ein Zusammenhang mit der SeKuaJität,
eine infantile Einstellimg und Konflikt
zwischen dem Ich imd der Libido" vor-
handen war, führte zum Erfolg, Auf die
Ejakulation. (Deutsche medizin.
fehlende Ejakulation trotz vorhandenem
Orgasmus ausdruckte. Die Trennung des
Orgasmus von der Ejakulation ist gewiß
nichts Merkwürdiges und Verfasser
verweist auch auf die durch die
Psychoanalyse nachgewiesene Unabhängig-
keit des Orgasmus vom Genitale, das
durch jede bevorzugte erogene Zone in-
sofeme ersetzt werden kann, als an einer
solchen orgastische Empfindungen mit
den verschiedensten organischen Polge-
ers che inmi geil ausgelöst werden küimen.
Dr. Felix Deutsch (Wien).
ma bronchiale. (Deutsche medizin.
tieferen Quellen der Angst, die die
Patientin beherrschte, scheint der Verfasser
nickt gekommen zu sein; er berichtet
über Todesphantasien, über Angst vor
Tuberkulose und vor UnheiUiarkeit der
Erkrankung. Der Verfasser verweist über-
dies selbst darauf, daß die Analyse nm- in
Bruchstücken gemacht und am Kranken-
bett nicht ausgiebig durchgeführt werden
konnte. Dr. Felix Deutsch (Wien).
Dr. HERMINEHUG-HELLMUTH: Die libidinöse Struktur des Familien-
lebens, Zeitschrift ftir Sexualwissenschaft. XI. Bd. 7. Heft. Oktober 1924.
In diesem Aufsatze, den die Redaktion
der Zeitschrift am Tage vor der Ermor-
dung der Verfasserin erhielt, wird die
„libidinöse Struktur des Familienlebens",
wie Frau Dr. Hug-Hellmuth mit glücklicher
Bezeichnung sagt, kurz dargestellt, Unter
analytischen Gesichtspunkten verfolgt die
Autorin die verschiedenen erotisch betonten
Faniilienkonstellationen des Kindes von der
Frühzeit bis zur Pubertät. Mit Recht ist
auf die individuellen Familienverhältnisse,
welche die typischen Züge so mannigfach
variieren, besonderes Gewicht gelegt. Die
EinsteUung des „vaterlosen" Kindes, des
Stiefkindes, der Zwillinge usw., wird in der
Verbindung der Einflüsse aus der Familien-
aituation und den erotischen Triebregun-
gen klar und scharf beschrieben. Die
neueren Forschungsergebnisse der Psycho-
analyse, die die Konstituierung der Ich-
Instanzen im Kinde betreffen, sind
flüchtiger und ohne rechten Ztisammen-
hang mit den sextiellen Faktoren dar-
gestellt. Es ist bemerkenswert, daß es der
Autorin auf so knappem Räume gelingt,
die ganze Fülle der Gefühlsbeziehungen
zwischenEllem und Kindern, Geschwistern,
Großeltern, Onkeln und Tanten usw.
analytisch zu beleuchten, ohne analytische
Kenntnisse bei den Lesern voraussetzen
zu dürfen. Sie hat hier zum letztenmal
ihre große Begabung, die kinderpsycho-
logischen Funde der Psychoanalyse einem
weiteren Kreise in klarer imd fesselnder
Form darzustellen, bewiesen.
Dr. Th. Reik (Wien).
PSYCHOANALYTISCHE BEWEGUNG
Dr. HERMINE HUG-HELLMUTH f
Mit einem schrillen Ausklang endele
das arbeits- iind ertragreiche Leben der
stillen, allzu bescheidenen Forscherin,
Der Jimge, der in ihren ersten Arbeiten
SO häufig auftaucht, dem zweite Mutter
211 werden, sie ein trübes Geschick ver-
band, ist ihr Mörder geworden. Seit
lang;er Zeit hatte sie ihn gefürchtet, de-
primiert hatte sie ein gut Stück ihres Inter-
esses am Leben verloren, nnd so nahm das
Schicksal seinen tragischen Lauf, der uns
den allin frühen Verlust einer tapferen
Vorkämpferin für die Erkenntnisse der
PsycJioanaljse beklagen läßt.
Sie war wohl die erste, die in un-
mittelbarer Beobachtung Freuds kühne
Aufstellungen über das wahre Wesen
des Kindes bestätigen und um eine PüUe
wertvoller Beobachtungen erweitem
konnte. Unermüdlich in der Sammlung
von Beobachtungen, mit ausgezeichneten
schriftstellerischen Gaben ausgerüstet,
hat sie durch viele Jahre unsere und ver-
wandte Zeitschriften bald mit gnten Über-
sieh tsreferaten, bald mit Originalarheiten
größeren und kleineren Umfange s be-
reichert. Am bekanntesten ist ihre Mono-
graphie „Aus dem Seelenleben des Kin-
des", vor drei Jahren in zweiter Auflage
erschienen, dann besonders das von ihr
herausgegebene „Tagebuch eines halb-
wüchsigen Mädchens" geworden, das in
wenigen Jahren dreimal aufgelegt, mehr-
fach übersetzt, dem größten Interesse
begegnete. Der psj'choanaly tischen Schule
war es ein wertvolles, menschliches
Dokument, ihren Feinden der Gegenstand
gehässiger Angriffe und häßlicher Zweifel.
Auf ihren letzten Jahren lag der
Schatten der bitteren Einsicht, daß imsere
tiefsten pädagogischen Erkenntnisse un-
fruchtbar bleiben müssen, wenn wir sie
nutzbar machen wollen, ohne mit uns
seihst fertig werden zu können. Ihre
Tragödie, die man gegen die erzieherische
Bedeutiingpsychoanalytischer Erkenntnisse
ausspielen wollte, bestätigt sie vielmehr
in erschütternder Weise.
Unsere geistige Bewegung hat ihr
viel zu danken, ihre Arbeiten werden
für alle Zukunft wertvolle Fundgruben
sein. Doz. Dr. Jos. K. Fried jung.
Von Frau Dr. Hug-H ellmu th s
wissenschaftlichenVerÖ ff entli chungenseien
hier genannt:
aj In Zeitschriften:
Zentralhlatt für PijrcJioanaljrie: Analyse
eines Traumes eines fünf einhalb jährigen
Knaben (11. 122). — Beiträge zum Kapitel
„Verschreiben" und „Verlesen" (II. 277).
— „Versprechen" eines kleinen Schul-
jungen {II. 605I. — Zur weiblichen
Masturbation (UI. 17).
Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse; Ein weihliches Gegenstück (I.
371). — Kindervergehen und Unarten {I.
572). — Kinderträume (I. 470). — Ein Fall
von weiblichem Fuß-, richtiger Stiefel-
fetischismus (II. m), — Ein Traum, der
sich selber deutet (III, 35). — Helga, der
Weg zum Weibe (VL 286). — Zur
Technik der Kinderanalyse (VIT, 179)..
Imago: Über Farbenhören (I. 328).
— Vom^ wahren Wesen der Kinderseele
358
Psychoanalytische Bewegung
(I. 38g), _ Das Kind und seine Vor-
stellung vom Tode (I. 286). — Üter erste
Kindheitserinnerungen (II. 78). — Claire
Henrika Weber „Liddy" (11. 521)- — Lou
Andreas Salom^ „Im Zwischen] and"
(Iir. 85^. — Kinderbriefe (III. 462). —
Einige Beziehungen zwischen Erotik und
Mathematik (IV. 53). — Vom frühen
Lieben und Hassen (V. lai). — Mutter-
Sohn, Vater-Tochter (V. 129). ^
SexiudprobUme : Vom V7esen der Kinder-
seele 11915. S. 435).
Geschlecht und Gesellschaft : Die Kriegs-
neurose der Frau (IX. 1915)-
Pesier Llcryd: Die Kriegsneurose des
Kindes (15. März igis)-
Zeitschrift für Sexualwissenschefi: Die
Bedeutung der Famihe für das Schicksal
des Einzelnen (IX. 1922- S- S^O- — Die
libidinöse Struktur des Famihenlebens
(XI. 1924. S. 16g).
bj Sammelreferate:
Kapitel „Kinderpsychologie, Päda-
gogik" im „Bericht über die Fortschritte
der Psychoanalyse in den Jahren 190g bis
1913", Jahrbuch der Psychoanalyse (VI.
1914.). — Kapitel „Kiaderpsychologie und
Pädagogik" im „Bericht über die Fort-
schritte der Psychoanalyse in den Jahren
1914 bis 1919"- Internationaler Psycho-
analytischer Verlag, Leipzig. Wien, 1921.
cj In Buchform:
Aus dem Seelenleben des
Kindes (Schriften zur angewandten
Seelenkimde, Nr. XV). Verlag Deuticke,
Leipzig und Wien 1918, zweite er^veiterte
Auflage 1921 [englische Üb ersetaung unter
dem Titel: „A study of the Mental Life
of the Child" von James J. Putnam,
Mabel Stevens und B. S. Wellmsley.
Washington 1919]. ~- Neue Wege
zum Verständnis der Jugend.
Psychoanalytische Vorlesungen für Eltern,
Lehrer, Erzieher, Kindergärtnerinnen.
Verlag Deuticke. Leipzig und Wien 1924.
d) Herausgegeben:
Tagebuch eines halbwüchsigen
Mädchens (von 11 bis 141/2 Jahren).
Quellenschriften zur seelischenEntwicklung
Nr. I, Internationaler Psychoanalytischer
Verlag, Leipzig, Wien, Zürich, 1919;
zweite Auflage 1921, dritte Auflage 1922.
'Die Herausgeberin ist erat in der dritten
Auflage genannt.) [EngUache Übersetzimg
von Eden und Cedar Paul. George
Allen & Unwin, London 1919.]
HOLLAND
I
Es wäre ein Irrtum, wollte man aus
der Wahl von Professor Freud zum
Ehrenmitglied des „Nieder-
ländischen Vereines für Psy-
chiatrie und Neurologie" auf
eine blühende psychoanalytische Bewe-
gung in Holland schlieOen. Diese Wahl
erfolgte nach lebhafter Opposition mit
der minimalsten Stimmenmehrheit und
nachdem einer der Gegner, Professor
Wink 1er, seine Autorität für die Wahl
nachdrücklich eingesetzt hatte; zudem er-
folgte die Wahl mit dem ausdrücklichen
Vorbehalt, daß sie keine SteUungnahme
lur Psychoanalyse bedeute. Bei der Jubi-
läumsfeier des Vereines sollten zehn Ehren-
mitglieder gewählt werden. Neun vom
Vorstand vorgeschlagene Forscher, dar-
' unter Janet und Bleuler, wurden ein-
stimmig gewählt. (Bei einem der ohne
Widerspruch gewählten, dem Amerikaner
Mills, konnte keiner der von mir be-
fragten Votanten auch nur den Gegen-
stand seiner Forschungen nennen.) Für
den zehnten Ehrenplatz wurde Professor
Freud von Professor Jelgersma
vorgeschlagen. Daß die lang dauernde
Aussprache mit der Wahl von Professor
Freud endete, ist zum Teil auch der
alten holländischen Toleranz Anders-
denkenden gegenüber zu verdanken. Zur
Jubiläumafestschritt des Vereines ist zu
bemerken, daß Professor L. ß o u m a n
von der protestantischen Universität in
Amsterdam in der geschichtlichen Über-
sicht der Vereinaschicksale unter den ver-
wandten Vereinen die psychoanalytische
Gesellschaft übersehe» hat und daß der
Überblick über die Fortschritte der Psy-
chiatrie der letzten fünfzig Jahre den
Verfasser, Professor Jelgersma, offen-
bar zu einer historischen Regression ver-
Holland
539
anlaßt hat, so daß die Würdigung des
Anteiles, den Freud, Abraham und
so weiter an diesem Fortschritte haben,
etwas rudimentär ausfiel.
In die Redaktion des Vereins-
org'ans der „Psychiatrische en Neuro-
logische Blaaden", ist jetit auch ein Psy-
choanalytiker, Dr. van der G h i j s, auf-
genommen worden. Nachdem nämlich
diese Zeitsclirift durch längere Zeit auch
psychoanalytische Arbeiten gebracht hatte
verwehrte sie einer Krankengeschichte
eines Schülers von Professor Jelgersma
die Aufnahme mit der Begründung, es
kämea darin unpassende und sinnlose
Wendungen, wie „Verlegung nach oben"
vor. Professor Jelgersmas energisches
Auftreten hatte die Aufnahme des Psy-
choanalytikers in die Redaktton *ur Folge,
so daß die Beurteilung psychoanalytischer
Arbeiten in Hinkunft von einem Sach-
verständigen vorgenommen werden w^ird.
Der Widers tand gegen die Psycho-
analyse, sowohl bei den Ärzten als auch
beini Laienpublikum, hat in letzter Zeit
lugenommen. Der Name „Psycho-
analyse" erregt freilich genug Interesse,
das aber oft sehr zweifelhafter Natur ist.
Manche erhoffen von ihr Okkultes, zum
Beispiel telepathisches Erleben, andere
wähnen von ihr die Erlaubnis zum sexu-
ellen Sich-ausleben au erlangen, wieder
andere haben eine Schwäche für Jung
oder Adler und beharren dabei, auch
dies Psychoanalyse zu nennen. Die große
Masse der kleinen Zeitungsartikel über
Psychoanalyse sowie das Laieninteresse
ist sichtlich jungisch angekränkelt. Sogar
in unserem eigenen Verein geht die To-
leranz so weit, daß offenes Eintreten für
Jung, der doch die Grundlagen der
Psychoanalyse verwirft, nicht als unver-
einbar mit der Mitgliedschaft gilt.
Van der H o o p s „Nieuwe Richtingen in
de Zielkunde" (1920) ist ein treffliches
Beispiel. Dieses sehr erfolgreiche Buch
ist die Ausarbeitung eines Vortragszyklus
an der Amsterdamer Volks Universität und
an der Amersfoorter Schule für Philo-
sophie. Das Buch ist gut, leicht und
fließend geschrieben, aber ohne Zweifel
aus vollem Widerstände heraus. Wo
van der Hoop nicht direkt Kritik an
Freud übt, versucht er seine Lehre ab-
zuschwächen, zu beschönigen. Er schreibt
zum Beispiel, „daß man Freud ganz
mißversteht, wenn man den Begriff des
Ödipuskomplexes auch für den normalen
Menschen besonders schwer auffassen
will. Freud will hier mit dem Kamen
Odipus mehr den Inhalt des Gefühls als
einen klaren Konflikt anieigen." Es scheint
dem Verfasser vor allem daran zu liegen,
dem normalen Menschen den Ödipus-
koniplex überhaupt abzusprechen
und nur den Namen bestehen zu lassen.
Diese Art des hmevölmdam coptare ist bei
den bedingten Anhängern (oder besser:
unaufrichtigen Gegnern) nicht ungewöhn-
lich. Ich habe wiederholt den entgegen-
gesetzten Fehler gemacht, den Leser
durch schroiTe Überrumpelung abge-
schreckt, wo ich meinte, ihn mitreißen
zu können. Wird auch der Erfolg da-
durch sehr hinausgeschoben, so erscheint
mir diese Methode doch angebrachter,
als das scKlaffe Drumhinreden und Be-
schönigen. Sehr gelungen im Buche
Van der Hoops ist der Abschnitt über
die Entwicklung des Gefühlslebens. Im
Abschnitt über den analytischen und syn-
thetischen Standpunkt fällt wiederum die
Einrämnung eines Ausnahmezustandes für
den Normalen auf. Ganz und gar nicht
psychoanalytisch wirkt die durchaus feind-
liche Einstellung dem ü n b e w uß ten
gegenüber. Mit dem ganzen Gewichte
des Kulturnarzißmus betont van der Hoop
die Evolution, die Entwickliuig ziu:
größeren Vollkommenheit. Für Freud,
sagt er, stammt der Impuls zur Ent-
wicklung offenbar vor allem aus der Um-
gebung, ebenso wie bei Darwin die Um-
gebung die neuen Formen schafft. Spätere
Untersuchungen, meint van Hoop, haben
die Unaulänglichkeit dieser Meinung ge-
zeigt und stets mehre sich die Zahl der
Forscher, die eine dem Leben eigene
Entwicklungskraft annehmen. (Vergleiche
Bergson.) So wäre auch im Menschen
eine Tendenz zur Sublimierung möglich.
Die Vernachlässigung dieser innerlich
schaffenden Kraft durch Freud und seine
Anhänger habe eine Reaktion bei ein-
zelnen Psychoanalytikern erzeugt, die auch
dieses schaffende Prinzip würdigen, beim
Ki-
340
Psychoanalytische Bewegung
Menschen individuell einen Sublimierungs-
trieb annehmen, und Raum für die reli-
giösen Begriffe und für den freien Willen
übriglassen, Gani fälschlicherweise spricht
der Verfasser in diesem Zusammenhang
Ton einer „Züricher Schiüe der Psycho-
analyse", für die die Synthese das Kenn-
zeichnende sein soll. Es muß nachdrück-
lich gegen diesen irreführenden Miß-
brauch der Bezeichnung „Psychoanalyse"
protestiert werden. Der Versuch, die Ent-
wickiungsform einer Person als „Cha-
rakter" festzulegen, kann an sich Wert
haben, hat aber nichts mit der Psycho-
analyse zu tun. Die Therapie nach Freud
beiweckt eine Synthese während und
nach einer Analyse — die Methoden
von Jung, ebenso wie alle sonstigen
Methoden eine Synthese ohne Analyse
und dieser negative Zug ist ihre einzige
Beziehung zur Psychoanalyse.
In einem besonderen Abschnitt be-
handelt vanderHoop das Verhältnis
zwischen bewußten und unbewußten Pro-
zesseiv Von Verdrängung und Widerstand
ist darin wenig mehr die Rede. Die
Preudsche Auffassung, welche das Ver-
drängte- betont — gemeint ist wahr-
scheinlich die Verdrängung — wird als
unbefriedigend bezeichnet (S. aSg), weil
darin so wenig mit der Entwicklung neuer
Müglichkeiten aus unbewußten Impulsen
gerechnet werde. Besser findet van der
Hoop die Jungsche Auffassung des Un-
bewußten als Erbmasse. Dann könne die
Telepathie noch nicht erklärt werden,
was einen tieferen Zusammenhang als
kollektives Unbewußte fordern würde.
Die Begriffe der Übertragung und des
Widerslandes wurden neben dem des
Unbevirußten und der Verdrängung früher
von Freud als Kern seiner Lehre genannt.
Auch beim Studium der Gesellschaft bleibt
das wichtig, weil in der Übertragung
schon die Auffassung des Psychischen,
ala Beziehung zwischen den Individuen,
zwischen Individuum und Gesellschaft
enthalten ist. Bei van der Hoop tritt an
Stelle dieser Grundlagen das „Entwick-
lungsprinzip". Das Individuum scheint
nicht mehr in Beziehung zu einer Ge-
sellschaft, nur durch sein Unbewußtes in
Beziehung lu einem nach der religiösen
Erfahrung nicht nur im eigenen Wesen,
sondern auch universell wirksamen Prinzip
zu stehen. (Die Psychologie hat sich von
der religiösen Auffassung Streng geschie-
den zu halten [S. 284]. Betonimg der
Wichtigkeit des Dranges nach Einheit
mit sich seihst imd dem Weltgrunde,
welcher sich in der Religion manifestiert
[S. 286].)
Selbstverständlich will meine Kritik
nicht die Glaubensfreiheit des Verfassers
einschränken^ es steht jedem frei und
wird, wenn die Kirche nicht zu mächtig
vrird, auch in der nächsten Zukunft jedem
freistehen, zii glauben, was er will, auch
von der Psychoanalyse. Es steht aber nicht
frei, sich unter ehrlichen Leuten Psycho-
analytiker zu nennen, wenn man ein
Gegner der Psychoanalyse ist. In' diesem
Buche sieht man einen talentvollen,
eifrigen Denker auf der Flucht vor seinen
Widerständen an seiner Selbstsicherheit
für die psychoanalytische Wissenschaft
verloren gehen.
Ich habe diesem Buche hier weit mehr
Raum gewidmet, als ihm seinem wissen-
schaftlichen Werte nach gebüJirt, weil es
den Stand der psychoanalytischen Bewe-
gung in Holland in typischer Art zeigt:
Annahme der technischenAuB-
drücke und einiger theoretischer
Begriffe, mit Umgehung aller
Konsequenzen, die die eigenen
Widerstände Ledrohen würden.
Die Meinungen des Publikums sind
geteilt. Die katholi sehe Presse ist
feindlich eingestellt. (56 Prozent der Be-
völkerung sind kathohsch.} Auch die katho-
lischen Psychologen und Ärzte haben die
Psychoanalyse in einer besonders ihr ge-
widmeten Versammlung (am 16. Januar
19S3) verworfen. Unter den ausgesprochen
kirchlich protestantischen Autoren
gibt es mehrere Halbanhänger oder doch
solche, die mehrere Gesichtspunkte an-
erkennen, selbstverständlich meistens mit
einer gewissen Vorliebe für Jung oder
Maeder. (L. Eouraan, J. van der
Spek, J. H. van der Hoop, G. V.
Ariens Kappers.), Dasselbe gilt für
die ziemlich große Gruppe der ethisch
oder ästhetisch orientierten Gebildeten,
die sich an irgendeinen Glauben fest-
i
Holland
341
klajninern möchten, aller sich im Christen-
ttim der Kirche nicht heimisch fühlen.
In der liberalen Tagespresse vertritt der
frühere Mitarbeiter dieser Zeitschrift,
Lehrer van Raalte, jetzt einen feind-
lich-freundlichen Standpunkt. Das „Han-
delsblad" hat eine wochenlang erscheinende
feindselige Artikelreihe über Freud ver-
öffentlicht (September 1922). Die große
Masse ist abweisend xaid wo man früher
niu: argwöhnisch war, äußert der Gegner
sich jet'it selbstsicher und zuversichtlich.
Der Ruck nach rechts, die Vemegerung,
hat auch hier stattgefunden, \md damit
feine neue Welle von Glauben und Aber-
glauben hervorgerufen. Kümmerlichist die
Praxis der Psychoanalytiker, indes allerlei
Kurpfuscher, Homöopathen, Gesundbeter,
Somnambulen sich imgeniert breit machen
können. Einer der bekanntesten Nerven-
ärzte bat sich vor seiner Behörde ver-
antworten müssen, weil er sich in einem
Buche nicht verwerfend genug über
Freud geäußert hatte. Um die Be-
kämpfung dieses Aberglaubens hat sich
Adolph F. Meyer in einer Reihe von
Arbeiten verdienstlich gemacht. Van der
Wölk schenkte uns eine Arbeit, in wel-
cher er zeigte, daß zwischen Glauben
und Aberglauben kein wesentlicher unter-
schied besteht.
Der schwarzen Welle gegenüber kann
dankbar ein zunehmendes Durchsickern
einer gewissen Toleranz bei den näheren
Fachgenossen konstatiert werden.
Das ist großenteils der Lehr-
tätigkeit Jelgersmas zu ver-
danken. Man gibt sich im Auslande
kaum genug Rechenschaft darüber, wie-
viel es bedeutet, wenn der Professor der
Neurologie und Psychiatrie einer großen
Universität mit seinem gesamten Stabe
kräftig für die Psychoanalyse eintritt.
Hunderte von Ärzten werden so alljähr-
lich mit der analytischen Auffassung ver-
traut gemacht. In Amsterdam werden von
Professor K. H. Bouman die Elemente
der Psychoanalyse gelehrt. Von den sechs
holländischen Professoren der Psychiatrie
und Neurologie sind Wiersma (Gro-
ningen), Brouwer (Amsterdam), Wink-
ler (Utrecht) neutral oder feindlich;
K. H. B ouman (Amsterdam) und Jel-
Intemat. Z«itsclir. f. Psychoanalyse, X/3.
g e r s m a (Leiden) sind Mitglieder
unserer Ortslruppe, L. Bouman (reli-
giöse Universität Amsterdam) ist tolerant.
In dem eben erschienenen ersten großen
holländischen Lehrbuche der Nerven-
krankheiten, von einer Anzahl Spenialisten
tmter Redaktion von L, Bouman und
Brouwer verfaßt, hat L. Bouman
auch die Psychoanalyse in 16 Seiten be-
handelt. Adler, Jung und M a e d e r
ist je eine Seite, der übrige Raum Freud
gewidmet. Dieses Referat ist im allge-
meinen gut. In der Seite Über Jung
findet Professor Bouman noch Raiun,
um zu envähnen, daß auch Freud Syn-
these erzielen will, aber er nieint, daß
diese auch ohne Eingreifen entstehe.
Während früher nur in der Anstalt
den Dolder analytisch gearbeitet wurde,
sind jetzt in sechs von den 26 holländi-
schen Irrenanstalten — Endegeest (Leiden),
Oud-Rosenburg (Haag), St. Joris (Delft),
Medemblik, W, A. Hoeve (den Dolder),
Bakkum — unter den Ärzten mehr oder
weniger geübte Vertreter der Analyse
oder sich für sie Interessierende. Von den
größeren Sanatorien findet die Psycho-
analyse nur in „Rhyngeest" Verwendung.
In Amsterdam sind in der großen „Klinik
Li^beault" (eigentlich Poliklinik) die drei
Ärzte (vanRenterghem, van der
Chijs, Westerman Holstijn)
auch analytisch tätig.
Eine gewisse Vorschule bildet die
Leidener „Vereinigung für Psychoanalyse
und Psychopathologie", die am 8. Juni
1920 ihre erste wissenschaftliche Sitzung
hielt und sich monatlich versammelt. Bis
Juli 1923 wurden ao Sitzungen abgehalten.
Mehrere Mitglieder unserer Ortsgruppe_
gehören auch dem Leidener Verein an.
Seit einigen Jahren haben wir in v a n der
Wölk (jetzt in Insulinde) auch einen
ausgezeichneten Vertreter der nichtmedi-
zinischen Psychoanalyse, einem zweiten,
der vor allem diu-ch Tatkraft tmd Be-
geisterung auffällt, Varendonck (seit
Niederschrift dieser Übersicht leider
verstorben, siehe das vorige Heft dieser
Zeitschrift), verdanken wir jetzt die erste
Doktor-Dissertation auf psychoanalyti-
schem nichtmedizinischen Gebiete. (Über
ästhetische Symbolik, Antwerpen 1923.)
34»
Psychoanalytische Bewegung
In der belletristischen Literatur
haben sich die Spuren dÄ Einwirkung
der Psychoanalyse außerordentlich ver-
mehrt. So stehen zum Beispiel im Mittel-
punkte von drei Dramen von J. A. Simons-
Mees(„Aus dem Geheimen seihst", „Ver-
gessene Liebe", „In höheren Sphären")
Darstellungen von Wun Scherfüllungen in
Träumen. Eine längere Besprechung ver-
diente, wenn der Raum nicht so knapp
wäre, ein Werk von A. Roland Holst.
Es ist die 1925 in „De Gids" erschienene
heroische Erzählung „Die Verab-
redung", die über den Doppelgänger,
über Gott, üher Mutter und Tod so in-
tensiv erlebte und erschreckend unmittel-
bar dargestellte Gedanken enthält, dafl
jeder Psychologe sie lesen sollte. Aus
einem friiheren Gedichte desselben Autors
zitiere ich folgende Zeilen:
„Er is in alle mirjne groot
Het donker singen, van den dqod,"
(„Es ist in aller großen Minne
Der dunkle Sang des Todes inne.")
Auch Carry van Brügge n, eine
begabte jüdische Autorin, Schwester des
Sängers der homosexuellen Knabenliebe,
Jacob Israel de Haan, hat in einem zwei-
bändigen Werke, „Prometheiis", die Iden-
tität von Liebe und Todestrieh betont.
Ende 1923 erschien „De sage van den
Vliegeuden Hollander" von G. Kalff )r.
Der Verfasser ist bestrebt, die Psycho-
analyse auf die Geisteswissenschaften an-
zuwenden. Wenn auch seine Selhstnnalyse
noch einer gewissen Vertiefung bedarf,
ist es erfreulich, in ihm einen neuen zu-
künftigen Mitarbeiter begrüßen zu können.
Schließlich sei erwähnt, daß von Hol-
land aus auch manches für die Verbreitung
der Psychoanalyse in anderen Ländern
getan wird. Unser van Ophui) sen, der
schon mit Erfolg den Samen der Psycho-
analyse in St. Petersburg gesät hatte,
ist im Sommer 1935 auch in Frank-
reich für die Psychoanalyse eingetreten.
Er hielt in Paris Vorträge für ein aus
Assistenten und ehemaligen Assistenten
der Claude sehen Klinik bestehendes
Publikum.
A. Stärcke (den Dplder).
Im Verlage „Maatschappij voor goedo
en goedkoope Icctuur", Amsterdam, er-
schien soeben eine holländische
Übersetiung von Freud: Masse n-
psychologie und Ich-Analyse
[übersetit von Dr. N, van Suchtelen)
unter dem Titel „Het jk en de psycho-
logie der massa" in d^r Sammlung
„Handboekjes elck 't bestes."
EINE FREUD-BIOGRAPHIE
(Fritz Wittels: Sigm. Freud. Der Mann, die Lehre, die Schule, E. P. Tal
Verlag, Leipzig, Wien, Zürich, 1924.. — Englische Übersetzung von Eden and Gedar
Paul. George Allen & ünwin, London, 1924.)
Ein fremder Analytiker, offensichtlich
gekränkt diu:ch die verzerrte Darstellung
der Persönlichkeit Freuds in diesem
Buche, nannte es „ein neues Phantasie-
produkt dieses begabten Novellisten".
Meiner Meinung nach — und Freud
stimmt ihr augenscheinlich bei — ist dies
eine ungerechte Beurteilung, Die Vorzüge
dieses Buches sind ebenso oifenbar wie
seine Mängel, und es ist leicht, die Ur-
sachen der letzteren aufzuzeigen. Es ist
gut und interessant, sogar imterhaltend
geschrieben und zeigt mindestens ebenso-
viel Aitfrichtigkeit, Befähigung und Ge-
rechtigkeitssinn, wie in den psycho-
analytischen Veröffentlichungen Außen-
stehender gewohnlich zu finden ist, wo-
mit allerdings noch nicht sehr viel ge-
sagt sein muß. Ich werde in der Folge
nachweisen, daß sich selbst nach der
Richlnng der drei obenerwähnten Quali-
täten auffällige Mängel zeigen, die ja
gerade in einer derartigen Schrift von
wesentlicher Bedeutung sind.
Vor allem muß man sagen, daß das
Buch seinen Hauptzweck verfehlt hat, der
doch jedenfalls darin bestand, ein an-
nähernd genaues Ebenbild von Freuds
Eine Fre u d - B iograph i e
345
Persönliclikeit 2ti entwerfen. Für jemand,
der Freud nahe steht, ist das Bild einfach
unkenntlich j entnähme man es nicht aus
dem Znsamme nhang, man wriirde die
dargestellte Persönlichkeit nicht als die
Freuds erkennen. Die Betrachtung- erfolgt
aus schiefen Perspektiven. Die charakte-
ristischen Merkmale der Persönlichkeit
Freuds werden entweder üherhaupt nicht
erwähnt oder so wenig scharf gei ei chn et,
daß sie keinen Eindruck hinterlassen.
Anderseits sind die meisten Charakt erlüge,
die im Buche immer wieder in den
Vordergrund gerückt werden, wie die
angebliche Intoleranz xvnd Eifersucht, ent-
weder tendenziös übertrieben oder un-
richtige Folgerungen aus Tatsachen, deren
liickenloEe Kenntnis zu einer anderen Aus-
legung geführt hätte. Es ist also nicht
zuviel gesagt, wenn man das so ent-
standene Bild als Karikatur bezeichnet.
Wir wollen nun erwägen, ob der Autor
üherhaupt cfuah'fiziert ist, diese Biographie
zu schreiben. Er ist zweifellos ein kluger
und begabter Schriftsteller. Das sind
wohl ausgezeichnete Eigenschaften, aber
sie genügen nicht, um ein Werk von
dauerndem Werte au schaffen. Dazu
muß man den Stoff beherrschen und ihn
objektiv beurteilen können, und Wittels
versagt in beiden Beziehungen. Er schöpft
seine Angaben ans dreierlei Quellen, aus
seiner persönlichen Kenntnis, aus Freuds
Schriften und aus dem Hörensagen. Er
besuchte Freuds Vorlesungen und stand
einige Jahre hindurch mit ihm in beruf-
lichen! Kontakt, der aber seit ij Jaliren
vollkommen unterbrochen ist; er gehörte
niemals au den „Intimen" Freuds, wie er
selbst behauptet. (S, lo, engl. 48.) Diese
für ihn wichtigste Informationsquelle
leidet unter einer oifenbar subjektiven
Parhung, worüber späterhin noch mehr
gesagt werden soll. Femer hat er von den
biographischen Daten, die in der „Traum-
deutung" verstreut vorkommen, einen sehr
zweifelhaften Gebrauch gemacht. Man
weiß, wie lange Freud mit der Herausgabe
eines Buches zögerte, das notgedrungen
solche Intimitäten enthalten mußte, aber
eine so unberechtigte Verwendung konnte
•er trotzdem nicht voraussehen. Aus ihrem
Zusammenbang herausgerissen, ohne Bei-
fügtmg der für jede glaubhafte Analyse
nötigen Daten imd Assoziationen, werden
sie willkürlichen und in manchen Fällen
geradezu inkorrekten Auslegungen imter-
worfen, die man entschieden als tendenziös
bezeichnen muß. Die dritte Quelle seiner
Informationen, Tratsch und Klatsch, ist
natürlich die irreführendste, so daß man
über sie kein Wort zu verlieren braucht.
Das Buch ist, im großen und ganzen,
ohne Bosheit und in gutem Glai^hen ge-
schrieben. Die einzige Ausnahme in dieser
Beziehimg, abgesehen von der tendenziösen
Gnmdlage, ist eine ungezügelte Vorliebe
— zweifellos journalistischen Ursprungs
— für Sensation und Übertreibung. Biese
kann die relativ harmlose Form annehmen,
die Färbung einer Erzählung etwas au
verstärken, wie z. B. heim Bericht über
den Nürnberger Kongreß, oder aber es
entstehen schwerwiegende Entstellungen
der Wahrheit daraus. Ein Beispiel hie-
für ist der Bericht Über „die Selbstmorde
m Wien"; die betreffende Stelle lautet
wörtlich ; „Man mög^^ aus den Selbstmorden
der Analytiker lernen, die sich mit den
Träumen ihrer Kranken beschäftigt haben,
und ihr eigenes Unbewußtes in den.
Träumen der anderen wie in einem Zerr-
spiegel erblickten, so daß ein Grausen
sie faßte und in den Tod trieb. Otto
Weiuinger war einer, der ein Stück Selhst-
analyse hinwarf, ein verzerrtes Bild seines
Unbewußten, das ihm den Revolver in
die Hand drückte. Drei geistreiche Ana-
lytiker hatte ich gekannt : Schrötter, Tausk,
Silberer. die freiwilHg aus dem Lehen
schieden. Nur in Wien allein." Die Psycho-
analyse ist seit ihrem Bestehen schon für
alles mögliche verantwortlich gemacht
worden, doch ist dies wohl das erste Mal,
daß der Versuch unternommen wird, in
ihr Sündenregister auch die Schuld an
Weiningers Tod aufzunehmen. Wit-
teis, der wohl ein Studienkollege Wei-
ningers gewesen sein konnte, muß ganz
gut wissen, daß zur Zeit des Selbstmordes
die Psychoanalyse noch kaum geboren
war und daß das einzige erschienene
Euch von Freud damals die „Traum-
deutung" war und daI3, selbst wenn
Weininger es gelesen hätte — es wäre
dies seine hauptsächliche Beziehung zur
^3*
344
Psychoanalytische Bewegung
Psychoanalyse gewesen — diese Tatsache
absolut nicht mit semem Tod in Beziehung
gebracht werden kann. Was die anderen
„geistreichen Psychoanalytiker" anbelangt,
so war Schrötter allgemein als Gegner
der Psychoanalyse bekannt und wohl
niemals Mitglied der Wiener Psycho-
analytischen Vereinigung. S i 1 b e r e r,
dessen Arbeiten auf psychoanalytischem
Boden erwuchsen, bevor er sich in Oppo-
sition 2u ihr Stellte, hatte seine Be-
liehnngen tu der Wiener Gruppe schon
viele Jahre vor seinem Tode sehr ober-
fläcUich gestaltet. Und Tausk, der
einzige von den Vieren, der in dem Sinne
des Wortes als Analytiker gelten kann,
litt von vornherein an schweren Störungen
und mußte eben auf solche Weise enden.
Aber eine FeststeUung der nackten Tat-
sachen hätte das Buch einer effektvollen,
von den Kritikern begierig aufgegriffenen
Sensation beraubt. Sich das entgehen zu
lassen,, brachte Witteis nicht Über sich.
Wir kommen nun inm Leitmotiv des
ganien Buches. Erstaunlich wenig wird
über Freuds Jünger und Mitarbeiter ge-
sagt, die Eeinet Lehre treu geblieben
sind, und sehr wenig über die Ausbreitung
der psychoanalytischen Bewegimg über
die ganze Welt. Hingegen ^vird ganz un-
verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit und
Nachdruck für die Meinungsverschieden-
heiten zwischen Freud imd einigen seiner
früheren Anhänger verwendet. Es wird
ausdrücklich an der Behauptung festge-
halten, daß Streitsucht, Reizbarkeit, Eifer-
sucht und Unduldsamkeit zu den hervor-
stechendsten Charakterzügen Freuds ge-
hören ; über den Bruch mit seinem Freunde
Breuer sowie mit Fließ, ebenso wie über
den Bruch mit seinen Schülern Adler,
Jung und Stekel wird in diesem Sinne
berichtet. Die Erzählung dieser imerfreu-
lichen Ereignisse ist sehr unvollständig.
Einige wesentliche Tatsachen fehlen, ent-
weder weil sie der Verfasser verschwieg
oder weil sie ihm nicht bekannt waren.
Doch genügen die auch dem großen
Publikum bekannten Tatsachen, wenn sie
in der Darstelkmg nicht ausdrücklich
entstellt werden, um beträchtlichen
Zweifel an Witteis' Folgerungen zu er-
wecken. Zwei von diesen Trennungen,
die von Breuer und Adler, beruhten
ausschließlich auf wissenschaft-
lichen Meinungsverschiedenheiten, der
Fall Jung hatte wissenschaftliche und
persönliche Gründe, die anderen zwei
waren rein p er s ö n H ch e r Natur. Es
ist ganz augenfäUig, daß die Trennung
Freud in allen fünf Fällen sehr schmerzte,
daß er sich große Mühe gab, sie zu ver-
meiden, und daß er nur Stekel gegen-
über eine aktive Rolle spielte. Beti-achten
wir die einzelnen Fälle genauer. Es ist
bekannt, daß sich Breuer allmählich
von der Mitarbeit zurückzog, weil er
Freuds Ansichten über die Sexualität nicht
lu teilen vermochte, daß er auf ver-
schiedene Antrage und Bemühungen von
Seiten des letzteren nicht reagierte, daß
es aber nie zu irgendeinem Streit zwischen
ihnen kam. Das Zerwürfnis mit Fließ
hatte ganz persönliche Ursachen und ging
von diesem selbst aus. Die vollständigen
Einzellieiten sind nie in die Öffentlichkeit
gelangt, so daß man über die Angelegen-
heit nichts Abschließendes aussagen kann,
doch scheint das entscheidende Moment
Fließ' ungerechtfertigte Empfindlichkeit
in Bezug auf seine Priorität in einer Ent-
deckung gewesen zu sein, die diu-chaus
nicht sein alleiniges Eigentum war. Wenn
wir heute auf diese Angelegenheit zurück-
blicken, 80 wundem wir uns nur, daß die
Widerstände gegen das Unbewußte
— wir verstehen jetzt besser, wie
schwierig es ist, sie vollkommen zu über-
winden — nicht zahlreicher waren, und
wir müßten daher auch auf das Vor-
kommen ähnlicher Ereignisse in der
Zukunft vorbereitet sein. Der erste Fall
war der von Adler. Witteis gibt einen
klaren Bericht über Adlers Anschauungen,
kritisiert sie scharf und legt ihre Ober-
fLächUchkeit dar; er erklärt sogar, wie
Freud die von Adler aufgefundenen
Phänomene seiner Theorie einzuordnen
versuchte. Trotzdem behauptet er, daß
Freuds Abneigung, Adlers oberfläch-
liche Formel zu akzeptieren, nur auf
seine Eilersucht, Intoleranz und Unfähig-
keit, „diese Formel zu verdauen", zurück-
zuführen sei. Die Behauptung, daß wir
sehr viel von dem, was Freud nach 1305
produziert hat, als einen Abwehrkampf
Eine Freud-Biographie
345
gegen Alfred Adler und dessen Haupt-
gedanken anzusehen haben" (S. lOö,
engl. 124), ist au lächerlich, um einer
Widerlegimg zu bedürfen. Dabei gibt
Witteis aber zu, daß Freud große An-
strengungen machte, um Adler versöhn-
lich lu stimmen, daß er ihn Präsident
der Wiener Vereinigung werden ließ,
und es ist ganz hJar, daß nichts Adler
gehindert hätte, seine eigenen Wege zu
g^en, wie er es schließlich auch tat. Jungs
erstaimlicheVerwerfimgderPsychoanalyse,
die für Freud eine große Übeiraschung
und Enttäuschung war, und sicherlich
nicht durch irgendeine Handlung oder
Stellungnahme von seiner Seite hervor-
gerufen wurde, wird interessant imd
lebendig geschildert: „Dem Siegfried von
BurghÜlzli galt der Ödipuskomplex für
einen Drachen. Da für Kalvin und Freud
zugleich nicht Platz ist in den Herzen,
haben sich die Schweizer naturgemäß für
ihren Nationalhelden entschieden" (.S. 170,
engl. 187). Was aber das Wesentliche
anbelangt, so ist Witteis hier viel weniger
informiert als im Falle Adler, so daß er nur
bereits landläufig Bekanntes mitteilen kann.
(Hier hat sich übrigens ein chrono-
logischer Fehler eingeschlichen; Jimg war
nicht von 1915 bis 1915 Präsident der
„Internationalen Vereinigung", denn er
dankte im Jahre 1914 ab.) Was den dritten
Fall (S t e k e 1) anbelangt, so gibt Witteis
naiv zu: „Ich erkläre mich für befangen
und nicht berufen. Recht und Unrecht zu
beurteilen" (S. 198, engl. 217). Wir he-
ginnen hier augenscheinlich an seine
eigene Komplexe zu rühren, denn man
kann sich nur schwer des Eindruckes er-
wehren, daß er sich unbewußt ganz mit
Stekel identifiziert, wie er sich ja auch
öffentlich mit ihm verh\ujden hat, Be-
scheidenheit und Verherrlichung alter-
nieren in seinem Bericht über Stekel.
Ich weiß schon, daß Freud eine säkulare
Erscheinung und Stekel an Format mit
ihm nicht au vergleichen ist" (S. 206,
engl- 2z6). Trotzdem heißt es dann wieder:
„So kommt es, daß man heute der ,Traum-
deutung' aus anderen Werken leichter
nahe kommt als aus dem Original. Am
besten wohl unbestritten aus Stekels
.Sprache des Traumes'" (S. 62, engl. 72)
und „Femerstehende Gelehrte bekommen
den Eindruck, daß Stekel von allen
Schülern Freuds der glücklichste und der
logische Erbe der Psychoanalyse sei
(S. 205f., engl. 225). Stekel ist „Freuds be-
deutendster Schüler", wird die Mitwelt zu
ihrem größten Erstaunen erfahren (obwohl
uns auch so nebenbei mitgeteilt wird, daß
„Adler einer der bedeutendsten Schüler
Freuds ist" [S. 129, engl. 151] — aber
dann war Adler doch trotz aller seiner
Fehler wenigstens ein Wiener!). Warum
gingen sie dann doch auseinander? „W^elch
ein Verhängnis . . . Was für eine unge-
heure Anregung konnten diese beiden
Männer einander bieten" (S.2o6,engl.225).
Dieser Anti-Climax enttäuscht, nachdem
unsere Neugier so auf die Folter gespannt
worden ist. Abgesehen von einigen vagen
Bemerkungen, daß Freud durch Jen Bruch
mit Stekel einen Teil seines Ichs von
sich stieß, erfahren wir dann, daß
„der äußere Anlaß des Bruches zwischen
Freud und Stekel, soweit mir bekannt
wurde, zu unbedeutend ist, um mitgeteilt
zu werden" (S. aig, engl, 352). Infolge
eines merkwürdigen Zusammentreffens
sclieint es sich beim. Bruche Freuds mit
Witteis auch so verhalten zu haben, weil
er diesen Grund nirgends erwähnt, ob-
wohl er sonst gar nicht so verschwiegen
ist, wenn es sich darum handelt, seine
Person irgendwo im Buche in den Vorder-
grund zu drängen. Nun gibt es aber eine
Anzahl Personen, die die Ursache dieses
Bruches aus erster Quelle erfahren haben:
in keinem der beiden Fälle etwas, was
den beiden Schülern zur Ehre gereicht.
Hinc illae lacrimae! Deshalb ist es so wichtig,
darauf zu bestehen, daß jedes in Freuds
Leben vorgefallene Zerwürfcis auf Konto
seiner Reizbarkeit, Streit- und Eifersucht
und seiner Intoleranz zu setzen sei. Es
ist ganz richtig, wenn die Schlußworte
dieses Buches gesperrt gedruckt werden:
Sigmund Freud 1925, gesehen
durch ein Temperament. Es ist
nur jammerschade, daß diese Worte nicht
an erster Stelle auf dem Titelblatte des
Buches stehen.
Die Frage jener Zerwürfnisse ist an
und für sich nicht von großer histo-
rischer Bedeutung, obwohl sie psycho-
346
Psychoanalytische Bewegung
logisch gewiß interessant ist. Sie wurde
hier auch ziemlich weitläuiig behandelt,
weil der Referent den Eindruck hat, daß
sie den Kernpunkt des Buches bildet,
und er in dieser Ansicht auch durch
mehrere Besprechungen bestärkt wurde,
von denen diese Berichte eifrig- als end-
gültiger Be\veis für die Unerfreiilichkeit
der Psychoanalyse hingestellt wurden.
Ebenso widerspricht auch die wieder-
holte Behauptung, daß Freud Unab-
hängigkeit oder Originalität der Ideen
unter seinen Schülern nicht ertragen kann,
den wirklichen Tatsachen. Er unterlaßt
es sogar — was ihm vielleicht eher als
Fehler angerechnet werden konnte, — an
den Beiträgen seiner Schüler Kritik zu
ühen oder sie zu beeinflussen, da er es
vorzieht, daß sie unabhängig und un-
beeinflußt publiziert werden. Es gibt
scliriftliche Beweise dafür, daß er sich
dieses Verhalten zum Prinzip gemacht
hat"
Es wäre noch einiges darüber zu er-
wähnen, wie Witteis die verschiedeneu
Probleme der psychoanalytischen Theorie
i) Eine Bemerkung zu einer Kleinig-
keit. Um seine Behauptung über Freuds
angeblichen Despotismus zu stützen, ver-
weist Witteis auf den harten Kampf um
das Wort „Psychoanalyse" und will im
folgenden zeigen, wie Freud seine An-
sichten seinen Schülern aufzwingt. „Der
Schöpfer der Sache hält sein Wort mit o
für wohlklingender und hat seine Schüler
zu verpflichtet" {S. 245, engl. 14,4).
Es ist wahr, daß, wie hei so vielen
anderen symptomatischen Handlungen,
verscliiedene Autoren diirch die Bevor-
zugung einer oder der anderen Schreib-
weise ibre Stellungnahme zu den in
diesem Begriff subsumierten Ideen ver-
raten, aber wie wenig Freud persönlich
damit zu tun hat, mag die folgende Anek-
dote bezeugen. Ich fragte ihn einmal um
seine Meinung in dieser Angelegenheit und
er gab mir die charakteristische Antwort:
„Ich kann Ihnen nur mit den Worten
antworten, die Bismarck gesagt haben
soll, als man ihn 1871 in Versailles fragte,
ob der zukünftige Titel seines Herrn
,Deutscher Kaiser' oder ,KBi5er von
Deutschland' sein werde: ,Ich kann mir
nichts vorstellen, das mir wiu-stiger (inagis
fareimentum) sein könnte'."
behandelt. Im allgemeinen sind sie korrekt
imd fesselnd dargestellt imd auch inter-
essant, verfügt doch Wittels über einen
flüssigen Stil. Doch ist es sehr lu be-
dauern, daß alles so überladen ist und
verquickt mit Bemerkungen darüber, was
Witteis selbst von den behandelten Fragen
hält. Dies geht so weit, daß einer der
Rezensenten, dem dieses Stoffgebiet offen-
bar ganz imbekannt ist, den Verfasser ,
naiv als „Freuds Rivalen" bezeichnet.
Überdies sind auch einige Mißverständnisse
vorhanden, die aufgezeigt werden müssen.
Freud ist nicht der Meinung, daß „der
Geburtsakt Quelle und Ursprung des
AngstafFektes sei (S. 45, engl. 51), sondern
daß die physiologischen Begleiterschei-
nungen des Geburtsaktes, die aus der
Asphyxie entstehen, das Prototyp der
späteren Erscheinungen der Angst schaffen,
eine Ansicht, die durchaus nicht mit der
obenerwähnten übereinstimmt. Wittels
verwechselt Metapsychologie und Meta-
physik (S. 45, engl. 55 f.) in einer Weise,
die seine vollkommene Unvertrautheit auf
diesen beiden Gebieten verrät. Er sagt
auch (S. 71, engl, 85), daß Freud „bis lum
heutigen Tage es niemals anerkannt"
habe, daß der Traum auch Vertreter der
Sittlichkeit sei. .4uf welche Faktoren führt
dann seiner Meinung nach Freud den
Konflikt zurück, dem er die Entstellung
des verdrängten Wunsches zuschreibt?
Die Moral ist sicherlich einer der wicli-
tigsten Paktoren auf Seite der verdrängen-
den Kräfte und Freud ist sogar so weit
gegangen (auf dem Haager Kongreß), daß
er einen besonderen Ausdruck „Straf-
träume" für eine Sorte von Träumen
prägte, in denen der sittliche Impuls die
dominierende Rolle spielt. Zur Unter-
stützung seiner eigenen Behauptungen
sagt Wittels, daß Freud seine Traum-
deutungstheorie für tabu erklärt und
niemals eine Modifizierung oder Er-
weiterung gemacht oder zugelassen hat.
Es ist ja richtig, daß Freud seine
Theorie der Welt in so ungewöhnlich
vollendeter Form übergab, daß wenig
hinzuzufügen war, bis sie ganz assimiliert
war; aber man muß hier Silberers
Schwellensymbolik, Stekels zahlreiche
Beiträge lur Traumdeutung, die Arbeiten
Psychoanalyse und Schopenhauer
547
von Rank u. a. über Beiiehungen zwischen
Traum und Phantasie und schließlich und
endlich Freuds eigene bedeutende Nach-
träge zu den späteren Auflagen der
Traumdeutung und separat publizierte
Arbeiten ausnehmen. Schließlich kann man
die Behauptung, daß in Freuds letzten
Werken „die Ichtriebe in die Versenkung
fallen, wohin sie seit langem gehören"
(S, 182, engl. 200), nur mit dem Rat
an den Autor beantworten, diese Bücher
zu lesen, denn Freud hält in ihnen so
entschieden als nur je an der dualisti-
schen Auffassung des Seelenlebens fest.
Witteis wurde offenbar dadurch irre-
geführt, daß er das Ich mit seiner
narzißtischen Besetzung verwechselte.
In der eng-li sehen Übersetzung sind
einige fehlerhafte Angaben korrigiert
worden und es wurde ein charakteristischer
Brief Freuds eingefügt, worin dies dem
Autor für die ihm zugedachte Ehrung
dankt, aber über das Buch seine Miß-
billigung ausspricht.
Dr. Emest Jones (London).
PSYCHOANALYSE UND SCHOPENHAUER
Am a^. Oktober 1924 hielt Sanitätsrat
Dr. G. Wanke (Friedrichroda in Thü-
ringen) gelegentlich der Tagung der
S cliopenbauer-Gesellachaft"
in W e i m a r einen Vortrag über „Psycho-
analyse und Schopenhauer".
In der Einleitimg gab Redner, aus-
gehend von dem Satz Spinozas:
qffectus tjiii passio est, desinit esse passio,
simiilatque ejus darum et diitmctam forma-
ijais ideam ^Ethik V, prop, III), imd dem
Weiterausbau dieses Satzes zunächst durch
Breuer und Freud, später durch
letzteren allein, einen Überblick über
Geschichte und Wesen der Psychoanalyse.
Unser Bewußtsein enthält nicht nur be-
wußte, sondern auch „unbewußte" Ele-
mente. Unbewußt = dem Bewußtsein
zur Zeit nicht zugänglich, aber doch
wirksam. Die Psychoanalyse hat die Auf-
gabe, die unbewußten Vorstellungen be-
wußt zu machen, wodurch sie ihren
krankmachenden Charaltter verlieren. Hier
kommen besonders Angstgefühle, Zwangs-
er scheinungen, Verstimmungen und Hem-
mungen aller Art in Betracht.
Schopenhauer proklamierte schon
mit der Namengebung seines Hauptwerkes
ein Programm, welches sich der psycho-
analytischen Auffassung anpaßt : „Die
Welt als Wille und Vorstellung", die
Vorstellung eine Fiktion im Sinne V a i-
h i n g e r s und gleicherweise in psycho-
analytischer Auifassung. Willen imd Vor-
stellung, im Sinne des transzendentalen
Monismus eins, präsentieren sich dem
Empiriker als zwei Begriffe. Der Psycho-
analytiker trennt Vorstellung und Affekt.
Affekt stets das Sekundäre. Dem Meta-
physiker erscheinen Vorstellung und Affekt
als eins, als untrennbar, als „WiUe imd
Vorstellung".
Auch Schopenhauer kannte den
Begriff des Unbewußten. Nach ihm
wird das bewußte Denken des Philo-
sophen durch seine Instinkte „heimlich
geführt". Die Psychoanalyse lehrt, daß
auch der Dichter, der Künstler, der Ver-
brecher und — der Neurotiker heimlicb
geführt, das heißt durch unbewußte Ge-
danken angetrieben imd geleitet wird.
Schopenhauer erkannte die hohe
Bedeutung des Geschlechtstriebes, welche
die Psychoanalyse erfahrungsmaßig ge-
funden hat.
Alle neurotische Angst geht nach
Freud auf verdrängte, weil unerlaubte
Wünsche zurück. Schopenhauer
vermutet, daß „doch etwas da sei, das
mir nur eben verborgen blieb", wenn er
sich ängstigt. Wir wissen : Die eigent-
liche, angstmachende Vorstellung ist
immer unbewußt.
Von den Träumen' weiß Schopen-
hauer, „daß es doch nur unser eigener
Wille ist", der darin als Regisseur auf-
tritt, und daß wir aufwachen, wenn wir
den „Ungeheuern der schweren, grauen-
haften Träume" nicht andere entgehen
können.
Auch der Begriff der „Verdrängung" ist
Schopenhauer bekannt. Er spricht
348
Psychoanalytische Bewegung
von „üherwältigeii" oder von „fortwährend
iiirückdrängeii". Peruer kennt Schopen-
hauer die Begriffe des „Widerstandes"
und der Amhivalenz. Er spricht von
der „Dupüzität" seines eigenen Wesens.
Dieser letzteren, die ein Vorredner „die
Diskrepanz zwischen Schopenhauers
Leben und Lehre" nannte, hat man es
letzten Endes lu danken, daß es — eine
Schopenhauer-Gemeinde gibt.
Die Psychoanalyse lehrt, daß auf allen
Gebieten des psychischen Geschehens
strengste Gesetzmäßigkeit herrscht.
Schopenhauer ist vor hundert
Jahren (wie vor ihm Spinoza) au der-
selben Auffassimg gekommen.
In der Diskussion ergd) sich dem
Vortragenden noch die Gelegenheit, auf
das Hauptgebiet der Verdrängung: die
breite und vielen unbequeme Frage des
Geschlechtslebens einiugeheu. Man be-
seitige alle Unaufricliligkeit und Prüderie
,bei der Erörterung dieser Fragen und
man wird einen beträchtlichen Teil der
durch die moderne Kultur ans aufge-
zwungenen Verdrängungen imnütig
machen, wodurch den kommenden Gene-
rationen viele Anlässe erapart werden
würden, durch die man krank und un-
glücklich werden konnte.
(Autoreferat)
UNIVERSITÄT WIEN
An der medizinischen Fakultät
der Universität Wien werden im Winter-
semester 1924/25 folgende Kollegien ge-
lesen :
Dozent Dr. Paul Schilder: „Psycho-
analytische Demonstrationen."
Dozent Dr. Pelix Deutsch: „Organ-
neurosen" imd „Technik der Psycho-
therapie in der inneren Medizin."
Dozent Dr. Josef K. Friedjung:
„Zusammenhang xwischen Erziehung und
Erkrankungen des Kindes alters."
Dozent Dr. F r i e d ] u n g hielt außer-
dem am 27. November im Rahmen des
„Internationalen Portbildungskurses" der
Universität Wien einen Vortrag über
„MilieucTkrankimgen des Kindesalters".
Dozent Dr. Felix D e u t s c h hat im
Krankenhaus Wiedcn ein Ambulato-
rium für nervöse Organkrank-
heiten eröffnet.
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Dr. M. Eitingon, Zentralsekretär
BERICHTE DER ZWEIGVEREINIGUNGEN
AMERICAN PSYCHOANALYTIC ASSOCIATION
Die jährliche Versammlung der Ame-
rican Ps.-A. Association fand in Atlantic
City, Hotel Traymore, am 3. Juli 1924
statt. Es wurden eine Abend- und Nach-
niittagsitiUHg abgehalten, beide von Mit-
gliedern und Gästen gut besucht. Von Mit-
gliedern waren anwesend : DDr. B 11 r r o w
und Taneyhill aus Baltimore, White
aus Washington, C o r i a t aus Boston,
Reed aus Gincinnati, Farnel aus
Providence, S m e 1 1 z aus Pittsburgh,
OberndoTf, Jelliffe, Brill imd
Stern aus New York. Dr. C. P. Obern-
d o r f hatte den Vorsitz.
Nach Verlesung und Annahme
des Protokolls der Toriährigen Ver-
sammlung wurde die wissenschaftliche
Sitzung durch Dr. G o r i a t eröffnet mit
einem Vortrag: ,,Über die urethral-
erotischen Charakteraüge" ; dem folgte
ein Vortrag von Dr. A. Stern (New York);
Psychoanalytischer Erklärungsversuch von
Spontanheilungen bei Psychoneurosen."
Die Mitglieder und Gäste hatten dann
das seltene Vergnügen, einen Vortrag
unseres ausgezeichneten Gastes, Dr. Otto
Rank aus Wien, „Über das Trauma der
Geburt und seine Bedeutung für die
psychoanalytische Therapie" zu hören.
Der wissenschalllichen Sitzung folgte
die geschäftliche ; einstinunig wurden in
den Vorstand folgende Herren gewählt:
Zum Vorsitienden Dr. I. H. Coriat
(Boston), mm Sekretär Dr. Adolph Stern
(New York), zu Beiräten die DDr. S. E.
Jelliffe und Brill (New York) und
Trigant B u r r o w (Baltimore).
Folgende neue Mitglieder wurden
gewählt :
Aktive Mitglieder: DDr. G. Strag-
nell, A. Polon, J. J. Asch, B. Glueck,
L. Blumgart (alle New York), H. S.
Sullivan (Baltimore), M. W. Peck
(Boston), K. C, Menninger (Topeka).
Ehrenmitglieder: Dr. K. Abraham
(Berlin), Dr. Otto Rank (Wien), Dr. S.
Ferenczi (Budapest). ^
Die Abendsitzung ivar folgenden Vor-
trägen gewidmet :
1 . „Unsere Massenneurose" von
Dr. Trigant B u r r o w (Baltimore).
2. „Bemerkimgen über falsche Geständnisse
auf Grund eines illustrativen Falles",
Dr. Reed (Gincinnati). 5. „Der Oral-
komplejc", Dr. Sullivan (Baltimore).
4. „Die psychischen Systeme von Freud",
Dr. Thompson (Los Angeles). — Eine
rege und interessante Diskussion fand statt.
Dr. Adolph Stern
Sekretär
350
Korrespondenzhlatt
BERLINER PSYCHOANALYTISCHE VEREINIGUNG
II. Quartal 1924
6. Mai 1924. Kleine Mitteilungen.
Dr. Abraham: Über Angst der Patienten
vor den freien Assoziationen, — Frau
Klein; Die Wirkung; von Unterbrechungen
im Verlaufe von Kinderanalysen. —
Dr. LÖivenstein: Über eine Form des
Widerstandes beim Zwangs Charakter. —
Dr. S i nt m e 1 : Aiialyse eines Zahlen-
beispiels im. Traum. — Dr. Abraham:
Die Reaktion eines Homosexuellen auf
den Tod der Mutter. ^ Dr. Erwin
G o h n (a. G.) : Eine Trauerreaktion, —
Dr. Radd (a. G.) : Wiederholungstraum
und reale Reproduktion in der analytischen
Kur, — Frau- Klein: Wirksamkeit des
Uber-Ich im 4. Lebensjahre eines Kindes.
13. Mai 1924. Bericht von Dr. Müller
über den Internat. Pliilosophenkongreß
in Neapel«, seinen Vortrag: Philosophien.
PsA. — Dr, F e n i c h e 1 : Zum Problem-
kreis :„Kastratiouskoniplexu.Introiektioii."
27, Mai 1924, Dr. Alexander:
Elementameurosen des frühesten Kind-
lieitsalters.
5. Juni 1924. Dr. Löwenstein: Über
induzierte Affekte. — Dr. Radd {a. G.):
Bericht über die gynäkologische Arbeit
von Stern und Schwarli ; „Klinisches lum
G eburtstr aum a."
14. Juni 1924. Kleine Mitteilungen.
Frau Klein, Prl.Schott und Dr, Müller
erläutern Kinderieichtiungen. — Frau
Bälint: Das indianische Häuptlingstum, —
Dr. Costa (a. G.) : Über einen Fall von
einer Schlafs tönmg. (Unbewußte orale
Masturbation.) — Dr, B o e h m : Drei Ver-
sprechungen in fremden Sprachen. —
Dr. Boehm: Ein Beitrag lum Kastrations-
komplex. — Dr. R a d ö (a, G.) ; Medizi-
nisches Wissen und Sexualverdrängung. —
Dr. Abraham: Unverständliches
Sprechen als Widerstandscrscheiniuig in
der Psychoanalyse, — Dr. S i m o n s o n ;
Eine Fehlhandlung von Liliencron.
I.Juli 1924. Dr. Hdmik: Das tech-
nische Vorgehen in einem Falle von
C h ar akter analy s e .
Dr. Müller-BrauQBchweig hielt
im Frühjahr 1924 an der Lesaing-Hoch-
schule einen sechsstündigen Vorlesungs-
zyklus über den „Traum". {55 Hörer.)
Dr. M. Eitingon
Schriftführer
BRITISH PSYCHO-ANALYTICAL SOCIETY
II, Quartal 1924
2. April 1924. Dr. J, Glover und
Dr. E. Glover: Referat über Ranks
„Traunia der Geburt",
16. April 1924. Dr. E, Glover:
Referat über Ferenczis und Ranks „Ent-
wicklungsziele der Psychoanalyse".
21, Mai 1924, Dr. E. Glover:
Referat über zehn auf dem Saliburger
Kongreß gehaltene Vorträge.
18. Juni 1924. Dr. J. Glover:
Bemerkungen über einen ungewöhnlichen
Fall von Perversion.
*
Zum Associate Member wurde A.
G. T a n s 1 e y gewählt, (Granchester,
Cambridge).
Douglas B r y a n
Sekretär
INDIAN PSYCHOANALYTICAL SOCIETY (KALKUTTA)
I. und n. Quartal 1934
Die zweite jährliche Versammlung
fand am 27. Januar 1924 statt ; der Jahres-
bericht für 1925 wurde angenommen und
die folgenden Mitglieder in den Vorstand
für 1924 gewählt: Dr. G, B o s e D. Sc.
M. B. — Vorsitzender ;
Dr. N. N. Sen Gupta M. A., Pb. D. ;
Mr. G. Bora B. A. ;
Mr. M. N, Banerji M. Sc. — Sekretär.
Es fanden keine weitere Sitiuugen
der Gesellschaft während des Halbjahres
^**''*- M, N, E a n e r j i
Sekretär
Korrespondenzblatt
35»
MAGYARORSZÄGl PSZICHOANALITIKAI EGYESÜLET
(Freud-Tärsasäg)
n. Quartal
29, April 1924. Dr. G. R.öheim:
„Träume und Anpassung in der Menschen-
geschichte" (Trauma der Geburt imd
Genitaltheorie, Kosmogonisches, Drachen-
sagen, Kulturheroen, Opfer, Ursprung der
Pestbräuche). — Dr. S. Ferenczi hielt
lum Vortrage eine kurze, einleitende Vor-
lesung. Die Sitzung war lU Ehren der
in Budapest weilenden Mitglieder der
British Psycho-Analy tical Society
in englischer Sprache abgehalten.
17. Mai 1924. Dr. M. J. Eisler:
], Analyse einer latenten Perversion.
(Wird puhliiiert). a. Hysterische An-
ästhesie des männlichen Gliedes (Analyse
eines Falles).
51. Mai 1924. Dr. L. Levy: Zur
Psychologie der Morphiumwirkung. —
Dr. I. Hermann: Der Sinn der Krankheit
Pechners, verglichen mit dem Sinn seiner
psychophjsischen Theorie.
i. V. de» SekretiiM
Dr. Imre Hermann
RUSSISCHE PSYCHOANALYTISCHE GESELLSCHAFT
I. Quartal 1934
Vom Januar bis Märi arbeitete die
R. PsA. G. in folgenden Richtungen:
A) Es fanden folgende Sitzungen statt:
Siebente Sitzung, 3 1 . Januar 1924,
Dr. Friedmann: „Zur Psychologie des
Idealismus." Am Material eines Falles
werden die latenten Motive der idealisti-
schen Haltung eines Menschen aufgedeckt
und auf die narzißtische Einstelliuig
zurückgeführt. — Diskussion: Dr. Wulff,
Prof. Ermakow, A. P. Lurja.
Achte Sitzung (geschlossene Sitzung),
7, Februar 1924, Prof. Ermakow: „Über
die Arbeit des Kinderheimlaboratoriums
am staatlichen Psychoanalytischen Insti-
tut." — Es werden eine Reihe Organi-
sationsfragen dieses Heims erörtert.
Neunte Sitiung, 14. Februar 1924,
Dr. Wulff: „Zur Psychoanalyse der
Koketterie." Mehrere Fälle dualistischen
Verhaltens mit der charakteristischen An-
ziehung und Abstoßung, die rückfiihrbar
sind auf narzißtische Komponenten als
Residuen des infantilen Charakters. Vor-
tragender unterscheidet einen aktiven,
passiven und gemischten Typus der Koket-
terie. Dikussion: Gomostaieff, Rabino-
witsch, Dr. Friedmann, Dr. Penkowskaja,
Dr. Spielrein,Luria,Skripnikowa, Professor
Ermakow.
Zehnte Sitiung, 6. März 1924. Professor
M. A. Reißner: „Soilalpsychologie und
Psychoanalyse." Ohne die Daten der
Psychoanalyse sei ein System der Soilal-
psychologie unmöglich; die wichtigsten
und interessantesten Pi-obleme (der Ideo-
logie und Religion) bedürften einer ana-
lytischen Beleuchtung. Zu unterstreichen
sei auch der starke Einfluß der sozialen
Verhältnisse auf die Formierung der
Libido (narzißtische Existenz imd Libido-
entwicklung). Diskussion: Dr.Wulff, Luria,
Friedniann, Prof. Ermakow.
Elfte Sitzung, 13. März 1924. M. I.
Weißteld: „Erkenntniskriterien des Vor-
handenseins von psychischem Leben."
Eine Reihe von Konstruktionen der philo-
sophischen Grundlegung psychologischer
Metlioden der Selbstbeobachtung und ob-
jektiven Beobachtung. Diskussion: Dr.
Wulff, Luria, Spielrein, Eenensohn, Dr.
Friedmann, Schnell, Prof. Ermakow.
Zwölfte Sitzung, 3, April 1924. Professor
Ermakow; „Neue Untersuchungen zur
Hypnologie." Die Psychoanalyse liefert
wesentliche Beiträge zum Verständnis des
Wesens der hypnotischen Ersehe in tingen.
Die Hypnose reproduziert infantile Er-
lebnisse des Kranken, wobei die infantile
Fixierung an die Persönlichkeit des Hyp-
notiseurs eine besondere Rolle spielt.
Besondere Unter sucbim gen wurden über
die Aus drucks erscheinungen der hypno-
tischen Zustände angestellt (Methode der
Zyklogramme usw.), welche die psychi-
schen Veränderungen in der Hypnose
illustrieren. Diskussion: Benensolm, Dr.
35^
Korrespondenzblatt
Großmann, Dr. JoUes, Gorsky, Gomo-
slaiewa, Dr. Wulff, Dr. Spielrein.
B) Im Berichtsquartal wurden im staat-
lichen Psychoanalytischen Institute:
a) Folgende Kurse gelesen : i. Professor
E r m a k o w : Allgemeiner Kursus der
Beychoanaljse. — 2. Dr. Wulff: Ein-
führung in die Psychoanalyse. — 5. Doktor
Spielrein: Die Psychologie des unter-
bewußten Denkens. — 4.Prof. Ermakow:
Psychotherapie.
b) Folgende Seminarien abgehalten:
1. Über medizinische Psychoanalyse (Dok-
tor Wulff). — 2. Über die Psycho-
analyse des Kindesalters (Dr. Spielrein).
g. Über die Psychoanalyse des künst-
lerischen Schaffens (Prof. Ermakow). —
4. Über Hypnologie (Prof. Ermakow). —
5. Über die Psychoanalyse leligiöser
Systeme (Dr. Awerbuch).
C) Das Kinderheim des Psychoana-
lytischen Institute» hatte seine Arbeiten
fortgesetzt.
D) Die Herausgabe folgender Bücher
wurde vorbereitet: Freud: „Traum-
deutung", „Eine Kindheitserinnerung des
Leonardo da Vinci", „Massenpsychologie
und Ich-Analyse", „Gradiva", „Psycho-
analyse von Kinderneurosen." — Jung:
„Psychologische Typen." — Ermakow:
„Hypiiotismus", „Über das Organische und
Ausdrucksmäßige im Bildwerk", „Analyse
der .Toten Seelen' von Gogol." — Klein :
„Eine Kinderentwicklimg." — Green:
„Die Psychoanalyse in der Schule." —
Hug-Hetlmuth: „Das Seelenleben des
Kindes." — Jones: „Therapie der Neu-
rosen." — Reik: „Probleme der Religions-
psychologie." — Bleuler: „Naturge-
schichte der Seele." — „Sammlung
von Arbeiten des Kinderheimlaboratoriums
des staatlichen Psychoanalytischen Insti-
tutes." — Wilfrid Lay: „Das Unbewußte
in der Kinderseele" (Psychoanalyse und
Entwicklung).
Prof. I.D. Ermakow
Vorsitiendet
WIENER PSYCHOANALYTISCHE VEREINIGUNG
II. Quartal 1924
9. April. Kleine Mitteilungen und Refe-
rate: a) Dr. Hitschmann: Zur Hirsch-
Sprungschen Krankheit; b) Dr. Reich:
Über Dämmerzustände; c) Dr. Jokl:
Zwei Träume.
50. April. Diskussionen über die Vor-
träge des Vni, Kongresses in Salzburg.
Referent: Dr. Reich.
14. Mai. Vortrag Flora Kraus: Über
Männer- und Frauensprachen bei den
Primitiven.
28. Mai. Vortrag Frieda Teller:
Libidoentwicklung imd Artumwandlung.
10. Juni. Vortrag Dr. Reich: Ambi-
valenzkonflikt und Ichideal.
24. Juni. Vortrag Doz. Dr. Schilder:
Über das Gedächtnisproblem.
■
Neu aufgenommene Mitglieder: Dr.
Robert Wälder (Wien), Frau Flora
Kraus (Wien).
Dr. Siegfried Bernfeld
Schriftfülirer
MITTEILUNGEN DES INTERNATIONALEN
PSYCHOANALYTISCHEN VERLAGES
Unsere Verlagstätigkeit Januar bis Oktober 1^24
Der Torige Bericht üLer die Tätigkeit des Verlages erschien au Weihnachten 1923
in Heft 4. des vorigen Jahrganges dieser Zeitschrift.
Im Mittelpunkt unserer seitherigen Verlags tätigkeit steht die Herausgoie der
GESAMMELTEN SCHRIFTEN von SIGM. FREUD, Die Herausgahe dieses auf
elf Bände berechneten Werkes wird unter Mitwirkung des Verfassers besorgt. Die
Arbeiten enthalten aufler kleinen Korrekturen imd Ergänzungen zum Teil auch
irrbßere Zusätie, die dann jeiveilen als solche gekennzeichnet sind. Die Einteilung
des Weirkes erfolgte lum Teil nach ehr onologi sehen, zum Teil nach saclilichen
Gesichtspunkten. In Lexikonformat auf holzfreiem Papier gedruckt, wird es
broschiert, in Ganzleinen (englisches Leinen), in Halbleinen (englisches Schweins-
leder) oder in Ganzleder (handgebunden in Saffian) abgegeben. Bisher sind sechs
Bände, und zwar IV his VIII und X erschienen. ' Im Frühjahr 1925 dürften vor-
1) Inhalt von Band IV: Zur Psychopathologie des All tag'slebens. Das Inter-
esse an der Psyclioanalyse. OberPsythoaaalyse. Zur Geschichte der psycho-
analytischen Bewegung, — Inhalt von Band V: Drei Abhandlungei! zur Sexual-
theorie. Arbeiten zum Sesuallebcn und zur N e uro s e nl ehre. (Meine Ansichten Aber
die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. Zur sesuellen Aufklärung der Kinder. Die
„kuHurclle" Sesualmoral und die Nervosität. Ober infantile SexuiUtheorien. Beitrage zur Psychologie
des Liebeslebens [Über einen besonderen Typus der Objettwahl beim Manne. Über die aügemeinstc
Erniedrigung des Liebcalcbeus. Das Tahu der Virginitst.) Die infandle Genital orgaiiisBlion. Zwei
KinderlUgen. Gedankenassoziation eines vieriahrigen Kindes. Hysterische Phantasien und ihre Beziehung
zur Bisesualitat. Über den hysterischen Anfall. Charakter und Analeroiik. Ober Tnebumsetiungen,
insbesondere der Analerotib. Die Disposition zur Zwangsneurose. Mitteilung eines der psychoanalytischen
Theorie widersprechenden Falles von Paranoia. Die psychogene SehstOrung in psychoanalytischer
Auffassung. Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom. Über die Psychogenese
Pincs Falles von weiblicher Homosexualität. „Ein Kind wird geschlagen-- Das ökonomiBche Problem
des Masochismus, Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homoseiualilät,
tJber neurotische Erkrankungstypen. Formulierung Qber die iwei Prinzipien des psychischen
Geschehens. Der Untergang: des Ödipuskomplexes). Metapsycliologie (Einige Bemerkungen über
den Beeriff des Unbewußten in der PsA. Triebe und Trieb Schicksale- Die Verdrängung. Das Unb™uflte.
Metüpsychologische ErgünMOg zur Traumlebre. Trauer und Melancholie). - Mt i^n Band VI: Zur
Technik (Die Frendsche psychoanalytische Metliode. Ober Psychotherapie. Die zukanfUgen Chancen
der nsychoi«ialyti.eheo Therapie. Über „wilde" PsA. Die Handhabung der Traumdeutung m der PsA.
Z^ Dynamik der Übertragung. KatscWflge für den Arzt bei der psychoanaly eschen Behandlt^ng. Über
fausse reconuaissance während der psychoanalytischen Arbeit. Zur Emleitung der Behandlung.
Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Bemerkungen Ober die Übei^agungsl.ebe Wege der psycho-
LXtirchcn Therapie. Zur Vorgeschichte der analytischen Technik) Zur Etn ühruug des
Narzißmus Jenseits d es L us tp ri n zip s. M a s s eup s y c h o logi e u n d Ich - Analyse.
nT, ch^und das Es. Anhang (Real itats Verlust bei Neurose und Psychose. Notiz Qber den
Wunderblock"). - Inhalt i»/< S«'Jd VII (mit .wei Kunstbeilagen) : V o r 1 e s u n g e n z u r E i n f ü h r u n g
„die Psychoanalyse. - Inhalt von Band VIII: Krankengeschichten (Bruchstück
einer Hysterieanalysc. Analyse der Phobie eines fUnfiahrigen Knaben. Über einen Fall von Zwangs-
554- Veriagsbericht
aussichtlicli bereits zehn Bände Torliegen, d. h. das ganze Werk bis auf den
elften Band, der außer verschiedenen Nachträgen und einer Bibliographie auch ein
Gesamtregister enthalten wird.
Neuauflagen erschienen von folgenden Schriften von Professor FREUD:
ZUB PSYCHOPATHOLOGIE DES ALLTAGSLEBENS. Zehnte Auflage
(8. bis 21. Tausend).
JENSEITS DES LUSTPRINZIPS. Dritte Auflage (4. bis 9. Tausend).
MASSENPSYCHOLOGIE UND ICH-ANALYSE. Zweite Auflage (6. bis
10. Tausend). ^
Femer erschienen folgende Arbeiten von Professor FREUD, die bisher nicht in
selbständiger Buchform erschienen waren, in Einzelausgaben:
ZUB EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS.
ZUR TECHNIK DER PSYCHOANALYSE UND ZUR METAPSYCHOLOGIE. i
PSYCHOANALYTISCHE STUDIEN AN WERKEN DER DICHTUNG UND
KUNST.»
AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS. *
ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD.
EINE TEUFELSNEUROSE IM XVIL JAHRHUNDERT.
*
In der Reihe der „I m a g o - B ü c h e r" erschienen drei neue Bände :
V. GEMEINSAME TAGTRAUME von Dr. HANNS SACHS. (Enthält den Haager
Kongreß vor trag „Gemeinsame Tagträume" und den durchgesehenen und erweiterten
Wiederabdruck der Arbeiten über Schillers „Geisterseher" und Shakespeares „Sturm"
aus „Imago" Bd. IV, bzw. Bd. V.)
VL DIE AMBIVALENZ DES KINDES von Dr. GUSTAV HANS GRABER.
VII. PSYCHOANALYSE UND LOGIK. In dividueU -logische Untersuchungen aus
der psychoanalytischen Praxis von Dr. IMRE HERMANN.
In Vorbereitung befindet sich:
Viri. DIE ENTSTEHUNG DER GRIECHISCHEN TRAGÖDIE von Dr. ALFRED
WINTERSTEIN. (Ein Abschnitt dieser Arbeit wurde bereits im VIH. Bd. der „Imago"
vero f f entli cli t.
neurose. Psychoanalytische Beraertungen Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia.
Aus der Geschichte einer infantilen NeuroscV — Inhalt von Band X (mit zwei Kunalbeilagen): Totem
und Tabu. ArbeitenziirAnwendung derPsychonnal3'se (Talbcstandsdiagnostit und
PsA. Zwangshandlungen und ReliBionsDbung-. Ober den Gegensinn der Urworte. Der Dichter und das
Phantasieren. Mj'thologische Parallele lu einer plastischen Zwangsvorstellung. Das Motiv der KBstchen-
wahl. Der Moses des Michelangelo, Einige Charaitertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. [Die
Ausnahmen. Die am Erfolg scheitern. Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein.] Zeitgemäßes Ober Krieg
und Tod. Eine Schwierigkeit der PsA. Eine Kind hei tserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit". Das
Unheimliche. Eine Teufelsneurose im XVII. Jahrhundert — Die Herausgabe der bisher erschienenen sechs
Bande besorgten unter Mitwirkung des Verfassers Anna Freud, Dr. Otto Rank und A. J, Storfer.
1) Enthflit die im VI. Band der „Gesammelten Schriften" unter dem Titel „Zur Technik" und
die in dem V. Band unter „M e t H pisy c h o 1 o g i «" Tusammengestellten Arbeiten.
3) Inhalt: Der Dichter und das Phantasieren, Das Motiv der Kflslchcnwahl- Der Moses des
Michelangelo, Einige Charaktertypen ans der psychoanalyü seilen ArbeiL Eine Kindheitserinnerung aus
„Dichtung und Wahrheit". Das Unheimliche,
Verlagsbericht
555
Als Band III der von Professor Freud herausgegebenen „Neuen Arbeiten
zur ärztlichen Psychoanalyse" erschien :
EINE NEUROSENANALYSE IN TRÄUMEN von Dr. OTTO RANK.
■
Als Band III der „Quellenschriften zur seelischenEntwicklung"
erschien :
VOM DICHTERISCHEN SCHAFFEN DER JUGEND. Neue Beiträge zur
Jugendforschung von Dr. SIEGFRIED BERNFELD. (Inhalt: Die psycliologische
Literatur über das dichterische Schaffen der Jugendlichen. Das Dichten eines
Jugendlichen dargesteUt nach dessen Selbstieugnissen. Phantasie und Realität im
Gedicht eines Siebzehnjährigen. Über Novellen jugendlicher Dichter. Über ein Motiv
zur Produttion einiger satirischer Gedichte. Das Erstlingswerk nach Selbstzeugnissen.
Phantasiespiele der Kinder und ihre Beziehung zur dichterischen Produktivität. Ergebnis
und Aufgaben. — Die vorletzte Arbeit ist von Dr. Wilhelm Hoff er, aUe anderen
vom Herausgeber Dr. Bemfeld.)
•
Als Band XVI der »In t e rn a ti o n a 1 e n P s y c h o an al y ti s ch e n Biblio-
t hek" erschien:
PSYCHOANALYTISCHE STUDIEN ZUR CHARAKTERBILDUNG von Doktor
KARL ABRAHAM. (Der Band enthält die ursprünglich im IX. Jahrgang dieser
Zeitschrift erschienene Arbeit: „Ergänzung zur Lehre vom Analcharakter" den Vor-
trag auf dem Salzburger Kongreß 19.+ : „Beiträge der Oralerotik zur Charakter-
bildung ', und eine neue Arbeit: „Zur Charakterbildung auf der ,gemtalen' Stufe".)
In Vo r b e r e i t u n g befindet sich Bd. XVn. : ENTWURF EINER PSYCHIATRIE
AUF PSYCHOANALYTISCHER GRUNDLAGE von Dr. PAUL SCHILDER.
DIE DON JÜAN-GESTALT von Dr. OTTO RANK (ein erweiterter Wieder-
abdruck der im VIII. Band der „Imago" erschienenen Arbeit) ist in Buchform
erschienen.
Es erschienen femer noch vier S e p ar a.t d ru c k e aus dem laufenden Jahr-
gange der „I m a g o" in Buchform, und zwar :
PSYCHOLOGISCHE BEOBACHTUNGEN AN GRIECHISCHEN PHILO-
SOPHEN (Sokrates, Parmenides) von Professor Dr. HEINRICH GOMPERZ. ~~
PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOTECHNIK von Dr. PRITZ GIESE. — ZUR
PSYCHOLOGIE DER TRAUER- UND BESTATTUNGSGEBRÄUCHE von HANS
ZULLIGER. — MUTTERRECHTLICHE FAMILIE UND ÖDIPUSKOMPLEX von
Dr. BRONISLAW MALINOWSKI.
Der zweite EEIUCHT ÜBER DIE BERLINER PSYCHOANALYTISCHE
POLIKLINIK (Juni 1922 bis März 1924) von Dr. MAX EITINGON — erschienen
im vorigen Heft dieser Zeitschrift — ist auch als Separatdruck erschienen.
356 Verlagsbericht
Unsere beiden vo.i Professor Freud herausgegebenen Zeitschriften „INTER-
NATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYSE« und „IMAGO" erscheinen
je im X. Jahrgang, •
Heft 2/5 (Doppelheft) der „Imago" erscheint gleichzeitig mit diesem Zeit-
schriftheft als ethnologisckes Heft.
*
+
In unserer polnischen Serie „P o 1 s k a Bibljoteka Psychoanali-
tyczna" erschien der zweite Band:
FREUD: TRZY ROZPRAWY Z TEORJI SEKSUALNEJ. (Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie, übersetzt von Dr. Ludwig J ekel s und Dr. Marjan Albinski.")
Als ein nicht in den Buchhandel gelangender Pri vat dru C k in beschränkter
Auflage erschien femer im Verlag ein Albnm mit Karikaturen von
88 Teilnehmern des Achten Internationalen Psychoanalytischen
Kongresses, gezeichnet in Salzburg zu Ostern 1924, von Olga Sz4kely-
K o V Ä c s und Robert B e r 4 n y.
Beilage
zur „Internationalen Zeitschrift für
Psychoanalyse" Bd, X (1924) Heft 5
■»
Internat. Zeitachr. f. Psyctoanalyse X/3
Proben aus einem in Arbeit befindlichen
»Wörterbuch der Psychoanalyse«
Von A. J. Storfer (Wien)
Alkoholismns
Angesichts des Interesses, das die Gesetzgehimg verschiedener Staaten in
den letzten Jahrzehnten dem Alkoholgenuß zugewendet hat, ist es begreiflich
daß auch von wissenschaftlicher Seite allen mit dem Alltoholkomplex irgendwie
zusammenhängenden Fragen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dennoch
ist die psychoanalytische Sphäre vom Kampflärm jener theoretischen und
praktischen Probleme verschont geblieben. Die beiden (ohne ethische Bei-
mengung erhobenen) psychologischen Fragen — erstens, worin die psychische
Wirkung des Alkoholgenusses besteht, zweitens, ob der pathologische
Alkoholgenuß, die Trunksucht, nicht in vielen Fällen auf psychoneurotische
Voraussetzungen bei dem betreffenden Individuum zurückzuführen ist - haben
in der psychoanalytischen Literatur Antworten von solch weitgehender Üher-
einstinunung erzielt, daß es zu keinen Diskussionen kam. Ein 1911 vor sich
gegangenes Geplänkel zwischen Bleuler und F e r e n c z i drehte sich nämlich
nur lun eine von Ferenczi nebenbei erwähnte Statistik (von Drenkhahn, dem-
nach in der deutschen Armee in einem bestimmten Zeitabschnitt die Abnahme
der Alkoholerkrankungen mit der Zunahme neurotischer und psychotischer
Affektionen einhergegangen sein sollte), um eine ganz vage und gewiß anfecht-
bare Behauptung, der ja Ferenczi selbst keine Wichtigkeit beigemessen hatte.
Immerhin scheint in dieser Debatte, da die sonstige alkoholgegnerische Ein-
stellung Bleulers bekannt ist, doch auch ein gewisser prinzipieller
Gegenstand sich darin zu manifestieren, daß Bleuler davor warnt, clie „blöd-
sinnigen Ausreden der Trinker (warum sie nämlich zum Alkohol gegriffen
haben) ernst zu nehmen, daß er also eher geneigt ist, im Alkoholgenuß den
Verursacher neurotischer Störungen anzusehen, als eine Folge (auch in
therapeutischer Hinsicht wichtigerer) neurotischer Konstellationen. Sonst herrscht
in der psychoanalytischen Literatur allgemein die Auffassung, daß der Symptomen-
komplex der Trunksucht wohl als eine Intoxikationsneurose beschrieben werden
„6o ^- J- Storfer
3
könne daß aber die Trunksucht selbst in den aUermeisten Fällen die Foljre
psychoneuroti«cher Umstände ist. (Abraham: Äußere Einwirkungen
wie soziale Einflüsse, Erziehungsfehler, erbliche Belastung mw. genügen aUem
nicht zur Erklärung der Trunksucht; ein individuelles Moment muß hmzu- ^
kommen. Ferenczi: Den individuellen wie den sozialen Alkoholismus kann
nur die Analyse heUen, die die Ursachen der Flucht in die Narkose aufdeckt
und neutralisiert.) Das spezifisch ätiologische Moment der Trunksucht (übrigens
auch des Rauchens) sucht die Psychoanalyse auf dem Gebiete der OraleroUk.
Ein besonders kräftiges Motiv zum Trmken bringen nach Freud diejenigen.
mit bei denen die erogene Bedeutung der Lippenzone in der Rmdheit kon-
stitutionell verstärkt war und bei denen diese erogene Bedeutung erhalten.
geblieben ist. Die Trunksucht ist demnach also eine Erscheinung, die
ähnlich gewissen Charaklerzügen, beziehungsweise den Perversionen - teil-
weise wenigstens durch die Prävalenz eines Partialtriebes der Sexualität mit-
bestimmt wird. Sachs sieht im Alkoholiker (und in den anderen , Süchtigen )
ein Zwischenglied zwischen dem Perversen und dem Neurotiker, zwischen der
perversen Befriedigung und der neurotischen Hemmung; bei den AlkohoJilcem,
Morphinisten, Rokainisten ist das Zwanghafte, die Überwältigung des Indi-
viduums durch die vom Ich abgespaltenen libidinösen Kräfte so deuUich, daß
sie oft zur Zwangsneurose gezählt worden sind; auf der anderen Seite haben
diese Fälle mit der Perversion gemein, daß es sich nicht wie bei dem
zwangsneurotischen Symptom um ein — dem Bewußtsein gleichgültiges oder
sogar unangenehmes, smnloses, zeitraubendes — Zeremoniell handelt, sondern
unbestreitbar um einen Befriedigungsakt. (Sachs.) Kielhol z hebt noch
hervor, daß gewisse Züge des Alkoholikers, z. B. die große Eitelkeit, eine
Regression zum infantilen Narzißmus darsteUen; der häufige Konnex von
Verkrüppelung und unheilbarer Trunksucht setzt eine dauernde narzißtische
Kränkung voraus.
Die alte Erfahrung, daß der Alkohol psychische Hemmungen beseitigt, wird
durch die Psychoanalyse eingehender präzisiert: der Alkohol hebt VcrdrSn-
«mnjfeii auf mid macht SublimleruBgen rückgRnyl? (Freud). Es ist
- führt Abraham aus - keines unter den Produkten der Verdrängung-
und Sublimienmg sexueUer Triebe (Scham und Ekel, moralische, ästhetische
und soziale Gefühle, Mitleid und Grauen, Pietät der Kinder gegen die Eltern,
füxsorgende Liebe der Eltern für das Kind, künstlerische mid wissenschafthdie
Tätigkeiten), keines miter all den Produkten der Verdrängung und der
Sublimienmg, auf denen ja unsere ganze Kultur beruht, das durch die
Alkoholwirkung nicht beeinträchtigt oder aufgehoben würde. Unter dem Ein-
fluß des Alkoholikers wird der Erwachsene wieder zum Kmde, dem die
freie Verfügung über seinen G^dankenablauf ohne Einhaltung des logischen
Aus einem „Wörterbuch der Psychoanalyse" 561
Zwanges Lust bereitet. {„ Bierschwefel " und „Kneip^eitllng'' — schreibt Freud
— legen in ihrem Namen Zeugnis dafür ab, daß die Kritik, welche die Lust
am Unsinn verdrängt hat [sc. beim studierenden Akademiker], bereits so stark
geworden ist, daß sie ohne toxische Hilfsmittel auch nicht zeitweilig beiseite
geschoben werden kann. Die Veränderung der Stimmungslage ist das Wert-
vollste, was der Alkohol dem Menschen leistet und weshalb dieses „Gift"
nicht für ieden gleich entbehrlich ist.) Die Lockerung der Verdrängung der
sadistischen Komponente erklärt die Roheitsdelikte im Alkoholrausch, das
Zurückweichen des Schamgefühls die Freude am obszönen Witz, am exhibitio-
nistischen Verhalten; die Übertragung wird exzessiv erleichtert (Gefühlsüber-
schwang und plumpe Vertraulichkeit des chronischen Trinkers). Der Alkohol
rüttelt auch an den aufgerichteten Inzestschranken (Abraham: Lots Tochter
erreichen ihr Ziel, indem sie ihrem Vater zu trinken geben). Überein-
stimmend (Freud, Abraham, Ferenczi, Juliusburger, Clark,
Wholey, Stanford Read, Jones, Sadger, Tausk, Kielholz)
-wird die Reaktivierung des verdrängten homosexuellen Parti altriebes durch
den Alkohol hervorgehoben. Ferenczi konnte an Hand von Kranken-
analysen zeigen, wie der Latenthomosexuelle zum Alkohol greift, wenn er in
besonders schwierige, seiner Sexualkonstitution direkt widersprechende äußere
Situationen (z. B. Ehe) gedrängt wird, und wie der Alkohol dann als Subli-
mierungszerstörer wirkt. So erklärt sich auch die geradezu paranoide Eifer-
sucht, der Eifersuchtswahn der Alkoholiker. Der beim Weibe enttäuschte
Mann — führt Freud aus — begibt sich häufig ins Wirtshaus und in die
Gesellschaft der Männer, die ihm die bei seinem Weibe vermißte Gefühls-
befriedigimg gewährt. Die Männer können Objekte einer stärlteren libidinosen
Besetzung in seinem Unbewußten werden und er erwehrt sich dieser homo-
sexuellen Objekte dadurch, daß er eifersüchtig wird, seuae Frau mit all den
Männern verdächtigt, die er zu lieben versucht ist. (Abraham sieht
speziell auch im Gefühl der abnehmenden Potenz die Ursache des alkoholischen
Eifersuchtswahnes; der minder potente oder an Potenzangst leidende Trmker
benützt den Alkohol als QueUe mühelosen Lustgewmnes; das Schuldgefühl
verschiebt er in neurotischer Weise auf die Frau, sie der Untreue bezichtigend.
Auch Hans Oppenheim mißt dem Schuldgefühl wegen abnehmender
Potenz eine ätiologische Bedeutung heim Eifersuchtswahn des Alkoholikers
bei; die Rolle der homosexuellen Komponente erkennt er ansonsten nicht an
und leitet die Eifersucht aus dem masochistisch-sadistischen Komplex ab.)
Den Mechanismus des Eifersuchtswahnes bestätigt auch JuHusburger, der
übrigens auch die Meinung ausspricht, beim Selbstmord von Alkoholikern
handle es sich um vollzogene Selbstbestrafung. (Eine besondere Beziehimg
von Alkoholismus und Selbstmord will Wholey erkannt haben: „Die
36a A. J. Storfer
Regelmäßigkeit, mit der" wir bei Alkoholikern Selbstraordversuchen
durch Halsabschneiden begegnen, bestätigt die Theorie [?], daß diese Art des
Selbstmordes durch eine Geburtsphantasie determiniert wird." W, A. White
pflichtet dieser Bemerkmig bei, Stanford Read meint, ihr nicht folgen
zu können.)
Das Alkoholdelirlnni verglich Freud mit der Amentia (halluzinatorische
Verworrenheit, Wimschpsychose). Das Ich bricht bei der Amentia die
Beziehung zur Realität ab, es entzieht dem Bewußtsein die Besetzung, wenn
die Realität einen Verlust behauptet, den das Ich als unerträglich verleugnet.
Damit ist die Realitätsprüfung beseitigt, die Wunschphantasien können vor-
dringen. Freud vermutet, daß das Alkohol delirium (die toxische Halluzinose
überhaupt) in analoger Weise zu verstehen ist. Der von der Realität auf-
erlegte unerträgliche Verlust ist in diesem Falle der des Alkohols. Zuführung
desselben hebt die Halluzinationen auf. Die Euphorie, die gehobene Stimmung
im Alkoholrausch, soweit es zu einer gehobenen Stimmimg kommt, vergleicht
Freud mit den manischen Zuständen. Alle Zustände von Freude, Jubel,
Triumph, die das Normalvorbild der Manie zeigen, lassen die nämliche
ökonomische Bedingtheit erkennen : es handelt sich bei ihnen um eine Ein-
wirkung, durch die ein großer, lange unterhaltener oder gewohnheitsmäßig
hergestellter psychischer Aufwand endlich überflüssig wird, so daß er für
mannigfache Verwendimg und Abfuhrmöglichkeiten frei wird. Alle solche
Situationen — führt Freud aus — zeichnen sich durch die Abfuhrzeichen
des freudigen Affektes und durch die gesteigerte Bereitwilligkeit für allerlei
Aktionen aus, ganz wie die Manie. Die Manie ist auch ein solcher Triumph,
nur daß es dem Ich verdeckt bleibt, was es überwunden liat und worüber
es triumphiert, „Den Alkoholrausch wird man — insofern er ein heiterer
ist — ebenso zurechtlegen dürfen; es handelt sich bei ihm wahrscheinlich
um die toxisch erzielte Aufhebung von Verdrängungsaufwänden." Nach den
späteren, auf dem Boden der Ich-Analyse stehenden Ausführungen
Freuds über den Mechanismus der Manie ist die Euphorie des Alkoholikers
auf den Abbau des Uber-Ichs zu beziehen. Beim Manischen fließen Ich
und Ichideal zusammen, so daß „die Person sich einer durch keine Selbst-
kritik gestörten Stimmung von Triumph und Selbstbeglücktheit, des V/egfalls
von Hemmungen, Rücksichten und Selbstverwürfen erfreuen kann.
Auch die Intoleranz gegen Alkohol (die man sonst einfach mit der
gesteigerten physiologischen Giftempfindlichkeit zu identifizieren pflegt) ist nach
Ferenczi hauptsächlich psychogen in gewissen Fällen (z. B. in Fällen,
w^o ein ganz geringes Quantum oder gar der bloße Anblick vob Alkohol
bereits die Symptomatik des Rausches zeitigt, — nämlich durch Aktivierung ver-
drängter Phantasien).
Aus^ einem „Wörterbuch der Psychoanalyse" 563
Das alkoholische Beschäftigungsdelir (die eürige Beschäftigung mit
alltäglichen Verrichtimgen) verglich Tausk mit dem „Beschäftigungstraum".
Es sei ein Symptom, das bestimmt ist, die Potenzangst oder andere (homo-
sexuell bedingte) Sexualhemmungen zu verdecken.
Die Erfassung der psychologischen Momente bei der Entstehung der
Trunksucht im individuellen Falle und die Erkennung der psychischen Mecha-
nismen im Krankheitsbilde des Alkoholikers ist für den Psychoanalytiker kein
Grund, die hereditären und konstitutionellen Momente zu übersehen. Aller-
dings kann auch in dieser Frage manches, was bisher der Vererbung zuge-
schrieben worden ist, auf psychische Zusammenhänge zurückgeführt werden.
So hat z. B. Kielholz darauf hingewiesen, daß der durch die Roheiten
des trunksüchtigen Vaters verstärkte Ödipuskomplex bei vielen Trinkerkindem
ein unbewußtes Schuldgefühl und eine depressive Verstimmung bewirkt, was
wieder den Drang zum Sorgenbrecher Alkohol auslösen und ebenso deletär
wirken kann, wie die erbliche Belastung.
In seiner eingangs erwähnten Polemik mit Bleuler hat Ferenczi auch
die Meinung vertreten, es seien auch viele Fälle von A n t i alkoholismus
neurotisch-psychogen, und zwar nicht nur der antialkoholistische Propaganda-
eifer, sondern oft auch die individuelle Alkoholabstinenz. („Der Alkoholiker
jxat seine Libido verdrängt und kann sie nur im Rausche wieder besetzen j
der neurotische Abstinenzler lebt seine Sexualität zwar aus, muß sich aber
dafür einen anderen, ähnlichen Wunsch versagen.") AaS diese Ausführungen
zielt die „Bemerkung der Redaktion" im „Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathoiogische Forschungen", wenn sie betont, „daß eine Kritik der
Antialkoholhewegung als eines mächtigen, sozialen Phänomens nicht von der
Basis einer individuellen Konstellation, sondern nur von der einer allgemeinen
zeitgenössischen Anschauungsweise zu erfolgen hat." (Die Bemerkung stammt
offenbar von C. G. Ju ng.) AusFerenczis Ausführungen ging übrigens offen-
kundig die Auffassung hervor, daß die (neurotische) Psychogenese der anti-
alkoholistischen Überzeugung einran Urteil über Wert oder Unwert der anti-
alkoholistischen Lehre und Bewegung nicht präjudizieren könne. (Rolnai
hat trotzdem versucht, die Stellungnahme Ferenczis mit einem prinzipiellen
Vorzeichen, mit einer freiheitlichen Tendenz gegen das Rationell-Puritanische
zu versehen.)
Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GS. V. S. 57. — Über einen auto-
biographisch beschriebenen Fall von Paranoia. GS. VIII. 415 f. — Der Witz. GS. IX.
14,2. — Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre. GS. V. 555. — Trauer
und Melancholie. GS. V. 54.8.
Abraham: Die psychologischen Beiiehungen zwischen Sexualität und Alkoho-
lismus. Klin. Beiträge, 56 ff. (Autoreferat: JB. I. 577.) — Bleuler: Alkohol und
564
A. J. Storfer
Neurose. JB. IH. 848 ff. — Brill: Tobacco and the IndividuaL Int, Journ. of PsA.
in. 459. — L. P. Clark: A psychologie Study of some Alcoholics, PsA. Rev. VI.
(ref. Stanford Read. Bericht 286.) — Ferencai: Über die Rolle der Homo-
sexualität usw. JB. III. 105 f. — Alkohol und Neurose, ibid. 855 ff. — Forel:
Freudsche Lehre u. Abstinenz. Intern. Monatschr. z. Erforsch, d. Alkoh. XXIII. igig. —
Jones: Therapie der Neurosen. 169 f. — Juliusburger: Beitrag zur Psychologie der
sogenannten Dipsomanie. ZBl. f. PsA. II. 551 ff. — Zur Psychologie dos AlkohoHsmus.
ibid. ni. 1 f. (ref. Abraham: JB, VI. 582 ff.) — Alkoholisraus und Psycho Sexualität.
Zschr. f. Sex. Wiss. II. 557 ff- (DiskuBsion darüber in der Ärztl. Ges. f. Sex. Wiss.,
Berlin, ibid. II. 581 ff.) — Kielholz: Autoreferat über „Einige Betrachtungen
zur psychoanalytischen Auffassung des Alkoholismue", Vortrag in der „Schweiz.
Ges. f. PsA." am 27. Oktober 1925. Int. Zschr. f. PsA. X. 115. — Kolnai: Die
geistesgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse. Int. Zschr. f. PsA. IX. 549. —
Sachs: Zur Genese der Perversionen. Int. Zschr. f. PsA. IX. 172 ff. — Sadger:
Zur Psychologie und Therapie des Tunichtguts usw, Wiener KUn, Rundach. 1914.
Nr. 20. (ref. Abraham und Hümik, Bericht 142 f.) — Tausk: Zur Psychologie des
alkoholischen Beschäfttgungsdelirs. Int. Zsch. f. PsA. III. 204 f. (ref. Abraham und
Hdmik, Bericht 142 f.) — Wholey: Bevelations of tlie Unconscious in a toiic
(alcoholic) psychosis. Amer. Journ. of Insanity. LXXIV. 457 ff. [ref. Stanford Read,
Bericht 294,.) — Über den Vortrag von Dr. M. Wulff „Über die psychologische
Bedeutung des Alkohols" in der „Russ. Ges. f. PsA." (am 20. Dezember 1925, vgl.
Int. Zsch. f. PsA. X. 115) liegt kein Referat vor.
All madit der Gedanken
E omnipotence of thougt I F toutepuissance des idies' (nach Jankcl^vitch'
Übersetiung von Freud, Totem und Tabu; Vorschlag von Maeder, Int. ' Zschr. f.
PsA. II. 415: omnipotence de la pensce) l H almacht der gedachten I \S a gondola-
tok mindenhatösdga I I omnipotenza delpensiero / S omnipotencia de las ideas l
P wszechmoc [wszechpotega] my&li I R BceMOryu^ecmBO MacAU
Der psychoanalytische Terminus „Allmacht der Gedanken" wird von Freud
zuerst 1909 in seiner Krankengeschichte über die Zwangsneurose des „Ratten-
manns" gebraucht. Das Wort wurde eigentlich vom Patienten selbst geprägt.
Er bezeichnete damit jene sonderbaren und unheimlichen Geschehnisse, die ihn
zu verfolgen schienen: dachte er eben an eine Person, so kam sie ihm entgegen:
stieß er gegen einen Fremden eine nicht einmal gana ernst gemeinte Verwün-
schung aus, so durfte er erwarten, daß dieser bald darauf starb. (In den
meisten FäUen konnte es sich auf klären, wie der täuschende Anschein entstanden
war und was der Patient selbst dazugetan hatte, um sich in seinen aber-
gläubischen Erwartungen zu bestärken.) Diese „Allmacht der Gedanken" ist
nach Freud charakteristisch für die Zwangsneurose überhaupt. Es haben
viele Zwangsneurotiker die Überzeugung, daß ihre Gedanken und Gefühle
Aus einem „Wörterbuch der Psychoanalyse" 565
allmächtig sind, daß ihre Wünsche, namentlich die bösen, die Macht haben,
ihre Verwirklichung durch^uset^en, und jedenfalls benehmen sich alle Zwangs-
neurotiker im Grunde genonmien so, als ob sie jene Überzeugung hätten. Der
Zwangsneurotiker ist gezwungen, die Wirkung seiner Liebesempfindungen,
baw. seiner feindseligen Gefühle in der Außenwelt zu überschätzen, weil
seiner bewußten Kenntnis ein großes Stück der innenpsychischen Wirkung
jener Gefühle entgeht. „Seine Liebe — oder vielmehr sein Haß — ist
wirklich übermächtig; sie schafft gerade jene Zwangsgedanken, deren Herkunft
er nicht versteht und gegen die er sich erfolglos wehrt." Die Vorstellung von
der Allmacht der Gedanken ist also in die Außenwelt projizierte Psychologie:
die dunkle „Erkenntnis", sozusagen endopsychische Wahrnehmung psychischer
Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten, spiegelt sich in der Konstruktion
einer übersinnlichen Realität (wie Freud vom Aberglauben überhaupt nach-
gewiesen hat). Zw^anghaft w^erden dabei solche Denkvorgänge, die mit einem
sonst nur für das Handeln bestimmten Energieaufwand unternommen werden,
also Gedanken, die regressiv Taten vertreten müssen. Daß diese Zwangsgedanken
so viel Beziehung zur Vorstellung vom Tode haben — die Gedanken, vor
deren verraeintücher Allmacht dem Zwangsneurotiker bange wird, sind gewöhnlich
todverkündend — erklärt sich aus der Bedeutung der Todeswünsche für das
Unbewußte überhaupt, (Freud: „Unser Unbewußtes mordet selbst für Kleinig-
keiten. ) Die Vorstellung von der Allmacht der Gedanken, verknüpft vornehm-
lich mit dem unheimlichen Gefühle, gewisse Vorstellungen nicht unterdrücken
zu können, und mit der Angst, böse Vorstellungen könnten sich erfüllen, beruht
auf einem Schuldgefühl wegen unbewußt gewordener, verpönter, böser
Wünsche (Todeswünsche).
Die Vorstellung von der Allmacht der Gedanken tritt uns wohl bei der
Zwangsneurose am deutlichsten entgegen, die Psychoanalyse deckt sie aber auch
sonst, man kann sagen bei den Neurosen allgemein auf. Der Neurotiker
— führt Freud aus — lebt in einer besonderen Welt, in der nur die
„neurotische Währung" gilt, d. h. nur das intensiv Gedachte, mit Affekt Vor-
gestellte ist bei ihm wirksam, die Übereinstimmung mit der äußeren Realität
aber nebensächlich. Die Allmacht der Gedanken, die Überschätzung der seelischen
Vorgänge gegenüber der Realität erweist sich als unbeschränkt wirksam
im Affektleben des Neurotikers und in allen von diesem ausgehenden Folgen.
Die umfassende Bedeutung der Denkungsart von der Allmacht der Gedanken
wurde Freud vollends klar, als er (igia) das Seelenleben des Neurotikers
mit dem der Primitiven verglich. Die Abwandlungen der Idee von der
Allmacht der Gedanken sind Kennzeichen für die Phasen in der Entwicklung
der menschlichen Weltanschauung. Auf der ersten, animistischen Stufe behält
der Mensch der Magie treibende Primitive, die Allmacht der Gedanken für
366 A. J. Storfer
sich und tritt höchstens, einen sorgfaltig dosierten Teil dieser Allmacht den
von ihm beeinflußbaren, beschwörbaren Geistern, diesen Projektionen seiner
Gefühle, ab. Im religiösen Stadium hat der Mensch die Allmacht den Göttern
abgetreten, „aber nicht ernstlich auf sie verzichtet, denn er behält sich vor,
die Götter durch mannigfache Beeinflussungen nach seinen Wünschen zu
lenken. In der wissenschaftlichen Weltanschauung ist kein Raum mehr für
die AUmacht des Menschen . . . Aber in dem Vertrauen auf die Macht des
Menschengeistes, ■welcher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, lebt ein
Stück des primitiven Allmachtglaubens weiter." (Freud.) (Auch in der ■wissen-
schaftlichen Phase, in unserer Kultur, ist übrigens die Allmacht der Gedanken
auf einem Gebiete noch ganz erhalten geblieben, auf dem der Kunst. „In der
Kunst allein kommt es vor, daß ein von seinen Wünschen verzehrter Mensch
etwas der Befriedigung Ähnliches macht und daß dieses Spielen — dank der
künstlerischen Illusion — Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas
Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst . . . Die Kunst stand
ursprünglich im Dienste von Tendenzen. )
Die Vorstellung von der Allmacht der Gedanken bei den Primitiven und
bei den Neurotikem faßt Freud als ein fortlebendes Stück infantilen Größen-
wahns, als ein wesentliches Teilstück des Narziflmn« auf. „Das Denken ist
bei den Primitiven noch in hohem Maße sexualisiert, daher rührt der Glaube
an die Allmacht der Gedanken, die unerschütterUche Zuversicht auf die Mög-
lichkeit der Weltbeherrschung und die Unzugänglichkeit gegen die leicht zu
machenden Erfahrungen, welche den Menschen über seine wirkliche Stellung
in der Welt belehren könnten. Bei den Neurotikem ist einerseits ein beträcht-
liches Stück dieser primitiven Einstellung konstitutionell verblieben, andererseits
wird durch die bei ihnen eingetretene Sexualverdrängung eine neuerliche
Desexualisierung der Dönkvorgänge herbeigeführt. Die psychischen Folgen
müssen in beiden Fällen dieselben sein, bei ursprünglicher virie bei regressiv
erzielter libidinöser Übersetzung des Denkens : intellektueller Narzißmus,
Allmacht der Gedanken, Der animistischen Phase der Menschheits-
entwicklung entspricht die narzißtische (autoerotische) in der Kindheit
des Individuums. Den Autoerotismus und den Narzißmus des Kindes hat
besonders Ferenczi eingehend als die Allmachtsstadien der Erotik beschrieben.
Der Größenwahn des Kindes ist nach Ferenczi dadurch bedingt, daß es einen
Zustand in der menschlichen Entwicklung gibt, der das Ideal eines nur der
Lust fröhnenden Wesens nicht nur in der Einbildung und annähernd, sondern
in der Tat und vollkommen verwirklicht; es ist die im Mutter leibe
verbrachte Zeit. („Wenn dem Menschen im Mutterleibe ein wenn auch
unbewußtes Seelenleben zukommt, muß er von seiner Existenz den Eindruck
bekommen, daß er tatsächlich allmächtig ist. Denn was ist Allmacht? Die
Aus einem „Wörterbuch der Psychoanalyse 367
Empfündung, daß man alles hat, was man -will, und man nichts zu wünschen
übrig hat . . . Das Kind und der Zwangsneurotiker fordern nur die Wieder-
kehr eines Zustande», der einmal bestanden hat." Ferenczi.) Die Entwicklung
des Resditätssinnes stellt eine fortschreitende Reihe von Anstrengungen dar,
die das Kind macht, um sein primäres Allmachtsgefühl zu erhalten. Der
bedingungslosen Allmacht der Mutterleibs existenz folgt die magisch-
halluzinatorische Allmacht des Säuglings, die sich allmählich zu der Periode
der Allmacht mit Hilfe magischer Signale (Schreien, Zappeln, Flatus,
Handbewegungen) entwickelt (entsprechend der Magie der primitiven Völker,
dieser auf der narzißtischen Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge,
d. h. auf der Allmacht der Gedanken aufgebauten, konsequent gegen die Außen-
welt angewendeten Technik des Animismus).
Jones hat im besonderen noch untersucht, welcher der im Narzißmus
verschmolzenen und zusammenwirkenden Partialtriebe der Sexualität für die
Begründung des Allmachtgefühles beim Kinde am wichtigsten ist, und findet,
es sei die analerotische Komponente. („Die Vorstellungen von Gedanken
und Sprache sind im Unbewußten mit der des Flatus assoziiert, die sie im
Bewußtsein oft als Symbol vertreten, imd ich bin geneigt anzunehmen, daß
die Entstehung des Glaubens des Einzelnen an die Allmacht seiner Gedanken
dadurch bedeutend beeinflußt wird . . . Der Flatus ist für das Kind eines der
Hauptmittel zur Behauptung des AUmachtglaubens. " ) Daß das Allmachts-
gefühl besonders bei Zwangsneurotikern in auffallender Weise auftritt, betrachtet
Jones als eine Bestätigung seiner Annahme, da ja Haß und Analerotik gerade
beim Zwangsneurotiker eine entscheidende RoUe im Unbewußten spielen. —
Auch von Abraham ist die Analerotik zur Erklärung des Allmachtgefühles
herangezogen worden; ihm scheint die Vorstellung von der Allmacht der
Blasen- und Darmfunktion eine Vorstufe zur Allmacht der Gedanken zu sein.
■ Mac Curdy widmet eine besondere Studie der Beziehung zwischen der
Allmacht der Gedanken und der Mutterleibsphantasie in den Hephaistos-
Mythen und im Roman „The Coming Race" von Bulwer. Mit dem Motiv
der Allmacht der Gedanken in den Werken von Arthur Schnitzler beschäftigt
sich Reik in einem besonderen Kapitel seines Buches über diesen Dichter.
Vgl. auch Jbzrglauie, AmnäsmuS, Haß, Magie, Realitätssinn, Telepathie, Todesivunsch,
Zwangsgtäanken. — Speziell Über die „Allmacht des Wortes" auch den
Artikel Tf-ort.
Freud: Bemerkungen Über einen Fall von Zwangsneiu-ose. GS. VHI. 538 ff, 549.
— Totem und Tabu. GS. X. 106 ff. — Zur Psychopathologie des Alltagslebens. GS. IV. 285,
287 f. Zur Einführung des Narzißmus. GS. VI 157, 185. — Zeitgemäßes über
Krieg und Tod. GS.' X. 5^2 f- — Das Uidieiniliche GS. X 395, 401 f. — Massen-
pajcliologie und Ich-Analyse. GS. VI. 556,
g68 A. J. Storfer
Abraham: Zur nariißt. Bewertung der Exkretionsvorgänge. Klin. Beitrage 298 ff.
— JE. VI. 552 f. — Ferencii: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Int.
Zschr. f. PsA. I. 434 f. — Hitschmannr Freuds Neurosenlehre a. Aufl. ia6f. —
Jones: Einige FäUe von Zwangsneurose. JB. IV. 605. - Hafl und Analerotik in der
Zwangsneurose.Int-Zschr.r.PsA. I.429f. — Mac Curdy: Die Allmacht der Gedanken
und die Mutterleihsphantasie in den Mythen von Hephaistos und einem Roman von
Bulwer Lytton. Imago lU. 382 ff. — Rank: Der Doppelgänger. Imago III. i6i. —
Rank-Sachs: Bedeutung der PsA. für die Geisteswissenschaften. 58. — Reik:
Arthur Schnitzler als Psycholog. 32 ff. — Die Allmacht der Gedanken bei Arthur
Schnitzler. Imago 11. 319 ff.
Anwendbarkeit der psydioanalytischen Therapie .
Die psychoanalytische Therapie ist nur bei psychogenen Erkrankungen
anwendbar, also nicht bei reinen Aktualneurosen, deren Ätiologie ja physischer
(sexualphysischer) Natur ist. Aber auch nicht alle Psy choneurosen eignen sich
für die psychoanalytische Behandlung. Wälirend die Übertragungsneurosen
(Hysterie und Zwangsneurose) eine erhöhte Übertragungsneigung aufweisen,
sind die narzißtischen Erkrankungen (Schizophrenie, Paranoia, Melancholie)
durch eine außerordentlich stark verminderte, wenn nicht ganz, fehlende Über-
tragungsfähigkeit gekennzeichnet. Da die Übertragung die Voraussetzung für
ein Heüergebnis der psychoanalytischen Behandlung ist, so entziehen sich die
narzißtischen AfFektionen von vornherein der analytischen Therapie. (Freud:
„Bei den narzißtischen Neurosen ist der Vi'"iderstand unüberwindbar ; wir
dürfen höchstens einen neugierigen Blick über die Höhe der Mauer werfen,
um zu erspähen, was jenseits derselben vor sich geht." Wie weit dieser Blick
reicht, beziehungsweise inwiefern er doch praktische Vorteile für den Kranken
zeitigen kann, s. die Artikel Psychiatrie, Psychoim, Schizophrenie, Paranoia, Melancholie.)
Das eigentliche Gebiet der analytischen Tlierapie ist demnach das der
Übertragiingsneurosenr d. h. der Hysterie (Konversionshysterie und Angst-
hysterie) und der Zwangsneurose. Jedoch auch bei Patienten, die zu dieser
Neurosengruppe zu zählen sind, muß die Anwendbarkeit der analytischen
Tlierapie noch weiter eingeschränkt werden. Im folgenden seien die Gegen-
indikatiaiieii angeführt.
a) Da angesichts des „Krankheitsgewinnes" des Patienten ein gewisses Maß
an Heilungs willen als Ansatzstelle für die Analyse vorhanden sein muß, kann
die Analyse von vornherein als chancenarm bezeichnet werden, wenn der
Patient gegen seinen WUIen» etwa z. B. zufolge Zwang der Angehörigen, in
die Analyse kommt. Auch wenn der Patient sich nur mit Reservationen der
Analyse unterwirft, z. B. (etwa aus Rücksicht auf Amtsgeheimnisse oder aus
sonstiger Diskretion Dritten gegenüber) sich die Verheimlichung seiner Eita-
Aus einem „Wörterbuch der Psychoanalyse'" 569
fälle aus emem bestimmten Assoziationskreis vorbehält {s. Grundregtl), oder eine
Frist für die Beendigung der Kur setzt (s. Dauer der Bekandiimg), muß die
Anwendung der psychoanalytischen Therapie als verfehlt bezeichnet werden.
b) Personen, die ein bestimmtes Maß von Reife und Intem^enz nicht
aufweisen, eignen sich nach Freud für die analytische Behandlung nicht.
(Die Erfahrung an den Psychoanalytischen Polikliniken muß uns den geistigen
Grad, unter welchem Patienten zurückzuweisen smd, erst in Hinkunft bestimmen
lehren; jedenfalls kann angenommen werden, daß selbst ein weitgehendes
Fehlen an BUdung durch die charakteristische InteUigenz vieler Neurotiker
wettgemacht werden kann, da es ja vor allem nicht auf irgendwelche Kennt-
nisse, sondern nur auf die Fähigkeit der Einsicht und des Verständnisses für
die Aufklärungen des Analytikers ankommt.) — Zufolge der fehlenden Reife
und Einsicht ist im allgemeinen auch das kindliche Alter eine Gegen-
indikation (s. jedoch Kinderartalxitn'). — Weder die besondere Vertrautheit
des Patienten mit der psychoanalytischen Lehr^ (s. Wissen des Analysanden) noch
die völlige Unkenntnis (s. Ahnungslose) kann von vornherein als Gegen-
indikation oder als besonders begünstigendes Moment betrachtet werden ( — es
kann eben sowohl die Kenntnis als die Unkenntnis der Lehre dem Analysanden
als Stütze für den Widerstand, beziehungsweise für die positive Übertragung
dienen). Was allerdings das theoretische Wissen („Zuvielwissen") des Patienten
anbelangt, so neigt man neuerdings in der psychoanalytischen Literatur dazu,
es, wenn auch nicht gerade als Gegenihdikation, immerhin als ein thera-
peutisch erschwerendes Moment anzusehen (Ferencai-Rank). Besonders
auch in Bezug auf die Kenntnis der Literatur über besondere Kunstgriffe,
technische Details der analytischen Therapie ist in letzter Zeit in mündlichen
Analysenbesprechungen öfters die Meinung vertreten worden, sie vermindere
die therapeutische Wirksamkeit; man kann daher in der Literatur, die natur-
gemäß auch Patienten zugänglich ist, in letzter Zeit eine gewisse Zurückhaltung
in der Behandlung technischer Fragen deutlich beobachten. (Über die für die
Analyse ungünstigen Umstände beim Lehren-, beziehungsweise Lemenwollen
S, Lehranalyse.)
cj Auch vorgeschritteneB Lebensalter hat Freud 1898, beziehungs-
weise 1904 als ein die psychoanalytische Therapie ausschließendes Moment
angegeben. Sie scheitere bei Personen über vierzig, insbesondere bei denen
nahe an oder über fünfzig Jahre, erstens daran, daß die Plastizität der seelischen
Vorgänge (Erziehbarkeit) bei ihnen bereits zu fehlen pflegt, zweitens daran,
daß das Durcharbeiten des angehäuften Erinnerungsmateriales die Behandlungs-
dauer bei ihnen ins Unabsehbare verlängern und die Beendigung der Kur in
einen Lebensabschnitt gelangen lassen würde, für den auf nervöse Gesundheit
nicht mehr Wert gelegt wird. (Jones, für den das höhere Alter ein „ernst-
i;
37° A. J. Storfer
zimehnientles Hindernis" ist, meint jedoch, die verminderte Piastizitat und die
Menge des Materials spreche nicht unmittelbar gegen die Behandlung Bejahrter,
sondern: die geringere Möglichkeit, einen neuen Anfang zu machen, eine
andere Stellung im Leben einzunehmen, sei eben ein Moment, das auch das
Interesse des Arztes an dem Falle ungünstig beeinflußt.) Die ursprüngliche
Freud sehe Ansicht, die Erstarrung der Libidobesetzung im höheren Alter
und die Verminderung der Beeinflußbarkeit sei Grund genug, bei Patienten
über fünfzig Jahre von einer analytischen Behandlung abzusehen, hat später
Einschränkungen erfahren. Jones berichtet, auch bei älteren Patienten, sogar bis
zum sechzigsten Lebensjahr, bedeutende Erfolge erzielt zu haben, Abraham
läßt zwar keinen Zweifel an der allgemeinen Richtigkeit der ursprünglichen
Freudschen Auffassung aufkommen (denn es sei ja von vornherein wahr-
scheinlich, daß man mit Beginn körperlicher und psychischer Involution weniger
bereit ist, von einer Neurose zu lassen, die das Leben bis dahin begleitet hat),
aber er hat eine Reihe von Neurosen mit chronischer Verlaufsart bei Personen
behandelt, die das Alter von vierzig, zum Teil das von fünfzig Jahren über-
schritten hatten, und zu seiner Überraschung reagierte ein erheblicher TeU
dieser Patienten in der allergünstigsten Weise auf die Analyse, {„Heilerfolge,
die zu den besten von mir überhaupt erzielten gehören.") Allerdings mußte
Abraham auch Mißerfolge bezeichnen. Eine Gegenüberstellung dieser mit den
Heilerfolgen führte dazu, in der Frage der Altersgrenze ein spezielles Moment
heranzuziehen: prognostisch günstig sind nach Abraham auch noch im vor-
geschrittenen Alter diejenigen Fälle, in denen die Neurose mit voller Schwere
erst eingesetzt hat, nachdem der Kranke sich schon längere Zeit jenseits der
Pubertät befand und sich mindestens einige Jahre hindurch einer annähernd
normalen sexuellen Einstellung und sozialen Brauchbarkeit erfreut hat. Das
Lebensalter, in dem die Neurose ausgebrochen ist, falle also für den
Ausgang der Psychoanalyse mehr ins Gewicht, als das Lebensalter zur Zeit der
Behandlung, das Alter der Neurose sei belangreicher als das des Neurotikers.
(Abraham fügt noch einige Bemerkungen hinzu, wie sich im allgemeinen
die Behandlung im vorgeschrittenen Lebensalter von der jüngerer Patienten
unterscheidet: während man im allgemeinen dem Patienten die Führung der
Analyse insofeme überläßt, als er selbst in jeder Behandlungsstunde den Ausgangs-
punkt seiner freien Assoziationen wählt, bedürfen bestimmte altere Patienten
jedesmal eines Anstoßes von seiten des Arztes.) — (Die Altersstatistik In den
Berichten der „Berliner Psychoanalytischen Poliklinik", die auch Patienten
über sechzig Jabre aufweisen — und zwar sieben in der Berichtsperiode
März 1920 bis Juni 1922 und zwei in der Periode Juni 1922 bis März 1924,,
hat den Mangel, daß mau nicht zu unterscheiden vermag, wieviel „Kon-
sultationen und wieviel wirkliche „Behandlungen" axif die einzelnen Alters-
Aus einem „Wörterbuch der Psychoanalyse" 571
klassen entfallen, auch nicht, wie die Heilerfolge sich verteilen; in den abgedruckten
Behandlungslisten ist keiner der in den Alters Statistiken der beiden Berichts-
perioden zusammen enthaltenen neun Patienten über sechzig Jahre zu finden ; von
den in den Altersstatistiken der beiden Perioden zusammen angeführten fünfund-
zwanzig Patienten zwischen fünfzig und sechzig sind in den Behandlungslisten
drei festzustellen, — und zwar einer mit fünzig und zwei mit zweiundfünfzig
Jahren, — bei diesen ist das Ergebnis als „gebessert", beziehungsweise „wesent-
licli gebessert" gekennzeichnet.)
d) Freud fordert auch ein gewisses ethisches Niveau vom Patienten
und hat den Rat erteilt, Patienten zurückzuweisen, die nicht einen einiger-
maßen verläßlichen Charakter besitzen. („Bei wertlosen Personen läßt den
Arzt bald das Interesse im Stiche . . . Ausgeprägte Charakterverbildungen
äußern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu überwindenden Widerständen.")
c) Während einer akuten Krise, z. B. einer hysterischen Verworrenheit,
irt mit Mitteln der Psychoanalyse nichts zu leisten. Das pathologische Material
muß — -wie Freud ausführt — von einem psychischen Normalzustand aus
bewältigt werden. „Man kann solche Fälle dem Verfahren noch unterziehen,
nachdem man mit den gewöhnlichen Maßregeln die Beruhigung der stürmischen
Erscheinungen herbeigeführt hat. Auch w^enn es sich um die rasche Beseiti-
Hung einer drohenden Erscheinung, z. B. einer hysterischen Anorexie handelt,
ist die Analyse nicht am Platze, da solchenfalls eine unmittelbare Symptoms-
bekämpfung zunächst wichtiger ist als eine kausale Therapie. (Daß jene Fälle
von akuten Krisen, Verworrenheiten, Depressionen, die psychotischer Natur
sind, eine Gegenindikation für die psychoanalytische Literatur darstellen, braucht
nicht besonders gesagt zu werden, entziehen sich ja die sogenannten Psychosen
schon zufolge ihrer Zugehörigkeit zu den narzißtisdien Affektionen der analy-
tischen Therapie; s. oben.)
f) Als eine besondere — allerdings erst im Verlaufe der Kur zutage
tretende — Gegenindikation beschreibt Freud noch eine sich allzn heftig
nnd unabiveisbar g'eb&rdende Übertragiuig'> Bei gewissen Patientinnen,
Frauen von elementarer Leidenschafdichkeit, die keine Surrogate vertragen
(bei denen es allerdings auch wunderlich erscheint, daß die unbeugsame Liebes-
bedürftigkeit die Fähigkeit zur Neurose doch nicht ausschließt), versagt das
Bestreben des Arztes, die Liebesübertragung für die analytische Arbeit zu
erhalten, ohne sie zu befriedigen, „Bei diesen Personen steht man vor der
Wahl : entweder Gegenliebe zeigen oder die volle Feindschaft des verschmähten
Weibes auf sich laden. In keinem von beiden Fällen kann man die Interessen
der Kur wahrnehmen. Man muß sich erfolglos zurückziehen." — (Ferenczi
und Rank warnen davor, die stürmische positive Übertragung allzu leicht als
Gegenindikation zu betrachten ; sie sei oft, besonders wenn sie sich am Anfang
272
A. J. Storfer: Ans einem „Wörterbuch der Psychoanalyse"
der Kur äußert, nur ein Widerstandssymptom, das nach Demaskierung verlangt.
Immerhin geben auch Ferenci und Rank prinzipiell die Möglichkeit derartiger
extremer Fälle zu, wo die Analyse ^ solchen quantitativen Momg^n
scheitern muß.)
Im Obigen sind die Bedingungen angeführt, denen die Art der Krankheit
und die Art des Patienten entsprechen muß, damit die psychoanalytische
Behandlung anwendbar sei. Über jene Bedingungen, die durch den behan-
delnden Arzt erfüllt sein müssen, s. ATuzfytikir.
Über die umstrittene Frage der Anwendbarkeit der Psychoanalyse außer-
halb des Gebietes der neurotischen Erkrankungen s. Organische Krm^Mten.
Freud: Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. GS. I. - Über Psycho-
therapie GS VI 18 ff. — Die Freudfiche psychoanalytische Methode. GS. VI. 8 ff . —
Zur Einleitung der Behandlung. GS. VI. 85 ff- - Bemerkungen über die Übertragung«-
liebe. GS. VI. 129. — Vorlesungen. GS. VII. 4581 455 ^1 ^°i' t
Abraham- Zur Prognose psa. Behandlungen im vorgeschrittenen Lehensalter.
Klinische Beiträge. .9. ff. (Ref. Van Ophuijsen: Bericht 159 f-X" EU.ngon:
Bericht über die Berliner PsA. Poliklinik. .9... - Zweiter Bericht mw. 19=4. -
Ferenoxi- Populäre Vorträge, .3. - Bericht 113. -^ Ferenczi-Rank; Entw.ck-
lungsiiele der PsA. 40 f, 60 f, 62.,- Hitschmann: Freuds Neuro senlehre. 2. Aufl
,,gf, _ Jones: Therapie der Neurosen. 105 f.
f.