XIX. Band
1933
Heft 4
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm* Freud
Unter Alitwirkung von
Girindrashekhar Bose
Kalkutta
A. Borei N. L. Blitzten
Paris Chicago
Lucile Dooley M. Eitingon I* Hollos Ernest Jones
Washington Berlin Budapest London
J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin y. K. Yabe
Haag Basel Tokio
redigiert von
Paul Federn, Heinz Hartmann, Sandor Rado
Wien Wien New York
A. A. Brill
New York
J. W. Kannabich
Moskau
S m i t h E l y Je 11 i f f e.
Die Parkinsonsche Körperhaltung
Felix B o e h m.
Beiträge Zur Psychologie der Homo*
Sexualität
Therese Benedeie.
über die psychischen Prozesse hei
Basedow*Psy chosen
A. Kielhol? ..
Edmund Bergler
VYeh’ dem, der lügt!
und Ludwig Eidelherg .
Der Mammakomplex des Mannes
M. Wulff.
über den hysterischen Anfall
Vorläufige Mitteilungen — Referate
1) Die in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ veröffentlichten Beiträge werden
mit Mark 25.— per sechszehnseitigen Druckbogen honoriert.
2) Die Autoren von Originalbeiträgen sowie von Mitteilungen im Umfange über zwei Druck¬
seiten erhalten nach Wahl zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes.
3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache zur
Verfügung stellen, werden vom Verlag getragen; die Autoren solcher Beiträge erhalten kein Honorar.
4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenschrift (einseitig und
nicht eng geschrieben). Es ist erwünscht, daß die Autoren eine Kopie ihres Manuskriptes behalten.
Zeichnungen und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Die Zeichnungen
sollen tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst reproduziert werden kann.
5) Mehrkosten, die durch Autorkorrekturen, das heißt durch Textänderungen, Einschaltungen,
Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursacht werden, werden vom Autoren¬
honorar in Abzug gebracht.
6 ) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch und auf Kosten des Autors angefertigt.
Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge
bis
8 Seiten für
25
Exemplare Mark
für 50 Exemplare
Mark
20.—
von 9
*6 „ »
25
n
11
20.—,
» 50
w
11
25 -—
» 17
»
24 » »
25
11
99
3 °- 1
» 5 °
yy
11
40.—
»
32 „ „
25
99
91
3 5—1
11 50
»
11
4 J.—
Mehr als 50 Separata werden nur nach besonderer Vereinbarung mit dem Verlag angefertigt.
Wir machen hiemit unsere Autoren auf folgendes aufmerksam:
Nach den gesetzlichen Bestimmungen kann bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungsjahr
einer Arbeit folgenden Kalenderjahren über Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur
mit Genehmigung des Verlages verfügt werden. Auf Grund eines generellen Übereinkommens, das
wir mit dem »International Journal of Psychoanalysis« getroffen haben, steht es jedoch jedem
Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages der letztgenannten Zeitschrift das Recht
der Übersetzung und des Wiederabdrucks einzuräumen.
Die Genehmigung einer Wiederveröffentlichung oder Übersetzung in einem anderen Organ
muß, um Berücksichtigung finden zu können, zugleich mit Übersendung des Manuskriptes verlangt
werden.
Die Redaktion
Redaktionelle Mitteilungen und Sendungen aus allen Rändern mit Ausnahme der U. S. A.
bitten wir zu richten an Dr. Paul Federn und Dr. Heinz Hartmann/ p. A. Internationaler Psychoanaly»
tischer Verlag, Wien, I., Börsegasse 11.
Redaktionelle Mitteilungen und Sendungen aus den U. S. A. an Dr. Sandor Radö, 324 West,
80 th Street, New York City.
Bestellungen und geschäftliche Zuschriften aller Art an
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, V^ien, I v Börsegasse !!♦
Internationale ^eitsc Krift
für P sydioaoalyse
Herausgegeten von Sigm. Freud
XIX. Band
1933
Heft 4
Die Parldnsonscke Körperhaltung
t Einige Betrachtungen über unbewußte Feindseligkeit
Von
Smith Ely Jelliffe
New York
Das Verständnis für den Sinn und die Bedeutung der Bewegungsvorgänge
charakterisiert den gegenwärtigen langsamen und beinahe unmerklichen Über¬
gang der mehr statischen zu einer dynamischen Neurologie. Im folgenden will
ich zu zeigen versuchen, wie man aus den verschiedenen sinnvollen Elementen,
welche die charakteristischen Körperhaltungen des Parkinsonismus kenn¬
zeichnen, als ein spezifisches Element die Feindseligkeit hervorheben kann,
deren Abwehr sich ausgesprochenermaßen in dem am meisten hervortretenden
Bewegungsbild dieses Syndroms ausdrückt. Wenn man von der Beschreibung
eines Bewegungsbildes zu seinem Verständnis fortschreiten will, wird man die
äußere Beobachtung durch die Erfassung der die Motorik beeinflussenden
Faktoren ergänzen müssen, die in der Tiefe der Persönlichkeit wirken, nämlich
im Unbewußten im Sinne Freuds.
Es soll hier zwar keine rein psychoanalytische Studie gegeben werden,
doch wird der Versuch gemacht, die psychoanalytische Methode beim Studium
des Parkinsonismus, sowohl des arteriosklerotisch-senilen als auch des met-
enzephalitischen Typs, anzuwenden. Die Ergebnisse führen nicht nur zu einem
Verständnis der Parkinsonschen Körperhaltung, sondern sind auch von be¬
sonderem Nutzen für eine psychische Behandlung des Parkinsonismus. Der
Gedanke an solch eine Psychotherapie bedeutet nicht den Verzicht auf die
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
4 86
Smith Ely Jelliffe
Anwendung bewährter Medikamente. Medikamentöse Mittel mag die Psycho
therapie als vorbereitende oder ergänzende Maßnahmen gebrauchen. Aber wir
vertreten hier die Ansicht, daß es heute nicht mehr angeht, ohne die psycho
logischen Faktoren, die hier so stark mit hineinspielen, zu berücksichtigen
sich allein auf Drogen ohne richtige Kenntnis ihrer Pharmakodynamik zu
verlassen, wenn deren Anwendung auch empirisch gerechtfertigt ist.
An anderer Stelle haben wir die Beschreibung motorischer Erscheinun^s-
typen sinnvoller Art, besonders auf dem Gebiet der Enzephalitis und der
Schizophrenie, zusammengefaßt. Es ist nicht nötig, hier zu wiederholen, was
wir dort in Übereinstimmung mit anderen Autoren über den „motorischen
Haushalt“ (Schaltenbrand) dieser Patienten gesagt haben. Ebenso er¬
übrigt sich eine Beschreibung der Dyskinesien des Parkinsonismus. Uns liegt
daran, die Auffassung zu rechtfertigen, die in der spezifischen Parkinson-
Haltung eine unwillkürliche Verteidigungsstellung sieht, vergleichbar etwa der
lauernden Annäherung des Boxers oder Ringers an seinen Gegner oder auch
der erwartungsvollen schleichenden Haltung so vieler primitiv-religiöser Tanz¬
rituale. Man könnte die Übereinstimmungen des Parkinsonkranken mit dieser
motorischen Mimik durch den Nachweis der Tätigkeit derselben funktionellen
Muskeleinheiten zu belegen suchen und dabei etwa besonders auch das Zittern
und seinen bereits häufig kymographisch untersuchten Verlauf heranziehen;
es wäre auch interessant, die Genese der Körperhaltung in Verbindung mit
den Tonusproblemen vom Gesichtspunkt der Fortschritte der physiologischen
Chemie, der Reflexologie und der Lehre von den willkürlichen Bewegungen
aus zu betrachten; auch das ist schon von anderer Seite gut und eingehend
geschehen. Wir werden uns aber hier mit einer kurzen Klarstellung unseres
Standpunktes begnügen.
Nach der Formulierung von Whitehead (in seiner Arbeit „Science and
the Modern World“) sind die konkreten Lebewesen, insofern sie sich am
Leben erhalten (enduring entities), Organismen in dem Sinne, daß die
dem Gesamtorganismus innewohnende „Ganzheitsidee“ (the plan of the
whole) die Funktionen der untergeordneten Organisationen bestimmt. Beim
Tier erscheint die Ganzheit (mentality) als Grundrichtung des Gesamtorga¬
nismus, die alle untergeordneten Organisationen: Organe, Gewebe, Zellen,
Biomoleküle und die letzten kleinsten Einheiten, beispielsweise die Elektronen,
beeinflußt. So unterscheiden sich Elektronen innerhalb eines lebendigen Kör¬
pers von solchen außerhalb desselben durch dessen „Ganzheitsidee“. Ohne
diese zu kennen, kann man nicht verstehen, was in den Organen und in den
Elektronen innerhalb der Organe vor sich geht.
Die Parkinsonsche Körperhaltung
487
Will man motorische Äußerungen Schizophrener oder irgendwelcher ande¬
rer Kranker verstehen, so muß man auch in ihnen die Auswirkung einer
Grundidee, der „Persönlichkeit“, erkennen; deshalb ist ein psychologisches
Vorgehen nicht nur wünschenswert, sondern direkt geboten. So gelangt man,
um Sokrates 5 Worte aus seinem berühmten Dialog mit Charmides zu ge¬
brauchen, „zum Körper nur über die Seele“. Eine neusokratische Formulierung
^äre etwa: Man versteht das körperliche Verhalten, wenn man seine psy¬
chische Bedeutung versteht.
In einem Vortrag der amerikanischen Gesellschaft zur Erforschung der
Nerven- und Geisteskrankheiten im Jahre 1929 wählte ich zum Verständnis
dieses Stoffes einen Ausdruck von Henry H e a d, nämlich vigilance (Span¬
nungszustand). Ich versuchte zu zeigen, warum meine Auffassung als Anti¬
these oder besser als Gewichtsverlagerung zu Fr. von Kraus 5 „Tiefen¬
person“ bezeichnet werden kann. Man könnte die Wirksamkeit seiner „Tiefen¬
person“ und des „Ionenmilieus“ anerkennen und deren Beziehungen zum
„Spannungszustand“ dann noch ergänzend hinzufügen. Dies erforderte zu¬
nächst die Darstellung des Materials über die physiologischen Vorbedingungen
der Muskelerregbarkeit, wovon erst ein recht dürftiger Bruchteil gesichert,
eine unübersehbare Menge jedoch noch unverarbeitet oder umstritten ist.
Besonders wäre die Frage nach Entstehung und Ablauf der Muskelbewegung,
nach dem Wesen der „Reizbarkeit“ zu erörtern, die als physiologische Ge¬
gebenheit trotz aller physikalisch-chemischen Erkenntnisse, Hypothesen und
Theorien unnahbarer bleibt als je. Ejs erforderte weiter die Klarstellung des
umstrittenen Gebietes der vegetativen Innervation der glatten sowie des un¬
gelösten Problems der doppelten Innervation der quergestreiften Muskulatur,
ungelöst besonders im Hinblick auf die Probleme der Beteiligung der ver¬
schiedenen Zentren bei kataleptischen und katatonen Erscheinungen. Dafür
wiederum wäre die Phylogenie der Reflexe entscheidend. Dieser ganze Fragen¬
komplex soll hier nicht ausführlicher behandelt werden. Im Lichte des „Span¬
nungszustands“, der „ vigilance “ gesehen, enthält er aber äußerst wichtige
Momente.
Wir wollen nun H e a d s Untersuchungen über den „Spannungszustand“ 1
bei spinalen Phänomenen heranziehen. 2 Bekanntlich folgt auf die Durch¬
trennung des Rückenmarks ein schlaffer, atonischer Zustand mit Verlust der
1) H e a d, Vigilance, British Journal of Psychology, 14, S. 126 (1926).
2) He ad and R i d d o c h, Brain, 40, S. 188 (1917); H e a d, Neurological Studies,
^20, II, S. 467.
488
Smith Ely Jelliffe
Blasen- und Rektumkontraktionen und Aufhebung tiefer und oberflächlich
Reflexe. Bei jungen und gesunden Individuen kehren nach Ablauf des spinalen
Schocks die tiefen Reflexe wieder, erst der Achillessehnenreflex, dann der
Patellarreflex und schließlich entwickelt sich ein Babinskireflex. Danach er
scheinen automatische Blasen- und Rektumkontraktionen und schließlich die
typische „Massenreflex*‘-Bewegung. In diesem Stadium ruft der geringste
äußere Reiz ausgedehnte automatische Reflexbewegungen hervor, und beinahe
jeder äußere Reiz unterhalb der Läsionsstelle kann diese erstaunlich empfind¬
lichen Reaktionen auslösen.
Bei dem dezerebrierten Tier höherer Ordnung besteht eine ähnliche hoch¬
wertige physiologische Leistung im erhöhten Stellungstonus der Extensoren
und in fein differenzierten Reaktionen. „Wenn wir nicht wüßten“, schreibt
H e a d, „daß das ganze Gehirn entfernt worden ist, möchten wir meinen,
daß die Aktionen des dezerebrierten Tieres vom Bewußtsein geleitet werden.
Es leitet keine Spontanbewegungen ein, aber die Reaktion zeigt immer eine
zweckmäßige Anpassung.“ Diese „zweckmäßige Anpassung“ erfordert, da
höhere Differenzierung der Handlung auch einen differenzierteren und wirk¬
sameren Bereitschaftszustand der Muskulatur verlangt, ein relativ hoch organi¬
siertes Funktionieren auch der niederen Zentren. Wenn ein Reiz die Bewegung
erst einmal ausgelöst hat, scheint deren weitere Durchführung keinerlei be¬
wußter Mitarbeit zu bedürfen.
„Jede automatische Handlung ist eine Übung des physiologischen Ge¬
dächtnisses“, wie He ad sich ausdrückt; oder nach Semon: Jede auto¬
matische Handlung „ekphoriert“ die phylogenetischen und ontogenetischen
„Engramme“. (Vgl. Schilders „Entwicklung des Gedankens“ vom Kern
zur Peripherie der Persönlichkeit.) 3 Dieser Mneme der Schemata, nach denen
automatische Handlungen ablaufen, entsprechen unbewußten „Gestalten“. Es
ist bekannt, daß diese Engramm-Muster oder Schemata durch neue Erlebnisse,
die die Persönlichkeit in den verschiedensten Schichten angreifen können,
allmählich modifiziert werden. Die von M a r s h a 11 Hall in so be¬
stechender Weise begonnenen, von Sherrington, Magnus und de
K 1 e i j n weitergeführten und kürzlich von F u 11 o n so geschickt zu¬
sammengefaßten Arbeiten darüber stehen so sehr im Vordergrund des In¬
teresses, daß wir uns hier auf sie beziehen dürfen, ohne näher auf sie einzu¬
gehen. Ihr Eindringen ins Gebiet der Psychiatrie wurde schon durch H u g h-
lings Jackson angebahnt, W e r n i c k e legte sie der Psychiatrie zu-
3) Schilder: Über Gedankenentwicklung.
Die Parkinsonsche Körperhaltung
489
gründe und Kleist, Goldstein, Schilder und andere, mögen ihre
Ansichten auf den ersten Blick auch stark divergieren, nähern sich doch
einer Betrachtungsweise, die die in Frage stehenden Phänomene zu verstehen
^stattet. Nimmt man nun noch psychoanalytische Erkenntnisse zu Hilfe,
so gelangt man zu einem tieferen Verständnis der Vorgänge, die im Körper
jls Ganzem wirksam sind.
Wenn Head (S. 136) sagt, „daß jede Läsion, die die automatischen Ab¬
läufe stört, den Stellungstonus beeinflußt“, hätte er weitergehen und das Wort
y$ Reiz“ statt „Läsion“ gebrauchen können. Denn jeder Reiz, der einmal die
perzeptionsschwelle überschritten hat, ruft eine Dauerspur hervor, die bewirkt,
daß die Reaktion auf spätere ihm ähnliche Reize prompter und angepaßter
erfolgt. Hemmung höherer Stufe kann der angepaßten Reaktion einer niederen
Stufe entsprechen. Das Bild, das eine Handlung schließlich bietet, kann teil¬
weise durch von höheren Zentren veranlaßte dynamische Hemmung primi¬
tiverer Reaktionsweisen ermöglicht sein.
Es wird in der vorliegenden Arbeit angenommen, daß alles biologische Ge¬
schehen von diesen allgemeinen Reaktionsgesetzen abhängt und Beziehungen
hat zum „Spannungszustand“ mit seinen Hemmungen und angepaßten Reak¬
tionen. Nun aber müssen wir uns von Head trennen, für den „Bewußtsein“
und „Regulierung des Spannungszustandes“ identisch sind. „Ich lasse solche
geistigen Zustände, die unbewußt genannt werden, völlig außer acht“, schreibt
er, „die einst einen Teil des Geisteslebens gebildet haben und die, obschon
für den Augenblick verdrängt oder außerhalb der Aufmerksamkeitssphäre
stehend, unter günstigen Bedingungen einen direkten psychischen Einfluß aus¬
üben können.“ Ist dies möglich? Ist es nicht ein Unding, zu glauben, daß
irgend ein kleines Stück Geschehen oder Verhalten, und sei es auch nur
ein spinaler Reflex, richtig verstanden werden kann, wenn das Unbewußte
außer acht gelassen wird?
Wir müssen annehmen, daß die physikalisch-chemische Stabilität eines
Organismus, wie sie in der Unversehrtheit des Ionenmilieus zutage tritt und
hauptsächlich durch das kortiko-dienzephale vegetative Zusammenspiel kon¬
trolliert wird, ferner Reflexautomatismen mit ihren kortiko-striären senso-
motorischen Bahnen unter der Kontrolle der fronto-kortikalen Assoziations¬
bahnen stehen, die niederere Reaktionen unterdrücken können. Dasselbe Prin¬
zip findet man in der von der Psychoanalyse festgestellten Tatsache wieder,
daß das Ich mit Hilfe der Verdrängung und anderer Abwehrmechanismen
vom Es intendierte Abläufe hemmen kann (wobei es den ihm vom Über-Ich
auf erlegten Anforderungen folgt). Die Aufgabe des psychischen Apparates ist
490
Smith Ely Jelliffe
die Reizbewältigung; sie wird einerseits durch die Überfülle äußerer Reiz
anderseits durch die triebhemmende Tätigkeit des Ichs, die dem Uber Ich
und letzten Endes der Außenwelt gehorcht, kompliziert.
Während des Wachzustandes dringen unaufhörlich Reize auf die Rez
toren des Menschen ein; aber nur ein kleiner Teil derselben löst bewußte R e
aktionen des Ichs aus. Würde diese fortwährende Engraphie nicht in ver
schiedener Weise nachträglich bearbeitet, so müßte ein Zustand d~r
Überspannung entstehen, wie ihn die humoristische Frage charakterisiert: Was
würde ein Chamäleon tun, wenn man es auf ein schottisches Plaid setzte?
Die relative Reizlosigkeit des Schlafzustandes ermöglicht die Vermeidung
einer solchen Überspannung, indem sie eine nachträgliche Verarbeitung der
unbewältigten Reize gestattet. Diese Verarbeitung muß dann noch mit der
anderen Komplikation, der triebhemmenden Tätigkeit des Ichs, fertig werden
Die Traumarbeit verwebt die verschiedenen an den psychischen Apparat ge¬
stellten Ansprüche nach Mustern aus der frühen ontogenetischen Erfahrung
der Kindheit zu einem Ganzen. Aber auch tagsüber ringen Abfuhrtendenzen
und Triebhemmungen miteinander. Ein starkes Über-Ich macht die Arbeit
der Verdrängung verhältnismäßig leicht, ein schwaches Über-Ich erlaubt den
Trieben des Es, das Ich mit sich fortzureißen. Alle die feineren kaleidoskop¬
artigen Variationen der menschlichen Haltung entsprechen Kompromissen
zwischen den widerstreitenden Tendenzen.
Geradeso wie der Massenreflex oder die Automatismen dezerebrierter Tiere
in der Norm in ihren Manifestationen gehemmt werden können, so können
auch Hemmungen dieser Art gestört werden und es kann die modifizierte
Motorik entstehen, die wir beim Parkinsonismus vor uns sehen.
Wenn man von der pathologisch-anatomischen Seite aus feststellt, daß
etwa beim Enzephalitiker ausgesprochene Läsionen vorhanden sind, so ist
dies zwar zweifellos von allergrößter Bedeutung im Hinblick auf mancherlei
Problemstellungen; es enthebt uns aber nicht der Aufgabe, beim Studium der
Bedeutung des motorischen Verhaltens in erster Linie auf die Kontrolle der
Triebregungen durch das Ich zu achten. In der psychoanalytischen Forschung
sind immer noch genug Probleme über den Kampf zwischen Trieb und Trieb¬
abwehr unerforscht. Es gilt nicht nur, die Mechanismen der Verdrängung und
der anderen Abwehrarten eingehend zu erforschen, sondern auch den Schick¬
salen der Besetzung der abgewehrten Triebe im einzelnen nachzugehen. Wie
im Somatischen erhöhte Temperatur, beschleunigte Atmung und Leukozytose
sich verbünden, um dem Angriff einer Infektion zu begegnen, so können auch
die Triebabwehrkämpfe verschiedener Art als Versuche zur Anpassung an
Die Parkinsonsche Körperhaltung
491
r
eine durch Anforderungen der Außenwelt oder des Über-Ichs neu entstan¬
dene Situation, d. h. als wiederherstellende und heilende Faktoren betrachtet
werden.
Wenn wir uns mit der Motorik des Enzephalitikers naher befassen wollen,
tun wir gut, ein besonders ausgesprochenes Beispiel zu wählen. Ein solches
stellt die Parkinsonsche Haltung mit Bradykinesie, Akinesie, Gedankenträgheit
usw. dar. Wir wissen zunächst nur, daß die ganze Krankheit mit einem infek¬
tiösen Insult beginnt, und welches motorische Bild sie schließlich bietet. Den
Forschungen über die Lokalisation der Attacken des Virus, die uns in diesem
Zusammenhang nur von sekundärer Bedeutung sind, wird vielfach deshalb
Gewicht beigelegt, weil der Verlauf des klinischen Krankheitsbildes als ein
Fortschreiten des enzephalitischen infektiösen Prozesses gedeutet wird. Es ist
gewiß richtig, daß im Sinne der H e a d sehen Auffassung des Spannungs¬
zustands angenommen werden muß, daß jedes neue Aufleben der Infektion
das Fortschreiten der motorischen Störung begünstigt. Aber die durch die
Krankheit mobilisierten Triebkonflikte, die schon für sich allein schwere Pro¬
bleme stellen, genügen vielfach zum Verständnis und brauchen nicht durch
die durchaus zugegebene Möglichkeit eines Fortbestehens der Infektion kom¬
pliziert zu werden. Und dieser Verdrängungskampf, mag er nun durch infek¬
tiöse Schädigung bedingt oder nur das Resultat eines Persönlichkeitsdefektes
sein, ist ein großes Problem von außerordentlicher Bedeutung.
Beim Parkinsonkranken ist sowohl eine reale als auch eine neurotische Be¬
drohung seines Gleichgewichts vorhanden. Erstere, weil der Bewegungs¬
apparat mehr oder weniger gestört ist, letztere, weil die Krankheit alte Trieb¬
konflikte mobilisiert. Die gesamte dynamische Situation ist verändert. Zum
Verständnis möchte man der Entwicklung des Charakters des einzelnen
Kranken besondere Aufmerksamkeit schenken, besonders der Gestaltung seines
Über-Ichs. Man trifft Patienten, welche eine Enzephalitis mit deutlichen
„Herdsymptomen“, das heißt mit Symptomen, die durch bestimmte, lokali¬
sierbare Läsionen des Nervensystems hervorgerufen werden, durchgemacht
haben und doch wieder völlig geheilt sind. Hier handelt es sich also um Indi¬
viduen mit einer starken Heilungstendenz, der vielleicht ein in gewissem Sinne
starkes Uber-Ich entsprechen mag, denen Konstitution und wohl auch frühes
Erleben ermöglichten, Schwierigkeiten durch Anerkennung der Realität zu
überwinden, statt zu Phantasien, Tagträumen oder Selbsttäuschungen ihre
Zuflucht zu nehmen. Eine solche Fähigkeit zur Anpassung ist imstande, das
Ich sozusagen von der unumgänglichen Realität zu überzeugen und so Regres¬
sionen zu verhindern; das Ich bleibt in der Lage, den Apparat auch in be-
49 2
Smith Ely Jelliffe
schädigtem Zustande vorteilhaft zu handhaben und ihn trotz des Defekts zu
normalen Funktion zurückzuführen.
Bei einem „schwachen Uber-Ich“ aber, wie man es entweder bei Kindern
(man beobachte die Wirkung der Enzephalitis auf die Haltung des Kindes!)
oder bei Leuten mit schwächerer Konstitution antrifft, wird die tatsächliche
Funktionsbeeinträchtigung in neurotischer Weise beantwortet und das Problem
wird komplizierter.
Es war schon vor Jahren, sogar bevor Parkinson sein Syndrom auf-
stellte, bemerkt worden, daß bei präsenilen Parkinsonkranken ziemlich häufig
„eigenartige“ Geisteszustände auftreten. Schon lange vor Parant (1888)
sprach man von Modifikationen der humeur. Mendel führt eine reiche
Literatur bis zum Jahre 1912 auf. Bei deprimierten, euphorischen, paranoiden
und auch anderen pathologischen Ausdrucksformen des Charakterbildes kann
man beinahe immer, besonders in frühen Fällen, eine auffallende Tendenz zur
Entwicklung einer Art von Überspannung entdecken. Brissauds Scharf¬
sinn bemerkte diese Tendenz schon lange auf motorischem Gebiet und nannte
sie „muskuläre Ungeduld“. G u t m a n n betonte kürzlich die starke Tendenz
zu paranoider Reaktionsweise bei Enzephalitikern und Parkinsonkranken. Oft
ist der Triebkonflikt, der sich in solchen Haltungen spiegelt, hinter der äußeren
Maske größter Liebenswürdigkeit verborgen, gelegentlich auch hinter einer
Euphorie, aber meistens gelingt es nicht so leicht, ihn zu kompensieren.
Aus vielen Gründen kann man zu der Meinung kommen, daß die Parkin-
sonschen Zustände ebenso auf unbewußte Faktoren in bezug auf ihre motori¬
schen Haltungen untersucht werden können wie die verwandten Erscheinungen
bei katatonen Schizophrenen. Erste Versuche zu solchen Sondierungen wurden
bereits anderweitig publiziert. 4 Über die motorische Starre ist bereits reiches
Material vorhanden. Einige andere bemerkenswerte Symptome wurden in
früheren Arbeiten über die Atmungsphänomene, okulogyrischen und kephalo-
gyrischen Krisen diskutiert und werden heute noch bei postenzephalitischen
Tics und Zwangsphänomenen weiter untersucht. Von anderer Seite liegen
ebenfalls viele Studien über die motorischen Phänomene vor. Wenn hier nicht
4) J e 11 i f f e, S. E. Psychopathology and Organic Disease, Arch. of Neur. & Psych.
8, 639 (1922). The Neuropathology of Bone Disease, Trans. Am. Neur. Assoc., 49, 4 J 9
(1923). Unconscious Dynamics and Human Behavior, Prince Memorial Volume, 1925»
S. 331. Somatic Pathology and Psychopathology at the Encephalitis Crossroads, Jl. Nerv.
& Ment. Dis. 61, 561 (1925). Psychoanalyse und organische Störungen, Int. Ztschr. f-
Psa. XII, 1926, S. 51 7. The Mental Pictures in Schizophrenia and in Epidemie Ence¬
phalitis, Am. Jl. Psych. VI, S. 413 (1927). Jelliffe u. W. A. White, Diseases of the
Nervous System, Ed. I—V, Lea & Febiger, Philadelphia, 1915—1929.
Die Parkinsonsche Körperhaltung 493
weiter auf sie eingegangen wird, so hauptsächlich deshalb, weil dies in anderen
Arbeiten in genügendem Maße geschehen ist. 5
Nur einiges Wenige, was für diese Studie von besonderer Bedeutung ist, sei
aus diesen Arbeiten angeführt. W i n k 1 e r s Diskussion der akustischen und
Sprechapparate in einem Handbuch arbeitete zuerst die spezifische Proble¬
matik der motorischen Haltung der Kranken gegenüber ihrer Umgebung her¬
aus. Spater lenkte Schaltenbrand 6 in seinen bereits erwähnten Arbeiten
die Aufmerksamkeit auf die motorische Reaktion „als Ganzest Er spricht vom
„motorischen Haushalt“ und von der „Stimmung der Motorik“ auf Grund
der jeweiligen Reize der Außenwelt, deren Objekte im Anschluß an Dar-
w i n und U e x k ü 11 in „Feinde, Beute und Sexualobjekte“ eingeteilt werden.
So verändere z. B. ein Raubtier, das seine Beute erblickt, augenblicklich seine
Motorik; es vermeide vor allen Dingen, gesehen oder gehört zu werden; es
gehe gebückt, vermeide Mitbewegungen oder halte sich regungslos. Damit
kommt Schaltenbrand dem nahe, was hier ausgeführt wird. Auch für
uns ist die „Stimmung der Motorik“ ein grundlegender Begriff, und wir be¬
haupten nur, daß sie beim Menschen komplizierter ist als beim Raubtier und auf
psychoanalytischem Wege dem Verständnis näher gebracht werden kann. Es
ist ja unserer Meinung nach gerade das Bild des „Spannungszustandes“, welches
der Analyse bedarf und als Komplex von Affekthaltungen verstanden werden
soll. Schon Schaltenbrand selbst machte auf das Parkinsonsche Syn¬
drom aufmerksam und meinte, daß wir denselben Tremor, der in diesem
Syndrom auftritt, auch bei Angst und Wut in Erscheinung treten sehen; er
sagte auch, der Mensch befinde sich, ohne es zu wollen, in einer Lauerhaltung,
Angst- oder Wuthaltung. „Ohne es zu wollen“, darauf kommt es uns an. Es
sind die unbewußten Gefühlseinstellungen, die diese ambivalente Haltung des
Zurückweichens und der Herausforderung, des Angriffs und des Rückzugs
verursachen. Endlich seien noch die zahlreichen Beiträge von Goldstein
hier angeführt, sowie die aufschlußreiche und wertvolle Studie von Z u 11, 7
dessen Begriff „innere Haltung“ viele Analogien zu Schaltenbrands
»Stimmung des motorischen Haushalts“ sowie auch zur vorliegenden
5) Jelliffe, S. E. Mental Picture in Schizophrenia and in Epidemie Encephalitis,
Am. Jl. Psych. VI, S. 413 (1927).
6) Schaltenbrand, G., Die Beziehungen der extrapyramidalen Symptomen-
omplexe zu den Lage- und Bewegungsreaktionen, zum motorischen Haushalt und zu
en Stammganglien, Deut. Zeit. f. N., 108, 209 (1929) (parti V). Siehe auch K e m p f s
ürzlich erschienene ausgezeichnete Ausführungen über das „Anhalten des Atems“ bei
Katatonien, Med. Jl. Record, 1930.
7 ) Zutt, J., Die innere Haltung, Monat, f. Ps. und Neur., 73, 52, 243, 330 (1929).
494
Smith Ely Jelliffe
Diskussion der motorischen Symptome und des „Spannungszustands“ auf
weist.
Als ich einen enzephalitischen Patienten mit ausgesprochenem respiratori
sehen Syndrom beschrieb, 8 der später auch ein okulogyrisches Spasmen-Syn
drom entwickelte, wies ich darauf hin, daß ein weiterer Beitrag über diesen
Patienten zum Problem des Tremors, der motorischen Starre und der psycho¬
genen Faktoren folgen werde. Ich gebe hier die Erweiterung der Kranken¬
geschichte nach dieser Richtung.
Es handelt sich um einen jungen Mann, der mit achtzehn Jahren eine typh
sehe Attacke von Enzephalitis lethargica durchmachte. Nachdem er sich von
der akuten Phase erholt hatte, blieb ein ausgesprochen respiratorisches Syn¬
drom. Zwei Jahre nach der akuten Phase zeigte er:
1. Paroxysmale dyspnoische Anfälle, nasale und buccale Tics, Ausnahme¬
zustände, Speichelfluß und tetanoide Krämpfe.
2. Parkinsonsche Haltung mit paroxysmalem oder interkurrentem Tremor,
rechts ausgesprochener als links.
3. Charakteranomalien, die besonders im zweiten Jahre nach der akuten
Attacke deutlich wurden.
4. Leicht fettglänzendes Gesicht.
5. Polydipsie und Polyurie.
Der junge Mann kam 1924 in analytische Behandlung. Es trat Besserung
ein. Später entwickelte er einige okulogyrische Krisen, die auch beschrieben
und veröffentlicht wurden ( 1 . c.). Während der Analyse eines Traumes kam
ein interessanter Punkt zum Vorschein. Hier folge zuerst der Traum:
Ich träumte, daß Jerry und ich auf einen Zug warteten. Ein Polizist rannte
auf Jerry zu. Jerry schlug den Polizisten. Der Beamte packt Jerry. Ich stehe
Jerry bei. Der Polizist (ein kräftiger, sechs Fuß langer, blonder Kerl) packt
mich auch beim Kragen. Ich heule wie ein kleines Kind. Jerry heult auch. Er
wandert mit uns eine Weile herum und nimmt uns dann in eine alte Hütte.
In der Hütte ist ein alter, schmutziger Raum. In dem Raum ist ein altes
italienisches Ehepaar. Im benachbarten Zimmer ist eine junge italienische
Frau. (Während der Polizist mich festhält und zur Hütte nimmt, bedrohe
ich ihn.) Unterdessen geht der Polizist in der Hütte ans Telephon. Wie er
geht, sage ich zu Jerry: „Laß uns davonrennen “ Jerry zögert einen Moment ,
dann stimmt er zu. Wir rennen in den Hof und verstecken uns hinter einem
Schneehaufen. An dieser Stelle des Traumes wache ich auf.
8) Jl. Nerv. & Ment. Dis. 63, S. 357 (1926); Arch. of Neur. & Psych., 17, S. 627
(1929); Nervous & Mental Disease Monograph Series, Nr. 45, 1927.
-
Die Parkinsonsche Körperhaltung 495
Ich will hier nebenbei bemerken, daß die Niederschrift des Traumes auf-
fällig erwe ^ se an der Stelle: „ shack , I am threatening “ (Hütte, ich bedrohe)
einen ausgesprochenen Tremor zeigt. Ich besitze noch eine Menge anderen
Materials, das bestätigt, daß der Tremor im Parkinson-Syndrom einem ver¬
drängten Sadismus entspricht. Doch dies nur nebenbei.
So interessant und bedeutsam es ist, daß der Tremor uns die „innere Hal¬
tung“ oder „Stimmung der Motorik“ als durch Reaktionen auf unbewußte
feindselige Impulse beherrscht nachweist, die sich im Zustande der Stauung
befinden, noch charakteristischer ist die gebeugte Parkinsonsche Haltung der
„Verteidigung“, die man mit Verteidigungsstellungen bei antiken und mo¬
dernen Statuen von Boxern, den Radierungen von B e 11 o w e s usw. ver¬
gleichen kann.
Daß auch sie einer Abwehr von Feindseligkeit entspricht, wurde deutlich,
als ich gelegentlich seine Schultern aufrichtete und ihm sagte, er solle sich ein
wenig zusammennehmen. Der Gesichtsausdruck wie auch die nun einsetzende
Starrheit der Haltung zeigten sofort an, daß die „motorische Stimmungs¬
reaktion“ des Patienten eine aktualisierte Regung plötzlich zu unterdrücken
hatte. Die Abwehr war genügend stark, um irgendeinen äußeren Ausbruch
der Wut zu verhüten; aber der Gedanke der Wut war dennoch da. Am Schluß
der Stunde fragte ich ihn, was ihm in den Sinn gekommen sei, als ich ihn
aufrichtete. Erst zögerte er, aber dann brach er los: '„Ich wollte sagen: ,Hör
auf — Gott verdamm 5 dich! Ich hasse dich!* Sie waren so wie mein Vater,
der mich morgens immer aus dem Bett zu ziehen versuchte, der gottver¬
dammte Hund.“ Und er verließ mich in sichtlicher Erregung.
Beim nächsten Besuch, sechs Tage später, erzählte er mir, daß er eine
schreckliche Zeit durchgemacht habe. Er wollte nicht mehr zu mir kommen,
wollte morgens überhaupt nicht aufstehen. Er war meistens im Bett geblieben
und hatte sich scheußlich gefühlt. Wiederholt hatte er nach seiner Mutter
gerufen, sie solle sich an sein Bett setzen und seine Hand halten. Er dachte
an ihren Tod. Er war sehr bekümmert um sie. Sonntag blieb er den ganzen
Tag im Bett. Er rief häufig nach seiner Mutter. Er hatte verschiedene Aus¬
nahmezustände mit kalten Händen, Kontraktionen, starrem Gesicht und ver¬
krampfter Kiefermuskulatur. Als er wieder zu Bewußtsein kam, hatte er ein
warmes Gefühl der Freundschaft für mich. Augenscheinlich teilte er mir die
Rolle der Mutter zu. In seiner Haltung zeigte sich übertriebene Unterwürfig¬
keit, wie sie Abraham als oralen Ursprungs gekennzeichnet hat. 9 Er er¬
innerte stark an die extreme Zutunlichkeit gewisser Präseniler sowie auch an
9) Abraham, Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. Int. psa. V.
496
Smith Ely Jelliffe
die große Freundlichkeit gewisser normaler Individuen mit starken über
kompensierten sadistischen Tendenzen. (Merkwürdigerweise finden sich ähn
liehe Haltungen häufig bei Arthritis deformans, worauf ebenfalls schon auf
merksam gemacht wurde.)
Ein Beispiel für den Hyper-Spannungszustand bietet die bewußt als un¬
begründet erkannte paranoide Empfindung, daß er beobachtet werde. Oft
macht er eine rasche Bewegung, um jemanden, der ihn beobachtet, zu er¬
tappen.
Ein anderer Enzephalitis-Patient zeigt dieselbe Art von Hyper-Spannungs¬
zustand im Traum. Er macht Grimassen vor einem Spiegel und wechselt
sein Gesicht schneller als der Spiegel. Sein Parkinsonismus war deutlich aus¬
geprägt.
Einige Träume des ersten Patienten sind geeignet, noch mehr Licht auf
die verborgene sadistische Bedeutung der motorischen Haltung zu werfen:
Ich stehe im Ring als Boxer. Ich bin fertig gerüstet. Eine Menge Menschen
herum. In der anderen Ecke ist ein Italiener. Er steht auf und spricht mit
seinem Sekundanten. Ich stehe da, vor Furcht gelähmt. Ich setze mich, gerade
bevor die Glocke ertönt. Wie sie ertönt, wache ich auf.
Ein anderer Traum:
Ich war im hinteren Teil eines Straßenbahnwagens und rauchte eine Ziga¬
rette. Der Schaffner nahm mich fest. Er führte mich am Arm zum vorderen
Teil, und ich machte einen Versuch, mich loszureißen, aber er hielt mich
fest. Dann bestand ich darauf, meinen Vater aufzusuchen, und er brachte
mich in unseren Laden. Dann gingen Vater, der Schaffner und ich zum
Richter in ein Zimmer wie dieses Sprechzimmer. Der Richter sagte meinem
Vater , er solle die Geldstrafe in dem großen schwarzen Buch nach sehen. Es
waren $ Dollar 25. Er sagte dann dem Richter, er könne den Betrag nicht
finden und der Richter ließ mich laufen, wobei er sagte, ich solle es nicht
wieder tun.
Auch dieser Traum spiegelt die Notwendigkeit, die Neigung zu heraus¬
forderndem Benehmen aus Strafangst zu unterdrücken. — Ein dritter Traum:
Ich war Zeuge einer Hinrichtung im elektrischen Stuhl. Zwei Männer und
eine Frau waren steif an den Stuhl gebunden. Es war ein großer, vergitterter
Raum. Die Lichter wurden nach und nach schwächer. Ich schien gefesselt
und konnte mich nicht rühren.
Dazu bemerkte der Patient: „Es war eine Art Alpdrücken. Ich hatte
Angst. Es sah aus wie ein Unglück. Vielleicht dachte ich an den Snydei-
Fall.“ (Sensationsfall, in dem eine Frau und ihr Liebhaber deren Ehemann
Die Parkinsonsche Körperhaltung
497
ermordeten und dann nach einem sensationellen Prozeß hingerichtet wurden.)
„Die Frau war groß und schlank. Die Männer waren klein. Wie ich die Frau
näher betrachte, gleicht sie einer mir bekannten Lehrerin. Die Lehrerin war
eine Freundin meines Bruders, er hatte mit ihr ein Verhältnis. Zu dem einen
der beiden Männer fällt mir B. B. ein, ein guter Freund von uns. Wenn ich
sagen sollte, wer der andere war, so war es mein Bruder. Komisch, daß sie
beide hingerichtet werden sollten. — Mord.“
Elektrische Schläge: „Ich ließ mich oft von einem Automaten elektri¬
sieren, wo man einen Penny hineinwirft. Ich wollte sehen, was ich aushalten
kann. Einmal packte ich m,t beiden Händen zu. Wie man versucht, einen
Penis zu halten. Masturbation. Wie wenn man Hände und Füße gefesselt
hätte. Wie wenn man ein Rennen mit gefesselten Füßen laufen sollte.“
Das waren einige der Assoziationen zu diesem Thema. Sie zeigen, daß es
sich in ihm um grausame, sadistische Strafphantasien für ödipuswünsche han¬
delt, besonders, wenn man sie im Zusammenhang mit andern ausgesprochenen
ödipusträumen desselben Patienten betrachtet. Ein Traum derselben Nacht
zeigte deutlich das Verlangen, das gleiche Liebesobjekt zu besitzen wie der
ältere Bruder. Er seifte die Lehrerin am ganzen Körper weich ein und er¬
wachte, wie er dabei war, sein Glied einzuführen. Dieses Einseifen stammte
aus seinen Masturbationsgewohnheiten. Der Zusammenhang der Geliebten des
Bruders mit der Mutter wurde in einem weiteren Traumfragment derselben
Nacht klar. Er demonstrierte, wie gut die Matratzenfedern eines Bettes waren,
indem er mit einer fünfzig Jahre alten Frau lebhaften Verkehr hatte. Die
Assoziationen zeigten, daß es sich um die Mutter handelte.
Die feindseligen Impulse gegen den Bruder-Rivalen und eine kompensie¬
rende, von Schuldgefühl getragene Liebe zu ihm waren offenbar. Dieser
Bruder hatte sich jahrelang mit äußerster Aufopferung der Pflege des Patienten
gewidmet. Sein Bedürfnis nach Strafe für die als schuldhaft empfundene un¬
bewußte Feindschaft sowie auch sein Verlangen nach Abwehr der Homo¬
sexualität waren die hervortretenden Elemente seines Charakterbildes.
Das aktuelle Trauma — die enzephalitische Infektion — hatte einen Zu¬
stand der Hilflosigkeit hervorgerufen; die Idee, er sei an Händen und Füßen
gefesselt, war nur eine der zahlreichen Erscheinungsformen dieser Hilflosig¬
keit; und daher seine von Schuldgefühlen in Schach gehaltene Regression in
. e Zeiten der frühen Kindheit, da man sich von der Außenwelt versorgen
ieß und jede Versagung mit extremem Haß beantwortete. Diese Regression
trat besonders klar zutage in den perversen Phantasien, die seine nunmehr
zessiv betriebene Masturbation begleiteten: Fellatio, Cunnilingus, Kanni-
kt. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIX—4
32
498
Smith Ely Jelliffe: Die Parkinsonsche Körperhaltung
balismus, Sodomie und sadistische Triebziele traten in seinen Phantasien auf
Ein gut Teil der dieser Regression auf prägenital-sadistische Phasen entspre*
chenden Fixierungen konnten anläßlich der Analyse seiner respiratorischen
Symptome und der dyspnoischen Attacken erkannt und aufgelöst werden
Aber einige der tieferen Fixierungen blieben immer noch in gewissem Grade
wirksam und lagen den Angsterlebnissen der mitgeteilten Träume zugrunde
Das Studium der Konflikte zwischen altem, objektzerstörerischem Triebver¬
langen und angstvoll-schuldbeladener Abwehr des Ichs im Zusammenhang
mit solchen Enzephalitis-Fällen ist sehr empfehlenswert.
Es ist unmöglich, im Rahmen der vorliegenden Arbeit genauer darzulegen
inwieweit die Reaktion des psychischen Apparats auf den Krankheitsprozeß
der Enzephalitis in einer regressiven Umgestaltung des Ichs und seiner Reali¬
tätsprüfung und inwieweit sie in einer Änderung der Funktion des Über-Ichs
besteht. Jedenfalls werden die Triebabwehrkonflikte außerordentlich ver¬
stärkt. Das Schwanken zwischen objektfeindlichem und reaktivem Verhalten
wird exzessiv. Die „Stimmung der Motorik“ nimmt wieder primitive Formen
an. Der Spannungszustand des Individuums beginnt, sich denjenigen gewisser
toxischer Zustände zu nähern, wie sie als Begleiterscheinung mancher mystisch¬
religiöser Kulte oder unter der Einwirkung bestimmter Pharmaka auftreten.
Das extreme Schwanken zwischen Liebe und Haß führt auch zu Extremen
des motorischen Verhaltens. Beim hyperkinetischen Enzephalitiker, der sich
im Zustande der Überspannung befindet, ist der Konflikt zwischen Trieb und
Schuld wenigstens eine Determinante für einen Teil des motorischen Ver¬
haltens.
Beiträge zur Psychologie der Homosexualität IV.
Ober zwei Typen von männlichen Homosexuellen 1 2
Von
Felix Boelim
Berlin
„Der Wegfall eines starken Vaters in der Kindheit begünstigt nicht selten
die Inversion“; 3 das ist eine Erfahrung, welche seit vielen Jahren von allen
Analytikern immer wieder bestätigt worden ist. Hingegen hat Härnik
auf der Dresdner Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
darauf hingewiesen, daß männliche Homosexuelle zuweilen einen starken,
vielleicht brutalen Vater haben. Der erste Patient, bei welchem ich zu Beginn
meiner analytischen Praxis ein ungewöhnlich hohes Maß von, ihm freilich
nicht bewußter, Zuneigung zum eigenen Geschlecht bemerken konnte, hatte
einen ungewöhnlich egoistischen und brutalen Vater gehabt, welcher sich im
Familienleben jede Freiheit und ein häufiges Sichhinwegsetzen über die
Schranken der in seinen Kreisen sonst üblichen gesellschaftlichen Formen
gestattet, aber von seinen Familienangehörigen unbedingte Pflichterfüllung
und ein ständiges Einhalten aller Gebote von Zucht und Ordnung verlangt
hatte. Er hatte sich fast gar nicht um meinen Patienten gekümmert, ihn aber
mit drakonischen Mitteln angehalten, seine Schulaufgaben zu erledigen. Auf
diesen Patienten traf zu, was ich in meiner Studie über „Kindheitskonflikte
und Homosexualität“ 4 gesagt habe: „Wenn dem Sohn jeder Lebensgenuß vor¬
enthalten wird, ihm nur Arbeiten und Pflichten vom Vater gepredigt werden,
so kann in ihm die Freude am Leben, auch am sexuellen Genuß ertötet
werden. Der Sohn kann in dem Maße eingeschüchtert werden, daß er sich
1) Vergl. Int. Ztschr. f. Psa., VI, 1920; VIII, 1922, u. XII, 192 6 .
2 ) Nach einer am 12. I. 1932 in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft vor¬
getragenen „Kleinen Mitteilung“.
3 ) Freud : „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, Ges. Sehr., Bd. V, S. 19.
4) Ztschr. f. psa. Pädagogik, VI, 1932.
32*
joo
Felix Boehm
an kein Mädchen herantraut und in der Entwicklung seines geschlechtliche
Empfindens auf einer frühen Entwicklungsstufe stehenbleibt“; d. h. in diesem
Falle hatte der Patient eine größere Zuneigung zu Männern als zu Frauen
beibehalten. Zwar hatte er seinen Vater bewußt gründlich gehaßt und gleich
nach seinem Tode viele Gegenstände desselben zerhackt und verbrannt,
jedoch überwog die Angst vor seinem Vater. Derselbe Patient fiel mir an¬
derseits durch eine besonders entwickelte Analerotik auf; z. B. war seine
ganze Lebensführung davon abhängig, ob er eine ihm zusagende Toilette
vorfand. — Ein charakteristischer Traum dieses Patienten lautet folgender¬
maßen: ,Ich befand mich auf einer kastenförmigen Kindertoilette und rutschte
mit derselben , die Mutter suchend, hin und her; schließlich fand ich die
Mutter auf einer Bank und stellte meinen Kasten hocherfreut daneben hin
Ich hatte die stille Hoffnung } daß die auf steigenden Düfte bis zu ihr dringen
und ihr einen Gruß von meiner Anwesenheit übermitteln würden /
Das Auftreten von Analerotik und Homosexualität bei derselben Person fiel
mir auf; obgleich die Homosexualität dem Patienten nicht bewußt geworden
war und sich nie in manifesten Handlungen geäußert hatte, mußte ich an
Freuds Worte 5 denken: „Bei den Inversionstypen ist durchweg das Vor¬
herrschen archaischer Konstitutionen und primitiver psychischer Mechanis¬
men zu bestätigen. Die Geltung der narzißtischen Objektliebe und die Fest¬
haltung der erotischen Bedeutung der Analzone erscheinen als deren wesent¬
lichste Charaktere.“
Tiefere Zusammenhänge zwischen Analerotik und Homosexualität habe
ich später durch die Behandlung eines manifest homosexuellen jüngeren Pa¬
tienten erkannt. Er berichtete: „Soweit ich mich erinnern kann, habe ich selten,
d. h. nur alle zwei bis drei Tage mit Mühe Stuhlgang gehabt“ — darauf be¬
schreibt er ausführlich seine anale Onanie: — „dadurch habe ich meinen
Kot zum Penis gemacht und bin zum passiven coitus per anum vorbereitet
worden“. Als Jüngling hatte er mit sehr vielen Männern kürzer oder länger
dauernde manifeste homosexuelle Beziehungen, in welchen jede Art von
homosexueller Betätigung aufgetreten war, mit Ausnahme eines coitus per
anum. Nachdem er von einem etwas älteren und erfahreneren Manne, in
den er heftig verliebt war, gezwungen worden war, an sich die paedicatio
vornehmen zu lassen, hatte sich sein ganzes Leben verändert; „mich per anum
koitieren zu lassen, war Gewissermaßen ein Selbtsmord, eine vollkommene
Aufgabe der Persönlichkeit“. Er hatte nach seinen eigenen Schilderungen
alle Ideale und alle Interessen vollständig verloren, mit Ausnahme eines ein-
5) Ges. Sehr., Bd. V, S. 19.
Beiträge zur Psychologie der Homosexualität IV
501
z igen: möglichst schnell in seinem Beruf vorwärts zu kommen, angesehen,
mächtig und reich zu werden. 6 In dieser Beziehung hatte er es auch trotz
seiner Jugend ungewöhnlich weit gebracht, dabei einen ausgesprochen analen
Charakter entwickelt. Während dieser Lebensperiode betätigte er sich seinen
homosexuellen Freunden gegenüber, auch wenn die Beziehungen nur in
gegenseitiger Masturbation bestanden, ausgesprochen sadistisch. Von da ab
ließ sich in seinen Beziehungen zu Männern ein bestimmter Typ klar heraus¬
schälen: Ein jüngerer, geistig unter ihm stehender, schwächlicher, in seiner
Heterosexualität labiler Jüngling. Einen solchen verführte er in verschiedenen
Fällen mit Erfolg zu verschiedenen gegenseitigen homosexuellen Betätigungen,
machte ihn der Frau untreu und verfolgte ihn gleichzeitig mit starkem
Sadismus. Gegenüber diesen jüngeren Freunden hatte er die verschiedensten
Kastrationsphantasien; er berichtete mir auch, daß der ihm geläufige Aus¬
druck für homosexuelle Betätigungen das Wort „schwächen“ wäre. In
Berliner homosexuellen Kreisen sagt man für „jemanden onanieren“ auch
„jemanden unschädlich machen“. — Zusammenfassend kann ich sagen, daß
dieser Patient, seitdem er zum erstenmal per anum koitiert worden war,
einen ausgesprochen analsadistischen Charakter enwickelt hatte.
Daß bei männlichen Homosexuellen ihren sogenannten Freunden gegen¬
über unverhüllte Kastrationstendenzen vorhanden sind, habe ich schon in
meinem Würzburger Vortrag über „Homosexualität und Ödipuskomplex“ 7
dargelegt. — Nachdem mein Patient nach einem längeren Stück Analyse
bei mir mit Recht konstatiert hatte, die Analerotik sei ihm gleichgültig ge¬
worden, manifestierte sich seine Homosexualität hauptsächlich in einem weit¬
gehenden Interesse für die männlichen Genitalien, insbesondere in einem Be¬
schauen derselben.
Diesem jugendlichen Patienten, welcher während seiner analsadistischen
Entwicklungsepoche seinen Freunden gegenüber gelegentlich einen ausge¬
sprochenen Sadismus gezeigt hatte, möchte ich einen anderen jugendlichen
Patienten gegenüberstellen, welcher zwar auch ausgesprochen geizig und
trotzig war und auch jede Art von homosexueller Betätigung kennengelernt
hatte, dessen Hauptschwierigkeit in der sehr langen Behandlung aber die
6) S a d g e r betont in seinem Aufsatz „Ketzereigedanken über Homosexualität“,
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, herausg. v. Hans Gross, 1914,
59, die Wichtigkeit des Schutzes Minderjähriger vor sexuellen Verführungen und tritt
für denselben nochmals in seinem Werke „Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen“
(S. 156) ein.
7 ) Int. Ztschr. f. Psa., XII, 1926, S. 66.
502
Felix Boehm
Überwindung des Narzißmus war. Er stellte große Anforderungen an mein
Persönlichkeit, meine Opferwilligkeit, fühlte sich von mir nicht genügend
gefördert, tadelte an mir, ich entspräche seinem Ideal nicht, könnte ihm als
Lehrer nicht genug bieten. Seine Beziehungen zu allen seinen Lehrern waren
daran gescheitert, daß sie seinen überspannten Anforderungen nicht ent
sprochen hatten. Auch in diesem Fall tauchten in der Analyse wiederholt
aktive Kastrationsphantasien auf, aber im Vordergrund des Bildes stand doch
die grenzenlose Selbstverliebtheit, welche ihm jede wirkliche Verbindung mit
einem Manne auf die Dauer unmöglich gemacht hatte.
Noch lange nachdem er schon zu ihn sehr befriedigenden psychischen und
körperlichen Relationen zu Frauen gekommen war, besuchte er nach jeder
geringfügigen psychischen Erschütterung Örtlichkeiten, in welchen er Männer
beim Urinieren beobachten, d. h. sich deren Genitalien ansehen konnte. Ich
bemerke nebenbei, daß es männliche Homosexuelle gibt, deren einziges
Sexualziel das Beschauen der männlichen Genitalien ist, insbesondere wenn
sie vermuten können, daß deren Träger heterosexuelle Beziehungen haben.
Wenn ich diese Gegenüberstellung verallgemeinere — und ich darf es
wohl auf Grund eines größeren Beobachtungsmaterials —, so komme ich zu
dem Resultat, daß man in extrem entwickelten Fällen zwei verschiedene
Typen von männlichen Homosexuellen unterscheiden kann, nämlich einen
analsadistischen und einen narzißtischen.
Meine Beobachtungen lehren mich ferner, daß der analsadistische Typ
gewöhnlich unter dem Einfluß eines brutalen Vaters stand, der narzißtische
unter dem eines femininen, häufig in sich selbst oder in andere Männer ver¬
liebten Vaters, welcher der Frau gegenüber eine geringe Aggression besaß.
Für diese Behauptung will ich einige Beispiele aus meiner Praxis bringen:
Der Vater des eben erwähnten narzißtischen Patienten hatte frühzeitig
seine Potenz verloren; er war stark in seinen Sohn verliebt, verweichlichte
ihn sehr und behandelte ihn allzufrüh als gleichberechtigten Kameraden,
z. B. pflegte er seinen kleinen Sohn zu animieren, mit ihm zusammen im
W. C. zu urinieren. Die offenbar vorhandene Begabung des Sohnes betete
er frühzeitig an und fand sie einzigartig.
Ein Patient, welcher sich seit vielen Jahren mit starken Hemmungen
homosexuell zu betätigen versucht hatte, berichtete mir, daß er von frühester
Kindheit an getrennt von seiner Mutter leben mußte und ganz der Willkür
seines schrullenhaften und pedantischen Vaters ausgeliefert war, welcher ihn
je nach seiner Laune körperlich oder psychisch quälte, wenn er sich nicht
allen wechselnden Anschauungen seines Vaters fügen konnte. Ich. möchte nun
Beiträge zur Psychologie der Homosexualität IV 503
einig e Einzelheiten aus seiner Analyse erwähnen, welche seine Fixierung an
(Jie analsadistische Entwicklungsstufe beweisen:
Unter größten Schwierigkeiten förderte er in langer analytischer Arbeit
tlie Erinnerung zutage, daß er als kleines Kind von seiner Hausdame klistiert
worden war; durch diese Aufdeckung verlor sich seine Angst vor bestimmten
Verkehrsmitteln. Später gelang es ihm, mühsam und konsequent den für
ihn sehr bedeutungsvollen Sachverhalt herauszuarbeiten: eine Erzieherin hatte
ihn zur Reinlichkeit angehalten, ihm seine Exkremente weggenommen, aber
ihm ihrerseits kein entsprechendes Geschenk gemacht. Nach einiger Zeit be¬
richtete er, daß er sich zum erstenmal in einem ihm bekannten Kreise von
Homosexuellen frei und hemmungslos betätigen konnte, zum erstenmal in
seinem Leben aktiv und mit Genuß koitieren konnte; „neulich habe ich einen
Mann per anum koitiert; es tat ihm weh, er zuckte zusammen, ich hatte die
Empfindung, ihn defloriert zu haben; ich dachte aber: das ist recht so, es soll
ihm wehtun! Einen Genuß bei diesem Akt hatte ich wahrscheinlich, weil
mein Penis eng von einer Körperöffnung umschlossen wurde. Aber auch die
Vorstellung, mit Exkrementen in Berührung zu kommen, muß sehr anziehend
sein“. Patient berichtete etwas später, daß er manchmal in angeheitertem
Zustand versucht hat, mit seinen Händen den Bauch seiner Freunde zu
drücken; alle Männer wehrten ab und hatten kein Verständnis für diese Nei¬
gung. Er knüpfte daran folgende Phantasien: „"Wenn ich einen Mann per
anum koitiere, gleichzeitig seinen Bauch mit den Händen drücke und knete,
so habe ich die Vorstellung, auf diese Weise einen Kotwiderstand gegen meinen
Penis zu erzeugen oder ein anales Kind mit meinem Penis zu erstechen.“ Die
Einfälle zu einem späteren Traum faßte er folgendermaßen zusammen: „Das
weibliche Genitale, welches auch eine Körperöffnung ist, ist minderwertig und
weniger anziehend, weil in demselben keine Exkremente sind.“
Von einem späteren Verkehr berichtete er: „Ich suchte eine Öffnung, und
die hatte ich gestern bei einem jungen Mann gefunden, der mir an sich ganz
gleichgültig war; daß der Mensch auch an der Öffnung hing, interessierte
mich gar nicht.“ Hier erscheint der coitus per anum als eine fast autoerotische
Betätigung, was ich für diese Art der sexuellen Vereinigung von Männern
nicht verallgemeinern möchte; aber jedenfalls pflegt die gefühlsmäßige Bin¬
dung unter Männern, welche die gegenseitige Masturbation bevorzugen, viel
intensiver zu sein. Ein besonderes Interesse für die Genitalien anderer Männer
habe ich bei diesem Patienten, welcher von seinem Vater, wie gesagt, in
sklavischer Abhängigkeit erzogen worden war, in langer und gründlicher
Analyse nie bemerkt. Sein früher versteckter Haß gegen seinen Vater wurde
j
unter anderm bei folgenden Gelegenheiten manifest: Einmal berichtete er •
ausgesprochener Schadenfreude, einen pedantisch-sadistischen Vorgesetzten^
einem homosexuellen Lokal angetroffen zu haben; einer der ersten Männ
die er per anum koitiert hatte, war ein älterer Herr, welcher in einem
früheren Stück Analyse als deutliche Vaterersatzfigur vorgekommen war
Ein anderer homosexueller Patient berichtete mir, daß sein Vater ’
praktischer, erfolgreicher, aber engherziger Mann war, der ihm noch als
langst erwachsenem Manne strengste Vorschriften über sein Sexualleben zu
machen versuchte. In das Liebesieben seines Sohnes hatte er mehrfach kate¬
gorisch eingegriffen. Die Angst des Patienten vor seinem Vater kommt in
einem heterosexuellen Traum deutlich zum Ausdruck: „Im Schlafwagen ist
es so heiß. Es kommt ein dürftig bekleidetes Mädchen herein. Ich gehe auf sie
zu und will ihr meinen erigierten Penis zeigen. Dabei veranlaßt sie mich, eine
Stellung einzunehmen, bei welcher die Szene dem im Hintergrund schlafenden
Vater verhüllt wird,“
Nachdem Patient als fast erwachsener Mann in seinem Gefühlsleben von
seinem Vater aufs heftigste schockiert worden war, ging er seine erste homo¬
sexuelle Beziehung ein, und zwar zu einem kräftigeren Mann, von dem er an
sich wiederholt die paedicatio ausüben ließ. Während dieser Periode seines
Lebens hatte er Phantasien, sich von einer großen Schar Männer koitieren zu
lassen. In seinen Träumen tauchten wiederholt Exkremente in reichem Maße
auf, z. B., daß er in einer Wanne voller Exkremente baden mußte; ein an¬
derer Traum lautete: „Da ist eine Badeeinrichtung , es baden ältere Leute;
ich bade auch; es kommt sehr bald eine braune Flüssigkeit aus der Leitung.
Der Blick aus dem Fenster zeigt , daß das Badehaus in einer Mulde liegt; der
Kaffeesatz kommt aus den Abwässern hoch“
Eine andere Einzelheit aus einem Traum: „Ich bin in einer schneebedeckten
Waldlichtung; da wird es an den Seiten des verschneiten Bodens lebendig; es
sind kleine , wie aus braunem Stoff zusammengesetzte Männer, die in einzelne
Teile zerfallen und dann liegenbleiben.“*
Soweit in seinen Träumen Symbole für genitale Vorgänge vorkamen,
waren alle mit Einzelheiten aus der analen Entwicklungsstufe durchmischt.
Ein Traum lautet: „Ich gehe eine Kellertreppe hinunter. Unten ist ein großer
Abort. Hier kauert sich ein junger Mann in einer Nische zusammen , ist ganz
klein geworden und will von mir per anum koitiert werden. Ich uriniere in
einen Schleimhauttrichter , wie in einen After , der mit meinem eigenen Kör -
8) In Boas „Indianischen Sagen“ von der Nordwestküste Amerikas ist die Ent¬
stehung von Menschen aus Exkrementen mehrfach beschrieben, z. B. auf S. 172.
Beiträge zur Psychologie der Homosexualität IV
5 °S
per zusammenhängt und der in ansehnlicher Breite wie ein Riesenpenis vor
meinen Oberschenkeln hängt“
Nach diesen Einzelheiten aus dem intimen Leben invertierter Männer
erlaube ich mir einige theoretische Feststellungen abzuleiten: Wenn Freud
in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 9 sagt: „Die Geltung der
narzißtischen Objektwahl und die Festhaltung der erotischen Bedeutung der
Analzone erscheinen als deren wesentlichste Charaktere“ (bei den Inversions¬
typen), so ist das sicher richtig, aber die beiden Charaktere brauchen meines
Erachtens durchaus nicht vereint aufzutreten — und das betont ja auch
Freud selber, wenn er sagt: 10 „Die wichtige festzustellende Tatsache ist,
daß das Sexualziel bei der Inversion keineswegs einheitlich genannt werden
kann, bei Männern fällt Verkehr per anum durchaus nicht mit Inversion
zusammen; Masturbation ist ebenso häufig das ausschließliche Ziel, und Ein¬
schränkungen des Sexualzieles — bis zur bloßen Gefühlsäußerung — sind
hier sogar häufiger als bei der heterosexuellen Liebe.“
Weiter heißt es bei Freud i * 11 „Zwei Gedanken bleiben nach diesen Er¬
örterungen immerhin bestehen; daß auch für die Inversion eine bisexuelle Ver¬
anlagung in Betracht kommt, nur daß wir nicht wissen, worin diese Anlage
über die anatomische Gestaltung hinaus besteht, und daß es sich um Störungen
handelt, welche den Geschlechtstrieb in seiner Entwicklung betreffen.“ Diese
Störungen können nach meinen Beobachtungen vorzugsweise entweder auf
der analsadistischen Entwicklungsstufe oder in der narzißtischen Phase auf-
treten. Berücksichtigt werden muß für die Invertierten, welche die paedicatio
bevorzugen, die besondere Rolle der Exkremente. Ein homosexueller Patient
erzählte nach längerer Analyse, durch welche er zeitweise zu genußreichem
heterosexuellen Verkehr gekommen war, von einer Wiederaufnahme der Be¬
ziehungen zu einem früheren Freunde: „Nach längeren vergeblichen und
qualvollen Versuchen gelang es mir schließlich, durch Berühren des Afters
mit meiner Zunge zum Orgasmus zu kommen.“ Ein anderer erzählte: „Wenn
ich Husaren sah, welche eine kurze Jacke mit einem Schlitz trugen, der sich
ab und zu öffnete, mußte ich zwangsweise an deren Exkremente denken.“
Über Autoerotismus und Narzißmus sagt Freud in seiner Arbeit „Zur
Einführung des Narzißmus“: 12 „Ehe ich weitergehe, muß ich zwei Fragen
berühren, welche mitten in die Schwierigkeiten des Themas leiten. Erstens:
Wie verhält sich der Narzißmus, von dem wir jetzt handeln, zum Autoero-
9/10) Ges. Sehr., V. Bd.,'S. 19.
11) Ges. Sehr., V. Bd., S. 16.
12) Ges. Sehr., Bd. VI, S. 158 u. 159.
j
tismus, den wir als einen Frühzustand der Libido beschrieben haben? 2 u
Frage... bemerke ich: es ist eine notwendige Annahme, daß eine dem Ich
vergleichbare Einheit nicht von Anfang an im Individuum vorhanden '
das Ich muß entwickelt werden. Die autoerotischen Triebe sind aber Uran ’
fänglich; es muß also irgend etwas zum Autoerotismus hinzukommen eine
neue psychische Aktion, um den Narzißmus zu gestalten.“
Es gibt meines Erachtens also zwei Arten von männlichen Homosexuellen-
solche, bei denen die narzißtische Phase noch nicht erreicht ist oder eine
weitgehende Regression in das autoerotische Stadium stattgefunden hat, und
solche, bei welchen die Fixierung an die narzißtische Phase ausschlaggebend
die Fixierung an die analsadistische Entwicklungsstufe aber von geringerer
Bedeutung ist.
Selbstverständlich werden in allen Analysen beider Typen auch frühere
Ödipussituationen aufgedeckt; auch die in denselben entstandene Angst
vor dem Vater, insbesondere die Kastrationsangst, welche zur Regression
auf frühere Entwicklungsstufen geführt hat, und weitere, die Regressionen
begünstigende Einflüsse, wie Vorstellungen von der Männlichkeit der Frau,
und die Angst, welche sie durch ihr mächtiges Genitale einflößt. Die Bezie¬
hungen zwischen ödipuswünschen und Kastrationstendenzen zeigt eine häu¬
fig aufgetretene Phantasie eines homosexuellen Patienten: „Mein sexueller
Partner, ein jüngerer Mann, will eine Frau mit seinem enormen Penis koi-
tieren; ich fahre im letzten Augenblick mit der Hand dazwischen, um ihn
zu stören, oder ich onaniere denselben, um ihm den Koitus unmöglich zu
machen ; im Verlauf der Analyse änderte sich die Phantasie in der Weise,
daß sein Partner ein älterer, starker Mann war. Die Kastrationsangst dieses
jugendlichen Patienten bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, ebensowenig
die aus letzterer resultierenden Tendenzen zur Regression der Libido.
Alle Einzelheiten der hier mitgeteilten Analysen stammen von Homo¬
sexuellen des analsadistischen oder des narzißtischen Typus; in allen mir
bekanntgewordenen Fällen hatte der erste Typus einen brutalen Vater,
welcher die Lebensfreude des Sohnes mit Gewalt zu unterdrücken versucht
hatte; der narzißtische Typus einen in seinen Sohn verliebten Vater mit
schwacher Potenz, welcher den Narzißmus des Sohnes weitgehend gefördert
hatte. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die hier mitgeteilten Ergebnisse
aus Analysen einer naturgemäß beschränkten Zahl von Patienten mit den
Erfahrungen anderer Forscher verglichen würden.
Dter
die psychischen Prozesse bei Basedow^Psychosen
Von
Therese B enedek
Iyeipsig
Ich müßte zuerst einiges als captatio benevolentiae sagen, weil ich Ihre Zeit
für zwei Krankheitsfälle in Anspruch nehme, die als organisch-funktionell be¬
dingte Zustände nicht in das engere Arbeitsgebiet der Psychoanalyse gehören
und auch nicht psychoanalytisch behandelt worden sind. Es sind zwei Fälle
von Thyreotoxicosen, die aber durch ihren in kurze Zeit gedrängten Ablauf
und durch die relative Übersichtlichkeit ihrer Mechanismen so vieles boten,
was auch den Psychoanalytiker interessieren kann, daß ich mich entschlossen
habe, sie hier zu veröffentlichen.
Die Literatur der Thyreotoxicosen ist schier unendlich; aber die Angaben
und Veröffentlichungen über die psychischen Zustände bei denselben bewegen
sich meistens in allgemeinen Beschreibungen. Es ist bekannt, daß thyreotoxische
Zustände, also Zustände, die als Folge der gesteigerten Funktion der Schild¬
drüse anzusehen sind, mit verschiedenen nervösen und seelischen Verände¬
rungen einhergehen. Psychische Unruhe, Steigerung des psychischen Tempos,
gesteigerte Reaktion auf seelische Eindrücke mit raschem Gedankenablauf, mit
Ideenflucht, Neigung zu plötzlichem Stimmungswechsel, bald unmotiviert
heitere Euphorie, bald Melancholie und Depression sind die Charakteristika
der hyperthyreotischen Zustände. Es gibt auch echte psychotische Zustände,
von denen eine sehr große Prozentzahl der Fälle das manisch-depressive Zu¬
standsbild zeigt. Nach den Angaben von Par hon * 1 waren von 86 Basedow -
Psychosen 57 manisch-depressiv. Es besteht eine gewisse Unklarheit darübe r,
*) Nach einem Vortrag, gehalten in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft am
26. November 1932.
1) P a r h o n : Uber das Vorkommen von verworrener Manie bei einer Kranken von
Schilddrüsenhypertrophie. (Wien. klin. Wchschr., Bd. 6 5, 1915.)
jo8
Therese Benedek
ob und inwiefern man der Hyperthyreose selbst eine ätiologische Bede
bei diesen Zuständen beimessen soll. Für die Auffassung sprechen Beobaclf
tungen, nach denen diese Zustände durch die Behandlung des Grundleidens
weitgehend gebessert worden sind, und auch die Beobachtung, daß solche 2 iT
stände durch Zufuhr von Schilddrüsenpräparaten ausgelöst werden kön
Dagegen sprechen wiederum die Beobachtungen, die zeigen, daß in den meisten
Fällen psychische Motive nicht auszuschließen sind. Es ist bekannt, daß nicht
nur der Hyperthyreoismus eine gesteigerte nervöse Erregbarkeit zu schaffen
vermag, sondern auch umgekehrt, daß starke psychische Erregungen Thyreo-
toxicosen aktivieren und akut, schockartig Morbus Basedow hervorrufen
können. Der kausale Zusammenhang zwischen Morbus Basedow, Hyper¬
thyreosen und Psychosen ist noch keinesfalls geklärt; trotzdem schreibt
Ewald: „Es ist mehr als Zufall, daß sich die Kombination gerade von
manisch-depressivem Irresein und Basedow so häufig findet.“
Ich möchte hier über zwei Fälle ausführlicher berichten, die meines Er¬
achtens geeignet sind, den Ablauf des psychischen Prozesses in dem depres¬
siven Krankheitsbild zu zeigen und auch vielleicht einige Anhaltspunkte dafür
zu liefern, warum die manisch-depresssiven Zustands¬
bilder als Folge und Begleiter der Thyreotoxicosen so
häufig entstehen.
I. Bei dem ersten Fall äußerte sich die depressive Verstimmung als eine Phobie.
Es handelte sich um eine 33 Jahre alte Patientin, die im Juli 1931 plötzlich nach
einer seelischen Erschütterung an Morbus Basedow erkrankte. Wegen dieser Krank¬
heit, die alle klassischen Symptome aufwies und durch Stoffwechseluntersuchung
auch kontrolliert wurde, war sie in der Medizinischen Poliklinik in Leipzig in Be¬
handlung und wurde von dort zu mir gewiesen, weil sie an maßlosen Angstzu¬
ständen litt, deren Inhalt folgender war: sie wagte nicht, in ihre Küche zu gehen,
weil sie Angst vor der Balkontüre hatte.
Als die Patientin zu mir kommt, ist sie ängstlich erregt, weint, ist gesperrt und
spricht ganz verworren. Auf die Frage, ob sie Kinder hätte, antwortet sie: „Drei
Stück , und beschuldigt sich verworren, daß sie an dem Tod ihres einzigen Sohnes
schuld sei, ebenso wie sie das Leben ihrer ältesten Tochter, die schwer krank in der
Klinik liegt, auf dem Gewissen hätte. Aber das alles interessierte sie nicht. Ihc
momentaner psychischer Zustand wird beherrscht und ausgefüllt allein durch die
Angst. Sie hat Angst vor der Balkontür, und deswegen kann sie auch nicht allein
in ihrer Wohnung bleiben.
Die oberflächliche Geschichte dieser Balkontürphobie ist folgende: In dem Hause,
in dem die Patientin wohnte, wohnte eine Familie B.; Frau B. war krank, ver¬
einsamt, melancholisch und suchte die Freundschaft der Patientin. Diese Frau B.
2) G. Ewald: Psychosen bei endokrinen und Stoffwechselerkrankungen. (Handbuch
der Geisteskrankheiten. Herausgegeb. von Bumke. Bd. 7, Spez. Teil 3. Springer, Berlin.)
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen
509
beging zuerst im Frühling 1931 einen Suizidversuch. Auf Veranlassung der Patientin
w urde Frau B. damals in die Nervenklinik gebracht, aber bald entlassen. Kurz
danach erhängte sich Frau B. in ihrer Küche an der Balkontür. Die Patientin war
Über diesen Todesfall sehr erschrocken; aber bald fühlte sie, wie in ihr eine Abwehr
aufstieg- Sie wollte von Frau B. nichts mehr hören, nichts mehr wissen, sie wollte
m it dem Ehemann der Verstorbenen nicht sprechen, ihr verwaistes Kind konnte
sie nicht mehr ansehen. Es lastete schwer auf ihr, nur wußte sie nicht was, und
sie sagte zu sich und zu ihrem Manne: „Hätte ich nur die Frau B. nie gekannt.“
Sie fing an, die Menschen zu meiden, die Frau B. gekannt hatten, weil sie befürchtete,
man würde sie nach ihr fragen; zugleich fahndete sie ständig nach Selbstmord¬
vorfällen, und fand sehr viele solche. Plötzlich hatte ihre Unruhe und Angst feste
Formen angenommen. Sie hatte Angst, in die Küche zu gehen, sie hatte Angst vor
der Balkontür. Sie will nicht mehr in der Wohnung bleiben. Sie reist in ihre Hei¬
mat, wo ein Arzt den Verdacht auf Basedow ausspricht. Als sie zurückkommt,
findet sie in der neuen Wohnung auch keine Ruhe; ihre Symptome steigern sich,
so daß sie sich in Behandlung begeben muß.
Wir haben hier den Eindruck, daß ein psychischer Schock den Morbus Basedow
aktivierte. Bei genaueren anamnestischen Nachforschungen ergeben sich einige
Anhaltspunkte, die auf eine eventuell frühere Dysfunktion der Schilddrüse schließen
lassen könnten. (Patientin war frigid und hatte eine kleine inaktive Struma gehabt,
die Menses waren gering und von sehr kurzer Dauer.)
Aus der psychischen Anamnese der Patientin will ich kurz nur folgendes er¬
wähnen: sie stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie und war das jüngste von
zehn Geschwistern. In der Familie „stimmte nicht alles“. Die Mutter war hysterisch,
drohte oft mit Suizid und litt wahrscheinlich an Morbus Basedow. Die Patientin
hing mit Liebe an der Mutter. Sie war ein sehr lebenslustiges, frohes Mädchen, das
bewußt aus diesem Milieu herausstrebte und die Sicherheit einer guten Ehe er¬
sehnte. Sie heiratete mit 19 Jahren ihren jetzigen Mann.
Sie war eine lebenslustige, flotte Frau, die sich wenig Kummer über etwas
machte, das Geld gern und leicht ausgab, ein bequemes Leben liebte und sich nicht
allzuviel um ihren Haushalt kümmerte, also ohne besondere Pflichtgefühle und
Schuldgefühle lebte. Einen auffallenden Zug hatte sie aber immer gehabt. Sie konnte
nicht ertragen, daß jemand krank war, daß jemand Schmerzen hatte. Wenn ihr
ältestes Kind, das schwer herzleidend war, einen Anfall hatte, mußte sie aus dem
Zimmer laufen, ebenso wenn ihr Mann oder sonst jemand krank wurde; sie ist
von einer solchen Angst gequält worden, daß sie Weggehen mußte. Wir sehen, daß
die Patientin auf jede Krankheit mit Identifizierung reagierte. Aber sie galt immer
als gesund bis zu dieser Erschütterung bei dem Suizid der Frau B.
Nach dieser Erschütterung entwickelte sich ein depressiv erregtes Zustandsbild
mit dem Inhalt einer Phobie. Es ist unschwer zu erkennen, daß hinter dieser Phobie
eine echte depressive Idee steckt: „Ich werde mich erhängenwieFrauB.
Ichmuß mich erhängen wie Frau B.“ Diese Idee, die durch die Identifi¬
zierung ausgelöst wurde, wird aus dem Bewußtsein ausgesperrt. Die Patientin erlebt
eine Erschütterung und Überraschung, als ich ihr den Sinn ihrer Balkontür-Phobie
so deute. Die Aggression, die als Folge dieser Identifizierung in der Patientin frei wird,
5 io
Therese Benedek
verändert die Beziehung zwischen Über-Ich und Ich. Die Patientin, die bisher U
Gewissensschwierigkeiten durch das Leben ging, empfindet auf einmal alles das ° **
sie bisher leicht ertragen konnte, als schwere Schuld und leidet darunter. Ihre Selh^
beschuldigungen erweisen sich als akut übertrieben. Die Abwehr gegen diese Sch U
gefühle zeigt sich auch schon darin, daß sie in ihrem Bewußtsein die Schuldgefühl'
und die Angst nicht in einen kausalen Zusammenhang bringt. Die Angst vo r A ^
Balkontür lebt in ihrem Bewußtsein ganz isoliert, und die weinend verzweifelten
Selbstbeschuldigungen kommen ihr nicht als Grund zum Suizid ins Bewußtse^
Dieses Absperren der Schuld, die Verdrängung der eigenen Selbstmordgedanken ^
eine Form der Abwehr, mit welcher das Ich gegen die freigewordene Aggression an¬
kämpft. Die Angst (die bei diesem Prozeß entsteht) wird nach außen, auf die
Balkontür, projiziert, und sie versucht, die Balkontür zu meiden, um der inneren
Nötigung zum Selbstmord zu entfliehen.
II. Der zweite Fall, den ich nun ausführlich schildern will, bot viel mehr Auf¬
schluß über die physiologische und psychologische Genese und über den Ablauf
der depressiven Zustandsbilder bei Hyperthyreosen.
Es handelt sich hier um eine 34 Jahre alte Patientin. Nach ihren eigenen An¬
gaben ist sie erst seit 5 V* Monaten krank, als sie mich aufsucht. Sie ist eine magere
Frau von sehr erregtem Aussehen. Die Augen sind ziemlich weit geöffnet, aber ohne
besondere basedowoide Merkmale. Sie erzählt, daß sie vor 5 V* Monaten in eine
neue Wohnung umgezogen ist. Schon während des Umzuges und noch mehr in
der neuen Wohnung wurde sie von einer großen Unruhe befallen. Die Unruhe
kristallisierte sich in dem depressiven Gedanken, daß sie ihre Wohnung gesetz¬
widrig besäße; sie hätte ein Zimmer mehr, als ihr nach den Bestimmungen der
Wohnungszwangswirtschaft zukäme. Sie fühlt sich deswegen schuldig und hat
große Angst; sie ließ sich nicht damit beschwichtigen, daß die Wohnung ihr durch
das Wohnungsamt rechtmäßig zugebilligt worden war. Sie ist sogar einmal auf das
Wohnungsamt gegangen und hat sich dort selbst angezeigt. Sie wurde beruhigt;
aber ihre Unruhe, die Angst und die Schuldgefühle hörten nicht auf, sie zu quälen.
Sie verreiste, um sich zu erholen. Da steigerte sich die Angst, aber sie hatte auf
einmal den Inhalt gewechselt. Die ganze Schuld und Sorge um die Wohnung war
plötzlich wie weggewischt, und sie bekam die Idee, daß sie an der Ermordung eines
jungen Mädchens schuld sein könnte, das im Erzgebirge durch einen Lustmörder
ermordet worden war, den Mörder hatte man aber nicht gefunden. Es war in ihr
ein ständiger Kampf, etwas schrie in ihr: „Du bist d i e M ö r d e r i n, d u h a s t
das junge Mädchen e r m o r d e t.“ Sie versucht dann, sich gegen diese
Vorwürfe zu verteidigen, sich selber zu beweisen, daß sie doch nicht der Mörder
sein könnte. Sie hörte nie Stimmen, die depressive Wahnidee war ebenso wie ihre
Selbstverteidigung immer ohne Halluzinationen, ein Kampf zwischen Über-Ich und
Ich, den sie selbst auch als solchen empfand und oft sagte: „sie müßte sich
gegen den Richter verteidige n“. Ihre Gegenbeweise konnten sie
aber nur für eine ganz kurze Zeit beruhigen. Die Angst und die Selbstvorwürfe
kamen immer wieder; sie mußte ihre Gegenbeweise entwerten, indem sie sich vor¬
stellte, sie hätte den Mord in einer absence verüben können. Zuerst versuchte sie
ihren Zustand zu verheimlichen und nahm sich sogar vor ihrem Manne zusammen.
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen 511
schämte sich wegen ihrer Angst und wollte nicht als verrückt gelten. (Bezeich¬
nenderweise hatte sie ihre Gedanken und ihre Angst nicht deshalb verheimlicht,
we Ü s ie dachte, daß man sie wegen des Mordes festnehmen könnte, sondern weil sie
annahm, man würde sie für verrückt erklären, man würde vor ihr Angst haben. Es
wa r also nicht die ganze Realitätsprüfung verschwunden, aber die rasende Angst
brauchte Gründe, Rationalisierung.
Sie konnte die Angst nicht lange verheimlichen und suchte zuerst Hilfe bei
einem Heilmagnetiseur; dann offenbarte sie sich ihrem Manne, und so kam sie zu
mir. Sie berichtet zunächst, daß die Zustände nicht immer von gleicher Intensität
seien. Sie habe einen auffallenden Zusammenhang mit der Menstruation beobachtet.
Ihre Periode kommt sehr regelmäßig, und zwar immer schon am 23. Tag (Männ¬
liche Periodizität, Fließ). Die Blutung ist sehr schwach, das Blut hell und
serös, die Dauer nur eineinhalb bis zwei Tage. Ihre Ideen beherrschen sie zwar
dauernd, aber die Angst fängt 10 bis 14 Tage vor der Periode zu steigen an.
Kurz vor dem Durchbruch der Blutung erfährt der Zustand seinen Höhepunkt;
nach der Blutung fühlt sie sich erleichtert; kurz nach den Menses ist sie ungefähr
eine Woche lang angst- und depressionsfrei, um nachher wieder 14 furchtbare
Tage zu verleben.
Als auffallendstes Symptom ihrer Sexualität berichtet sie, daß sie seit Jahren
frigid ist. Sie hatte eine konfliktvolle Einstellung zu dem Sexualakt: nicht so, wie
andere frigide Frauen, die sich entweder ihren Männern versagen oder, wenn nicht,
den Akt mit mehr oder minder großer Gleichgültigkeit über sich ergehen lassen.
Sie wollte sich ihrem Manne nicht versagen, um ihn nicht zu veranlassen, zu
anderen Frauen zu gehen (wohl eine Rationalisierung); aber es war ihr auch nicht
gleichgültig, ob sie zum Orgasmus kam oder nicht, sondern sie regte sich darüber
während des Koitus ängstlich auf. Sie strengte sich an (anscheinend, um zum Or¬
gasmus zu kommen) und lehnte einen Verkehr, in welchem sie nicht zu befriedigen
war, ab. Ihre Erregung drehte sich um zwei Punkte: „Werde ich befriedigt?” — war
die eine mit einer narzißtisch-hypochondrischen Selbstbeobachtung bewachte Frage,
— und die andere war eine krankhaft übersteigerte Angst vor einer Konzeption.
Sie gibt selbst schon bei der ersten Unterredung zu, daß sie eigentlich keinen Grund
zu Befürchtungen hätte, da ihr Mann die Konzeption sicher verhüten würde, so¬
lange sie keinen Wunsch nach einem Kinde äußere, und es bestand auch objektiv
kein Grund, so große Angst vor einem Kinde zu haben, da sie ihr einziges Kind
wirklich liebte, und sonst ihre Verhältnisse ihr erlaubt hätten, auch ein zweites
Kind zu haben. Diese Angstzustände während des Koitus — ihre Frigidität —
bestanden schon seit fünf Jahren, als die jetzige Krankheit auftrat. Diese ersten
Symptome hätten sie nie zur Behandlung geführt, nur die neuen Symptome reiben
sie ganz auf, obwohl, wie sie stolz hinzufügte, sie früher immer großes Interesse für
Mordangelegenheiten gehabt hätte; in der Zeitung hätte sie immer zuerst die Mord¬
prozesse gelesen, und auch jede Gelegenheit ergriffen, um im Gerichtssaal zu sitzen:
»So sehr hat mich das angereg t.“ So bezeichnend für den Analytiker
auch ihr stolzer Ausspruch war, so war es doch unmöglich, der Patientin in diesem
Zustand analytische Zusammenhänge klar zu machen. Jede Aussprache, die auf die
überstarke Aggression der Patientin hingewiesen hätte, hätte ihre Schuldgefühle nur
5^
Therese Benedek
gesteigert und die Patientin eventuell zum Suizid getrieben. Die Therapie n
andere Wege einschlagen.
Aus der Anamnese der Patientin möchte ich kurz noch folgendes anführe
Patientin stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie. Der Vater war depressiv und
betrank sich manchmal. Die Mutter mißtrauisch, streng, unnachgiebig, nicht
ihren beiden Töchtern gegenüber, von denen Patientin die jüngere war, sonder
auch ihrem Manne gegenüber. Sie bestrafte auch den Mann irgendwie, so daß die
Patientin mit dem Vater oft Mitleid hatte. Die Kinder wurden mit harten Strafen
zu einer demütigen Liebe und Verehrung der Mutter erzogen. Die Patientin ent
wickelte sich als ein allzu braves Mädchen zu einem zwangsneurotischen Charakter
Sie war ordentlich, pedantisch, in der Schule übergewissenhaft; sie wagte nie, an
den Dummheiten der Schulkameradinnen teilzunehmen, nicht aus Angst vor der
Strafe, sondern, weil sie sich nach ihren kleinen Missetaten, auch wenn sie nicht
ertappt wurde, sehr beunruhigt fühlte. Ihr Wesen war aber nie auffallend. Sie
gehörte ihrem Manne schon vor der Ehe an — trotz strengsten elterlichen Verbotes
— und bekam nach dem ersten Koitus Schmerzen in der Urethra, ein Zustand, der
jahrelang als Cystitis behandelt wurde. Sie bekam Hunderte von Blasenspülungen,
sie litt zehn Jahre lang, bis diese Schmerzen plötzlich auf einen Schlag und endgültig
aufhörten, als sie die Angstzustände vor 5K Monaten bekam.
Die Ehe der Patientin war trotzdem in den ersten Jahren glücklich. Sie war nie
sexuell leicht zu befriedigen gewesen; aber sie war auch nicht von der Vagina aus
frigid. Im fünften Jahre der Ehe wurde sie schwanger. Während der Schwangerschaft
erlebte sie eine große Erschütterung. Sie erfuhr, daß ihr Mann mit der Haustochter,
mit einem noch nicht 14jährigen Mädchen, sexuelle Spiele trieb. Damals war sie von
Eifersucht, Empörung, aber auch von Schuldgefühl gepackt. Sie fühlte sich für das
Mädchen verantwortlich. Aber sie konnte nichts gegen ihren Mann unternehmen,
weil sie gravid war. Sie wollte auch nicht hassen, wegen des Kindes, das sie trug,
und kämpfte gegen ihren Haß bewußt an. Sie hat ihr Töchterchen normal und zur
Zeit geboren, das sie von Anfang an sehr liebte, ohne Konflikte und ohne Aggression
betreute. Sie stillte ihr Kind sieben Monate, aber sie erholte sich nicht danach. Ob
die seelische Erschütterung oder die Schwangerschaft und Laktation dafür verant¬
wortlich zu machen sind oder der Konflikt mit ihrem Manne oder alle diese Motive
— sie wurde nach dieser Zeit frigid und ihre oben schon erzählte konfliktvolle Ein¬
stellung während des Sexualaktes datiert von dieser Zeit. Die Patientin magerte ab,
sie wurde appetitlos, sie litt an Kopfschmerzen und an hartnäckiger Obstipation.
(Symptome, die mich zuerst davon abhielten, den Zustand für eine Thyreotoxicose
zu halten, da die auffallendsten Symptome eines Basedows fehlten.)
Wie ich schon erwähnt habe, war die Patientin, als sie zu mir kam, in
einem äußerst erregten Zustande, so daß vorläufig eine psychoanalytische
Behandlung nicht in Frage kommen konnte, sondern nur eine Vorbereitung
dazu. Diese vorbereitende Behandlung wollte ich mit Hormontherapie kombi¬
nieren, da der Zusammenhang der akuten Angstzustände und der Depression
mit den Menses so auffallend war. Zur Unterstützung dieser Behandlung ließ
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen 513
ich eine interferometrische Hormonuntersuchung nach Prof. Hirsch durch
ihn selbst machen. Das Blut zu der Untersuchung war sieben Tage vor den
Menses entnommen worden. Die Patientin war damals sehr erregt und ängst¬
lich. Die interferometrische Untersuchung ergab einen stark erhöhten Abbau
der Schilddrüse und der Ovarien. Der Abbau der Testes war fast ebenso hoch¬
gradig wie der Abbau der Ovarien. Ein weiterer beachtenswerter Befund dieser
Untersuchung war der außergewöhnlich erhöhte Abbauwert des Pankreas
(22*40). Ich will hier nur diesen hormonalen Nachweis der Bisexualität be¬
tonen und darauf hinweisen, daß dieser Befund nicht vereinzelt, sondern all¬
gemein vorzukommen pflegt. 3
3) In der D. Psa. G. wurde in der Diskussion gegen meine Ausführungen eingewendet,
daß sie den Eindruck erwecken, als basierten sie allein auf der Hirsch sehen Unter¬
suchung, und so ständen sie auf tönernen Füßen, da diese Untersuchungsmethode noch
sehr umstritten sei. Es ist wahr, die mterferometrische Methode des Nachweises der Hormon¬
abbauprodukte ist noch sehr umstritten. Während einige Forscher, z. B. Hermann-
Witz 1 e b e n, 4 * von dieser Methode sagen, sie sei wissenschaftlich von großem Interesse,
aber diagnostisch noch nicht verwertbar, arbeiteten andere 6 durch detaillierte Untersuchun¬
gen die Methode so aus, daß sie annehmen, die Methode weise sogar für die einzelnen
Phasen des Krankheitsprozesses charakteristische Merkmale auf. 6 Dies braucht uns aber
hier weniger zu interessieren. Für uns ist es nur wesentlich, daß hier die Bisexualität
einen gewissen physiologischen Nachweis erfährt. In seinen außerordentlich interessanten
Arbeiten benützt W. Petterson, 7 der die Bisexualität als das „Zweikräfte-System“
(männlich-weiblich) zur Grundlage seiner Betrachtungen und therapeutischen Versuche
macht, auch die Methode von Hirsch zum hormonalen Nachweis der Bisexualität. Es
scheint so, daß die Bisexualität in jedem Falle durch Abbauprodukte von weiblichen und
männlichen Hormonen nachzuweisen ist. Pathognostisch ist nur eine gestörte Relation
zwischen den männlichen und weiblichen Abbaustoffen. Zum Beispiel bei einem besonders
erhöhten Abbau der gegengeschlechtlichen Hormonstoffe können wir von einer Störung
der Relation sprechen. Dies scheint bei Morbus Basedow oder bei sonstigen Störungen der
Keimdrüsenfunktion der Fall zu sein.
Die Bisexualität als ein allgemeines Phänomen wurde von der Psychoanalyse immer als
ein Motiv der Symptombildung anerkannt. Der biologische Nachweis der Bisexualität gibt
eine weitere Unterstützung für die Auffassung der Psychoanalyse. In einem Zustand des
bisexuellen Gleichgewichtes stört die eine Wirkung (Männlichkeit) die andere (Weiblichkeit)
nicht. Entsteht aber eine Störung des Gleichgewichtes, dann ist der gegengeschlechtliche
4) Hermann-Witzleben: Zum diagnostischen Wert der Interferometrie in
der Psychiatrie. (Wien. Klin. Wchschr., 1928.)
j) Zimmer, Lende 1 , Fehlow: Zur Kritik der interferometrischen Methode
der Abderhalden’schen Reaktion: Untersuchungen bei der Basedowschen Krankheit. (Fer-
mentforschg., Bd. 11.)
6) W. Petterson: Feminismus und Geist. (Arch. Frauenkunde u. Konstit.
Forschg., Bd. 17, H. 3.)
7) W. Petterson: Endokrine Behandlung mit andersgeschlechtlicher Keimdrüsen¬
substanz. (Arch. Frauenkde. u. Konstit. Forschg., Bd. 18, H. 3.)
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIX—4
33
Therese Benedek
514
Jetzt möchte ich die wesentlichen Etappen dieser Behandlung und den Verla
der psychischen Prozesse schildern. Da die Untersuchung einen erhöhten Abbau de
Ovarien zeigte und die psychische Störung mit den Menses und mit Frigidität * *
bunden war, wollte ich zuerst auf die Ovarien einwirken (und hoffte, damit auch
den Antagonisten der Ovarien, die Schilddrüse, mit zu beeinflussen). Am 27 N 0
vember 1930 haben wir mit der Hormontherapie angefangen. Die Patientin bekam
zuerst pro Tag ein bis zwei Horpantabletten (Hypophysen-Vorderlappen mit
Ovarienhormon) und eine Ostranintablette. Die Patientin reagierte plötzlich Sie
wurde fröhlich-libidinös gestimmt. Aber diese Stimmung war zuerst keineswegs an
haltend. Symptomfreie Zustände wechselten schnell mit ängstlich erregten Zu¬
ständen, deren Inhalt weiterhin unverändert war. Die Patientin bekam während
dieser Zeit keine anderen als nur hormonale Mittel, und es wurde versucht, ihre
Stimmung auf diese Weise und durch die psychotherapeutischen Aussprachen zu
balancieren. In der siebenten Woche der Behandlung meldete sich die erste, wesent¬
liche Veränderung. Die Patientin erzählte mir, daß sie ihren Mann in den
letzten Tagen intensiv hasse. Das erstemal wagte dieses von Schuld¬
gefühlen gequälte Wesen einen Haßaffekt bewußt zu erleben. An der Hand des
Materials, das die Patientin in diesem Zustande hervorbringt, ist es nicht schwer,
ihr zu erklären, daß sie ihren Mann als den Lustmörder empfindet wegen der Ver¬
fehlungen, die er sich während ihrer Schwangerschaft zuschulden kommen ließ.
Dies war das erste, analytisch zu bewertende Resultat, das
auch in diesem Falle zeigt, daß die Klagen der Depressiven eigentlich A n-
klagen sind. Sie richten sich gegen das introjizierte Objekt. Der gehaßte Mann,
der sie betrog, wurde introjiziert, der Haß und die Aggression, die ursprünglich
dem Manne gegolten hatten, richteten sich gegen das eigene Ich. Dieser Haß war
jahrelang verdrängt. Die Patientin hing in dankbarer Liebe an ihrem Manne und
war die beste Frau, die im täglichen Leben sehr wenig Vorwürfe und Schwierig¬
keiten machte. Nur während des Koitus äußerte sich dieser verdrängte Haß. Die
unruhige, haß volle, neidisch-narzißtische Stimmung während des Koitus besagt:
„Er denkt nur an die eigene Lust, er ist ein Mörder, er vergiftet mich, er gibt mir
ein Kind.“
Von diesem Bewußtwerden des Hasses gegen den Mann wollen wir die zweite
Phase der Behandlung rechnen. In dieser Zeit der Behandlung hatte sich der typische
Triebanspruch unbefriedigt und verlangt nach Abfuhr. Die unbefriedigten Triebansprüche zu
bewältigen, ist die Aufgabe des psychischen Apparats, und die psychoanalytische Forschung
hat bis jetzt eine ganze Anzahl der Mechanismen dieser Bewältigung beschrieben. Zu
ihnen gehört z. B. die Symbolisierung, die Projektion usw. (Gr od deck). Ist aber die
Stauung so groß, daß sie durch diese Mechanismen, die noch zum normalen Seelenleben
gehören, nicht abgeführt werden kann, dann wird die Stauung als Angst fühlbar, und diese
wird ihrerseits den psychischen Apparat wieder vor die Aufgabe ihrer Bewältigung stellen.
In unserem Falle handelt es sich nicht allein darum, daß wir die Bisexualität mit einer
physiologischen Methode nachweisen konnten, sondern darum, daß die psychischen Repräsen¬
tanten der Bisexualität als Symptome beobachtet worden sind (Angst wahrend des
Koitus, Angst vor Schwangerschaft, verdrängter Haß gegen den Mann), und die Symptome
verschwanden, als der hormonale Ausgleich therapeutisch erreicht wurde.
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen
Ablauf der depressiven Erregungen dahin geändert, daß die höchste Erregung nicht
vor der Periode, sondern nach der Periode auftrat. Außerdem wurde diese Phase
charakterisiert durch die gesteigerte heterosexuelle, libidinöse Spannung, die sich
verschieden bemerkbar machte. Zuerst in einer größeren Lust zur genitalen Hin¬
gabe, und bald berichtet die Patientin, daß sie während des Koitus keine
Angst mehr vor der Konzeption habe. Diese Angst vor der Konzep¬
tion war also das erste Symptom, das verschwand, und auch das einzige, das ohne
Rezidiv endgültig wegblieb. Die ängstliche Aufregung, ob sie zum Orgasmus
kommt oder nicht, bleibt etwas länger erhalten als die Angst vor der Konzeption.
Die größere heterosexuelle, libidinöse Spannung äußert sich außerdem auch noch
in den Träumen und Phantasien der Patientin. Die Patientin, die bisher nur an
ihre Schuldgefühle denken konnte, phantasiert von fremden Männern.
Die bisherige Hormontherapie diente zur Hebung der Ovarienstoffe und scheint
dadurch die heterosexuelle Libido gesteigert zu haben. Mit dieser Wirkung parallel
erfolgt auch eine Veränderung des Ichs, das so weit erstarkt, daß die Patientin
den Haß ihrem Gegenüber bewußt erleben und zugeben kann, wodurch sie sich
eigentlich schon vor den eigenen Schuldgefühlen wehrt.
In der nächsten depressiven Phase, die nach den Menses (10. Februar 1931) mit
großer Angst eingetreten ist, produziert die Patientin eine neue Idee: sie sieht zwar
ein, daß sie keine Mörderin sei, aber sie hat Angst, daß der Heilmagneti¬
seur, bei dem sie einmal in Behandlung war, sie anzeigen
könne und von ihr behaupten werde, daß sie eine Mörderin
sei. Die Angst ist jetzt ebenso intensiv, sie ist ebenso verzweifelt, als wenn sie
sich mit dem Gedanken abquält, daß sie im Dämmerzustand jemanden ermordet
hätte. Trotzdem ist diese Idee in ihrer Struktur wesentlich verändert. Hier ist der
Träger des Über-Ichs ein Mann, an dem sie einige Zeit mit heftiger Übertragungs¬
liebe hing. Bis dahin war nur ein Verfolger: das quälende, nie ruhende Über-Ich.
Der Kampf wurde in ihr zwischen den zwei seelischen Instanzen ausgetragen. Jetzt
ist das Über-Ich nach außen projiziert, das einstmalige Liebesobjekt wird ein Stück
objektiviertes Über-Ich. Wir sehen hier eine paranoide Idee in statu nascendi und
können sie in ihrer Entstehung und ökonomischen Bedeutung klar verfolgen. Sie
entsteht als ein Nachkomme der melancholischen Idee, nachdem der melancholische
Identifizierungsprozeß schon überwunden war und die Objektbeziehungen wieder
entstanden sind (Heilungsversuch, Freud).
Es ist interessant, die Periodizität der Angst und die Veränderung der psychischen
Inhalte hier zu beobachten. Wir können vorderhand annehmen, daß in diesem Falle
infolge der Hormonstörung eine physiologische Angst vorlag. Diese Angst hatte in
einer Zeit, als die Bisexualität hormonal nachweisbar zu stark, die Aggression sehr
groß und die heterosexuelle libidinöse Spannung zu klein war, ein eindeutig melan¬
cholisches Krankheitsbild begleitet oder vielleicht ausgelöst. Der Inhalt dieser
Melancholie war: „Ich bin eine Mörderi n.“ Als die heterosexuelle Libido
infolge der hormonalen Veränderung größer wurde, entstand eine andere libidinöse
Struktur. Der verdrängte Haß gegen den Mann wurde geringer, die Angst vor
der heterosexuellen Hingabe fiel weg, die Patientin wurde befriedigt. Als in diesem
Zustande dann die physiologische Angststeigerung kam, traf diese schon veränderte
33 *
5i 6
Therese Benedek
seelische Bedingungen: ein stärkeres Ich und besser fundierte objektlibidinöse Bi
düngen. Die Idee, die nun entsteht, ist zwar noch immer krankhaft, aber sie h’-T
die objektlibidinöse Bindung aufrecht, und dem erstarkten Ich entsprechend ents V
eine Projektion, die eine günstigere seelisch-ökonomische Lage schafft.
Die ökonomische Bedeutung der Projektion zeigt sich in diesem Fall einesteils
darin, daß das Über-Ich, nach außen projiziert, quasi entfernter ist und dem Ich
eine bessere Abwehrmöglichkeit verschafft, anderenteils sehen wir hier ganz deutlich
noch eine ökonomische Funktion der Projektion: Die Reaktion auf diese Idee: De
Heilmagnetiseur wird mich anzeigen“, ist: ich liebe den Heil-
magnetisieur nicht, er verfolgt mich doch. Und diese sehr heftige Ich-Reaktion steht
wiederum im Dienste des Uber-Ichs, wehrt die verbotenen Wünsche ab, die ent¬
standen sind, als die heterosexuelle Libido größer wurde. So sehen wir auch in
diesem Falle bestätigt, daß die Projektion eine Art Triebabwehr ist, um die un¬
liebsamen Triebe, deren Wahrnehmung sich nicht unterdrücken läßt, an äußeren
Objekten wahrzunehmen. Die wieder aufgenommenen Objektbeziehungen werden
die Träger der Triebimpulse, von denen das Ich entlastet werden muß. Nach
dieser Entlastung kann behauptet werden: „Ich bin schuldlos, nur mein
Feind hält mich für schuldi g.“ Zugleich wird das Ich von der neuen
Schuld der verbotenen Wünsche entlastet.
Im weiteren Verlauf steigerten sich die verbotenen Wünsche; die Patientin be¬
schäftigte sich sehr oft in ihrer Phantasie mit anderen Männern, so erweiterte sich
auch der Kreis der Projektionen in der folgenden Zeit. Die Patientin hatte nicht nur
Angst, daß der Heilmagnetiseur sie wegen einer Tat anzeigen könnte, die sie nie
begangen hat, sondern sie befürchtete, daß sie auch sonst in eine solche Affäre
verwickelt werden könnte, z. B. durch Herrn R. (auch eine positive Übertragung)
oder auch durch Fremde, durch Nachbarn, die eventuell gehorcht hätten, als sie
mit ihrem Manne über ihre Krankheit sprach. (Bezeichnend für die gute, nicht zu
heftige Übertragung war, daß ich selbst von diesen Ideen während der ganzen Zeit
der Behandlung verschont blieb.) Die paranoiden Vorstellungen bezogen sich haupt¬
sächlich auf Männer.
In dieser Phase der Behandlung merken wir die Besserung wieder von zwei
Seiten. Die Heterosexualität der Patientin hatte sich weiter günstig verändert. Nicht
nur, daß sie ohne Angst verkehrt, sondern sie kommt auch immer zum Orgasmus,
was auf sie in jeder Weise beruhigend wirkt. Sie wird (im fünften Monat der Be¬
handlung) den paranoiden Ängsten gegenüber auch freier, und meint: „Wenn die
in der Nachbarschaft etwas gehört haben, dann kann ich auch nichts dafür.“
In den folgenden Wochen erlebt die Patientin kleinere und größere Remissionen
in ihrem Zustand. (Ein Rezidiv als Folge einer schweren Grippe, die aber bald
abklingt.) Die angstfreie Zeit wird immer länger, die Depressionen immer weniger
intensiv; die Wahnideen tauchen aber immer wieder auf, so daß die Patientin sich
einmal gegen die Mordideen, ein anderes Mal gegen die Verfolgungsideen verteidigen
muß. Sie benützt dazu ein Zettelsystem. Sie schreibt sich alle Beweise auf, die ge¬
nügen müßten, die Vorwürfe zu entkräften. Wenn eine Idee sie befällt, nimmt sie
einen Zettel vor und liest ihn durch. So entwickelt sie als Abwehr des paranoiden
Systems ein zwangsneurotisches System. Solange die Angst sehr groß war, nützte
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen
517
dieses System nicht; und als die Angst nachließ, genügte es ihr, an den Zettel zu
denken, um die Idee und die Angst abzuwehren. Die Patientin ist nach einiger Zeit
so weit, daß sie sagt: „Die Ideen ärgern mich blo ß.“
Dieser Zustand scheint sich zu stabilisieren. Ich habe den Eindruck, daß diese
Hormonbehandlung, die allein die Stützung der Ovarienfunktion erstrebte, keine
weiteren Erfolge bringen würde, und ich entschließe mich, mit dieser Behandlung
auszusetzen und der Patientin einen anderen Antagonisten der Schilddrüse zu
geben in Form von Insulin in kleinen Dosen. Die Patientin bekommt drei¬
mal wöchentlich fünf bis zehn Einheiten Insulin (Stur m * 8 , P. S c h m i d t 9 ), und
damit fängt eine neue, dritte Phase der Behandlung an.
Die paranoiden Ideen blässen ab; allerdings zuerst noch nicht spurlos. Es ent¬
steht eine neue Stufe der Projektion. Diese sieht folgendermaßen aus: „D i e Leute
könnten sagen: ,wenn Sie so große Angst hatten, da mußten
Sie ein schlechtes Gewissen haben, und andere Leute würden
dann nicht wissen, daß Ihr schlechtes Gewissen krankhaft
w a r £ .“ Die Angst und Verzweiflung, die diese Idee begleiten, sind keinesfalls so
groß, wie sie früher waren. Es ist ihr p e i n 1 i c h, daß die Leute von ihr sagen
könnten, sie hätte ein schlechtes Gewissen, aber sie sagen nicht mehr, daß sie eine
Mörderin sei, sie sind auch nicht mehr aggressiv ihr gegenüber, sie hat keine Unan¬
nehmlichkeiten mehr zu befürchten. So sehen wir, daß das Schuldgefühl, das in
dieser Idee projiziert wurde, wesentlich weniger aggressiv ist, als das ursprüngliche
war. Die Patientin selbst sieht ein, daß sie ihr eigenes Gewissen nach außen proji¬
ziert und ihrer Umgebung in den Mund legt. Die projizierte Aggression ist quanti¬
tativ geringer und so auch die Angst und die zur Bewältigung verwendete Ratio¬
nalisierung.
Die Besserung, die jetzt in ihrem Zustande erfolgt, ist viel anhaltender als bisher.
Sie fühlt sich längere Zeit hindurch wesentlich erleichtert, ohne Angst und ohne
Depression. Sie lebt aber noch immer nicht ohne Selbstvorwürfe, und als diese Pro¬
jektion abklingt, dann leidet sie noch unter der Erinnerung an die
Krankheit, und sie macht sich Vorwürfe, daß sie sich selbst krank gemacht
hätte, also sie selbst schuld an ihrer Krankheit wäre: „Jetzt rege ich mich darüber
auf, daß ich mich mit unnötigen Gedanken krank gemacht habe.“ In diesem Selbst¬
vorwurf sehen wir noch die Spuren der ursprünglichen Wahnidee, aber sie ist jetzt
ganz entwertet und bagatellisiert. Sie sagt selbst: „Ich kann mir die Krankheit nicht
verzeihen“, aber die Krankheit in ihren ursprünglichen Formen ist überwunden.
Sie liest ohne Angst Zeitung, sie liest die Gerichtsverhandlungen, Mordberichte und
Polizeinachrichten ohne Angst. Sie identifiziert sich nicht mehr mit dem Mörder.
Ihr jetziges strenges Über-Ich entspricht ihrem früheren zwangsneurotischen Cha¬
rakter, ihrer Strenge zu sich selbst, die ihr jede Verwöhnung und jedwede be¬
sonderen Ansprüche verbietet. Manchmal taucht in ihr eine vage Unruhe auf und
8) Sturm: Der heutige Stand der internen Therapie der Hyperthyreosen. (Med.
Welt > Jg- L Nr. 40.)
9 ) Paul Schmidt : Über Organtherapie und Insulinbehandlung bei endogenen Geistes¬
störungen. (Wien. Klin. Wschr., 1928, H. 18.)
Therese Benedek
518
dann muß sie sich sagen:
gelingt ihr aber immer.
„Du hast aber ein reines Gewissen“;
diese Beruhigung
In dieser Zeit der Behandlung hatte die Patientin vorübergehend ein Zwangs
neurotisches Symptom produziert. Sie berichtet, sie habe Angst, daß
sie sich verschreiben könne. Einige Tage muß sie jeden Brief, j e d e
Karte liegenlassen, um sie noch ein paarmal durchlesen zu können, um zu kontrol
lieren, ob sie sich verschrieben hat oder nicht. In diesem zwangsneurotischen
Symptom sehen wir einen interessanten neuen Mechanismus der Angstbewältigung
Wir merken darin auch das Schuldgefühl, dem aber die Patientin nicht mehr mit
der Identifizierung erliegt: „Ich bin eine Mörderin.“ Die Beziehung zwischen Über¬
leit und Ich entspricht hier einem Zweifel: Was ist stärker? Über-Ich oder Ich?
Bin ich eine Mörderin oder nicht? Dieser Zweifel wird nicht mehr nach außen auf
Objekte projiziert, die Objektbeziehungen bleiben ganz unberührt davon, der
Zweifel wird auf eine „Lappalie“ verschoben, auf die Schrift, die einen ver¬
raten könnte. Dieses Symptom dauert nur 2 bis 3 Tage, dann klingt es ab, rezidiviert
manchmal ganz vorübergehend.
Die anderen Symptome der Patientin klingen auch ab, z. B. ihre chronische
Obstipation kommt in Ordnung. Am 13. November 1931 bekommt sie die letzte
Insulinspritze. Während des ganzen Winters bleibt sie ohne Behandlung,
symptomfrei bis auf den obengenannten, kurz auftauchenden Gewissenszweifel. Im
Frühjahr 1932 wird prophylaktisch noch eine Insulinkur gemacht, 20 Injektionen.
Die kleineren Verdächtigungssymptome, Selbstvorwürfe wegen ihrer Krankheit sind
auch abgeklungen; die Patientin hat viel an Gewicht zugenommen und ist geheilt
entlassen worden.
Was gibt mir die Berechtigung, diesen nichtpsychoanalytischen therapeuti¬
schen Versuch hier so ausführlich mitzuteilen?
Zuerst der Ablauf des psychischen Prozesses, der in diesen beiden Fällen
im wesentlichen sehr viel Ähnliches bot.
Im ersten Falle, der sich viel akuter entwickelte, wurde bei einer Patientin,
die sonst einem hysterischen Charakter entsprach, die depressive Idee sofort
als Projektion nach außen erledigt. Diese depressive Idee entstand durch die
Identifizierung mit der Freundin, die Suizid begangen hatte. Während der Be¬
handlung 10 des Morbus Basedow wurden die Angst- und die Schuldgefühle
geringer und die Phobie klang ab.
Viel komplizierter liegt unser zweiter Fall. Hier hatte sich die hormonale
Störung einer Hyperthyreose bei einer Frau, die einen zwangsneurotischen
Charakter hatte, chronisch entwickelt. Ursprünglich sucht das Schuldgefühl
die Rationalisierung in einer kleineren Schuld und findet zunächst die Erledi¬
gung in der für die Patientin akuten Wohnungsfrage. Aber diese Rationali-
10) Die Patientin wurde in der Klinik mit Phosphorpräparaten und von mir mit
Hormonpräparaten behandelt, und zwar mit Thymoglandol und mit Insulin*
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen
5i9
sierung scheint der freigewordenen Aggression nicht zu genügen und, der In¬
tensität entsprechend, entsteht die Wahnidee:
!. Ich bin eine Mörderin. Wir haben gesehen, daß diese Idee
sich während der Behandlung ändert, und in der zweiten Phase heißt es:
2. ich bin keine Mörderin, man hält mich nur dafür.
Wir haben angenommen, daß diese Projektion entstand, als die Libido
gesteigert wurde und dementsprechend eine andere Ich-Struktur zustande
gekommen ist. Als die physiologisch durch Thyreotoxicose bedingte Angst
auch nachläßt, verblaßt der schuldhafte Wahn und mit ihm die paranoide
Projektion. In der dritten Phase heißt es:
j.ich bin keine Mörderin, aber man könnte fragen,
warum ich ein schlechtes Gewissen habe, und nachher
4. es ärgert mich, daß ich michmit solchen unnötigen
Gedanken abgequält habe.
Hier ist das Schuldgefühl wieder auf das eigene Uber-Ich zurückgezogen,
das nun weniger streng ist und nicht mehr wegen eines Mordes, sondern nur
wegen der Krankheit Vorwürfe macht.
Wir konnten hier bei derselben Patientin nacheinander in kurzer Zeit drei
verschiedene Abwehrmechanismen beobachten:
I. Die Identifizierung = melancholische Idee,
II. die Projektion = paranoide Idee und
III. die Verschiebung = zwangsneurotischer Zweifel.
Ich habe den Eindruck, daß der Ablauf des eben geschilderten Krankheits¬
prozesses uns zeigt, daß diese drei verschiedenen Abwehrmechanismen ver¬
schiedenen Ichbesetzungen entsprechen. Je größer die Aggression und die
Angst war, um so schwächer war das Ich. So erliegt das ganz schwache Ich
in der Identifizierung; das libidinös stärker besetzte Ich kann sich durch
Projektion erwehren; bei einer besseren Ich-Struktur entsteht eine bessere
Beziehung zur Umwelt; die Objektbeziehung wird nicht mehr durch Pro¬
jektion gefährdet, sondern das Ich erträgt die Vorwürfe des Über-Ichs; der
Kampf zwischen Ich und Über-Ich spielt sich innerhalb des Individuums ab
und er entspricht dem Mechanismus einer Zwangsneurose.
Noch überzeugender glaube ich diese Verschiebung in dem Gleichgewicht
zwischen Es — Ich — Über-Ich gesehen zu haben, in den Äußerungen des
Widerstandes gegen das Verdrängte. Am Anfang der Behandlung war es
unmöglich, der Patientin die eigenen aggressiven Tendenzen bewußt zu
machen. Das erste analytische Resultat war, daß die Patientin bewußt zu
hassen wagte. Solange sie aber immer mit schweren Angstzuständen reagierte,
520
Therese Benedek
konnte sie kaum ein anderes Material als aktuelles bringen. Die An»st w
zu groß und diese Angst hatte auch den unbewußten Widerstand genahn
Nachdem die Angst während der Insulinkur wegfiel, brachte die Patient^
auch sehr viel analytisch verwertbares Material, d a s ganz eindeutig fl”
Entstehung der Aggression und des Hasses gegen die Mutter schon in der
frühen Kindheit bewies. 2. B. ein Traum: „ Meine Mutter hat etwas Schlecht
getan und man wollte sie verhaften. Die Mutter hatte Angst und versteckte
sich. Sie hörte Schritte und sagte: Jetzt kommen sie / Ich merke, daß
es die Aufwartefrau sei und beruhige meine Mutter und sage ihr: I c [ }
werde sie schon zurückhalten ‘ Dann kommt der Vater meiner Mutter und
ich sage ganz erfreut zu ihm: ,Ich bin ganz schuldfrei, ich habe immer das
beste Gewissen, nur meine Mutter nicht 1 . Ich träumte nachher, ich sei schwanger
der Arzt käme zu mir, ich erlebte die Entbindung und bekam einen Jungen “
Es ist in diesem Traum auch für die Patientin ganz klar ersichtlich, was
sie sich bisher nicht eingestehen konnte, daß sie nun die Mutter beschuldigt,
und sie weiß, wieviel Schuld die Mutter an der Entwicklung ihres Ambivalenz-
konfliktes hat. 11
Nun haben wir die ganze Entwicklung ihrer Krankheit rekonstruieren
können. Das ursprüngliche Gefühl war: die Mutter haßt mich, sie schlägt
mich usw. Die reaktive Aggression gegen die Mutter wurde verdrängt. Nicht
ich hasse die Mutter, sie haßt mich; ich liebe sie. Dann: Ich muß
sie lieben, obwohl ich Grund genug zum Haß hätte.
Aus diesem Ambivalenzkonflikt entwickelte sich der zwangsneurotische Cha¬
rakter der Patientin. Auf der Basis des zwangsneurotischen Charakters wuchs
später diese akute, depressive Psychose infolge einer Störung des Hormon¬
haushaltes.
So sehen wir, daß das Symptom, welches das Zustandsbild beherrscht, sich
aus der Art der Abwehrmechanismen ergibt, die das Ich gegen die destruktiven
Kräfte des Über-Ichs in Bewegung setzen kann (H. Deutsch). Meine
Patientin, die von dem Kampf zwischen Ich und Über-Ich sehr genau zu be¬
richten wußte, die genaue Verteidigungsvorschriften und Formeln für sich aus¬
gearbeitet hatte, die oft erzählte: ,,mein Ich ist heute schwach und kann sich
nicht verteidigen , empfand es als eine Befreiung und Stärkung des Ichs, als
sie sich selbst nicht mehr des Mordes bezichtigen mußte.
n) Freud schreibt in der Arbeit „Uber die weibliche Sexualität“ (Int. Ztschr. f«
Psa., 1931), „daß die überraschende, aber regelmäßig angetroffene Angst, von der Mutter
aufgefressen, umgebracht zu werden, wohl den Keim zu der weiblichen Paranoia bildet“.
Die Analyse dieses Traumes ergibt tatsächlich diese ursprüngliche Angst vor der Mutter.
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen
521
Wovon hängt aber die Ab Wehrfähigkeit des Ichs ab?
Die hier geschilderten zwei Fälle erwecken in uns den Eindruck, daß
eS von der Intensität der frei flottierenden und zu
bewältigenden Angst abhängt, wieviel Abwehrkräfte
das Ich gegen die Aggression des Über-Ichs mobili¬
sieren kann.
Wovon hängt die Intensität der frei flottierenden Angst ab?
Besonders aufschlußreich scheint mir in diesem Zusammenhang unser
zweiter Fall zu sein. Fiier können wir nämlich die Ängste in verschiedenen
Phasen getrennt studieren. Auf dem Höhepunkt der Krankheit ist die Ag¬
gression gegen das eigene Ich gewendet; die Ober-Ich-Angst ist sehr intensiv.
Zu gleicher Zeit besteht aber noch die Angst vor der Konzeption und die
narzißtische, ängstliche Selbstbeobachtung während des Koitus. In der Angst,
die diese zwei Symptome begleitet, erkennen wir noch die Reaktion auf die
nach außen gewendete Aggression. Dieser an das Objekt gebundene Haß und
die damit verbundene Angst schwinden zuerst auf die hormonale Behandlung,
die die weibliche heterosexuelle Libido gesteigert hat. (Wir waren bereit, diese
Symptome mit der Bisexualität in direkte Verbindung zu bringen.) Es scheint
uns, als ob die heterosexuelle Libido, die dem Ich zur Verfügung steht, die
Aggression und damit zusammen die Angst gleichsam neutralisierte. Dadurch
wurde die Position des Ichs von zwei Seiten her gestützt: einerseits wurden
die Angst und die Aggression geringer (die Belastung des Ichs weniger) und
anderseits die libidinöse Ich-Besetzung quantitativ größer. Das Schick¬
sal der Aggression und der A n g s t b e w ä 11 i g u n g hängt
also nicht allein von der Intensität der Aggression
und Angst ab, sondern auch von der libidinöse n,
heterosexuellen Spannung des Organismus. Ist diese be¬
friedigend, dann steht der Aggression und der Angst ein starkes Ich entgegen
und dadurch eine andere Struktur der Abwehr.
In unseren Fällen ist es gelungen, die Steigerung der heterosexuellen
Libido durch Hormonmedikation experimentell zu dosieren und so die
neue Ich-Struktur zu erreichen. Wir haben gesehen, daß dieses biologische
Experiment die Einsichten der Psychoanalyse, die auf anderem Material und
mit anderer Beobachtungstechnik mühsam gewonnen worden sind, in kurzer
Zeit im gedrängten Ablauf des Krankheitsprozesses bewies.
Wir haben in dem weiteren Verlauf dieses Falles gesehen, daß die Steige-
nmg der heterosexuellen Libido, und sogar die Möglichkeit zum normalen
Orgasmus doch nicht die ganze Angst hatte binden können. Von Zeit zu
5 22
Therese Benedek
Zeit entstand eine Überflutung des Organismus mit Angst. Diese Angst hatt
auch den psychischen Inhalt des nach innen gewendeten Aggressionstriebes
Woher stammt diese kaum zu bewältigende Angst?
Die Psychoanalyse hat nie behauptet, daß die Angst allein aus psychischen
Quellen entstehe, im Gegenteil, wir waren gewöhnt, die Quelle der Angst
ganz allgemein in der Libidostauung zu suchen. Ein somatischer Faktor wurde
also bei der Angstentstehung immer an erster Stelle in Erwägung gezogen
(Ursprünglich hatte Freud angenommen, daß sich die Libido direkt in
Angst verwandle. Er hat seinen Standpunkt dahin modifiziert, daß sich die
Libido nicht direkt in Angst verwandeln kann, sondern daß sich die Angst
im Ich als eine Reaktion auf die Störung des Trieblebens entwickelt.) Aber
wir wissen nicht, was eigentlich die Libidostauung bei einer genaueren Unter¬
suchung darstellt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Zustand, den wir
im allgemeinen bisher als „Libidostauung“ zu bezeichnen pflegten, in ver¬
schiedenen Fällen verschiedene hormonale Grundlagen haben, bezw. solche
auslösen. Wir dürfen wohl annehmen, daß wir in diesem zweiten Fall unserer
Beobachtung eine spezifische Form der Libidostauung genauer nachweisen
konnten, als es bisher der Fall war.
In diesen hier veröffentlichten Fällen könnten wir uns damit begnügen,
zu wissen, daß die Hyperfunktion der Schilddrüse durch die Irritation des
vegetativen Nervensystems, und zwar durch die Irritation des Sympathikus,
Angst und nervöse Symptome primär verursachen kann, aber genauere Unter¬
suchungen zeigen, daß die direkte Wirkung der Schilddrüsenfunktion auf das
Nervensystem auch nicht eine eindeutige und auf eine einzige Ursache zurück¬
zuführende Reaktion ist. Neuere Forschungen haben ergeben, daß es sich bei
dem Morbus-Basedow nicht allein um die Störung der Schilddrüsenfunktion
handelt, sondern daß immer eine komplexere Störung von mehreren Drüsen
vorliegt, was bei der Wechselbeziehung im Drüsensystem kaum anders vor¬
stellbar ist.
In diesem Zusammenhang interessiert uns am meisten, daß die Ovarien
und die Schilddrüse physiologische Antagonisten sind (Peritz). 12 Dieser
Antagonismus kann sich klinisch verschieden äußern. Wir kennen Thyreo-
toxicosen mit gehemmter Sexualität, Frigidität, ebenso wie Fälle mit großer
sexueller Erregbarkeit bei vaginaler Frigidität und Fälle mit verschiedenen
dysmenorrhoischen Symptomen.
Neuere experimentelle Arbeiten scheinen den physiologischen Vorgang, der
12) Peritz: Uber Beziehungen zwischen Schilddrüse und Eierstock. (Z. ärztl. Fort-
bildg., Jg 25, Nr. 6 .)
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen 525
bei Hyperfunktion der Schilddrüse zu der Dysfunktion der Ovarien führt,
näher zu erklären. Die Arbeiten von L u n d b o r g 13 zeigen, daß die Ovarien
normalerweise ein thyroxinhemmendes Hormon enthalten und dementsprechend
Jie Schilddrüse und das sympathische System hemmen. Die Versuche von
L e u p o 1 d und L u n d b o r g 13 ergeben, daß eine Wechselwirkung zwischen
Schilddrüse und Keimdrüse vorhanden ist. Die Untersuchungen von Zawa-
ü o w s k y 13 zeigen, daß das Thyroxin im Eierstock, und zwar in den
Gonaden gebunden wird und dadurch bei einer Überproduktion von Thyroxin
eine auffallende Lähmung der Ovarien zustande kommt. Dieser Befund könnte
genügen, um die Lähmung der weiblichen Sexualfunktionen und damit im
Zusammenhang manche seelischen Symptome zu erklären. Unsere Fälle haben
gelehrt, daß diese Hemmung der Eierstockfunktion das Hormonbild so
verändert, daß das Gleichgewicht der Bisexualität gestört — und die
Wirkung der männlichen Hormonstoffe auf irgendeine Art spürbarer wird.
Es ist vorläufig noch nicht entschieden, wo die männlichen Hormonstoffe in
dem weiblichen Organismus produziert werden, ob im ganzen eine Steigerung
der Hormonproduktion entsteht oder ob die männlichen Stoffe eben „die sich
stauenden“ sind, da sie direkt nicht befriedigt werden können. Wir wissen aus
anderen genaueren psychoanalytischen Untersuchungen, welche seelischen
Symptome direkt durch die sich stauende Bisexualität hervorgerufen werden
können, und wir waren immer bereit, eine gewisse Steigerung der Aggression
und Angst mit der Bisexualität in direkte Verbindung zu bringen.
Wir sind gewöhnt, aktiv gleich männlich, passiv gleich weiblich zu setzen.
In der Fortsetzung dieser Gedankengänge würde vielleicht die Annahme liegen,
daß in Fällen einer nachweisbaren, starken, männlichen Hormonproduk¬
tion eine Steigerung der Aktivität zugleich eine Steigerung der Aggression
mit sich bringen könnte. Oder aber käme die Steigerung der Aggression doch
nur in den Fällen zustande, in welchen zu der Bisexualität eine durch irgend¬
welche Ursachen her vor gerufene Triebentmischung noch dazukommt?
Ich möchte hier den folgenden Fall kurz mitteilen.
Eine Patientin war lange in psychoanalytischer Behandlung, weil sie unter dem
Zwangsimpuls litt, daß sie irgendeinen Mann oder ihren zukünftigen Mann er¬
würgen müßte. Die psychoanalytische Behandlung hatte ihr weitgehende Besserung
gebracht; sie heiratete und fühlte sich leidlich gut, obwohl sie frigid war. Dann
bekam sie ein Kind und nach der Entbindung noch eine sehr schwere organische
Krankheit. Durch diese Umstände körperlich total erschöpft, bekam sie ein schweres
Rezidiv ihrer psychischen Krankheit: sie hatte aggressive Impulse nicht nur gegen
13) Zitiert nach P e r i t z.
Therese Benedek
H4
ihren Mann sondern auch gegen ihr Kind. Sie empfand die Aggression mit g ro ß
Schreck und bekam Angst vor sich selbst und hatte schwere Schuldgefühle
Prozeß, der jedem Analytiker ganz geläufig ist.
Die Hormonuntersuchung nach Hirsch ergab in diesem Falle einen höhe
Wert der männlichen Abbauprodukte als der weiblichen. Die Therapie ging von
der Erwägung aus, hier einen Ausgleich durch bessere Funktion der Ovari^ *
schaffen. n Zu
Die Behandlung brachte viel interessantes psychoanalytisches Material zutage
das in einem anderen Zusammenhang veröffentlicht zu werden verdiente. Es wurde
zugleich klar, daß die libidinöse Steigerung für die Patientin nicht immer eine
Erleichterung brachte. Mit der libidinösen Steigerung zusammen erfolgte ein auf¬
gelockerter, schnellerer Ablauf der psychischen Inhalte, und es geschah sehr oft
daß in diesem Zustande der Auflockerung auch aggressive Tendenzen frei wurden'
Die genauere Beobachtung hatte gezeigt, daß die Patientin dann Angst bekam
wenn die libidinöse Spannung durch aggressive Tendenzen durchkreuzt, gestört
wurde. — Man hat den Eindruck, daß in diesem Falle eine quantitative Steigerung
sofort eine Triebentmischung hervorgerufen hatte, und die so freigewordene
Aggression sich in Impuls und Angst umsetzte.
Es erscheint uns auffallend, daß relativ so kleine Dosen von Hormonmitteln
solche Reaktionen hervorrufen, und die Frage ist berechtigt, ob zwischen Hor¬
mon und psychischem Inhalt eine direkte quantitative und qualitative Bezie¬
hung besteht. Freud äußert in der „Neuen Folge der Vorlesungen“, S. 215,
die Hoffnung: „daß die Kenntnis der Hormonwirkungen uns die Mittel leiht,
mit den quantitativen Faktoren der Erkrankungen erfolgreich zu ringen.“ Diese
hier angeführten Beispiele geben vielleicht eine Probe dafür. Freud mahnt
uns auch, daß die Hormonforschung, dieser biologische Nachbar der Psycho¬
analyse, uns auf den Fersen folge und mit ihren neuen Erkenntnissen die
Psychoanalyse einholen würde. Eben diese Beobachtungen zeigen, daß die gute
Beziehung zwischen Hormonforschung und Psychoanalyse erst in den Kinder¬
schuhen steckt, und noch lange müßte diese Nachbarschaft von beiden Seiten
sehr gepflegt werden, um wertvolle Resultate für beide Disziplinen zu er¬
reichen. Besonders würde davon, vorläufig, die Hormonforschung profitieren.
Es zeigt sich nämlich, daß die genaue Beobachtung des dynamischen Ablaufes
des psychischen Geschehens, wie er sich allein dem psychoanalytisch geschulten
Beobachter offenbart, die feinste Methode für die Beobachtung der Hormon¬
wirkungen ist. Es ist eine distinguiertere und genauere Beobachtungsmethode
als jedes Laboratoriumsexperiment.
Aber auch in dem soeben geschilderten Falle konnte es uns nicht gelingen,
nachzuweisen, ob die Angst oder die Aggression das Primäre ist. Wir können
nur feststellen, daß Angst und Aggression zusammen auf-
Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen
S 2 S
getreten sind und den seelischen Apparat vor die Aufgabe ihrer Be¬
wältigung stellen.
Angst ist nach den neueren Definitionen von Freud das Gefahrsignal,
wodurch für das Ich die Gefahr der eigenen Triebspannung, auch die Gefahr
der aggressiven Triebspannung, signalisiert werde. Dieser Theorie würden
wir gerecht, wenn wir annehmen würden, daß infolge der hormonalen Span¬
nung ■— bezw. der vegetativen Reizbarkeit — eine Triebentmischung statt¬
findet, Aggression frei wird und diese Aggression die Angst als Gefahrsignal
auslöst.
Wir wissen, daß hinter allen psychischen Symptomen die Angst als Motor
steht. Es gehörte zu den frühesten Erkenntnissen der Psychoanalyse, daß in
jedem hysterischen und zwangsneurotischen Symptom Angst gebunden ist, und
die neueren Forschungen über Phantasie und Sublimierungsprodukte zeigen
ebenso, daß die Angstbewältigung die Aufgabe des seelischen Apparates ist.
Trotzdem könnte man eben an Fland dieser Fälle fragen, ob es sich nicht
allein um die Bewältigung der Aggression handle.
Es muß die Aufgabe ganz genauer metapsychologischer Untersuchungen
sein, festzustellen, ob in Phantasien, Symptomen usw. die Angst nur sekundär
abnimmt, weil die Aggression gebunden wird oder aber, ob die Angst selbst
als Trieb in der neuen seelischen Struktur gebunden wird. Die beiden:
Angst und Aggression bleiben quasi als Funktion
voneinander abhängig.
Dieses von uns dargestellte Gegenpaar, Libido — Aggression, wird in den
Symptomen Schritt für Schritt gebunden, wie wir in unserem zweiten Fall
gesehen haben, zuerst in dem paranoiden Symptom und nachher in den
zwangsneurotischen Symptomen. In diesen neuen seelischen Strukturen ist
Aggression durch Libido gebunden und damit zusammen auch die Angst. 14
14) Reich macht mir den Vorwurf („Der masochistische Charakter“, Int. Ztschr.
f. Psa., 1932), den strukturbildenden Prozeß mit dem Todestrieb gleichgesetzt zu haben.
Nach diesen Darstellungen ist es aber wohl eindeutig klar, daß in unserer extrem dualisti¬
schen Auffassung seelische Strukturen keinesfalls allein aus einem Faktor entstehen können.
Reich meint, ich hätte in meiner Arbeit „Todestrieb und Angst“ (Int. Ztschr. f.
Psa., XVII, 1931) die Angst mit der entstandenen Struktur, mit dem Symptom gleich¬
gesetzt, obwohl schon meine damaligen Ausführungen beweisen wollten, daß die Angst
als Motor zur Symptombildung dient und keinesfalls das Symptom selbst sei. Es ist hier
überflüssig, über die Angst als Affekt, über ihren drängenden Charakter usw. zu reden,
um die Unwahrscheinlichkeit einer starren Angst zu erklären. Viel eher hat man
die Neigung anzunehmen, daß die Angst selbst wie ein Trieb wirkt. Deswegen
erschien mir die Angst als psychische Repräsentanz oder als
innerpsychische Wahrnehmung des Aggressionstriebes.
Zusammenfassung.
Die hier veröffentlichten zwei Fälle von hyperthyreotischen Psychos
zeigen, daß die auf direkten organischen Reiz hin entstandene Angst seelisch
mit den Symptomen und Erscheinungen des Aggressionstriebes auftritt.
Diese Fälle können auch nicht entscheiden, was primär ist, die Angst oder
die Aggression. Sie zeigen nur, daß die beiden zusammen auftreten.
In beiden Fällen haben wir gesehen, daß die Steigerung der heterosexuellen
Libido die Aggression und die Angst gebunden hat, also Libido und Ag¬
gression als Gegensatzpaar aufgetreten sind.
Für die allgemeine Theorie der hyperthyreotischen Psychosen glauben wir
auch einen Beitrag geliefert zu haben, indem wir zeigten, daß die durch die
Thyreotoxicose entbundene Angst und Aggression in dem psychischen Apparat
so zur Wirkung kommen, daß durch die freigewordene Aggression die Strenge
des Uber-Ichs gesteigert wird und dementsprechend ein depressives Zustands¬
bild zustande kommt.
Der Ablauf der seelischen Prozesse geschieht in der Weise, wie wir es in
der Psychoanalyse an anderen Fällen kennengelernt haben. Es gelingt uns
hier, das Analytische in der grellen Beleuchtung des organischen Geschehens
zu erfassen.
Wein dem, der lügt!
Beitrag ;um Problem der Pseudologia phantastica* **)
Von
A. KidKoU
Königsfelden
In der Sommerversammlung 1929 der Schweizer Psychiater in Rheinau,
in der Blum 1 '*'' 1 ' und Behn 2 über die Vorurteile gegen Psychiatrie und
Irrenanstalten referierten, hatte ich Gelegenheit, mit dem Vater des Begriffes
der Pseudologia phantastica, Prof. ID e 1 b r ü c k aus Bremen, persönliche
Bekanntschaft zu machen, und es war von großem Interesse, zu erfahren,
wie sich heute der Schöpfer zu seinem geistigen Kinde stellt. Ist doch gerade
die Diagnose der Pseudologia phantastica, durch die eine große Zahl von
Schwindlern und Betrügern vom Psychiater als unzurechnungsfähig oder
doch vermindert zurechnungsfähig erklärt und damit vor einer Strafe für
ihre Delikte geschützt wird, eine jener irrenärztlichen Begutachtungen, die
wie wenige sonst das Laienvorurteil nähren, der Psychiater sei darauf bedacht,
gewisse Übeltäter, die es gar nicht verdienten, dem Arme der Gerechtigkeit
zu entreißen.
Delbrück 3 weist in den Sohlußbemerkungen seiner Abhandlung über die
pathologische Lüge einmal darauf hin, daß sich deren beste Schilderungen bei den
Dichtern, z. B. Daudet, Keller, Goethe finden, und dann darauf, daß die hysteri¬
schen Anfälle etwas der phantastischen Pseudologie ganz Analoges seien (S. 124,
US).
In zwei kleinen Schriften zur Neurosenlehre aus dem Jahre 1903 hat sich
Freud 4 mit dem Ursprung der hysterischen und dichterischen Phantasien befaßt.
Die Tagträume seien die Quelle der phantastischen Schöpfungen der Paranoia, der
sexuell Perversen, der Hysterien. Sie können sowohl bewußt als unbewußt sein, im
letzteren Fall pathogen werden. Es komme zur Verlötung des Tagtraumes mit
Onanie, dann zur Abstinenz und Verdrängung, zum Unbewußtwerden der Phan-
*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der Schweiz. Gesellschaft für Psychoanalyse am
2< März 1933 in Königsfelden.
**) Die Ziffern im Text beziehen sich auf das Literaturverzeichnis am Schlüsse des
Aufsatzes, S. 545.
5*8 A. Kielholz
tasie. Durch das hysterische Symptom werde dann eine Annäherung an die primäre
Sexualbefriedigung erreicht. Praktisch bedeutsam sei der Fall, daß Hysteriker ihre
Phantasien in bewußter Realisierung durch Fingierung von Attentaten, Mißhand
lungen und sexuellen Aggressionen in Szene setzten. Das Verhältnis der Phantasie
zum Symptom sei mehrfach kompliziert und determiniert. Es handle sich um einen
Kompromiß von zwei gegensätzlichen Triebregungen. Ein hysterisches Symptom
sei häufig der Ausdruck einerseits einer männlichen, anderseits einer weiblichen
unbewußten sexuellen Phantasie.
Die ersten Spuren dichterischer Betätigung 5 finden sich im Spiel der Kinder mit
Anlehnung an greifbare Dinge der Wirklichkeit und mit Verwendung großer Affekt¬
beträge. Der Heranwachsende schämt sich des Spiels, statt dessen phantasiert er
Das Kind, das groß sein will, agiert das Spiel und schämt sich seiner nicht
Die weiblichen Wünsche sind mehr nach erotischen, die männlichen nach ehr¬
geizigen Zielen gerichtet. Das Überwuchern der Phantasie führt in Neurose und
Psychose. Der Held der Tagträume und der Romane ist das Ich. Auch die Dich¬
tung wurzelt in Kinderlebnissen; sie wird durch ein starkes, aktuelles Erlebnis aus¬
gelöst und stellt die Erfüllung in der Zukunft dar. So schwankt die Phantasie
zwischen drei Zeiten. In der Dichtung kann der Hörer oder Leser seine eigenen
Phantasien ohne Scham genießen.
Helene Deutsch 6 kommt in einem Aufsatz über die pathologische Lüge (1922)
zu folgenden Formulierungen: Pseudologie ist der den anderen als Realität mit¬
geteilte Tagtraum. Immer steht die eigene Person im Mittelpunkt der Phantasie.
Zum Unterschied vom gewöhnlichen Tagträum, der geheimgehalten wird, wird die
pathologische Lüge den anderen aufdringlich als Realität mitgeteilt. Der Dichter
findet für seine Phantasie kraft seiner Begabung die ästhetische Form, die dem Pu¬
blikum den Mitgenuß ermöglicht. Die Pseudologie ist die Wiederbelebung der unbe¬
wußten Erinnerung des einst wirklich Erlebten. Weil damals verpönt, wird es auch
jetzt nicht voll realisiert. Die pathologische Lüge versucht die Befreiung von einer
drückenden Last der Erinnerung. Sie ist eine Zwischenstufe zwischen psychischer
Gesundheit und Neurose. In Fällen von anhaltender Pseudologie ist der Befreiungs¬
versuch mißglückt, die Neurose stabilisiert.
In seinem Buch über gemeinsame Tagträume hat Hanns Sachs (1924) 7 ver¬
sucht, die psychologischen Unterschiede zwischen Künstler und Führer zu erfassen.
Der Künstler bleibe nicht, wie der Tagträumer, bei seinen engen persönlichen Wün¬
schen stehen, er müsse alles Nebensächliche und Zufällige seines Materials beiseite
schleudern. Der Künstler könne nie Massenführer sein. Dieser müsse seinen Nar¬
zißmus uneingeschränkt beim eigenen Ich erhalten, vom Schuldgefühl ungebeugt.
Der Dichter aber leide mehr als die übrigen unter dem Schuldgefühl. Er müsse
unter dessen Druck den Narzißmus von der eigenen Person ablösen und auf das
Werk verschieben. Er müsse den Rückweg von der Vereinzelung zur Brüder¬
gemeinschaft mit diesem Opfer zu erkaufen bereit sein. Daher eigne er sich nicht
zum Führer, sondern sei ein besonders differenziertes Massenindividuum. Der Dich¬
ter werde nicht vom Narzißmus, sondern vom Schuldgefühl dazu getrieben, Bei¬
fall und Zustimmung verwandter Seelen zu suchen, nicht für sich, sondern für sein
Werk (op. cit. S. 35—3 6 ).
Weh’ dem, der lügt!
S 2 9
Abraham ist in der letzten von ihm publizierten Arbeit der Geschichte eines
Hochstaplers im Lichte psychoanalytischer Erkenntnis nachgegangen (1925). 8 Er
(jat darin anschaulich gezeigt, wie bei einem vielfach vorbestraften Schwindler und
Betrüger dadurch eine viele Jahre andauernde Heilung der Pseudologie zustande
kam, daß er eine Witwe mit mehreren Kindern und einem guten Geschäft heiraten
konnte, in dem er einen gut bezahlten Vertrauensposten fand. Die Libidoübertra¬
gung auf einen Mutterersatz ermöglichte also nach Auffassung des Autors eine Pro¬
zession von narzißtischer Gebundenheit zur Objektliebe, ohne daß dabei Schuld¬
gefühle auftraten. Am Schlüsse seines letzten Vermächtnisses verweist Abraham
auf die große Bedeutung der Psychoanalyse für die Kriminologie. Er begrüßt Aich-
h 0 r n s eben damals erschienenes Buch „Verwahrloste Jugend“ und unterstreicht
die darin betonte Bedeutung der positiven Übertragung des Zöglings auf den Er¬
zieher in den Besserungsanstalten.
A i c h h o r n hat 1930 in unserer Gesellschaft über die Psychoanalyse Verwahr¬
loster einen Vortrag gehalten. Er hat uns darin den Hochstaplertypus umschrieben
als feminin, homosexuell, mit ursprünglicher starker Bindung an die Mutter, dann
mit Enttäuschung durch sie, mit der Schaffung eines Idealbildes von ihr, das ver¬
drängt und dann gesucht wird..
Zum Schlüsse dieser Übersicht, die auf Vollständigkeit keinerlei Anspruch macht,
sei noch auf die kürzlich erschienene Abhandlung Melitta Schmidebergs :
„Zur Psychoanalyse asozialer Kinder und Jugendlicher“ 9 verwiesen, in der uns fol¬
gende für unser Thema speziell in Frage kommende Formulierungen wertvoll er¬
scheinen: Das Lügen gewährt eine halluzinatorische Befriedigung, eine Flucht aus
der unangenehmen Realität, eine Vermeidung der durch die Versagung ausgelösten
Konflikte, der Angst und Aggression. Die Tat wird durch das Wort ersetzt. Es
findet eine Flucht in die Realität des Wortes vor der Phantasie statt. Der Lügner
unterscheidet sich von der Realitätsverleugnung des Psychotikers nur durch das
Ausmaß. Die Realitätsverfälschung wird ihm in gewissem Ausmaße bewußt. Die
erste Kindheit asozialer Kinder ist meist entbehrungsreich. Die ungünstige Realität
erschwert die Flucht in die Realität. In vielen Fällen bedeutet das asoziale Ver¬
halten eine Flucht vor den paranoiden Phantasien in die Realität, den Versuch
der Selbstheilung einer initialen Psychose. Für die asoziale Charakterbildung ist ein
wichtiges Problem die Identifizierung mit bösen Vorbildern.
Wenn ich nun dazu übergehe, kurz einige Fälle von Pseudologia phan-
tastica zu schildern, die wir im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte in Königs-
felden beobachten konnten und begutachten mußten, so möchte ich einen
Hauptzug ihrer Wesensart mit den Worten Freuds 10 hervorheben: „Es
gibt Menschen, die in ihrem Leben ohne Korrektur immer die nämlichen
Reaktionen zu ihrem Schaden wiederholen oder die selbst von einem unerbitt¬
lichen Schicksal verfolgt erscheinen, während sie sich dieses Schicksal un¬
wissentlich selbst bereiten. Wir schreiben dann dem Wiederholungszwang
dämonischen Charakter zu.“
Wir können unsere Krankengeschichten nur auszugsweise bringen, wie-
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIX—4 34
wohl für solche Extrakte der Einwand gilt, den Freud zusamt
drängten Analysen entgegensetzt, daß sie niemals den beweisenden Eindru
machen können, dessentwegen man sie herangezogen hat.
Jos. Walter Schlosser* das drittälteste von n Kindern eines Taglöh
ist seit dem zehnten Jahre bei einem Wirt gegen Kostgeld untergebracht."x?
18 Jahren wird er wegen unsittlicher Betastungen eines neunjährigen Mädchens *
erstenmal verurteilt, wobei die als Zeugin einvernommene Mutter erklärt, der
ratene Sohn sei ein Hallunke, den die Eltern verjagt hätten und nicht mehr"^
Hause sehen wollten. Er verdiene eine Strafe schon wegen der Ärgernisse die ^
ihnen beständig antue. Innerhalb vier Jahren kommen dazu sieben weitere Straft
wegen Betrügereien und Diebstahl. Der frühere Paukenschläger stiehlt einen Takt"
stock und eine Damenphotographie, um sich als Musikdirektor und glücklichen
Bräutigam ausgeben zu können, näht auf seine Uniform Korporalschnüre und be¬
fördert sich sogar zum Instruktionsoffizier, ist angeblich Kompagnon bei einer
Orgelfabrik und Absolvent eines deutschen Technikums, läßt eine seit Jahrzehnten
verstorbene Patin wieder auferstehen und knüpft mit ihr eine Korrespondenz
an usw.
Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Königsfelden hält er sich fünf Jahre
lang einwandfrei mit guter Übertragung speziell auf einen der hiesigen Ärzte, dann
heiratet er, begeht neuerdings Diebstähle, äußert Drohungen gegen die Behörde,
wird deswegen wieder interniert und stirbt ein Jahr später an einer perforativen
Appendizitis. Die Frau gab an, er habe sie beständig angelogen und sie habe des¬
wegen auf Scheidung geklagt.
S c h 1 o s s e r hat in Königsfelden behauptet, er habe die erste Strafe nicht ver¬
dient, sei damals unschuldig gewesen und wegen dieser ungerechten Bestrafung sei
ihm nachher alles gleichgültig gewesen.
Im Gegensatz zum Falle A b r a h a m s hat hier die Ehe keine Heilung ge¬
bracht, sondern im Verhalten zur Frau ist er nach Jahren korrekter Auf¬
führung wieder in die lügenhafte und diebische Einstellung zurückverfallen,
die er der Mutter gegenüber einnahm, welche durch ihre gerichtliche Zeugen¬
aussage mit zur ersten angeblich ungerechten Bestrafung des Jugendlichen
beigetragen hat. Einen ähnlichen Mechanismus wie bei Abrahams Hoch¬
stapler könnte man eher beim nächsten Fall vermuten.
Walter B ä u m 1 e r s Vater war ein arbeitsscheuer, großmannssüchtiger Dieb, der
Unterschlagungen beging, die Mutter eine Schmugglerin, die ihre sechs Kinder, von
denen Walter das Zweitälteste war, zum Betteln anhielt und sich selbst überließ,
da sie als Kellnerin diente. Die Eltern hielten sich gegenseitig Ehebruch vor. Beide
wollten von dem Knaben, der sich in allen Beziehungen ihrer würdig erwies, nichts
mehr wissen. Mit 17 Jahren wird er wegen verschiedener Diebstähle in eine Erzie¬
hungsanstalt eingewiesen, wo er sich zwei Jahre tadellos hält und vorzeitig entlassen
wird, um sofort wieder zu stehlen, zu betrügen und zu vagabundieren. Er spielt
0 Alle Namen sind entstellt.
Weh’ dem, der lügt!
53 1
den Studenten, den reichen Amerikaner nach dem Vorhild des Vaters, fälscht Unter¬
schriften und Telegramme. Als er mit 25 Jahren zur Begutachtung kommt, hat er
sechs Vorstrafen hinter sich. Nach einjähriger Internierung in Königsfelden unter
Schutzaufsicht entlassen, vermag er sich während sechs Jahren ohne Delikte zu halten.
In einer bald nach der Entlassung aus der Anstalt eingegangenen Bekanntschaft,
die zu einer glücklichen Ehe führte, könnte die Ursache dieser Besserung vermutet
werden, wenn nicht daneben gleichzeitig ein Freundschaftsverhältnis zu einem
homosexuellen Psychopathen bestanden hätte, den Bäumler als Insassen von Königs¬
felden kennengelernt hat. Dieser lebte nachher beständig in seiner Nähe, ver¬
schaffte ihm Arbeit und unterstützte ihn. Auch wurde Bäumler in dem Momente
wieder rückfällig, als sich dieser Freund von ihm abwandte und ihn im Stiche ließ.
Jetzt entwendet er der Zimmervermieterin 10.000 Franken aus geschlossener Kom¬
mode und verbraucht das Geld für kostspielige Reisen und in Luxushotels, wo er
wie früher den vornehmen Exoten spielt — ohne seine Frau. Zu zwei Jahren Zucht¬
haus verurteilt, will er den Namen wechseln und dann die Frau, die sich von ihm
scheiden lassen soll, wieder heiraten. Gleichzeitig beklagt er sich, daß er auch seinem
Freunde Unannehmlichkeiten bereitet habe. Er bringe eben allen Leuten nur Unglück.—
Der siebenmal wegen Diebstahls und Betrugs vorbestrafte Dekorationsmaler Jean
Säckler kam deswegen zur psychiatrischen Begutachtung, weil er durch drei
Jahre eine ganze Reihe von Schweizer Künstlern dadurch geschädigt hatte, daß er
sich ihnen unter hochklingenden Namen vorstellte und sich einige Werke zur Aus¬
wahl erbat. Mit den so erhaltenen Bildern verschwand er dann. Bei anderen Kunst¬
malern entwendete er in unbewachten Momenten kleinere Stücke. Bei sich zu Hause
signierte er die meisten dieser Bilder mit seinem Namen und gab sich seiner Frau
und seiner Verwandtschaft gegenüber als deren Urheber aus.
Er war von klein auf furchtsam und schüchtern gewesen und hatte Angst vor
dem überstrengen, unnachsichtigen Vater gehabt, der den Knaben seiner Phantasie¬
lügen wegen viel prügelte. Er stahl im Walde Holz, weil er beim Sammeln Angst
hatte, zu wenig heimzubringen und dann gestraft zu werden. Im Militärdienst
genoß er als gemeiner Soldat eine Vorzugsstellung, weil er sich als Karikaturen¬
zeichner hervortat. Er stahl dabei bald aus einer Kassette. Als ihm die erste Frau
im ersten Wochenbett starb, legte er an ihrem Grab einen Kranz nieder, auf dessen
Schleife er als Feldwebel signierte. Seinen Bekannten suchte er mit goldenen Bechern
und Lorbeerkränzen als Olympiasieger zu imponieren. Die zweite Frau, bei deren
Verlobung er mit seinen Bilderschwindeleien begonnen hat, ist ihm geistig über¬
legen und ein deutlicher Ersatz für die weichherzige Mutter. Sie bezeichnet ihn als
sexuell sehr wenig anspruchsvoll. Die Ehe ist kinderlos. Trotzdem sie von seinen
Vorstrafen bei der Heirat nichts wußte und trotz seiner Schwindeleien mit den
Bildern, für die er wegen Verhältnisblödsinns und Pseudologia phantastica als un¬
zurechnungsfähig erklärt wurde, hat sie ihn nicht fallen lassen und ihn bei seinen
Bemühungen, nach % jähriger Anstaltsinternierung wieder im bürgerlichen Leben
Fuß zu fassen, mütterlich unterstützt. Der Mann ist bevormundet und steht unter
Schutzaufsicht. Er hält sich seit bald 4 Jahren einwandfrei und bezeugt seinen
ehemaligen Ärzten seine Dankbarkeit durch gelegentliche Zusendung von authenti¬
schen Aquarellen. —
34 *
53*
A. Kielholz
Der aus vornehmer und begüterter Familie stammende Max Specke ist als
jüngstes Kind und einziger Sohn wegen vieler Kinderkrankheiten, darunter einem
universellen Ekzem und einer Diphtherie mit Tracheotomie, von klein auf ver¬
zärtelt und verwohnt worden. Nach dem frühen Tod des Vaters, den er als Neun¬
jähriger verlor, bekam er seinem Vormund und Onkel gegenüber eine recht feindselig
Einstellung, zum Teil deshalb, weil er von ihm wegen seiner früh aufgetretenen
Neigung zu verschwenderischen Einkäufen und Aufschneidereien viel getadelt und
zurechtgewiesen worden war. In den verschiedenen Schulen, in denen man es mit
ihm versuchte, versagte er überall, lebte auf großem Fuße, sammelte einen Kreis
von Schmeichlern um sich und vergeudete sein Vermögen. Mit dem Strafgesetz kam
er nur deswegen nie in Konflikt, weil seine Schulden und Unregelmäßigkeiten jeweils
von den Angehörigen gedeckt und auf gütlichem Weg geregelt wurden. Er knüpfte
wiederholt platonische Verhältnisse mit Mätressen seiner Bekannten, mit verheira¬
teten, sogar schwangeren Frauen an, die er mit Pelzen und Schmuck beschenkte.
Er gab sich als Sohn eines schweizerischen Gesandten, als Ingenieur, als Offizier
aus und bestellte eine entsprechende Uniform. Er Unterzeichnete Schecks im Betrag
von mehreren tausend Franken auf eine Bank, bei der er keinen Rappen deponiert
hatte. Er spielte auch den Erfinder und benutzte seine wertlosen Projekte, um sich
Geld zu verschaffen, das er dann wieder zum Ankauf von Uhren, Ringen und
Automobilen verwendete. Er meldete sich angeblich zweimal ohne Erfolg bei der
Fremdenlegion und war längere Zeit Steuermann auf Mittelmeerdampfern. Die In¬
ternierung und Beobachtung in verschiedenen Sanatorien und Irrenanstalten ergab,
daß es sich um einen haltlosen Psychopathen mit unbezwingbarer Neigung zur
Pseudologie handelte, der urteilsschwach, aber ziemlich gewandt, sich äußerlich
anzupassen und einzuschmeicheln wußte, aber leicht zu beeinflussen und zu über¬
tölpeln war, ohne Einsicht und Verantwortlichkeitsgefühl. Specke hat es trotz des
Widerstandes der Angehörigen durchgesetzt, die Tochter einer ehemaligen Zimmer¬
vermieterin, die ihm geistig überlegen ist und ihn zu lenken weiß, zu ehelichen.
Ob er durch diese Heirat auf andere Bahnen kommt, kann heute noch nicht gesagt
werden.
Wir haben Specke einmal aufgefordert, seine Phantasie dichterisch zu
verwerten. Die so entstandene Novelle spielt in Marokko; der Held wird
dabei auf geheimnisvolle Art umgebracht und zerstückelt. Seine Geliebte gibt
sich dem Mörder hin, um ihn dabei durch einen Schlangenbiß zu vergiften.
Sie wird vom Sterbenden erdolcht. Also ein typisches Fragment eines Schund¬
romans!
Walter H o f m a n n ist der Sohn eines rohen und liederlichen Trinkers, der
die Familie mißhandelt und von sich gestoßen hat, und einer zeitweise schwer¬
mütigen und körperlich kranken Mutter. Im Alter von 17 Jahren verliert er sie.
Als Kind war er brav, weichherzig und ein schlechter Schüler; später wechselte er
öfters die Arbeitsstellen, angeblich, um mehr zu verdienen, damit die Mutter nicht
mehr in die Fabrik gehen müsse. Er war mit 20 Jahren noch Bettnässer. Bei einem
trunksüchtigen Bauern und im Militärdienst kam er selber ins Trinken. Einem
Kameraden entlieh er eine Uhr, die er nicht mehr zurückgab. Einmal desertierte
Weh’ dem, der lügt!
533
im Rausch und zog sich dadurch die ersten Strafen zu, die er selber auf Mädchen-
t>ekanntschaften zurückführt, welche ihn aus dem Geleise gebracht hätten. In der
jdaft beging er wiederholte Selbstmordversuche, wenn er jeweils von seiner Braut
keine Antwort auf seine Briefe bekam. Nach einer Abstinenzkur, die er wegen
IsTeigung zu Depressionen und Selbstgefährlichkeit in der geschlossenen Heilanstalt
absolvierte, knüpfte er ein Verhältnis mit einer älteren Witwe an, die ihn angeblich
wieder zum Trinken verführte. Er begeht Schwindeleien, indem er sich als Ope¬
rationswärter, als Chefmonteur, als Sohn eines Regierungsrates ausgibt, brennt mit
einer neuen Braut und dem Velo von deren Bruder durch, bestellt bei einem Möbel¬
händler eine große Ausstattung, zeigt ihm einen Neubau in einem Landstädtchen
als sein Eigentum, läßt sich von ihm im Auto zur Braut führen und für seine
Bestellungen von Möbeln, Wäsche und Kleidern im Betrage von Fr. 12.000—, die
er mit falschem Namen unterzeichnet, ein Darlehen aushändigen. Er besichtigt ein
zum Verkauf ausgeschriebenes Heimwesen und läßt sich vom Besitzer Geld vor¬
schießen. In der Untersuchungshaft, in die er wegen dieser Delikte gerät, verfaßt
er eine Beschwerde gegen den Staatsanwalt, die vom Verwalter und Geistlichen
des Gefängnisses unterstützt wird, droht mit Selbstmord und schreibt ein Testament,
in dem er seine „Ehefrau“ als Erbin einsetzt. Wegen Nahrungsverweigerung muß
er nach Königsfel den gebracht werden. Er behauptet, eine Krawattennadel ver¬
schluckt zu haben, fängt aber doch wieder zu essen an. Die Braut sucht er mit
Suiziddrohungen zu bestimmen, wieder mit ihm anzuknüpfen. Schließlich bemüht
er sich, ihr und sein außereheliches Kind als seinen Sohn anerkennen zu lassen. Er
möchte in der Heilanstalt bleiben, da .das Leben in der Freiheit keinen Wert mehr
für ihn habe, wenn die Braut nichts mehr von ihm wissen wolle, und da er auch
Angst hat, draußen wieder rückfällig zu werden. —
Albert Weich müller verlor seine Mutter an Lungenschwindsucht mit fünf
Jahren. Eine seiner Schwestern ist schwachsinnig; ein Bruder erhängte sich mit
16 Jahren aus Angst vor einer Blinddarmoperation, zwei sollen ertrunken sein. Er
habe von seiten des Vaters, der ihn gegen die strenge Stiefmutter zu wenig in
Schutz nahm, Enttäuschungen erlitten, deswegen fühle er sich berechtigt, andere
zu täuschen. Als er seinem Wunsche entsprechend in einer Schneider lehre war,
habe man ihn ungenügend mit Kleidern ausgestattet und ihm nie geschrieben. Die
Logisfrau mußte ihm sogar während der Grippezeit ein Hemd kaufen. Er läuft
deshalb aus der Lehre davon, wird Hausbursche, verlangt nach acht Tagen Vor¬
schuß, um ein Hemd zu kaufen, leiht sich einen Waschkorb aus, stiehlt einen
Spazierstock, verkauft beides und verschwindet. An sieben Orten erhebt er darauf
unter unwahren Angaben 34 Hemden, die er zum Teil selber braucht, zum Teil
zu Schundpreisen wieder verkauft. Bei der Verurteilung wegen dieser Delikte wird
sein jugendliches Alter — 18 Jahre — als Milderungsgrund, sein heller Kopf, die
große Phantasie und der starke verbrecherische Wille als strafverschärfend ange¬
nommen. Später sucht er Unterkunft bei Trödlerinnen, wo man immer genügend
Kleider haben könne, bettelt bei Pfarrern und Klosterfrauen, stiehlt bei solchen
Geld und Uhren, gibt sich als Theologiestudent aus, der wegen Lungenkrankheit
das Studium habe aufgeben müssen, unterzeichnet Briefe als Vikar, will angeblich
zur Mission gehen, ein Muttergut von einigen tausend Franken in Aussicht haben.
j
Er übernachtet mit Homosexuellen, hat Verhältnisse mit verheirateten Frauen he
hauptet auch, von Dirnen ausgehalten worden zu sein. Eine ältere Trödlerin' d~
wie eine Mutter zu ihm gewesen sei, für die er hausierte und bei der er Ko^
und Logis hatte, bestiehlt er und motiviert später vor Gericht seine Betrügereien damT
daß er ihr habe seine Schulden abzahlen wollen. Nur aus diesen macht er sich e* *
Gewissen. Er kehrte auch später wiederholt zu ihr zurück, ließ sich von ihr mi
Kleidern, Essen und Geld unterstützen und dann wieder einklagen. Nach Königs
fei den, wo er mit 22 Jahren als moralisch defekter Psychopath begutachtet wurde
ka.m er einmal freiwillig, nachdem er wieder überall Schulden gemacht und Geld'
mit Vorliebe bei Geistlichen, entliehen, auch vorübergehend in einer anderen Irren¬
anstalt als Wärter sich betätigt hatte. In der Strafhaft verweigerte er die Arbeit
machte Hungerstreike, drohte mit Suizid und demolierte Geschirr und Scheiben'
Einmal spielte er den Bischof, behauptete, nachts Stimmen zu hören, benahm sich
aber sofort wieder normal, als er aus der Strafanstalt nach Königsfelden versetzt
wurde und behauptete, er habe sich dort nur verstellt. Beim letzten Aufenthalt im
Zuchthaus zog er sich in selbstmörderischer Absicht wiederholt Schnittwunden
am linken Handgelenk zu, die eine Sehnennaht notwendig machten. —
Emil S c h u 1 d 1 i n g ist der Sohn eines Polizisten, der jedes dritte Jahr seinen
Wohnort wechseln mußte, was einen entsprechenden Wechsel der Schule und des
gesamten Milieus bei dem Knaben bedingte. Er konnte so nirgends recht verwurzeln,
nirgends Kameradschaften schließen; so kam von klein auf etwas Unstetes in seine Le¬
bensführung. Er sagt von sich selber aus, daß er als Knabe schon wegen seiner Schwin¬
deleien unbeliebt gewesen sei, mit denen er sich offenbar an jedem neuen Wohnort
Geltung zu schaffen versuchte. Reagierten die Kameraden mit Spott und Hohn auf
seine Lügen, so zog er sich verletzt und beleidigt von ihrer Gesellschaft zurück und ge¬
wöhnte sich daran, in der Einsamkeit seinen Phantasien nachzuspüren. Der frühe Tod
der Mutter, als er neun Jahre alt war, und der darauffolgende häufige Wechsel von
Haushälterinnen, Stiefmüttern und Anstaltserziehung begünstigte diese Fehlentwick¬
lung noch, der Knabe konnte sich niemandem längere Zeit gemütlich anschließen
und stieß statt auf Verständnis auf Gleichgültigkeit, Abneigung und Ungeduld.
Nach seiner Behauptung spielte das Prügeln unter den Erziehungsmethoden eine
große Rolle. Man habe ihn z. B. geschickt, für die Kaninchen in fremden Wiesen
Gras zu holen, dann habe ihn zuerst der Bauer, nach der Rückkehr die Stiefmutter
und am Abend der Vater durchgehauen.
In der Zwangserziehungsanstalt, wo er den Schreinerberuf erlernte, hielt er sich
während drei Jahren tadellos. Er machte eine gute Lehrlingsprüfung.
Nach einer unglücklichen Liebschaft mit einem unehelichen Mädchen wird er
vom Vater aus dem Haus fortgejagt; er ist vorübergehend im Spital wegen Neu¬
rasthenie und Magenneurose; dort raten ihm die Ärzte, den Beruf eines Nacht¬
wächters aufzugeben, den er offenbar nur ergriffen hat, weil er nachts keine Ruhe
und keinen Schlaf findet. Er macht dann einen Suizidversuch mit einem Revolver,
und kurz nachher erfolgt beim 23jährigen die erste Bestrafung, der sich in der
Zeit von fünf Jahren zehn weitere anschließen. Er hat seinen Logisgebern aus der
geschlossenen Kommode 200 Frs. entwendet, gleichzeitig aber auch ein vierjähriges
Mädchen derselben auf die Hobelbank gelegt, entblößt und vor ihm exhibitioniert.
Weh’ dem, der lügt!
535
£r umarmte auch die Mutter desselben, zog sich deren Unterhose an und onanierte
darin. Er war schon mit neun Jahren deswegen gestraft worden, weil er versucht
hatte, der Lehrschwester in der Erziehungsanstalt unter die Röcke zu blicken. Später
hatte er Wälder und Parks auf gesucht, um geschlechtliche Sachen beobachten zu
können, und auch die Wahl des Nachtwächterberufs war durch sein Voyeurtum
bestimmt worden. Als er zum fünftenmal vor den Schranken des Gerichtes steht,
ist er in der Lage, ein spezialärztliches Gutachten vorzulegen. Er ist wegen Schlaf¬
losigkeit vom Arzt an einen Nervenarzt gewiesen worden, der ihm eine Kur in
einer nahen Pension anrät und ihn während derselben psychotherapeutisch be¬
handelt. Der Patient beschafft sich die Mittel zu dieser Kur durch Schwindeleien
gegenüber dem Pensionsinhaber, vertrauensseligen Wirtinnen und Kellnerinnen. Der
Staatsanwalt ließ sich durch das Gutachten nicht davon überzeugen, daß Schutz¬
aufsicht bei dem vermindert zurechnungsfähigen, pseudologischen, haltlosen Psycho¬
pathen nicht genüge, sondern nur ein möglichst langer Anstaltsaufenthalt. So wurde
Schuldling innerhalb kürzester Zeit wieder rückfällig, beging Velo- und Uhren¬
diebstähle, lockte den Leuten unter allerlei Schwindeleien das Geld aus der Tasche,
verübte Zechprellereien, gestand meist sofort, zeigte sogar Delikte an, die gar nicht
bekannt worden waren, nur um, wie er sagte, endlich einmal reinen Tisch zu
machen. Auch in einer Arbeiterkolonie machte er sich nach kurzer Zeit durch seine
Schwindeleien und sein unaufrichtiges Verhalten unmöglich. Er behauptete dort,
er sei in der Fremdenlegion gewesen und habe Reisen nach Rußland und Asien
gemacht. Das letzte Delikt, das zur Begutachtung in Königsfelden führte, hatte
wieder deutlich sexuelle Wurzeln. Schuldling hatte sich ganz in der Nähe des
Ortes, wo er sein erstes Delikt begangen, in die Nichte seiner Logisgeberin, ein
schwerhöriges, uneheliches Mädchen, verliebt, sich mit ihr unter lügnerischen An¬
gaben über sein Vermögen verlobt und war, als sein Vater nicht sofort erschien,
um dem neuen Bund seinen Segen zu geben, unter Zurücklassung von Schulden und
unter Mitnahme von zwei Zwanzigernoten der Logisgeberin und von einem Ge¬
schenk, das die Braut von einem früheren Liebhaber erhalten hatte, und das er
gegen eine goldene Uhrkette umgetauscht hatte, verschwunden. Auch diesmal wieder
hatte er sich vor Begehung der Tat wegen nervöser Störungen an einen Arzt ge¬
wendet und sich, natürlich gratis, behandeln lassen und nach dem Delikt bei einem
anderen Arzt Hilfe gesucht.
Dem Begutachter versicherte er immer und immer wieder, daß er seinen Drang
zum Lügen und Stehlen für unüberwindbar halte, daß er Angst habe, in die Freiheit
zurückzukehren, weil er nicht die Kraft besitze, ihn zu beherrschen und daher
wieder rückfällig und strafbar würde. Er begehe seine Delikte nicht absichtlich und
überlegt, sondern komme erst nachträglich zur Klarheit darüber. Er war auch
wahrend der Beobachtungszeit nicht imstande, bei der Wahrheit zu bleiben. Durch
die völlig unwirksamen Strafen erschien er zunehmend verbittert, und wir hielten
cs mit seinem Vater nicht für ausgeschlossen, daß er bei weiterer Bestrafung in
eine so antisoziale Einstellung geraten könnte, daß er dann auch zu schweren
Verbrechen fähig würde. Seine Einstellung zu den Angehörigen, speziell zur Stief¬
mutter, war jetzt schon derart, daß sie an Verfolgungswahn grenzte. Er fühlte sich
überall von ihr benachteiligt und beobachtet, glaubte, daß ihre bösen Wünsche ihm
j
53 *
A. Kielholz
gegenüber die Kraft hätten, ihn zum Verbrechen zu verleiten und seine Um» k
gegen ihn einzunehmen. Un 8
Als nach unserem Gutachten die Untersuchung gegen ihn eingestellt und ih
der Beschluß eröffnet wurde, er sei dem Heimatskanton zu dauernder Verwahru ***
in einer geschlossenen Heilanstalt zu übergeben, sah er in der folgenden Nartf
einen Totenraum, darin ein Gestell mit des Vaters Kopf und aufgehängten Leichen¬
teilen und äußerte die Vermutung, man wolle ihn mit solchen Visionen zum Mord 0
machen. Die Stiefmutter wolle den Vater beseitigen, weil dieser ihm helfen möchtT
Mit starkem Affekt erzählte er dann von einem Sittlichkeitsdelikt, das er während
seines Spitalaufenthaltes an einem zwölfjährigen Mädchen begangen — er zog es
aus, berührte seine Genitalien und exhibierte vor ihm. — Er habe oft solchen
Mädchen nachgestrichen mit dem Verlangen, sie zu zerstückeln. Er habe auch oft
solche Träume. Weil ihm der Drang dazu auch bei seiner letzten Braut gekommen
sei, habe er sich geflüchtet. Als Zwölfjähriger hatte er eine Freundschaft mit einem
Metzgerburschen, habe oft beim Schlachten zugesehen, trotzdem ihm das vom Vater
und vom Metzgermeister streng verboten worden sei. Einmal sah er auch, wie eine
trächtige Kuh mit zwei Kälbern im Leib geschlachtet wurde. Es habe ihn selber
gelüstet, so zu töten und zu metzgen. Kurz darauf begann er mit seiner damals
neunjährigen Schwester die gleichen Schweinereien wie später mit dem zwölfjährigen
Mädchen. Er habe damals auch die blutige Wäsche der Stiefmutter im Schlaf¬
zimmer entdeckt und vermutet, das sei etwas Geschlechtliches vom Vater her. Dann
beobachtete er auch einen Nachbarn mit seiner Frau im Walde halbnackt. Als er
dem Vater davon erzählte, bekam er einen Verweis, aber keine Aufklärung. Die
Logisfrau am Orte seines ersten Deliktes habe ihm von ihren Geburten erzählt
und in einem Arztbuch entsprechende Abbildungen gezeigt. Dadurch sei er in
sexuelle Erregung geraten, habe bei dem kleinen Kinde nachsehen und die Frau
selber umarmen wollen. Bei allen seinen Delikten sei so etwas mit im Spiel gewesen.
Einmal wollte er auf dem Heimweg von einem Ball, wo er nur zusah, weil er
nicht tanzen könne, ein Mädchen überfallen und sei im letzten Augenblick durch
Passanten daran verhindert worden. Als Knecht habe er mit einem dreimonatigen
Kalb Sodomie getrieben und es dann erwürgt. Als an einem anderen Ort die
Meisterin niederkam, haben ihm deren zwei Buben erzählt, daß die Nachgeburt
im Keller vergraben sei. Er grub sie wieder aus und sei so erregt geworden, daß
er mit einem zehnjährigen Knaben onanierte. An einem Ort lernte er ein 19jähriges
Dienstmädchen kennen und überwältigte es abends außerhalb des Dorfs. Er floh
dann unter Zurücklassung des Lohnes. Wenn er halbwüchsige Mädchen sehe,
komme der Drang über ihn, sie zu töten. Er fliehe dann meist in der Absicht,
sich selber das Leben zu nehmen. Das wäre noch besser, als an seinem Vater zum
Mörder zu werden. Er hätte sich schon wegen einer Kastration an einen Arzt
gewendet, wenn er nicht Angst hätte, den Grund angeben zu müssen und dann
eine Anzeige befürchten würde.
Auch nachdem Schuldling in die Heilanstalt seines Heimatkantons versetzt
worden war, bestätigte er uns in verschiedenen Briefen seine immer wiederkehrenden
Gelüste nach Blut, nach einer richtigen Menschenmetzelei. Gerade Menschen, die
er liebe, stehen vollständig zerlegt und blutig vor seinen Augen, besonders nachts.
Weh’ dem, der lügt!
537
pann werde er unruhig, und früher habe er darum die schönsten Stellen verlassen
u nd neue Delikte begangen. Oft sei er schon an irgendeinen Ort gereist mit dem
einzigen Gedanken, einen jungen Menschen völlig zu zerstückeln. An solchen Ge¬
danken finde er tagelang volle Befriedigung, bis er dann merke, mit was für ge¬
meinen Gedanken er sich eingelassen habe. Dann komme der Gedanke an Selbst¬
mord, und er bekomme Verdauungsstörungen, Darmkrämpfe und Durchfall. —
Frieda Kocher, die mittlere von sieben Geschwistern, war von früher Kind¬
heit an scheu und unlenksam. Als die Vierjährige vom Vater einmal körperlich
gezüchtigt wurde, kam sie zwei Jahre lang nicht mehr zum Essen an den Tisch,
solange der Vater da war. Sie hinterging die Eltern beständig, lief oft mittags fort,
um erst in der Nacht wieder heimzukommen. Man gab sie daher einige Jahre zu
Verwandten in Erziehung. Mit zwölf Jahren stahl sie Geld in der Küche, dem
Vater aus den Kleidern und verwendete es für Süßigkeiten. Einem Bruder ent¬
wendete sie eine Uhr und verkaufte sie. Sie verleumdete die Eltern, sie bekomme
zu wenig zu essen, und bettelte Fremde an. Als Schülerin strich sie viel den
Burschen nach; gleich nach der Konfirmation hatte sie den ersten Geschlechts¬
verkehr in einer Scheune nahe dem Elternhaus, dann mit einem Nebenarbeiter in
einer Färberei. Einen Chauffeur, dem sie sich hingab, bestahl sie. Sie wurde des¬
wegen von ihrer Mutter der Polizei angezeigt. Dann reist sie unter fremdem Namen
herum, bettelt Mitreisende an, läßt sich in einer Metzgerei Fleisch aushändigen,
bestiehlt Beischläfer, kauft sich aus dem gewonnenen Geld Kleider. Für zwei Jahre
in eine Besserungsanstalt eingewiesen, entweicht sie nach drei Monaten, indem sie
die Verwalterin bestiehlt. Sie erhebt unter falschen Angaben Jacke, Ledertasche,
Hut, Bluse, erbricht Koffer und Kasten mit Stemmeisen, gibt sich als Verwandte
des Ortspfarrers aus. Die erlisteten Objekte werden teils wieder verkauft, teils
einer Bekannten geschenkt. Vor Gericht entschuldigt sie sich damit, daß sie von
der Mutter verstoßen sei und kein Heim mehr habe. Wegen Haftpsychose mit
22 Jahren nach Königsfelden verbracht, behauptet sie, sie höre seit langem nachts
die Mutter weinen und ihr Vorwürfe machen; es träumt ihr auch, sie habe ihre
Mutter erschossen, zwei Männer mit Gewehren verfolgen sie, die Patientin, auf den
Friedhof und erschießen sie dort. Sie behauptete, im Besitz fremder Dinge habe sie
Angst, die durch das Verschenken wieder schwinde.
Nach eineinhalbjährigem Aufenthalt in der Anstalt an eine Stelle unter Schutz¬
aufsicht entlassen, entweicht sie dort nach einigen Tagen nachts, erhebt in be¬
trügerischer Weise in einem Geschäft Kleiderstoff; in der Haft versucht sie sich
zweimal zu erhängen. Sie gab an, mit zwei Freundinnen Beziehungen gehabt zu
haben, von denen sie eine im Zuchthaus kennenlernte. Die eine habe mit ihrer
sexuellen Veranlagung eine unwiderstehliche Macht auf sie ausgeübt, sie finanziell
ausgebeutet und zu Delikten veranlaßt. An einem Ort habe sie auch einen Betrug
im Namen ihrer „armen“ Eltern begangen. Sie verübte dann Schwindeleien in
größerem Maßstab, erhob goldene Herrenarmbanduhren auf Rechnung eines Pfar¬
rers, auf die eines anderen gestickte Westen, dann Sportgeräte. Mit 22 Vorstrafen
wegen Debilität als unzurechnungsfähig erklärt, kam sie vor drei Jahren zum
drittenmal in unsere Anstalt. Sie hat jetzt deutliche homosexuelle Liebeleien mit
anderen Patientinnen, schreibt ihnen Liebesbriefe, sagt einer, sie wolle zu ihr
kommen, um Blut zu lecken, wenn sie menstruiere. Wenn ein Mädchen ihr
Willen sei, brauche sie keine Burschen. Abgesehen von den gelegentlichen E’f* 1 *
süchteleien und Zänkereien ist das Mädchen geordnet und fleißig; sie soll d h
nächstens unter der Obhut eines Vormunds in ein Frauenheim versetzt werd **
wo sie einen Teil der Kosten durch eigene Arbeit decken kann. ^
Wenn wir die acht kurz skizzierten Fälle überblicken, so stellen wir i n
drei Fällen, bei Bäumler, Weichmüller und Kocher, manifeste homosexuelle
Tendenzen fest. Schlosser und Schuldling erweisen sich durch ihr erstes
Delikt als pädophil, der zweite zudem als Transvestit. Zum Problem der
Pädophilie hat unseres Erachtens Wittels in seiner Umschreibung der
Lilithneurose 11 einen wertvollen Beitrag geleistet. Er führt darin aus, daß von
Natur jeder Mensch bisexuell veranlagt sei und daß dieses biologische Prin¬
zip als solches vom Kind zuerst erlebt werde, nachdem es die Zwiegeschlech-
tigkeit des Elternpaares erfaßt habe. Männer mit starker weiblicher Kompo¬
nente identifizierten sich mit der Frau und suchten in ihrer masochistischen
Haltung das Mutterideal, das für sie sorge. Wenn sie dieses nicht fänden
und kurz vor der Homosexualität angelangt seien, suchten sie ihr Ideal
in der Schönheit der Puppe. Lilith ist nach der Sage die erste Frau Adams
mit den Eigenschaften des Kind-Weibes.
Hofmann und Säckler zeigen ausgesprochen feminine Charakterzüge.
Specke hat mehrfach platonische Verhältnisse zu verheirateten Frauen und
Mätressen seiner Freunde. Bei allen acht Fällen vermissen wir somit den ein¬
deutig heterosexuellen Trieb.
Ziehen wir dazu noch die sieben Patienten in Betracht, die D e 1 b r ü c k in
seiner Abhandlung beschrieben hat, so stoßen wir da auf eine homosexuelle
Transvestitin, ferner auf zwei Paranoide, bei denen die Homosexualität nach
Freuds Auffassung der Psychose zugrunde liegt, und schließlich auf zwei
weitere Kranke mit deutlichen homosexuellen Zügen. Solche sind ebenfalls
unverkennbar bei dem Kranken, den J. J ör g er sen. 12 in ausführlicher und
anschaulicher Weise schilderte. Und aus der Pathographie, die Paul B j e r r e 13
dem zur Zeit berüchtigtsten Pseudologen, nämlich Kreuger, gewidmet hat,
vernehmen wir von dessen stark ausgeprägter Jünglingserotik, einer unglück¬
lichen Verlobungsaffäre und einer sehr merkwürdigen Güte und Hilfsbereit¬
schaft, die der Autor aus der sozialen Unbefriedigtheit des immer Einsamen
in seinem Muttertrieb, letzten Endes aus seiner psychischen Zweigeschlechtig¬
keit ableitet.
Daß sich unter unseren acht Fällen nur eine weibliche Patientin findet,
Weh’ dem, der lügt!
539
ist kein zufälliges Verhältnis. W u 1 f f e n macht in seiner Kriminalpsycho¬
logie 14 darauf aufmerksam, daß die weiblichen Hochstapler seltener sind,
und erklärt es damit, daß sie von ihren Geschlechtsgenossinnen schneller ent¬
larvt werden. Er verweist auch in diesem Zusammenhang auf die weibliche
Komponente im Wesen des phantasiebegabten Dichters und erinnert an die
Aufschneidereien des Jägers, des Studenten und Reisenden. Wenn wir für
diesen präziser den Seefahrer einsetzen, so können wir erkennen, daß die
phantastische Erzählung sich als Produkt einer vorwiegend mann-männlichen
Gesellschaft entpuppt. Wir haben an anderer Stelle gezeigt, wie diese mann¬
männliche Gesellschaft zur Trinksitte und zur Trunksucht neigt. Unter un¬
seren Pseudologen ist nur bei einem, bei Hofmann, diese Neigung zur Sucht
vorhanden, wohl aber auch bei zwei Patienten Delbrücks.
Wenn W u 1 f f e n von einem rauschartigen Zustand des Dichters und
Schwindlers spricht, so können wir nach den Beobachtungen an den meisten
unserer Kranken bestätigen, daß sie dann, wenn sie ihre Tagträume produ¬
zieren, sich in einem oft objektiv feststellbaren Dämmerzustand befinden, an
den sie sich nachher nur mangelhaft erinnern und den wir uns als eine Art
Orgasmus deuten müssen, entstanden aus jener von Freud hervorgehobenen
Verlötung von Tagtraum mit Onanie.
Wir möchten also als erstes Ergebnis unserer Untersuchung die Sätze auf¬
stellen:
Die krankhaften Lügner lügen wie Kinder, die über die Art
ihresGeschlechtesnochnichtinsKlaregekommensind.
Sie suchen ihr Leben lang eine sie schützende Mutter und ein
Heim.
Da nie die ganze Persönlichkeit beteiligt ist an ihren Bestrebungen, sich
der Wirklichkeit und den Objekten anzupassen, sondern entweder nur der
männliche aktive oder der weibliche passive Teil ihres Wesens, so bleibt jede
Betätigung nur ein Spiel, von dem sie unbefriedigt bleiben und bei dem sie
ein schlechtes Gewissen haben.
Freud kommt in seiner Untersuchung über die weibliche Sexualität 15 —
wobei er auch auf die für die menschliche Anlage behauptete Bisexualität
hinweist — auf die allgemeine Tendenz zu sprechen, einen passiv erhaltenen
Eindruck durch aktive Reaktion zu bewältigen, und erwähnt, daß auch das
Kinderspiel in den Dienst dieser Absicht gestellt wird. Wälder, der spe¬
ziell die psychoanalytische Theorie des Spiels 16 bearbeitet hat, erinnert daran,
daß Freud bei der Lehre vom Wiederholungszwang ausdrücklich Bezug
nimmt auf Beobachtungen beim Kinderspiel, daß dieses zur Verarbeitung
540
A. Kielholz
von peinlichen Erlebnissen diene, die nicht auf einmal bewältigt werden
könnten. Auch er hebt als wichtig hervor die Vertauschung der Rollen die
Wendung von der Passivität zur Aktivität. Das Verschwimmen von Realität
und Phantasie sei eine Voraussetzung dafür, daß es zum spielerischen Abrea
gieren der Erlebnisse kommen könne. Er nennt das Spiel einen Urlaub von
der Realität und einen Urlaub vom Überich.
Erinnern wir uns an die schwierigen und ungünstigen Umweltverhältnisse
in denen unsere acht Phantasielügner aufgewachsen sind — auch der ver¬
hätschelte, einzige Sohn Specke mit seinem universellen Ekzem und seiner
Tracheotomie bildet da keine Ausnahme — so dürfen wir annehmen, daß
es bei keinem an peinlichen Erlebnissen gefehlt hat, die er in spielerischer
Weise zu verarbeiten suchte.
Er gibt in diesem Spiel ein Stück seiner Tagträume preis und sucht für
diese Wahl durch Betrug oder Diebstahl einen Ersatz zu gewinnen.
Wenn wir vernehmen, daß Schlosser den Taktstock seines Kapellmeisters
Weichmüller einen Spazierstock entwendet oder dann aus dem geschlossenen
Schrank seiner mütterlichen Logisgeberin sich Geld aneignet, so ist in solchen
Delikten die symbolische Bedeutung einer Kastration oder eines Inzestes un¬
verkennbar.
Er schädigt und betrügt dabei nicht nur seine Umgebung, deren Zutrauen
er durch raffinierte Einfühlung in ihre Bedürfnisse und Wünsche gewonnen
hat, sondern auch sich selbst.
Dieser Einfühlung ist er deswegen in höherem Maße fähig, weil er durch
seine bisexuelle Veranlagung und Triebrichtung sich mit Personen beiderlei
Geschlechts besser zu identifizieren vermag als der Normale, bloß hetero¬
sexuell gerichtete.
Hinter diesem Spiel, das ihn nie befriedigen kann, stecken primitive,
prägenitale Triebe, durch eine verkehrte, brutale Erziehung angeregter Sado¬
masochismus, orale Zerreißungs- und Zerstückelungstendenzen, analer Be¬
schmutzungsdrang — unsere Mundart hat ja für den Betrug eine bezeich¬
nende, daher stammende Umschreibung — exhibitionistische und dem Schau¬
trieb frönende Tendenzen. Weil die direkte Befriedigung dieser Perversionen
zu wenigstens teilweise schweren Verbrechen führen müßte, empfindet der
mit den Lügen Spielende Angst vor seinen eigenen Trieben, Angst vor der
Freiheit. Seine Lügen und Betrügereien stellen somit i. im Vergleich mit den
Triebwünschen relativ harmlose Ersatzbefriedigungen dar, 2. Selbstbestra¬
fungen für die dahinter verborgenen Triebe, 3. Versuche, den strengen Vater
in seinen verschiedenen Imagines durch Bekenntnis und Sühnebereitschaft zu
Weh’ dem, der lügt!
54i
versöhnen. Solche Imagines sind in erster Linie die Untersuchungsbeamten,
die Richter und die Strafvollzugsbeamten. Sie werden das eine Mal mit den
oft ungeheuerlichsten Lügengespinsten bedacht, das andere Mal wieder be¬
gegnen sie den vollständigsten und umfassendsten Geständnissen und einer
Unterwürfigkeit, einer Dienstbereitschaft und einem Gehorsam, wie sie ver¬
eint nur die Ambivalenz des Sohnes dem Vater gegenüber zu schaffen ver-
m ag. Eine zweite Vaterimago, der sich der Phantasielügner mit Vorliebe
nähert, ist der Geistliche. Wir erinnern an den Kranken Weichmüller, der
nicht nur überall Pfarrherren anbettelt, betrügt und bestiehlt, sich als Theo¬
logiestudenten und Missionszögling ausgibt, sondern sich auch in seiner Haft¬
psychose mit einem Bischof identifiziert. Die Kocher spielt mit Vorliebe die
Besucherin in Pfarrhäusern und hat es auf leichtgläubige Geistliche abge¬
sehen. Schuldling kauft sich religiöse Schriften, schließt sich Sekten an, grübelt
über Glaubensprobleme nach. Von Delbrücks Fällen beschreiten zwei die
Laufbahn der Theologie; auch Jörgers Patient arbeitet stark mit religiösen
Fiktionen. Und nun erscheint es uns in diesem Zusammenhang nicht ohne In¬
teresse, von einigen in letzter Zeit erschienenen Publikationen Kenntnis zu
nehmen, die von verschiedenen Standpunkten aus in bezug auf religiöse Ent¬
wicklung der Welt zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen. Krane¬
feld t, 17 ein Schüler Jungs, konstruiert einen Rhythmus im Wandel von der
Verehrung Gottvaters zum Marienkult, dann in der Reformation wieder
zum Vatergott zurück und heute nach dem Weltkrieg wieder zurück zur
Suche nach dem weiblichen Prinzip. Das zentrale Geheimnis der religiösen
Sublimierung sei die verschiedene Gestaltung des Mann-Weiblichen. Die nor¬
dischen Mitglieder unserer Vereinigung Schjelderup schreiben über drei
Haupttypen der religiösen Erlebnisformen 18 , wobei bei Uberwiegen der Sehn¬
sucht nach dem Göttlichen die Mutter, bei Vorherrschen der Schuldgefühle
und der Furcht der Vater und bei Phantasien der eigenen Göttlichkeit das
Kind zum Gott erhoben werde. Und schließlich behandelt Colin Roß in
seinem Buch „Der Wille der Welt“ 19 die drei großen Wellen in jenem kleinen
Ausschnitt aus dem unendlichen und nirgends begrenzbaren Weltgeschehen,
den wir als historische Realität zu überblicken vermögen: Die Welle des
Totem und Tabu mit dem Primat des weiblich-intuitiven Fühlens im Mutter¬
recht; die Welle des Glaubens und Geldes, in welcher der männliche indi¬
vidualistische Geist zur Vorherrschaft gelangt ist, und schließlich die neue
heransteigende Welle, die das Wesen der beiden vorhergehenden zu einer
Einheit eines androgynen Wesens verschmelzen wird. Bei dieser Phantasie
des Weltenbummlers Roß ist mir eingefallen, daß mir seinerzeit die erste
5 42
A. Kielholz
Bekanntschaft mit Jakob B o e h m e 20 und dessen Idealgestait des androg yne
Adam durch einen alten, pseudologen Globetrotter vermittelt wurde, de"*-"
Rheinau das Asyl seines Alters gefunden hatte und von da aus mit konfus 1 "
Schriften über den schlesischen Mystiker von Geistlichen Almosen und Unter"
Stützungen herauszulocken verstand.
Der androgyne Adam verkörpert den sich selbst genügenden und sich
selbst befriedigenden infantilen Narziß, der mit der Welt, die ihn umgibt
und die er in seiner Phantasie beherrscht, nur sein Spiel treibt.
Kehren wir nach diesem Exkurs auf den Ozean der Spekulation und
Illusion zu unseren Kranken zurück.
Selbstverständlich bekommt auch die dritte Kategorie der Vaterimagines
mit denen der Phantasielügner in Berührung kommt, d. h. der Arzt, speziell
der begutachtende Psychiater, die ihm entgegengebrachte Ambivalenz des
Patienten ausgiebig zu spüren. Immer und immer wieder wird er mit den
wunderbarsten Tagträumereien beschenkt, und muß er nach den Akten fest¬
stellen, daß es dem Kranken trotz aller Versicherung seiner Aufrichtigkeit
und trotz aller Bestrebung, bei der Wahrheit zu bleiben, einfach unmöglich
ist, diese von seinen Märchen zu scheiden.
Aus dieser Beobachtung können natürlich schwerwiegende Zweifel an der
Zuverlässigkeit unserers Materials abgeleitet werden, so sehr wir uns auch
in allen Fällen bemüht haben, uns auf Angaben objektiver Drittpersonen und
auf behördliche und gerichtliche Akten zu stützen. Wenn die meisten Gut¬
achter mit Rücksicht auf diese Unzuverlässigkeit der Angaben und die Täu¬
schungsversuche dieser Exploranden das Thema der Simulation und Aggra¬
vation ausgiebig behandeln, so beweist auch das, daß sie das Gefühl, der
Kranke treibe lediglich sein Spiel, nicht los werden.
Da die Außenwelt auf diese gefährlichen Spiele in der Regel mit Mi߬
trauen und Feindschaft reagiert, so stellen die Lügen in vierter Linie
einen Versuch dar, einen Schutz zu gewinnen vor der feindlichen Rea¬
lität.
In fünfter Linie können wir aber ihr ganzes Gebaren auch als eine
Flucht von der stets drohenden Psychose, d. h. vor einer Überflutung des
Ichs durch die gefährlichen und stets unbefriedigten Strebungen des Es be¬
trachten. Die Phantasielügner stehen tatsächlich beständig an der Grenze, am
Rande des Abgrunds. Bleuler 21 beobachtete, — wie er sagt, merkwürdiger¬
weise zweimal die Pseudologia phantastica als Vorläufer einer progressiven
Paralyse und einer Schizophrenie in so ausgesprochener Weise, daß er die
Grundkrankheit längere Zeit übersah. Von unseren Fällen haben Kocher und
Weh* dem, der lügt!
543
Weichmüller ausgesprochene Haftpsychosen durchgemacht, Hofmann und
Schuldling Depressionen mit Suizidversuchen. Daß bei diesen Wendungen
des Sadismus gegen die eigene Person die Nahrungsverweigerung eine große
Rolle spielt, erhellt die Bedeutung des oralen Zerreißungs- und Zerstücke¬
lungstriebes. Auch der Tod Schlossers an einer Perforationsperitonitis gehört
wohl in das Gebiet eines larvierten Selbstmords. In Gottfried K e 11 e r s an¬
mutiger Seldwyler Geschichte „Kleider machen Leute <c legt sich der Schneider
Strapinsky, die dichterische Verklärung einer Pseudologia phantastica, von
Hohn und Schmach getrieben, in den nächtlichen Schnee des Waldes, um
den Tod zu suchen, aus dem ihn die Liebe seines Nettchens rettet.
Die Pseudologia phantastica ist keine Krankheit sui generis, sondern nur
ein Symptomenkomplex oder ein Syndrom, das bei verschiedenen Krank¬
heiten Vorkommen kann. In den von uns skizzierten Fällen handelt es sich
wohl ohne Ausnahme um haltlose Psychopathen mit ausgesprochener erb¬
licher Belastung, bei denen also nicht nur das ungünstige Milieu und die
mangelhafte Erziehung als ätiologische Faktoren in Betracht zu ziehen sind.
Bei den einen ist von einzelnen Gutachtern mehr der intellektuelle, bei an¬
deren vorwiegend der moralische Defekt hervorgehoben worden. Man
könnte auch die Mehrzahl unserer Kranken zu den sogenannten kriminellen
Heboiden (vergl. Lang e 22 ) zählen, womit ihre nahe Verwandtschaft mit
eigentlichen Prozeßpsychosen stärker betont würde. Die Prognose ist nach
der einen wie nach der anderen Auffassung keine rosige.
Auf jeden Fall ist stets eine möglichst frühzeitige psychiatrische Beob¬
achtung zu fordern. Dabei wird auch von nicht psychoanalytischer Seite
genaue anamnestische Untersuchung besonders der Kindheit und ersten Ju¬
gend gefordert (vergl. Glase r 23 ), die um so fruchtbarer und klarer aus-
fallen wird, je mehr sie mit psychoanalytischem Verständnis und unter Be¬
rücksichtigung analytischer Gesichtspunkte erfolgt. Eine eigentliche thera¬
peutische Analyse aber erscheint uns nicht indiziert.
Zur Ehe werden wir kaum einmal raten können, denn nur unter ganz
besonders günstigen Konstellationen, wie im Falle Abrahams, kann da¬
durch eine weitgehende Besserung erzielt werden. Ähnlich verhält es sich mit
der Kastration, die ja beispielsweise von Schuldling selber erwogen wurde.
Theoretisch erscheint damit eine Umstimmung und Harmonisierung des
Trieblebens ermöglicht werden zu können, praktisch setzt erfahrungsgemäß
der operativ bewirkte körperliche Defekt zu den bestehenden psychischen
noch einen neuen schwerwiegenden hinzu. Der- scheinbar gelungene Fall D.
aus Hans Binders 25 interessanter Abhandlung: „Das Verlangen nach Ge-
544
A. Kielholz
schlechtsumwandlung“ kann deswegen hier nicht in Frage kommen, weil bei
ihm keine ausgesprochenen pseudologischen Züge vorhanden sind.
Nur wenigen ist gegeben, ihre Phantasie als Seefahrer, als moderner
Odysseus auszuleben, im Meer ihre Heimat und im Schiff .ihre Mutter zu
finden, wie es der zum Engländer gewordene Pole Conrad vermochte. Auch
der Versuch, die Aggressionen in der eisernen Disziplin der Fremdenlegion
zu bändigen und im Kampf mit Wilden als zivilisatorische Tätigkeit zu
rechtfertigen, gelingt nur wenigen und ist verpönt.
So werden wir versuchen, unseren Phantasielügnern in einem verständ¬
nisvollen und wohlorientierten Vormund einen Ersatz für den fehlenden oder
unfähigen Vater zu geben.
Die besten Erfolge bei solchen Menschen sind bisher nach unserer Erfah¬
rung in Arbeiterheimen erzielt worden, wie K e 11 e r h a 1 s 24 eines in vor¬
bildlicher Weise in Witzwil geschaffen hat. Es wird da nicht nur der Drang
nach einem Heim mit der Möglichkeit zur Verwurzelung befriedigt, nicht
nur durch die vorwiegend gleichgeschlechtliche Kameradschaft das Trieb¬
leben polarisert und beruhigt, sondern es werden in produktiver Arbeit —
vorwiegend Meliorationen und Feldbau — die aggressiven und inzestuösen
Tendenzen sublimiert und das Schuldgefühl abreagiert. Das kann nicht im
Zuchthaus mit seiner scharf begrenzten Strafzeit geschehen, wie die Rück¬
fälligkeit und Unverbesserlichkeit solcher Elemente beweist. Aber auch die
Heil- und Pflegeanstalt ist auf die Dauer nicht der richtige Aufenthaltsort,
weil sie sich hier entweder im Gefühl, für ihre Handlungen nicht als ver¬
antwortlich taxiert zu werden, gehen lassen und ihre Umgebung plagen oder
aufhetzen oder aber sich in psychotische Zustände, die sie hier beobachten
können, einfühlen, sie kopieren und schließlich darin versinken. Zu dieser
Erfahrung ist eben auch Delbrück gelangt, der anfänglich, als er den
Begriff der Pseudologia phantastica schuf, die Tendenz hatte, diese Leute als
Unzurechnungsfähige in Heilanstalten dauernd zu internieren.
Zusammenfassung.
Nach einem flüchtigen Rückblick speziell auf das psychoanalytische
Schrifttum über die krankhafte Lüge werden acht in Königsfelden und
außerhalb der Anstalt während vieler Jahre beobachtete Fälle von Pseudo¬
logia phantastica auf dem Boden haltloser Psychopathie kurz skizziert. Sieben
davon sind Männer.
Bei allen vermissen wir eine eindeutig heterosexuelle Erotik; dafür läßt
Weh* dem, der lügt!
545
sich eine mehr oder weniger ausgesprochene bisexuelle Veranlagung und
Triebrichtung feststellen.
Sie lügen wie Kinder, die über die Art ihres Geschlechts noch nicht ins
Klare gekommen sind. Da nie die ganze Persönlichkeit an ihren Bestrebungen,
sich der Wirklichkeit und den Objekten anzupassen, beteiligt ist, sondern
entweder nur der männlich-aktive oder der weiblich-passive Teil ihres We¬
sens, so bleibt diese Betätigung stets nur ein Spiel, von dem sie ewig unbe¬
friedigt bleiben und bei dem sie stets ein schlechtes Gewissen haben, weil
weder Über-Ich noch Es dabei auf ihre Rechnung kommen. Da sie bei diesem
Spiel ein Stück ihrer Tagträume als Gabe ausliefern, halten sie sich für
berechtigt, durch Betrug oder Diebstahl eine Gegengabe, die meist sym¬
bolische Bedeutung hat, zu gewinnen.
Die unbefriedigten Triebe sind vorwiegend prägenitaler Natur, orale 2 er-
reißungs- und Zerstückelungs-, anale Beschmutzungs-, Exhibitions- und
Voyeurtendenzen. Weil deren direkte Befriedigung zu schweren Delikten
führen würde, empfindet der statt ihrer mit Lügen Spielende Angst.
Seine Lügen bedeuten somit: i. relativ harmlose Ersatzbefriedigungen,
2. Selbstbestrafungen, 3. Versuche, den strengen Vater und seine Vertreter
durch sofortiges Bekenntnis und durch Sühnebereitschaft zu versöhnen,
4. Schutz vor der feindlichen Realität, 5. Schutz vor der drohenden Über¬
flutung des Ichs durch die gefährlichen Strebungen des Es, also vor der
Psychose.
Der krankhafte Lügner gehört weder ins Zuchthaus noch in die Irren¬
anstalt, sondern dauernd in Arbeiterheime, wo er in kameradschaftlicher
Gesellschaft verwurzeln, seine aggressiven und inzestuösen Tendenzen in
produktiver Arbeit an der Mutter Erde sublimieren und sich so vom Schuld¬
gefühl befreien kann.
Literatur.
1) Blum: Geisteskrankheit und Gesellschaft. Schweiz, med. Wochenschrift, 59. Jg.,
5. 1129.
2) Behn-Eschenburg: Ursachen und Bekämpfung der Vorurteile gegen die
Psychiatrie und die Irrenanstalten. Schweiz, med. Wochenschrift, 59. Jg., S. 1385.
3) Delbrück, A.: Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler.
Verl. Enke. Stuttgart 1891.
4) Freud: Hysterische Phantasien und ihre Beziehungen zur Bisexualität. Ges.
Sehr., Bd. V, S. 246.
5) Freud: Der Dichter und das Phantasieren. Ges. Sehr., Bd. X, S. 229.
6 ) Deutsch, Helene: Uber die pathologische Lüge. Int. Ztschr. f. Psa., VIII, 1922.
7) Sachs, H.: Gemeinsame Tagträume. Imagobücherei, V, Wien 1924.
8) Abraham: Die Geschichte eines Hochstaplers im Lichte psychoanalytischer Er¬
kenntnis. Imago, XI, 1925, S. 355.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse XIX—4
35
54 6 A. Kielholz: Weh* dem, der lügt!
9) Schmideberg, Melitta: Zur Psychoanalyse asozialer Kinder und Tueen^l* l
Int. Ztschr. f. Psa., XVIII, 1932, S. 474. Sicher.
10) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psa. Int. D sa v
lag, Wien 1933, S* 147.
11) Wittels, F.: The Lilith neurosis. Projection of the female component in
Psa. Rev., ref. in Zeitschr. f. Neurologie und Psychiatrie. Jg. 6$, S. 420.
12 ) Jörger, J.: Beitrag zur Kenntnis der Pseudologia phantastica. Vierteljahrssch ’f
f. ger. Medizin u. öff. Sanit.-Wesen. 3. Folge 27, Suppl.-Heft.
13) Bjerre, Paul: Kreuger. Ref. Zentrabi, f. Psychotherapie, Bd. V, S. 625.
14) Wulffen, E,: Kriminalpsychologie. 1926, S. 366 , 352.
15) Freud: Über die weibliche Sexualität. Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1931, 5 x
16 ) Wälder, Rob.: Die psa. Theorie des Spiels. Ztschr. f. psa. Pädagogik, VI,
17 ) Kranefeld t, W. H.: Bericht über das Jogaseminar von Prof. Dr. J. W. Hau
Ztschr. f. Psychotherapie, Bd. V, S. 705.
18) Schjelderup, H. u. K.: Über drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen
und ihre psychologischen Grundlagen. Ref. i. Ztschr, f. Psychoth., Bd. V, S. 695.
19) Roß, Colin: Der Wille der Welt. Verl. Brockhaus, Leipzig. Ref. N. Z. Z.
20) Kielholz, A.: Jakob Boehme. Ein pathographischer Beitrag zur Psychologie
der Mystik. Schrftn. z. angewandten Seelenkunde, H. 17, S. 82.
21) Bleuler, E.: Lehrbuch der Psychiatrie. 4. A., 1923, S. 447.
22) Lange, J.: Das Heboid. Münchn. med. Wochenschr., Bd. 80, S. 92.
23) Glaser, J.: Zum gegenwärtigen Stand der Frage vom moralischen Defekt. Z.
Neur., Bd. 138, S. 93.
24) Protokoll der Sitzungen der Schweiz, Gesellschaft für Psychiatrie vom 28. bis
30. Juli 1931 in Bern. Art. Inst. Orell Füssli, Zürich 1932, S. 6 .
25) Binder, H.: Das Verlangen nach Geschlechtsumwandlung. Z. Neur., Bd. 143,
S. 84.
Der AAammakomplex des Alarmes
Von
Edmund Bergler und Ludwig Eidelkers.
Wien
Nach einer Bemerkung des alten Kinderarztes L i n d n e r ent¬
deckt das Kind die lustspendende Genitalzone — Penis oder Klitoris
— während des Wonnesaugens (Lutschens). Ich will es dahingestellt
sein lassen, ob das Kind diese neugewonnene Lustquelle wirklich zum
Ersatz für die kürzlich verlorene Brustwarze der Mutter nimmt,
worauf spätere Phantasien (Fellatio) deuten mögen. Kurz, die Genital¬
zone wird irgendeinmal entdeckt. . .
Freud, „Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechts¬
unterschiedes“. Ges. Sehr., Bd. XI, S. 12.
Die orale prägenitale Organisationsstufe wurde — wie alle großen Funde
in der Analyse — von Freud entdeckt. Der Sinn derselben ist, daß die
Mamma für das Kind nicht nur ein kalorien-, sondern auch ein lustspendendes
Organ darstellt. 1
Abraham 2 unterteilte die orale Stufe in zwei Teile:
Wir werden somit genötigt, ganz wie zuvor im Bereich der analsadistischen, jetzt
auch im Bereich der oralen Entwicklungsphase eine Stufung anzunehmen. Auf der
primären Stufe ist die Libido des Kindes an den Saugeakt gebunden. Dieser ist ein
Akt der Einverleibung, durch welchen aber die Existenz der nährenden Person nicht
aufgehoben wird. Das Kind vermag noch nicht zwischen seinem Ich und einem
Objekt außerhalb desselben zu unterscheiden. Ich und Objekt sind Begriffe, welche
dieser Stufe überhaupt nicht entsprechen. Das saugende Kind und die nährende
Brust stehen in keinem Gegensatz zueinander. Auf seiten des Kindes fehlen sowohl
die Regungen der Liebe wie des Hasses. Der seelische Zustand des Kindes auf dieser
Stufe ist somit frei von den Erscheinungen der Ambivalenz. Die sekundäre Stufe
ist von der primären unterschieden durch die Wendung des Kindes von der sau¬
genden Mundtätigkeit zur beißenden.
In seiner Arbeit „Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung“ hat
1) Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Sehr., Bd. V.
2) Karl Abraham : Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido, S. 38 ff.
35 *
*4&
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
Abraham aus beiden Stufen eine Reihe interessanter charakterologischer
Unterschiede herauskristallisiert.
Der erste psychoanalytische Autor, der auf die Idee kam, die orale Stufe
der Libido mit dem Kastrationskomplex in Verbindung zu bringen, war
S t ä r c k e, offenbar angeregt durch die drei Jahre früher erschienene Arbeit
Freuds über „Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik cc . Dort sagt
Freud:
„Ein anderes Stück des Zusammenhanges ist weit deutlicher beim Manne zu er¬
kennen. Es stellt sich her, wenn die Sexualforschung des Kindes das Fehlen des
Penis beim Weibe in Erfahrung gebracht hat. Der Penis wird somit als etwas vom
Körper Ablesbares erkannt und tritt in Analogie zum Kot, welcher das erste Stück
Leiblichkeit war, auf das man verzichten mußte. Der alte Analtrotz tritt so in die
Konstitution des Kastrationskomplexes ein.“
S t ä r c k e 3 behauptet folgendes:
„Gewöhnlich wird der Kastrationskomplex von einer seitens der Eltern ge¬
äußerten Kastrationsdrohung abgeleitet... Jetzt signalisiere ich gleicherweise das
Entziehen der mütterlichen Brustwarze an dem noch nicht vollkommen befriedigten
Kinde als Urkastration ... Die mammäre und papilläre Erotik gehört ihrer Eigen¬
art nach zu Freuds frühester prägenitaler Organisationsstufe der Sexualität...
Die Ableitung der infantilen Theorie, als die vom ,Weibe mit dem Penis* bekannt,
folgt auf sehr einfache Weise aus der Saugsituation. Es ist sehr natürlich, daß das
Kind, dessen erste Beziehung zu einer Frau gerade von ihrem penisartigen Organe,
der Brustwarze, abhängig ist, die Erinnerung daran behält. Die Gewißheit und
Kraft dieser Erinnerung werden es in erster Linie sein, die den Glauben an einen
Penis beim Weibe stützen ... Die mütterliche Brustwarze im Munde des Säuglings
ist gewiß nicht weniger ein Teil seines eigenen Körpers als seine Kotstange und sein
Urin. Die Brustwarze jedoch muß wohl eher mit dem Penis gleichgesetzt werden,
wie sie auch in ihrer Beziehung zur Flüssigkeit ihm mehr gleicht.“
Alexander 4 äußerte sich zum Problem wie folgt:
„Der heranwachsende Mensch lernt, daß jede Lust durch Unlust ausgelöst (offen¬
bar ein Druckfehler: abgelöst. Die Verf.) wird, und zwar bei den Urkastrationen:
Verlust der lustspendenden Brustwarze nach der Lust des Saugens (orale Urkastra¬
tion nach S t ä r c k e) und später Verlust der lustspendenden Kotsäule nach der Lust
des Zurückhaltens (anale Urkastration nach Freud). Für die Entstehung der
Kastrationsfurcht oder -erwartung ist also die affektive Grundlage gut vorbereitet.
Als die allerfrüheste affektive Grundlage der Kastrationserwartung könnte man die
Geburt auffassen... Der heranwachsende Mensch hat gelernt, daß jede Lust durch
den Verlust des lustspendenden Körperteils (Mutterleib, Brustwarze, Kot) abgelöst
wird und ist bei der Onanielust schon affektiv darauf eingestellt, das lustspendende
Organ, den Penis, zu verlieren, nimmt also die Kastrationsdrohung als eine affektive
3) August Stärcke: Der Kastrationskomplex. Int. Ztschr. f. Psa., VII, 1921, S.9f?*
4) Alexander: Kastrationskomplex und Charakter. Int. Ztschr. f. Psa,* VIII, 1922,
S. 132.
Der Mammakomplex des Mannes
5 49
Selbstverständlichkeit leicht an. Das zeitliche Nacheinander der unbewußten affek¬
tiven Eindrücke wird kausal verarbeitet (rationalisiert) und die Kastration wird zur
kausalen Folge der Onanie. Die affektive Grundlage erklärt es auch, warum der
Kastrationskomplex auch ohne nachweisbare Kastrationsdrohung eine bedeutende
Rolle spielen kann, ohne daß man phylogenetische Erklärungen herbeiziehen müßte.“
Helene Deutsch 0 stellte die Behauptung auf, daß für das Unbewußte
Vagina gleich Mund ist:
• • So übernimmt jetzt im Koitus die Vagina unter der Reizleitung des Penis
in der Verlegung ,von oben nach unten 4 die passive Rolle des saugenden Mundes in
der Gleichsetzung Penis = Mamma. Diese orale, saugende Tätigkeit der Vagina 5 6 ist
im ganzen anatomischen Bau vorgezeichnet. .. Die wirklich passive, feminine Ein¬
stellung der Vagina liegt in ihrer oralen, saugenden Tätigkeit. In dieser Funktion
bedeutet der Koitus für die Frau eine Herstellung jener ersten Relation des Menschen
mit der Außenwelt, in der das Objekt auf oralem Wege einverleibt, introjiziert
wird... Im Verhältnis zum Partner ist die Einverleibungssituation eine Wieder¬
holung des Saugens an der mütterlichen Brust, also eine Wiederholung und Bewäl¬
tigung des Entwöhnungstraumas. In der Gleichsetzung Penis = Mamma und in der
Saugetätigkeit der Vagina realisiert der Koitus die Erfüllung der Phantasie des
Saugens am väterlichen Penis.“
Otto Rank 7 führt eine Reihe von Urkastrationen an: Trauma der Ge¬
burt, Durchschneidung der Nabelschnur, Entwöhnungstrauma, Milchzahn¬
ausfall, genitale Kastrationsdrohungen. Rank stellt sich die Frage, wie der
„schäbige Rest“ der Libido von der oralen auf die genitale Stufe verschoben
wird. Seiner Meinung geschieht dies auf dem Umwege der Hand:
„Ich möchte als Resultat analytischer Untersuchungen voranstellen, daß der bio¬
logisch vorgezeichnete Mechanismus dieser Verschiebung die Masturbation des Säug¬
lings ist: der Weg, der über das Lutschen am Finger, das bekanntlich von rhythmi¬
schem Zupfen an anderen Körperteilen begleitet ist, bald zu rhythmischen Rei¬
zungen der Genitalzone mit der Hand führt. . . Denn es handelt sich um mehr als
ein bloßes Wecken der biologischen Erogeneität dieser Zone, was ja durch die ure¬
thralen Funktionen plus den unvermeidlichen Reizungen bei der mütterlichen Pflege
besorgt wird; vielmehr um die meines Erachtens für die Genitalfunktion wichtigste
Verschiebung von oral-sadistischer Libido, die mittels des Mechanismus der Mastur¬
bation aufs Genitale gebracht wird... Beim Knaben wird nun der die Brustwarze
ersetzende Lutschfinger beim Spielen am Penis bald durch die Hohlhand abgelöst,
welche zunächst die Mundhöhlung ersetzt, wie B e r n f e 1 d jüngst sehr hübsch
5) Helene Deutsch : Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. Int. psychoana¬
lytischer Verlag, 1925, S. 54 ff.
6 ) Eine interessante indirekte Bestätigung der Annahme Vagina = Mund ist die von
Röhe im (Die Psychoanalyse primitiver Kulturen, Imago, XVIII, 1932, S. 412) mitge¬
teilte Tatsache, daß in der Sprache der Primitiven Zentralaustraliens „Koitieren“ gleich¬
bedeutend ist mit: „Aus der Vagina trinken.“
7) Rank : Zur Genese der Genitalität. Int. Ztschr. f. Psa., XI, 1925, S. 411 ff.
55°
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
ausgeführt hat, allerdings in einer mehr als bloß symbolischen Weise. In der Reife
zeit tritt dann noch der Samen als Milchersatz hinzu (S t e k e 1 s »Symbolische
Gleichung'), so daß man die spätere Masturbation als vollwertigen Ersatz des Saug
aktes auf der narzißtischen Stufe der Genitalität beschreiben kann. Der durch die
Verschiedenheit des Genitales bedingte Unterschied im Mechanismus der Mastur¬
bation — beim Knaben voller Ersatz des Saugaktes: Penis = Brust, Hohlhand =
= Mund, Samenerguß == Milchstrom ... wird nicht nur den späteren Kastrations¬
komplex bei beiden Geschlechtern verschieden gestalten... Wird dagegen (auf
Grund eigener starker Oralerotik) am Penis als Brustersatz festgehalten, so führt
dies, abgesehen von den typischen Phantasien oraler Befruchtung, die in der Bio¬
logie ihr reales Vorbild finden (Maulbrüter), zur aktiven Perversion der Fellatio
und zwar sowohl bei der (maskulinen) Frau als beim (homosexuellen) Manne, bei
dem in Umkehrung des weiblichen Vorganges sozusagen der Mund zur Vagina ge¬
macht wird."
Felix Böhm 8 meint:
„Hinter dem Haß gegen weibliche Eigenheiten der Frauen steckt der Wunsch,
selber diese Eigenheiten zu haben; dahinter auch ein Neid auf den vermeintlich
größeren Penis der Frauen. Die hängende Brust der Frau hat im Unbewußten des
Mannes die Bedeutung eines größeren weiblichen Penis ... Einer besonderen Form
des Neides des Mannes (neben dem Gebärneid) auf weibliche Attribute muß ich
noch gedenken: es ist der Neid auf die Mammae .. ."
F e n i c h e l 9 stellte die Punkte zusammen, in welchen alle psychoanalyti¬
schen Autoren in dieser Frage einig sind:
a) Die Angst vor der Kastration ist gefärbt von dem Verlust der Mutterbrust
und des Kotes.
b) Die Vorstellung des Penis ist beeinflußt von der der Mutterbrust und des
Kotes.
*
Wir sind unabhängig voneinander bei einer Reihe von jahrelang dauernden,
kasuistisch differenten Analysen auf Tatsachen gestoßen, deren zusammen¬
hängende Darstellung eine Ergänzung und Erweiterung der oben zitierten
Ergebnisse zu ermöglichen scheint. Wir berichten zunächst kurz das Ge¬
fundene und geben dann einige Beispiele aus dem analysierten Material an
Hand von Krankengeschichten.
Es handelt sich um Fälle, in denen die Reaktion auf die Brustentwöhnung
quantitativ gegenüber den anderen Traumen eine dominierende Stellung ein¬
nahm. Wir nennen die Gesamtheit der Reaktionen, die als Folge der Brust-
8) Böhm: Über den Weiblichkeitskomplex des Mannes. Int. Ztschr. f. Psa., XVI,
1930, S. 185.
9) Fenichel: Zur prägenitalen Vorgeschichte des Ödipuskomplexes. Int. Ztschr. f-
Psa., XVI, 1930, S. 319.
r
Der Mammakomplex des Mannes 551
entwöhnung in der Psyche entstehen, Mammakomplex. Die männ¬
lichen Patienten, bei denen der Mammakomplex pathologisch war, zeich¬
neten sich regelmäßig durch folgende Eigenschaften aus:
1. Intensiver Haß gegen die Mutter. 2. „Orale Charakterzüge“ (z. B. Gier
nach Essen, Lutschen, Saugen, Beißen, Trinken), resp. deren Reaktionen und
Kompensationen, mit hypothetischer oraler Triebkonstitution. 3. Der Haß
gegen den Vater fällt quantitativ schwächer aus. 4. Das Interesse für die
Brust ist verdrängt. 5. Erhöhter sekundärer Narzißmus. 6. Erhöhte Neigung
zU r Identifizierung. 10
In der Analyse sind diese Fälle technisch schwierig zu behandeln: ihr Nar¬
zißmus, die geringe Krankheitseinsicht, eine ernste Suizidgefahr bedeuten für
den Analytiker schwer zu bewältigende Probleme.
Der Mammakomplex hat in unseren Fällen folgende Entstehungsgeschichte:
Auf die Brustentwöhnung reagierte das Kind mit einer heftigen Erschütte¬
rung. Nachdem alle Versuche, die Brust wieder zu erhalten, gescheitert waren,
mußte das Kind diese Versagung ertragen. Zunächst trat eine heftige Ag¬
gression auf, bezw. wurde die vorhandene Aggression, die bisher ungestört
(frühere orale Stufe) befriedigt wurde (Saugen an der Mutterbrust), gehemmt.
Durch diese Stauung entstand also eine quantitative Vermehrung der Ag¬
gression. Ein Teil dieser Aggression wurde gemeinsam mit einem ent¬
sprechenden Anteil der Libido in der Identifizierung mit der Mutter, die von
Beginn ambivalent ist, verwendet. Ein anderer wurde auf den Penis ver¬
schoben. Ein Teil blieb bei der Mutter als Objekt. Endlich wurde die anale
Zone auf dem Wege der oralen Einverleibung der Brust besetzt.
In diesem Stadium war die Brust mit dem Gemisch der beiden Triebe:
10) Robert Wälder: „Das Prinzip der mehrfachen Funktion/* Int. Ztschr. f. Psa.,
XVI, 1930, F. 295: ...„ist die der Psychoanalyse vor allem durch Abrahams Arbeiten
vertraute Beziehung von oraler Triebeinstellung und Identifizierung. Die Identifizierung ist
ein Lösungsversuch in einer bestimmten Aufgabesituation. Es kann als Charaktereigenschaft
bezeichnet werden, wenn ein Mensch in einer bestimmten. Konstellation von Trieb, Über-
Ich-Forderungen und Außenweltsschwierigkeiten regelmäßig den Ausweg in die Identifi¬
zierung findet, als die für ihn spezifische Lösungsmethode in einer vielfältigen Aufgabe¬
situation. Nun wissen wir, daß diese Identifizierung vornehmlich beim oralen Charakter aus¬
gebildet ist... Die Lösungsmethode der Identifizierung wird eben innerhalb der verschie¬
denen Lösungsmethoden, die in der gleichen, vielfältigen Aufgabesituation möglich wären,
vorzugsweise von den Menschen gewählt werden, bei denen starke orale Triebkräfte lebendig
sind, weil nebst allem anderen, wofür sie Lösungsversuch ist, die Identifizierung zudem
noch zufolge ihrer Bedeutung als Einverleibung die Befriedigung eben dieser oralen Trieb-
Einstellung miterfüllt. In diesem Falle wirkt also die orale Triebeinstellung auswählend auf
die möglichen Lösungsmethoden, insoferne die die oralen Wünsche befriedigenden innerhalb
der möglichen immer zustande kommen/*
552
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
Eros und Thanatos, besetzt. Es bedeutet die Befriedigung, bezw V er
sagung immer die Befriedigung, bezw. Versagung beider Triebgruppen. I n
einer Abänderung der Formulierung von Abraham vermuten wir, daß
nicht im Zeitpunkt des Durchbruchs der ersten Zähne die Aggression ent¬
standen ist, sondern meinen, daß durch dieses Ereignis die bereits vorhandene
aber für die Brust der Mutter bisher harmlos gewesene Aggression eine Ände¬
rung ihrer Ausdrucksweise erfahren hat. Auf dieser Stufe kann wohl noch
nicht von Liebe und Objektwahl, sondern nur von Besetzung oder Bindung
gesprochen werden.
Das Problem ist nun folgendes: Auf welchem Wege wird der Übergang
von der Mamma auf den Penis bewerkstelligt? Hier setzen nun unsere Be¬
obachtungen ein. Wir meinen, daß das Kind im eigenen Penis einen Ersatz
für die vermißte Mutterbrust entdeckt und im Sinne des Wiederholungs¬
zwangs wie im kindlichen Spiel aktiv wiederholt, was es passiv erlebt hat. 11
An Stelle der passiven Aufnahme der Muttermilch ist das Kind jetzt durch
die psychische Besitzergreifung des Penis zum aktiven Spender von Urin ge¬
worden. (Ursprünglich ist psychologisch Milch = Urin.) So manche spätere
Inkontinenz ist das Agieren der ewig fließenden Mutterbrust am eigenen Kör¬
per, gewissermaßen eine „magische Geste“, die demonstrieren soll, was man
gerne möchte. Das „Entdecken des Penis c< geht auf dem Umweg über die Onanie
vor sich, wofür wir auf die früher zitierten Ausführungen Ranks verweisen.
Die aktive Reproduktion des passiv Erlebten als
W i e d e r h o 1 u n g s z w a n g wie im kindlichen Spiel spielt
demnach die entscheidende Rolle beim Versuch der
Erledigung des Mammakomplexes.
Freud hat sich an drei verschiedenen Stellen zum Wiederholungszwang
ausgesprochen:
„Das Ich, welches das Trauma passiv erlebt hat, wiederholt nun aktiv eine abge¬
schwächte Reproduktion desselben, in der Hoffnung, deren Ablauf selbsttätig leiten
zu können. Wir wissen, das Kind benimmt sich ebenso gegen alle ihm peinlichen
Eindrücke, indem es sie im Spiel reproduziert; durch diese Art, von der Passivität
zur Aktivität überzugehen, sucht es seine Lebenseindrücke psychisch zu bewältigen.“ 12
„Es ist leicht zu beobachten, daß auf jedem Gebiet des seelischen Erlebens, nicht
nur auf dem der Sexualität, ein passiv empfangener Eindruck beim Kind die Ten¬
denz zu einer aktiven Reaktion hervorruft. Es versucht das selbst zu machen, was
vorhin an oder mit ihm gemacht worden ist. Es ist das ein Stück der Bewältigungs-
n) Es ist klar, daß das Kind schon vor der Entwöhnung diesen Mechanismus spielerisch
erlebte, der aber erst nach der Brustentziehung zur gebieterischen Notwendigkeit wird.
12) Hemmung, Symptom und Angst. Ges. Sehr., Bd. XI, S. 110.
Der Mammakomplex des Mannes 553
arbeit an der Außenwelt, die ihm auferlegt ist, und kann selbst dazu führen, daß es
sich um die Wiederholung solcher Eindrücke bemüht, die es wegen ihres peinlichen
Inhalts zu vermeiden Anlaß hätte. Auch das Kinderspiel wird in den Dienst dieser
Absicht gestellt, ein passives Erlebnis durch eine aktive Handlung zu ergänzen und
es gleichsam auf diese Art aufzuheben. Wenn der Doktor dem sich sträubenden
Kind den Mund geöffnet hat, um ihm in den Hals zu schauen, so wird nach seinem
Fortgehen das Kind den Doktor spielen und die gewalttätige Prozedur an einem
kleinen Geschwisterchen wiederholen, das ebenso hilflos gegen es ist, wie es selbst
gegen den Doktor war. Eine Auflehnung gegen die Passivität und eine Bevorzugung
der aktiven Rolle ist dabei unverkennbar. Nicht bei allen Kindern wird diese
Schwenkung von der Passivität zur Aktivität gleich regelmäßig und energisch aus-
fallen, bei manchen mag sie ausbleiben.“ 13
„Man sieht, daß die Kinder alles im Spiele wiederholen, was ihnen im Leben
großen Eindruck gemacht hat, daß sie dabei die Stärke des Eindrucks abreagieren
und sich sozusagen zu Herren der Situation machen. Aber anderseits ist es klar
genug, daß all ihr Spielen unter dem Einflüsse des Wunsches steht, der diese ihre
Zeit dominiert, des Wunsches, groß zu sein und so tun zu können wie die Großen.
Man macht auch die Beobachtung, daß der Unlustcharakter des Erlebnisses es nicht
immer für das Spiel unbrauchbar macht.“ 14
In diesem Stadium sieht die Situation so aus, als würde der Penis geliebt
und gehaßt, die Onanie bedeutet sowohl den Penis als geliebtes Objekt mit
der Hand empfangen als ihn gleichzeitig vom Körper abtrennen (gehaßtes
Objekt). Der Stuhl wird ähnlich geliebt und festgehalten, gehaßt und ausge¬
stoßen. Die Identifizierung bedeutet, daß das eigene Ich mit Liebe und Haß
besetzt ist. Am unangenehmsten erscheint die Beziehung zur Mutter, die ja
ebenfalls gleichzeitig geliebt und gehaßt wird. Hier lernt das Kind die Nach¬
teile der ambivalenten Einstellung und versucht die Schwierigkeiten durch
Trennung beider Triebarten zu beseitigen und verschiebt (wie Freud es in
seiner Arbeit über die weibliche Sexualität vermutungsweise ausgesprochen
hat) seinen Haß auf den Vater. An Stelle der Brust ist also der Penis getreten,
der allerdings mit ihr verglichen eine Reihe von Nachteilen besitzt. Er ist
kleiner, nicht paarig angelegt, kann nicht vom Mund erreicht werden, spendet
keine Nahrung, der spielenden Hand wird er durch die Pflegepersonen ver¬
boten, aber er ist da, gehört anscheinend wirklich dem Kinde, das durch
seinen Besitz von der Mutter unabhängig geworden ist. Der Versuch, größere
Mengen von Haß auf den Vater zu übertragen, gelingt nicht. Die erste
Bindung an die Mutter war bei Kindern, die später am Mammakom¬
plex scheiterten, zu intensiv, ferner war in manchen Fällen der Vater
als schwächere Persönlichkeit unfähig, größere Beträge von Libido an sich zu
13) Uber die weibliche Sexualität. Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1931, S. 326.
14) Jenseits des Lustprinzips. Ges. Sehr., Bd. VI, S. 202 f.
554
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
ziehen. Der Ödipuskomplex erreicht infolgedessen nicht die normale Intensität
Die Kastrationsangst bleibt vorwiegend an die Mutter fixiert, die Identifizie
rung mit dem Vater fällt schwach aus. Kommt es im Verlaufe der weiteren
Entwicklung zu Versagungen und Regressionen, so fließt die Libido viel
weiter zurück, und zwar auf die orale Stufe. Der geringere Haß gegen den
Vater sowie die geringere Angst vor der Kastration durch ihn treten beim
„Untergang des Ödipuskomplexes“ ebenfalls in Erscheinung. Die Identifizie¬
rung mit der Mutter gelingt nur durch die Ersetzung der Brust durch den
Penis. Um die bei einem Vergleich der beiden Objekte entstehenden Nachteile
zuungunsten des Penis zu vermeiden, wird die Brust aus dem Bewußtsein
eliminiert, der Penis mit großen Libidoquantitäten ausgestattet. Es wirkt fast
wie Hohn, wenn in der Erinnerung die Mutter der oralen Stufe nicht als die
Frau mit der Brust, sondern als Frau mit dem Penis erscheint (phallische
Mutter). Durch diese Metamorphose wird die Identifizierung mit der Mutter
ermöglicht. Dieser „Brust-Penis“ wird sehr geliebt und sorgsam gehütet, vor
allem vor Wesen, die keinen Penis haben. Da die Vagina der Frau an den
eigenen Mund, der die Brust der Mutter abbeißen wollte, erinnert (vagina
dentata), wird hier die Gefahr am größten empfunden.
Der Mammakomplex beim Normalen spielt sich vermutungsweise wie
folgt ab: Auf die Brustentwöhnung kommt es zu ähnlichen Reaktionen, wie
oben geschildert, doch fallen sie quantitativ schwächer aus, der Vater wird
in einem viel stärkeren Maße mit Libido und Aggression besetzt, weil eben
durch quantitativ schwächere Reaktionen auf die Brustentwöhnung mehr
Libido zur Verfügung steht und weil hier der reale Vater meistens auch eine
stärkere Persönlichkeit ist. Mit dem Auftreten des Ödipuskomplexes, der hier
seine normale Intensität erreicht, wird der Mammakomplex in seiner Wirk¬
samkeit zerstört. Zunächst wird der Haß auf den Vater verschoben, während
die Liebe bei der Mutter verbleibt; dieser sekundäre Haß ist weniger gefährlich,
ferner führt seine Bewältigung zu Reaktionen, die für das spätere Leben des
Kindes von großer Bedeutung sind: es identifiziert sich mit dem Vater nach
den von Freud formulierten Gesetzen.
Normalerweise muß der Penis vom Unbewußten als Penis perzipiert wer¬
den, wenn er auch psychologisch-genetisch die Mutterbrust darstellt. Bei den
am Mammakomplex fixierten oder zu ihm regredierenden Männern behält
der Penis die Bedeutung der Brust nicht nur in der psychologisch-genetischen
Bedeutung (Fall III) oder wird durch ein Symptom ersetzt (Fall II), oder das
Festhalten an der phallischen Mutterbrust äußert sich in einer Perversion
(Fall I und III). Die Vagina muß normalerweise ein Aufnahmeorgan für
Der Mammakomplex des Mannes
555
Glied und Samen sein, wenn sie auch psychologisch-genetisch den Mund dar¬
stellt. Bei den an den Mammakomplex fixierten oder zu ihm regredierenden
Männern begnügt sich die Vagina nicht mit der psychologisch-genetischen
Färbung des Mundes, sie ist entweder wirklich der Mund, der unbewußt an die
eigenen aggressiven Impulse gegen die Mutterbrust erinnert (wobei die daraus
resultierende Angst entweder bewußt oder hinter einem scheinbaren Des¬
interessement verborgen ist), oder die Vagina birgt einen supponierten weib¬
lichen Penis.
Wir bringen zur Illustration unserer Darlegungen drei Krankengeschichten.
Fs ist, um überflüssige Mißverständnisse zu vermeiden, notwendig, zu betonen,
daß wir natürlich nicht der Meinung sind, daß jede Homosexualität und jeder
Schreibkrampf auf orale Elemente zurückgehen. Es handelt sich offenbar um
einen bestimmten Typus innerhalb dieser Krankheitsgruppe, dagegen
glauben wir, daß die orale Komponente, wie einer von uns in einer
früheren Arbeit nachzuweisen versuchte, für die Pseudodebilität pathogno-
monisch sei.
Fall I: Homosexualität.
Analytiker: E i d e 1 b e r g.
Ein 21 jähriger Patient erscheint in meiner Ordination, um mich wegen seiner
Homosexualität zu konsultieren. Eine eingehende Aussprache ergibt folgenden Tat¬
bestand: Der Patient, der äußerlich keinen femininen Eindruck macht, ist stark
deprimiert. Er fühlt sich außerstande, Vorlesungen an der Hochschule zu besuchen,
um zu den Prüfungen zu lernen. Schon das Betreten des Hochschulgebäudes ist mit
großer Angst verbunden. Die Gründe für diese Angst sind ihm unbekannt; er glaubt,
daß homosexuelle Vorstellungen, die in den letzten Monaten besonders intensiv
geworden sind, damit Zusammenhängen. Er habe versucht, sie los zu werden und
sich zur Heterosexualität zu zwingen, doch vergebens. In seiner Verzweiflung ver¬
traute er sich dem Hausarzt an, der ihm den Rat gab, zu einer Prostituierten zu
gehen, allein er war nicht imstande, diesen Rat zu befolgen. Nach einer neuerlichen
Rücksprache schickte ihn der Hausarzt zu einem Psychiater, der dem Patienten den
Rat gab, eine psychoanalytische Behandlung bei mir zu versuchen.
So sehr er unter den homosexuellen Vorstellungen leidet (in diesem Zeitpunkt
hatte ein homosexueller Verkehr niemals stattgefunden) und so gern er normal wäre,
kann er sich doch nicht vorstellen, daß diesbezüglich jemals eine Änderung eintreten
wird. Der Körper eines jungen Mannes versetzt ihn in starke sexuelle Erregung, ein
weiblicher dagegen läßt ihn gleichgültig. Patient onaniert viel, hauptsächlich vor
dem Spiegel ohne jede Vorstellung. Da er nicht mehr die Kraft habe, diese häufige
Onanie zu unterdrücken, müsse er immer mehr „verfallen“.
In den ersten Wochen der Behandlung spricht Patient sehr viel, ich erfahre, daß
er sich mit ernsten Selbstmordgedanken trägt, und in seiner Umgebung, vor allem
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
556
mit seinem mittleren Bruder, aber auch mit Vater, Mutter und Hausgehilfin
Streitigkeiten hat. Mir gegenüber ist er reserviert und leicht mißtrauisch.
Mitteilungen haben ihn ein wenig beruhigt, vor allem die Anerkennung sein^
Schwierigkeiten als Krankheit. Er ist bereit, auf meine Vorschläge einzugehen
ängstlich, kritisch, jederzeit entschlossen, die Analyse aufzugeben. Durch Eingeh ^
auf seine negative Übertragung und durch mein Verhalten seinen Eltern gegenüber
wird meine Position fester. Patient entschließt sich zu intimeren Mitteilungen ich
erfahre, daß er seinen Vater haßt und fürchtet, er erscheint ihm als grausamer
Tyrann, der den Patienten zum Hochschulstudium zwingen will, weil er „für sein
Büro eine billige Kraft benötigt". Aus Schwäche und Angst hat Patient, trotz seines
Widerwillens gegen diesen Beruf, den Wunsch des Vaters ausgeführt und Vorle¬
sungen belegt. Er ist aber außerstande zu lernen, schon der Anblick der Bücher er¬
zeugt große Angst. Dem Rat eines Kollegen folgend, hat er sein Meldungsbuch
einem Hochschuldiener zur Einholung der Testuren gegeben, er traut sich aber
nicht, es abzuholen. Die gleiche Angst hat Patient vor allen Behörden; aus dem
Traummaterial ergeben sich deutliche Zusammenhänge zwischen Behörde und Vater
Mit dieser Erkenntnis nimmt die Angst an Intensität ab, ohne aber ganz zu ver¬
schwinden und erreicht während der Analyse noch einige Male ihre ursprüngliche
Höhe.
Die Mutter wird vom Patienten zärtlich geliebt. Hier ist er angstfrei und fühlt
sich glücklich. Während er mit dem Vater kaum spricht, hat er der Mutter gegen¬
über diesbezüglich keine Hemmungen. Er kann mit ihr streiten, schimpfen, ohne
Angst zu haben. Im Gegenteil, es zeigt sich, daß der Streit mit der Mutter für
ihn eine gewisse Befriedigung bedeutet, ohne daß er das Bewußtsein hätte, ihr
wehgetan zu haben. Wird er deshalb zur Rede gestellt, ist ihm der Erfolg seiner
Aggression unverständlich. Die meisten Streitigkeiten mit der
Mutter oder der Hausgehilfin hängen mit dem Essen zusammen.
Fleisch wird von ihm nicht vertragen, vor allem die Fasern des Fleisches erzeugen
Ekel. Fettes Rindfleisch wird vom Tisch gewiesen mit den Worten: „Räumt
doch die Leichenteile weg.“ Wenn überhaupt, so ißt der Patient faschiertes Fleisch.
Leidenschaftlich gerne trinkt er Kaffee und Milch. Zum Nachtmahl nimmt er seit
vielen Jahren Yoghurt, und kann sehr böse werden, wenn man ihm dieses Getränk
nicht in der besten Qualität liefert. Obst und Zuckerln ißt er sehr gerne, häufig muß
er zwischen den Mahlzeiten naschen. Zuckerln möchte er gerne langsam lutschen,
doch gelingt es ihm nie; kaum hat er ein Bonbon in den Mund gesteckt, wird es
zerbissen.
Als die Angst vor dem Vater etwas geringer geworden ist, teilt mir der Patient
mit, daß er auf keinen Fall das dem Vater gegebene Versprechen, das Studium zu
beenden, einlösen werde. Er habe großes Interesse für Malerei und möchte gerne auf
die Kunstakademie. Ich erkläre dem Patienten, warum man während der Analyse
keine endgültigen Beschlüsse fassen soll, bin aber bereit, vorläufig beim Durchsetzen
seiner Wünsche gegenüber dem Vater behilflich zu sein. Es ergibt sich, daß der
Vater ohne den von ihm erwarteten Widerstand auf diese Idee eingeht und der
Patient macht die Aufnahmsprüfung mit gutem Erfolg. Die Schwierigkeiten, die
Patient früher beim Betreten der Hochschule hatte, sind nicht verschwunden, zahl-
Der Mammakomplex des Mannes
557
reiche Bedenken treten auch jetzt auf, doch gelingt es schließlich mit Hilfe der Ana¬
lyse, ihrer Herr zu werden.
Wesentlich intensiver als sein Haß gegen den Vater und die Liebe zur Mutter
ist sein Haß gegen die Gouvernante Erna. Obwohl schon einige Jahre seit ihrer
Entlassung verflossen sind und er in keiner Verbindung mit ihr steht, spricht er
doch mit großem Affekt von ihr. Dieser Haß ist ihm vor Beginn der Analyse voll¬
kommen bewußt. Im zweiten Lebensjahre des Patienten kam Erna in das Haus
seiner Eltern und blieb dort bis zu seinem neunten Jahr. Sie war streng, abweisend,
ungerecht, besonders dem Patienten gegenüber. Alle Versuche, sie gütig zu stimmen
und ihre Liebe zu erwerben, mißlangen. Flucht zur Mutter und Klagen gegen sie
schlugen fehl. Hier macht der Patient seiner Mutter den Vorwurf, daß sie sich zu
W enig um ihn gekümmert habe. Viele Stunden erzählt Patient mit gleichbleibendem
Affekt von den Mißhandlungen, die er von Erna erdulden mußte. Obgleich er ruhig
und folgsam war, wurde er immer wieder beschimpft und geschlagen. Einmal ist er
mit seinem Bruder und der Gouvernante im Freibad; der kleine Bruder fallt wäh¬
rend einer kurzen Abwesenheit der Gouvernante ins Wasser. Patient rettet ihn und
berichtet es ihr, er bekommt dafür eine Ohrfeige. Seit frühester Kindheit litt Patient
an Enuresis nocturna, alle medizinischen Maßnahmen blieben ergebnislos.
Patient bekam Strychnininjektionen, wurde katheterisiert und elektrisiert, bis schlie߬
lich im Alter von 13 Jahren das Symptom von selbst verschwand. Aus Einfällen
und Träumen ergibt sich in diesem Zeitpunkt folgende Bedeutung der Enuresis:
1. Hinter der bewußten Abneigung und Unlust sexuelle Befriedigung. 2. Da diese
Befriedigung im Schlaf stattfindet, fällt ein Teil der Verantwortung weg. Es handelt
sich bei diesem Symptom um ein Onanieäquivalent, wobei der Patient sich an Stelle
des Vaters setzt und mit der Mutter verkehrt.
Da dieser Haß durch die Aussprache nicht geändert wird, mache ich den
Patienten darauf aufmerksam, daß der Haß vielleicht nicht allein auf Erna
konzentriert ist, sondern auch anderen Personen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit
Erna haben, gilt. In diesem Zusammenhänge erinnert sich der Patient an einige
Zusammenstöße mit Hausgehilfinnen. Einmal kommt es sogar zu Handgreiflich¬
keiten. Patient würgt das Mädchen und wird deswegen vor Gericht zitiert. Er
erinnert sich, daß dieser Haß oft aus geringfügigen Anlässen mit großer Intensität
hervorbrach und daß er dann nur sehr schwer seiner Herr wurde. Hier verweise
ich darauf, daß seine gleichgültig desinteressierte Haltung den Frauen gegenüber
doch nicht ganz echt ist, daß er im Gegenteil eine Reihe von Frauen heftig haßt
und daß die Homosexualität vielleicht mit dieser Einstellung zusammenhängt. „Viel¬
leicht", sagt der Patient, ist aber nicht bereit, auf diese Gedankengänge einzugehen.
Ein paar Monate der Analyse sind vergangen, die Depression, die Angst und die
Arbeitsunfähigkeit sind geringer geworden, die Suizidabsichten zurückgetreten, der
Patient ist ruhiger und freier, die Homosexualität aber hat an Bedeutung gewonnen.
Da die Angst vor den Behörden schwächer geworden ist, beschränkt sich der Patient
nicht mehr auf Phantasien, sondern macht Bekanntschaften, und hat die Absicht,
ein homosexuelles Verhältnis zu beginnen. Ich erinnere ihn, daß es unzweckmäßig
wäre, vor Beendigung der Analyse wichtige Entscheidungen zu treffen, erkläre ihm
den Begriff des Agierens und versuche ihm zu zeigen, daß er auf diese Weise die
}J8
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
Analyse stört. Das Traummaterial dieser Zeit zeigt deutlich eine Trotzeinstellu
im Zusammenhang mit der Versagungssituation, der Hinweis auf die reale Gefah^
(§ 129 b) bleiben wirkungslos. Patient wird mißtrauisch und ablehnend, befürchte/
ich könnte ihn dem Gerichte anzeigen oder mich mit dem Vater in Verbindu *
setzen; er macht mir den Vorwurf, daß ich mein Benehmen geändert habe* zu
Beginn der Analyse hätte ich ihm erklärt, daß prinzipiell die Homosexualität nichts
Böses sei. Er erinnert mich, daß ich früher bezüglich des Berufswechsels auf seine
Wünsche schon vor dem Ende der Analyse eingegangen bin. Die Situation wird
kritisch, doch gelingt es mir schließlich, dem Patienten zu zeigen, daß seine Vorwürfe
unrichtig sind. Mein Benehmen sei unverändert geblieben, ich habe weiter prinzipiell
nichts gegen die Homosexualität, der Unterschied in meinem Verhalten bei seinem
Eintritt in die Malschule hängt mit realen Dingen zusammen. Der Schaden, den er
hier empfangen könne — im Falle er nach Beendigung der Analyse wieder zum ur¬
sprünglichen Studium zurückkehre — sei wesentlich geringer als die Gefahr bei
einem homosexuellen Verhältnis.
In dieser Zeit kann wenig gedeutet werden, der Patient versucht vielmehr, aus
der Analyse eine logische Diskussion zu machen. Ich habe die Empfindung, daß sie
nicht abgebrochen werden wird und das Vertrauen des Patienten wiederkehrt, weil
ich auf ein Verbot der Homosexualität verzichte und in Ton und Wort eine objek¬
tive Haltung bewahre. Im Schwimmbad lernt Patient einige junge Männer kennen;
mit einem von ihnen freundet er sich näher an. Beide Burschen verlieben sich inein¬
ander und nach einigen Tagen kommt es zu gemeinsamer Onanie. Küsse und Zärt¬
lichkeiten sind mit großer Befriedigung verbunden. Patient ist glücklich, aber der
Orgasmus verläuft unbefriedigend. Damit sind die Aussichten der Analyse wieder
gebessert. Ich teile dem Patienten mit, daß der Mangel eines befriedigenden Orgas¬
mus ein Zeichen einer neurotischen Störung ist, daß beim Normalen gerade der
Orgasmus den höchsten Grad der Befriedigung bedeutet.
Träume und Einfälle gestatten nun einen Zugang zum Ödipuskomplex. Patient
erinnert sich, daß er Angst hatte, mit der Mutter im selben Zimmer zu schlafen,
er hatte die Befürchtung, er könnte die Mutter im Schlaf vergewaltigen. Bis zu
seiner Pubertät gab es einige Frauen, die ihm gut gefallen haben und bei deren
Anblick er Erektionen bekam. Er erinnert sich, daß er einmal von dem Fenster
seiner Wohnung aus eine nackte Frau beobachtet hat; er erschrak heftig, als er dann
den Vater in seiner Nähe bemerkte. Obgleich er heute weiß, daß sein Vater zu¬
frieden wäre, wenn er mit Frauen verkehren würde, bekommt er bei diesen Gedanken
heftige Angst vor dem Vater. Einige Verletzungen am Finger, sein Interesse für
alle Scheren (es kommt vor, daß er sie bei Bekannten, ohne es zu wissen, einsteckt),
bringen Einfälle, deren Deutung dem Patienten den Kastrationskomplex bewußt
machen. Bei seiner ersten Pubertätsonanie (1 6. Lebensjahr) stand er, nur mit
Schwimmhose bekleidet, vor dem Spiegel und versuchte, sein Genitale zum Ver¬
schwinden zu bringen. Durch den Druck kam es schließlich zu einer Ejakulation.
Patient erschrak darüber, er glaubte, daß der Samen vom Rückenmark komme.
Diese Angst war so groß, daß er durch zwei Jahre nicht onanierte.
Ich deute wenig und lasse den Patienten selbst die Bedeutung und den Sinn
seiner Einfälle finden. Langsam ergeben sich folgende Formulierungen: 1. Er liebt
Der Mammakomplex des Mannes
559
die Mutter und möchte sie besitzen; aus Angst vor der Kastration durch den Vater
gibt er diesen Wunsch auf. 2. Andere Frauen hängen mit der Mutter zusammen,
sind Mutter-Imagines und deshalb verboten. 3. Bei der realen Mutter wird das
Verbot durch die Angst vor dem Vater gestüzt. 4. Homosexualität schützt ihn vor
der Angst bei anderen Frauen, denn wenn sie ihm nicht anziehend erscheinen, ist
die Angst zur Unterdrückung seines Triebes entbehrlich. Ich zeige dem Patienten
zunächst, daß dieser Schutz gegen die Angst nicht mehr aktuell ist. Er hat doch
nur eine Berechtigung, wenn wirklich alle Frauen seine Mutter wären, wenn also
bei jeder Frau die Gefahr der Kastration durch den Vater bestünde. Diese Lösung
hat früher, in seiner Kindheit, Berechtigung gehabt, damals war ja die Mutter das
einzige Liebesobjekt. Patient erzählt nun, daß er sich häufig wie ein Baby vorkomme
und benehme und für sich eine besondere Pflege und besonderes Interesse seitens der
Mutter beanspruche. Dieses Verhalten kommt noch viel deutlicher in seiner homo¬
sexuellen Beziehung zum Vorschein. Er möchte von seinem Freunde immer wieder
kleine Geschenke, wie Blumen und Bonbons, empfangen, von ihm geküßt, umarmt
werden. Manchmal macht er sich Vorwürfe, daß er zu viele Geschenke annimmt,
er kommt sich wie eine Dirne vor, die sich aushalten läßt, kann aber auf diese
Befriedigung nicht verzichten.
Ich mache den Patienten aufmerksam, daß die Befriedigung des Kastrations¬
wunsches in der Identifizierung mit der kastrierten Mutter ihn von seiner Angst
vor der Kastration befreie. Er verzichte dann auf sein Genitale und damit auf die
Liebe zur Mutter und sei nicht mehr ein lästiger Rivale des Vaters. Vielleicht
könnte dann eine Aussöhnung mit dem strengen Vater stattfinden? Der Patient
bringt einige Erinnerungen, die eine positive Einstellung zum Vater erkennen lassen.
Im vierten Lebensjahr liegt er im Bett des Vaters und spielt mit dessen Uhr, die
Mutter ist darüber böse, doch der Vater läßt ihn gewähren. Im siebenten Lebensjahr
liest er ein Gedicht von Heine, in welchem von „der Brüstlein Rosenknospen“ die
Rede ist, wieder will die Mutter ihm das Buch abnehmen, wieder ist es der Vater,
der seine Partei ergreift. Patient gibt zu, daß hinter dem Haß gegen den Vater auch
eine schüchterne Liebe verborgen ist, doch sieht er darin keinen Zusammenhang mit
seiner Homosexualität. Nie würde er zu einem älteren Herrn, also zu einer Vater-
Imago, eine Beziehung wünschen, nur junge, hübsche Burschen locken ihn. Sein
Vater ist alt, häßlich und sieht sehr jüdisch aus. Diese so affektbetonte Ablehnung
des Judentums ist dem Patienten selbst verdächtig, und er ist bereit, auf diesen
Punkt näher einzugehen. Es ergibt sich, daß er im zweiten Lebensjahr zum zweiten¬
mal beschnitten werden mußte und daß diese Beschneidung und die seiner Brüder
sehr deutlich in seiner Erinnerung haftengeblieben sind. In seinem neunten Lebens¬
jahr ist er bei dieser Zeremonie bei seinem jüngsten Bruder auf Wunsch des Vaters
anwesend. Er hat Mitleid mit dem Kleinen und möchte ihm die Prozedur ersparen,
doch schließlich siegt der Gedanke: „Was ich habe erdulden müssen, soll auch der
andere erdulden.“ Diesen jüngsten Bruder hat er sehr gerne, sorgt um ihn, während
er mit dem mittleren in ständigem Kampf lebt. Er bedauert, daß er keine Schwester
hat: „Vielleicht wäre ich nicht homosexuell, wenn ich eine Schwester gehabt hätte.“
Er ist mit einer entfernten Cousine, die im Auslande lebt, sehr befreundet, und hat
manchmal die Phantasie, daß diese Cousine ihn von seiner Homosexualität befreien
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
560
könnte. Das schlechte Verhältnis zu seinem mittleren Bruder, der drei Jahr jü
ist, begann erst nach der Geburt des Jüngsten (Altersdifferenz neun Jahre), vorher
hat er ihn ebenfalls geliebt und behütet.
Das Durchbesprechen dieser Einstellungen ändert aber nichts an der horno
sexuellen Einstellung des Patienten, sie bleibt auch weiter unberührt. Als wir im Zu
sammenhang mit „Bauchschmerzen“, die sich während der Analysestunde einstellen
auf die Analerotik eingehen, erinnert sich Patient, daß er eine Zeitlang an die anale
Geburt geglaubt hat. Die Existenz der Vagina war ihm damals unbekannt gewesen
Längere Zeit hat ihm sein Stuhl große Sorgen bereitet, er war häufig obstipiert und
litt an Flatulenz. Um sich dagegen zu schützen, steckte er Papierpfropfen in seinen
After. Besonders schmerzlich war es für ihn, als seine kleine Cousine davon Notiz
nahm und mit der verächtlichen Bemerkung: „Du stinkst“, ihn verließ.
Das Material wird benützt, um die bereits begonnenen Deutungen seiner Homo¬
sexualität zu ergänzen: 1. Wenn der Mastdarm zur erogenen Zone erklärt wird, so
sind damit die Konsequenzen der Kastrationsangst vollzogen, er hat seinen Penis
aufgegeben und ist bereit, mit seinem Anus den Penis des Vaters zu empfangen.
Der Patient sieht diesen Zusammenhang ein, betont aber, daß er seinen Penis doch
nicht aufgegeben hat, da in der homosexuellen Beziehung die Onanie am Penis und
nicht der Coitus per anum die Hauptrolle spielt. Der Haß gegen die Frauen be¬
ginnt nach der Besprechung des Kastrationskomplexes umschriebene Formen anzu¬
nehmen. Patient möchte ihnen den Bauch spalten, die Brust abbeißen (bei diesem
Einfall hat er ein unangenehmes Gefühl in der eigenen Brust). Ich meine, daß soviel
Aggression gegen die Frau zwangsläufig eine Revanche erwarten läßt. So ergeben
sich als weitere Gründe seiner Homosexualität: 2. beim Verkehr mit der Frau die
Gefahr der eigenen Aggression, daher 3. Angst vor der Revanche; 4. bedeutet die
Homosexualität gleichzeitig die Befriedigung der Aggression: „Ich brauche die Frau
nicht.“
Die Cousine aus dem Ausland kommt für einige Wochen nach Wien und verliebt
sich in den Patienten, doch bleibt dieser kühl, seine Homosexualität ist unverändert.
Durch ausführliche Besprechung seiner Beziehung zur Gouvernante Erna ist Patient
zur Überzeugung gekommen, daß die realen Quälereien dieser Person nicht den
einzigen Grund seines Hasses gegen die Frauen bedeuten können. Die Intensität
dieses Hasses und seine Ausdehnung auf so zahlreiche Objekte rechtfertigen die Ver¬
mutung, daß noch andere, unbewußte Motive dahinterliegen. Der Hinweis auf seine
Empfindlichkeit bei kleinen Verstößen der Mutter oder der Hausgehilfin gegen seine
Diät bringen eine Fülle von Erinnerungen aus seiner Kindheit. Im dritten Lebens¬
monat, so wurde ihm berichtet, bekam Patient eine Amme, da die Milch der Mutter
zu knapp wurde und nach Ansicht des behandelnden Arztes bereits eine Störung
seiner Gesundheit eingetreten war. Auch für seine beiden Brüder mußten Ammen
aufgenommen werden. Patient erinnert sich deutlich, daß er seine Brüder beneidete,
einmal schaute er dabei so gierig die Amme an, daß es ihr auffiel und sie ihn zum
Scherz mit ihrer Milch anspritzte. Da durch den Krieg die Lebensmittel knapp ge¬
worden waren, erregte es seinen besonderen Ärger, daß die Amme täglich zum
Frühstück einen halben Liter Milchkaffee bekam. Ein ausgesprochen freudiges Er¬
eignis dagegen war es, als einmal die Amme des Bruders „nicht richtig funktio-
Der Mammakomplex des Mannes
S6i
nierte“. Dieser orale Neid wurde dann zum Teile überkompensiert, als Patient, für
seine Brüder mütterlich sorgend, täglich in einen entlegenen Bezirk fuhr, um Milch
zu holen. Zweimal passiert ihm ein Unglück, die Flasche fällt ihm aus der Hand,
worauf er mit heftigen Schuldgefühlen reagiert. Der Zusammenhang
zwischen seiner Gier beim Essen und vor allem beim Trinken
und jener frühen oralen Versagung leuchtet dem Patienten ein. Er
gibt zu, daß sein Benehmen häufig an den unersättlichen Säugling erinnert. Sein
Haß g e g e n Frauen hängt also mit dieser ersten Enttäu¬
schung zusammen. Eigentümliche Sensationen im Bereiche des Mundes und
der Fingerspitzen, über die Patient schon früher berichtet hat, werden jetzt ver¬
ständlich. Es handelt sich um ein unangenehmes Trockenheitsgefühl in diesen Re¬
gionen. Um sich dagegen zu schützen, fettet Patient die Haut, die Lippen und den
Anus häufig ein. Zusammenhänge zwischen Mund, Hand und Anus werden hier
erörtert. Die Vorliebe für Milch und Molkereigeschäfte bedeutet eine Fixierung
an die erste glückliche Zeit, während sein Abscheu vor Fleisch und
Fleischgeschäften mit dem Beginn des Beißens und der darauffolgenden Entwöhnung
zusammenhängt. Er bestellt im Restaurant nie eine Fleischspeise. „Das wäre zu
teuer.“ Einfälle beweisen, daß es sich nicht um zu teuer im realen Sinne, sondern
um den Verlust der Mutterbrust nach dem Durchbruch der ersten Zähne handelt.
Es sieht so aus, als ob der Patient sagen möchte: solange ich auf Fleisch,
also B eißen, verzichte, darf ich ungestört an der Mutter¬
brust bleiben. Daß dieser Verzicht nur partiell gelungen ist, illustriert sein
Verhalten beim Essen von Zucker. Er ist ja nicht wirklich in toto ein Säugling
geblieben, sozusagen gegen seinen Willen hat er Zähne bekommen und kann ihre
Betätigung nur zeitweise hemmen. Da seine Libido auf diesem kleinen Abschnitt
(orale Zone) nicht restlos befriedigt werden kann, kommt es zu Stauungen und
Konflikten.
Wir erblicken jetzt die nächste Schichte der Enuresis nocturna. Nach der oralen
Versagung, Haß gegen die Mutter, Identifizierung mit ihr, wird der Penis zum
Brustersatz; was bisher passiv empfangen wurde, wird aktiv gegeben. Die gegen¬
seitige Onanie bei dem homosexuellen Verhältnis, das Saugen an den Brustwarzen
und am Penis bedeuten: Kind-Mutter spielen. Er repräsentiert die phal-
1 i s c h e M u 11 e r, ist aktiv seinem Freund gegenüber, der an seinem Penis saugt
oder es übernimmt umgekehrt der Freund die Rolle der phallischen Mutter. Patient
erinnert sich, daß im achten Lebensjahr plötzlich seine Brust größer wurde und
seine Mutter deswegen einen Frauenarzt konsultierte. Wir verstehen jetzt, warum
er bei der Onanie seinen Penis von unten beleuchtet: „Der Schatten soll auf die
Brust fallen.“ Der Haß gegen die Gouvernante hängt also mit dem Haß gegen die
Mutter zusammen. Dieser Haß bei gleichzeitig bestehender Liebe war sehr quälend;
durch die Identifizierung wurde ein Teil auf genommen, der übriggebliebene Anteil
wurde auf andere Objekte verschoben: Erstens auf Erna, Patient erinnert
sich jetzt, daß er selbst manche Quälereien provoziert hatte; so hatte er Erna
vorgeschlagen, ihn nur alle vier Stunden urinieren zu lassen, um die Blase wider¬
standsfähiger zu machen. Als sie auf diesen Vorschlag einging, litt er sehr darunter,
zweitens auf den Vater. Daher versuchte Patient immer wieder den Vater
Int. Zeitsdhr. f. Psychoanalyse, XIX—4
36
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
562
als strengen Tyrannen zu erleben, während er in Wirklichkeit ein schwächlicher
und ängstlicher Neurotiker war. Die Milde des Vaters war für ihn eine Ent¬
täuschung, doch war die phantasierte Strenge nicht imstande, wirklich größere
Mengen von Haß auf sich zu ziehen. Das Beißen an der Nagelhaut der Finger
und an den Lippen, das zu energische Zähneputzen, erweisen sich als Onanie¬
äquivalente, wobei die eigene Haut an Stelle der Mutterbrust tritt, der Mund aber
nicht beim harmlosen Saugen verbleiben kann, sondern die von den Zähnen aus¬
gehende Aggression befriedigt.
Die Onanie bedeutet: Die Wiederholung der ersten Lusterlebnisse an der
Mutterbrust, wobei auf die Mutter verzichtet wird und an ihre Stelle ein Teil
des eigenen Körpers rückt. Der Mund, beziehungsweise die Hand verkörpern die
Libido mit passiven, der Penis die mit aktiven Triebzielen. So bedeutet die Onanie
Kastration, die aber nicht mehr passiv empfangen, sondern aktiv — allerdings am
eigenen Körper — ausgeführt wird.
Während der Analyse der oralen Phase hat sich die homosexuelle Einstellung
wesentlich geändert. Die Bindung an den Freund wurde immer geringer,
die homosexuelle Beziehung aufgegeben, die Gleichgültigkeit, beziehungsweise der
Haß gegen die Frauen begann einem erotischen Interesse Platz zu machen. Es traten
Träume auf, in denen Patient mit einer nackten Frau im Bett liegt und an ihrer
Brust saugt.
Fall II: Schreibkrampf.
Analytiker: Bergler.
Ein 41 jähriger, pensionierter höherer Beamter suchte die Analyse wegen eines
seit acht Jahren bestehenden Schreibkrampfes auf. Der Schreibkrampf setzte plötz¬
lich ohne erkennbare äußere Ursache ein. Patient sollte seine Unterschrift unter
ein Schriftstück setzen (es war im Augenblick niemand in seinem Zimmer), da
bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß er nicht mehr schreiben könne. Der Schreib¬
krampf schwankte in der Folgezeit, wie das typisch ist, in seiner Intensität und
nahm alle Grade an, beginnend von Zittern, Ausfahren, Unsicherheit des Armes
(die sich manchmal bis zu schmerzhaften Versteifungen steigerte) bis zur gänz¬
lichen Unfähigkeit zu schreiben. Die Funktion des rechten Armes ist sonst keines¬
wegs eingeschränkt, ausgenommen sind Schwierigkeiten beim Essen und Trinken
flüssiger Speisen (Kaffee, Suppe, Wasser usw.). Das Schreiben mit Tinte war
schwieriger als mit Bleistift. Wenn jemand dem Patienten beim Schreiben zusah,
war das Schreiben völlig unmöglich.
Patient hatte alle möglichen Kuren — elektrische, sedative und die Zeileis-
Methode — erfolglos versucht, lernte schließlich um und wurde Linkshänder, wobei
aber zeitweise auch am linken Arm die gleichen Störungen auftraten.
Aussehen und Gehaben des Patienten erinnerten ein wenig an das eines aktiven
Offiziers mit aristokratischen Allüren. Dieser Eindruck wurde bestätigt, als aus
der Lebensgeschichte zu erfahren war, daß Patient — die Mutter war Haus¬
besorgerin, der Vater ursprünglich Gendarm, dann Postunterbeamter — in einem
Milieu von Aristokraten auf ge wachsen und aus diesem seine Identifizierungen her-
Der Mammakomplex des Mannes
5* 3
leitete. Der Zufall wollte, daß Patient Gespiele eines im Hause wohnenden Aristo-
kratensöhnchens war, die Familie nahm sich des Knaben sehr an, einige im Hause
verkehrende Aristokraten versuchten, den hübschen Knaben zu homosexuellen
Akten zu benützen.
An den Vater hat Patient anfangs nur eine Erinnerung: er sieht ihn — Patient
war damals knapp vier Jahre alt auf der Totenbahre liegen, ohne daß dies
scheinbar tieferen Eindruck auf den Patienten machte. Die Mutter wird als
energische, resolute Person geschildert, die den Patienten vor seinem zwei Jahre
älteren Bruder bevorzugte. Als einer der beiden Knaben in eine Waisenanstalt ab¬
gegeben werden sollte, entschied sich die Mutter dahin, den jüngeren im Hause zu
behalten. Vom 'er „verflucht“, blieb Patient bei der Mutter und dies legte
die schon früher I Mene Abwehr des Älteren fest: es entstand eine lebens¬
längliche Feindschaft de* -ren gegen den Jüngeren. Der Entschluß, den Patienten
im Hause zu belassen, wurde durch zwei Momente bestimmt: durch die Freund¬
schaft des Knaben zum Baron X. und das Bettnässertum des Patienten, das vom
dritten bis siebenten Lebensjahr dauerte. Patient bleibt nach Abschiebung des
Bruders in die Waisenanstalt mit der Mutter allein zurück. Es ist dies „die glück¬
lichste Zeit seines Lebens ; dieses Glück wird lediglich durch den ständigen Kampf
gegen das Bettnässen getrübt. Die Mutter versuchte, dem Patienten vergeblich diese
„Unart durch Güte, dann Geduld, endlich durch Drohungen abzugewöhnen. Der
Patient hatte den „besten Willen“. Er kam auch auf recht originelle Ideen in diesem
Kampfe: so zum Beispiel montierte er den Gasschlauch ab, befestigte ihn an seinem
Glied und führte das Ende direkt in einen Kübel, oder er improvisierte ein Suspen¬
sorium, wobei er sich das Abfließen des Urins offenbar etwas zu mechanisch vor¬
stellte, oder er legte Watte und Leinwandbauschen zwischen Vorhaut und Penis
ein usw. Patient litt außerdem an einer Phimose. Auch da versuchte er mit radikalen
Mitteln eine Selbstheilung. In Analogie zu den Dehnungsversuchen des Arztes um¬
wickelte er die Spitzen eines Zirkels mit Watte und „dehnte“. Patient war über¬
haupt in dieser Zeit ein recht mutiger, scheinbar unerschrockener Junge (wie sich
später erwies: auch aus seinem Strafbedürfnis). Er wurde der „verrückte Hans“
genannt: beim Zahnarzt fürchtet er sich nicht vor Schmerzen, ist überhaupt gegen
Schmerzen besonders tolerant, wird bald ein prämiierter Radfahrer, fährt z. B. mit
dem Rad vom ersten Stock über die Treppe usw. In diese Zeit fallen Tierquälereien,
Rattenschießen usw. Etwas später tritt eine Wandlung ein: Patient wird ängstlich,
zurückhaltend, scheu. Im vierzehnten Lebensjahr ereignet sich ein sonderbarer
Unfall: Patient, der preisgekrönte Radfahrer, fährt in einen mit zwei Pferden
bespannten Postwagen (der Vater war Postbeamter gewesen!) so ungeschickt hinein,
daß er stürzt. Daran schließt sich ein langes Krankenlager, die Folge eines Bruches
und einer Coxitis; am Ende bleibt eine Versteifung des Gelenkes und eine Ver¬
kürzung des Beines zurück. Mit 17 Jahren beginnt Patient seine Beamtenlaufbahn.
Es kommt nun zu einer Umkehrung der Kindheitssituation: der Bruder bleibt zu
Hause bei der Mutter und studiert zur Matura, Patient muß die Familie erhalten.
Dabei rächt sich der Bruder für seine Zurücksetzung in früheren Jahren: rück¬
sichtslos tyrannisiert er die Mutter, versetzt alles, was nicht niet- und nagelfest ist,
und Patient muß mitansehen, wie die Mutter aus Angst vor dem „mißratenen
36*
5 64
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
Buben“ selbst das vom Patienten verdiente Wirtschaftsgeld dem Älteren zusteckt
Die Konflikte zwischen den Brüdern spitzen sich immer mehr zu: da stirbt die
Mutter. Im Verhalten des Patienten erfolgt wieder eine scheinbar jähe Wendung-
er beginnt, den Bruder zu bemuttern, kocht für ihn, kurz, bezieht eine direkt
weibliche Position. In diese Zeit fällt eine wichtige Episode: Patient erwartet
den Bruder spät nachts (der Bruder kommt um diese Zeit regelmäßig
betrunken nach Hause), schleppt ihn zum Fenster, steckt dem
Bruder den Finger in den Mund, um ihn zum Erbrechen
zu bringen. Die Rationalisierung lautet: der Bruder würde sonst den Teppich
durch „Ankotzen“ beschmutzen... Dieses Idyll dauert nicht allzu lange, der
Bruder heiratet trotz dem schärfsten Protest des Patienten. Kurze Zeit hierauf hei¬
ratet Patient ebenfalls. Er wählt eine um zehn Jahre ältere, sexuell desinteressierte
Frau — Typus Mannweib — die lange Jahre hindurch eine Beziehung zu einem
hohen Beamten der bewaffneten Macht gehabt hatte (der Vater des Patienten war
Gendarm gewesen!) und deren einziges Interesse Pferde waren. Es war, wie Patient
behauptete, keine Liebesheirat, es ist mehr ein Nebeneinanderleben. Nach zwei¬
jähriger Ehe wird dem Patienten klar, daß die Frau frigid ist. Knapp darauf be¬
kommt Patient seinen Schreibkrampf. Patient glaubt ursprünglich, der Krampf
hänge mit dem sexuellen Verkehr zusammen, schränkt die sexuellen Beziehungen
auf ein Minimum ein und gibt sie später ganz auf. Er hat bei Beginn der Analyse
mit der Frau seit sieben Jahren nicht mehr verkehrt, ohne daß diese dagegen
protestiert hätte. Das seit der Kindheit bestehende Symptom des Nägelbeißens ver¬
stärkt sich. Patient läßt sich widerstandslos wegen seines Schreibkrampfes pensio¬
nieren und findet keinen Posten, obwohl er ganz gute Beziehungen hat. In den
nächsten Jahren widmet er sich der Behandlung seines Schreibkrampfes, hat, da
alle Behandlungen wirkungslos sind, ernste Selbstmordideen und versucht als letztes
Verzweiflungsmittel die Analyse.
Der Patient macht den Eindruck eines sexuell völlig desinteressierten Menschen.
Er habe, behauptet er, sexuell verkehrt, „weil’s sein muß“, ohne Bedürfnis und
ohne Befriedigung. In den letzten Jahren habe er „pausiert“, in den letzten
Monaten vor der Analyse habe er eine Freundin, mit der er „alle paar Wochen“
koitiert. Sein Bekanntenkreis war auffallend: er bestand aus lauter ausübenden
Homosexuellen. Patient selbst lehnte die Homosexualität ab, verbat sich das Er¬
zählen der Abenteuer seiner Freunde, erfuhr aber alles auf dem Umweg über seine
Frau, die die Vertraute dieses Kreises wurde.
Die Analyse ergab vorerst eine starke unbewußte Homosexualität des Patienten,
die sich in der Übertragung unter schwersten Widerständen klar zeigte. Diese un¬
bewußte Homosexualität war sekundär und baute sich auf einer verdrängten, aggres¬
siven Haßeinstellung gegen den Vater (Bruder) auf nach dem so häufigen Entste¬
hungsmodus: Aus Kastrationsangst verzichtete er auf den Penis, wollte aber dafür
vom Vater (Bruder) wie -eine Frau geliebt werden. Eine Reihe von Momenten bewies
seine unbewußte Homosexualität: sein Bekanntenkreis, seine Beziehung zum Bruder,
mit dem er schwere Konflikte wegen dessen Heirat — Eifersucht! — hatte (Patient
kochte und führte dem Bruder nach dem Tode der Mutter die Wirtschaft), seine
ständige Angst, als Geschworener in einem Homosexuellenprozeß mitwirken zu
J
Der Mammakomplex des Mannes 565
müssen, sein al 1 -ifriges Streben, Bekannte von der Homosexualität abzubringen
(er reiste deshalb Tahren in eine entfernte Stadt, um einen dort wohnenden
Bekannten von der ^ ''Sexualität durch Abreden zu „heilen“) und — nicht
zuletzt — die Wahl seinei Frau. Diese Homosexualität — die nur teilweise das
sexuelle Desinteressement des Patienten erklärte — war genährt durch eine lange
Reihe von Verführungen, die selbst bei Berücksichtigung der „traumatophilen Dia-
these“ (Abraham) noch immer ein beträchtliches Material ergaben. Es waren
dies vor allem Szenen, die sich auf einen Baron Z. und seinen Jockey bezogen.
Beide haben sich am Knaben zwischen seinem vierten bis sechsten Jahre homo¬
sexuell vergriffen. Diese Szenen waren vollkommen verdrängt. Die Mutter des
Patienten, der das verstörte Wesen des Knaben auf fiel, verbot ihm den Umgang
mit dem Jockey. (Vergleiche die späteren Versuche des Patienten, seinen homo¬
sexuellen Freunden die Homosexualität zu verbieten. Er spielt darin Mutter.) Ganz
unschuldig dürfte der Knabe an diesen Verführungen nicht gewesen sein, da sich
die homosexuellen Verführungen auch nach dem Verbot wiederholten: seine Spiel¬
kameraden waren die Verführer.
Zu Lebzeiten des Vaters entwickelte Patient einen starken Haß gegen diesen,
der äußerlich an folgende Erinnerung anknüpfte: der Vater hatte einmal den
Patienten — als Bestrafung für seine Enuresis — in den Keller gesperrt. Dort be¬
schloß der Knabe — die Szene muß vor dem vierten Lebensjahr spielen, da der
Vater in diesem Alter des Knaben an einem Sarkom starb — aus Rache in der
Nacht seine Kinderpistole abzuschießen, „damit der Vater erschrecke“. Als der
Vater kurz darauf starb, schob sich der Knabe unbewußt die Schuld am Tode
des Vaters zu. Auf der Oberfläche war bloß ein starkes Strafbedürfnis sicht¬
bar. Dieses Strafbedürfnis leitete sich aus dem Ödipuskomplex ab. In der Analyse
gelang die Rekonstruktion der Urszene bis auf eine Lücke: Patient erinnerte, wie
der Vater, im Bette liegend, die Lampe auslöschte, wie die Mutter ins Nachtgeschirr
urinierte — hier war eine Lücke in der Erinnerung — und in der Frühe tastete
der Knabe das Gesicht der Mutter ab und fragte, ob sie Narben habe. Die Analyse
ergab, daß der Knabe eine sadistische Koitusvorstellung gehabt haben müsse, wobei
das Schlagen der Frau den ersten, das gegenseitige Anurinieren (vielleicht Hinein¬
urinieren in Mund und After) den zweiten Akt darstellte. (So verglich Patient
regelmäßig seine eigenen Urinmengen mit denen der Mutter.) Weitere Erinnerungen
aus der Zeit vor dem Tode des Vaters (viertes Lebensjahr des Patienten) lassen
deutlich erkennen, daß seine aggressiven Tendenzen schon an den Penis gebunden
waren und daß er konsekutiv eine große Kastrationsangst vor dem Vater ent¬
wickelte und diesen auch direkt provozierte. So stocherte er zum Beispiel mit einem
Messer in der Sparbüchse der Eltern herum, um Geld herauszubekommen, obwohl
er wußte, daß der Vater im Nebenzimmer war: er bekam auch die gewünschten
Prügel, der Anlaß dieser Provokation war symbolisch ein sexuelles Geständnis.
Im Sinne seiner Kastrationstendenzen sprechen auch die ständigen schmerzhaften
Prozeduren am Penis, die Patient teils selbst vollführte, wie das Dehnen der
Phimose mit dem Zirkel, teils gerne an sich geschehen ließ (Phimosendehnung und
Operation). Er blieb auch späterhin ein freudiges Operationsobjekt, wurde auch
wiederholt operiert. Bezeichnend ist auch, daß er, obwohl er schlechte Erfahrungen
$66
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
mit den Ärzten gemacht hatte (Prof. Lorenz erklärte ihm, daß seine Hüftgelenks
krankheit unsachgemäß behandelt worden war, die Verkürzung hätte vermieden
werden können; jahrelange erfolglose Behandlung beim Schreibkrampf und viele
andere Beispiele), er es den Ärzten nicht nachtrug. Diese bei Patienten ungewöhn¬
liche Milde, das Fehlen jedes Ressentiments, war nur aus seinem Strafwunsch
klärlich.
Seine E n u r e s i s hatte folgende Komponenten: In der ersten — aktiven
— Phase war sie ein Versuch, mehr zu urinieren als der Vater, dem
Vater also sexuell (Urin = Sexualprodukt) überlegen zu sein. In diesem Sinne
spricht auch seine groteske Verlängerung des Penis mittels des Gasschlauches zu
einem Riesenpenis. In einer Ubergangsphase war die Enuresis ein P r o t e s t
gegen die Kastration. In der dritten Phase, nach Verzicht auf
den Penis, war es ein weibliches Fließenlassen, eine Phase, der die weibliche
Identifizierung mit der Vorstellung zugrunde lag, das weibliche Genitale
sei ein Behälter, aus dem ständig Urin abfließt. 15 (Der Knabe wurde einmal mit
dem kleinen Baron von dessen Bruder, einem Studenten der Medizin, beim Ansehen
medizinischer Atlanten ertappt; auf die ironische Frage, was sie denn so interessiere,
kam nach langem Zögern die Bitte um Aufklärung, ob das Mädel ununterbrochen
urinieren müsse.) Daneben hatte das Enuresissymptom eine Reihe von Neben¬
bedeutungen: es war Trotz gegen die Eltern, zugleich ein Mittel, die Mutter zu
zwingen, bei der Reinigung sein Genitale in die Hand zu nehmen, endlich ein
erfolgreiches Mittel gegen die Abschiebung in die Waisenanstalt usw.
Von der Besprechung seiner Enuresis führte ein Weg zu seinem Schreibkrampf.
In der bekannten Arbeit von J o k l 16 wird das Symptom auf die urethrale
Komponente zurückgeführt. Tatsächlich bestätigte der Fall Jokls Befunde: die
urethrale Komponente spielte eine große Rolle.
Zusammenfassend ergaben sich folgende Determinanten des Schreibkrampfes:
1. Das Symptom trat auf, als Patient erfuhr, daß seine Frau frigid sei. Der
Schreibkrampf diente in oberflächlicher Schichte vorerst der Rache an der Frau:
ein Beamter muß schreiben können. Der andere häufig beschrittene Weg der Rache
durch Impotenz war nicht gangbar, da die Frau sich daraus nichts gemacht hätte.
Tatsächlich hatte er die Frau am empfindlichsten Punkt zielsicher getroffen: er
wurde mit einer kleinen Pension in den Ruhestand versetzt.
2. Die Versteifung des Armes bedeutete Hemmung seiner aggressiv-sadistischen
Mordimpulse gegen die Frau mit konsekutiver Selbstbestrafung. (Dahinter verbarg
sich die Wiederholung von Aggressionen gegen Vater und Mutter — aktive Kastra¬
tionswünsche.)
3. Die Enttäuschung an der Frau führt zur Regression zu infantilen Befriedi-
15) Auf die Bedeutung dieser dritten Phase hat H. Deutsch aufmerksam gemacht.
Ich glaube, daß für die männliche Enuresis die Kombination aller drei Phasen 1 typisch
ist. Dies konnte ich an einer Reihe von Fällen sehen. Einen dieser Fälle publizierte ich:
„Zur Psychoanalyse eines Falles von Prüfungsangst“, Zentralblatt f. Psychotherapie, 1933»
H. 2. Die tiefste und wichtigste Schichte der Enuresis ist aber oral. (Siehe später.)
16) „Zur Psychogenese des Schreibkrampfes“, Int. Ztschr. f. Psa., VIII, 1922.
Der Mammakomplex des Mannes
567
gungsarten, vor allem zu urethralen Wünschen, die innerlich kaum verlassen waren,
per Schreibkrampf bedeutete also Enuresis plus Hemmung derselben. (Die Enuresis
war auf beiden Stufen wiederholt: auf der männlichen und auf der weiblichen.)
4. Der ganze Arm wird sexualisiert und verweigert die Funktion; die schmerz¬
hafte Versteifung entspricht neben der Aggression auch der Abwehr einer homo¬
sexuellen Komponente: eine der typischen „Verführungen“ bestand in der Auf¬
forderung, den Penis des Partners (Baron Z., Jockei) in die Hand zu nehmen und
bis zur Ejakulation Friktionen auszuführen, respektive den Finger in den After
zu stecken. In einer Schichte war die Hand After, die Feder Penis.
5. Das Symptom war bisexuell angelegt: die Hand hatte auch die Bedeutung
der Vagina, die Feder die des Penis; das Ganze war aber auch die Darstellung
eines Koitus mit Schuldgefühl und konsekutiver Hemmung. Die Hand wird ver¬
krampft, damit die Feder (Penis) nicht fließen (Harnlassen = Ejakulieren) kann.
6. Endlich war ein exhibitionistisches Motiv im Symptom enthalten, das sich
mit dem Straf wünsch verband: er demonstrierte förmlich, was er zu verbergen
wünschte. (Man denke an die Szene mit der Sparbüchse.)
Das Symptom hatte Zuflüsse aus analen, urethralen undphal-
lischen Wünschen und war zugleich Ausdruck seiner aktiven und passiven
Strebungen.
Soweit war die Analyse fortgeschritten, als sich einige Tatsachen als Einwand
gegen diese Aufstellungen (zumindest gegen deren Vollständigkeit) ergaben: die
sonderbare Tatsache, daß Patient bei Besprechung seiner urethralen Tendenzen in
einem späteren Zeitpunkt der Analyse Gähnkrämpfe bekam. Aus dem ganzen
Verhalten des Patienten waren die Gähnkrämpfe als bloßer Widerstand nicht zu
verstehen. Um dieselbe Zeit traten schwere Eßstörungen auf. Endlich be¬
friedigte der therapeutische Erfolg nicht — es war im siebenten Monate der Analyse
— da der Zustand des Patienten trotz gelegentlicher starker Schwankungen zum
Positiven im wesentlichen unverändert blieb. Vor allem ergaben die Gähnkrämpfe
und die Eßstörungen den Verdacht auf orale, bisher nicht auf gedeckte Triebschick¬
sale. Näheres Eingehen ergab ein eindeutiges Material: Im Alter von vier Jahren
wurde Patient von einem Psychopathen, der im selben Hause wohnte, zu oral¬
homosexuellen Praktiken gezwungen. Eine Erinnerung lautete: „Dr. C. nahm mich
zu sich in die Wohnung, zog mich und dann sich aus und zwang mich, sein Glied
in den Mund zu nehmen. Er ejakulierte, mir wurde übel, ich erbrach, der Doktor
gab mir hierauf saure Milch zu trinken ...“
Nun gibt es eine Situation im Leben des Patienten, in welcher er diese Szene
buchstäblich wiederholte: als er nach dem Tode der Mutter dem Bruder die Wirt¬
schaft führte, wollte er ihn vom Trinken abbringen und propagierte sein Lieblings¬
getränk: saure Milch. Als der Bruder betrunken nach Hause kam, zerrte er ihn
zum offenen Gangfenster, steckte ihm den Finger in den Mund, um den Bruder
zum Erbrechen zu reizen, mit der Rationalisierung, der Bruder beschmutze sonst
beim Erbrechen den Teppich. Der Gähnkrampf in der Analyse entpuppte sich also
als Abwehr dieser auftauchenden Fellatiowünsche.
Nun konnte man einwenden, es war eben eine der allzu vielen „Verführungen“,
denen der Knabe ausgesetzt war. Das Problem lautet aber, warum unter so vielen
568
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
und so vielartigen Verführungen gerade diese so entscheidenden Einfluß hatte, und
es ergab sich die Frage, ob nicht auch die Enuresis eine Wiederholun
der oralen Wünsche darstellte. Schon im ersten Teil der Analyse war die
starke Identifizierung des Patienten mit dem Weibe auf gef allen. Der Vorstoß i n
die phallische Phase mißlang beim Knaben aus übergroßer Kastrationsangst; die
weibliche Identifizierung konnte um so leichter vor sich gehen, als Patient letzten
Endes auf die ursprüngliche Brustbedeutung des Penis zurückgehen konnte. Er ver¬
zichtete also bloß auf den gefährdeten Penis und konnte dafür den ewig fließenden
weiblichen Penis = die Brust der phallischen Mutter, eintauschen. Somit hatte
seine Enuresis nicht bloß die Bedeutung einer Identifizierung im landläufigen Sinne
sondern war Ausdruck seiner frühesten Sehnsucht: selbst eine
Brust (= Penis) zu besitzen; letzten Endes also etwas Aktives. Es wurde klar,
welchen Sinn die früher angeführte, an und für sich unverständliche Erinnerung
hatte, die besagte, er hätte sich die Urinmengen der Mutter 17 genau angesehen
und einmal vom Topfe nicht aufstehen wollen mit der Begründung, er hätte zu
wenig uriniert. Die Verführung durch Dr. C. wirkte deshalb so
nachhaltig, weil sie bloß etwas nie Erledigtes, unwillig
Verlassenes aktivierte: den Wunsch, selbst phallische
Mutter zu sein.
Der hier geschilderte Fall wurde vom Verfasser im Mai 1929 im technischen
Seminar der Wiener psychoanalytischen Vereinigung referiert. Referent stellte als
wichtigsten Punkt zur Debatte: die Beziehung der urethralen zur oralen Kompo¬
nente, ohne daß die Debatte darauf eine plausible Antwort hätte geben können.
Die Analyse dauerte noch einige Monate (im ganzen etwa ein Jahr) und ergab
immer mehr die zwingende Vermutung, daß Patient passiv Erlebtes aktiv ver¬
arbeitete, daß also Patient die Situation: Säugende Mutter — sau¬
gendes Kind in seinem Schreibkrampf wiedererlebte. An¬
ders ausgedrückt: D i e tiefste und wichtigste Bedeutung seines
S c h r e i b k r a m p f e s war folgende: Die Hand bedeutete den
Mund, die in Tinte getauchte Feder bedeutete die Brust,
Patient spielt also zugleich säugende Mutter und saugendes Kind, die Schreib¬
hemmung ergab sich aus dem Uber-Ich-Verbot, das das Ganze
— mit Recht — als etwas Sexuelles auffaßte. 18
Im Verlaufe der Analyse wurde — bei Besprechung seiner haßvoll-ängstlichen
Beziehung zur Gattin — klar, daß Patient zur Mutter eine höchst ambivalente
Beziehung gehabt haben mußte, welche er in der Ehe wiederholte. Neben der Liebe
war stärkster Haß zu konstatieren, der — wie aus seinen Symptomen geschlossen
werden mußte — zutiefst auf die orale Enttäuschung zurückging. Es
war ja bezeichnend, daß er nach Entdeckung der Frigidität der Gattin sich sozu¬
sagen sexuell selbständig machte mit einem Symptom, das mit einem Anteil der
17) Tendenzen ähnlicher Art waren natürlich auch dem Vater gegenüber vorhanden.
18) Diese tiefste Schichte färbte auch auf die homosexuelle Tendenz des Patienten ab:
zutiefst war es gar nicht der männliche Penis, sondern die p h a 1 -
lische Frau (Mutter mit Brust), die er suchte.
Der Mammakomplex des Mannes 569
Frau zu sagen schien: Ich brauche dich nicht, ich habe selbst eine ewig fließende
Brust. Die Tatsache, daß Patient auf eine genitale Enttäuschung
oral reagierte, beweist auch, wie seine tiefste Sehnsucht beschaffen war:
oral. Die früher erwähnte exhibitionistische Note im Symptom des Bettnässens
(Schreibkrampfes) wäre vom Standpunkt des Mammakomplexes auch folgender¬
maßen zu ergänzen: Patient demonstrierte der Mutter, daß auch er eine Mamma
hatte. —
Die Deutung des Kastrationskomplexes auf der phallischen Stufe führte zu
keinem therapeutischen Ergebnis; dagegen stellte sich eine wesentliche Änderung
erst ein, als der — wie wir jetzt zu sagen vorschlagen — „M ammakom*
plex“ durchgearbeitet wurde. Dabei ergab sich auch ein Hinweis auf
die ständigen Kastrationswünsche des Patienten: sie waren (neben Bestrafungen aus
Schuldgefühl, etwa: orale Kastrationswünsche) Wiederholungen des Entwöhnungs¬
traumas, wobei der Wiederholungszwang dazu führte, daß Patient das peinliche
Erlebnis immer wieder reproduzierte, um es psychisch zu bewältigen. Dabei war —
wie Freud bei Besprechung des Wiederholungszwanges wiederholt hervorhob —
das Unlustvolle des Erlebnisses kein Hindernis gegen die Wiederholung.
Gewiß hatte Patient die späteren Stufen (anale, urethral-phallische) andeutungs¬
weise erreicht; er schleppte aber auf jede dieser Stufen so viele „Restanzen“ aus
der Mammasituation mit, daß er — unter dem Druck seiner akzidentellen Erlebnisse
und der allzu großen Kastrationsangst, wobei die Frau immer deutlicher (vor allem
in einer ganzen Serie von Träumen) zur Kastratorin 19 wurde — immer wieder
regredieren mußte. — Die Buntheit des Bildes war etwa der chaotischen Währungs¬
situation eines Landes vergleichbar, in dem fünferlei Währungen zugleich in Geltung
sind (etwa Schillinge, neuösterreichische Kronen, altösterreichische Kronen, Gulden
und Taler), die Bevölkerung aber nur zur ältesten Währung Vertrauen hat: zum
Taler; wobei — um das Komplizierte der Situation halbwegs wiederzugeben —
angenommen sei, daß nach einem bestimmten Umrechnungsmodus die einzelnen
Währungen in der nächstfolgenden mitenthalten sind.
Als Bestätigung der oben angeführten Aufstellungen seien die einzelnen Selbst¬
mordarten, die Patient im Verlauf der Analyse für sich propagierte, der Reihe nach
genannt: in der ersten Zeit wollte er sich erschießen (siehe Szene im Keller), dann
ertränken 20 und endlich verlangte er Gift von mir.
Leider mußte die Analyse aus äußeren, hier nicht wiederzugebenden Gründen
vor drei Jahren nach einjährigem Verlauf unterbrochen werden. Das Symptom hat
sich wesentlich gebessert: der Patient, der jahrelang nicht schreiben konnte, hat seit¬
her wiederholt Posten als Beamter, Buchhalter, Kassier usw. eingenommen und
konnte seinen Schreibarbeiten nachkommen. Die Unvollständig¬
keit der Analyse erklärt zum Teil den Teilerfolg. Bezeichnend ist aber, daß Patient,
19) Auch hätte die Kastrationsangst und der Kastrationswunsch niemals solche Folgen
erzielt (Patient war täglich dutzende Male in Gefahr, aus eigenem Verschulden überfahren
zu werden), wenn die Kastrationsdrohung nicht durch die ursprüngliche Kastration, die
Entwöhnung, unbewußt verstärkt worden wäre.
20) Interessant ist, daß Patient vor Jahren einen Samariterkurz Rettung Ertrin¬
kender) trotz seiner Fußverkürzung ohne besondere Veranlassung mitgemacht hatte.
570
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
der der Analyse freundlich gegenübersteht, wiederholt Patienten in Analyse zu
bringen versuchte und mich von Zeit zu Zeit besucht, seither nicht mehr den
Wunsch geäußert hat, den „Rest“ des Symptoms „wegzuanalysieren“. Gewiß rnag
dahinter auch ein Stück Widerstand verborgen sein, es beweist aber auch die
wesentliche Besserung und die jetzige Belanglosigkeit des Restsymptoms. Die schwere
masochistische Charakterveränderung des Patienten wurde begreiflicherweise bloß
gemildert.
Fall III: Pseudodebilität.
Analytiker: Bergler.
Diese Krankengeschichte wurde in dieser Zeitschrift publiziert . 21 Ich hebe hier
die Punkte heraus, die sich auf den Mammakomplex direkt beziehen.
Das ganze Sexualleben, ja fast alle Handlungen des Patienten sind lediglich unter
dem Gesichtswinkel des Strebens nach der mütterlichen Brust, resp.
der Rache für die Verweigerung derselben verständlich. Der Patient kannte über¬
haupt nur ein sexuelles Organ: Mutterbrust und Milch, resp. deren Ersatzprodukte.
Diese waren seine ausschließliche „neurotische Währung“. So erklärt sich die bei
Prostituierten ausgeübte Perversion des Urintrinkens, in der eine Szene
aus seinem siebenten bis elften Lebensjahr wiederholt wurde: als er Zusehen mußte,
wie Frauen ihre Kinder stillten, erregte ihn dies sexuell und er spielte selbst die Kind-
Mutter-Situation, indem er einen langen Strohhalm in den eigenen Penis steckte, das
Endstück an die Lippen setzte und seinen eigenen Urin trank. Seinen eigenen Penis
betrachtete Patient unbewußt ebenso als Brust wie das Genitale der Frau. Seine
sexuelle Wunschsituation bestand darin, daß die Prostitutierte ihm einen Cunni-
lingus mit späterer Urolagnie in obszönen Worten befahl. Cunnilingus, Urolagnie,
obszöne Worte 22 — immer wieder ist der Patient der passiv Empfangende.
In jeder Situation, in welcher Patient aktiv geben soll, versagt er, z. B. im Beruf
und als Liebender. Seine intellektuelle Störung ist ebenfalls oral bedingt: da Patient
unbewußt die Aufnahme von Gedanken anderer beim Lernen als eine Wiederholung
des Einsaugens der Muttermilch auffaßt, muß er in der Schule versagen. Dem
Patienten wird zugemutet, Wissen aufzunehmen — oral aufzunehmen — und da
ergibt sich die Konfliktssituation: das Kind regrediert infolge der
Aktivierung der alten, nicht erledigten oralen Enttäu¬
schung auf die ursprüngliche orale Stufe und verweigert
die Aufnahme. Dieser Mechanismus kombiniert sich mit der Rachetendenz
gegen die Mutter zu einer Einheit und stellt meines Erachtens den Kernpunkt
der Pseudodebilität dar.
Die Ejakulationsstörung erwies sich als Rache für die orale Enttäu¬
schung 23 an der mit der Mutter jeweils identifizierten Frau. „Warum soll ich ihr
21) Bergler : „Zur Problematik der Pseudodebilität.“ Int. Ztschr. f. Psa., XVIII, 1932.
22) Ich verweise auf meine Arbeit: „Über obszöne Worte.“ Erscheint in „Imago“.
23) Verfasser hat eine Reihe ähnlicher Fälle in seiner Arbeit „Über einige noch nicht
beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung“ zusammengestellt. Die Arbeit erscheint
demnächst.
Der Mammakomplex des Mannes 571
etwas geben, gibt sie mir was?“ fragte der Patient in einem späteren Stadium der
Analyse. Bezeichnenderweise sagte er einmal, er könnte vielleicht auch bei „anstän¬
digen“ Mädchen, bei denen er impotent war, koitieren, wenn er mit einem Präser¬
vativ verkehren würde: „Da kriegt sie ja nichts“, meinte er triumphierend. Die
groteske Idee des Präservativs als Strafinstrument ist nur oral erklärlich.
In einer geradezu raffinierten Weise versteht es der Patient, die Frau immer
wieder zur Gebenden zu machen: er zahlt z. B. bei Prostituierten mit einer
größeren Geldnote und läßt sich den Rest heraus geben. (Zugleich ist dies eine
„magische Geste“.) Oder er provoziert durch sein Verhalten die Mutter zu Schimpf -
orgien: er bekommt Worte. Seine Geldkonflikte mit der Mutter sind ebenso zu
erklären. Seine ständige Klage, die Mutter gebe ihm kein Geld, resp. wenn sie es
gebe, gebe sie es ungern, sind als Verweilen auf der oralen Vorstufe des Geldinter¬
esses zu verstehen. In allem und jedem spielt er das kleine Kind, das erhalten,
gesäugt und ernährt werden muß. Er lebt in der ständigen Angst, die Mutter
könne ihn verhungern lassen, es ist eine Kastrationsangst auf oraler
Stufe. Seinen Lohn im Betriebe betrachtet er nicht als Äquivalent für die Arbeit.
Er behauptet nirgends, außer bei der Mutter, arbeiten zu können, es hänge nur von
der Mutter ab, ob er verhungern werde oder nicht. 24 Auch seine maßlose Ge¬
schwätzigkeit (Logorrhoe) ist oral determiniert („magische Geste“).
Auch sonst war beim Patienten das Vorherrschen oraler Triebelemdite in einem
geradezu grotesken Ausmaß feststellbar. Patient war ein großer Esser und Trinker.
Er mußte — auch außerhalb der Mahlzeiten — immer etwas lutschen, zuzeln,
saugen. Er rauchte 30 bis 40 Zigaretten täglich. Im Kaffeehause bestellte er stets
Soda mit Himbeer, wobei er mit Wonne am Strohhalm saugte. Jeden Gegenstand
nahm er in den Mund. Im Betrieb „kostete“ er ununterbrochen von den zu verar¬
beitenden Lebensmitteln. „Auf den Saft kommt es an“, war sein Motto. In diese
Gruppe gehören die Vorliebe für Zungenküsse (das Saugen des Speichels führte beim
Patienten — auch dort, wo er impotent war — zu einer sofortigen Erektion) und
Cunnilingus. Er haßte Prostituierte mit trockener Vagina, eine „nasse“ Vulva war
für ihn die Vorbedingung seines sexuellen Genusses. Aus diesem Grunde interessierte
er sich, soweit es ihm bewußt war, gar nicht für die Brust der Frau: „Da kommt
nichts heraus.“ Doch war das ursprüngliche Interesse nur verdrängt worden. Der
Patient war ein Flaschenkind gewesen und niemals an der Brust gelegen. Im Kino
bestand seine sexuelle Betätigung im Lutschen des Fingers seiner Partnerin. „Glaubst
du, daß da was herauskommt?“ fragte ihn bei einer solchen Gelegenheit eine seiner
Freundinnen lächelnd. — Diese Beispiele oraler Triebkonstitution ließen sich beliebig
vermehren. Immer wieder versucht Patient unbewußt die Mutterbrust zu erlangen,
er ist im wahrsten Sinne passiv, will immer nur aufnehmen. Die normale Erledigung
des Mammakomplexes ist in der Kindheit nur andeutungsweise versucht worden,
um nach der Regression vollkommen verlassen zu werden. Seine masochistischen
24) Dieser orale Pessimismus färbte auch auf die übrigen Ansichten des Patienten ab.
Den Fragenkomplex des oralen Pessimisten hat Verfasser in einer längeren Arbeit behandelt:
»Zur Problematik des oralen Pessimisten. Demonstriert an Ch. D. Grabbe.“ Erscheint in
»Psychoanalytische Bewegung“.
57 2 Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
Aktionen geschehen unter dem Druck des Wiederholungszwanges, um das Trauma
der Brustentziehung psychisch zu erledigen.
*
Auf Grund unserer Untersuchungen des Mammakomplexes ergeben sich
einige Gesichtspunkte, die sich auf die Probleme: A. Aktivität-Passivität
B. Angst des Mannes vor der Frau, C. Männlicher Penisstolz beziehen.
A. Aktivität und Passivität.
In der psychoanalytischen Literatur werden die Begriffe aktiv-passiv in
ganz verschiedenen, einander teilweise widersprechenden Bedeutungen ver¬
wendet: Das eine Mal im Sinne der von F r e u d in den „Drei Abhandlungen“
formulierten These, ein anderes Mal nach der grammatikalischen Bedeutung
und endlich auch im Sinne: aktiv = mehr, passiv = weniger Libido enthal¬
tend. Daraus ergibt sich eine Schwierigkeit wesentlicher Art.
Freud sagt in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (Ges. Sehr.,
Bd. V, S. 95): „Trieb ist immer aktiv, auch wenn er sich ein passives Ziel
gesetzt hat.“ In seiner letzten Arbeit „Uber die weibliche Sexualität (Int.
Ztschr. Psa., XVII, S. 329) wird die Formulierung wiederholt: „Die Psycho¬
analyse lehrt uns, mit einer einzigen Libido auszukommen, die allerdings aktive
und passive Ziele, also Befriedigungsarten, kennt.“
Versuchen wir diese Definition auf ein koitierendes Paar zu übertragen:
Der Mann gibt den Samen, das Triebziel und die Triebbefriedigung wird er¬
reicht, wenn der Samen das Subjekt verlassen hat und in das Objekt einge¬
drungen ist, ist zentrifugal vom Subjekt zum Objekt. Die Frau empfängt den
Samen des Mannes, Triebziel und Triebbefriedigung wird erreicht, wenn der
Samen das Objekt verlassen und das Subjekt erreicht hat. Die Richtung ist
zentripetal vom Objekt zum Subjekt. In diesem Beispiel ist der Mann aktiv, 25
die Frau passiv. Demnach wäre Trieb mit aktivem Ziel mit dem Worte
„gebe n“, Trieb mit passivem Ziel mit dem Worte „aufnehmen“ zu
klassifizieren. Tatsächlich wird diese Nomenklatur nicht eingehalten. In
„Triebe und Triebschicksale“ (Ges. Sehr., Bd. V, S. 453) sagt Freud: „Für
das aktive Ziel: quälen, beschauen wird das passive: gequält werden, beschaut
werden eingesetzt.“
25) Jekels machte 1913 in der Arbeit „Einige Bemerkungen zur Trieblehre“, Int.
Ztschr. f. Psa., I, 1913, S. 441, die Entscheidung über die Aktivität oder Passivität eines
Triebzieles von der Form des entsprechenden Organs abhängig. Federn („Beiträge zur
Analyse des Sadismus und Masochismus“, Int. Ztschr. f. Psa., I, 1913) hat die „spezifische
motorische Impulsität (Drang) des männlichen) Zeugungsgliedes“ her vor gehoben.
-
Der Mammakomplex des Mannes
573
Beim Quälen und Gequältwerden ergibt sich volle Übereinstimmung mit der
früheren These, bei Schauen und Beschautwerden ergeben sich aber Schwierig¬
keiten: Beim Exhibitionismus ist Triebziel und Triebbefriedigung erreicht,
wenn das Objekt den Anblick des Subjekts empfangen hat. Also ist die Rich¬
tung vom Subjekt zum Objekt verlaufend, der Exhibitionist gebend, aktiv.
Bei Schaulust ist Triebziel und Triebbefriedigung erreicht, wenn das Subjekt
den Anblick des Objekts empfangen hat. Also ist die Richtung vom Objekt
zum Subjekt verlaufend, der Voyeur nehmend, passiv.
Offenbar entsteht diese Schwierigkeit dadurch, daß das Wort aktiv und
passiv nicht im Sinne der von Freud formulierten analytischen Bedeutung
gebraucht, sondern nach der grammatikalischen Bedeutung verwendet wird.
Wir schlagen vor, zur Vermeidung von Mißverständnissen diese Begriffe
lediglich im Sinne der oben formulierten Bedeutung zu verwenden: a k t i v =
= geben, passiv — aufnehmen, wobeider Ausgangspunkt
die Situation: säugende Mutter — saugendes Kind ist.
Die grammatische Verwendung der Begriffe aktiv und passiv ist irreführend,
wie folgendes Beispiel zeigt: Das Subjekt gibt dem Objekt den Samen, also
ist das Subjekt aktiv, doch kann derselbe Tatbestand wie folgt ausgedrückt
werden: dem Subjekt wird der Samen entnommen. Hier wäre das Subjekt
passiv.
Manche Autoren verwenden aktiv und passiv in dem Sinne, daß die
Aktivität ein „mehr“, die Passivität ein „weniger“ an Libidoquantität be¬
deutet. So vor allem Ferenczi, ohne es expressis verbis zu sagen, im „Ver¬
such einer Genitaltheorie“. Die Bezeichnung ist irreführend. Mit aktiv und
passiv sollten lediglich die Triebziele, nicht aber die Quantität des Triebes
charakterisiert werden. Eine andere Verwendung würde bedeuten: aktiv =
= libidoenthaltend, passiv = ohne Libido.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Verwendung von aktiv und
passiv im Sinne von männlich und weiblich.
Freud sagt in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, Ges. Sehr.,
Bd. V, S. 95, Anmerkung i:
„Es ist unerläßlich, sich klar zu machen, daß die Begriffe ,männlich und weib¬
lich*, deren Inhalt der gewöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in der
Wissenschaft zu den verworrensten gehören und nach mindestens drei Richtungen
zu zerlegen sind. Man gebraucht männlich und weiblich bald im Sinne von Aktivi¬
tät und Passivität, bald im biologischen und dann auch im soziologischen Sinne.
Die erste dieser drei Bezeichnungen ist die wesentliche und die in der Psychologie
zumeist verwertbare. Ihr entspricht es, wenn die Libido oben im Text als männlich
bezeichnet wird, denn der Trieb ist immer aktiv, auch wo er sich ein passives Ziel
574 Edmund Bergler und Ludwig Eideiberg -
gesetzt hat. "Die zweite biologische Bedeutung von männlich und weiblich ist die
welche die klarste Deutung zuläßt. Männlich und weiblich sind hier durch die
Anwesenheit von Samen- resp. Eizelle und die von ihnen ausgehenden Funktionen
charakterisiert. Die Aktivität und ihre Nebenäußerungen, stärkere Muskelent
Wicklung, Aggression, größere Intensität der Libido, sind in der Regel mit der bio¬
logischen Männlichkeit verlötet, aber nicht notwendigerweise verknüpft, denn es
gibt Tiergattungen, bei denen diese Eigenschaften vielmehr dem Weibchen zugeteilt
sind. Die dritte soziologische Bedeutung erhält ihren Inhalt durch die Beobachtung
der wirklich existierenden männlichen und weiblichen Individuen. Diese ergibt für
den Menschen, daß weder im biologischen noch im psychologischen Sinne eine reine
Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr
eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen
des anderen Geschlechtes und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf
sowohl insofern diese psychischen Charakterzüge von den biologischen abhängen,
als auch insoweit sie unabhängig von ihnen sind.“
In der gleichen Arbeit sagt F r e u d (S. 94):
„Ja, wüßte man den Begriffen ,männlich und weiblich' einen bestimmten Inhalt
zu geben, so ließe sich auch die Behauptung vertreten, die Libido sei regelmäßig
und gesetzmäßig männlicher Natur, ob sie nun beim Manne oder beim Weibe vor¬
komme und abgesehen von ihrem Objekt, mag dies der Mann oder das Weib sein.“
Wir haben vorhin auf das Beispiel des koitierenden Paares die Begriffe
aktiv und passiv angewendet. In diesem Falle entspricht die bisherige Nomen¬
klatur den Tatsachen. Eine Änderung tritt aber ein, wenn wir uns einem an¬
deren Beispiele zuwenden: der Mutter und dem saugenden Kind. Hier ist
Triebziel und Triebbefriedigung der Mutter erreicht, wenn ihre Milch vom
Säugling aufgenommen wird. Die Richtung ist vom Subjekt zum Objekt ver¬
laufend, die Mutter ist gebend, also aktiv. Triebziel und Triebbefriedigung des
Säuglings wird erreicht, wenn die Milch der Mutter von ihm aufgenommen
wird, die Richtung ist vom Objekt zum Subjekt verlaufend, der Säugling
nimmt auf, ist also in dieser Situation passiv.
Die Überlegung, daß jeder Mann einmal auch Säugling und jede Frau
(potentiell) auch Mutter ist, beweist, daß der Satz: aktiv ist gleich männlich,
passiv ist gleich weiblich, nicht zutreffen kann. 26 Da die Psychoanalyse nicht
die Psychologie des erwachsenen Menschen, sondern die des ganzen Lebens ist,
erscheint der Vorschlag einer Korrektur der bisherigen Nomenklatur zulässig.
In seiner letzten Arbeit „Über weibliche Sexualität“ (Int. Ztschr. f. Psa.,
XVII, S. 327) schreibt Freud:
26 ) Siehe dazu Helene Deutsch : „Der feminine Masochismus und seine Beziehung
zur Frigidität.“ Int. Ztschr. f. Psa., XVI, 1930, S. 182: „Kein analytischer Beobachter
kann leugnen, daß im Mutter-Kind-Verhältnis, begonnen in der Schwangerschaft, fortgesetzt
im Geburtsakt und in der Laktation, libidinöse Kräfte im Spiel sind, die dem Verhältnis
Mann-Weib ganz nahe verwandt sind.“
_ Der Mamm akomplex des Mannes 575
„Die Bevorzugung des Spiels mit der Puppe beim Mädchen im Gegensatz zum
Knaben wird gewöhnlich als Zeichen der früh erwachten Weiblichkeit aufgefaßt.
Nicht mit Unrecht, allein man soll nicht übersehen, daß es die Aktivität der Weib¬
lichkeit ist, die sich hier äußert, und daß diese Vorliebe des Mädchens wahrschein¬
lich die Ausschließlichkeit der Bindung an die Mutter bei voller Vernachlässigung
des Vaterobjektes bezeigt.“
Dieser Hinweis gestattet, die Konsequenzen der vorgeschlagenen
Nomenklatur zu verfolgen. SieliegeninderpräödipalenPha se
des Mädchens und des Knaben, also in der Zeit der
Mutterbindung und ihrerFolgen. Wir erkennen, daßdie
Identifizierung mit der präödipalen Mutter (p h a 1 li¬
sch e n Mutter) zur aktiven Betätigung führt.
Zusammenfassend meinen wir: Trieb mit aktivem Ziel = ge¬
ben, Trieb mit passivem Ziel = aufnehmen.
B. Die Angst vor der Frau.
In der analytischen Literatur ist die Angst des Neurotikers vor der Frau
auf Grund von zahlreichen Analysen beschrieben worden. Versuchen wir nun,
die bisherigen Ergebnisse schematisch zur leichteren Übersicht zu ordnen: Die
Angst vor der Frau tritt bei allen möglichen Neurosen auf, ist einmal dem
Patienten schon vor Beginn der Behandlung bewußt oder wird — was häufiger
ist — Laufe der Behandlung bewußt gemacht. Diese Angst wird unbewußt
in Zusammenhang mit der Vagina gebracht. Dort, wo die Angst bewußt ist,
wird sie manchmal mit realen Gefahren, wie Geschlechtskrankheiten, Schwän¬
gerung der Frau usw., begründet. Die Analyse zeigt aber, daß hinter diesen
realen Gründen regelmäßig irreale, unbewußte Gründe vorhanden sind, welche
die Intensität dieser Angst und ihre Unkorrigierbarkeit, es sei denn durch
Analyse, bedingen. Diese Gründe sind nur genetisch zu verstehen, sie stammen
aus den ersten Lebensjahren des Patienten. Damals waren sie real, sie wurden
aus dem Bewußtsein verdrängt, der Kritik und der Beeinflussung durch das
Ich entzogen. Gelingt es in der Analyse, sie bewußt zu machen und lange Zeit
durchzuarbeiten, so verlieren sie ihre angsterregende Wirkung.
Das Vorhandensein der Vagina ist dem Knaben zunächst unbekannt, ihre
Entdeckung bedeutet, sobald sie zur Kenntnis genommen wird, immer eine
peinlich-angstvolle Überraschung. „Damit ist auch der eigene Penisverlust
vorstellbar geworden, die Kastrationsdrohung gelangt nachträglich zur Wir¬
kung/* (Freud, Ges. Sehr., Bd. V, S. 425.)
Die Gruppierung der Angst vor der Vagina erfolgt am besten im Zu-
57*
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
sammenhang mit den Entwicklungsphasen: In der phallischen Phase fürchtet
das männliche Kind den Verlust seines Penis, die Vagina wirkt als kastriertes
Organ, als Mahnung und Zeichen der vollzogenen Strafe. Die Intensität dieser
Wirkung wird erklärt durch die Tatsache, daß das Kind in diesem Zeitpunkte
bereits eine Reihe von ähnlichen Strafen an seinem eigenen Körper hat er¬
dulden müssen, auf der analen Stufe die Abtrennung des Darminhaltes, auf
der oralen die Brustentziehung, möglicherweise wirkt auf der embryonalen im
gleichen Sinne die Ausstoßung aus dem Mutterleib und die Durchtrennung der
Nabelschnur. So bedeutet die Vagina, auf die anale Stufe bezogen, wieder ein
kastriertes (seines Darminhaltes beraubtes) Organ, auf der oralen Stufe da¬
gegen den Mund, dem die Brust entzogen wurde , 27 auf der embryonalen hypo¬
thetischerweise die Mutter, die das Kind ausgestoßen hat.
Die Vagina ist aber nicht nur ein kastriertes, sondern auch kastrierendes
Organ. Die Loslösung vom Mutterleib war mit unangenehmen Sensationen ver¬
knüpft, der eigene Mastdarm hat zögernd und ungerne seinen Inhalt preis¬
gegeben, der Mund wollte auf die Brust nicht verzichten; der rohen Gewalt
mußte das Kind weichen, aber die Feindseligkeit und der Wunsch auf Wieder¬
herstellung ist geblieben.
Schematisch dargestellt ergäbe dies folgende Bedeutungen der Vagina für
das Unbewußte des Knaben:
Phallische Stufe: Kastriertes Organ: Das Fehlen des Penis wirkt als Zei¬
chen und Beweis für die Realität der
Kastrationsdrohung.
Kastrierendes Organ: An Stelle des fehlenden Penis wird
die Vagina den eigenen Penis rauben.
Anale Stufe: Kastriertes Organ: Unbewußte Erinnerung an den eige¬
nen des Darminhaltes beraubten
Anus.
Kastrierendes Organ: Unbewußte Erinnerung an die eigene
Aggression bei der Abwehr der Ab¬
trennung des Darminhalts.
Orale Stufe: Kastriertes Organ: Erinnerung an den eigenen
Mund, dem die Brust ent¬
zogen wurde.
27) In F e r e n c 2 i s „Versuch einer Genitaltheorie“ wird die Vermutung ausgesprochen,
daß das strenge Verbot der Juden, „Fleischiges“ und „Milchiges“ gleichzeitig zu essen, nur
eine Einrichtung sei, die die Entwöhnung sichern soll. (S. 30.)
Der Mammakomplex des Mannes 577
Kastrierendes Organ: Erinnerung an die Aggres¬
sion des Mundes vor und
während der Entwöh-
n u n g . 28
Diese Gefahren würden wohl ausreichen, um eine endgültige Abwendung
von der Vagina zu erzielen, wenn im Patienten selbst nicht eine Tendenz
wäre, die ihn immer wieder in Berührung mit der Gefahr bringen würde.
Diese Tendenz, bezw. dieser Trieb hat auf der genitalen Stufe ein aktives
Triebziel: Eindringen des Penis und Ausstoßung des Samens in die Körper¬
höhle der Frau. Auf der analen und oralen Stufe ist das Triebziel vorwiegend
passiv: Aufnahme der Kotstange und der Mutterbrust.
Für eine Reihe von Menschen gibt es in dieser Situation nur einen Ausweg,
das ist die Flucht in die Neurose. Sie setzt die Patienten in die Lage, mit rela¬
tiv wenig Angst weiterzuleben, allerdings muß dafür ein hoher Preis bezahlt
werden, der sich im Verzicht auf die Genüsse der Realität äußert.
Es ist ein Problem, wie der Gesunde den oben geschilderten Gefahrsitua¬
tionen begegnet, die sich zwangsläufig im Laufe der Entwicklung ergeben, ohne
die Flucht in die Neurose zu ergreifen. Der Gesunde kann ohne Angst an die
Befriedigung seines Triebes schreiten. Er kann es tun, weil er zum Unter¬
schiede vom Neurotiker alle Entwicklungsstufen passiert hat, ohne daß Fixie¬
rungen oder Regressionen stattgefunden haben. Deshalb sind die überwun¬
denen Gefahrsituationen nur in quantitativ schwachem Ausmaße vorhanden.
Wenn diese Behauptung stimmt, müßten wir auch beim Gesunden eine aller¬
dings schwächere Angst vor der Frau finden. Karen H o r n e y, die als erste
in der analytischen Literatur das Problem auf gezeigt hat, zitiert Groddeck
(„Natürlich hat der Mann Angst vor der Frau“), und meint, daß es eigentlich
merkwürdig ist, daß diese Angst so wenig erkannt und beachtet wurde. In
ihrer Arbeit „Die Angst vor der Frau“ sucht sie zunächst das Vorhandensein
dieser Angst zu beweisen. Sie findet sie in der Kunst, in der Wissenschaft, in
der Kultur und Religion und schließlich auch in allen Analysen ihrer männ¬
lichen Patienten. Wir stimmen bezüglich der Tatsache der Angst vor der Frau
mit H o r n e y überein und sind der Ansicht, daß das vorgebrachte Material
28) Wollte man bis auf die embryonale Stufe zurückgehen, ergäbe dies folgende Ergän¬
zung der unbewußten Bedeutung der Vagina:
Embryonale Stufe: Kastriertes Organ: Unbewußte Erinnerung an die Mutter, die das
Kind ausgestoßen hat.
Kastrierendes Organ: Erinnerung an die unlustvollen Sensationen wäh¬
rend der Geburt.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XIX—4
37
5 78 Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
noch einer eingehenden Erweiterung bedarf. Dagegen können wir uns den
zweiten Teil der Arbeit, in dem die Erklärung dieser Tatbestände versucht
wird, nicht zu eigen machen. Die dort angegebene Formulierung: „Die ur¬
sprüngliche Angst des Mannes vor dem Weibe ist keine Kastrationsangst, son¬
dern eine Reaktion auf die Bedrohung seines Selbstgefühls“, erscheint uns
vom analytischen Gesichtspunkte nicht haltbar. Selbstverständlich finden wir
in unseren Analysen Angstinhalte, wie sie H o r n e y aufzeigt („Der Knabe
dagegen, der fühlt oder instinktiv abschätzt, daß sein Penis viel zu klein ist
für das mütterliche Genitale, reagiert mit Angst, nicht zu genügen, abgewiesen,
ausgelacht zu werden“), doch glauben wir nicht, daß dies die letzten entschei¬
denden Gründe seines Verhaltens sein können. Wir meinen, daß diese zum
Teil im Kastrationskomplex, zum Teil im Mammakomplex zu finden sind.
Wir sind der Ansicht, daß die Angst vor der Frau beim Gesunden dieselben
Gründe hat wie beim Neurotiker , 29 daß sie aber quantitativ geringer ist und
29) C. D. Daly bringt in seiner ausgezeichneten Arbeit: „Hindu-Mythologie und
Kastrationskomplex“ eine Reihe interessanter Beobachtungen. Es ergeben sich Zweifel an
der Behauptung D a 1 y s, daß die Charakterzüge der Hindu fast ausschließlich dem analen
Reaktionstypus angehören. Gerade auf Grund seiner Arbeit kann vermutet werden, daß
die orale Komponente mindestens genau so wichtig ist. Eine Reihe von Gebräuchen be¬
weisen, daß die Hindus von einem sehr heftigen, unbewußten Haß gegen die Frau
beherrscht werden: ,,a) Mädchenmord; b) Sati. Die Sitte, nach welcher die Weiber
der Hindu sich selbst auf dem Begräbnishaufen ihrer Männer opfern müssen;
c) J o h u r. Eine Sitte, nach der die Hindu bei Kriegen der Stämme untereinander eher
ihre Weiber selbst opfern, als sie Gefahr laufen zu lassen, durch den Feind befleckt zu
werden.“ (S. 9.) Die andere Seite dieses Hasses ist die große Verehrung der Kuh als
eines heiligen Tieres, das nicht getötet werden darf, und der Göttin des Schreckens
und der Zerstörung Kali. Es handelt sich hier um eine Muttergottheit, die, nach einer in
„Totem und Tabu“ geäußerten Vermutung Freuds, vielleicht allgemein den Vatergott¬
heiten vorangegangen ist. Man könnte die Vermutung vertreten, daß dieser große Haß und
die Angst vor der Frau ähnlich dem Haß und der Angst unserer Patienten aufgebaut sind,
also in Zusammenhang mit der oralen Stufe zu bringen wären. Folgende Stellen der Arbeit
D a 1 y s sprechen für diese Vermutung. Im Mythos vom Knaben Vicha-Rasarman
heißt es: „Der Knabe gießt Milch auf das Symbol des S i w a.“ Vielleicht dürfen wir dies als
Bestätigung ansehen für die Übertragung früherer Libidobefriedigung von der Brustwarze
zum Penis... „Die Ohren können so entweder den Anus oder die Vagina symbolisieren
im Sinne der Verschiebung von unten nach oben, obwohl der Mund noch öfters Symbol der
Vagina ist.“ (S. 33)... „In der hinduistischen Mythologie wird das Kuheuter oft als Leben
enthaltend dargestellt, das sich a) auf die assoziative Verbindung zwischen Milch, Samen
und Urin bezieht, b) auf die Tatsache, daß beide einem hervortretenden Körperteil ent¬
springen, c) auf die Kuh als Symbol der Frau mit dem Penis, d) auf die natürliche Asso¬
ziation von Euter und Brustwarze.“ (S. 35.)
Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang ganz allgemein auf die lebensverneinende
und die Triebunterdrückung erstrebende Einstellung der Hindu hinweisen. Die Neigung zum
Hungerstreik, wie sie in letzter Zeit als Waffe gegen den Fremden bei Vertretern dieses
r
I
Der Mammakomplex des Mannes 579
den befriedigenden Koitus nicht verhindert. Die Angst ist geringer, weil die
Libido des Gesunden die Entwicklungsstufen ohne größere Fixierungen
passiert hat und weil keine Regressionen stattgefunden haben. Doch wird
diese geringe Angst nicht ohne weiteres vom Gesunden überwunden. Da wir
über kein entsprechendes Material (Analysen Gesunder) verfügen, können wir
auf dieses Problem nur hinweisen. Die Beobachtungen an nicht analysierten
Gesunden gestatten die Vermutung, daß auch hier Angst vor der Frau vor¬
handen ist und daß erst der gelungene Koitus, offenbar dadurch, daß damit
die gefürchtete Situation aufgesucht und ohne Schaden verlassen wurde, diese
Angst lost. F e r e n c z i (Versuch einer Genitaltheorie, S. 43) sagt:
„ ... man könnte meinen, daß der Geschlechtsakt als Tendenz zur vollen Los¬
lösung des Genitales, also als eine Art Selbstkastrationsakt beginnt, dann aber
sich mit der Loslösung des Sekretes begnügt. <c
Der gesunde Mann hat die genitale Stufe erreicht, hier bedeutet Vagina
nur ein Organ, das seinen Samen aufnimmt. Im Koitus gelingt es endlich dem
Mann, in der Identifizierung mit der phallischen Mutter, durch aktive Re¬
produktion des passiv Erlebten das Entwöhnungstrauma psychisch zu be¬
wältigen, wobei er die Frau zum Kinde macht. Durch Verzicht auf den
Samen hat er sozusagen den Penis gerettet. Hier hat der vom Todestrieb
stammende Anteil des Triebgemisches bereits eine so weitgehende Änderung
erfahren, daß seine Befriedigung ohne Gefahr für das Individuum stattfinden
kann. Nur der Neurotiker glaubt, daß der Samenverlust schädlich ist, weil
er an der Identität von Penis und Samen festhält.
C. Der Penisstolz des Knaben.
Die psychoanalytische Auffassung des Penisstolzes beim Knaben besagt,
daß der Knabe narzißtisch seinen Penis mit Libido besetzt und mit Verachtung
auf die penislosen, das heißt kastrierten Mädchen herabsieht, wobei im Penis¬
stolz die Elemente der Abwehr der Kastrationsangst mitenthalten sind.
Freud (Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds.
Ges. Sehr., Bd. XI, S. 12) formuliert:
„Ein interessanter Gegensatz im Verhalten beider Geschlechter: Im analogen
Falle, wenn der kleine Knabe die Genitalgegend des Mädchens zuerst erblickt, be-
Volkes beobachtet werden konnte, scheint ebenfalls dazuzugehören. Die Einrichtung des
emtruationstabus, das nach Ansicht von D a 1 y, mit der wir übereinstimmen, durch den
Mann aufgerichtet und der Frau aufgezwungen wurde, scheint uns der Ausdruck des Hasses
und der Angst zu sein, die der oralen Stufe angehören.
Wir erinnern an die Stelle im täglichen Morgengebet der Juden, in dem der Gläubige
seinem Schöpfer dafür dankt, daß er ihn nicht als Frau geschaffen hat.
37*
-
j8o Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
nimmt er sich unschlüssig, zunächst wenig interessiert; er sieht nichts oder er ver¬
leugnet seine Wahrnehmung, schwächt sie ab, sucht nach Auskünften, um sie mit
seiner Erwartung in Einklang zu bringen. Erst später, wenn eine Kastrations¬
drohung auf ihn Einfluß genommen hat, wird diese Beobachtung für ihn bedeutungs¬
voll werden; ihre Erinnerung oder Erneuerung regt einen fürchterlichen Affekt¬
sturm in ihm an und unterwirft ihn dem Glauben an die Wirksamkeit der bisher
verlachten Androhung. Zwei Reaktionen werden aus diesem Zusammentreffen her¬
vorgehen, die sich fixieren können und dann jede einzelne oder zusammen mit
anderen Momenten sein Verhältnis zum Weibe dauernd bestimmen werden: Abscheu
vor dem verstümmelten Geschöpf oder triumphierende Geringschätzung desselben.“
Nun meinen wir, daß der Penisstolz, den man bei jedem Mann kon¬
statieren kann, selbst schon sekundär und kompensatori¬
scher Natur ist: der erste Penis, der dem Knaben geraubt wurde, war
die Mutterbrust. Der Knabe entdeckt im eigenen Penis
einen Ersatz für die Mutterbrust und wiederholt nun
aktiv, was er an der Mutterbrust passiv erlebte. Die
Ursache dieser Wiederholung ist der unbewußte Wiederholungszwang zum
Zwecke der psychischen Bewältigung des Entwöhnungstraumas. Die Frage,
ob diese Überleitung erfolgt oder unterbleibt, ob also der Penis als vollwertiger
Ersatz der Mutterbrust akzeptiert wird, ist von weitesttragender Bedeutung. 30
Die Lust am Urinstrahl, das Demonstrieren und Betasten des Penis, all
das, was sich im erweiterten Sinne um den Penisstolz gruppiert, ist letzten
Endes für den Knaben die Bestätigung der Tatsache: Ich habe die
Mutterbrust (= mütterlicher Phallus) nicht verloren,
habe im Penis selbst eine. 31 Die Abwehr des penislosen Weibes
ist somit nicht nur Abwehr der Kastrationsangst des Knaben auf der phalli-
schen Stufe, sie erhält die entscheidenden Elemente vom Mammakomplex. Es
wäre zu untersuchen, ob nicht vieles von dem, was in der analytischen
Literatur unter der Marke „Sich nicht-abfinden-können mit der Penislosigkeit
der Frau“ figuriert, zutiefst auf den Mammakomplex zurückgeht. Dabei
meinen wir nicht ein vages „Gefärbtsein“ (F e n i c h e 1 ) im historischen Sinne
— wie etwa die für uns heute bedeutungslose Tatsache, daß vor den Flabs¬
burgern die Babenberger regierten —, sondern vertreten die Ansicht, daß
30) Nach Abschluß dieser Arbeit finden wir in der vor kurzem erschienenen „Neuen
Folge der Vorlesungen“ Freuds folgende Stelle, die wir als Beleg für unsere Annahme
verwenden zu dürfen glauben: „Ein großes Stück Analerotik wird so in Penisbesetzung
übergeführt, aber das Interesse an diesem Körperteil hat außer der analerotischen eine
vielleicht noch mächtigere orale Wurzel, denn nach der Einstellung des Saugens erbt er
Penis auch von der Brustwarze des mütterlichen Organs.“ (S. 139.)
31) Man könnte auch sagen: Im Penisstolz des Knaben sind Elemente der Verleugnu g
des Mammaverlustes enthalten.
Der Mammakomplex des Mannes
S«x
da s Erledigen des Mammakomplexes auf dem oben geschil¬
derten Wege die erste Voraussetzung psychischer Ge¬
sundheit für den Mann darstellt. Denkt man diesen Ge¬
danken durch, so gelangt man zum Resultat, daß die Stärke der Kastrations¬
angst zu wichtigen Teilen auch von der präödipalen Mutterbindung abhängt,
respektive von der Tatsache, ob der Penis als voller Ersatz der Mamma
(mütterlicher Penis) akzeptiert wurde oder nicht.
Der Penisneid des Mädchens entstünde nach dieser Auffassung dadurch,
daß das kleine Mädchen am eigenen Körper keinen Penis als Mammaersatz
vorfindet, respektive nur eine „verstümmelte“ Klitoris. Es wäre eine müßige
Doktorfrage, wie sich der Penisneid des Mädchens entwickeln würde, wenn
es die vollausgebildeten Brüste nicht erst im Pubertätsalter
bekäme.
Es ist interessant, daß Karen H o r n e y, die seit zehn Jahren gegen das
Primat des Penis für den weiblichen Kastrationskomplex ankämpft, die ent¬
scheidende Wichtigkeit des Mammakomplexes entgangen ist und daß die
Autorin höchst unbestimmt vom Neid des Knaben auf die Frau spricht und
offenbar annimmt, daß der Knabe der Frau alles, aber auch alles neide. Das
Hauptargument Horneys besteht darin, daß ein bewußtseinsnaher Penis¬
neid beim Mädchen dazu dient, den verdrängten Ödipuskomplex abzuwehren.
Freud hat den präödipalen Penisneid beschrieben, der rein narzißtisch
ist und den weiblichen Ödipuskomplex erst einleitet und ermöglicht, während
Horney die Verwendung des Penisneides im Dienste der Abwehr meint.
Unsere Annahme bezieht sich auf die Vorgeschichte des präödipalen Penis¬
neides.
Vom Standpunkt des Mammakomplexes aus gesehen, erhält der Ausspruch
Freuds, „Er (der Knabe) benimmt sich, als ob ihm vorschwebte, daß dieses
Glied größer sein könnte und sollte“, eine weitere Fundierung: es handelt sich
um den Vergleich des Penis des Knaben mit der als Riesenpenis empfundenen
Mutterbrust. Es ist auch klar, weshalb in Phantasien, Träumen und neuroti¬
schen Ängsten so häufig die Frau mit dem Penis (als phallische Mutter) und
als Kastratorin erscheint und immer wieder zutiefst die Mutter für den
Penismangel, respektive die Kleinheit des Penis verantwortlich gemacht wird.
Daraus ergibt sich auch, weshalb der Haß der am Mammakomplex Fixierten
in tiefster Schicht immer wieder der Mutter gilt: sie hat durch die Brust¬
entziehung kastriert, das heißt „enttäuscht“. Deshalb fällt auch die ganze
Entwicklung des Ödipuskomplexes viel schwächer aus: die „Restanzen“ aus
dem Mammakomplex lassen den Ödipuskomplex sich nicht voll entfalten.
582
Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg
Zusammenfassung.
1. Für die Gesamtheit der Reaktionen, die als Folge der Brüstentwöhnuno i n
der Psyche entstehen, wird die Bezeichnung „Mammakomplex“ vorgeschlao-en
2. Bei einer Gruppe von Patienten (es werden in dieser Arbeit lediglich
Männer untersucht) ist der Mammakomplex quantitativ stärker ausgebildet
Diese Patienten zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus:
a) Intensiver Haß gegen die Mutter.
b) Orale Charakterzüge (z. B. Gier nach Essen, Lutschen, Saugen, Beißen
Trinken, respektive Reaktionen und Kompensationen) mit hypothetischer
oraler Triebkonstitution.
c) Der Haß gegen den Vater fällt quantitativ schwächer aus.
d) Das Interesse für die Brust ist verdrängt.
e) Erhöhter sekundärer Narzißmus.
f) Erhöhte Neigung zur Identifizierung.
3. Besprechung der Folgen der Brustentziehung. Aufstellung der Theorie,
derzufolge das männliche Kind im eigenen Penis einen Ersatz für die ver¬
mißte Mutterbrust findet und als Wiederholungszwang wie im kindlichen
Spiel aktiv wiederholt, was es passiv erlebt hat. An Stelle der passiven Auf¬
nahme der Muttermilch ist das Kind durch die psychische Besitzergreifung
des Penis zum aktiven Spender von Urin (Urin = Milch) geworden; der
Zweck dieser Wiederholung ist das psychische Bewältigen des Entwöhnungs¬
traumas und Aufrechterhalten der gefährdeten kindlichen Allmacht.
4. „Untergang“ des Mammakomplexes: Normalerweise muß der Penis
vom Unbewußten als Penis perzipiert werden, wenn er auch psychologisch¬
genetisch die Mutterbrust darstellt. Bei den am Mammakomplex fixierten oder
zu ihm regredierten Männern behält der Penis die Bedeutung der Brust und
begnügt sich nicht mit der psychologisch-genetischen Bedeutung, oder wird
durch ein Symptom ersetzt, oder das Festhalten an der phallischen Mutter¬
brust äußert sich in einer Perversion. Die Vagina muß normalerweise ein Auf¬
nahmeorgan für Glied und Samen sein, wenn sie auch psychologisch-genetisch
den Mund darstellt. Bei den am Mammakomplex fixierten oder zu ihm
regredierenden Männern wird die Vagina nicht nur in psychologisch-
genetischer Hinsicht als Mund aufgefaßt, sondern wirklich als Mund, der un¬
bewußt an die eigenen aggressiven Impulse gegen die Mutterbrust erinnert
(wobei die daraus resultierende Angst entweder bewußt ist oder hinter einem
scheinbaren Desinteressement verborgen bleibt), oder die Vagina birgt einen
supponierten weiblichen Penis.
Der Mammakomplex des Mannes
58 3
5. Kritik der bisherigen Verwendung der Begriffe „Aktiv-Passiv“ und Vor¬
schlag einer exakten Definition im Sinne: aktiv = geben, passiv = aufnehmen.
6 . Die Angst vor der Frau wird unter anderem auf das Trauma der Brust¬
entwöhnung zurückgeführt.
7. Auf zeigen der sekundär-kompensatorischen Momente beim Penisstolz des
Knaben und Zurückführen derselben auf den Mammakomplex.
8. Darstellung dreier Krankengeschichten als Paradigmen, in welchen ein
Typus von Homosexualität und ein Typus des Schreibkrampfes auf den
Mammakomplex zurückgeführt werden (unter besonderer Berücksichtigung
der oralen Komponente des Bettnässertums), an einem dritten Falle von
Pseudodebilität wird der Mammakomplex als pathognomisch für die Pseudo¬
debilität angenommen. — Der therapeutische Effekt trat in allen drei Fällen
erst nach Durcharbeitung des Mammakomplexes ein.
Ober d en Kysterisdien Anfall
Von
M. Wulff
TeI=Aviv
Die Bewegungssprache .
Über den psychologischen Inhalt der hysterischen Anfälle hat uns Freud
schon vor Jahren Aufklärung gegeben. Er hat bewiesen, daß diese Anfälle
„nichts anderes sind, als ins Motorische übersetzte, auf die Motilität proji¬
zierte, pantomimisch dargestellte Phantasien“. 1 Bei der Analyse solcher An¬
fälle kann man leicht feststellen, daß neben den Phantasien nicht selten auch
wirkliche, wenn auch oft phantastisch ausgeschmückte Erlebnisse im Anfall
motorisch zum Ausdruck kommen, wiederholt und agiert werden. Dafür
spricht nicht nur das allerdings dem Inhalt nach ziemlich unzuverlässige,
aber dem subjektiven Gefühl nach oft durchaus sichere Erinnern und Erkennen
des im Anfall Erlebten durch den Patienten, wenn man den Vorgang des An¬
falls deutet und analysiert, sondern auch die Tatsache, daß die Patienten
während der Deutungsarbeit und auch später sich an viele weitere, im Anfall
nicht wiederholte oder nicht angedeutete Details des Milieus, der Kleidung
usw. erinnern können. Manchmal können nach einem Anfall ganze Perioden
im Leben des Kranken, die bis dahin der Amnesie verfallen waren und im
Anfall zuerst aufgerollt oder berührt wurden, schon im normalen Zustand
mit einer erstaunlichen Genauigkeit, Klarheit und Deutlichkeit in der Erin¬
nerung wieder auftauchen. Übrigens ist auch Kräpelin der Ansicht, daß
es „vielfach wirkliche Vorkommnisse sind, die sich mit allen Einzelheiten in
der Einbildung des Kranken wiederholen“. Damit ist aber noch nicht das
Phänomen selbst erklärt, weder das für den Anfall typische motorische Dar¬
stellen, noch die pantomimische Art der Darstellung.
i) S. Freud: Allgemeines über den hysterischen Anfall. Ges. Sehr., Bd. V, S. 255.
Über den hysterischen Anfall 585
Eine in psychoanalytischer Behandlung stehende Patientin (A) teilt mir mit, daß
sie vor Jahren während einer hypnotischen Behandlung eigenartige Zustände be¬
kommen hatte , 2 in denen sie Bestimmtes erlebte, merkwürdige Bewegungen dabei
ausführte, nachher aber nichts von dem Erlebten wußte. Eines Tages, während der
analytischen Stunde, hört sie plötzlich auf zu reden, bleibt eine kurze Zeit ganz
ruhig und unbeweglich liegen; ihre Augen schließen sich, sie schläft scheinbar ein
und — nach einigen Minuten — bekommt sie einen Anfall, in dem sie in charakte¬
ristischer Weise pantomimisch ein Erlebnis vorführt. Dem folgte eine lange Reihe
von ähnlichen Anfällen, die täglich in der Stunde auftraten. Die weitere Analyse
bestand im Bewußtmachen des Inhaltes dieser Anfälle. Das geschah zu Anfang so,
daß ich mir jede Bewegung, Geste, Äußerung der Patientin nach Möglichkeit merkte
und notierte und sofort nach dem Erwachen ihr das Beobachtete schilderte, und
sie veranlaßte, mit Hilfe von Einfällen zu deuten und zu erklären, was sie wohl
dabei erlebt haben könnte. Anfangs gelang es ihr nur mit schwerer Mühe. Sie
mußte dabei selbst alle Bewegungen und Gesten ausführen und manchmal dieselbe
Bewegung mehrere Male wiederholen, bis ihr Sinn und Inhalt auftauchten. Dabei
stellte sich heraus, daß die einmal in Gang gesetzte Teilbewegung einer kompli¬
zierten Handlung von der Patientin nicht mehr aufgehalten werden konnte, son¬
dern aufs genaueste wiederholt werden mußte und selbst der Versuch unmöglich
war, mit Absicht die Bewegung irgendwie willkürlich zu beeinflussen, sie im Sinne
einer vermuteten Deutung oder sonst zu ändern. Die Bewegungen behielten diesen
zwanghaften Charakter, solange der Sinn und die richtige Deutung von der Pa¬
tientin nicht erfaßt waren. Erst nach der richtigen Deutung fiel das Zwanghafte in
den Bewegungen weg. Diese Fähigkeit, die Bewegung bei Erhaltung des Bewußt¬
seins zu wiederholen und zu deuten, hatte die Patientin aber nur gleich nach dem
Erwachen. Dann schwand die Fähigkeit schnell, zusammen mit der Erinnerung an
den Anfall, wenn dieser nicht analysiert wurde.
Im weiteren Verlauf der Behandlung änderte sich allmählich das Bild. Schon
nach einigen analytischen Sitzungen begann die Patientin während des Agie¬
re ns auch zu sprechen, die pantomimische Vorstellung verwandelte sich allmäh¬
lich in eine dramatische und zu gleicher Zeit verlor die Bewußtseinstrübung immer
mehr an Tiefe; Patientin wachte schon bei leichten Geräuschen auf, schlief aber
gleich wieder ein. Es hat sich also gezeigt, daß die Bewußtseinsveränderung um so
tiefer ist, je mehr bloße Bewegungen ohne Sprache in den Vordergrund treten.
Außerdem waren die ausgeführten Gesten und Bewegungen nicht nur Wieder¬
holungen von schon früher einmal ausgeführten Handlungen, sondern sie wurden
eine richtige symbolische Gestensprache, in der auch Gegenstände und Ereignisse
geschildert werden konnten. So führte die Patientin z. B. in einem Anfall wieder¬
holt sonderbare Bewegungen mit beiden Händen aus, als ob sie einen runden Ge¬
genstand umfassen und ihn in die Länge ziehen wollte. Die Deutung dieser Bewe¬
gung machte zuerst große Schwierigkeiten, und gelang erst, nachdem der Patientin
2) Es stellte sich nachher heraus, daß diese Angabe ergänzungsbedürftig war, indem
nämlich Patientin schon im Alter von 8 bis 10 Jahren hypnoide Zustände mit Bewußtseins¬
trübung gehabt hat.
p
586 M. Wulff
eine Zeichnung einfiel, die sie seit Jahren immer zwanghaft zu machen pflegte
wenn sie allein im Zimmer war und Papier und Bleistift in die Hand bekam. Sie
skizzierte sofort die Zeichnung und dann fiel ihr auch der Sinn des Gezeichneten
ein und zugleich auch der Sinn der Handbewegungen im Anfall. In diesem Anfall
handelte es sich um ein (wirkliches oder teilweise phantasiertes?) Erlebnis in einem
Pferdestall. Patientin, damals 4 bis 5 Jahre alt, beobachtete ganz dn der Nähe das
Urinieren eines Hengstes und war dabei von der Größe seiner Hoden und seines
Penis überrascht. Die Bewegung der Hände im Anfall ebenso wie die Zeichnung
stellten die Genitalien des Hengstes dar. (Siehe nachstehende Zeichnung.)
Ein anderes Mal kündigte sich z. B. das Auftauchem einer Erinnerung an einen
Frosch im Anfall durch eine zwanghaft angenommene sonderbare Stellung der
Hand an, die in einer merkwürdig charakteristischen Weise die Froschpfote nach¬
ahmte. Nach dem Anfall aber konnte Patientin mit aller Mühe die eigenartige Stel¬
lung der Hand nicht wieder hersteilen.
Mit welcher mathematischen Genauigkeit die Bewegungen dabei wieder¬
holt werden, soll der folgende Fall zeigen:
Eine andere Patientin (B) legte sich im hysterischen Anfall im „anderen“ Bw-
Zustand auf den Bauch und führte mit der rechten Hand Bewegungen aus, als ob sie
schreiben würde. Ich lege ihr ein Blatt Papier vor, sie nimmt es aber sichtlich nicht
wahr. Ich muß die Hand direkt auf das Papier hinlegen, dann schreibt sie richtig
eine Zeile nach der anderen, bis das Blatt zu Ende geschrieben war, fährt aber mit
den Schreibbewegungen weiter fort. Ich muß das Blatt schnell umwenden und ihre
Hand wieder auf das Papier legen — dann schreibt sie wieder richtig. Aus dem
Inhalt des Geschriebenen war zu ersehen, daß inzwischen einige Worte ausgefallen
waren, es war eine Lücke im Zusammenhang entstanden, während ich das Papier
Über den hysterischen Anfall
587
umgewendet hatte. So schrieb sie eine Zeitlang Tag für Tag und stellte auf diese
Weise ein vor Jahren geschriebenes Tagebuch wieder her. Leider ist das Original
inzwischen verlorengegangen, so daß der Vergleich unmöglich war. Die Hand¬
schrift war dabei die gewöhnliche Handschrift eines erwachsenen intelligenten
Mädchens. Aber eines Tages gab sie im Tagebuch, in einem Zusammenhang mit
den damaligen Ereignissen, einen Brief wieder, den sie noch als Kind von fünf
Jahren geschrieben hatte. Im Augenblick veränderte sich die Handschrift, wurde
unbeholfen, die Buchstaben groß und mit sichtbarer Mühe ausgeführt, wie bei
einem kleinen Kinde, das eben zu schreiben anfängt.
Wie man sieht, ist es eine wirkliche „Bewegungssprache“, in der die panto¬
mimische Darstellung im hysterischen Anfall ausgeführt wird. Anderseits liegt
es nahe, diese pantomimischen Aufführungen mit dem uns aus der Psycho¬
analyse wohlbekannten „Agieren statt Erinnern“ zu vergleichen, ja beides
als dasselbe anzusehen. Der hysterische Anfall ist somit ein extremer Fall
eines solchen Agierens. Aber nicht in jedem Fall von „Agieren statt Erinnern“
muß es zu der extremen Form des hysterischen Anfalls mit Bewußtseinsverlust
oder -trübung kommen, es kann sich — wie wir aus der Analyse wissen —
auf Handlungen bei vollem Bewußtsein beschränken, die aus unbewußten
Motiven geschehen und dann rationalisiert oder aber vom Bewußtsein igno¬
riert werden. Daß ein ähnlicher Vorgang sogar tief ins normale Seelenleben
Vordringen und in Form von Symbol- oder Fehlhandlung ausgeführt werden
kann, soll die folgende Beobachtung zeigen:
Eine junge Frau wacht früh am Morgen auf, kurz darauf kommt ihr sechs¬
jähriges Töchterchen ins Schlafzimmer und legt sich zu ihr ins Bett. Sie schlafen
dann beide wieder ein. Eine Stunde später wird die Frau durch das Klingeln eines
Lieferanten an der Haustür geweckt. Sie muß für einen Augenblick aufstehen und
wird durch häusliche Angelegenheiten abgelenkt. Als sie sich nachher an den Traum
erinnern will, den sie eben kurz vor dem Erwachen gehabt hatte, ist er aus ihrem
Gedächtnis ganz entschwunden. Nachdenkend bleibt sie im Bett liegen und plötz¬
lich ertappt sie sich bei einer sonderbaren Bewegung: sie streift mit der Hand leise
die Oberschenkel des neben ihr schlafenden Kindes, und bemerkt die Bewegung
des Armes erst im Augenblick, als dieser die Genitalien des Kindes berührt. Sofort
erinnert sie dabei auch den vergessenen Traum: sie hat nämlich im Traum die¬
selbe Bewegung am Schenkel ihres zu jener Zeit verreisten Mannes ausgeführt und
seinen Penis in die Hand genommen.
Der psychische Vorgang ist hier derselbe wie beim Agieren im hysterischen
Anfall und in der üblichen psychoanalytischen Behandlung: Das Verdrängte,
das nicht erinnert werden kann, setzt sich in Bewegung um.
Freud hat die enge Verbindung zwischen dem System Bw und der Mo¬
torik besonders unterstrichen und auf die psychologische und biologische Be¬
deutung der Überwachung der Motorik durch das Bewußtsein hingewiesen.
*
588
M. Wulff
Aber gerade diese Beziehung zwischen der Motilität und dem System muß
gelöst werden, damit die motorische Ausdrucksweise und die „motorische
Sprache“ zum Vorschein kommen. Hier scheint der Kern des Problems zu
liegen.
Eine russische Ärztin, Tatjana Simson, hat neuerdings darauf hinge¬
wiesen, daß motorische Reaktionen, ähnlich wie im hysterischen Anfall, in
der frühesten Kindheit gar nicht selten sind: „Im Säuglingsalter und überhaupt
im Kindesalter besitzen die Kinder im großen Ausmaß die Tendenz, auf
äußere Reize mit hysterischen Erscheinungen zu reagieren. Besonders charak¬
teristisch, ungemein verbreitet, in einem gewissen Stadium der Entwicklung
des Kindes fast unausbleiblich ist das Symptom der primitiven motorischen
Reaktion des Protestes. Wird einem Kind ein Wunsch nicht erfüllt, so wirft
es sich — um seinen Willen durchzusetzen — auf den Fußboden, schlägt
chaotisch mit Händen und Füßen um sich herum, schreit, zappelt, weint usw.
In diesem ,motorischen Sturm c des Protestes können wir den Prototyp des zu¬
künftigen hysterischen Anfalls beim Erwachsenen sehen. Übrigens, auch im
Säuglingsalter nehmen diese ungeordneten motorischen Protestäußerungen
manchmal bestimmte klare Formen an. So z. B. Julia B., i Jahr 5 Monate
alt: wenn sie unzufrieden ist, ,fällt sie um c , ,beugt sich im Bogen vor c (Are
de Cercle), ,macht Bewegungen, als ob sie schwimme'... Manchmal treten
bei Kindern die hysterischen Anfälle in der Nacht auf. Bei Lida K., 2 Jahre
und 2 Monate alt, waren bei hoher Temperatur während einer Grippe fol¬
gende Erscheinungen zu beobachten: ,Sie schreit, die Pupillen sind erweitert,
sie beugt sich im Bogen, indem sie nur mit dem Hinterkopf und den Fersen
das Bett berührt, spricht dabei, bittet um Essen und Trinken, dann fängt sie
plötzlich an, alle zu überfallen, um sich zu schlagen.' Der Anfall dauerte
eine volle Stunde.“
Auch „Prodromalsymptome'' wurden beobachtet, z. B. lautes Lachen:
Walja, 1 Jahr, 9 Tage alt, „lacht vor dem Anfall laut auf, das Lachen ist
rauh, grob, wie bei einem erwachsenen Mann. So lacht sie anfallsweise drei¬
mal auf und beugt sich dann im Bogen aus“ (Are de Cercle). Simson macht
dabei die Bemerkung, daß die verschiedensten monosymptomatischen hysteri¬
schen Erscheinungen im frühesten Kindesalter „buchstäblich bei
allen Kindern ohne Ausnahme“ beobachtet werden können und
daß „in der Mehrzahl der Fälle die hysterischen Sym¬
ptome bei Kindern im Alter von P/2 bis 4Jahren auf¬
trete n“.
Bei diesem Sachverhalt scheint mir die Frage berechtigt zu sein, ob man
r
Über den hysterischen Anfall 589
Erscheinungen, die bei allen Kindern im Alter von 1V2 bis 4 Jahren aus¬
nahmslos auftreten können, noch als hysterische Reaktionen, als Hysterie, be¬
zeichnen kann. Es ist vielmehr wohl richtiger, diese Reaktionen im zarten
Kindesalter als zur Norm gehörende, dem Entwicklungszustand entsprechende
Ausdrucksweisen zu betrachten. Die motorische Gebärdensprache (des hysteri¬
schen Anfalls) gehört anscheinend zum normalen Bestand der Reaktions¬
weisen des frühesten Kindesalters. Erst die weitere Entwicklung bringt es mit
sich, daß das Kind seine Motorik immer mehr einschränken und beherrschen
lernt. Das geschieht in der Weise, daß bei ihm mit der Zeit verschiedene
Hemmungen zur Ausbildung gelangen, die die ursprünglich vorhandene
Fähigkeit zu Irradiationen seiner Erregungen einschränken. Die Ausbreitung
der motorischen Reaktionen bis zu dem von Dr. S i m s o n beschriebenen
chaotischen Motilitätssturm wird dadurch verhindert und ihre Einschränkun¬
gen auf das minimale Maß der notwendigen zielgerechten Handlung auch bei
größter Erregung sichergestellt. Die Hemmungen, die die Handlungen über¬
wachen und regulieren, obliegen mit verschiedenen Anteilen den psychischen
Systemen Ubw, Vbw und Wbw. Ihre Entwicklung und Scheidung ist be¬
kanntlich gleichzeitig mit der Ausbildung und Gliederung der Struktur der
Persönlichkeit als Es, Ich und Über-Ich gerade im vierten Lebensjahr (der
von Dr. S i m s o n angegebenen Altersgrenze) lebhaft im Gange. Bis dahin
aber ist das Agieren, die motorische Reaktion, die Gebärdensprache, die
hauptsächliche Abfuhrmöglichkeit der Erregungen und Reize und die wich¬
tigste Ausdrucksweise in den anfänglichen Objektbeziehungen des Kindes.
Das kommt am deutlichsten auf einem Gebiet zum Ausdruck, das im
Seelenleben des Kindes eine besonders große Rolle spielt, nämlich im kind¬
lichen Spiel. Das Spielen des Kindes ist eigentlich ein Agieren par excellence,
im Spielen äußert das Kind seine eigensten und innigsten Gedanken, es denkt
handelnd. Es genügt das wunderbare Beispiel des eineinhalbjährigen Kindes
zu erwähnen, das Freud in „Jenseits des Lustprinzips" gebracht hat. Wie
Freud sagt, hat das Kind im Spiel seine passive Rolle aufgegeben und
sich in eine aktive gebracht, und bemerkt dazu: „Aber anderseits ist es
klar genug, daß all ihr (der Kinder) Spiel unter dem Einfluß des Wunsches
steht, der in dieser ihrer Zeit dominiert, des Wunsches groß zu sein und s o
tun zu können wie die Großen/' „Sein" bedeutet eben für das Kind
„tun, handeln". Besteht denn nicht die Methode der Kinderanalyse eigentlich
darin, daß man das Kind im Spiel zu handeln, zu „agieren statt zu erinnern"
veranlaßt und dieses Agieren, seine Handlungen zum Gegenstand einer analy¬
tischen Deutung macht? Dieses Agieren des kleinen Kindes im Spiel ist oft
M. Wulff
*90
ein richtiges Experimentieren, ein Versuchen und Überlegen, ein For¬
schen, ein Denken in Form von Handlungen, eine Art
motorischen Denkens möchte man sagen. Mit dem Fortschritt der
geistigen Entwicklung kann es in einsames Wachträumen übergehen.
Auch im Schlaf scheint eine dem Agieren ähnliche Art von Träumen
ausgedrückt in der „motorischen Sprache“, vorzukommen. Bekanntlich be¬
sitzen manche gesunde Menschen die Eigenart, im Schlaf ziemlich komplizierte
Handlungen auszuführen, ohne davon nachher im Wachzustand eine Ahnung
zu haben. S i m s o n erzählt von Beobachtungen dieser Art bei kleinen Kin¬
dern: „Nicht abreagierte Eindrücke werden allmählich in Träumen, ver¬
bunden mit komplizierten Handlungen, abreagiert. Meistens wird dabei ge¬
wissermaßen die Wiederholung eines unlustvollen Erlebnisses dargestellt. In
zwei Fällen haben wir die Neigung zur Wiederholung der traumatischen
Situation genau in derselben Form oder in einer veränderten Variation be¬
obachten können: So, ein Kind von 6 Jahren, das ein schweres Trauma —
das Erdbeben in der Krim — im Jahre 1927 erlebt hatte, sprang nachts vom
Bett auf, machte Bewegungen, die dem Anziehen von Strümpfen und Schuhen
usw. ähnlich waren, und legte sich dann wieder zurück ins Bett, um weiter
ruhig zu schlafen.
Ein anderer Fall: Das Mädchen Sina K., 2 Jahre alt, wurde vom betrunkenen
Hauswirt erschreckt, der in die Wohnung plötzlich eindrang, laut schrie, Geschirr
zerbrach und drohte, jemanden zu morden. Einige Zeit nach dem Trauma, jede
Nacht, zu der Stunde, in der das traumatische Erlebnis stattgefunden hatte, stand
das Kind vom Bett auf, zitternd vor Angst und schreiend: „Da kommt P.“, trat
dann an den Tisch, wo der Betrunkene das Geschirr zerbrochen hatte, leckte den
Tisch und bat: „Onkelchen, tu mir nichts!“
Die Patientin, von der hier hauptsächlich die Rede ist, sagte mir eines
Tages nach einem Anfall: „Aber dasselbe erlebte ich schon seit vielen Jahren
wiederholt nachts im Traum und dachte immer, daß ich es nur träume.“
Aber besonders merkwürdig ist die folgende Beobachtung bei derselben Frau:
Wiederholt hatte sie früher vorübergehend von Zeit zu Zeit einen sonderbaren
Zwang, mit den Händen Bewegungen auszuführen, als ob sie* etwas modellieren
würde, obgleich sie sich nie derart betätigt hatte. Den Vorschlag, dem Zwang in
der Weise nachzugeben, daß sie wirklich den Versuch machen würde, ihre Einfälle
in Plastilin zu modellieren, lehnte sie mit Entrüstung und der sonderbaren Be¬
gründung ab: „Es würde dabei etwas ganz Verrücktes und Unanständiges heraus¬
kommen, etwas, was weder Frau noch Mann sei.“ Bei den zwanghaften Handbewe¬
gungen stellte sie sich immer ebenso zwanghaft runde weibliche entblößte Nates
vor. In einem Anfall, in dem sie auf Erlebnisse aus ihrem neunten Lebensjahr zu¬
rückkam, reproduzierte sie eine Szene vor dem Einschlafen. Dann bleibt sie eine
Über den hysterischen Anfall 591
Zeitlang ganz ruhig liegen, den Schlaf selbst jetzt in der Wiederholung darstellend,
und endlich wiederholt sie anscheinend einen Traum, den sie damals erlebt hatte.
Der Traum besteht aber nur aus einer Szene: sie sieht ihre nackten, runden Nates,
erkennt gleich, daß es die eigenen sind, die sie der Mutter, die daneben steht, zu¬
wendet. Und nun beginnt sie, den Traum anschaulich fortsetzend, Bewegungen
der Hände, die den oben erwähnten Zwangsbewegungen gleichen und das Erlebnis
der Kindheit im Schlaf darstellen. Es gelingt jetzt, die Bewegungen zu analysieren,
zu deuten, und es stellt sich heraus, daß diese Handbewegungen eine kindliche
Wunschphantasie verwirklichten: sie modellierte einen großen Penis, den sie an die
Pubes der Mutter anheftete, dann koitierte die Mutter mit dem Penis mit ihr in
ano, dann weiterte die Mutter bei ihr etwas aus, anscheinend die Vagina, koitierte
mit ihr in vaginam und schloß das „Loch“ wieder zu. Alles das war in den
„Traumbewegungen“ motorisch dargestellt. Das war ihre Wunschphantasie in
jenem Alter, die an einen belauschten Koitus der Eltern und die danach erfolgte
Aufklärung durch ein Dienstmädchen anknüpfte — diese Wunschphantasie ver¬
wirklichte sie agierend im Schlaf.
Nun hat Zutt vor kurzem eine Studie über Phantasieren und Wach¬
träumen veröffentlicht, in der er nachweist, daß beim Wachträumen gerade
die Vorstellung des Handelns eine viel größere Rolle spielt als der sinn¬
lich-vorstellungsmäßige Anteil: „Wir stellen den weiteren Betrachtungen
hierüber die eigene Definition voraus, in der das Moment des Handelns, das
bei Jaspers Erwähnung fand, besondere Bedeutung gewinnt und von der
wir glauben, daß sie die als Wachträume charakterisierten Zustände erfaßt.
Der Wachträumer handelt in der vorgestellten Si¬
tuation eines erlebten und erreichten Zieles.“ 3
In einem neuen Licht erscheinen die hier angeführten Tatsachen, wenn
man die experimentellen Untersuchungen von Sabina S p i e 1 r e i n 4 über die
„Kinderzeichnungen bei offenen und geschlossenen Augen cc in Betracht zieht.
S p i e 1 r e i n kommt auf Grund dieser Untersuchungen zum Schluß, daß das
Denken im frühkindlichen Alter in sehr hohem Maße durch die ältesten Er¬
fahrungen des Kindes, die von den kinästhetischen Empfindun¬
gen der Muskeln, der Sehnen und Gelenkflächen stammen, beeinflußt und
beherrscht wird. Sie behauptet, daß die kinästhetischen Erfahrungen und
„Empfindungsbereitschaften“ die tiefste Schicht und die älteste Form des
„organischen“, das heißt unbewußten Denkens bilden und mit ihnen ver¬
schmelzen sich die aus anderen, späteren Sinnesgebieten stammenden Erfah¬
rungen, vor allem die Gerichtserfahrungen.
3) J. Zutt: Über Wachträume. Eine psychologische Studie. Mehr. Psychiatr. Jahrb.
188 (1930).
4) Sabina S p i e 1 r e i n : Kinderzeichnungen bei offenen und geschlossenen Augen.
Imago, XVII, 1931.
M. Wulff
S 9 2
Die „motorische Sprache“ des hysterischen Anfalls, von dem hier die Rede
ist, entspricht eben diesem aus den kinästhetischen Empfindungen und Erfah¬
rungen des motorischen Apparates entstammenden Denken. In den Anfängen
des psychischen Lebens und in dessen tiefsten und primitivsten Schichten
werden also die kinästhetischen Erfahrungen zur Abfuhr der Reize nach
außen benutzt und ihnen entsprechend die Erregungen in dieser Weise auf
kürzestem Wege auf die Motorik abgeführt. Freud hat zuerst über das
Zwangsgrübeln die Ansicht geäußert, daß dieses Grübeln einen Ersatz für
gehemmte, zur Abfuhr nicht gelangte Zwangshandlungen darstellt. Später hat
er diese Ansicht auf das Denken überhaupt ausgeweitet und betrachtet das
Denken als „ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen“ 5 . Man
kann also sagen: im psychischen Leben war zuerst die Tat. Die Entwicklung
geht weiter dahin, daß, wie oben schon erwähnt, immer neue Hemmungen
der direkten motorischen Abfuhr entgegengesetzt werden. Im ausgebildeten
psychischen Apparat des erwachsenen Menschen kommen die stärksten Hem¬
mungen aus dem System Bw. Bei Ausschaltung des Bw-Systems erhalten diese
Anfänge des Denkens in Form von Kinästhesien die Möglichkeit, sich den
kürzesten Zugang zur Motorik zu erzwingen und sich so zur „motorischen
Sprache“ als Ausdrucksmittel zu gestalten.
Von den wichtigen Einzelheiten, die sich bei diesen Untersuchungen er¬
geben, will ich noch folgendes erwähnen:
„Mehrere Psychologen“ — sagt S p i e 1 r e i n — „die sich mit der Er¬
forschung der Form und der" Raumbegriffe befaßten, mußten selbstredend auf
das Problem der kinästhetischen Empfindungen stoßen. Stanley Hall,
B e a u n i s und andere halten kinästhetische Empfindungen, nämlich die Emp¬
findungen der Muskeln, Sehnen, Gelenkflächen, für die Grundlage unserer
Form- und Raum Vorstellungen.“ Diese Ansicht gewinnt durch meine Beob¬
achtung der Bewegungen im Anfall, z. B. jener, die den Hoden des Hengstes
oder den Frosch darstellen sollten, ziemlich an Sicherheit. Wir sehen hier, wie
im primitiven unbewußten Denken die Form der Dinge — d. h. in der
psychoanalytischen Terminologie die Sach Vorstellung einfachster Art — wirk¬
lich kinästhetischen Empfindungen und Vorstellungen entsprechen. Zieht man
den automatischen, zwanghaften Charakter dieser Bewegungen in Betracht,
so sind sie nur durch die in der Regression wiederbelebten kinästhetischen
Empfindungen zu erklären.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so glauben wir behaupten zu dürfen,
daß im hysterischen Anfall, bei Beseitigung der Funktion des Bw-Systems
5) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psa. Ges. Sehr., Bd. VII. t
Über den hysterischen Anfall 593
im „anderen Bewußtseinszustande“ — aber ebenso auch bei manchem „A g i e-
ren statt Erinnern“ in der gewöhnlichen Analyse — eine sehr tiefe
Regression der psychischen Vorgänge auf die früheste und primitivste Form
des auf kinasthetischen Erfahrungen und Empfindungen aufgebauten organi¬
schen Denkens stattfindet und in der „Bewegungssprache“ zum Ausdruck
kommt.
Es muß aber betont werden, daß die Regression im hysterischen Anfall
sich nur auf die Form und Art des Denkens bezieht, während die Gedanken¬
inhalte einem viel höher entwickelten und komplizierteren Seelenleben ent¬
sprechen. Diese Denkart äußert sich im Anfall in Form von:
1) Wiederholungen von Bewegungen und Handlungen, die der Kranke
selbst in einer schon früher erlebten oder phantasierten Situation ausgeführt
hatte, oder
2) Reproduktion von Bewegungen und Handlungen anderer Personen,
ebenfalls in einer früher schon erlebten oder phantasierten Situation (Freud).
Der Erregungsvorgang dabei ist aber keine progressive Abfuhr auf die
Motilität wie beim normalen Handeln, sondern eine unter Ausschaltung des
Bw-Systems stattgefundene Regression auf kinästhetische Erinnerungsspuren
aus dem reproduzierten Erlebnis. Dafür ein Beispiel:
Eine Patientin (B) bekommt eines Tages ganz plötzlich bei einer ganz unge¬
schickten, aber ziemlich gewöhnlichen Bewegung eine Luxation des Schultergelenks.
Beim Einrenkungsversuch macht die starke Spannung der Muskulatur Schwierig¬
keiten. In dem danachfolgenden Anfall reproduziert die Patientin eine Szene, in
der sie mit einem starken Mann kämpft, und erleidet dabei wirklich eine neuerliche
Luxation des Schultergelenks. Nach dem Anfall renkt sich der Arm ohne Spannung
der Gelenksmuskulatur leicht von selbst ein. Dieser Vorgang wiederholt sich in den
folgenden Tagen: bei der einfachsten Armbewegung tritt die Luxation wieder auf,
so daß bei mir ernste Besorgnis aufkam, daß es doch vielleicht sekundär zu einem
Schleudergelenk kommen könnte. Als wir aber das ganze Ereignis durchanalysiert
hatten — was mehrere Tage erforderte — schwand das Symptom, um nicht wieder¬
zukommen. Dieses Beispiel zeigt, daß auch die Muskelfunktion bei der Reproduktion
von den unbewußten kinästhetischen Erinnerungsspuren geleitet wird.
3) In Form einer (oft symbolischen) Darstellung von Dingen (Sachvor-
stellungen), Vorgängen in der Außenwelt oder eigenen Gedanken Vorgängen,
Wünschen usw. So z. B. die obengeschilderte Darstellung des Frosches durch
die besondere, charakteristische Haltung der Hand oder die Darstellung des
Genitales des Pferdes durch eine spezielle Bewegung der Hände oder endlich
die Darstellung der homosexuellen Koitusphantasie mit der Mutter. In einem
anderen Anfall hielt die Patientin lange Zeit ihren nach oben in vertikaler
Richtung ausgestreckten Arm. Im weiteren Verlauf des Anfalls reproduzierte
Int. Zei tsdir.f. Psychoanalyse, XIX—4
38
594
M. Wulff
die Patientin eine ihrer Phantasien, in der sie den Vater von hinten über¬
fällt und mit einem Dolch ermordet. Dabei erinnert sie sich an die Worte
eines Dienstmädchens, daß dem Elternmörder nach seinem Tode der Arm aus
dem Grabe wächst. Der nach oben gerade ausgestreckte Arm symbolisiert
also den zur Strafe für den in der Phantasie begangenen Vatermord aus dem
Grabe wachsenden Arm.
Die Wiederholung.
Die Wiederholung im hysterischen Anfall ist nicht nur auf die Motilität
beschränkt. Auch die Sinneseindrücke des wiederholten Erlebnisses, die Emp¬
findungen und Wahrnehmungen aller Sinnesorgane werden mit derselben Ge¬
nauigkeit wiederholt. Nicht nur Stimme, Geste, Mimik und Körperhaltung
entsprechen vollkommen der wiederholten Situation, sondern auch der psycho¬
logische Zustand des ganzen wahrnehmenden und reizempfangenden Appara¬
tes, wie Sinnesorgane, Haut, Schleimhäute usw., ist mehr oder weniger den
normalen Veränderungen der reizempfangenden und Wahrnehmungsfunktio¬
nen ähnlich, wenn nicht ganz identisch, wie sie wohl beim primären Erlebnis
stattgefunden hatten. Wird z. B. im Anfall ein Hitzegefühl erlebt, so wird
die Haut rot und mit Schweiß bedeckt, bei Durst — die Schleimhaut der
Lippen und Mundhöhle trocken, es treten Geruchs-, Geschmacks-, GehÖrs-
und Gesichtshalluzinationen auf. Statt vielen nur ein bemerkenswertes Beispiel:
Eine Patientin (Fall B) reproduzierte im Anfall ein Erlebnis, in dem sie „ohn¬
mächtig und bewußtlos“ umgefallen war. Ein bei dem wirklichen Vorfall anwesend
gewesener Mann hat sie beim Fallen mit seinem Arm um die Schulter gefaßt und sie
zum Sofa getragen, das im Zimmer stand. Dabei drückte sein Manschettenknopf,
der sein Monogramm trug, auf die Haut in der Gegend der Scapula. (Während des
im Anfall wiederholten Ereignisses trug die Patientin ein offenes Ballkleid.) Schon
einige Stunden vor dem Anfall machte sich die Stelle der Haut durch Rötung und
Juckreiz bemerkbar, und im Anfall selbst konnte man an dieser Stelle ganz deut¬
lich die Buchstaben I. M. des Monogramms sehen. Der Fall ist wegen dieser hysteri¬
schen Art und deshalb besonders erwähnenswert, weil Patientin schon im primären
Erlebnis vor Jahren anscheinend in einem hysterischen Anfall das „Bewußtsein ver¬
loren hatte“ und vom Druck des Knopfes auf die Haut ebenso wie, selbstverständ¬
lich, vom Monogrammabdruck auf der Haut auch damals keine bewußte
Wahrnehmung empfangen hatte.
Freud hat alle halluzinatorischen Erscheinungen bei der Hysterie auf
einen Regressionsvorgang im psychischen Apparat zurückgeführt.
Der normale psychische Prozeß verläuft im allgemeinen wie der Reflexbogen
vom Wahrnehmungssystem zum Motilitätsende. Im Traum und bei gewissen
pathologischen Zuständen nimmt aber die Erregung, nach Freud, einen
__ Über den hysterischen Anfall 595
regressiven Verlauf und verpflanzt sich anstatt gegen das motorische
gegen das sensible Ende des seelischen Apparates. „Für die Halluzinationen
der Hysterie, der Paranoia, die Visionen geistesnormaler Personen kann ich
die Aufklärung geben, daß sie tatsächlich Regressionen entsprechen, d. h. in
Bilder verwandelte Gedanken sind und daß nur solche Gedanken solche
Verwandlung erfahren, welche mit unterdrückten oder unbewußt gebliebenen
Erinnerungen im intimen Zusammenhang stehen.“ 6 Was hier Freud von
dem halluzinatorischen Vorgang bei verschiedenen pathologischen Zuständen
sagt, stimmt auch für alle anderen Wiederholungsvorgänge im hysterischen
Anfall. In allen diesen Erscheinungen haben wir es mit einer Regression zu
tun, mit einer auf das Wahrnehmungssystem zurückflutenden Erregung in¬
folge der Absperrung des Zuganges zum Bw-System und zur Motilität. Mit
derselben treuen Genauigkeit wie die Halluzinationen wird auch jedes andere
Erlebnis, jeder somatische Zustand des Organismus wiederholt.
So erklärt z. B. dieselbe Patientin eines Morgens nach dem Erwachen, sie sehe
gar nichts, sie sei vollkommen blind. Sie benahm sich auch wirklich wie eine
Blinde, mußte gewaschen und angezogen werden, stieß sich beim Gehversuch an
die Möbel und Wände im Zimmer. Ihre Pupillen waren dabei stark erweitert und
starr, das Gesicht gerötet, sie sprach viel, lachte laut, war stark erregt und machte
den Eindruck einer Manischen. Das Zustandsbild war einer Atropin Vergiftung ähn¬
lich, aber die Patientin befand sich in einem Sanatorium und war Tag und Nacht
unter strenger Überwachung. Die Aufklärung über diesen Zustand kam einige
Stunden später, als Patientin im Anfall einen im Alter von 12 Jahren wirklich
stattgefundenen Vergiftungsversuch wiederholte. Damals fand sie im Schlafzimmer
ihrer Mutter ein Fläschchen mit Augentropfen und trank den Inhalt aus. Darauf¬
hin war sie, wie sie sich nach dem Anfall genau erinnern konnte, wirklich vergiftet
und von Ärzten deswegen behandelt.
Die Regression der Erregung von den unbewußten Erinnerungsspuren zur
Peripherie, zu den Sinnesorganen ist hier deutlich. Es kann aber auch Vor¬
kommen, daß das Bild des somatischen Zustandes in der Wiederholung da¬
durch erhebliche Komplikationen erfährt, daß diese Wiederholung selbst einen
tiefgehenden Eingriff in die normalen Lebensvorgänge im Organismus be¬
deutet. Dieser reagiert dann auf die durch die Wiederholung entstandenen
Veränderungen im Verlauf seiner Funktionen seinerseits nach den ihm eigenen
organischen Gesetzen seines Lebens.
Freud hat auf die strukturelle Verwandtschaft des Affektes und des
hysterischen Anfalles hingewiesen und die Behauptung aufgestellt, daß beide
Niederschläge von Reminiszenzen an bedeutungsvolle Erlebnisse sind. Nur
6 ) Die Traumdeutung. Gesammelte Schriften Freuds, Band II, S. 465.
38*
596 M. Wulff
handelt es sich beim hysterischen Anfall um ein individuelles ver¬
drängtes Erlebnis, beim Affektzustand — um ein traumatisierendes Erlebnis
der Species, das vererbt wird. Zieht man das in Betracht, was Freud über
den von ihm am eingehendsten untersuchten Angstaffekt gesagt hat 7 , so muß
man das charakteristische und entscheidende ursächliche Moment für den
Affektzustand ebenso wie für die somatischen Vorgänge im hysterischen An¬
fall (soweit nicht bereits pathologische Erscheinungen wiederholt werden)
darin erblicken, daß der Organismus überstarken somatischen Reizen aus¬
gesetzt und nicht mehr imstande ist, diese Reizmengen in adäquater Weise
nach außen abzuführen — was zu einer Stauung und zur Abfuhr auf die
„inneren Bahnen“ im Organismus selbst führen muß. Bei den Affekten sind
es wahrscheinlich die durch die phylogenetisch entwickelten Zustände und
Verhältnisse im Organismus (im Falle der Angst z. B. der Hergang des Ge¬
burtsvorganges) oder äußere Lebensbedingungen, die die Abfuhr nach außen
überhaupt unmöglich machen; beim hysterischen Anfall ist es die pathologi¬
sche Absperrung des Erregungsvorganges vom normalen Weg zur Motorik
über das Bw-System. Wir haben es also auch im Affektzustand des hysteri¬
schen Anfalles eigentlich mit einem Regressions vor gang zu tun, nämlich mit
einer Wiederherstellung einer primitiven Arbeitsweise des psychischen Appa¬
rates, bei der neue Reizmengen wieder auf die inneren organischen Bahnen
abgeleitet werden — auf eine Arbeitsweise, die einer phylogenetisch früheren,
heute überwundenen Entwicklungsstufe entspricht.
Bei der Regression der vom Bw-System zurückgedrängten Erregung wer¬
den also die physiologischen Begleiterscheinungen der im Anfall wiederholten
Affekte mit von der Regression betroffen und dabei verändert und verstärkt.
Das führt zu einer Hyperfunktion 8 der inneren Organe und bei allen
Hohlorganen, wie Magen, Darm, Blase, Bronchien, Herz, Blutgefäße usw.,
zu einem Krampf und zu spastischen Erscheinungen. Häufen sich die Anfälle
in kurzen Zeitintervallen nacheinander und spielen sich die die Funktion
störenden Vorgänge immer wieder ab, so kann es zu einer Summation der
Wirkung der Erregung kommen, die das ursprüngliche physiologische Bild des
primären affektiven Erlebnisses bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Da¬
für ein lehrreiches Beispiel:
7) Es würde zu weit führen, hier den Inhalt der Untersuchungen Freuds über die
Angst wiederzugeben, und ich muß den Leser auf sein großartiges Werk „Hemmung,
Symptom und Anost“ und auf das Kapitel XXXII, „Angst und Triebleben“, in der
„Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Analyse“ verweisen.
8) Wenn wir es manchmal mit einer Hypofunktion zu tun haben, so ist in Wirklichkeit
die Tätigkeit des Organs doch erst infolge eines Krampfes herabgesetzt.
Über den hysterischen Anfall
597
Die Patientin, von der hier zuerst die Rede war (A), unterbrach in den Sommer¬
ferien in einem bedeutend gebesserten Zustande die Behandlung. Nach fünf Wochen
ungefähr erhalte ich von ihr einen alarmierenden Brief: sie hatte Herzbeschwerden,
ging zu einem Internisten, der bei ihr ein Aortenaneurysma diagnostizierte —
wahrscheinlich auf luetischer Basis. In der Anamnese der Patientin war aber dafür
kein Anhaltspunkt gegeben und die wiederholte serologische Untersuchung fiel ganz
negativ aus. Zur Klärung der Diagnose wollte sich die Patientin in eine Klinik
begeben und fragte um meinen Rat. Selbstverständlich war ich für die klinische
Untersuchung. Die letztere dauerte über zwei Monate. Hier wurde sie wiederholt
röntgenisiert, man hat aber nur eine geringe Aortenerweiterung, aber kein Aneu¬
rysma gefunden. Das Krankheitsbild, das man hier beobachten konnte, war ein
sehr kompliziertes: Im Vordergrund standen Zirkulationsstörungen, Gefäßkrämpfe,
Atemnot, schwere Opressionen, sehr hoher Blutdruck, dabei der Puls zeitweise
sehr schwach und verlangsamt, ohnmachtsähnliche Anfälle und Kopf Schwindel,
Urinmangel, dunkelbraune Flecken an der Gesichtshaut, die vorübergehend schwan¬
den und wiederkamen. Die Herzerscheinungen und Zirkulationsstörungen waren
morgens gewöhnlich gering, verstärkten sich aber am Nachmittag und es traten
dann noch Erregungszustände hinzu mit starkem Kopf druck, Rötung des Gesichts,
Angstausbrüchen und Halluzinationen; Patientin sah eine große Ratte und schrie
laut: „Nehmen Sie die Ratte weg!“ Diese Anfälle dauerten bis spät in die Nacht.
Danach beruhigte sich die Patientin, litt aber die ganze Nacht unter hartnäckiger
Schlaflosigkeit, Atemnot, Opressionen usw. Von der Patientin selbst habe ich nach¬
her erfahren, daß sie beim Anfall nicht ganz klar beim Bewußtsein war und wahr¬
scheinlich kurze Dämmerzustände hatte.
Während der Menstruation ließen die Krankheitserscheinungen etwas nach und
die Beruhigung hielt dann noch einige Tage nachher an. Aber schon zwanzig Tage
vor der nächsten Menstruation stellte sich das frühere Krankheitsbild wieder in
derselben Intensität ein. Im übrigen war, was die inneren Organe anbetrifft, das
Ergebnis der klinischen Untersuchung ganz negativ. Die Diagnose der Kliniker
war: Störung der inneren Sekretion, kompliziert durch Erscheinungen einer Niko¬
tinvergiftung. (Die Patientin hat vor kurzem eine Nikotinentziehungskur durchge¬
macht.) Die Verursachung dieser Störung blieb unaufgeklärt, und man war schlie߬
lich geneigt, die Sekretionsstörungen durch eine Veränderung in den Ovarien bei
einer der Menopause nahestehenden Frau zu erklären. Die Erregungszustände und
Halluzinationen wurden auf Zirkulationsstörungen im Gehirn als einer Folge der
inneren Sekretionsstörungen zurückgeführt.
Da der Zustand der Patientin während des Aufenthaltes in der Klinik sich
durchaus nicht besserte, entschied sich der Mann der Patientin für die Wiederauf¬
nahme der Analyse. Nach einigen Tagen ging die Analyse weiter in der oben ge¬
schilderten Weise und dabei ergab sich folgendes:
Im Alter von 8 bis 9 Jahren hat die Patientin mit ihren Eltern den zweiten
Stock einer kleinen Villa bewohnt, in die manchmal Ratten von dem in einem
Nebenbau im Erdgeschoß sich befindenden Pferdestall eindrangen. Eines Tages
um 4 Uhr nachmittags wollte das Mädchen ins Eßzimmer der Wohnung eintreten,
blieb aber an der Schwelle wie gelähmt vor Schrecken stehen: auf dem zum Kaffee
598
M. Wulff
gedeckten Tische bemerkte sie eine Ratte. Gleich darauf kam dann noch der Vater
hinzu und blieb ebenso daneben stehen. Das vergrößerte noch die Angst des Kindes:
der Vater, ein früherer Offizier, forderte von den Kindern mutiges Auftreten,
Selbstbeherrschung, Unerschrockenheit und scheute sich nicht, dabei Feldwebel¬
methoden anzuwenden. Als die Kleine den Vater bemerkte, zuckte sie bei dem
Gedanken zusammen: „Der Vater wird mich zwingen, -die Ratte in die Hand zu
nehmen, wenn er merkt, daß ich Angst habe.“ Das war für die Kleine um so
unmöglicher, als sie bereits im Alter von vier Jahren ein schwer traumatisches
Erlebnis mit einer Ratte gehabt hatte. Zum Glück trat die Befürchtung des Kindes
nicht ein, der Vater verjagte selbst das Tier. Aber dieses Erlebnis rührte an einen
schweren kindlichen Konflikt, bei dem der Vater die Hauptrolle spielte, den ich
aber hier nicht bringen kann. Tatsache ist, daß nach drei bis vier Wochen Analyse
alle die oben angeführten Symptome mit Ausnahme einer schon seit Jahren vorhan¬
denen geringen Herzschwäche vollkommen schwanden. Das Ganze war also
Wiederholung eines schweren Schreckerlebnisses. In der Gegenwart wurde dieses
verdrängte Erlebnis noch besonders durch eine andere Schrecksituation aktiviert,
welche die Patientin während einer Autofahrt erlebt hatte. Der Ehemann der
Patientin spielte dabei eine dem Vater im primären Erlebnisse ähnliche Rolle, in¬
dem er sie zwingen wollte, die an sich nicht ganz unbegründete Angst durch eine
Willensanstrengung zu überwinden. So stellte sich auch in der Gegenwart bald
eine psychologisch ähnliche Konfliktsituation ein, die eine Affektübertragung vom
despotischen Vater auf den Ehemann begünstigte.
Der Zustand in den Nachmittagsstunden (zeitlich mit dem primären Kind¬
heitserlebnis übereinstimmend) war zweifellos ein hysterischer Anfall mit
Dämmerzustand, in dem das primäre traumatische Kindheitserlebnis repro¬
duziert wurde. Weil der Zustand mit Hilfe der Analyse nicht aufgelöst
wurde, steigerte sich die Spannung immer mehr und entsprechend veränderte
sich auch das ursprüngliche Bild. Durch die Häufung der Anfälle in kurzen
Zeitintervallen verstärkten sich die Erscheinungen des primären Schreckens,
bis die vielfache Vergrößerung das Bild bis zur Unkenntlichkeit veränderte.
Die Erregung und Spannung wuchsen, die Angst quälte die Patientin stunden¬
lang, die Gereiztheit, die im infantilen Erlebnis dem Vater gegolten hatte
und unterdrückt worden war, brach mit elementarer Wucht in Wutanfällen
aus. Aber in noch höherem Grade veränderte sich das Bild der physiologischen
Begleiterscheinungen des Schreckens. Durch Kumulation der Wirkung der
täglichen, viele Stunden andauernden Funktionsstörungen entwickelte sich ein
wirklich schweres Krankheitsbild mit Zirkulations- und innersekretorischen
Störungen. (Braune Flecken infolge der Adrenalinansammlung im Blut; be¬
kanntlich tritt Adrenalin im Blute auch beim Schrecken, bei Angst in kleinen
Mengen auf.) Die Physiologen hatten daher eigentlich mit ihrer Diagnose des
Zustandes recht. Sie verkannten bloß seine hysterische Ätiologie, die Tat-
Über den hysterischen Anfall
599
sache, daß das Psychische sich im Organischen ebenso auswirken kann wie
umgekehrt.
Die Wahrnehmung.
Ein eigenartiges Bild zeigt im hysterischen Anfall und im „anderen“
Bw-Zustand die Wahrnehmungsfunktion. Sie ist in dreifacher Weise ver¬
ändert: Objekte der wirklichen Realität werden meistens nicht wahrgenom¬
men, während in Wirklichkeit nicht vorhandene Erscheinungen halluziniert
werden. Schließlich können zu gleicher Zeit auch wirklich vorhandene Ob¬
jekte oder Situationen teilweise in einer unvollkommenen Art wahrgenommen
und dem im Anfall wiederholten Erlebnis durch Illusion angepaßt werden.
Es sind also manchmal zur selben Zeit Halluzinationen, negative Halluzina¬
tionen und Illusionen anzutreffen.
Oben habe ich schon die Patientin erwähnt, die im anderen Bw-Zustand im
Anfall ihr Tagebuch wieder geschrieben hat. Sie hat den ihr in die Hand ge¬
drückten Bleistift wahrgenommen und richtig zum Schreiben verwendet; hingegen
nahm sie mich, der ihr den Bleistift in die Hand gedrückt hatte, nicht wahr,
ebensowenig das Papier. Als aber ihre Hand aufs Papier gelegt und der Bleistift
an die richtige Stelle angesetzt wurde, schrieb sie Zeile für Zeile sauber, in der
richtigen Ordnung und gut lesbar. Sie hat sogar an manchen Stellen im Geschrie¬
benen Korrekturen vorgenommen, einzelne Worte ausgestrichen und darüber andere
geschrieben. Ob das auch eine Wiederholung primärer Ausbesserungen war —
weiß ich nicht. Jedenfalls zeigten das Geschriebene und das Ausgebesserte einen
sinnvollen Zusammenhang. Aber als das Blatt zu Ende geschrieben war, merkte
sie es anscheinend nicht, wahrscheinlich weil es im primären Erlebnis nicht der
Fall war, und setzte mit dem Schreiben auf dem Kissen fort. Ähnliche Beobach¬
tungen habe ich bei dieser Patientin unzählige Male gemacht. Während ihrer
Anfälle und in dem, manchmal lang andauernden „anderen“ Bw-Zustand habe
ich in der verschiedensten Weise versucht, mich bemerkbar zu machen, aber sie
nahm mich sichtlich nicht wahr, merkte mich nicht. Gelang es mir aber, mich
ihren Erlebnissen irgendwie anzupassen und die entsprechende Rolle einer Person
zu spielen, die in den sich gerade wiederholenden Ereignissen auf trat, so schien
sie mich sofort zu merken und danach zu behandeln. Fiel ich aus der Rolle oder
versuchte etwas zu sagen oder zu machen, was der wiederholten Situation nicht
entsprach, so hat sie es einfach nicht wahrgenommen.
Am schönsten zeigt diese Sachlage der folgende Versuch, den ich mit der
Patientin angestellt habe. Während eines dreiwöchentlichen Dämmerzustandes saß
ich eines Tages auf einem Sofa neben ihr in ihrem Zimmer, als sie in großer
Erregung auf stand und überlegte; dann schritt sie zum Schreibtisch, der an der
entgegengesetzten Wand stand (dieses Möbelstück schien zufällig ungefähr an der¬
selben Stelle im Zimmer zu stehen wie im Zimmer damals vor Jahren, als sich
die Szene in Wirklichkeit abspielte), schrieb etwas auf ein Stück Papier, klingelte
scheinbar an einer Schreibtischglocke — nur die Bewegung wiederholend, denn
J
6oo
M. Wulff
in Wirklichkeit war keine Glocke da — drehte sich dann um und sagte nach
einer Weile, mir das Papier überreichend (ich ging ihr zum Tisch nach, um sie
zu beobachten): „Schicken Sie mir, bitte, das Telegramm sofort ab.“ Ich nahm
ihr das Papier ab — es war ein Telegramm an die Mutter mit einer richtigen
damaligen Adresse der Mutter in einer ausländischen Sprache. (Dieses Telegramm
war damals wirklich von der Patientin abgeschickt und von der Mutter empfan¬
gen worden.) Patientin gab mir das Telegramm, ohne mich zu erkennen, setzte
sich wieder aufs Sofa, wischte sich die schweißbedeckte Stirn mit ihrem Taschen¬
tuch ab mit der Bemerkung: „Mein Gott, ist eine Hitze hier, ich habe so einen
Durst.“ Dann geht sie wieder auf den Tisch zu, sucht, findet aber gar nichts.
Vielleicht stand damals vor Jahren wirklich ein Glas Wasser auf dem Tisch,
aber jetzt war es nicht der Fall. Aber auf der Veranda daneben stand wirklich
auf einem Tisch ein Glas Wasser. Ich wollte sehen, inwiefern die Patientin die
Wirklichkeit wahrnimmt und stellte den folgenden Versuch an: Ich nahm die
Patientin bei der Hand und führte sie auf die Veranda. Sie ging widerstrebend,
verwirrt, abwesend, wie im Nachtwandeln. Ich führte sie zum Tisch, aber sie
schien das Glas mit dem Wasser nicht wahrzunehmen und nicht zu sehen. Dann
führte ich ihre Hand zum Glas und brachte die innere Handfläche mit dem Glas
in Berührung; die Patientin blieb aber unbeweglich, ohne zu reagieren und ohne
das Glas zu nehmen. Dann nahm ich selbst das Glas und brachte zuerst nur das
Glas — und als auch darauf keine Reaktion kam — auch das Wasser mit ihren
Lippen in Berührung. Aber auch jetzt blieb jede Reaktion seitens der Patientin
aus. Nun führte ich die Patientin zurück zu der früheren Stelle am Tisch, nahm
aber das Glas Wasser mit und stellte es auf den Tisch, dorthin, wo sie es früher
suchte. Mit einer schnellen sicheren Handbewegung ergriff Patientin das Glas und
trank gierig das Wasser aus.
Dieser Versuch zeigt eindeutig, daß die Patientin nur diejenigen Reize und
Objekte im Anfall und im „anderen“ Bw-Zustand wirklich wahrnimmt, die
denjenigen aus einem früheren, jetzt wiederholten Erlebnis entsprechen oder
ähnlich sind, während andere zu gleicher Zeit auf sie einwirkende Reize nicht
wahrgenommen werden.
Man könnte vielleicht sagen, daß die Patientin nichts aus der gegebenen
Realität wahrnimmt, nur eine frühere Situation genau wiederholt und dabei
früher ausgeführte Bewegungen und Handlungen agiert, unabhängig davon,
ob sie dabei zufällig mit einem realen Objekt in Berührung kommt oder nicht.
So machte sie z. B. die Bewegung mit dem Arm, als ob sie klingeln würde,
obgleich sie gar keine Glocke auf dem Tisch fand und nichts in der Hand
hatte. Für den Fall, daß kein entsprechendes Objekt in der Wirklichkeit vor¬
handen ist, kann man diese Annahme nicht ab weisen; vieles spricht aber da¬
für, daß die Patientin in diesem Falle halluzinierte und eine Glocke wirklich
sah, hörte und in ihrer Hand fühlte. Bei dem Versuch mit dem Glas Wasser
ist aber die Sachlage doch eine andere. Auf der Veranda, in der veränderten,
Über den hysterischen Anfall
601
dem wiederholten Erlebnis nicht entsprechenden Situation schien die Patientin
das Glas nicht wahrgenommen zu haben; auch bei der unmittelbaren Berüh¬
rung des Glases mit der Handoberfläche und mit den Lippen und sogar vom
Naßwerden der Lippen bei der Berührung mit dem Wasser hat sie anscheinend
die taktilen Empfindungen nicht wahrgenommen, — sie bemerkte aber sofort
das Glas, faßte es mit einer Handbewegung und führte es selbst zum Mund,
als die Situation am Schreibtisch wie vor Jahren wieder hergestellt wurde.
Im letzten Fall war es keine Halluzination mehr, sondern eine echte Wahr¬
nehmung eines realen Objektes, obgleich sich der Bw-Zustand der Patientin
gar nicht verändert hatte. Der Schluß, den wir aus dieser Tatsache ziehen
müssen, könnte so formuliert werden: i. Im „anderen“, hysterischen Bw-Zu¬
stand werden bestimmte Wahrnehmungen so erlebt, als ob die entsprechenden
Reizquellen in Wirklichkeit in der Gegenwart vorhanden wären, obgleich das
nicht der Fall ist und diese Reizquellen nur in den früheren, jetzt sich wieder¬
holenden Erlebnissen gewirkt hatten; 2. die andern, in der Realität vorhan¬
denen Reizquellen werden dagegen nicht wahrgenommen, mit der Ausnahme,
daß 3. auch in der gegebenen Realität wirklich vorhandene Reizquellen wahr¬
genommen werden, wenn sie der früheren, jetzt wiederholten Situation irgend¬
wie entsprechen oder in ihrem Sinne durch Illusion umgedeutet werden können.
Dieser eigenartige Zustand der Wahrnehmungsfunktion ist eigentlich einer
befriedigenden Erklärung schwer zugänglich. Aber eines müssen wir in Be¬
tracht ziehen: Unsere bisherigen Erfahrungen haben uns immer wieder ge¬
zeigt, daß Störungen einer psychischen Funktion immer eine Regression der¬
selben auf eine frühere, weniger entwickelte Stufe zur Folge haben. Haben
wir es dann vielleicht auch in diesem Falle mit einer Regression zu tun?
Soll denn auch dieser Zustand der Wahrnehmungsfunktion einem früheren
Entwicklungsstadium entsprechen?
Es ist wirklich vorstellbar, daß dieses Durcheinander von Halluzinationen,
Wahrnehmungen und Illusionen zu gleicher Zeit eine frühe, noch unent¬
wickelte Stufe dieser Funktion wieder herstellt. Wir können uns wohl vor¬
stellen, daß in der ersten Zeit der Anfänge des psychischen Lebens Reize,
die von außen an die Sinnesorgane gelangen, als Vorgänge am eigenen Kör¬
per, nämlich an diesen Organen, empfunden und erlebt werden und mit den
Reizquellen der Außenwelt nicht immer direkt in Verbindung gebracht
werden. Die Wahrnehmung bedeutet dann noch kein Erkennen, der Unter¬
schied zwischen den Halluzinationen und wahrgenommenen Bildern wird
noch kaum klar erfaßt. Erst die weitere Entwicklung bringt es mit sich, daß
die Sinnesreize mit den Reizquellen in Verbindung gebracht werden und
6oz
M. Wulff
Wahrnehmungen wirklich zum Erkennen der Außenwelt führen. In dieser
Entwicklungsperiode wirken auch Reize, die von Triebregungen stammen
und im Innern des psychischen Apparats entstehen, in derselben Richtung.
Freud nimmt einen primitiven Zustand der psychischen Tätigkeit in
einem gewissen Entwicklungsstadium des Kindes an, in dem der Versuch
zuerst gemacht wird, ein Bedürfnis auf Grund einer schon vorhandenen Er¬
fahrung vom Befriedigungserlebnisse, nur durch Wieder verstär¬
ken von Erinnerungsspuren dieser die Befriedigung bringenden Wahrnehmung,
zu befriedigen. So wird die Situation der ersten Befriedigung wieder her¬
gestellt, das halluzinatorische Wiedererscheinen der Wahrnehmung wird zur
Wunscherfüllung und „die volle Besetzung der Wahrnehmung von der Be¬
dürfniserregung her — der kürzeste Weg zur Wunscherfüllung“. Das Wün¬
schen läuft also ins Halluzinieren aus. „Diese erste psychische Tätigkeit zielt
also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wieder¬
holung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses
verknüpft ist.“ 9 Und diese Wiederholung entsteht auf halluzinatorischem
Wege. Spiel rein spricht daher mit Recht, sich auf Freud stützend,
von einem Stadium des halluzinatorisch-organischen Denkens. Erst später,
mit der zunehmenden Erfahrung, nach erlebten Enttäuschungen und Richtig¬
stellungen, werden die Empfindungen und die wahrgenommenen Sinnesreize
mit den äußeren Reizquellen, den realen Objekten in Verbindung gebracht
und von den halluzinierten Wahrnehmungen der Erinnerungsspuren genau
unterschieden. Auch dazu bedarf es einer Entwicklung, und es ist fraglich,
ob mit einem Schlage das Stadium erreicht wird, in welchem immer jede
Halluzination von der wirklichen Wahrnehmung unterschieden werden kann.
Wir dürfen vielmehr auch beim kleinen Kind eine Entwicklungsphase an¬
nehmen, in der Wahrnehmungen, Halluzinationen und Illusionen zu gleicher
Zeit bestehen können. Dann würden wir es bei dem hysterischen Anfall und
im „anderen“ Bw-Zustand doch mit einer Regression der Wahrnehmungs¬
funktion auf dieses primitive Stadium in der Entwicklung zu tun haben.
Bewußtseinsveränderung und „Ich“.
Außer der „motorischen Sprache“ ist eine andere Erscheinung für den
hysterischen Anfall charakteristisch, nämlich die Bewußtseinsver¬
änderung.
9) Freud: Traumdeutung. Gesammelte Schriften, Band II, S. 483.
r
_ Über den hysterischen Anfall 603
Den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Veränderung des Bewußt¬
seinszustandes, bezw. dem Bewußtseinsverlust und der Verdrängung zeigt
eine Beobachtung an der Patientin A.
Diese Frau begann gewöhnlich die psychoanalytische Sitzung mit den üblichen
freien Einfällen, bis sie zu einem Punkt kam, in dem das Sprechen plötzlich
stockte, die Patientin ruhig liegenblieb und in einen „Schlaf“ versank. Wurde
sie gleich geweckt und auf gef ordert weiterzusprechen, so fiel ihr zunächst nichts
ein, dann griff sie irgendein oberflächliches Thema auf und kam dann nie zu
einer Deutung oder Lösung des Materials, das sie vor dem Einschlafen gebracht
hatte. Wurde sie aber nach dem Einschlafen sich selbst überlassen, dann fing sie
nach einer mehr oder weniger kurzen Pause zu „agieren“ an — und nun kam
gerade das Material, das zur Lösung und Deutung des vor dem „Einschlafen“
Gebrachten nötig war oder die Fortsetzung des vorher angeknüpften Themas.
Das Bild blieb aber im Verlaufe der ganzen Behandlung, die, wie gesagt, in der
Analyse der reihenweise täglich auftretenden Anfälle bestand, nicht das gleiche.
Die psychologischen Bedingungen und Verhältnisse im Augenblick des „Einschla¬
fens“, das heißt der Bewußtseinsveränderung, haben sich mit der Zeit grundsätz¬
lich geändert. Zu Anfang der Behandlung unterschied sich der dem Anfall un¬
mittelbar vorangegangene Zustand kaum von dem Vorgang, wie er sich ge¬
wöhnlich bei den hysterischen Anfällen auch ohne Behandlung abspielt. Die Er¬
regung der Patientin beim Sprechen und Erzählen stieg dauernd an, die Affekte
kamen immer heftiger zum Ausdruck, bis der Augenblick eintrat, in dem das
Bewußtsein plötzlich ganz erloschen war und die Patientin im bewußtlosen Zu¬
stand dalag, um nach einer kurzen Pause in das Stadium des „Agierens“ über¬
zugehen. Im Laufe der Behandlung veränderte sich aber das Bild in dem Sinne,
daß die Widerstandsfähigkeit des Ichs gegen das vordrängende unbewußte Material
sichtlich immer größer wurde. Man hatte den sicheren Eindruck, daß die Patien¬
tin eigentlich immer mehr imstande war, dem Anfall erfolgreich Widerstand zu
leisten. In der letzten Zeit der Behandlung gab es sogar einzelne, wenn auch sel¬
tene, Stunden, in denen es nicht zum „Einschlafen“ kam, nämlich dann, wenn
dieser Widerstand besonders stark war. In der Überwindung dieses Widerstandes
zeigte sich dann mit Deutlichkeit die Wirkung der Übertragung.
Der Ubertragungsaffekt in jeder einzelnen Stunde war vor dem Anfall voll¬
kommen durch den affektiven Inhalt des im Anfall wiederholten Erlebnisses
determiniert; er schwand aber -spurlos sofort nach Erledigung des Anfalls, so daß
die Einstellung zum Analytiker vor und nach dem Anfall gewöhnlich grundver¬
schieden war. Bei dieser Patientin mit einem sehr affektbesetzten „weiblichen
Kastrationskomplex“ und einer hauptsächlich „negativen“ Übertragung mußte
zuerst jedesmal der Übertragungswiderstand beseitigt werden, damit das „Ein¬
schlafen“ und die Bewußtseinsänderung zustande kommen konnten. Meist ver¬
setzte sich die Patientin dann selbst (gegen Ende der Behandlung) durch intensives
Nachdenken in diesen Zustand und damit wurde der Vorgang zur Selbst¬
hypnose.
Diese Änderung zeigt, daß das Auftreten der Bewußtseinsveränderung
6 o 4 M. Wulff —
einerseits von der Intensität des Vordrängens des im Ubw angestauten
Materials abhängt, andererseits von der Stärke des Widerstandes seitens des
„Ich“. Uber die Natur des Materials im Ubw hat Freud schon 1909
festgestellt, daß es infantilen erotischen Phantasien entstammt, die mit auto-
erotischen Befriedigungen verbunden waren und dann verdrängt wurden. Uber
den Vorgang der Bewußtseinsänderung sagt Freud: „Der Bewußtseins¬
verlust, die Absence des hysterischen Anfalls geht aus jenem flüchtigen, aber
unverkennbaren Bewußtseinsentgang hervor, der auf der Höhe einer jeden
intensiven Sexualbefriedigung (auch der autoerotischen) zu verspüren ist.
Der Mechanismus dieser Absence ist ein relativ einfacher. Zunächst wird alle
Aufmerksamkeit auf den Ablauf des Befriedigungsvorganges eingestellt, und
mit dem Eintritt der Befriedigung wird diese ganze Aufmerksamkeitsbesetzung
plötzlich aufgehoben, so daß eine momentane Bewußtseinsleere entsteht. Diese
sozusagen physiologische Bewußtseinslücke wird dann im Dienste der Ver¬
drängung erweitert, bis sie all das aufnehmen kann, was die verdrängende
Instanz von sich weist.“ 10
Da dieses Material sich nicht von dem unterscheidet, das sich bei der
analytischen Durchforschung jeder Neurose als pathogene und symptom¬
bildende Quelle im Es findet, so sind wir berechtigt, die Bedingungen der
Bewußtseinsveränderung im Ich, in seiner Eigenart und Organisation zu
suchen.
Nun ist die große Neigung der Hysterischen zu Tagträumereien schon
längst bekannt. Ebenso sicher ist die Verwandtschaft dieser Tagträume mit
dem hysterischen Anfall, auf die Freud in der oben zitierten Arbeit noch
besonders hingewiesen hat. In diesem Überwiegen des Phantasielebens und der
damit verbundenen Introversion der Libido hat man sogar viel¬
fach die besondere Disposition zur hysterischen Erkrankung erkennen wollen.
Andererseits aber bilden bekanntlich die Erlebnisse aus dem Ödipuskomplex
in der Kindheit den Kern dieser autoerotischen Phantasien. Die Folge ist, daß
der Hysterische seinen Ödipuskomplex nicht genug überwunden hat, daß es
bei ihm nie zu einer richtigen Zerstörung des Ödipuskomplexes gekommen ist.
Das führt zur weiteren Frage: wie weit gelang beim Hysteriker die Ausbildung
des Uber-Ichs? Mußte diese Ausbildung unter der mangelhaften Zerstörung
des Ödipuskomplexes nicht leiden? Freud legt die Bejahung dieser Frage
nahe, indem er sagt: „Eingehende Untersuchung belehrt uns auch, daß das über-
Ich in seiner Stärke und Ausbildung verkümmert, wenn die Überwindung des
10) Freud : „Allgemeines über den hysterischen Anfall.“ Ges. Sehr., Bd. V, S. 258-9.
_ Über den hy sterischen Anfall 605
Ödipuskomplexes nicht vollkommen gelingt.“ 11 Aber auch die anderen be¬
kannten, typischen Charakterzüge der Hysterischen sprechen für die Schwäche
ihres Über-Ichs, nämlich ihre Verlogenheit, die Halt- und Hemmungslosigkeit
in ihrem Wesen und oft in der Verfolgung ihrer Wünsche und Ziele u. a. m.
Andererseits muß die starke Erotisierung des psychischen Lebens des Hysteri¬
schen in Betracht gezogen werden, die dominierende Rolle, die die erotischen
Stimmungen und die Sexualerlebnisse in ihrem Seelenleben spielen. Freud
hat in seiner Typologie die Hysteriker zum erotischen Typus zuge¬
rechnet, von dem er sagt: „Die Erotiker sind Personen, deren Hauptinteresse
— der relativ größte Betrag ihrer Libido — dem Liebesieben zugewendet
ist... Sozial und kulturell vertritt dieser Typus die elementaren Trieb¬
ansprüche des Es, dem die anderen psychischen Instanzen gefügig sind.“ 12
Wir können also sagen: die Schwäche des Uber-Ichs und der hohe Grad
von Erotisierung des Ichs (in seiner bewußten, wie vorbewmßten Seelen¬
tätigkeit) haben zur Folge, daß das aus dem Es vordrängende stark libido¬
besetzte Material des Anfalls den ganzen psychischen Apparat mit seiner
Libido in einer organischen Intensität überschwemmt und die Bw-Funktion
des Ichs fast zum vollen Auslöschen bringt. Dadurch erzwingen sich die im
Anfall wiederholten Erlebnisse den Zugang zu der Motilität und teilweise
auch eine Abfuhr nach außen, die dann für eine mehr oder weniger kurze
Zeit gewöhnlich eine gewisse Beruhigung und Befriedigung bringt, — auch
dann, wenn die Verdrängung durch die Analyse nicht aufgehoben wird und
das Verdrängte dem bewußten Ich nach dem Anfall noch weiter unzugäng¬
lich bleibt. Dieser Lustprämie wegen, glaube ich, läßt sich das Ich den An¬
fall gefallen, denn wie wir aus der oben angeführten Beobachtung sehen, ist
beim Anfall immer ein gewisses Nachgeben des Ichs dem Es gegenüber (bei
schwachem Uber-Ich) im Spiel.
Als schönes Gegenstück zum hysterischen Anfall kann in diesem Zusam¬
menhang der phobische Anfall bei der Angsthysterie betrachtet werden. Was
im ersten durch das motorische Ausleben des Verdrängten vom schwachen
Über-Ich zugestanden wird, das wird gerade im phobischen Anfall durch
lokomotorische Hemmung und Angstentwicklung verhindert. Das läßt manches
über den Unterschied in der psychologischen Struktur und der Disposition zu
jeder der beiden Formen der Hysterie erkennen. Verschiedene Autoren haben
schon längst hervorgehoben, daß die Phobiker vor ihrer manifesten Erkran-
11) Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien 1933,
S. 90.
12) Freud: Uber libidinöse Typen. Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1931, S. 314.
606 M. Wulff —
kung eine starke Bewegungslust und Muskelerotik aufweisen und haben in der
Verdrängung dieser Lust eine der Quellen der lokomotorischen Angst gesehen
Ich habe vor Jahren in einem Kinderheim die Möglichkeit gehabt, die Beob
achtung zu machen, daß Kinder, die schon ganz früh, vom ersten Gehversuch
an, sehr lebhaft und bewegungslustig sind, im phobischen Alter zur Angst¬
entwicklung und Phobienbildung besonders neigen. Andererseits ist die Muskel¬
erotik eine Komponente des Sadismus, und gerade in dieser sadistischen Dis¬
position ist eine Vorbedingung zur Ausbildung eines herrschsüchtigen, ge¬
bieterischen und mächtigen Über-Ichs gegeben. Jedenfalls führt der Vergleich
der Hysterischen mit den Phobikern leicht zur Feststellung, daß bei den
Phobikern das Uber-Ich in viel höherem Maße das Seelenleben beherrscht als
bei den Konversionshysterikern. In dem strengeren Über-Ich und in der
sadistischen Disposition möchten wir also die Momente sehen, die bei der
Neurosenwahl zugunsten der Angsthysterie von entscheidender Bedeutung
sind. Die Angsthysterie nimmt auch in dieser Beziehung eine Mittelstellung
zwischen Konversionshysterie und Zwangsneurose ein. 13
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist folgende: Was geschieht
mit dem Ich im hysterischen Anfall, wird es etwa aufgelöst oder zerfällt es? 14
Das im Anfall zum Vorschein Gebrachte ist aber auch nur ein verdrängter
und jetzt wieder agierender Teil des Ichs, der in der vergangenen Entwicklung
13) In diesem Zusammenhang fällt ein gewisses Licht auf die merkwürdige, vielfach
konstatierte Tatsache, daß Fälle von typischer Hysterie seit ungefähr Ende des vorigen
Jahrhunderts unter der städtischen Bevölkerung Europas immer seltener werden, während
Zwangsneurosen entschieden an Zahl zunehmen. Ich glaube die Ursache dieser Erscheinung
in den veränderten Familien-, Milieu- und ErziehungsVerhältnissen, besonders in den Gro߬
städten, sehen zu dürfen. In den modernen Großstadtverhältnissen leben die kleinen Kinder
viel mehr mit und unter Erwachsenen, es wird ihnen zwar entschieden mehr Aufmerksam¬
keit und Liebe geschenkt, sie werden aber (besonders beim Einkindersystem) viel mehr
überwacht, „erzogen , und besonders die Erziehung zu Reinlichkeit und „Anstand“ wird
früher und energischer durchgeführt. So werden vom Kind immer mehr Anpassungen, Über¬
windungen und Triebveränderungen gefordert, denen seine schwachen Kräfte oft nicht ge¬
wachsen sind. Das führt zu verschärften Konflikten, zur Gefühlsambivalenz und zur Aus¬
bildung eines strengen Uber-Ichs, was bekanntlich für die Zwangsneurose entscheidend ist.
Früher, besonders in kinderreichen Familien, waren die Kinder viel mehr sich selbst über¬
lassen, sie wuchsen mehr in der Kindergesellschaft ihrer Geschwister auf, erzogen sich
gegenseitig; die Erziehung zur Reinlichkeit setzte später ein und wurde nicht so energisch
durchgeführt. Dafür lernte schon früh das Kind seine Wünsche im Spiel und in der Phan¬
tasie befriedigen, darunter auch sein Zärtlichkeits- und Liebesbedürfnis und das stärkte
die Introversionneigung und das Phantasieleben. Die moderne Erziehung macht die Kinder
allzuoft altklug und nüchtern.
14) Einzelne Teile der vorliegenden Arbeit wurden von mir in einer Sitzung der
Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft vorgetragen und in der nachfolgenden Diskussion
wurde die Ansicht geäußert, daß das „Ich“ im Anfall aufgelöst wird.
Über den hysterischen Anfall 607
real durchlebt oder phantasiert war. In jedem einzelnen Fall wird so ein
kleiner Abschnitt der Ich-Entwicklung vorgeführt. Wenn man eine Analyse
der reihenweise auftretenden Anfälle so verfolgt, hat man den Eindruck, als
ob jemand in dramatischer Form den Inhalt eines sein ganzes Leben lang
geführten Tagebuches wieder vorführt, in dem jede seiner Handlungen, jede
Äußerung, jeder Gedanke und jede Phantasie, alle Wünsche, Träume, Tag¬
träume genau und worttreu eingeschrieben sind. Dabei wird aber nicht in
derselben Ordnung und Reihe, hintereinander, wie es im Buch steht, wieder¬
holt, sondern als ob das Buch durchgeblättert und je nach Verweisungen
einmal die eine Stelle aus dem Anfang herausgegriffen wurde, am nächsten
Tag eine Stelle aus der Mitte, dann ein Stück am Ende usw. So werden die
einzelnen Schichten des Ichs wechselnd in horizontaler und vertikaler Folge
vorgeführt. Trotzdem ist eine gewisse Ordnung in der Auswahl der Stücke
doch zu bemerken: entweder sind es bestimmte inhaltlich gemeinsame Kom¬
plexe, z. B. der Kastrationskomplex in seiner ganzen Entwicklung und Äuße¬
rung aus verschiedenen Lebensabschnitten oder ein bestimmtes Ereignis, das
eine Lebensperiode umfaßt und in Anfällen vorgestellt wird. In einem beob¬
achteten Fall dauerte der nach einem Anfall aufgetretene Dämmerzustand
mehrere aufeinanderfolgende Wochen ohne Unterbrechung an. Durch volle
Identifizierung mit einer realen oder phantasierten Person kann es dabei zu
dem bekannten Bild der multiplen Persönlichkeit kommen.
Man kann also die Auffassung vertreten, daß im hysterischen Anfall die
psychische Tätigkeit nicht bloß formal in ihrer Arbeitsweise in
einem Zustand tiefster Regression sich befindet, sondern daß sie auch
inhaltlich, in Form des Erlebens, auf einen in der Vergangenheit er¬
lebten vor- oder unbewußten Teil des Ichs regrediert.
Die Vorbereitung des Anfalls und seine Entstehung.
Oben ist schon betont worden, daß dem einzelnen Anfall eine gewisse Vor¬
bereitungsperiode, ein Prodromalstadium vorausgeht. Oft kann man die An¬
zeichen des kommenden Anfalls schon viele Stunden oder sogar Tage vor
dem Anfall erkennen.
Zur Vorbereitung des Anfalls nehmen die aus dem kommenden Anfall
vorweggenommenen Symptome und Erscheinungen an Zahl und Intensität
zu. Alle Symptome dieser Prodromalperiode kommen im Anfall selbst in
verstärkter Form als Bestandteile des wiederholten Erlebnisses sinnvoll zum
Vorschein. Eine Ausnahme bilden nur diejenigen Symptome, die eigentlich
.
L
6o8
M. Wulff
Ausfallserscheinungen darstellen, nämlich die Anästhesien. Sie können sich
im Anfall in besonders starke Empfindungen und Sensationen verwandeln,
z. B. bei sexuellen Anästhesien an den erogenen Zonen in Schmerzen.
So hatte z. B. Patientin A. seit vielen Jahren anästhetische Stellen an der
Innenfläche der Oberschenkel. In einem Anfall wiederholte sie einen mehr oder
weniger erzwungenen Koitus, bei dem der Partner durch eine ungeschickte Be¬
wegung sie mit seinen Knien an dieser Stelle stark drückte und ihr Schmerzen
zufügte. Nach diesem Anfall verschwanden die Anästhesien. Ein anderes Mal ent¬
sprachen plötzlich vor dem Anfall aufgetretene Anästhesien an den Zeigefingern
beider Hände einer im Anfall selbst wiederholten kindlichen Phantasie, bei der
die Patientin mit einem Messer kastriert werden und diese Finger ihr abgeschnitten
werden sollten.
Die an die Erlebnisse des Anfalls gebundenen Affekte beherrschen das
Affektleben des Kranken die ganze Prodromalzeit hindurch und werden un¬
mittelbar auf die Umgebung, auf alle Personen, mit denen der Kranke in
Berührung kommt, übertragen. Das führt zu unzähligen unbegründeten, un¬
verständlichen Konflikten mit der Umwelt, zur Störung aller Beziehungen —
der ehelichen, familiären, freundschaftlichen usw. Selbstverständlich ver¬
schonen solche Übertragungserscheinungen auch nicht die Person des Analyti¬
kers und müssen in der üblichen Weise behandelt werden.
Das ganze Handeln und Denken des Patienten in der Zeit vor dem Anfall
wird von den Erlebnissen des herannahenden Anfalls in höchstem Grad be¬
herrscht. Es wird wohl kaum eine Übertreibung sein zu sagen, daß jede Hand¬
lung, jede Bewegung und Äußerung des Kranken, auch die scheinbar gleich¬
gültigste, geringste, ganz auf die Gegenwart gerichtete, vom Inhalt des
nächsten Anfalls in hohem Maße beeinflußt wird. Die wichtigsten Bezie¬
hungen, Lebensereignisse und Entscheidungen werden in gleicher Art von
dem Inhalt des reifenden Anfallserlebnisses in entscheidender Weise beein¬
flußt. Man kann ferner behaupten, daß der Charakter und die Per¬
sönlichkeit des Kranken sich nicht nur im Anfall dem in ihm er¬
neuerten Erlebnis entsprechend verändern, sondern auch in der Prodromal¬
zeit in gleicher Weise auf die Lebensperiode dieses _ Anfalls vollkommen
regredieren können.
Es wäre vielleicht nicht nötig, sich über diese, eigentlich meist bekannten
Erscheinungen zu verbreiten, wenn nicht andere wichtige Fragen damit ver¬
bunden wären. Die Erscheinungen und die Vorgänge, die sich in der Vor¬
bereitungsperiode des Anfalls abspielen, gehören eigentlich zu dem typischen
Bild der Hysterie und treten in gleicher Weise auch in denjenigen Fällen auf,
bei denen es nicht zu Anfällen kommt. Lassen wir das letzte Stadium, den
_ Über den hysterischen Anfall 609
Anfall selbst, weg, wie er der überwiegenden Mehrzahl von Hysterien tat¬
sächlich fehlt, so unterscheidet sich das hier geschilderte Bild des Prodromal¬
stadiums in keiner Weise von dem gewöhnlichen, typischen Bild der Hysterie
und man kann eigentlich jeden einzelnen Zustand in der Vorbereitungsperiode
als eine selbständige kurze Hysterieattacke betrachten.
In den modernen klassischen psychiatrischen Schulen „wird aber eine
Krankheit ,Hysterie 4 nicht mehr anerkannt und die Bezeichnung ,hysterisch*
im Sinne ,zweckneurotisch* gebraucht. Im ,hysterischen Charakter* sehen
wir eine Unterform seelischer Entartung, bei der ein maßloser Egoismus bei
disharmonischer Trieb-, Gefühls- und Willensstruktur in einer labilen Per¬
sönlichkeit hysterische Wunschmechanismen zur Erreichung seiner oft
asozialen Ziele benutzt “. 15 „Man spricht von einer Anlage zu psychogenen
Mechanismen, von einer gesteigerten Suggestibilität, von einer nervösen,
psychopathischen hysterischen Konstitution. Das Leben kann solche Anlagen
verstärken oder abschwächen, ausnahmsweise sie sogar erst hervoi rufen.“
Und dann weiter: „Halten wir fest: eine hysterische Reaktion ist eine
psychogene, meist körperliche, nicht selten aber auch rein psychische Stö¬
rung, bei der ein abnormer Seelenzustand einer labilen Persönlichkeit einen
(mehr oder weniger bewußten) Krankheitswunsch in körperliche oder seeli¬
sche Symptome umsetzt. Der Kranke vollzieht eine „Flucht in die Krank¬
heit . Die Symptome haben den Sinn, das Verstehen des Leidens zu be¬
weisen; sie haben den Zweck, aus diesen so erzielten Leiden einen Vorteil
zu ziehen . Abgesehen von dem sehr zweifelhaften wissenschaftlichen Wert
solcher Begriffsbildungen, wie „Unterform seelischer Entartung“, „dishar¬
monische Trieb-, Gefühls- und Willensstruktur“, „labile Persönlichkeit“ usw.,
muß auch die Berechtigung dieses strengen Auseinanderhaltens von „hysteri¬
schem Charakter*, als Grundlage und Nährboden und der „hysterischen
Wunschmechanismen nicht minder zweifelhaft erscheinen. Denn, wie die
Psychoanalyse und die hier angeführten Tatsachen ganz sicher beweisen,
liegen beiden dieselben Vorgänge im Ubw und „Mechanismen“ zugrunde.
Vollkommen unrichtig ist aber die Behauptung, daß die Wunschmechanismen
und die aus ihnen entstandenen Symptome nur teleologisch zu verstehen
sind und nur den Sinn haben sollen, „das Bestehen einer Krankheit zu
beweisen , und nur den Zweck, „aus diesem so erwiesenen Leiden den
Vorteil zu ziehen “. 16
1 j) Gaupp : Die medizinische Welt, Nr. 44, 1932. Zur Lehre von den Neu¬
rosen.
16) Siehe Gaupp : Die medizinische Welt, Nr. 45, November 1932.
Int. Zeitsdir. f. Psychoanalyse, XIX—4
39
6 io
M. Wulff
Die Oberflächlichkeit dieser „teleologischen“ Auffassung der „Flucht in
die Krankheit“ hat Freud (von dem übrigens dieser Terminus auch
stammt) treffend durch den Vergleich mit dem unfehlbaren „Instinkt“ des
Pferdes gekennzeichnet, das aus Angst vor dem Löwen sich in den Abgrund
stürzt . 17 Eine größere Bedeutung gewinnt aber die theoretische Begründung
dieser Teleologie. So wird gesagt: „Die Gesetze von Ursache und Wirkung
gelten unbestritten und lückenlos in der anorganischen Welt; in der
organischen Welt wird ihre Allgemeingültigkeit bestritten, in der see¬
lischen Welt als unzureichend empfunden. Im Reich des Lebendigen setzt
die moderne Forschung den Zweck gedanken neben die rein kausale
Betrachtung. Mit dieser teleologischen Denkweise entsteht die Auf¬
gabe, das lebendige Geschehen nicht bloß zu beschreiben und kausal zu er¬
klären, sondern auch — nach einem Wort von Dilthey — zu ver¬
stehen. Organische Form und lebendige Bewegung haben Sinn und
Zweck. Diese gilt es, einfühlend zu erfassen und zu
deute n .“ 18
Es wäre eigentlich gegen das Nebeneinander dieser beiden Auffas¬
sungen gar nichts einzuwenden, wenn nicht in der praktischen Anwendung die
kausale Betrachtungsweise durch die „verstehende“ einfach ersetzt würde —
wie die oben angeführte Auffassung des Sinnes und des Zweckes der Hysterie
beweist. Die Zeit ist noch nicht lange her, als man „psychisch“ und „bewußt“
gleichgesetzt hat und das unbewußte Seelenleben, zugleich aber auch die
Gültigkeit des Kausalgesetzes für das Psychische verneinte. Die Psychoanalyse
hat viel gegen diese Auffassung gekämpft und trotz starker Widerstände —
nicht ohne Erfolg. Jetzt kommt die moderne teleologische, „verstehende“ Auf¬
fassung des psychischen Geschehens und wird für viele, wenn nicht für alle
ihre Anhänger, zu einem mehr oder weniger verkleideten Rückfall in die alte
Sünde der Bewußtseinspsychologie. Denn die teleologische Zweckeinstellung
des Denkens oder richtiger — das zielgerichtete Denken ist eine Eigentümlich¬
keit nur des bewußten Denkens, im Gegensatz zum unbewußten Denken,
dem jede Zweckeinstellung fehlt. Die „verstehende“ teleologische Psycho¬
logie kann also nur für die bewußten oder vorbewußten Denkvorgänge
Geltung haben. Diese teleologische Auffassung der psychischen Vor¬
gänge führt notwendigerweise letzten Endes zur Verneinung des unbe-
17) Siehe Freud : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Sehr.,
Bd. VII.
18) Gau pp: Zur Lehre von den Neurosen. Die medizin. Welt, Nr. 44, I 93 2 *
r
Über den hysterischen Anfall 611
wußten Seelenlebens. Zugleich sind bei der „verstehenden“ Einfühlung und
teleologischen Deutung Möglichkeiten gegeben, nicht nur zu einer subjektiven
Auffassung und Rationalisierung der Seelenvorgänge des anderen, sondern
auch zur Projektion der eigenen Seelenzustände auf ein fremdes Ich. Das
beste Beispiel dafür ist A. Adler und seine individualpsychologische Schule.
Auch die oben erwähnte moderne teleologische Auffassung des Sinnes und
Zweckes der hysterischen Symptome und Krankheitserscheinungen bedeuten
tatsächlich zugleich einen vollen Verzicht auf die von der psychoanalytischen
Forschung auf gedeckten kausalen Zusammenhänge und unbewußten Vorgänge
bei der Hysterie.
Die zielgerichtete Denktätigkeit ist, wie gesagt, eine Eigentümlichkeit des
Bw-Systems, das mit der zusammenfassenden vereinigenden Funktion des
Ichs auf engste verbunden ist. Der zielgerichteten Einstellung des Ichs ent¬
sprechend, werden die bewußt wahrgenommenen Symptome und Krankheits¬
erscheinungen von ihm im Sinne der gegebenen Realität sekundär ver¬
arbeitet und umgedeutet oder rationalisiert. Dadurch wird eine psychologische
Verbindung zwischen der Realität und dem Symptom hergestellt und das
letzte bekommt seitens des Ichs noch neue, wenn auch meistens nicht klar
bewußte Tendenzen, die aber für sich allein, ohne ihre unbewußten Wurzeln,
nie zur Symptombildung führen könnten. Das ist einer der Gründe, weshalb
der Kranke auch auf Erscheinungen der Gegenwart mit Produktion von
Symptomen reagieren kann. So geschieht es auch mit den hysterischen An¬
fällen, die als eine Reaktion auf eine reale Situation der Gegenwart plötzlich
auftreten können, obgleich sie nur eine Wiederholung eines Erlebnisses aus der
Vergangenheit darstellen. Auch die psychoanalytische Behandlung selbst schafft
solch eine begünstigende Situation. So ist das hier geschilderte tägliche wie
absichtliche Auftreten der Anfälle während der analytischen Sitzung eine
Reaktion auf die gegenwärtige sogenannte „psychoanalytische Situation“. Be¬
sonders muß noch eine zielgerichtete Tendenz erwähnt werden, die bei der
neurotischen Symptombildung häufig eine große, manchmal sogar eine aus¬
schlaggebende Bedeutung hat, nämlich die Tendenz, dem Strafbedürfnis des
Über-Ichs zu entsprechen.
Nun entsteht aber eine wichtige Frage: wodurch wird diese Reaktionsweise
auf eine reale Situation, wie z. B. auf die Behandlung, mit hysterischen Anfällen
und anderen Krankheitssymptomen zu antworten, ermöglicht? Welches sind
die Mittel und Wege, deren sich die symptombildenden Vorgänge zu diesem
Zwecke bedienen? Die Psychoanalyse deckt sie auf und zeigt, daß sie von dem
Ubw-System des „Es“ stammen, nämlich in Form von Affektübertragung.
39*
M. Wulff: Über den hysterischen Anfall
612
Der Kranke kann nur dann mit Krankheitssymptomen auf eine gegenwärti e
reale Situation reagieren, wenn er zu den Objekten dieser Situation in einer
Übertragungsbeziehung steht. Durch die Übertragungssituation mobil gewor¬
dene, im Es fixierte Affekte erwerben, weil sie selbst Regressionen sind, auch
den psychischen Mechanismus (keine 'Wunschmechanismen!) der Regression
von den Erinnerungsspuren zu den Erlebnissen der Vergangenheit, welche
einerseits zur Symptombildung führen und anderseits gesteigert, in Form von
Anfällen, zum Wiedererleben kommen. Die hier geschilderte systematische
Analyse reihenweise täglich auftretender Anfälle ist nur durch die Über¬
tragung möglich geworden.
Auch der oben geschilderte Zustand der Patientin A. während ihres zwei¬
monatigen Aufenthaltes im Krankenhaus ist ein Produkt der Übertragung.
Der Zustand kam zum Ausbruch im Anschluß an eine Autofahrt, während
der die Patientin Angst bekam, weil sie der Geschicklichkeit des am Steuer
sitzenden Mannes nicht vertraute. Sie bat ihn, langsam zu fahren, er hielt
aber ihre Befürchtungen für grundlos und fuhr im üblichen Tempo weiter.
Dadurch wurde für die Patientin dieselbe angstvolle Zwangssituation her¬
gestellt wie beim Rattenerlebnis in der Kindheit. Das wurde noch dadurch
besonders begünstigt, daß die Übertragung vom Vater auf den Mann schon
früher durch viele Motive und Erlebnisse der Gegenwart hergestellt war.
„Der Krankheitsgewinn“, „die Flucht in die Krankheit“ aus der konflikt¬
reichen, leidvollen realen Gegenwart kamen hinzu, aber sie könnten höchstens
das Festhalten an dem schon bestehenden Krankheitszustand begünstigen,
nicht dessen letzte Ursache und schöpferische Quelle sein.
VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN
In dieser Rubrik erscheinen die Beiträge in der
Reihenfolge ihres Einlaufes hei der Redaktion.
EITSINN UND TRAUM
r on Alfred Groß (Mailand)
Im Traum einer Patientin stehen an einem Abhang mehrere kleine Knaben
in verschiedener Höhe des Abhangs. Unter den Traumerregern dominiert
ne bestimmte vaginale Sensation, deren Auftauchen bei dieser Patientin mich
•us dem Zusammenhänge der Analyse) zur Deutung nötigt, daß die am Ab-
ing stehenden Knaben das H e r u n t er g 1 ei t e n des Glieds in der
:heide versinnbildlichen.
Ich versuche, das Phänomen dadurch zu erklären, daß die Träumerin den
raum in einem frühen Stadium der Sekundärbearbeitung erfaßt hat: Es ist
»ch nicht das — im Ubw nicht vorhandene — Z e i t m o m e n t hinein-
ar eitet, vielmehr stehen zum Ausdruck der erstrebten lustvollen Be-
'gungssituation — die Knaben (anstatt eines einzigen) an verschiedenen
eilen des Berghanges, wie ein Filmstreifen, der denselben Gegenstand in
direren aufeinanderfolgenden (vielmehr für den Beschauer folgen sollen¬
in) Zustanden zeigt. Es zeigt also der Traum hier eine primitive Erlebnis-
i e, in der der Zeitsinn fehlt — und mit ihm die Aufeinanderfolge von Zu-
inden, das heißt: — die Bewegung.
Der Vergleich mit dem Filmstreifen (zu dem der Traum der Patientin
radezu herausforderte) erinnert an den Bau unseres Auges, welches ja gar
:ht rn der Lage ist, „Bewegungen“ zu sehen, sondern nur Zustände, und
ar ln be § renzt schneller Aufeinanderfolge. Daß wir die schnell aufeinander-
genden Zustände eines Objekts zum Erlebnis einer „Bewegung“ verbinden,
ein sekundärer Vorgang gegenüber dem primären optischen Akt: das Auf-
imen von Bildern auf der Netzhaut. Ein sekundärer Vorgang gegenüber
n Sinnesakt, und somit wohl eine „höhere“ psychische Leistung als dieser.
Der Traum hat — nach F r e u d — den Schlaf zu schützen. Offenbar ist
6 14
Vorläufige Mitteilungen
letzterer ein Zustand, in dem neben anderen Leistungen des WBv auch
diejenige wegfällt, vermöge deren wir uns das Erlebnis (fast hätte ich gesagt:
„die Illusion“) der Bewegung verschaffen. Ist uns das neu? — Keineswegs!
Denn wir wissen ja, das Ubw ist „zeitlos“, und ohne den Zeitsinn ist uns
das Bewegungserlebnis bekanntlich versagt. Wo also Zeitlosigkeit herrscht,
wie im Ubw, wie — vielleicht — im Schlafe, müsse sich Bewegung auflösen
in ein Nebeneinander von Zustandsbildern (Filmstreifen), — so könnte
man folgern. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß die „Zeitlosigkeit“ des
Ubw ein empirischer Fund ist, dessen Bedingungen noch problematisch sind.
erfolgreiche; Behandlung einer schweren,
MULTIPLEN KONVERSIONSHySTERIE DURCH KATHARSIS
Vortrag von Emil Simons on (Ber!m=HaIensee),
gehalten in der Deutschen psychoanalytischen Gesellschaft am 13. Dezember 1932.
In der Allgemeinpraxis wurde ich im November 1926 zu einer 58jährigen
Portiersfrau wegen angeblichen Schlaganfalles mit Lähmungen der linken
Körperhälfte, starken Schmerzen, besonders im Arm und der Herzgegend,
Blindheit und Verlust des Geruchssinnes gerufen. Die Untersuchung ließ alle
Erscheinungen als hysterische Konversionen erkennen. Da die unerträglich
schmerzhaften Paraesthesien sofortiges Eingreifen verlangten, versetzte ich
sie in tiefe Hypnose, was leicht gelang, zunächst nur zwecks suggestiver
Beeinflussung. Dadurch konnten die Schmerzen, die Amaurose und der Ge¬
ruchsverlust in der ersten Woche beseitigt werden, allerdings unter Neigung
zu Rezidiven. Einerseits die Empfänglichkeit für tiefe Hypnose, anderseits
die aus dem Lebensalter und dem niedrigen Bildungsgrade der Patientin sich
ergebende Unmöglichkeit einer Psychoanalyse bewogen mich zu dem Versuch
einer Katharsis nach dem alten Breuer-Freud sehen Muster. Hierbei
kam im Laufe des nächsten halben Jahres eine ungeheure Anzahl von Er¬
lebnissen und eingeklemmten Affekten zum Vorschein, die ganz wie bei der
alten Katharsis mimisch und dramatisch dargestellt wurden und von der
Gegenwart bis in die frühe Kinderzeit zurückreichten. Z. B. wurde ein
53 Jahre zurückliegender Ödipustraum aus dem sechsten Lebensjahre neu
erlebt. Eine zehn Jahre zurückliegende Erfrierung beider Unterschenkel wurde
für einen aktuellen Zweck reproduziert.
Das Besondere des Falles liegt aber darin, daß es nicht, wie bei der alten
Katharsis, bei einer kaleidoskopartigen Aneinanderreihung von Erlebnissen mit
dem Ergebnis der Beseitigung von Symptomen sein Bewenden hatte, sondern
Vorläufige Mitteilungen
615
daß das Verfahren durch Benutzung der durch die Psychoanalyse gewon¬
nenen Erkenntnisse weit mehr in die Tiefe führte. Die Frau arbeitet seit sechs
Jahren wieder. Durch Aufdeckung der infantilen Situation und Ermittlung
des aktuellen Konfliktes konnte ein Verlauf erzielt werden, der dem einer
klassischen Psychoanalyse sich bemerkenswert näherte, zumal ein vorsichtiges
aktives Eingreifen bei diesem Verfahren weniger gefährlich ist als bei der
klassischen Psychoanalyse.
Bemerkenswert sind auch die mehrfachen Träume, durch die das Unbe¬
wußte einen Tag vorher das Programm der nächsten kathartischen Sitzung
gewissermaßen festlegt. Hitschmann hat schon 1919 einen solchen Fall
berichtet („Uber eine im Traume angekündigte Reminiszenz an ein sexuelles
Jugenderlebnis“). Nicht häufig wird sich auch in der Literatur eine solche
Wirkung des Wiederholungszwanges finden, daß eine Frau zweimal in ihrem
Leben einen ungeliebten Mann heiratet, nur weil die Angehörigen dagegen sind.
Die Schuldgefühle gegen den Vater bewirkten, daß sie nach dem jus
talionis von ihm durch dieselben Leiden, an denen er gestorben war (linke
Körperseite), bestraft werden muß, um dann nach der Sühne im Tode wieder
mit ihm vereint zu sein.
Das ist keine Psychoanalyse, aber in geeigneten Fällen, in denen Psycho¬
analyse aus inneren oder äußeren Gründen nicht möglich ist, können wir
durch Zuhilfenahme der in den letzten 40 Jahren erworbenen psychoanaly¬
tischen Einsichten mehr erreichen als durch die damalige Katharsis. Das gilt
auch besonders in Fällen wie dem vorliegenden, in dem ein Ich schnellste
Hilfe und ein Über-Ich (Krankenkasse) möglichste Beschleunigung verlangt.
ZUR METAPSyCHOLOGIE DES MASOCHISMUS
Vortrag von Ludwig Eideiberg (Wien)/
gehalten im Technischen Seminar des Wiener psychoanalytischen Ambulatoriums am
1. Februar 1933.
Bei einem 30jährigen Patienten finden wir als Äußerungen seiner maso¬
chistischen Perversion auf dem Liebesgebiete: den Sexualverkehr mit besonders
schmutzigen Prostituierten, wobei außer dem Koitus Beschmutzungen und
Schläge auf den Penis stattfinden; bei hübschen Mädchen wird kein Sexual¬
verkehr ausgeübt. Im Berufe erleidet Patient diverse Erniedrigungen von
seinen Vorgesetzten, seine Arbeit ist eintönig, seine Fähigkeiten werden nicht
ausgenützt. Dieser Zustand wird vom Patienten geduldig und ohne jede Ab¬
wehr ertragen. Daß es sich um ein Erleiden handelt, ist ihm bewußt, er weiß,
6i6
Vorläufige Mitteilungen
daß andere Menschen ein anderes, glückliches Leben führen. In der Analyse
gelingt es dem Patienten zu beweisen, daß dieses Leid nicht, wie er behauptet
ohne sein Zutun über ihn von der Außenwelt verhängt wurde, sondern daß
er selbst durch sein Benehmen dieses Leid provoziert hat. Nur dieses selbst¬
erzeugte Leid wurde von ihm genossen, während das reale sorgfältig
gemieden wurde. Den Mechanismus, der dem Patienten erlaubt, äußere
Versagungen unschädlich zu machen, indem er statt
sie passiv zu ertragen, selbst aktiv welche schafft,
nenne ich den „masochistischen Mechanismu s“. Durch Be¬
wußtmachen und langes Durcharbeiten dieses Mechanismus wird seine Wir¬
kung gelähmt. Offenbar konnten selbsterzeugte Niederlagen an Stelle der
realen nur unter der Bedingung gesetzt werden, daß sie dem Bewußtsein des
Patienten als reale erscheinen. Dieser „masochistische Mechanis¬
mus“ ist metapsychologisch den bereits bekannten
Mechanismen wie Projektion, Konversion, Introjek-
tion und Reaktionsbildung gleichzusetzen. Ich konnte
diesen Mechanismus bei einigen Patienten beobachten; ob er bei allen Maso¬
chisten vorliegt oder nur bei einer Gruppe, wird erst auf Grund von Ana¬
lysen zahlreicher Fälle entschieden werden können.
DIE VIER FRONGESETZE DER ZWANGSNEUROSE
Vortrag von Paul Federn (Wien),
gehalten in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung im Juni 1931.
Vorbemerkung: Daß ein psychischer Akt gegen den Willen des
Individuums einfällt und ihm fremd und überraschend erscheint, ja von
ihm abgelehnt wird, erschöpft nicht das Wesen des Zwanges (das kann
triebhaft, gewohnheitsmäßig, automatisch, unabsichtlich, auch ticartig
oder hysterisch geschehen sein). Der Zwang ist zu charakterisieren als
eine vom Ich zwar nicht gebilligte, aber doch als ichzugehörig akzeptierte,
wenn auch vom Ich als aufgezwungen gefühlte Leistung. Daß der
Zwang eine Leistung ist, ist wesentlich und gilt auch für die einfachste
Zwangsvorstellung, die eine Denkleistung, nicht eine bloße, passiv er¬
lebte Denkphase ist. Eine Halluzination ist, obgleich aufgedrungen,
kein Zwangssymptom.
Da der Zwang eine Leistung ist, muß die Leistung gelingen, damit
der Zwang erledigt sei.
Jede Leistung hat bestimmte Bedingungen zu erfüllen, um zu gelingen.
Diese Bedingungen sind in jedem Falle verschieden, hängen vom Inhalt des
Vorläufige Mitteilungen
617
Zwanges ab; alle diese Bedingungen haben aber gemeinsam, daß sie sich auf
die Art des Vorganges der Leistung beziehen. Dieses Gemeinsame sind die
Gesetze des Zwanges. Es sind die Frongesetze, die der Zwangsneurotiker bei
jedem Zwange erfüllen muß, um von der ihm auferlegten Leistung für
einige Zeit befreit zu werden. Gelingt ihm die Erfüllung des durch diese
Bedingungen erschwerten Zwanges nicht, so wird aus dem Einzelzwang ein
Dauerzwang. Wir können zwei Arten des Dauerzwanges unterscheiden: das
von Freud beschriebene „Zwangsdeli r“, in welchem immer neue in¬
haltliche Aufgaben mit fortdauernden formalen Bedingungen auferlegt wer¬
den, und den gleichsam strafweise vervielfachten Zwang, wofür
Waschzwänge ein häufiges Beispiel sind. Es können auch Einzelz'/äi^ge so
oft und leicht ausgelöst werden, daß sie einem Dauerzwang gleichen. Es ist
aber wahrscheinlich, daß alle Zwänge als Einzelzwang beginnen und erst,
weil sie nicht genügend gelungen sind, zu Dauerzwängen werden. Das würde
z. B. bedeuten, daß selbst der einfache Zwang, etwa eine bestimmte Zahl
mehrmals zu wiederholen, nicht der erste Keim dieser Art Zwänge ist, son¬
dern dadurch zustande kam, daß es zuerst nicht gelang, es einmal richtig
zwangsgemäß zu tun. Eine Ausnahme von dieser Regel besteht scheinbar für
die dreimalige Wiederholung, welche als primäre Zwangsaufgabe so häufig
auftritt. In Wirklichkeit ist aber auch diese Wiederholung die Folge davon,
daß zwischen zwei ambivalent empfundenen Entscheidungen doch eine ge¬
wählt wurde, aber nur um den Preis, daß die erste Handlung noch nicht
endgültig gilt, die zweite an Stelle der entgegengesetzten treten muß und
dann die dritte erst den Zweifel endgültig erledigt. Wir sehen an diesem Bei¬
spiel, daß die Wiederholung von Zwangsleistungen diesseits und nicht jen¬
seits des Lustprinzips erfolgt, also nicht durch das Wiederholungsprinzip
erklärt werden darf. Das gilt für alle Dauerzwänge und zwanghafte Wieder¬
holungen. Deshalb hätte die Bezeichnung „Wiederholungs p r i n z i p“ oder
„Trägheitsprinzip“ manchen Vorteil vor dem von Freud gewählten Ter¬
minus „Wiederholungs z w a n g“, zumal „Zwang“ schon allgemein für „dem
Ich sich aufdrängende“ Vorgänge gebraucht wird.
Wir wollen die vier Gesetze nennen:
1. Erfüllung der Determinierungen, das ist inhaltliche Exaktheit.
2. Freiheit von inhaltlichen Ablenkungen, das ist gelungene Isolierung.
3. Gebot des einheitlichen Affekts: Freiheit von Zweifel, Gegen willen,
Furcht oder libidinöser Besetzung.
4. Gebot der Beteiligtheit des ganzen Ichs, d. h. ganz dabei sein.
Alle diese Gebote betreffen sowohl den ganzen Zwang als auch seine ein-
6 18
Vorläufige Mitteilungen
zelnen, oft zweizeitig einander widersprechenden Teile. Der ganze Zwang
muß wiederholt werden, wenn auch nur ein Teil in bezug auf eines der
Gesetze mißlang. Die einzelnen Bedingungen in bezug auf Inhalt, Affektlage
und Isolierung stehen untereinander in einer Rangordnung, die bei verschie¬
denen Kranken verschieden ist. Ist z. B. das inhaltliche Gebot der vorge¬
schriebenen Zahl das Wichtigste, dann muß der Gesamtzwang, so oft dieser
Zahlbefehl es vorschreibt, wiederholt werden, auch wenn eine andere Bedin¬
gung bei einem Zwangteil verletzt wurde. Das oberste Gebot scheint aber
meistens das vierte zu sein, obgleich gerade dieses dem Kranken nicht bewußt
und bekannt ist. Der Kranke meint nur, er sei nicht befriedigt gewesen und
müsse den Zwang wiederholen.
Bemerkungen zu den einzelnen Gesetzen:
Zu i.: Die inhaltliche Richtigkeit verlangt nicht nur das vorschriftsgemäße
Ausführen der Zwangshandlung oder das vorschriftsmäßige gedankliche
Durchführen der Zwangsaufgabe; es sind dabei auch ökonomische Vor¬
schriften zu erfüllen, die sich auf die Verteilung der Wichtigkeit auf die
einzelnen Phasen des Zwanges beziehn. Ich sollte das eigentlich als beson¬
deres, fünftes Gesetz formulieren, weil wir auch sonst den inhaltlichen vom
ökonomischen Gehalt zu trennen pflegen. Anderseits ist aber Inhalt und
Wichtigkeit desselben genetisch so eng verknüpft, daß sie immer zusammen
erklärt werden müssen. Der ökonomische Index beeinflußt besonders das
Tempo und den Schwung der einzelnen Zwangshandlungen.
Zur inhaltlichen Exaktheit gehört auch die Berücksichtigung
aller Möglichkeiten bei der Ausführung des Zwanges. Überhaupt
verhält sich der Zwangsneurotiker zur Möglichkeit und Wirklichkeit ganz
anders als der Normale. Das bloß Mögliche schaltet dieser aus der gedank¬
lichen Erledigung oder den Gründen der Entscheidung aus und muß erst
durch Erfahrung lernen, daß das gefährlich werden kann. Der Normale hat
genug damit zu tun, dem Wirklichen zu begegnen. Jedenfalls ist die Kate¬
gorie der Wirklichkeit von der Möglichkeit für den Normalen selbstver¬
ständlich und sicher unterscheidbar. Er wird je nach der Wirklichkeit ent¬
scheiden und gegen bloß eventuelle Wirklichkeiten und nach Regeln der
Klugheit Vorbeugen.
Hingegen bleibt die Wirklichkeit eines Eindrucks oder einer Handlung
für den Zwangsneurotiker im Gebiete des Zwanges sehr zweifelhaft; ander¬
seits könnte das nur Mögliche doch wirklich sein. Nur die völlig exakte
Befolgung der Zwangsregeln erspart solche Zweifel; jedes Abweichen gibt
Grund zu neuen Zweifeln und Zwängen.
Vorläufige Mitteilungen
6 19
Theoretisch ist diese Übermacht der Möglichkeit sehr interessant. Sie fußt
auf der Regression zur magischen Welterfassung. Auf magischem Wege
kann alles, was möglich wäre, auch Wirksamkeit haben. Es muß daher als
Wirklichkeit behandelt werden und im Zwange, dieser magischen Antwort,
seine Berücksichtigung finden.
Zu den Gesetzen 2 und 3: Diese können auch zusammengefaßt werden
in das eine innere Gebot, den Zwang ohne Ablenkung inhaltlicher und affek¬
tiver Art auszuführen. Um dies zu erleichtern, werden die Zwänge immer
mehr der besonderen Inhalte beraubt und von Affekt entleert. Das erste
Gebot, das der exakten Durchführung, widerspricht aber dieser Tendenz.
Jede Erleichterung ist ein Wagnis und gelingt meistens nur auf Kosten des
sonstigen Aktionsradius der Persönlichkeit; d. h. aktuelle Quellen möglichen
Schuldgefühls werden immer mehr vermieden, dann erst kann versucht
werden, die Zwangsrituale zu vereinfachen und zu typisieren.
Alle solchen sekundären Bearbeitungen der ursprünglichen Zwänge lassen
als das Wesentliche unangetastet, daß ein inneres Bedürfnis nach Befreiung
vom Druck des Zwanges besteht und nur bei Befolgung der Gesetze schwin¬
det. Uber die Richtigkeit dieser Befolgung — also als Fronvogt, um das
Gleichnis fortzusetzen — wacht aber nicht das Uber-Ich, sondern der Signal¬
apparat der Angst des Ichs. Dieser Signalapparat wird von subtilen Ver¬
letzungen der Zwangsbedingungen schon ausgelöst, der Zwang wird abge¬
brochen und gleich oder unter Gewährung eines Aufschubs von vorne angefan¬
gen. Wiederholte Störungen können zu einer Zwangspanik führen, aus der oft
nur eine Begnadigung durch eine andere Person befreien kann. Es ist nämlich
die Regel, daß der Zwangsneurotiker, so wie es Freud vom Rattenmann
berichtet, eine Instanz außer sich zu gewinnen trachtet, welcher er die
Autorität einräumt, ihn von Zweifelangst und Zwangspanik zu befreien.
Dem Analytiker wird vom Patienten diese Rolle nach Möglichkeit über¬
tragen.
Zu 4.: Schon die zwei ersten Regeln widersprechen einander und sind deshalb
schwer zu erfüllen, denn die Exaktheit verlangt Aufmerksamkeit, und dem
Aufmerksamen fällt leicht auch das andere ein. Ein Ausweg daraus wäre,
den Zwang zum Automatismus werden zu lassen, worauf Landauer
hingewiesen hat. Diese Möglichkeit untersagt die Verpflichtetheit des Zwangs¬
neurotikers, ganz mit seinem Ich dabei gewesen zu sein. Erst wenn er das
„Wissen“ davon hat, daß er die Zwänge mit ungeteilter voller Hingabe
erfüllt hat, ist sein „Gewissen“ beruhigt und es tritt ein zwangfreies Intervall
ein. Beim Gesunden erfolgt die Zuwendung des Ichgefühls gleichzeitig mit
620
Vorläufige Mitteilungen
der Aufmerksamkeit, ohne aber zwangsweise sich auf die ganze Ichgrenze
erstrecken zu müssen. Der Zwangsneurotiker muß ganz dabei sein und ver¬
meidet doch dabei, allzu aufmerksam zu sein, damit er nicht abgelenkt werde
So entsteht ein gequältes Ringen zwischen beiden Tendenzen, zwischen Kon¬
zentration und vager Ausführung. Die Konzentration muß aber an allen
Punkten vollkommen sein, wo inhaltlich eine Ablenkung möglich würde.
Im Verlauf einer lange dauernden Zwangsneurose werden Teile des Zwangs
verwischt, verschleiert oder die Übergänge der zweizeitigen Zwänge ab¬
gerundet und unübersichtlich gemacht, das Ich des Kranken scheint mit dem
Symptom zu spielen — all das hat aber die Aufgabe, einem Bedürfnis nach
richtiger Verteilung der Besetzungen gerecht zu werden und ist nur mög¬
lich, wenn die Vorschrift, daß das Ich ungeteilt dabei ist, ständig befolgt
wird. An die Verletzung dieses Gebotes knüpfen sich die größten Zweifel,
auch wenn so viele Kautelen den Zwang kompliziert haben, daß inhaltlich
seine Erfüllung gelingen muß. Anderseits darf ein Zwang nur dann vorläufig
in abgekürztem Ausmaß erledigt werden, wenn die Ichbesetzung besonders
intensiv dabei ist.
Die ökonomische Genauigkeit betrifft besonders das Bedürfnis nach Un¬
geschehenmachen eines Fehlers im Zwangsritual. Man könnte daraus noch
ein f ü n f t e s Frongesetz formulieren. Wenn der Zwang einer Störung unter¬
lag und doch fortgesetzt wird, so muß diese Störung inhaltlich und ökono¬
misch in völlig symmetrischer Umkehrung, wie an einem Ariadnefaden im
Labyrinth der Assoziation und Impulse, zurückgegangen werden, ein
Musterbeispiel des magischen Ungeschehenmachens, das Freud als die eine
Aufgabe des Zwanges aufdeckte.
Als sechstes Frongesetz kann die schon erwähnte Notwendigkeit
gelten, jeden Zwang als ein Ganzes zu beurteilen und auszuführen. Das
fünfte ist dann eine allerdings sehr schwer zu benützende — Ausnahme¬
bestimmung des sechsten Gesetzes.
ZUR THEORIE UND KLINIK DER PERVERSION
Vortrag von Ludwig Eidelberg (Wien),
gehalten in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung am 5. April 1933.
1. Das Problem der Bejahung des perversen Partialtriebes durch das Ich des
Perversen erscheint durch die bisherigen Formulierungen nicht befriedigend
gelöst.
T
Vorläufige Mitteilungen
621
2. Bei den mitgeteilten Fällen (Masochismus und männliche Homosexualität)
zeigt die Analyse, daß das Bejahen einer perversen Handlung nicht eine Be¬
jahung der bei Neurosen abgewehrten Partialtriebe bedeutet. Das was bejaht
wird die perverse Handlung —, ist nicht mit dem Partialtrieb identisch; sie
bedeutet nicht eine einfache Bejahung desselben. Es zeigt sich vielmehr, daß
der Partialtrieb eine weitgehende Veränderung und Maskierung erfahren muß,
um durch die perverse Handlung befriedigt zu werden. Diese Maskierung
ist durch die Abwehr des Ichs des Perversen bedingt, das sich gegen eine Be¬
friedigung eines Partialtriebes genau so energisch wehrt wie das Ich eines
Neurotikers.
3. So ist die perverse Handlung, ähnlich wie ein neurotisches Symptom, das
Ergebnis eines Konfliktes zwischen Ich und Es. Sie bedeutet ein Kompromiß
und enthält in sich sowohl Momente der Triebbefriedigung als auch
der Triebv ersagung. Gleichzeitig befriedigt sie die Forderungen des
Über-Ichs. Ähnlich wie beim Symptom erfolgt die Triebbefriedigung in mas¬
kierter Form, ihr wahrer Inhalt bleibt unbewußt. Sie unterscheidet sich vom
neurotischen Symptom erstens durch die Art der Befriedigung der Es-Strebung,
die hier im Orgasmus erfolgt, zweitens durch eine weitgehende Berücksich-
tigung der Allmachtswünsche des Ichs durch eine willkürliche ichgerechte
Handlung.
4. Perverse und Neurotiker wehren also den Partialtrieb ab. Der Unter¬
schied zwischen beiden besteht nicht in der Bejahung, bezw. der Abwehr
eines Partialtriebes, sondern in dem Verhalten des Ichs zu den
Abwehrmechanismen. Während aber in jeder Neurose das Ich das
Symptom, das ein Ergebnis seiner Abwehr ist, als Fremdkörper betrachtet und
in allerdings quantitativ verschiedenem Ausmaße verneint, wird in der Per¬
version die perverse Handlung, die ebenfalls ein Ergebnis der Abwehr des
Ichs ist, von dem Ich bejaht.
5. Dieser Unterschied im Verhalten des Ichs ist dadurch bedingt, daß bei
der Bildung der perversen Handlung der kindliche Größenwahn
des Ichs in weit größerem Ausmaße berücksichtigt wird als beim neu¬
rotischen Symptom.
6. Für die Genese der Perversion wie auch der anderen psychischen Er¬
krankungen müssen ferner zwei Momente berücksichtigt werden, die Art
der Regression auf eine der drei Entwicklungsstufen und die jeweilige Zuge¬
hörigkeit zu einem der drei libidinösen Typen.
622
Vorläufige Mitteilungen
MUTTERSCHAFT UND BISEXUALITÄT
Vortrag von Fritz V/ittels (New York)/
gehalten in der psa. Vereinigung in Chikago am 27. Januar 1933.
Im Anschluß an eine kurze Mitteilung im Almanach der Psychoanalyse
1933 („Das Überich in der Geschlechtsentscheidung“) wird an Hand von vier
analysierten Fällen der Nachweis versucht, daß Freuds Gleichung (Kind =
Penis) von gewissen maskulinen Frauen dahin erlebt wird, als wären sie
nun wirklich männlich geworden. Sie verlieren während ihrer Schwangerschaft
und im Besitze von Kindern das sexuelle Interesse an Männern, werden
manchmal manifest lesbisch, häufig die lesbische Tendenz auf das Kind über¬
tragend. Dieses Kind ist gelegentlich gar nicht wirklich das eigene Kind,
sondern illusioniert. Sie betrachten Schwangerschaft — paradox genug —
als eine männliche Leistung.
MONA LISA UND WEIBLICHE SCHÖNHEIT
Vortrag von Fritäf Wittels (N ew York),
gehalten im Freud-Seminar der New School for Social Research in New York am 10. Fe¬
bruar 1933.
Ausgehend von Freuds Studie über Lionardo da Vinci wird der phal-
lische Charakter des berühmten Lächelns deduziert. Um diesen Gedanken zu
erhärten, werden Resultate aus den Analysen von drei auffallend schönen
Frauen mitgeteilt, aus denen hervorzugehen scheint, daß Schönheit in manchen
Fällen als Konversionssymptom aufgefaßt werden muß, da5 den Willen,
maskulin zu sein, gleichzeitig verdeckt und manifestiert.
R E F E RAT E
sfas der ]Liter&tur der Grenzgebiete
Bra&töy, Trygve: Die psychoanalytische Methode. Beitrag zu der me¬
thodologischen Problematik in der Psychologie. Ztschr. f. d. ges. Neur.
u. Psych. 13 9/ £.
Die Arbeit enthält eine bemerkenswerte methodologische Apologie der psycho¬
analytischen Technik. Der Autor geht von der speziellen Frage aus, ob es wissenschaft¬
lich korrekter wäre, die Äußerungen analytischer Patienten, bezw. Versuchspersonen
mitzustenographieren, die er im Sinne von Freud verneint. Ein Mitschreiben errege
nicht nur in der Seele des Patienten unnötige Widerstände, behindere nicht nur die
Aufmerksamkeit des Analytikers, den es zwinge, eine unerwünschte Auswahl unter den
Worten des Patienten zu treffen, sondern es bedinge auch, daß alles Interesse sich in
unerlaubter Weise nur den sprachlichen Äußerungen des Patienten zuwende,
die keineswegs immer die wichtigsten seien. Mimik, Gebärden und Bewegungen aber
könne man nicht vollständig registrieren. Tatsächlich begnüge sich aber auch keine
Wissenschaft mit bloßem Registrieren. Registrieren ohne Deuten könne nirgends brauch¬
bare Problemlösungen bringen: „Die Objektivität des Registrierungsapparats ist...
gar nicht allein entscheidend, sondern das Entscheidende ist die Zentrierung des Re-
gistrierens, ob in bezug auf das Problem wesentliche oder unwesentliche Dinge notiert
werden. In Verbindung mit... psychologischen Problemen ist... der objektive Apparat
oft tendenziös, weil er wegen seiner konsequenten unbeeinflußbaren Objektivität wesent¬
liche Phänomene ausschließt."
Die Richtigkeit dieses Standpunktes wird nun demonstriert am Beispiel eines Ver¬
gleiches der tierpsychologischen Experimente von Thorndike und Köhler. Jener
registrierte exakt, aber er nahm in seine Versuchsordnung Vorurteile herein, die die
Experimente wertlos, das Registrierte der Problemstellung gegenüber irrelevant machten.
Dieser bringt in „kühner Vernachlässigung der sogenannten exakten Methode“ zur
Entscheidung der Fragen nach der Intelligenz der Tiere wirklich Relevantes. Am gleichen
Beispiel läßt sich sehen, wie es mit dem Einwand bestellt ist, der nichtregistrierende
Analytiker werde sich seines Materials nicht zuverlässig erinnern können: „Wir können
jetzt einen prinzipiellen Standpunkt dem Erinnerungsproblem gegenüber einnehmen.
Wenn wir an die Beschreibung der unruhig umherirrenden Hühner von dem Gitter
(bei Experimenten von Köhler) zurückdenken, dann ist es einleuchtend, daß es
unmöglich wäre, zu erinnern, daß eine Henne z. B. iymal in der Richtung Ost-West
flog, schneller gegen Ost als gegen West, mit n Schritten in der Minute gegen Osten
624
Referate
und mit p Schritten gegen Westen; nachher irrte sie in einer schiefen ellipsoiden Be¬
wegung hin und her; die eine Achse der Ellipse lag in der Richtung Nord-Nord-Ost
die andere lag usw. usw....! Eine solche Detaillierung ist ohne sehr komplizierte 1
Registrierungsapparate unmöglich zu erinnern oder wiederzugeben... Woran aber
Köhler oder sonst jemand sich leicht erinnern kann, wenn man nur darauf eingestellt
ist, ist die Bedeutung der Bewegungen in bezug auf das vorliegende Problem.“ Ein¬
ordnung in Sinn und Ganzheit garantieren die Erinnerung. Die erst unverständlichen
Äußerungen analytischer Patienten tauchen im Gedächtnis des Analytikers von selbst
auf, sobald sie sich einem Zusammenhang einfügen lassen. Von hier rechtfertige sich die
Forderung nach „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ des Analytikers, die nur bei
einer gewissen identifizierenden Gegenübertragung möglich sei. Nur die Einfühlung in
den Patienten bringe jenen Zusammenhang, jenen Sinn. Alles, was geäußert werde
müsse deshalb aus der momentanen analytischen Situation heraus verstanden werden!
Das bedinge eine gewisse Einseitigkeit, ohne die man nicht analysieren könne, die aber
störend werde, wenn sie von manchen Analytikern auch außerhalb der analytischen
Stunden beibehalten werde: „Daß viele Analytiker diese Forderungen nicht erfüllen,
sieht man oft als eine theoretische Gefahr, wenn sie sich außerhalb des Rahmens ihres
eigentlichen Arbeitsgebietes betätigen und z. B. über soziologische Probleme schreiben.
Sie gehen dann an die Probleme in einer Weise heran, als ob die Faktoren, die in der
analytischen Situation ausschlaggebend sind, auch außerhalb dieser Situation von der¬
selben problematischen Relevanz wären....“
Wir werden dem Autor sicher in seiner Zusammenfassung recht geben — und uns
freuen, daß in neurologisch-psychiatrischer Umgebung, wo so oft die Psychoanalyse
als „unexakt“ „abgetan“ wurde, solche Einsicht sich Bahn bricht —: „Da der Analytiker
analysiert ist und prinzipiell keine distrahierenden Fixierungen (Registrierungsapparate
oder ähnliches) in die Situation mitbringt, hat er die Möglichkeit, den Konflikt¬
situationen des Patienten zu jeder Zeit zu folgen, indem die Identifikation, seine eigene
Analyse und sonstige technische Voraussetzungen ihm die Einsicht schaffen sollen, die
dem Patienten dazu verhelfen, seine Konflikte zu artikulieren und dadurch auf dem
bewußten (sozialen) Plan zu lösen.“ Q. Fenichel (Berlin)
A-us der psychia.trisch=neurologischen Literatur
BretscKneider: Psychogene (»oneirogene«) Krankheitsbilder. Arch. f.
Kinderheilkunde/ 98 Bd. 7 S. 52, 1932.
Der Referent ist seit vielen Jahren bemüht, die reichen Erträgnisse der psycho¬
analytischen Forschung der Kinderheilkunde nutzbar zu machen. Man soll nicht verzagen:
Der Verfasser bringt aus dem Kindersolbad Raffelberg, Mühlheim-Ruhr, eine Mitteilung
über fünf Kinder in der Ausdrucksweise der Psychoanalyse, etwas oberflächlich zwar,
aber ohne Freuds Namen auch nur in der Klammer zu nennen. Bei allen fünf Kindern
soll die Erkrankung an das erste Erscheinen eines in der Tat immer sehr durchsichtigen,
wiederkehrenden Traums angeknüpft haben. — Zwei Mädchen, 11 % und 11 Jahre alt, leiden
an rezidivierenden Nabelkoliken (neurotisches Syndrom, von Friedjung beschrieben),
Traum: Koitus- und Geburtsphantasie, in den Nabel verlegt (frühinfantil). — i2jähriger
Knabe träumt von einer Defäkation, bei der er schließlich bis an den Bauch im Kot
Referate
625
sitzt. Folge: Hartnäckiges Ekzem des Gesäßes. — 13jähriges Mädchen träumt von einem
Rauchfangkehrer, der ihren Rücken rhythmisch streicht. Folge: Kreuzschmerzen,
„Ischias“. — 12jähriger Knabe hat einen Geburtstraum. Folge: Asthmatische Anfälle. —
Es ist sehr fraglich, ob die Dinge so einfach lagen, wie Bretschneider sie sieht.
Daß er sie sieht und von ihnen berichtet, ist das Erfreuliche. Von der Behandlung wird
nichts mitgeteilt. J. Friedjun S (Wien)
Dreikurs, Rudolf: Das nervöse Symptom. Wr. med. Wochenschrift. 1932
Eine auf Gemeinverständlichkeit angelegte Darstellung des Neurosenproblems, für
den Laien wie für den nicht speziell unterrichteten Arzt bestimmt, final auf die Be¬
währung individualpsychologischer Anschauungen gerichtet. Es findet sich eine Anzahl
von treffenden Bemerkungen und Hinweisen des psychotherapeutischen Praktikers, aber
im ganzen scheint es fraglich, ob eine Darstellung wie diese gerade ihrem informativen
Zweck gerecht wird. Die psychoanalytische Neurosenlehre findet eine nicht nur ganz
unzulängliche, sondern auch arg entstellende Erwähnung. Da steht, daß „gerade von
der Psychoanalyse gegenwärtig der stärkste Widerstand gegen das psychologische Ver¬
ständnis nervöser Störungen ausgeht“. Und wenn es vollends heißt, daß „wahrscheinlich
alles, was der Mensch als triebhaft empfindet, nichts mit dem Triebleben, das wir aus
der Tierwelt ableiten, zu tun hat,... daß jede Triebhaftigkeit nur eine Auflehnung
darstellt gegen Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft.. “, so beschwichtigt das
jeden Gedanken an eine ernsthafte Auseinandersetzung. Q. feakowcr (Wien)
J&cobsohn, L,. J.: Die Frigidität der Frau. (Für Är^te und Studierende.)
Verlag: »Bildung«, Leningrad, (russisch)
Unter der Frigidität (dyspareunia) der Frau versteht der Verfasser eine partielle
oder vollständige Anästhesie (bis Vaginismus einschließend) der Sexualität der Frau bei
dem Geschlechtsverkehr („naturae frigidae", „femme de marbre“, „femme de glace“).
Die Frigidität der Frau, meint der Autor, führt zur Zerstörung des Familienlebens,
hat also eine wichtige soziale Bedeutung und ist deshalb ein sehr großes Übel, dessen
Bekämpfung von außerordentlicher Bedeutung ist. Die Ursachen der Frigidität sind
oft somatisch, meistenteils aber haben sie, den Erfahrungen des Verfassers gemäß, einen
psychogenen Ursprung und sind deshalb, seiner Meinung nach, mit psychotherapeutischen
Mitteln zu bekämpfen. Außer anderen psychotherapeutischen Behandlungen der Frigidi¬
tät wird von dem Verfasser auch die Psychoanalyse empfohlen, unter der Bedingung
aber, daß sie sich mehr an die Realität halte (156). Die Monographie Stekels er¬
scheint ihm künstlich, unreal. Dasselbe behauptet der Verfasser von Sadger (m).
Als Mittel der Bekämpfung der Frigidität wird von dem Autor die Schonung der
jungen Frau bei dem ersten Geschlechtsverkehr empfohlen, das wichtigste Mittel der
Bekämpfung des Übels ist aber ein anderes: die Einsicht des Mannes, daß die Frau
ebenso ein Recht auf den Genuß (Lust) während des Geschlechtsaktes hat wie er selbst.
„Der Orgasmus ist eine schöne Prämie der Natur für die Fortpflanzung aller Lebe¬
wesen dieser Worte Freuds, meint der Verfasser, sollen alle Ehemänner ge¬
denken. Die Aufgabe der Männer, für die Lustgefühle der Frau bei Geschlechtsvor¬
gängen zu sorgen, ist ein Mittel, die Frau zur Ehe zu erziehen, das Familienleben vor
Zerstörung zu bewahren.
Als Prophylaktikum der Frigidität wird von dem Autor unter anderem die ratio¬
int. Zeitsdir. f. Psychoanalyse, XIX—4
40
6z6
Referate
nelle Erziehung der Mädchen im Sinne der sexuellen Aufklärung derselben durch die
Eltern empfohlen. F* Lowt^ky (Berlin)
Jacobsohn/ L,. J.: Die Onanie beim Mann und bei der Frau* (Für
Artete und Studierende). Akademischer Verlag/ Leningrad (russisch)
„Die Onanie beim Mann und bei der Frau“ ist eine umfassende Arbeit, die eine
erschöpfende Darstellung der verschiedenen Onanieformen bei verschiedenen Völkern
in verschiedenen Zeitaltern gibt: die Onanie beim Säugling, bei Jugendlichen, bei Er¬
wachsenen (beim Mann so wie bei der Frau) und die Onanie im vorgeschrittenen
Alter; die Verbreitung derselben bei Tieren, bei Primitiven und bei Kulturvölkern, im
Mittelalter und in der Gegenwart. Eingehend werden die Folgen der Onanie, ihr Ein¬
fluß auf das Organische, besonders auf das Psychische, die Prophylaxis und die Therapie
(Organotherapie und Psychotherapie) in dieser Arbeit behandelt.
Das wichtigste therapeutische Mittel der Bekämpfung der Onanie ist, der Meinung
des Verfassers nach, die Psychotherapie. Was die Psychoanalyse als Therapie betrifft,
so meint der Verfasser, daß die Analyse der Onaniefälle deshalb oft überflüssig ist,
weil die Kenntnis der Ursachen der Onanie nicht zur Heilung derselben führt: es
sind ihm Fälle bekannt, bei welchen der Kranke die Ursachen seines krankhaften Trie¬
bes ganz genau wußte und doch sich von demselben nicht befreien konnte. Außerdem
nimmt der Verfasser mit Moll an, daß die Anhänger Freuds einen gemeinsamen
Fehler machen, indem sie der Sexualität überhaupt und den Erinnerungen der Erwach¬
senen eine zu große Bedeutung beilegen: Die Kranken verfälschen ihre Kindheitserin¬
nerungen, legen ihnen die nie vorhandene sexuelle Bedeutung bei; die Analytiker glauben
den Patienten und ziehen aus ihren Mitteilungen wichtige Schlüsse. Bei dieser Beurtei¬
lung entgeht dem Verfasser eine den Analytikern wohlbekannte Tatsache, daß selbst
in den Fällen der Fälschung der Erinnerungen diese Fälschung von Bedeutung ist, weil
sie eine Phantasie, also eine Realisierung eines unbewußten Wunsches des Patienten ist
und als solche einen Zugang zu den unbewußten Erlebnissen des Kranken gibt. Was
die Onaniefälle betrifft, bei welchen die analytische Behandlung überflüssig ist, weil die
Ursachen seines krankhaften Triebes dem Onanierenden bekannt sind, so übersieht der
Verfasser die ihm sicherlich nicht unbekannte Tatsache, daß es auch unbewußte Ur¬
sachen der Erkrankungen gibt und daß die Unkenntnis derselben dem Kranken un¬
möglich macht, sich von abnormen Triebregungen zu befreien. In dieser Hinsicht ihm
behilflich zu sein, ist wohl keine andere Therapie so berufen als die Analyse.
Die Freud sehe Theorie sowie die psychoanalytische Schule ist dem Verfasser
bekannt, mit vielen Behauptungen derselben ist er aber nicht einvestanden, so findet der
Verfasser zum Beispiel die Erklärung der Analyse, daß die mit der Onanie verbundenen
Schuld- und Sündhaftigkeitsgefühle eine Folge der sie begleitenden Inzestphantasien
sind, stark übertrieben. Es gibt schon Fälle, meint er, bei welchen die Inzest¬
bindung zu den Eltern, „sehr selten“ (!) zu den Geschwistern, vorhanden ist, aber unter
dem Einfluß der Gewohnheit und der Erziehung befreien sich die Kinder von der¬
selben. Die Schuldgefühle, meint er, sind die Folgen der christlichen Kultur und der mit
dieser Kultur verbundenen asketischen Ideale. Der Verfasser bringt einen Fall von einem
zwanzigjährigen Badeangestellten vor, der täglich drei- bis fünfmal mit Badegästen
mutuelle Onanie betrieb, manchmal als aktiver Päderast tätig war und trotzdem blü¬
hend und gesund aussah und gar keine Schuldgefühle hatte. Diese Tatsache erklärt der
Verfasser dadurch, daß der Jüngling, weil er keine Bücher gelesen hatte, auch nicht
wissen konnte, daß die Onanie sündhaft ist und deshalb keine Schuldgefühle hatte.
Referate
617
. D f r Var ^ asser leugnet auch die Möglichkeit eines Zusammenhanges der Onanie mit
Kriminalität. Er führt einen Fall von St ekel an, der als Beweis für die Möglichkeit
eines solchen Zusammenhanges dienen sollte: Ein Patient phantasiert beim Onanieren,
daß er seinen Vater ermordet hätte. Der Penis ist der Vater, die Ejakulation das Blut,
das Schlaffwerden des Gliedes — das Symbol des Todes. Dieser Phantasie, meint der Ver¬
fasser, kann man keine ernste Bedeutung beilegen: Die ungeheuere Verbreitung der
Onanie bei den Menschen, das Vorhandensein derselben bei den Tieren schaltet jede
Diskussion der Frage des Zusammenhanges der Onanie mit dem Verbrechen aus. Nun
übersieht der Verfasser, daß es sich in diesem von St ekel angeführten Fall um eine
Realisierung bei dem Patienten in der Phantasie seiner Todeswünsche gegen den Vater
handelt. Diese Aggressionsgefühle gegen Inzestobjekte können entweder direkt gegen
dieselbe oder infolge der Identifizierung und Übertragung auf fremde Personen ge¬
richtet werden und so zu einem Verbrechen führen. Unter gewissen Umständen also,
wenn die Onanie einen bestimmten Sinn hat, durch gewisse Phantasien begleitet wird,
kann sie verbrecherische Handlungen verursachen, so daß bei manchen Fällen der Zu¬
sammenhang der Onanie mit den verbrecherischen Instinkten zweifellos vorhanden ist.
Aus dem Dargestellten, um auf die Frage, woher die die Onanie begleitenden Schuld-
und Sundhaftigkeitsgefühle stammen, zurückzukommen, geht klar hervor, daß sie eine
Folge der Inzestbindungen und der mit ihnen verbundenen aggressiven Gefühle sind
In oben zitiertem Falle von S t e k e 1 ist der Onanieakt eine Realisierung des Todes¬
wunsches des Kranken gegen den Vater. Hätte der Patient keine Gelegenheit gehabt,
durch die Lektüre zu erfahren, daß die Onanie sündhaft ist, so hätte er trotzdem
Schuldgefühle gehabt, weil die Ursache derselben in seiner Inzestbindung an den Vater
und seinen gewaltigen Aggressionen gegen denselben liegen. Dem jungen Bademeister
fehlten die Schuldgefühle nicht deshalb, weil er von der Sündhaftigkeit der Onanie nie
gehört hatte, sondern weil seine Onanie nicht mit Inzestphantasien verbunden war und
deshalb von pathogener Wirkung frei war.
Eine andere psychologisch interessante Frage, ob die Onanie zur Charakteränderung
und Lügenhaftigkeit führen kann, beantwortet der Autor negativ. Die Lügenhaftigkeit,
die bei exzessiver Onanie oft beobachtet wird, bedeutet noch nicht, meint er, daß
diese beiden Erscheinungen kausal verbunden sind (iji). Einen gewissen moralischen
Einfluß kann die Onanie auf den Menschen in dem Sinne ausüben, daß der Mensch
durch beständige Verheimlichung seines Lasters sich an Unaufrichtigkeit gewöhnt. Der
Verfasser bestreitet die Behauptung Ranks, daß ein mißlungener Kampf mit der
Onanie zur Lügenhaftigkeit in den Fällen führen kann, wenn der verdrängte, unbewußt
gewordene Onaniewunsch den Betreffenden zur Onaniebetätigung veranlaßt und das
Bewußte täuscht, indem er das Vorhandensein dieser Betätigung leugnet: dieses Leugnen
der Wahrheit ist der Sinn der Lügenhaftigkeit. Wenn das wahr wäre, meint der Ver¬
fasser, daß ein mißlungener Kampf mit der Onanie zur exzessiven Lügenhaftigkeit
führte, so müßte man auch annehmen, daß ein gelungener Kampf mit derselben zur
fanatischen Wahrheitsliebe führen müsse. „Wenn die Onaniegewohnheit infolge der
bewußten Forderungen, ,ich muß nicht onanieren“, verdrängt ist“, sagt er, „so entsteht
eine neue, unbewußte Forderung: ,ich muß nicht mehr lügen“, die sich bewußt in einem
hartnäckigen fanatischen Streben nach der Wahrheit äußern müßte.“ (182.) Wie logisch
die Schlußfolgerung auch klingen mag, ist sie doch falsch. Die pathologische Lüge, die
mit der Onanie verbunden ist, ist ein Krankheitssymptom, ein Symptom, das infolge
Verdrängung entstanden und dessen Sinn das Leugnen der Onaniebetätigung ist _
jede Lüge hat diesen Sinn, wenn sie auch auf andere Dinge verschoben ist. In Fällen
der wirklichen Bekämpfung der Onanie, wenn der Kranke von dem Onaniewunsch
40 «
628
Referate
befreit ist, wenn er bei ihm nicht mehr besteht, auch im Unbewußten nicht, findet die
Verdrängung nicht statt, also auch keine Symptombildung, es kann also auch kein
Drang nach der fanatischen Wahrheitsliebe entstehen.
Der Verfasser teilt die Annahme der Freud sehen Schule, daß die Onanie beglei¬
tende Angstgefühle — bei Knaben die Kastrationsangst, bei Mädchen die Angst, daß
ihnen „die Haare abgeschnitten werden“ — zur Folge haben kann. Richtig ist auch die
Behauptung der Analyse, daß viele Fälle der Zwangserscheinungen und der Hysterie
Folgen dieser infantilen Angst sind, doch oft, meint er, haben die Zwangserscheinungen
und die Angstgefühle gar keinen Zusammenhang mit der Sexualität. Sie sind durch
einen Durchbruch der unbewußten Komplexe, die einen ganz anderen Ursprung haben,
bedingt (176).
Der Verfasser beschäftigt sich auch mit dem jetzt so aktuellen Problem des Zu¬
sammenhanges der Liebe mit der Religion. Der autoerotische Trieb als der primitivste
und grundlegendste überträgt seine unverbrauchte Energie auf das religiöse Gefühl,
hier findet er eine für ihn sonst unerreichbare Verbreitung. Auf diese Weise verwandelt
sich, meint der Verfasser, die Liebe zum Menschen zur Liebe zur Gottheit. In einem
dem Autor bekannten Falle hat sich ein vierzehnjähriger Jüngling, der sehr gläubig war,
auf seiner Brust in die Haut das Bild der Mutter Gottes eingeschnitten. Der Jüngling
unterwarf sich einer schmerzlichen Operation, um das Bild der Mutter Gottes, also die
Mutter Gottes, bei sich zu haben. Wenn man bedenkt, daß es sich bei ihm um die
Pubertätszeit, das heißt um die Zeit der Auffrischung des Ödipuskomplexes handelt,
so wird dieser sein Wunsch, die Mutter bei sich zu haben, verständlich. Es handelt
sich bei ihm nicht um eine Verwandlung der autoerotischen Liebe in eine Objektliebe,
wie es der Verfasser annimmt, sondern seine Objektliebe, die Liebe zur Mutter, ver¬
wandelt sich in der Übertragung und Identifizierung in die Liebe zur Mutter Gottes,
wird zu einem religiösen Gefühl. Die religiösen Gefühle (Weltanschauungen) sind somit
symbolische Äußerungen der unbewußten Erlebnisse im Anschluß an den Ödipuskomplex
und nicht Verwandlungen des autoerotischen Triebes in eine Objektliebe oder der
Liebe zum Menschen zur Liebe zur Gottheit.
Interessant ist die vom Verfasser angeführte Literatur des Einflusses der Onanie auf
die Sinnesorgane, besonders auf die Augen und die Nase. Das Augenleiden (Pholopsie)
bei ganz gesunden Augen, der Zusammenhang der Schwellungen der Geschlechtsorgane
mit der Nasenschleimhautentzündung und dergleichen mehr bringen eine Bestätigung
für die von der Analyse angenommene symbolische Bedeutung dieser Organe.
Die beiden Arbeiten „Die Onanie bei der Frau und beim Mann“ sowie „Die
Frigidität der Frau“ sind zwei wertvolle Handbücher für Ärzte und Studierende. Die
erste umfaßt die Stellungnahme zum Onanieproblem von mehr als 300 Fachleuten,
die zweite — zur Frigidität der Frau — von 170. Der Verfasser ist der erste in der
russischen medizinischen Literatur, der sich mit Sexualproblemen befaßt hat, und dieses
Verdienst in bezug auf die Sexualforschung sowie auf das Verständnis der psycho¬
logischen Bedeutung der aufgestellten Probleme muß besonders betont und ihm sehr
angerechnet werden. F* Lowtzky (Berlin)
Meng, Heinrich: Konstitutionsumstellung durch Arznei, Hormon, Psyche*
Aus: Bericht über den VI. Allgemeinen ärztlichen Kongreß für Psycho«
therapie in Dresden/ 14. bis 17. Mai 1931
Meng geht von der Voraussetzung aus, daß es kein psychisches oder medikamen¬
töses Eingreifen gibt, das imstande ist, eine bestimmte Krankheit mit Sicherheit zu
Referate
629
heilen. Es handle sich bei dem Versuch zu heilen darum, das Zusammenwirken von
Leiblichem und Seelischem bei der Symptomgestaltung zu durchschauen, und vor allen
Dingen darum, den Widerstand, der dem natürlichen Heilungsprozeß widerstrebt, zu
erkennen, zu bewältigen und auszunutzen. Körperliche und seelische Behandlung des
Menschen können also als Versuch einer Widerstandsbehandlung aufgefaßt werden. Der
schwierigste Teil des Widerstandes gehe von der Konstitution aus. Das Wissen über
die Beziehung zwischen Konstitution und Arzneiwirkung sei gering und am fruchtbarsten
erwiesen sich auf diesem Gebiet die Theorien von Hahnemann, der den Organismus
als ein Energiewechselsystem auffaßt. Versuche von D a 11 n e r, der Neurotiker mit
kleinen Jod-Thyreoidendosen behandelt, lägen in dieser Richtung. Versuche, mit be¬
stimmten Arzneistoffen Angst hervorzurufen und Angst zu bekämpfen, lassen es z. B. als
möglich erscheinen, zu einer somatischen Angsttherapie zu gelangen. — Die Frage der
psychischen Umstimmung des Organismus sei nur durch die Anwendung der Psycho¬
analyse zu lösen, das heißt, soweit eine Erkrankung von der psychischen Seite her
angehbar ist, wird nur die Analyse imstande sein, die unbewußten Mechanismen zu
durchschauen und die psychischen Widerstände zu beseitigen. — Die Frage einer kom-
binierten Therapie sei noch nicht spruchreif. K. Misch=Frankl (Berlin)
Aus der psychoanalytischen Literatur
Bergler, Edmund: Psychoanalyse eines Falles von Prüfungsangst. Arbeiten
aus dem Wiener psychoanalytischen Ambulatorium. Zentralblatt für
Psychotherapie 1933, H. 2, S. 65 ff.
Ausführliche Darstellung eines geheilten Falles von Prüfungsangst, die den nichtanalyti¬
schen, psychotherapeutisch interessierten Lesern des Zentralblattes den Gang einer Psycho¬
analyse demonstrieren will. Ein Patient, der bei zwei harmlosen Teilprüfungen seines Hoch¬
schulstudiums durchfiel, war in der Folgezeit jahrelang nicht zu bewegen, sich der Prüfungs¬
kommission zu stellen und suchte deshalb die psychoanalytische Behandlung auf. Die Ursache
der Störung war das unbewußte Austragen seiner Ödipuskonflikte beim jeweiligen Prüfer,
wobei der unbewußte Haß gegen den Vater und unbewußtes Bestraft-werden-wollen die
wesentliche Rolle spielten.
Für den Analytiker sind zwei Details des Falles von Interesse. In einer bestimmten
Phase der Analyse fand Patient das T a g e b u c h des verstorbenen Vaters. In der Arbeit
werden Auszüge des Tagebuches (das von der Geburt des Patienten bis zum fünften
Lebensjahre fortgeführt wurde) publiziert, die eine Reihe von Bestätigungen der von
der Analyse behaupteten Zusammenhänge ergaben.
Neu ist die Darstellung einer infantilen Lampenphobie, an der Patient vom
dritten bis siebenten Lebensjahre litt. Im Kinderzimmer hing eine einfache Gaslampe,
der Patient allerlei magische Kräfte zuschrieb, und vor der er große Angst hatte. Die
Eltern glaubten zuerst, das Kind habe vor dem zischenden Geräusch Angst, der Knabe
verneinte dies sehr entschieden. Die besondere Zauberei der Lampe bestand darin, daß
sie Gegenstände und Personen (z. B. die Schwester) zum Verschwinden bringen konnte;
die magische Bewegung zu diesem Zwecke war ein aktives Hin- und Herschwingen.
Die Fähigkeit des Verschwindenlassens nannte das Kind „e i n k 1 i m p e r n“. Alle Ver¬
suche der Eltern, dem Knaben die Angst „auszureden“, scheiterten. Er war jahrelang
Referate
630
davon überzeugt, daß, wenn ein Taschentuch, ein Bleistift usw. verschwanden, die Lampe
sie „eingeklimpert“ hatte. Den Beweis, daß die Lampe sich bewegen könne, erhielt das
Kind auf dem Wege der Überlistung der Lampe. Patient beobachtete — wie unabsicht¬
lich — das Bild der Lampe im Spiegel, und glaubte wahrzunehmen, wie sie schwingt.
„Die Lampe bewegt sich doch“, konstatierte der Knabe triumphierend. — Obwohl in
der Analyse der Verdacht berechtigt war, daß die Lampe einen Zusammenhang mit den
Kastrationsängsten des Patienten haben werde, blieb diese Symbolwahl lange unklar.
Ein Einfall des Patienten erklärte dann den Zusammenhang. Patient erinnerte folgende
Szene: Er sieht als drei- bis vierjähriger Bub den Vater im Zimmer auf und ab gehen,
die eine Hand hält er in der Hosentasche und klimpert mit den Schlüsseln. Für die
Vorstellung des Kindes hieß das: der Vater onaniert ebenfalls. Dabei identifiziert er
Penis und Schlüssel. Eine besondere Vorliebe des Kindes, Schlüssel abzuziehen und sie
in den Ofen zu stecken, gewinnt von hier aus einen sexualsymbolischen Sinn. Die Lampe,
die einklimpern kann, ist demnach der kastrierende väterliche Penis. Die Allmacht,
die der Lampe zu geschrieben wird, ist von der supponierten
väterlichen Allmacht erborgt. Daß sich die Lampe bewegen kann (aber
nur im Dunkeln oder, wenn sie sich unbeobachtet glaubt), beweist, welchen Eindruck
die Erektion des Penis auf das Kind gemacht haben muß. Bemerkenswert ist, daß
Patient sein Interesse für die Überwindung der Schwerkraft später in einem intensiven
Interesse für Flugprobleme sublimierte, mit welchen Fragen er sich ernstlich auch
technisch beschäftigte. Ein Hinweis findet sich auch im Tagebuch des Vaters, der vom
2 ^jährigen Knaben berichtet, er hätte lange Zeit von Lokomotiven geträumt, und als
er eine am Bahnhof sah, vor ihr Angst bekommen und gesagt: „Ich geh 5 lieber weg
von der Lokomotive.“ Patient erinnert sich übrigens auch eines mechanischen Spielzeugs
— eines Reckturners —, vor welchem er davonlief, als es sich ohne sichtbare äußere
Ursache zu bewegen begann. Dabei darf keineswegs angenommen werden, die Lampe
sei in der Vorstellung des Knaben bloß der väterliche Penis, das heißt das Kastrations¬
instrument gewesen. Die Lampe war nicht nur der gefürchtete, auch der begehrte
väterliche Penis, eine Annahme, für die viele Träume sprachen. Darüber hinaus sym¬
bolisierte die Lampe auch das Auge des Vaters, das alles sieht. Von hier aus ergab sich
ein Zugang zu den starken Voyenur- und Exhibitionstendenzen des Patienten. Inwieweit
auch der von jedem Kinde supponierte weibliche Penis beim Lampensymbol gemeint
war und die Kastrationsangst mit der freudigen Feststellung, die Lampe bewege sich
trotz aller Ableugnungsversuche (das heißt der Penis sei vorhanden), rückgängig gemacht
werden sollte, ist nicht mit Sicherheit festzustellen gewesen. Autofeferat
Hay&s&ka, Ch.: Psychoanalytische Studien über neurotische Angst, —
Angsthysterie. Arbeiten aus d. Psychiatr. Inst. d. Kaiserl. Japanischen
Universität %u Sendai. Jg. I. 1933/ Heft 1
In der I. Mitteilung, die eine Patientin mit dem Symptomenkomplex der Angstneurose
betraf, stellte ich fest, daß alle, einschließlich der feineren Eigentümlichkeiten der Sym¬
ptome, den normalen Koitus als Symptom — das heißt als Folge eines psychischen Kon¬
flikts zwischen dem strengen Über-Ich und ihrem unbewußten Koituswunsch — nachahmten,
und daraus schloß ich, daß dieser Fall, wenn es sich dabei auch um einen Symptomen¬
komplex der Angstneurose handelte, doch eine psychische Ableitung zulasse. Weiter er¬
wähnte ich, daß eine bei diesem Falle gefundene spezifische Ursache der Angstneurose als
Energiequelle für die Symptomenbildung in Betracht kam, mir also die Annahme von
Freud bezüglich der Existenz der Angstneurose als Krankheit sui generis zweifelhaft er-
Referate
631
schien. Hier teile ich den Fall eines 25 jährigen Witwers mit allgemeiner Ängstlichkeit,
besonders Agoraphobie, und Taumeln nach links und anderes mit; die Ergebnisse sind
folgende:
1 . Aus der Tatsache, daß er vom Taumeln stets in der Situation befallen wird, wo
er in Begleitung seiner Geliebten geht, oder bei der Möglichkeit, ihr begegnen zu können,
und daß das Liegen auf der linken Seite die einzige lusterregende Lage beim Koitus ist,
müssen die Symptome als Konversionssymptom aus einem Partialtrieb — sozusagen „Hal¬
tungslust ‘ — (in genitalem Sinne!) beurteilt werden.
2. Weil Agoraphobie der Angst vor demselben Ort entspricht, wo er vom Taumeln
befallen wird, ist die Agoraphobie eine typische Phobie vor Versuchungssituationen. Daß
der Patient nicht nur das Konversionssymptom, sondern auch das Angstsymptom ent¬
wickelt hat, bedeutet doppeltes Mißlingen der Verdrängung.
3. Da sich beide Symptome aus genitaler Regung gebildet haben, so ist im psycho-
sexuellen Leben des Patienten eine Konstitution anzunehmen, die solche Reaktionen er¬
weisen müßte. Jedoch zeigt uns das sexuelle Leben des Patienten, daß er polygam ver¬
anlagt war und in der Kindheit große Erfahrung in Inzesthandlungen gehabt hat. Danach
ist anzunehmen, daß seine polygame Tendenz aus seinem stetigen Verlangen nach Mutter-
und Schwesterimago (das schließlich auf Mutterimago zu reduzieren ist) stammt, und daß
der Grund der neurotischen Reaktionen auf genitale Regungen im früh verdrängten infan¬
tilen Ödipuskomplex zu suchen ist.
4. In der Ödipuseinstellung dieses Patienten trat seine Haßregung gegen den Vater
nicht deutlich in Gegensatz zu seiner vorwiegenden Mutterbindung; darüber klärt besser
sein zügelloses sexuelles Leben sowie sein geringer Widerstand bei der Analyse auf. Daß die
Mutterbindung den Vaterkomplex über wiegt, das möchte ich als einen Typus der Ödipus¬
einstellung bei Angsthysterie ansehen. Dies bietet einen guten Grund für die Annahme,
daß Angsthysterie zur Erkrankung genitaler Phasen gehört.
5. Bei diesem Fall, der weder infantile Erinnerung an Kastrationsbedrohung noch
die als Kastrationssymbol angesehenen Eigenschaften in den Symptomen außer vorhan¬
dener Angst vor Trennung aus der Gesellschaft hat, bleibt es zweifelhaft, ob die Angst
bei den Symptomen aus der Kastrationsangst stammt.
6 . Daß der Patient unter verschiedenen Versuchungssituationen die Straße aus¬
gewählt hat, ist durch Annahme exhibitionistischer Tendenz leicht zu erklären, dadurch
auch die nur ausnahmsweise auftretende Eigentümlichkeit, daß sich die Symptome
verschlimmern, wenn irgendeine Person ihn begleitet.
7. In diesem Fall ist eine spezifische Ursache der Angstneurose (erzwungene Ab¬
stinenz) nachgewiesen; auch sind die Symptome gewissermassen für Angstneurose gültig.
Doch liegt die Bedeutung dieser Ursache darin, daß sich um diesen aktualneurotischen
Kern psychoneurotische Symptome bilden. Zur Klärung der Frage, ob Angstneurose als
Krankheit sui generis besteht oder nicht, kann dieser Fall nichts beitragen. Nur ist
daraus zu erlernen, daß Vorsicht geboten ist, einen solchen Fall als Aktualneurose zu be¬
urteilen, auch wenn die spezifische Ursache sowohl wie aktualneurotische Symptome dabei
nicht fehlen.
Autoreferat
medis. Wochenschr. 1933 , Nr. 4
Der Autor weist unter Zitierung der psychoanalytischen Bemerkungen über Sperma-
torrhöe mit Neurasthenie (Reich, Schilder) auf alle Fälle hin, die ohne neurasthenische Sym¬
ptome verlaufen. Psychologisch bedingte Mißbräuche, wie frustrane Erregungen, Surmenage
/
6 3 2
Referate
mit folgender Abstinenz, mögen das — sonst nur durch Sexualerregung und Friktion zeit¬
weilig zur reichlichen Entleerung von Sexualsekret geöffnete — Ventil undicht ge¬
macht haben, so daß das Sexualsekret bei jeder banalen Stuhl- oder Urinentleerung
tropfenweise abgeht.
Aber dieser in seinem Entstehungsmechanismus nicht eben klare Zustand der Sper-
mato- und Prostatorrhoe kann eine längere Dauer erst dadurch gewinnen, daß die
psychische Einstellung des Betroffenen narzißtisch geworden ist: daß
er sich vom Sexualobjekt abgewendet hat, z. B. durch Enttäuschung oder Haß oder
aus Gründen der Selbstbestrafung oder der Entwertung der Sexualität, enthaltsam leben
will und von dem sang- und klanglosen Abgang seines Samens nicht unbefriedigt ist.
Unbewußte feminine Einstellung verzichtet auf jede Aktivität auf sexuellem Gebiet.
Manchmal schließen sich hypochondrische, der Kastrationsangst angehörige Gefühle an.
Obstipation mit starkem Pressen zum Stuhl, auch Pressen beim Urinieren werden
sonst als hinreichende Ursache des Samenabganges bei den Entleerungen angenommen,
aber beim Gesunden ist solches Pressen nie von Samenabgang gefolgt. Andere Patienten
scheinen oft durch nächtliches Auf-dem-Bauche-Liegen chronische Ersatzerregungen zu
betreiben.
Jedenfalls handelt es sich bei der Sperma- und Prostatorrhoe um einen Zustand,
der durch Psychoanalyse mit Aufklärung zu heilen ist und nicht
etwa durch physikalische Mittel.
Die narzißtische Regression, in der die Störung zustande kommt, kann
in manchen Fällen auch einen psychotischen Grad angenommen haben. Autoreferat
Kimura, R.: Psychoanalytische Untersuchungen über die Wahnhildung
hei Paranoia, Arbeiten aus d. Psychiatr. Inst. d. Kaiserl. Japanischen Uni«
versität Sendai. Jg. I. 1933. Heft 1
I. Mitteilung. An zwei Paranoiafällen angestellte psychoanalytische Versuche zeigten,
daß die Patienten Söhne strenger Väter waren und also der Ödipuskomplex bei ihnen ganz
ausgeprägt war. Unter dem Druck der Schwierigkeit des realen Lebens und auf dem
Wege der Regression wurde nun bei beiden Ödipuseinstellung wachgerufen, und Über¬
tragung der Ambivalenzgefühle auf den Vaterersatz, und zwar auf den Schwiegervater
bei einem Patienten und auf den Leiter der Fabrik beim anderen, war die Folge. So¬
dann wurden ihre feindlichen Regungen nach außen projiziert und von ihnen als Ver¬
folgung seitens der Gegner wahrgenommen.
Der dritte Fall mit Eifersuchtswahn ließ erkennen, daß er, um der Spannung zwischen
dem Uber-Ich und seiner unbewußten polygamischen Tendenz zu entgehen, den unbe¬
wußten Wunsch auf seine Frau projizierte und einen Eifersuchtswahn bildete.
Kurz, alle drei Fälle bildeten ihren Wahn durch den Mechanismus der Projektion
und statt des beseitigten inneren Drucks erlitten sie die Qual von außen. Der Wahn des
Paranoikers ist also als ein nach außen gespiegelter Schatten eines inneren Bildes zu be¬
trachten. Außerdem stellte Verfasser bei allen Fällen starke Fixierung der Libido auf nar¬
zißtischer Stufe fest.
II. Mitteilung. In dieser Mitteilung bespricht Verfasser weitere Ergebnisse der Psycho¬
analyse bei der Wahnbildung der Paranoia.
Der vierte Fall, ein Student, litt an Beziehungs- und Verfolgungswahn. Die Psycho¬
analyse ergab, daß er heftige moralische Konflikte wegen eines Sexualakts bestand, den
er ohne Verantwortlichkeitsgefühl mit einem Mädchen ausgeführt hatte; als Ausdruck der
Referate
<>33
Spannung durch diesen Konflikt projizierte das Ich des Kranken den Vorwurf des strengen
Über-Ichs nach außen und nahm ihn als Verfolgung von außen wahr.
Der fünfte Fall, ein junger Bauer, litt an Verfolgungswahn, kombiniert mit Besessenheits¬
und hypochondrischem Wahn. Er klagte über Hodenschmerz und glaubte, daß ein Mann
ihn durch Magie an Gonorrhöe habe erkranken lassen, so daß er nicht mehr mit Frauen
verkehren könnte; er wünschte, daß sein rechter Hoden kastriert werde. Daß dieser Pa¬
tient ausgeprägte homosexuelle Tendenz hegte, war aus der Psychoanalyse deutlich er¬
sichtlich; er projizierte diese unbewußte Homosexualität und bildete so wie in Schrebers
Fall von Freud (1911) den Verfolgungswahn. Autoreferat
Lew in, Bertram D.: Anal Eroticism and the Mechamsm of Undomg.
(The Psycha. Quarterly l/£)
Ein Patient hat — wie die Analyse nachweist — Selbstkastrationstendenzen aus
Strafbedürfnis. Ein Traum, der offenkundig den Patienten über die Gefährlichkeit
seiner innerlich wahrgenommenen Selbstschädigungstendenzen beruhigen will, stellt den
Penisverlust als Kotverlust dar. Dieser regressive Ausdruck ist deshalb eine Beruhigung,
weil das Kind ja die Erfahrung gemacht hat, daß der Kotverlust täglich wieder unge¬
schehen gemacht wird, indem neuer Kot produziert wird. Von der Ichseite aus ge¬
sehen scheint diese Bannung der Kastrationsgefahr durch den Hinweis auf die Möglich¬
keit eines „Ungeschehenmachens“ die ökonomisch ausschlaggebende Determinante der
Regression. Das schließt natürlich nicht aus, daß sie gleichzeitig die anal-sadistischen
Wünsche des Es befriedigt. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß die Triebabwehr
des Ungeschehenmachens besonders bei Patienten mit anal-sadistischem Triebleben
(Zwangsneurotikern) auftritt. Fenichel (Berlin)
Mar ui/ Kiyoyasu: Psychoanalytische Studie über einen Fall hysterischer
Amaurose. Arbeiten aus d. Psychiatr. Inst. d. Kaiserl. Japanischen Uruver=
sxtät 3u Sendai. Jg. I. 193 3 , Heft 1
In dieser Abhandlung will Verfasser das Ergebnis seiner psychoanalytischen Studie
über einen Lehrer mitteilen, den Verfasser Gelegenheit zu untersuchen gehabt hat,
bald nachdem er eine hysterische Amaurose durchgemacht hatte. Die Anamnese
dieses Leidens, dessen Beginn, Verlauf und Ausgang manche nicht uninteressante
Data darbieten, läßt sich ganz kurz zusammenfassen. Der Lehrer fiel eines Tages vor
den Augen des Volksschuldirektors um und wurde bewußtlos; als er mehrere Tage nach
diesem Vorfall wieder zu sich kam, bot er das typische Bild hysterischer Amaurose, das
trotz allen therapeutischen Versuchen etwa vier Monate lang fortbestand. Eines Tages
aber, als der hysterische Blinde, von zweien seiner Schulkinder geführt, den Shintotempel
mit dem Schutzgott seines Dorfes besuchte, was er in dieser Zeit so gut wie täglich zu
tun pflegte, fiel er zufällig den steilen Abhang hinunter und wurde wieder bewußtlos;
bald darauf wachte er auf und schaute nach der Richtung hin, aus der Stimmen, Schreien
und Weinen der Schulkinder zu kommen schienen, und seltsamerweise sah er die Kinder
auf dem Abhang stehen und auch alles in seiner Umgebung.
Die Psychoanalyse dieses Falles ergab einen heftigen (sicher pathogenen) Konflikt, den
der Patient aus Liebe, vor allem durch Anschauen einer Kollegin gehabt hatte. Die
Tatsache, daß Patient vor den Augen des Schuldirektors umfiel, ist daraus zu erklären,
daß er heftige Angst vor dessen scharfen Augen spürte, seitdem dieser sich einst in das
634
Referate
Liebesverhältnis zwischen ihm und der Kollegin eingemischt hatte und der Schuldirektor
sozusagen das gestrenge Über-Ich in seinem Seelenleben darstellte.
Nach der psychoanalytischen Auffassung psychogener Sehstörungen Freuds ist
unseres Erachtens die Genese dieser hysterischen Amaurose so zu deuten, daß das Ich
des Kranken seine Herrschaft über das Auge, das ganz im Dienst des verdrängten
sexuellen Triebs, insbesondere des Partialtriebs des Anstarrens stand, verlor, oder mit
anderen Worten, daß als Ausdruck der Rache oder der Entschädigung von seiten des
verdrängten Schautriebs dieser von weiterer psychischer Entfaltung abgehalten, seine
Herrschaft über das ihm dienende Organ (Auge) zu steigern befähigt wurde. Die Be¬
wußtlosigkeit, die der Amaurose voranging, erklärt Verfasser als Ausdruck der Zurück¬
ziehung aller Energiebesetzungen (sowohl Libido als auch Ichtriebenergie) ins Ichreser-
voir, und deutet die nach dem Erwachen des Patienten beobachtete Amaurose in der
Weise, daß das Auge, bezw. das Sehen bei der Wiederherstellung der Energiebesetzungen
seiner Besetzung beraubt war. Nach der Meinung des Verfassers könnte der dabei sich
abspielende Vorgang so erklärt werden, daß infolge von Schuldgefühl oder Strafbedürf¬
nis des Ichs des Kranken gegen sein strenges Uber-Ich das Auge, bezw. das Sehen durch
den Konversionsmechanismus vom Ich ausgeschlossen wurde... ein Schutzvorgang im
Geistesleben, der in Analogie zum Prozeß der Autonomie oder Selbstverstümmelung bei
Tieren zu setzen ist.
Der Heilungsmechanismus der Amaurose bei diesem Falle ist so aufzufassen, daß das
Ich des Kranken, als ihm durch „zufälliges“ Hinabstürzen am steilen Abhang gewisser¬
maßen Lebensgefahr drohte, seine Herrschaft über das Auge wiederherstellte, indem der
Ichtrieb das Übergewicht über den verdrängten Sexualtrieb (Schautrieb) wieder gewann.
Man kann sich den Vorgang auch so vorstellen, daß im kritischen Moment der Lebens-
bedrohung das Ich des Kranken die Rache (Entschädigung) von seiten des verdrängten
Schautriebs oder das Schuldgefühl (das Strafbedürfnis) gegen sein Über-Ich ignoriert
und die Herrschaft über das Auge oder das Sehen wieder erlangt oder das Auge, das
einmal vom Ich ausgeschlossen war, wieder in sich aufnimmt. Mir erscheint die Tatsache
bemerkenswert, daß auch beim Verschwinden der Amaurose kurze Zeit dauernder Bewußt¬
seinsverlust eintrat, eine Tatsache, die deutlich zeigt, daß alle Energiebesetzungen wieder
einmal ins Ichreservoir zurückgezogen waren, bevor das Auge oder das Sehen seine Be¬
setzung wiederbekam.
Daß die Amaurose bei diesem Falle als Ausdruck der „Flucht in die Krankheit“ zu
deuten ist, liegt auf der Hand; daß die Krankheitsdauer von etwa vier Monaten dem
Patienten Gelegenheit zur Wiederanpassung an den pathogenen Konflikt, bezw. zur Vorbe¬
reitung der Genesung gab und gerade da das „zufällige“ Trauma der Krankheit ein Ende
gemacht haben mag, liegt nahe zu vermuten; die Ergebnisse der Untersuchung und der
Traumdeutung bei dem Patienten haben tatsächlich gezeigt, daß im Verlaufe des Leidens
erhebliche Veränderungen im Seelenleben, insbesondere im unbewußten Geistesleben statt¬
gefunden haben.
Dieser Fall hysterischer Amaurose erscheint dem Verfasser insofern sehr interessant,
als er als einzig psychoanalytisch erforschtes Beispiel die Freudsche Theorie psychogener
Sehstörung bestätigt, daß er uns Einsicht in den Heilungsvorgang erlaubt und daß er
in mancher anderen Hinsicht interessante und bemerkenswerte Data darbiete.
Autoreferat
Pe ck 7 Martin W.: The Meaning of Psychoanalysis. London/ Jarrolds 1931
Es ist dem Autor gelungen, in diesem verhältnismäßig kleinen Bande eine klare
Darstellung der Psychoanalyse zu geben, die Ärzten, Medizinstudenten und auch dem
allgemeinen Publikum von Nutzen sein dürfte.
Referate
6 3 5
Zweckmäßigerweise hat er es vermieden, die noch umstrittenen Probleme der Analyse
durchzudiskutieren und sich darauf beschränkt, dem Leser eine allgemeine Vorstellung
der Einsichten zu vermitteln, die der analytischen Theorie und Praxis zugrunde liegen.
Besonders sorgfältig arbeitet er den Begriff des Widerstandes und den der Übertragung
heraus, die für die Technik der analytischen Behandlung eine so große Bedeutung
haben. Auf S. 98 sagt der Verfasser, daß Schuldgefühl und Angst ein Ergebnis der
Ödipussituation seien. Ich vermute, daß der Verfasser hier nur manche neurotische Angst
(z. B. vor dem eigenen Über-Ich) meint, da Angst ja schon vor dem Zustandekommen der
Ödipussituation auftritt.
Leider spricht der Verfasser von „verschiedenen Methoden der psychoanalytischen
Therapie" (S. 154). Dies könnte beim Leser eine falsche Vorstellung erwecken. Üblicher¬
weise bleibt der Terminus „psychoanalytische Therapie“ der von Freud und seinen
Schülern entwickelten Behandlungsmethode Vorbehalten. £), (London)
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSyCHO AN ALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
I) Abteilungen der Internationalen UnterricKtsleommission
Leitinstitut der Magyarors^agi Ps^idioanalitikai Egyesület, Budapest
II. Quartal 1933
A. Kurse
Dr. Klara G. Lazar : Was bietet die Psychoanalyse für diejenigen, die mit
Kindern zu tun haben? Vier Vorträge. Hörerzahl 30.
Dr. Fanny K. Hann: Die Psychoanalyse der Entwicklung der weiblichen
Seele. Zwei Vorträge. Hörerzahl 25.
Dr. M. B ä 1 i n t : Uber hysterische Reaktionsformen. Für Ärzte und Pädagogen.
Drei Vorträge. Hörerzahl 20.
B. Seminare für Ausbildungskandidaten
Vilma Kovacs: Technisches Seminar. Drei Abende. Teilnehmerzahl 10.
Dr. I. Hermann: Theoretisches Seminar. Vier Abende. Teilnehmerzahl 15.
Dr. Zs. Pfeifer : Psychoanalytische Trieblehre. Fünf Abende. Teilnehmer¬
zahl 15.
New York Psydhoanalytic Institute
Studienjahr 1931/32
A. Lehrkurse
(unter der Aufsicht des Lehrkomitees der New York Psychoanalytic Society)
1. Dr. Sändor Radö: Principles of Psychoanalytical Theory. 20 Stunden.
Hörer zahl 32.
Korrespondenzblatt
*37
2. Dr. Sändor R a d ö : The Technique of Psychoanalytic Therapy. 20 Stunden.
Hörerzahl 20.
3. Dr. Sändor R a d 6 : Technisches Seminar (für Anfänger). 30 Sitzungen.
Teilnehmer zahl 24.
4. Dr. Sändor R a d 6 : Technisches Seminar (für Fortgeschrittene). 30 Sitzun¬
gen. Teilnehmerzahl 40.
Dr. Adolf Stern : Freud-Seminar. — «The Interpretation of Dreams.“
6 Sitzungen. Teilnehmer zahl 19.
6 . Dr. Dorian Feigenbaum : Freud-Seminar. — „Freuds Krankengeschich¬
ten.“ 6 Sitzungen. Teilnehmerzahl 19.
7. Dr. Gregory Z i 1 b o o r g : Freud-Seminar. — „Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie.“ 6 Sitzungen. Teilnehmerzahl 19.
8. Dr. Bertram D. Lewin : Freud-Seminar. — „Freuds Theoretische Schrif¬
ten.“ 6 Sitzungen. Teilnehmerzahl 19.
(Seminare Punkt 3 bis 8 je zweistündig.)
B. Populäre Kurse
(unter der Aufsicht des „Committee on Ways and Means and Public Relations c<
des New York Psychoanalytic Institute)
1. Seminar für Fürsorger (Fortgeschrittene). „Psychoanalysis in Social Work.“
Geleitet von Drs. Levy, Radö, Stern und Zilboorg. 10 Sitzungen. Teilnehmer¬
zahl 34.
2. Einführungskurs für Fürsorger. Gehalten von Drs. Brill, Feigenbaum, Glueck,
Lewin, Oberndorf, Shoenfeld, Stern, Williams und Meyer. 10 Sitzungen. Teil¬
nehmerzahl 87.
3. Einführungskurs für Ärzte. Gehalten von Drs. Brill, Feigenbaum, Hinsie,
Lehrman, Lewin, Lorand, Meyer, Oberndorf, Radö und Stern. 10 Sitzungen. Teil¬
nehmerzahl 17.
4. Populäre Vorträge über Psychoanalyse. Vortragende: Drs. Brill, Glueck,
Kenworthy, Levy, Oberndorf, Stern, Williams, Radö. 8 Vorträge. Teilnehmerzahl
durchschnittlich 33. Dr. Sändor R a d d
Sekretär der I. U. K.
II) Berichte der Zweigvereinigungen
Deuts die Psychoanalytische Gesellschaft
II. Quartal 1933
25. April: Dr. Fenichel: Kritisches Referat über Dr. Nunbergs „All¬
gemeine Neurosenlehre auf psychoanalytischer Grundlage.“ — Diskussion: Müller-
Braunschweig, Lampl de Groot, Jacobssohn, Hoff mann.
6. Mai. Außerordentliche Generalversammlung. — Nach einer lebhaften Dis¬
kussion wird mit Stimmenmehrheit beschlossen, keine Änderungen in den Be¬
setzungen der Ämter in der Gesellschaft und im Institut eintreten zu lassen.
638
Korrespondenzblatt
23. Mai. Vortrag Dr. Berliner (a. G.): „Melancholie mit Konversion in eine
tätliche Organerkrankung.“ — Diskussion: Fenichel, Simmel, Jacobssohn.
30. Mai. Kleine Mitteilungen. Dr. Fenichel: „Merkbefehl und Fetischismus.“
— Diskussion: Eitingon, Simmel, Boehm. — Dr. Paula Heimann (a. G.): „Ein
Beitrag zum Problem der Mütterlichkeit.“ — Diskussion: Fenichel, Müller-Braun-
schweig, Jacobssohn, Lampl de Groot, Steff Bornstein. — Frau Edith Glück
(a. G.): „Einleitung einer Kinderanalyse.“ — Diskussion: Fenichel, Eitingon, Steff
Bornstein, Lampl de Groot, Müller-Braunschweig. — Dr. Kemper (a. G.): „Ein
Fall ungewöhnlicher inzestuöser Beziehung.“ — Diskussion: Fenichel, Jacobssohn,
Lampl, Müller-Braunschweig, Levy-Suhl (a. G.), Lampl de Groot, Berliner (a. G.).
13. Juni. Wissenschaftliche Sitzung zu Ferenczis Gedächtnis. — Dr. Eitin¬
gon: Abschiedsworte an Sändor Ferenczi. — Dr. Simmel: Gedenkrede für
Sändor Ferenczi.
20. Juni. Vortrag Frau Edith Glück (a. G.): „Ein Fall von Pseudogenitalität
bei analer Fixierung.“ — Diskussion: Fenichel, Jacobssohn, Lampl de Groot, Boehm,
Simmel.
24. Juni. Vortrag Dr. Baumeyer (a. G.): „Schaulust und Exhibitionismus
bei der Straßenangst.“ — Diskussion: Lampl, Kempner, Fenichel, Levy-Suhl, Boehm.
4. Juli. Vortrag Else Fuchs (a. G.): „Zur Psychoanalyse des Stotterns.“ —
Diskussion: Fenichel, Jacobssohn, Eitingon. — Verlesen wird ein Vortrag von
Frau Dr. Nie FI o e 1 (aus Oslo): „Feuerlöschen und Homosexualität.“
11. Juli. Vortrag Dr. Kemper (a. G.): „Weibliche Geschlechtssensationen beim
Manne in vergleichender entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung.“ — Diskussion:
Fenichel, Müller-Braunschweig, Boehm, Kamm (a. G.), Simmel. — In der ge¬
schäftlichen Sitzung werden Frau Nie Hoel, Frau Edith Glück, Fräulein Else Fuchs,
Fräulein Gertrud Göbel, Dr. Werner Kemper, Dr. Franz Baumeyer und Dr. Max
Levy-Suhl als außerordentliche Mitglieder auf genommen.
Dr* Felix B o e h m
Schriftführer
Adagyarors^agi Ps^icFioanalitikai Egy^siilct
II* Quartal 1933
7. April. 1. Frau Dr. K. G. Läzär: Fälle aus der Erziehungsberatung. —
2. Generalversammlung. Der Vorstand wird wiedergewählt. Frau Dr. Lilly
G. Hajdu wird zum ordentlichen Mitglied gewählt (Adresse: Budapest, IV.,
Maria Valeria u. 1). Auf Vorschlag des Präsidenten wird Frau Vilma Koväcs
für ihre erfolgreiche Lehrtätigkeit der Dank der Vereinigung ins Protokoll ge¬
nommen.
21. April. Frau K. Levy: Über die weibliche Sexualität auf Grund eines
Falles. I. Beschreibung des Falles.
5. Mai. Frau K. Levy: Fortsetzung ihres Vortrages. II. Theoretische Folge¬
rungen.
Korrespondenzblatt
639
19. Mai. Frau Dr. L. K. R o 11 e r : Über formelle Eigentümlichkeiten der
freien Assoziation.
Am 22. Mai verlor die Vereinigung ihren Begründer und Präsidenten Doktor
Sandor Ferenczi. Dr. Imre Hermann
Societe Psychanalytique de Paris
II. Quartal 1933
23. Mai. Wissenschaftliche Sitzung: Diskussion des Vortrags über den „Zwang“,
den Drs. B o r e I und M. Cenac auf der 7. Jahresversammlung französischer
Psychoanalytiker hielten. Das Thema der Diskussion war überdies die Reue und
ihre Beziehungen zum Zwang. Teilnehmer: Pichon, Mme. Bonaparte, Odier, Leuba,
Loewenstein, Staub, Cenac, Borei.
16. Juni. Wissenschaftliche Sitzung: Dr. Parcheminey : „Der Begriff der
Regression in der Genese neurotischer Störungen“. Verfasser bemüht sich in dieser
besonders interessanten Arbeit um die Aufklärung gewisser neurotischer Mechanismen
an Hand der Arbeiten P a v 1 o v s über die bedingten Reflexe. Diskussion: Pichon,
Odier, Mme. Bonaparte, Laforgue, Th. Schiff, Loewenstein, Codet, Mme. Morgen¬
stern, Borei. S. Nacht
Sccretairc
Inhalts Verzeichnis
des XIX. Bandes (1933)
Michael B alint: Zwei Notizen über die erotische Komponente der
Ichtriebe..
Therese Benedek: Uber die psychischen Prozesse bei Basedow-
Psychosen .
E. Bergler und L . Eidelberg: Der Mammakomplex des Mannes
Felix B o eh m : Beiträge zur Psychologie der Homosexualität IV.
Uber zwei Typen von männlichen Homosexuellen.
Gustav Bychowski: Aktivität und Realität.
Felix Deutsch: Biologie und Psychologie der Krankheitsgenese .
Helene Deutsch: Zur Psychologie der manisch-depressiven Zu¬
stände, insbesondere der chronischen Hypomanie.
L. Eidelberg: s. E. Bergler und L. Eidelberg.
Paul Federn: Sändor Ferenczi. Gedenkrede.
S. Ferenczi: Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und
dem Kind.
Sigm. Freud: Sändor Ferenczi.
Edward Glov er : Zur Ätiologie der Sucht.
Fanny Hann-Kende: Über Klitorisonanie und Penisneid .
J. H är nik : Die postnatale erste Entwicklungsstufe der Libido . .
Karen Horney: Die Verleugnung der Vagina. Ein Beitrag zur
Frage der spezifisch weiblichen Genitalängste.
Smith Ely Jelliffe: Die Parkinsonsche Körperhaltung. Einige Be¬
trachtungen über unbewußte Feindseligkeit.
Ernest J o n e s : Die phallische Phase.
A. Kielholz: Weh’ dem, der lügt! Beitrag zur Pseudologia phan-
tastica.
Jeanne L am p l de Gr o o t: Zu den Problemen der Weiblichkeit .
Edoardo W ei s s : Körperschmerz und Seelenschmerz.
Inhaltsverzeichnis
Viktor v. Weizsäcker: Körpergeschehen und Neurose. Ana¬
lytische Studie über somatische Symptombildungen.jg
M. Wulff : Uber den hysterischen Anfall. ^4
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Heisaku K o s aw a : Eine schizophrene Gesichtshalluzination .
Melitta Schmideberg: Ein Prüfungstraum.
Alexander S z al ai: Die „ansteckende“ Fehlhandlung . . .
434
198
440
VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN
Endre A 1 m a s y : Daten zur manischen Assoziation und Affektübertragung .... 205
Michael B a 1 i n t : Über die Psychoanalyse des Charakters.449
Therese B e n e d e k : Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen . . . 203
Ludwig Eidelb erg: Zur Metapsychologie des Masochismus. 61 j
— Zur Theorie und Klinik der Perversion..
Paul Federn : Die Psychosenanalyse.. u. 444
— Die vier Frongesetze der Zwangsneurose..
Otto Fenichel: Neue Determinanten zweier bekannter neurotischer Haltungen . 450
Alfred Groß: Zeitsinn und Traum. < TX
L. S. Kubie: Die Beziehung des bedingten Reflexes zur psychoanalytischen Technik 213
Sandor Lorand: Reaktivierte infantile Traumen in der Analyse. 21 1
— Ein Beitrag zur Psychologie des Erfinders..
Melitta Schmideberg : The Mode of Psychotherapeutic Measures . " .450
Emil Simonson : Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversions¬
hysterie durch Katharsis.6x4
Fritz Wittels : Mutterschaft und Bisexualität.622
— Mona Lisa und weibliche Schönheit.622'
Gregory Zilboorg: Angst ohne Affekt.210
REFERATE
Aus der Literatur der Grenzgebiete:
B r a a t ö y : Die psychoanalytische Methode. (Fenichel) 623
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur:
Aschner : Die Krise der Medizin. (M. Bdlint) 452
— Klinik und Behandlung der Menstruationsstörungen. (Jacobsohn) 453
Birnbaum: Methodologische Prinzipien der Pathographie . , . (Hitschmann) 454
Boenheim: Kinderpsychotherapie in der Praxis . . . . (Lieheck-Kirschner) 215
Bretschneider: Psychogene („oneirogene“) Krankheitsbilder (Friedjung) 624
Dreikurs: Das nervöse System. (Isakower) 62 5
Heyer: Seelenräume. (R. Sterha) 215
Inhaltsverzeichnis
Seite
Jacobsohn: Die Frigidität der Frau. (Lowtzky) 61 5
— Die Onanie beim Mann und bei der Frau. (Lowtzky) 626
Kauders: Zur Klinik und Analyse der psychomotorischen Störung (Haenel) 21 6
Levy-Suhl : Die Funktion des Gewissens in den neurotischen Krankheiten
(Isakower) 455
Meng: Konstitutionsumstellung durch Arznei, Hormon, Psyche (Misch-Frankl) 629
Peritz: Die Nervenkrankheiten des Kindesalters. (Meng) 455
Rosenfeld: Die Störungen des Bewußtseins. (Hartmann) 218
Unger: Ein Versuch sozialer klinischer Therapie. (Misch-Frankl) 218
Aus der psychoanalytischen Literatur:
Bergler: Psychoanalyse eines Falles von Prüfungsangst .... (Autoreferat) 629
Coriat: A Note on Symbolic Castration. (Fenichel) 219
Glover : The Therapeutic Effect of Inexact Interpretation .... (Fenichel) 457
Hayasaka : Psychoanalytische Studien über die neurotische Angst. — Angst¬
hysterie . (Autoreferat) 630
Hitschmann: Die Psychoanalyse der Zwangsneurose .... (Autoreferat) 219
— Über die Psychoanalyse einer hypochondrischen Angst .... (Autoreferat) 459
— Zur Psychoanalyse der Spermatorrhoe. (Autoreferat) 631
Kauf man: Some Clinical Dates on Ideas of Reference .... (Fenichel) 460
K i m u r a : Psychoanalytische Untersuchung über die Wahnbildung bei Paranoia
(Autoreferat) 6 32
Klein: Die Psychoanalyse des Kindes. (Alexander) 219
— The Psycho-Analysis of Children. (Glover) 227
Lew in: Anal Eroticism and the Mechanism of Undoing .... (Fenichel) 6 33
M a r u i : Psychoanalytische Studie über einen Fall hysterischer Amaurose
(Autoreferat) 6 33
N u n b e r g : Allgemeine Neurosenlehre auf psychoanalytischer Grundlage
(S arasin) 460
Oberndorf: Analysis of Disturbances in Speech. (Fenichel) 235
Peck: The meaning of Psycho-Analysis. (D.B.) 635
Schmideberg : The Role of Psychotic Mechanisms in Cultural Development
(Fenichel) 23 6
Searl: A Note on Depersonalization. (Fenichel) 237
Slutsky: Interpretation of a Resistance .. (Fenichel) 463
Thompson: Toothache and Masturbation. (Fenichel) 238
KORRESPONDENZBLATT DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Mitteilungen des Zentralvorstandes
Bericht über den XII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß.239
Mitteilungen der Internationalen Unterrichtskommission
Berliner Psychoanalytisches Institut.275, 464
Budapest, Lehrinstitut der Magyarorszägi Pszichoanalitikai Egyesület 278, 468, 636
Inhaltsverzeichnis
Chicago Institute for Psychoanalysis.
Frankfurter Psychoanalytisches Institut.
London Institute of Psycho-Anaylysis.
New York Psychoanalytic Institute.
Wien, Lehrausschuß der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung . .
Berichte der Zweigvereinigungen
The American Psychoanalytic Association.
Chicago Psychoanalytic Society.
New York Psychoanalytic Society.
Washington-Baltimore Psychoanalytic Society.
British Psycho-Analytical Society.
Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft.
Hamburger Arbeitsgemeinschaft.
Leipziger Arbeitsgemeinschaft.
Lehrkurs in Stuttgart.
Südwestdeutsche Arbeitsgemeinschaft.
Indian Psycho-Analytical Society .
Magyarorszagi Pszichoanalitikai Egyesület.
Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse.
Societe Psychanalytique de Paris.
Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse.
Wiener Psychoanalytische Vereinigung.. . . .
Seite
• ... 465
. ... 276
• ... 467
. ... 636
• . 278, 468
. . 279, 469
.... 471
.... 472
.... 474
. . 281, 475
282, 476, 637
. ... 283
. ... 283
. . . . 284
. . . . 284
. ... 477
284, 480, 638
. . 284, 480
285, 480, 639
. . 285, 481
. . 286, 482
Bericht der Verlags-Kommission der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 286
Mitgliederverzeichnis der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung .... 288
THE
PSVCHOANALYTIC
QUARTERLY
Second year of publication
THE QUARTERLY
is devoted to original contributions in
the field of theoretical, clinical and
applied psychoanalysis, and is published
four times a year.
The Editorial Board of the QUARTERLY
consists of: Drs. Dorian Feigenbaum
(Managing Editor , 60 Gramercy Park,
New York City), Bertram D. Lewin,
Frankwood E. Williams and Gregory
Zilboorg. Associated with the Editorial
Board is a group of distinguished Ameri¬
can and European psychoanalysis.
Among the contributors to the first volume
(1932) were: Sigm. Freud, A. A. Brill, Helene
Deutsch, Paul Federn, Dorian Feigenbaum,
Otto Fenichel, J. C. Flügel, Eugen J. Harnik,
Abraham Kardiner, M. R. Kaufman, Bertram
D. Lewin, Sandor Rado, Geza Roheim and
Frankwood E. Williams.
CONTENTS FOR JANUARY i 933 :
The Psychoanalysis of Pharmacothymia (Drug
Addiction), I. The Clinical Picture, San¬
dor Rado; The Body as Phallus, Ber¬
tram D. Le w in; Anxiety without Affect,
Gregor y Zilboorg; Pregenital Anxiety
in a Passive Feminine Character, I v e s
H e n d r i c k; Outline of Clinical Psycho¬
analysis, Pregenital Conversion Neuroses,
Otto Fenichel; Turning Points in the
Analysis 0 i a Case of Alcoholism, George
E. Daniels; Abstracts; Book Reviews;
Current Psychoanalytic Literature; Notes.
Subscription price is five dollars;
single issues one dollar and fifty cents.
A limited number of Volume I (1932)
copies are still available; Volume 1 in
original binding t six dollars.
THE PSYCHOANALYTIC
QUARTERLY PRESS
372-374 BROADWAY, ALBANY,
NEW YORK
THE INTERNATIONAL
JOURNAL OF
PSYCHO-ANALYSIS
Directed by
SIGM. FREUD
Edited by
ERNEST JONES
This JOURNAL is issued
quarterly. Besides OriginalPa-
pers, Abstracts and Reviews,
it contains the Bulletin of the
International Psycho-An alyti-
cal Association, of which it is
the Official Organ.
Editorial Communications should be
sent to Dr. Ernest Jones, 81 Harley
Street, London, W. 1.
The Annual Subscription is 30 s per
volume of four parts.
The JOURNAL is obtainable by
subscription only, the parts
not being sold separately.
Business correspondence should be
addressed to the publishers, Balliere,
Tindall & Cox, 8 Henrietta Street,
Covent Garden, London, W. C. 2.,
who can also supply back volumes.
Internationale Zweitschrift für Psychoanalyse, Band XJX, Heft 4
(Ausgegeben im Dezember 1933)
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Smith Ely Jelliffe: Die Parkinsonsche Körperhaltung. Einige Betrachtungen über unbe¬
wußte Feindseligkeit.4^5
Felix Boehm: Beiträge zur Psychologie der Homosexualität IV. Über zwei Typen von
männlichen Homosexuell.4 99
Therese Benedek: Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen. 507
A. Kielholz: Weh’ dem, der lügt! Beitrag zum Problem der Pseudologia phantastica . . . 527
Edmund Bergler und Ludwig Eideiberg: Der Mammakomplex des Mannes. 547
M. Wulff: Über den hysterischen Anfall.5^4
VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN
Alfred Groß : Zeitsinn und Traum.613
Emil Simonson: Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis 6 14
Ludwig Eidelberg: Zur Metapsychologie des Masochismus.615
Paul Federn : Die vier Frongesetze der Zwangsneurose . .
Ludwig Eidelberg: Zur Theorie und Klinik der Perversion
Fritz Wittels : Mutterschaft und Bisexualität.
Fritz Wittels : Mona Lisa und weibliche Schönheit ....
REFERATE
Aus der Literatur der Grenzgebiete:
Braatöy: Die psychoanalytische Methode (Fenichel) .623
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur:
Bretschneider: Psychogene („oneirogene“) Krankheitsbilder (Friedjung) . 62 4
D r e i k u r s : Das nervöse Symptom (lsakower) .625
Jacobsohn: Die Frigidität der Frau (Lowtzky) . 62$
Jacobsohn : Die Onanie beim Mann und bei der Frau (Lowtzky) . 626
Meng: Konstitutionsumstellung durch Arznei, Hormon, Psyche (Misch-Frankl) .628
Aus der psychoanalytischen Literatur:
Bergler: Psychoanalyse eines Falles von Prüfungsangst (Autoreferat) . 629
Hayasaka: Psychoanalytische Studien über neurotische Angst, — Angsthysterie (Autoreferat) . 6 30
Hitschmann: Zur Psychoanalyse der Spermatorrhöe (Autoreferat) .631
Kimura : Psychoanalytische Untersuchungen über die Wahnbildung bei Paranoia (Autoreferat) . 6yz
L e w i n : Anal Eroticism and the Mechanism of Undoing (Fenichel) .633
Mar ui : Psychoanalytische Studie über einen Fall hysterischer Amaurose (Autoreferat) .633
Peck: The meaning of Psychoanalysis (D. B.) ... 6 34
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
I. Mitteilungen der Internationalen Unterrichtskommission.636
II. Berichte der Zweigvereinigungen .637
Preis des Heftes Mark 7»50. Jahresabonnement Mark £8.—
Jährlich 4 Hefte im Oesamtumfang von etwa ÖOO Seiten ,
Einbanddecken %\x dem abgeschlossenen XIX. Band (1933)/ sowie %u allen früheren
Jahrgängen: in Leinen Mark £.5o, in Halbleder Mark 5.—
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psydioanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, I., Börsegasse 11. — Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud,
Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien, VI., Köstlergasse 7. — Drude: Elbemühl Papierfabriken und graphische
Industrie A. G., Wien, IX., Berggasse 31.