XV. BAND 00 HEFT 4 ne
Internationale Zeitchn 3
für Psychoanalyse
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Girindrashekhar Bose A. A. Brill . Paul Federn - Ernest Jones J. W. Kannabich
Kalkutta New York Wien London Moskau
Rene Laforgue J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin Ernst Simmel
Paris Haag Basel Berlin
redigiert von
| M. Eitingon, S. Ferenczi, Sändor Rado 3
Berlin Budapest - Berlin a
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| Wilhelm Reich ... . Der genitale und der neurotische Charakter E Er
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Imre Hermann .. . Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der be:
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| R.Mac Brunswick . Eine Beobachtung über die kindliche Theanie des Koitus “
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Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
XV. Band 1929 Heft 4
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus
Vortrag in der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ im Juni 1928
Von
Paul Federn
Wien
„Natura non facit saltus !*
Die Verschiedenheit des Ichgefühls, bei Normalen sowohl als auch
insbesondere bei Menschen mit Entfremdung der Außenwelt, läßt, wie
ich nachweisen konnte,' den oder besser einen libidinösen Anteil des Ichs
durch Selbstbeobachtung erkennen. Das Ich ist als Dauererlebnis der Psyche
und nicht etwa als gedankliche Abstraktion aufzufassen. Mitteilungen der
Patienten über solche Selbstbeobachtungen sind wichtiges Material für das
Studium der Ichfunktionen. Diese Untersuchungen rühren an eine der
prinzipiellen Lehren der Psychoanalyse und sind nicht bloß Detailforschung
über interessante Phänomene der Entfremdung. Durch sie ist ein unmittel-
bar empirischer Beweis für die Richtigkeit der Freudschen Lehre vom
Narzißmus gefunden. Dies läßt mich hoffen, daß sich in analoger Weise
aus dem Studium der verschiedentlichen Arten von Depersonalisation
Beweise für die Tatsächlichkeit von anderen psychoanalytisch erschlossenen
Libidovorgängen ergeben werden. Ohne solche oder andere neue Beweise
würde die „Libidotheorie“ trotz ihrer fruchtbaren Ausgestaltung, vielleicht
eben wegen der Widerstände, die diese erweckt, immer wieder von Gegnern
und auch von Anhängern als glückliche „heuristische“ Idee hingestellt
werden und nicht als Wirklichkeitsbeschreibung gelten, so daß jeder nach
seiner persönlichen Vorliebe und Wertung eine andere Theorie der psy-
ı) „Variationen des Ichgefühls“, diese Zeitschrift, Bd, XII ( 1926); „Narzißmus
im Ichgefüge“, diese Zeitschrift, Bd. XIII (1927).
Int, Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4. & 26
© INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
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394 Paul Federn
chischen Dynamik zu verwenden sich berechtigt hält. Nun erfordert diese
Beobachtung von Libidovorgängen die einander ergänzende Arbeit vieler
auch phänomenologisch interessierter Psychoanalytiker. Dazu müssen
aber die Publikationen gegenseitig richtig verstanden werden, und das
verlangt eine eindeutig gleiche Verwendung der Termini, die wir brauchen.
Meine früheren Mitteilungen verlangten vom Leser bloß, daß er Ich-
und Objektlibido gedanklich trennt und auch bei der Verwendung des
Wortes „Narzißmus“ unterscheidet, ob es sich um eine Beziehung auf das
Subjekt oder auf das Objekt handle. Das Hauptergebnis war, — kurz zu-
sammengefaßt, — daß Entfremdungsgefühle bei der Wahrnehmung der
Außenwelt dann auftreten, wenn dielchgrenze von ihrer libidinösen Besetzung
— subjektiv als Ichgefühl erkennbar — verliert, mögen auch die Ob-
jektbesetzungen — subjektiv als Wichtignahme des Objektes erkennbar —
fortbestehen.* Mit dieser Feststellung widersprach ich den bisherigen Er-
klärungen der Entfremdung (und auch der sonstigen Depersonalisations-
zustände), welche vielmehr einen gesteigerten Narzißmus unter Herab-
setzung der Objektbesetzungen annahmen. Nunberg kam an der richti-
gen Erklärung nahe vorbei, wenn er vou einer „Kränkung“ des Narzißmus
durch den Verlust der Objektlibido sprach. Nur der Nicht-Psychoanalytiker
Minkowski, der die Psychologie und Terminologie Bergsons benützt,
ist, soviel ich weiß, gleichzeitig mit mir zur gleichen Auffassung ge-
kommen.
Da wir die „Besetzung des Ichs durch Libido“ als Narzißmus bezeichnen,
sagte ich kurz, die Entfremdung beruhe auf einer „Verarmung der Ich-
grenzen an Narzißmus“. Zu meiner Überraschung konnten gute Kenner
der Libidolehre und der Freudschen Metapsychologie meine Erklärung
gar nicht aufnehmen, so daß Annahme oder Ablehnung nicht in Frage
kamen. Wie ich bemerkte, lag das daran, daß für diese Leser das Wort
„narzißtische Besetzung“ immer eine libidinöse Beschäftigung mit dem
Ich, eine Konzentration auf das Ich bedeutet. Da nun Entfremdete sich
mit ihrem Zustand sehr beschäftigen, liege doch eine Konzentration der
Libido auf das Ich des Kranken, also eine „Steigerung des Narzißmus“
vor! Wie könne Federn da von einer „Verringerung des Narzißmus“
sprechen ?
Solch unerwartetes Vorbeiverstehen gibt dem Autor die Berechtigung,
noch deutlicher seine Meinung zu erklären, und bestärkt ihn auch darin,
daß deren Publikation notwendig geworden sei. Ein Grund des Mißver-
stehens ist entfernter Natur. Ohne genaue Überlegung haben viele Leser
ı) Je nach dem Verlaufe der Erkrankung, deren Anfang die Entfremdung bildet,
können auch die Objektvorstellungen ihre Besetzungen verlieren.
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 395
und manche Autoren „Entfremdung“ und „Verlust der Objekte“ als gleich-
bedeutend angenommen und sie in gleicher Weise erklärt gewünscht.
Während aber „Entfremdung“ ein ganz spezifisches Vorkommen, eine
besondere psychische Sensation ist, ist Objektverlust ein vieldeutiger Aus-
druck.
Wichtiger erscheint mir, daß wir uns über die Verwendung des Wortes
„Narzißmus“ einigen müssen, insbesondere darüber, ob es richtig ist,
wenn es in vager Weise gebraucht wird, um eine jede stärkere affektive
Reaktion der Persönlichkeit hervorzuheben.
Tatsächlich haben wir bei jeder affektiven Reaktion auch ein stärkeres
Ichgefühl, welches jene Ichgrenze, mit der wir das betreffende Objekt
erfassen, auf die der betreffende Reiz trifft, stärker besetzt. Bei vermindertem
Affekt der Reaktion ist auch diese Ichgrenze weniger mit Libido besetzt.
Das scheint selbstverständlich, wird aber erst dadurch bewiesen, daß das
Objekt auch überhaupt nicht mehr mit Affekt erfaßt werden kann, wenn
die Ichgrenze von Libido völlig entblößt ist und dadurch Entfremdung
eingetreten, ist.
Mehr als das Bestehen einer Selbstwahrnehmung, wie weit unser Ich-
gefühl jeweilig reiche, soll aber das Wort „Ichgrenze“ nicht bezeichnen;
unrichtigerweise wurde ich von manchen dahin verstanden, daß eine Grenze
das Ich — bildlich gesprochen wie ein Gürtel — umgebe und daß diese
Grenze starr sei. Das Gegenteil ist richtig. Diese Grenzen, d. h. das
Ausmaß von Funktionen des Ichs, die mit Ichgefühl erfüllt, also mit
Libido besetzt, noch zum Ich gehören, sind wechselnd. Aber der Mensch
fühlt, wo sein Ich aufhört, besonders wenn die Grenze eben wechselte.
Einem zweiten Einwand, der auf einem naheliegenden Mißverständnis
beruhen würde, will ich vorbeugen. Indem meine Untersuchung von der
Selbstwahrnehmung der Ichgrenze ausgeht, hebt sie diese besonders hervor.
Aber ich vertrete keinesfalls die Ansicht, daß das Ichgefühl nur peripher
bestehe. Das Gefühl für die Ichgrenze wird, weil sich diese fast fortwährend
ändert, leichter wahrgenommen. Von Ichgefühl ist aber gleichzeitig alles
Bewußte erfüllt. Und es besteht nach unserer Meinung von Anfang an,
vage und inhaltsarm beginnend.
Es ist nicht nur ein Gleichnis, wenn ich an den starken Eindruck
erinnere, den der Anblick des Wogens der sich furchenden Eizellen macht,
oder die Veränderung im ganzen Leib der Amöbe, während sie ein Pseudo-
podium aussendet oder einzieht. Zu Beginn des Lebens reagiert die lebende
Substanz als ein Ganzes. Dieser Eindruck wurde mir am deutlichsten, als
ich vor vielen Jahren hochorganisierte Protozoen beobachtete. Im Augen-
blick, nachdem ein Stärkekörnchen den Schlund passiert hat, verliert der
26*
396 Paul Federn
große Kern seinen Glanz, während gleichzeitig das ganze Protoplasma,
Stränge und Waben, in Bewegung gerät und in einem Augenblicke die
Nahrung sich im Protoplasma auflöst — ein ganz primordiales Bild des
von Radö angenommenen alimentären Orgasmus.'
Diese Einheit verschwindet im Körperlichen und Seelischen, weil mit
der Anpassung die Arbeitsteilung als Bildung von Werkzeugeinheiten vor
sich geht. Diese Organe müssen selbst in ihrer Leistung vor störenden
Reizen geschützt werden, und sie müssen das Ganze durch ihre selb-
ständige Verarbeitung der ihnen adäquaten Reize vor ständiger Störung
schützen. Wenn aber Freud dem Ich die Funktion zuschreibt, das viel-
fache Teilgeschehen zu vereinheitlichen, so wird durch diese Leistung die
Restitution von etwas einst dauernd vorhanden Gewesenem angestrebt,
in Übereinstimmung mit dem Letzten, was Freud von allem Triebe zu
sagen hatte, daß er nämlich einen früheren Zustand — direkt oder auf
Umwegen — wieder herzustellen trachtet. Die Umwege machen die Glie-
derung und die Höherentwicklung aus.
Die Bezeichnung der „Ichgrenze“ soll also — gegensätzlich — gerade
darauf aufmerksam machen, daß das Ichgefühl ein Ganzes ist. Demnach
muß auch die libidinöse Besetzung, die das Ichgefühl ausmacht, gleichfalls
zentral? zusammenhängen. Die Ichlibido entspricht tatsächlich der Amöbe,
welche als Gleichnis von Freud herangezogen wurde. Mit dem inneren
Zusammenhang des Ichs steht das Bestehen, einer vielgestalten und je-
weilig in ihren Teilen verschieden stark besetzten Ichgrenze in keinerlei
Widerspruch. Wir müssen sie so annehmen, weil es nicht nur Entfrem-
dung für die Außenwelt gibt, sondern auch für viele seelischen Vorgänge,
als da sind alle gedanklichen Akte: Erinnern, Denken, Schließen und
Urteilen, affektbetonte Einstellungen, wie hoffen, fürchten, wünschen, sor-
gen, trauern, Einwirkungen auf die gedachte oder wirkliche Außenwelt,
wie entscheiden, anfangen, beenden, befehlen und folgen. Die mannig-
fachen Fälle von Entfremdung — selbstverständlich nur die, welche nicht
durch eine tiefere psychotische oder neurotische Störung kompliziert sind
— beweisen, daß diese in der Norm affektbetonten Strebungen und Erlei-
dungen als gewußte Erlebnisse des Individuums fortdauern, auch ohne daß
sie an die libidobesetzte Grenze des Ichs stoßen, oder, genauer bezeichnet,
ohne daß die Grenze der Libidobesetzung der Peripherie des Ichs an sie
ı) Radö, Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte. Diese Zeitschrift, Bd. XII.
(1926.)
2) Das Ich hat — bildlich gesprochen — eine seelische Mitte, mit der alle
seelischen Ichfunktionen zusammenhängen; die Verbindung der Ichfunktion mit dem
Es wird aber nicht über den Ichkern hergestellt, sondern erfolgt je nach den einzelnen
Triebkomponenten des Es, die den Ichfunktionen psychische Energie zuführen.
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Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 397
heranreiche. (Die nichtpsychoanalytische Psychologie drückt den Unter-
schied mit den Worten aus, die Gefühle würden zu Empfindungen.) Daß
es sich nicht um einen Verlust des Affektes handelt, erkennen wir dar-
an, daß erstens solch ein Kranker teilweise so handelt, wie wenn er die
Affekte hätte, und zweitens, daß er dieselben vermißt und dabei angibt,
er selbst, d.h. sein Ich, sei anders, er fühle eben deshalb seine Affekte
nicht mehr. —
Argumente dafür, daß das spezifische Ichgefühl auf libidinöser Besetzung,
nicht etwa aufsolcher mit anderer Triebenergie, beruhe, haben Nunberg'
und ich (s. „Narzißmus im Ichgefüge“) angeführt; weitere Argumente will
ich, um nicht den Zusammenhang zu stören, nicht hier vorbringen.
Tun wir nun recht daran, die libidinöse Besetzung der Ichgrenzen als
„marzißtisch“ zu bezeichnen? Als andere richtige Bezeichnung stünde
uns „Erogeneität des Ichs“ oder einfach Ichlibido zur Verfügung. Die
erstere dieser Bezeichnungen scheint mir ganz konsequent, hat aber den
Nachteil, den Gegensatz vom Ich und den „erogenen Zonen“ zu verwischen.
Auch verbinden wir mit „erogen“ die Vorstellung von Organlust spezifischer
Art, während die Erogeneität des Ichs, insoweit sie das Ichgefühl unter-
hält, besonders stark desexualisiert und allgemein erscheint. Wir heben den
Ausdruck Erogeneität des Ichs besser für das Ich, das sexualisiert ist, im
Gegensatz zum Ich in den Pausen der Sexualität auf. Sagt doch Freud:
„Jeder Veränderung der Erogeneität in den Organen könnte eine Ver-
änderung der Libidobesetzung im Ich parallel gehen.“ (Ges. Schriften,
Ba. VI, S. 167.)
So richtig es ist, daß das Ich einer erogenen Besetzung bedarf, um als
Ich gefühlt zu werden, und so sehr das Wort „Eros“ zu dieser Verwendung
verlockt, halte ich es doch für besser, das Wort Ichlibido zu ver-
wenden. Diese Bezeichnung wird sonst gleichbedeutend mit Narzißmus
gebraucht, ist es aber nicht völlig. Da es sich hier nicht nur um eine
Frage der Benennung, sondern um sachliche Zweifel handelt, will ich einige
Sätze Freuds zitieren, durch die er an verschiedenen Stellen den Begriff
Narzißmus charakterisiert oder definiert.
In seiner Arbeit „Triebe und Triebschicksale“, in der Freud die von
ihm überhaupt erst erfaßten allerschwierigsten Probleme klarstellt, heißt
es (Ges. Schriften, Bd. V, S. 264): „Das Ich findet sich ursprünglich, zu
allem Anfang des Seelenlebens, triebbesetzt und zum Teil fähig, seine
Triebe an sich selbst zu befriedigen. Wir heißen diesen Zustand den des
Narzißmus, die Befriedigungsmöglichkeit die autoerotische. Es fällt um
diese Zeit das Ichsubjekt mit dem Lustvollen..... zusammen.“
ı) Nunberg, Diese Zeitschrift, Bd. X (1924).
398 Paul Federn
Bei dieser Charakteristik ist das Gewicht auf die Befriedigung am
eigenen Ich (Seele und Körper, Individuum) im Gegensatz zur Außenwelt
verlegt. Der Zusammenhang begründet gerade diese Hervorhebung. Wenn-
gleich daher die ersten Worte: „Das Ich ist vom Anfang an triebbesetzt“
sehr wohl die libidinöse Besetzung, die das Ichgefühl unterhält, ein-
schließen, ist es doch nicht sicher, daß eine Definition des Ichgefühls
schon die autoerotische Befriedigung, die nach den weiteren Worten zum
Narzißmus gehört, decken würde. Wir kommen noch auf diesen Gegen-
stand zu sprechen. Jedenfalls ist das gesunde Ichgefühl ein lustvolles
Gefühl, es enthält aber nicht den Charakter besonderer Befriedigtheit,
freilich auch nicht den besonderer Unbefriedigtheit. Im allgemeinen wird
es erst bei Steigerung vom Es aus oder durch das Herantreten von bis
zum aktuellen Momente nicht dem Ich angehörigen Libidobesetzungen zu
einem wirklich lustvollen Gefühle. Immerhin widerspricht die zitierte
Stelle nicht der Verwendung des Wortes NarziBßmus für die uns be-
schäftigende Funktion der Ichlibido.' Ich sagte oben, für das Ichgefühl
passe besonders gut das Gleichnis von der Amöbe, und dieses verwendete
Freud an mehreren Stellen, um den Narzißmus verständlich zu machen.
Auch der Satz: „Narzißmus ist die libidinöse Ergänzung des Egoismus“
stimmt für das Ichgefühl, dessen Mangel den Menschen unfähig zum
Genießen macht, so daß für ihn völlig die Worte gelten: „Und er weiß
von allen Schätzen sich nicht in Besitz zu setzen.“
Völlige Übereinstimmung zwischen unserer Auffassung vom Ichgefühl
und der zitierten Charakteristik des „Narzißmus“ stellt sich aber her, wenn
wir erkennen, daß das Ichgefühl eben von jenem Teile der Ichlibido
unterhalten werde, welche den Narzißmus zwar ausmacht, aber nicht
autoerotisch befriedigt wird; solche Unbefriedigtheit braucht nicht den
Charakter der Unlust zu haben, sondern hat, weil es sich ökonomisch um
durch Verteilung gering gewordene Quantitäten handelt, den einer ange-
nehmen Vorlust. Diese Bezeichnung wird nämlich tatsächlich der
Erlebnisqualität des gesunden Ichgefühls überaus gerecht.
Diese Erwägung war nötig, um zu zeigen, daß wir, ohne den vom
‚Entdecker des Narzißmus gewollten Begriffsinhalt zu überschreiten, dieses
ı) Ebenso rechtfertigen meine Verwendung der Bezeichnung „Narzißmus“ folgende
Stellen: „Man hieß die Libido des Selbsterhaltungstriebes narzißtische Libido,“ nicht
aber die Fortsetzung: „und anerkannte ein hohes Maß von solcher Selbstliebe als den
primären und normalen Zustand.“ (Ges. Schr., Bd. XI, S. 22.) Und ebenso die Stelle:
„9... die Konzeption eines Zustandes, in dem die Libido das eigene Ich erfüllt,“
nicht aber die Fortsetzung: „dieses selbst zum Objekt genommen hat.“ — Oder die
Stelle: „Den Zustand, in welchem das Ich die Libido bei sich behält, heißen wir
Narzijßmus“..., aber im Nachsatz wird wieder die Objektbeziehung hervorgehoben.
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 399
Wort. für die Besetzung mit Ichgefühl verwenden, obgleich die eigentlichen
Definitionen immer auch die Beziehung auf das Ich als geliebtes Objekt
enthalten, so am schärfsten der Satz: „Sich selbst lieben, was für uns die
Charakteristik des Narzißmus ist.“
Ich war also berechtigt, das „Ichgefühl“ in die psychoanalytische
Literatur unter dem Titel „Narzißmus im Ichgefüge“ einzuführen, kann
aber auch in diesem Zusammenhange von „Ichlibido“ sprechen oder von
„objektlosem Narzißmus“. Letztere Bezeichnung würde auch nach der eben
geäußerten Erwägung, daß es sich um das Vorluststadium der Libido
handelt, die Triebdynamik im Ichgefühl angeben.
Nun muß es aber überraschen, von „objektlosem Narzißmus“ sprechen
zu hören, weil alle so sehr gewohnt sind, Objektlibido und Narzißmus als
absolute Gegensätze zu betrachten und zu bezeichnen. Sie sind aber gedank-
lich keine Gegensätze, denn auch manche Art Narzißmus hat — wenn man
das Ichgefühl ausnimmt — stets das eigene Ich oder Teile desselben als sein
Objekt. Wirklich im Gegensatz zu einander stehen „Objektbesetzung“ und
„Ichbesetzung“; im ersten Wort ist das Ich, im zweiten das Objekt das
libidinös besetzte, das mit lustvollem Begehren erlebte. Diesen Gegensatz
zu beschreiben, wird auch die Aufgabe vorliegender Arbeit sein.
Wir kommen der, wie ich glaube, richtigen Auffassung des Beobachteten
näher, wenn wir in bezug auf die Entstehung des Ichgefühls eine An-
nahme machen, welche von der Ansicht Freuds etwas abweicht. Bei
diesen psychoanalytisch noch nicht erforschten, vielleicht nie erforschbaren
Fragen sind nicht psychoanalytisch erworbene Annahmen gestattet.
Freud nimmt nämlich als notwendig an, „daß eine dem Ich ver-
gleichbare Einheit nicht vom Anfang an im Individuum enthalten ist;
das Ich muß entwickelt werden...“ Diese Annahme geht von der Un-
einheitlichkeit des „Es“ aus. Ein Ichgefühl ist aber meiner Meinung nach von
allem Anfang an vorhanden, früher als jeder andere Bewußtseinsinhalt. Diese
Annahme entspricht der vieler Philosophen und Psychologen (s. Öster-
reich, Phänomenologie des Ichs) und der von vielen Biologen geteilten Ansicht,
daß jedem, auch dem niedersten Protoplasma, demnach jedem Lebewesen ein
Bewußtseinskeim, ich möchte es ein rudimentäres Ichgefühl nennen, zukommt.
Dafür, daß ein Ichgefühl von Anfang an existiere, möchte ich noch
zwei Beobachtungen als entferntes Argument geltend machen. Es geschieht,
daß man kurze Zeit ohne bewuüßten Vorstellungsinhalt verweilt; dabei
fühlen wir unser Körper-Ich und deutlich auch ein seelisches Ichgefühl.
ı) Das Wort findet sich bei Freud bereits in der Arbeit „Trauer und Melan-
cholie“: „Der Melancholiker zeigt ... eine außerordentliche Herabsetzung seines
Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung.“ (Ges. Schriften, Bd. V, S. 538.)
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400 Paul Federn
Es ist leer von geistigen und emotionalen Funktionen. Da diese gewiß
allmählich erworben worden sind, ist es unwahrscheinlich, daß gerade das
seelischeIchgefühl erhalten bliebe, wenn es nicht, allerdings ungeschieden vom
seelischen Inhalte, von Anfang an dagewesen wäre. Daß das seelische Ich-
gefühl das letzte ist, was verloren geht, zeigt sich auch beim Einschlafen
und Ohnmächtigwerden. Daß es aber als letztes verloren geht, spricht da-
für, daß es als erstes vorhanden war. Es war im Bewußtsein immer mit
einem Inhalt an Sensationen, später an Vorstellungen verbunden; diese
wechselten; ein psychisches Ichgefühl muß als Dauer im Wechsel dage-
wesen sein, welches dadurch, daß es auf alle Erlebnisse und Erlebnisspuren
überging, erst das Ich sich bilden läßt und mit ihm dank der libidinösen
Besetzung, die von den Trieben fortdauernd gespeist wird, zunimmt.
Schließlich spricht noch ein der Biologie entnommenes Argument dafür,
daß eine Erogeneität des Ichs von Anfang an besteht; wir wissen, daß jene
chemischen Einwirkungen, welche als Hormone später die Libidofunktionen
speisen, schon vorder Geburt auf den gesamten Organismusgestaltendeinwirken;
es ist kein Grund vorhanden, daß sie nicht auch der Psyche von ihrem Er-
wachen an den libidinösen Beitrag, der im Ichgefühl sich kundgibt, liefern.
Der allmähliche Aufbau des Ichs geschieht durch Neuerwerb ganzer
Gruppen von vom Es aus mit Trieb besetzten Erlebnisrepräsentanzen und ihren
Erinnerungsspuren aller Art; dieselben stammen von inneren oder äußeren
Eindrücken oder aus Reaktionen auf dieselben, die teils vererbter-, teils
erworbenermaßen typisiert und vom Ich, trotz ihrer Abhängigkeit von den
Einzelmächten des Es geordnet, sich ein- und zugeordnet werden. Auf
jeden solchen Neuerwerb erstreckt sich das Ichgefühl, die primäre Ich-
libido. In dieser mit Ichgefühl erfolgenden Angliederung besteht die Er-
weiterung der Ichgrenzen, und wir haben uns nur der uns so vertrauten
Regression zu erinnern, um die spätere Ermöglichung ihrer pathologischen
Verkleinerung zu verstehen. Diese Zeit der Ichentwicklung ist die Periode,
in der der primäre Narzißmus herrscht. Denn während die Einverleibung
in das Ich vor sich geht, erfolgen ständig autoerotische Befriedigungen des
jeweiligen Ichs an den neuerworbenen Funktionen und Repräsentanzen.
Anders ausgedrückt, das Ich wird und wächst unter Lust an ichgefühlten
Erlebnissen, von denen die eigentlich autoerotisch betonten, vor allem die
des eigenen Körpers, aber auch die der Gesichts- und Gehörwahrnehmungen,
dem Lustprinzip folgend, stärker mit Ichgefühl besetzt werden. Noch im
Ichgefühl des Erwachsenen zeigen sich die erogenen Zonen besonders
betont. Auch das ganze Ich ist aber Gegenstand dieser primären Selbst-
liebe, insofern der ganze Körper mit der ganzen Seele bei den vielen mit
autoerotischer Lust ausgeführten Bewegungen, bei den früh beginnenden
=
A 0 TH
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 401
Berührungs- und Schaulüsten genossen wird. Schwerer fällt es, sich die
primär narzißtische Besetzung der dem Erwachsenen libidoarm (trocken)
erscheinenden geistigen Funktionen lebhaft vorzustellen. Aber die Beob-
achtung der Ichlust, mit der Kinder aus ihnen ein Spiel machen, und die
Erfahrung, daß Neurotiker und Psychotiker sehr viel Libido an diesen
Funktionen unterbringen, läßt keinen Zweifel, daß auch sie sowohl mit
Ichgefühl als mit primärem Narzißmus besetzt sind. Die erwähnten
Depersonalisationszustände erhärten es.
Wir verstehen jetzt, daß der „primäre Narzißmus“ zur Zeit seiner Blüte
mit seiner starken, vom Es stammenden Trieb- und Lustenergie das ein-
fache Ichgefühl sehr übertönt. Erst mit der Verdrängung der autoerotischen
Erlebnisse und Erlebnisspuren, mit dem Vorwiegen der Objektinteressen,
wird das eigene Ichgefühl als solches wahrnehmbar. Aber selbst für den
Erwachsenen wird es so sehr von autoerotischen und noch mehr von
objektlibidinösen Bewußtseinsinhalten verdeckt, daß es erst bei Variationen
und Störungen die Aufmerksamkeit sowohl des sich selbst beachtenden
Individuums, als der Forschung auf sich ziehen konnte.
Soweit sich der „primäre Narzißmus“ beim Kinde auf dessen eigenes
Individuum erstreckt, können wir uns von demselben, einmal durch
Freuds Entdeckung darauf aufmerksam gemacht, durch die Beobachtung
des Gehabens des Kleinkindes direkt überzeugen. Daß bei ihm der Narzißmus
sogar deutlicher hervortritt, als bei den Tieren und wahrscheinlich auch
bei den Primitiven, liegt daran, daß dem Menschenkinde die Gefahr der
Außenwelt und die ständige Furcht vor derselben lange erspart bleiben,
weil eben der Mensch von allen Geschöpfen am meisten zu den Nest-
hockern gehört. Wer aber ein verwöhntes Schoßtier beobachtet, wird auch
an ihm ein ebenso deutliches narzißtisches Gehaben erkennen.
Soweit sich aber der primäre Narzißmus auf die Außenwelt erstreckt,
können wir ihn nicht beobachten, sondern nur erschließen. Deshalb ist
dieser Teil der Libidolehre schwerer als Wirklichkeitsbeschreibung zu er-
fassen und wird meist für bloße Theorie gehalten. Beim Erwachsenen
überwiegen nämlich in der Erfassung der Außenwelt die Objektbesetzungen
so sehr den primären Narzißmus, daß man ihn erst in den Zuständen von
Hingegebenheit und Ergriffenheit, deren höchste Stufen wir als Ekstase
und mystische Vereinigung bezeichnen, empfinden kann! — — — dort, wo
nach dem Ausdruck mancher Philosophen das „Reich der Freiheit beginnt“
und das principium individuationis mit den Kausalgesetzen aufzuhören scheint.
ı) In ihrer Arbeit über „Zufriedenheit, Glück nnd Ekstase“ hat Helene Deutsch
auf die Wiederherstellung einer narzißtischen Einheit und auf die Erweiterung des
Ichs und seiner Grenzen hingewiesen, (Diese Ztschr. Bd. XIII. (1927.)
nm nm TmmamnmnmnmnR m mmmmI‚_ m ————
402 Paul Federn
Und doch hat die erste Arbeit über den von Freud kurz vorher
dargestellten Narzißmus, die von Hanns Sachs, sich gerade mit jenem
Narzißmus beschäftigt, welcher sich auf die Objekte der Außenwelt bezog
und dessen Verdrängung und Projektion zu der animistischen Weltauffassung
des Primitiven führt. Kind und Primitiver benehmen sich im Stadium
des primären Narzißmus anders als später, nachdem die Ichgrenze alle
Gegenstände der Außenwelt außer dem Individuum gelegen fühlen, '
nicht nur erkennen läßt. Erstens empfinden Kinder manche Veränderungen
an äußeren Objekten, wie wenn sie ihnen selbst geschehen wären, reagieren
deshalb mit Angst und Zorn, mit Lust und Leid, obgleich ihnen nach
den Begriffen des Erwachsenen doch „gar nichts geschah“. Zweitens ' aber
sind sie andererseits wieder unabhängig von den Geschehnissen der Außen-
welt, weil ihre mit vollem Ichgefühl erlebten, ständig besetzten Vorstellungen
der Außenwelt diese selbst ihnen zu ersetzen vermögen. In der Zeit
des vorherrschenden primären Narzißmus fällt daher
die Ichgrenze mit der gesamten Vorstellungswelt des
Kindes zusammen, aus der das aktuelle Bewußtsein einen kleinen,
noch nicht der Realität entsprechend zusammenhängenden Teil hervorhebt.
Wir können annehmen, daß in dieser Periode die geistigen Abläufe in
Primärvorgängen vor sich gehen. Bei der individuellen Verwendung von
Worten oder Wortneubildungen kann man nämlich noch lange Verschiebung,
Verdichtung, Ersatz durch das Gegenteil genugsam nachweisen. Aber schon
jetzt korrespondiert die Verteilung der Intensitäten der Libidobesetzung mit
dem Interesse an der Außenwelt. Denn alles, was das Kind stärker und öfter
begehrt, bekommt früh eine und dieselbe richtige Bezeichnung. Diese werden
durch jede neue Befriedigung eines Begehrens befestigt. Trotz der narzißtischen
Besetzung der Außenwelt kann daher — analog wie bei den Primitiven —
eine Art Realeinfügung erfolgen, weil die narzißtische Besetzung nicht
diffus für die ganze Vorstellungswelt dieselbe ist, sondern, je nachdem die
autoerotische Befriedigung der erogenen Zonen durch ein Objekt stärker er-
folgt, gerade auf dessen Vorstellungen eine stärkere narzißtische Besetzung sich
konzentriert. Die Wiederholung und stärkere Besetzung der begehrten und der
lebenswichtigen Objektrepräsentanzen folgt dabei noch ganz dem Lustprinzipe.
Das primäre Ichgefühl schließt also von Anfang an auch die Außenwelt
in sich ein. Diese nimmt an Ausdehnung mit dem Erleben immer mehr
zu; ihre Teile, d. h. die Vorstellungen von ihnen, werden dabei nicht
gleichmäßig mit Narzißmus besetzt, sondern ebenso wie die Teile des
Körpers in verschiedener Intensität. Trotzdem sind die Objekte noch rein
ı) Vgl. „Variationen des Ichgefühls“, diese Zschr., Bd. XII (1926).
EISESSIG STEREEESEEENEEEN
Das Ich als-Subjekt und Objekt im Narzißmus 403
narzißtisch und noch nicht objektlibidinös besetzt. Nur durch .die Ver-
bindung der libidinösen Begehrung mit der Funktion der Selbsterhaltungs-
triebe erhalten die stärker narzißtisch besetzten Dinge einen Objektcharakter.
Die Vorstellungen von ihnen werden aber als zum Ich gehörig gefühlt,
obgleich die Objekte als Befriedigungsmittel von den Selbsterhaltungstrieben
und von der Libido angestrebt werden. Erst, wenn das kleine Kind das
Ichferne des Gegenstandes fühlt, hat der primäre Narzißmus für
die betreffende Funktion die alleinige Geltung verloren. Solange z. B. die
Vorstellung der Mutterbrust ebensosehr wie die Wonne des Saugens von
Ichgefühl besetzt ist, wird wohl die Lust des Saugens und. die
Stillung des Hungers begehrt, die Mutterbrust als ihr Mittel gesucht, sie
ist also bereits tatsächlich etwas Begehrtes, aber nichts, was außer dem
Ichgefühl steht. Wird sie bereits als fremd, dem Ichgefühl entzogen,
erlebt, dann erst hat sie eine objektlibidinöse Besetzung. Die Konzeption des
Ichgefühls läßt auf diese Weise den primären Narzißmus in seiner Ver-
wendung für die Vorstellungen der Außenwelt besser verstehen.
Beim primären Narzißmus existieren also keine vom lIchgefühl
unbesetzten Objektbesetzungen. Alles, was befriedigt zu werden begehrt,
und alles, was Befriedigung verschafft, — das erste ist das Subjekt der
Libido, das zweite ihr Objekt, — ist körperlich und in seiner Vorstellungs-
repräsentanz von Ichgefühl, von der zusammenhängenden Ichlibido besetzt.
Solange das Kind noch keine Vorstellung vom eigenen Ich hat, ist
das Ich dabei nur als Subjekt vorhanden, nur als sich selbst in seinen
Teilen erlebendes Subjekt. Deshalb ist der primäre Narzißmus als Subjekt-
stufe des Ichs zu bezeichnen.
Das Entstehen der vom Ich getrennten Objektbesetzungen macht
der Alleinherschaft des primären Narzißmus ein Ende. Wir dürfen aber
nicht — wie die Lehrbücher der Geschichte etwa das Altertum — diese
Periode des Narzißmus mit einem bestimmten Ereignis enden lassen. Die
Außenwelt wird nicht plötzlich als etwas vom Ich Getrenntes und damit
auch das Ich als etwas von der Außenwelt Verschiedenes entdeckt. Für
jede Einzelbeziehung muß die Objektstufe abgegrenzt werden. Mühsam
wird anfangs Objekt auf Objekt als solches erworben, wobei die primäre
narzißtische Besetzung bei stärkerer Trieberregung — z. B. im Affekte wegen
einer Versagung noch lange Zeit — die Objektbesetzung quantitativ so
übertönen kann, daß jede „Objektivität“ aufhören muß!
Bevor ich die Rolle des Ichgefühls auf der Objektstufe des Individuums
erörtere, will ich noch auf einen Unterschied zwischen der zum Ich-
gefühl gewordenen Ichlibido und dem primären Narzißmus aufmerksam
machen, den man auch bei dem Erwachsenen deutlich beobachten kann.
404 Paul Federn
BER En. a 7 n.\) 0) 2
Breuer hat zuerst die Theorie aufgestellt, daß wir ruhende und bewegliche
Besetzungen unterscheiden müssen. Otto Groß hat den gleichen Grund-
gedanken in seiner Lehre von der Primär- und Sekundärfunktion durch-
geführt. Freud erkennt in seinen metapsychologischen Schriften (Ges. Schr.,
Bd. V,S. 503) diese Anschauung Breuers als tiefste Einsicht an. Nun haben
wir im „primären Narzißmus“ das Ichgefühl und die autoerotische Verstärkung
desselben geschieden hervorgehoben, Es fragt sich nun, ob diese beiden Anteile
nicht auch in bezug auf Ruhe und Beweglichkeit von einander verschieden
sind. Die Erfahrung am Erwachsenen lehrt, daß dort, wo Aufmerksamkeit
oder Willen zugewendet wird, das Ichgefühl der betreffenden Ichgrenze
stärker wird. Wenn wir dem Ichgefühl den Vorlustcharakter zuerkannt
haben, so ist bei jeder solchen Steigerung die Beweglichkeit der Libido-
besetzung sehr begreiflich, weil dann das Unbefriedigte der Vorlust sich
steigert und als ungesättigt nach Sättigung (Endlust) sucht. Anderseits
haben wir angenommen, daß gerade die autoerotische Befriedigung es ist,
welche wichtigste Anteile des Ichs stärker mit Narzißmus besetzt. Ob nun
vom Es aus eine Triebsteigerung oder von außen ein Reiz mittelbar oder
über verschiedene vorbewußte oder unbewußte Wege diese Befriedigtheit
stört, in beiden Fällen wird der Vorlustcharakter im primären Narzißmus
und damit das Ichgefühl der betreffenden Ichgrenze gesteigert werden.
Wir können daher vermuten, daß bei jedem seelischen Akte die beweglichen
Besetzungen von der Vorlustspannung der unbefriedigten Libido herrühren,
die ruhenden den befriedigten Quanten Libido entsprechen.
Doch kann diese Unterscheidung nicht die richtige triebdynamische
Erklärung für die Ansicht Breuers sein. Denn die Libido muß ja mit
ihrer Befriedigung auch ihre Energie verloren haben. Die Besetzungen
sind wohl durch die Befriedigung zur Ruhe gekommen, aber nicht als
ruhende weiter vorhanden. So sind es nur Ruhepunkte in der Libidobewegung,
welche durch die autoerotische — ebenso später durch objektlibidinöse —
Befriedigung entstanden sind. Doch haben sie als Ruhepunkte eine besondere
Bedeutung: Da nämlich einmal erreichte Befriedigung an den gleichen
Vorstellungen und Vorgängen wieder gesucht wird, so werden diese Ruhe-
punkte immer neu mit Libido, die Sättigung sucht, besetzt werden. —
Die Libido wird daher nur insofern als ruhend erscheinen, als sie von dort
nicht abströmt, sondern dort ihre Befriedigung findet. So können wir
allgemein von scheinbar ruhender Besetzung dort sprechen, wo nicht
mehr Libido von einem psychischen Element abströmt oder durch
Befriedigung verschwindet, als dem Elemente zuströmt. (Element als
allgemeiner Ausdruck für jede Art von mit Libido besetztem psychischem
Rinzelapparat oder Einzelvorgang.)
TE
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 405
Zur Frage der ruhenden und beweglichen Besetzung lehrt die Be-
obachtung der Ichgrenze noch etwas anderes. Wir wissen, daß sie in ihrer
ganzen Ausdehnung im allgemeinen während des Wachens konstant mit
Ichgefühl besetzt bleibt. Daraus können wir ganz allgemein schließen, daß
überhaupt ein gewisses Maß auch ungesättigter Libido (solcher von Vor-
lustcharakter) trotz ihrer Ungesättigtheit an psychischen Elementen ruhend
verbleibt. Das Maß derselben ist für verschiedene Individuen und im selben
Individuum für die verschiedenen Elemente und Funktionen ganz verschie-
den. Erst wenn diese dauernde Besetzung eine Steigerung erfährt, wird sie die
Tendenz abzufließen haben: Dies ist eine allgemeine Lehre der Libido-
theorie, die durch die Beobachtung des Ichgefühles neuerdings bestätigt wird.
Damit mehr als dieses Maß von Libido ruhend erhalten bleibe, muß
ihr Abströmen und ihre Befriedigung gehindert werden. Die Beobachtung
der Ichgrenze bei Depersonalisation belehrt uns, daß Objektlibido am
Abströmen gehindert wird, wenn die Ichgrenze sich von den betreffenden
Objekten oder libidinös besetzten Funktionen zurückzieht. Wir sehen
daher: ein möglicher Weg, Libido ruhend zu erhalten, ist die Zurückziehung
der entgegenkommenden Libidobesetzung, hier erkennbar an der Entblößung
der Ichgrenze von Ichgefühl. Ich erinnere, daß Freud den gleichen
Mechanismus für das Entstehen der Verdrängung angenommen hat, insofern
als bei ihr die Besetzung vom Vorbewußten aus zurückgezogen wird.
Es gibt nach Freud noch andere Mechanismen, welche Libido am
Abströmen hindern; doch gehören sie nicht zum vorliegenden Thema.
Für dieses war die vorausgegangene Erörterung wichtig, weil sie zeigte,
daß die Zurückziehung der Ichgrenze, genauer die Zurückziehung des
Ichgefühles, die Libido der vom Ich verlassenen Vorstellungen am Abströmen
hindert. Nun fand ich bei der Psychoanalyse der Entfremdungs- und
Depersonalisationszustände, daß Schreck und Angsterlebnisse (Reik und
Sadger fanden später dieselben Ursachen) das Entstehen der Entfremdungs-
zustände, die Zurückziehung der Ichgrenze, bewirken. Wir können daher
annehmen, daß die Primitiven nur unter dem Druck der furchtbaren
Außenwelt mühsam zur Loslösung ihres Ichs von der Außenwelt, zum
Verlassen des primären Narzißmus gezwungen wurden. Die gleiche Ent-
wicklung, aber durch den mächtigen kulturellen Schutz von Vater und
Mutter wesentlich erleichtert, nimmt das Kind.
Welche Rolle können wir der Ichlibido (dem Ichgefühle) und
der Ichgrenze in der weiteren Entwicklung zuschreiben? Wir werden
bei der Besprechung die Beziehung der einzelnen Objektbesetzungen zur
Ichgrenze von der Gesamtentwicklung der Ichgrenze trennen. Nach den
Darlegungen Freuds (Ges. Schr., Bd. V, S. 461) handelt es sich um
en.
406 Paul Federn
die Verwandlung des Lust-Ichs in das Real-Ich und wieder dessen Ver-
wandlung in ein purifiziertes Lust-Ich als Reaktion auf das Eintreten des
Objektes. Soweit ich diesen Teil der Metapsychologie durchdenken konnte,
entspricht die Erwerbung der Objektbesetzungen dem ersten, das Verlassen
der früheren Ichgrenzen dem zweiten Vorgange.
Dort, wo das Kind an den Objekten Enttäuschungen erlebt, dort, wo
es immer neue Erfahrungen macht, daß sie seinen Wünschen nicht
untertan sind, dort, wo es Schmerz, Leid, Angst und gar Schrecken durch
die Objekte erfährt, dort zieht sich seine Ichgrenze von den Objekten
zurück. Der Vorgang ist so stark durch Vererbung vorgebildet, daß ich
nicht weiß, ob die genaueste Beobachtung beim Gesunden wird äußere
Anlässe nachweisen können. Vielleicht genügt für die allmählige Än-
derung der Ichgrenze beim Gesunden die so gut beobachtbare Unter-
brechung des Ichgefühls im allnächtlichen Schlafe, Bedeutungsvoll ist diese
jedenfalls. In pathologischen Fällen, also für alle Arten vorübergehender
oder dauernd verbleibender Entfremdung, ist die traumatische Entstehung
nachweisbar, wobei die Entfremdung plötzlich bemerkt wird, ob sie nun
an ein schreckendes oder an ein chronisch schwer kränkendes Erlebnis
anschließt. Ferner will ich etwas abweichend von F reud bemerken, daß
es sich — mit seinem Bilde gesprochen — bei der Entstehung der
Objektbesetzungen nicht um bloße Pseudopodien handeln kann, die das
narzißtische Libidoreservoir als Amöbe an die Objekte aussendet. Der
Vorgang muß immer der sein, daß die zusammenhängende Ichlibido sich
unter Zurücklassung von Objektbesetzungen von den Objekten zurück-
zieht, sowohl von denen, die sie früher schon narzißtisch besetzt hatte,
als von denen, die erst später unter vorübergehender Berührung desselben
erworben wurden, zu einer .Zeit, da die Ichgrenze schon die Außenwelt
als Ganzes außen liegen gelassen hat und nur Teile der Außenwelt, allerdings
große, narzißtisch besetzt zum Ich gehörig geblieben sind. Objekt-
besetzungen entstehen dadurch, daß die Ichgrenze
sich von den Objektvorstellungen, d.h. von den
Erinnerungsspuren der Objekteindrücke, wieder
zurückzieht. Dann bleibt getrennt einerseits das Ich, von
einer zusammenhängenden Ichlibido besetzt, im Gegensatz dazu andererseits
die immer zahlreicher werdenden einzelnen Objektvorstellungen mit kleinen
Libidoquanten, die aber dennoch vom Es aus mit starken Intensitäten
besetzt sein können. Die gesamte psychoanalytische Erfahrung spricht dafür,
daß diese vom Ich isolierten Objektbesetzungen ihre eigenen gesetzmäßigen
Libidoschicksale haben, daß z. B. an ihnen die Verdrängung, deren
Mißlingen zur Symptombildung führt, erfolgt. Nun lehrt die Selbstbeob-
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 407
achtung — mit welcher viele Mitteilungen anderer Autoren überein-
stimmen — einen Vorgang, der eine neue Annahme in der Libidotheorie
nötig macht: Alle Beobachtung des Ichgefühles bestätigt, daß die Libido
der Ichgrenze (als Ichgefühl erkennbar) und die Libido der
Objektvorstellungen zumindest bei allen psychischen Akten, die voll
erlebt werden, wieder aneinander gelangen und dadurch entweder zur Befrie-
digung (z.B. einfaches Wiedererkennen) kommen oder bei unvollkommener
Befriedigung weitere bewußte und vorbewußte psychische Abläufe mit oder
ohne Berührung der Ichgrenze (Mitwirkung der Ichlibido) veranlassen. Ob solche
Vereinigungen von Ichlibido und Objektlibido auch ohne unser Bewußtsein
erfolgen, hebe ich als ein wichtiges psychoanalytisches Problem hervor.
Bei jedem solchen Einswerden der ichlibidinösen Grenze und der Objekt-
vorstellung — selbstverständlich ist die einzelne Objektvorstellung nur das
einfachste Beispiel und geschieht es zumeist in analoger Weise bei
komplizierten Abläufen und Funktionen — tritt eine vorübergehende
Erweiterung der Ichgrenze ein, so daß meine Darstellung in bezug auf
die weitere Beziehung von Ich- und Objekt-Libido wieder zur Dar-
stellung Freuds vom Umfassen und Verlassen der Objekte zurückkehrt.
Die Abweichung betrifft nur das Entstehen der Objektbesetzungen.
Bei allen bewußten Vereinigungen von Ichlibido und libidinöser Objekt-
besetzung haben wir nicht nur das Bewußtsein der Vorgänge, sondern fühlen
die Lebendigkeit und Wirklichkeit, sei es der Wahrnehmung, sei es des
Denkens und auch des Affektes. Da für die betreffende Ichgrenze, von
dem lebhaftesten Ichgefühl (so im höchsten Grade bei Manie oder
Enthusiasmus) bis zur Entblößung bei Entfremdung, verschiedene Inten-
sitäten der ichlibidinösen (primär narzißtischen) Besetzung möglich sind,
können auch die Befriedigung und das Gefühl des vollen Erlebens alle
Grade haben. Was Schilder mit Ichferne und Ichnähe eines Vorganges
bezeichnet, findet nicht in einer größeren Trennung vom Ich seine Erklärung,
ein Vorgang kann auch nicht mehr oder weniger bewußt sein. Sondern die
Intensität der Libido der Ichgrenze ist verschieden groß. In jeder dieser
Vereinigungen von Ichlibido und Objektlibido ist das Bewußtwerden
enthalten. Es ist aber mehr als bloßes Bewußtwerden darin, weil ja
Bewußtheit der Vorgänge auch bei voller Entfremdung erhalten bleibt. Da
aber das Ichgefühl eine Dauerbewußtheit des Ichs ist, könnte der Unter-
schied zwischen Bewußtheit und voller Ichhaftigkeit eines Vorganges
vielleicht doch ein nur quantitativer sein. Wahrscheinlich dürften aber
zwei von einander unterscheidbare Funktionen an der Ichgrenze erfolgen,
von denen die eine auch den Ichkern betrifft und dadurch die Bewußt-
heit, die andere nur das Ichgrenzengefühl bedingt.
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408 Paul Federn
Wir haben so dargelegt, daß die narzißtische Besetzung von den Außen-
objekten zurückweicht und daß auch die Denkfunktionen und die affektiven
Reaktionen mehr und mehr außerhalb des Ichgefühls sich ausbilden und
vorbewußt vor sich gehen, um allerdings in jedem aktuellen Erlebnis immer
neu von den Ichgrenzen und vom Bewußtsein erfaßt zu werden.
Was geschieht nun mit der alten narzißtischen Grenze des Ichs, während
sich das Gebiet der jeweilig von der Ichgrenze erfaßten Objektbesetzungen
und damit die Ausdehnung der Ichgrenze selbst vergrößert? Das ist
nicht theoretisch abzuleiten, sondern aus der Erfahrung zu beantworten.
Eines ist gewiß: Es erfolgt keine sozusagen rationelle Teilung zwischen
der Besetzung des Ichs und den Objektvorstellungen, so daß Außenwelt,
Körperliches, Seelisches jeder das Seine erhielten. Ginge die Entwicklung
so vor sich, so wären die uns beschäftigenden Probleme mit wenigen
Sätzen zu erledigen; ja — es hätte die alte Assoziationspsychologie über-
haupt nicht von der Psychoanalyse belehrt zu werden brauchen. Sie würde
damit auskommen, Vorstellung, Empfindung, Wahrnehmung, Gefühl usw.
zu unterscheiden und deren weitere Kombinationen und Verarbeitung;
die Stabilisierung der Verarbeitungsresultate bedingte dann, daß diese auf
wohl eingerichteten und physiologisch, resp. experimentalpsychologisch
erforschbaren Bahnen alles in Ordnung halten. Die so entstandenen
„seelischen Ämter“ wecken einander, halten einander in Atem, lassen
einander schlafen, arbeiten auch einander entgegen (z. B. wenn wider-
sprechende Aktenstücke kommen), können also auch hemmend wirken:
Im ganzen erfüllen sie aber ordnungsgemäß die ihnen gestellten Aufgaben
und werden auch mit dem Trieb gesindel fertig, es sei denn, daß irgendwo
ein Beamter erkrankt, oder die Postverbindung von Amt zu Amt versagt,
Der Mikrokosmos der Seele, völlig nachgemalt dem Bilde, das man sich
zur Zeit der Entstehung der Schulpsychologie von dereinst vom Staate
gemacht hat!
Die Psychoanalyse hat von dieser Idylle nichts übrig gelassen; es wäre
in Verfolgung des Vergleiches interessant zu untersuchen, wieweit auch das
von ihr geschaffene Seelenbild der Gesellschaftsordnung zur Zeit ihrer
Schöpfung entspricht. Von der neuen Gestaltungswiedergabe der Seele — Bild
dürfte ich es nicht nennen, weil der Dimensionen zu viele darin sind —
wollen wir hier nur zwei Neuerungen hervorheben: erstens, daß es sich,
weiter im Gleichnis gesprochen, um öffentliche, private und verborgene
Vorgänge handelt, und zweitens, daß es von den Trieben aufwärts, viel-
leicht schon unter den Trieben selbst, Schichten gibt, welche nicht
gleichmäßig geordnet übereinander liegen oder so liegen bleiben.
Deutlich und offenkundig scheidet das Ichgefühl die Außenwelt und
u
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 409
das Ich und hebt das geistige Ichgefühl den Körper von dem Seelischen
ab. Gleichsam nicht öffentlich dauern die narzißtischen Besetzungen vieler
Vorstellungen der Außenwelt mit Ichgefühl fort, ändern sich, entwickeln
sich, werden wieder aufgegeben und neu verliehen. Geheimst verborgen
bleibt, sogar für das eigene Bewußtsein aufgegeben, die gesamte Welt des
primären Narzißmus, wie Traum und Psychose uns lehren, fortbestehen :
denn es wird das primär narzißtische Ich (welches Außenwelt und Indi-
viduum umfaßte) als Ganzes verdrängt, unbewußt: Weltbild und Ich-
gefühl der Kleinkinder sind den Erwachsenen völlig unbewußt, beweisen
aber ihr Vorhandensein dadurch, daß sie in Psychosen wiederkommen
können. Das ist, wie ich glaube, eine hier neu! vertretene Auffassung;
neu, weil wir sonst nur von Verdrängung der Objektvorstellungen und
deren Verarbeitungen hören.
Es geschieht also bei der Etablierung der neuen Ichgrenze dreierlei:
I). Die Außenwelt wird egoistisch durch die Objektbesetzungen
erfaßt: Realanpassung des Ichs (des Real-Ichs) an die Welt.
2) Die Außenwelt wird egozentrisch durch narzißtische Besetzung
vom Ich umfaßt: Wunschgemäße Angliederung der Vorstellungen von der
Welt an das Ich.
3) Das bisherige Ich wird verdrängt: Unbewußte Fortdauer des ego-
kosmischen Ichs.
Wir haben jetzt nebeneinander, nach den Worten Freuds, das Real-
Ich und das purifizierte Lust-Ich — und von Freud nicht erwähnt, im
Unbewußten das Ur-Ich, das Welt und Ich narzißtisch umfaßte, welches
Trigant Burrow als das „Preconscious“ bezeichnet hat, fortbestehen.
Vom letzteren werden wir später bei der Untersuchung der Ichgefühle
und der Ichgrenzen, die das Über-Ich abgrenzen, sprechen. Jetzt soll uns
das Verhältnis der bewußten Ichgrenzen zu einander und zu den Objekt-
besetzungen beschäftigen.
Wie wir früher auseinandersetzten, wird die Ichgrenze immer beweg-
licher und umfaßt immer mehr Funktionen, immer mehr Vorstellungen.
Das Freigeben der Außenwelt aus dem Ichgefühl hat ihre Eroberung und
Beherrschung zum Ziel gehabt; dazu werden alle Erfahrungen und Künste
des Geistes und Körpers verwendet; soweit sie bewußt und nicht ent-
fremdet sind, erstreckt sich auf sie das Ichgefühl. So wird die Ichgrenze
zur Zeit. des Real-Ichs und des purifizierten Lust-Ichs für das letztere
ı) Wahrscheinlich ist von Psychoanalytikern und Nicht-Psychoanalytikern dasselbe
schon mitgeteilt worden. Ich würde mich freuen, darauf aufmerksam gemacht zu
werden, da ich daran arbeite, die Forschungen der Schulpsychiatrie über die Ent-
fremdung vom Gesichtspunkt des Psychoanalytikers zusammenhängend zu referieren.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4
27
m em m m ep
410 Paul Federn
vielgestaltet und reichgegliedert, viel mehr als sie zur Zeit des Allnarzißmus
gewesen war. Es wachsen sowohl körperliche als geistige Ichgrenze allmählich
mit dem Reifwerden von Körper und Geist. Pathologische Fälle belehren
uns, daß auch später noch ganze Ichgrenzen mit den jeweiligen narziß-
tischen Besetzungen verdrängt werden können, denn es gibt als Ausnahmen
Fälle, wo sie festgehalten werden. Was wir Fixierung heißen, ist auch
mit der festeren Formation einer bestimmten Größe und Grenze des Ichs
verbunden. Namentlich wenn ein bestimmter Partialtrieb eine bestimmte
Ichgrenze betont, wie wir es vom Exhibitionismus und vom Masochismus
wissen, so wird dadurch diese Ichgrenze stärker besetzt. Es gelingt dann
nicht, sie in langsamer Entwicklung zu erweitern, und so bedarf es zur
Überwindung eines solchen Stadiums der Verdrängung. Freud hat in
analoger Art vom Friedens- und Kriegs-Ich der Kriegsneurotiker gesprochen.
Von einem individuell verschiedenen Alter an hören solche Verdrängungs-
schübe in bezug auf die Ichgrenze ganz auf und verändert sie sich weiter
nur allmählich mit den neuerworbenen Funktionen: der Mensch bleibt
derselbe. Die grundsätzliche Erfahrung, daß bestimmte Ereignisse eine
amnestische Periode abschließen, hängt daher nicht nur mit der Verdrängung
von zusammenhängenden Objektvorstellungen, sondern vor allem mit der
Verdrängung einer Triebkomponente und der von ihr in charakteristischer
Art besetzten Ichgrenze, besonders für die geistigen Funktionen, aber auch
mitunter für das Körperliche zusammen, wie ich schon früher dargelegt habe.
Die Verdrängung solcher stärker fixierter Ichgrenzen ist nicht immer
Folge davon, daß .die frühere Ichgrenze und ihre Besetzung unlustvoll
wurde, ebensowenig als der primäre AllnarziBßmus lustlos werden konnte;
sondern die Unlust liegt daran, daß zwei narzißtische Ich-
grenzen nicht ohne Verwirrung miteinander bestehen
können. Wenigstens zeigen Erwachsene, welch rasch und oft auf ein
früheres Ichstadium mit anderer Ichgrenze zurücksinken, eine sie sehr
quälende Unsicherheit und Scham. Eigentlich wird die Verdrängung aus
dem Bewußtsein darum nötig, weil eben das Individuum von der früheren
Lustquelle nicht bewußterweise lassen konnte. Es ist wahrscheinlich, daß erst
ein unlustbetontes äußeres Ereignis die Verdrängung der dasselbe betreffenden
Objektvorstellungen und der dazugehörigen Periode des Ichs mit seiner
Ichgrenze einleitet und sie ermöglicht. Daß Objekt- und Ichbesetzungen
gleichzeitig verdrängt zu werden pflegen, entspricht unserer früher aus-
gesprochenen allgemeinen Beobachtung, daß bei jedem psychischen Geschehen
Besetzung des Ichs an der „betreffenden Ichgrenze“ und Objektbesetzung
sich vereinen.
. .. . G
Wir können nun genauer sagen, welches die „betreffende Ichgrenze‘
Sn Tr
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 411
sei: In dem Erlebnis kommt die Objektvorstellung mit ihrer Libido-
besetzung zusammen mit den dauernd zum Ich gehörigen narzißtisch
besetzten Vorstellungen desselben Gegenstandes. Unsere früher gestellte
Frage: „Was geschieht bei der Erwerbung von Objektbesetzungen mit
der narzißtischen Ichgrenze?“, haben wir dahin beantwortet, daß sie erhalten
bleibt und sich weiter verändert. Die neuerworbene Objektbesetzung ist
wohl dadurch entstanden, daß die narzißtisch besetzte Ichgrenze von den
unbotmäßigen oder peinlichen Objekten zurückwich, oder nur ganz vor-
übergehend die neue Wahrnehmung mit Ichgefühl ergriff, so daß die
Objektvorstellung mit neuer Objektbesetzung (vom Es aus) ohne Ichgefühl
zurückbleiben kann. Aber — entsprechend aller Erfahrung der Psycho-
analyse — verschwindet auch hier nichts einmal Erworbenes. Daß eine
neue Erfahrung mit zurückgezogener oder sich sofort zurückziehender
Ichgrenze gewonnen wurde, die als Objektvorstellung zurückbleibt,
hindert nicht, daß die alten, bereits von früher bestandenen, mit Ichgefühl
besetzten Vorstellungen in der Erinnerung fortbestehen, daß wir also zwei
Niederschriften, wie Freud in einem anderen Zusammenhang es nannte
(Engramme im Sinne Semons), von demselben Objekt kaben. Die eine
narzißtisch gefärbt, undeutlich und nicht der Wirklichkeit genau ent-
sprechend, — geniale Menschen ausgenommen, auch bei diesen immer viel-
fach mit kindlichen Elementen vermengt — die andere möglichst richtig,
spät erworben, der Korrektur durch neue Erfahrung sehr zugänglich. Daß
beide beim Erlebnis zusammenkommen, liegt daran, daß beide aktuell
durch eine zu beiden gehörige Wahrnehmung oder durch ein Wort-
bild in das Bewußtsein gerufen werden. Je mehr die narzißtische
Vorstellung oder Vorstellungsgruppe der objektlibidinösen
inhaltlich entspricht, desto leichter gelingt die
Befriedigung der Libido bei dem Aktuellwerden und
Zusammenkommen beider. Ich weiß, daß diese ganze Darlegung
schwer angenommen werden wird. Die Selbstbeobachtung läßt aber, leichter
in den wunschbetonten, als in den begrifflichen geistigen Vorgängen, weil
erstere stärker mit Ichlibido besetzte Inhalte enthalten, diese Inhalte von den
Objektvorstellungen im Auftauchen unterscheiden. An beiden hängen Libido-
quanten, die sich im Erleben selbst vereinen. Hat man einmal diesen
Vorgang an wunschbetonten Vorstellungsgruppen öfters beobachtet, so
erkennt man den gleichen Vorgang auch beim gleichgültigeren Denken
oder Tun. Das Wort „begreifen“ besagt, daß mit Zuwendung von Ichlibido
ein neues Vorstellungselement einer richtig geordneten bestehenden Gruppe
zugeordnet wird. Dort, wo keine narzißtische stärkere Besetzung im Vor-
bewußten ist, dort wird beim Auftauchen einer Objektvorstellung nur das
27
412 Paul Federn
uns jetzt schon bekannte Ichgefühl (Libidobesetzung) der Ichgrenze der
auftauchenden Vorstellung entgegenströmend gefühlt. Fehlt auch diese, so
tritt, wie schon oft erklärt, Entfremdung ein. Die narzißtisch besetzte
Vorstellung ist also nicht dasselbe wie die mit Objektlibido
besetzte Vorstellung.
Wir können jetzt zusammenfassend sagen, die Ichlibido setzt sich im
Ichgefühl und in den vom Autoerotismus stammenden, das Ichgefühl
verstärkenden Besetzungen als Einheit durch das ganze Leben fort. Das
ist aber nur möglich, weil die von ihnen besetzten Vorstellungen nicht
mehr wie zur Zeit der Alleinherrschaft des primären Narzißmus den
Charakter der Wirklichkeit haben. Den haben sie an die Objekteindrücke,
die von außen die Ichgrenze berühren, abgegeben. Die Erinnerungen
an jene Zeit, da sie noch Wirklichkeitscharakter hatten, an das, wie ich
es oben nannte, „egokosmische Ich“, mußten zu diesem Zweck ver-
drängt werden. Triebökonomisch war diese komplizierte Entwicklung
möglich, weil vom Es aus um so viel weniger Libido der alten narziß-
tischen Besetzung in ihrer Gesamtheit zugeführt wurden, als die Inanspruch-
nahme der wirklichen Objekte Libido für ihre Besetzungen in Anspruch
nahm.
In diesem ganzen Entwicklungskampfe der Realanpassung gegen die
archaische, lustvoll narzißtische Ichforın sehen wir daher sowohl die
zentrale Ichlibido mit. ihren wechselnden Grenzen als auch die isoliert
sich bildenden Objektbesetzungen kontinuierlich sich entwickeln. Die
Kontiguität der Libidobesetzungen wird durch Isolierung der Objekt-
besetzungen und durch Verdrängungsprozesse unterbrochen. Wir wissen
aber, daß pathologische und physiologische (Schlaf, Traum, Psychoanalyse,
Ekstase) Veränderungen in der Ökonomie die aufgehobene Kontiguität für
kurz oder lang wieder herstellen können.
Unsere Darlegung hat aber auch gezeigt, daß jeder voll (nicht ent-
fremdet) gefühlte seelische Vorgang vorübergehend die durch die dar-
gestellte Entwicklung getrennten Besetzungen, nämlich die des Real-Ichs
(dessen Grenze der Wirklichkeitserfassung, d. h. der Wahrnehmung und
der Motilität, inklusive Sprache, zugewendet ist), die des purifizierten Lust-
Ichs (dessen narzißtische Grenze wir oben beschrieben haben) und die
der Objektvorstellungen aktuell vereinigt. Es hat also tatsächlich die Real-
anpassung an allen Stellen die ursprüngliche narzißtische libidinöse All-
einheit so zertrennen müssen, daß sie nur durch der Außenwelt angepaßte
Besetzungsverschiebungen wieder sich herstellen lasse. Wiederum
eine auf die Beobachtung der Ichgrenzen aufgebaute Erkenntnis, welche
An überraschender Weise die Freudsche Definition des Triebes, daß er
ee
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 413
einen früheren Zustand wieder herzustellen trachtet, an den komplizierten
seelischen Akten als richtig erkennen läßt.
Bei diesem Wiederherstellen der narzißtischen Einheit ist, wie wir
sahen, das verdrängte „egokosmische Ich“ nicht eingeschlossen — und das
aus ersichtlichem Grunde. Im „egokosmischen Ich“ sind Wirklichkeit und
Vorstellung nicht verschieden und es würde daher durch dieses „Ich“ die
Anpassung der seelischen Inhalte an die Realität der aktuellen Geschehnisse der
Außenwelt, diedie äußeren Wahrnehmungen vermitteln, eventuell durch andere
spontane Vorstellungen, die vom „Ur-Ich“ als wirklich aufgefaßt werden, ge-
stört. Würde dieses nicht dauernd verdrängt sein, so wäre die ganze Aufgabe der
Entwicklung, nämlich die richtige Wiedergabe des dauernden und jeweiligen
Geschehens der Außenwelt durch die Bilder und Begriffe des
seelischen Geschehens, ständig durch fremdartige archaische und früh-
infantile, für wirklich gehaltene Vorstellungen wirr und gestört.
Wenn daher — im Traume und in Geisteskrankheiten — die Verdrängung
des „ego-kosmischen“ Ichs zum Teile nachläßt, dann treten tatsächlich Spuk-
gestalten in das reife Ich, das sich später entwickelt hat; sie haben den
Charakter der physiologischen Regression, wie einst in der Frühzeit des Ichs.
So können wir wohl verstehen, daß manchem Geisteskranken Halluzinationen
und Wahnideen über sich oder andere auftauchen, und er dabei doch sich
richtig mit seinen normal gebliebenen Ichgrenzen in der wirk-
lichen Welt bewegt. Die Ichgrenzen im Traume und in den Psychosen
sind aber noch nicht, gewiß nicht genug beachtet. Das Erwecken des „Ur-
Ichs“ im Traume ist in den metapsychologischen Darstellungen in der
Traumlehre an anderen Stellen Freuds nicht expressis verbis, aber implicite
enthalten. Dort werden sie als Regression (historische und physiologische)
beschrieben, so daß die hier vertretene Auffassung kaum von der Freuds
abweicht.
Auch hätte ich diese — auf den ersten Blick — phantastisch anmutende
Erklärung nicht gebracht, wenn nicht die Mitwirkung des verdrängten
„ego-kosmischen Ichs“ an der Bildung einer der großen Instanzen des Ichs,
nämlich der des „Über-Ichs“, uns beschäftigen müßte. Gerade im Über-Ich
sind primärer und sekundärer NarziBmus und die Subjekt- und Objektrolle
des Ichs tunlichst zu präzisieren. j
Ich weiß, daß viele Psychoanalytiker solche Untersuchungen für mehr
minder gute Gedankenakrobatik halten. Sie sehen in der Freudschen
Konzeption des Über-Ichs nur eine wohlgelungene Formel, welche früher
einzeln untersuchte Reaktionen jetzt wegen ihrer gemeinsamen Richtung
— Fordern und Hemmen — zusammenfassen soll. Andere wieder sprechen
in gerade entgegengesetzter Stellungnahme vom „Über-Ich“ wie von einer
Z—
jr a er :eae55Ö,Ö, ee EEE
414 Paul Federn
zweiten Person, die in der Seele als eine Art Dragonade Quartier genommen
hat, und finden an der Entstehung eines solchen Fremdkörpers nichts zu
verwundern; sie freuen sich vielmehr, daß sie im „Über-Ich“ gleichsam
einen Sündenbock ausgeliefert bekommen haben. Manche Autoren, vor allem
Alexander, Fenichel, Glover, Jones, Odier haben sich
hingegen um das Verständnis der Entstehung des Über-Ichs sehr bemüht;
denn so klar und gewichtig auch die Darstellung Freuds war, es gilt von
geschenkten Erkenntnissen das gleiche wie von Erbgütern: man muß sie
erwerben, um sie zu besitzen.
Soweit ich andere und mich selbst beobachten konnte, erkannte ich auch
diese Konzeption Freuds als Wirklichkeitsbeschreibung und sah darin nicht
nur eine theoretische Formulierung.
Wir wollen nun aus der Selbstbeobachtung des Ichgefühls vorsichtig
Schlüsse auf die subjektive Abgrenzung von Ich und Über-Ich ziehen. Jeder
solche Schluß bedarf großer Vorsicht, weil die Angaben anderer Personen
und die eigene Selbstbeobachtung immer doch subjektiv sind. Wenn erst
das Ichgefühl als Gegenstand der Eigenerfahrung ein größeres psychologisches
Interesse erweckt haben wird, werden wir größeres Vergleichsmaterial ge-
winnen und auch die vorliegenden Mitteilungen richtiger benützen können;
denn was in der Literatur jeglicher Richtung als Selbsterkenntnis, Selbst-
einkehr und Selbsterziehung beschrieben wurde, bezieht sich auf das Ver-
hältnis vom eigenen Über-Ich zum eigenen Ich. Denn eines ist gewiß: Das
Über-Ich hat in seinem bewußten, wie in seinem unbewußten Wirken,
sei dieses ein Fordern, ein Verbieten oder ein Gestatten, zunächst immer
mit dem eigenen Ich zu tun. Beide empfinden dabei je nach der Be-
friedigung oder Nichtbefriedigung der vom Über-Ich dem Ich und vice versa
zugewendeten Libido „moralisch“ Lust oder Unlust. Ich meine, das Über-Ich
verfügt selbst über keine Exekutive. Doch ist die libidinöse Bindung des Ichs an
das Über-Ich so groß, daß die Lust eine Seligkeit und die Unlust eine Qual
werden kann und unter dem Einfluß dieser Lust und Unlust das Ich die
Exekutive vom Über-Ich nach dessen Libidobesetzungen sich vorschreiben
läßt, und dabei sein „soll“ empfindet, Ob aber das „müssen“ nicht eine
Exekutive des Über-Ichs in sich schließt, kann ich noch nicht entscheiden.
Die Struktur des Über-Ichs ist bei den verschiedenen Charaktertypen wohl
verschieden. Mit fremden Personen kann sich das Über-Ich wohl auch,
aber erst über den Umweg einer Identifizierung des Ichs oder des Über-
Ichs oder beider mit den fremden „Ichs“ und „Über-Ichs“ beschäftigen.
Was fühlen wir in bezug auf die Ichgrenzen des Ichs gegen das Über-
Ich? Sie sind durch eine besonders scharfe Grenze geschieden. Damit sind wir
zu einer merkwürdigen und überaus wichtigen Bedeutung des Ichgefühls ge-
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 415
kommen. Wir erleben deutlich, daß das Ichgefühl eine Grenze besetzen
kann, die nicht die Außenwelt berührt, sondern eine Innenwelt, klarer aus-
gedrückt eine andere Grenze des Ichs. Wir erinnern uns sofort, daß ja die
Krankheitszustände der Depersonalisation uns viele Beispiele geliefert haben,
in denen ein Innenvorgang des Ichs als entfremdet erlebt wird. Wir sehen
also, daß Entfremdung besonderer Art dann entsteht, wenn sich das Ich-
gefühl (die ichlibidinöse Besetzung) von einer solchen Grenze zurückzieht,
welche eine andere Grenze des Ichs (nicht die Außenwelt) berührt. Dieser
merkwürdige Befund, der nicht durch Spekulation, sondern durch Selbst-
beobachtung der Entfremdeten gewonnen wurde, läßt uns aber etwas Neues
über die Natur der Affekte aussagen. Bei der Entfremdung der Innenwelt,
die eine Form der Depersonalisation ist, fühlt der Patient seine Affekte nicht
mehr als sein Ich berührend. Nach unseren Ausführungen können wir daher
schließen, daß viele oder alle Affekte sich zwischen zwei Ich-
grenzen, die einander berühren, abspielen. Eine Affektlehre wird deshalb
die einzelnen Affekte auf diese Art von spezieller Lokalisation untersuchen
müssen und im allgemeinen feststellen, welche Funktion die Affekte im
Libidohaushalt, der, wie wir sahen, an den Ichgrenzen sich abspielt, haben.
Wir kehren nun zu dem Problem der Ichgrenzen zwischen Ich und Über-
Ich zurück. Es gibt also bestimmte Funktionen (Beachten, Bedenken, Be-
jahen, Verneinen, Loben, Tadeln u. a.), die, mögen sie welches Objekt immer
haben, beim Gesunden stark mit Ichgefühl besetzt sind. Haben diese Funk-
tionen sich selbst zum Objekt, so fühlt sich auch das Ich als Objekt einer
solchen Beschäftigung mit sich selbst. Die genannten Funktionen pflegt
auch das Ich, nicht nur das Über-Ich, auszuüben, soweit fremde Personen
ihr Objekt sind. In bezug auf die eigene Person als Objekt verhalten sich
wahrscheinlich verschiedene Personen ganz verschieden. Das Ich des ein-
fachen, naiven Menschen überläßt die Beschäftigung mit der eigenen Person
mehr ausschließlich dem Über-Ich, als es der kontemplative oder wissen-
schaftliche Selbstkenner tut.
Nun könnte man meinen, bei der Selbstüberwachung fühlt sich wohl
das Ich als das vom Über-Ich Bewachte; bei den anderen Funktionen aber,
deren Gegenstand das eigene Ich ist, handelt es sich nicht um das Ich selbst,
sondern um die Vorstellungen, die vom Ich sich in Einem geformt
haben. Es sind also Objektbesetzungen, d. h. Besetzung von Vorstellungen,
die das Ich und die Eigenschaften des Ichs und die Urteile über das Ich
repräsentieren. Das ist völlig richtig, ja selbstverständlich. In voller Kennt-
nis, daß ein guter Teil des sekundären Narzißmus die Vorstellungen
vom Ich, die Gedanken über sein Ich zum Gegenstand hat, will ich
aber gerade darauf aufmerksam machen, daß nicht nur die Besetzung solcher
416 Paul Federn
an er
Objektvorstellungen, die sich auf die eigene Person beziehen, besonders
intensiv ist, sondern daß dabei auch das Ich selbst (ähnlich wie es etwa
ein Tier merkt oder fühlt, wenn man von ihm spricht) sich als Gegen-
stand der Funktionen! fühlt, daß also, wie ich in den letzten Absätzen aus-
einandergesetzt habe, Ichgrenzen dabei einander begegnen. Es ist eine besondere
Aufgabe der Selbstdisziplinierung, das Gefühl, Gegenstand seiner Selbst-
beobachtung zu sein, zu ignorieren oder zu eliminieren, wenn man sich
selbst kennen oder lenken will.
Solche innere Berührung besteht aber durchaus nicht zwischen Ich und
Über-Ich allein, sondern sie kommt an all den vielgestalteten Grenzen, die
mit Ichgefühl besetzt sind, zustande, sobald das Ich oder etwas vom Ich
zum Objekt einer seiner Funktionen wird. Es ist also abermals die Gliederung
und Höherentwicklung der Psyche, welche es von selbst mit sich bringt,
daß der Narzißmus aufhört, Autoerotismus zu sein, sondern deutlich zu einer
libidinösen Beziehung von einem Subjekt zu einem Objekt wird; beide liegen
innerhalb des Ichs, sind aber wohl meistens voneinander verschiedene Funk-
tionen oder Teile des Ichs, Ich möchte aber, um nicht falsch dahin ver-
standen zu werden, als ob ich den Gegensatz von Ichlibido und Objekt-
besetzung nicht erkennen oder ihn theoretisch nicht anerkennen könnte,
nochmals betonen, welch ein Unterschied zwischen der wirklichen Objekt-
besetzung und der Besetzung des Ichs als Gegenstand des Narzißmus besteht:
Die Objektbesetzungen sind isolierte, an den Sachvorstellungen und an
anderen Elementen mehr oder weniger labil, resp. stabil haftende Libido-
quanten, die narzißtische Besetzung ist eine stärkere Besetzung (einer Ich-
grenze), welche aber stets mit der gesamten Ichlibido des ganzen Ichs zu-
sammenhängt. In bezug auf die Ichlibido gilt die einstige Theorie der Antike,
daß das Auge mit seinen Lichtstrahlen die Gegenstände abfühle.
Wir erinnern, daß Freud die hier geschilderte Beziehung des Ichs auf
sich selbst, sowohl für den Narzißmus als Ganzes, für das „Sich-selbst-
Lieben“, als auch für die Partialtriebe Sadismus und Schautrieb als die
ursprüngliche dargestellt hat (siehe die früher zitierten Definitionen und
Mitteilungen), aus der die aktive und passive Richtung zum Objekt
erst entstünden (das Lieben und Geliebtwerden, das lustvolle Quälen
ı) Ich gebrauche absichtlich in dieser Arbeit das allgemeine Wort „Funktion“,
weil ich der Verständlichkeit halber alle Erörterung der nicht libidinösen Kräfte im
Ich und außerhalb des Ich vermeide. Dafür habe ich zwei Gründe, erstens weiß ich
noch nicht genug darüber, um bereits systematisch über das Verhältnis der Libido
und der andern Triebkräfte zu schreiben, zweitens würde eine solche Systematik, so-
lange die einzelnen neuen Befunde und Schlüsse noch nicht vom Leser akzeptiert
wurden, ihm unverständlich sein, oder wenigstens nicht für ihn lebendige Wirklich-
keit werden können.
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Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 417
und Gequältwerden, das lustvolle Schauen und Sich-Zeigen). Wir weichen
insofern von dieser Darstellung ab, daß wir ein eigentliches „Sich-selbst-
Lieben“ erst mit der Höherentwicklung des Ichs uns vorstellen können,
vorher im reinen psychischen Autoerotismus, als welcher der primäre
Narzißmus ursprünglich sich darbietet, nur die Sensation des Lustverlangens
und des Lustgewinnens an der eigenen Person erkennen, aber noch keine
Richtung der Libido gegen sich selbst. Vom frühen autoerotischen
Gesamterlebnis bleibt immer die libidinöse Einheit, auch die Wohligkeit
im Ichgefühl fortbestehen;, wenn wir die in der lateinischen Grammatik
niedergelegte Psychologie benützen, so kann man es so ausdrücken, daß der
primäre Narzißmus „medial“ ist und daß er erst später zu einer „reflexiven“
Form dadurch gelangt, daß das Ich sich immer wieder selbst in unzähligen
Beziehungen. begegnet. Noch genauer geben wir die Verhältnisse auf Grund
der vielfachen Arten von Entfremdung damit wieder, daß das Ichgefühl
unzählige außerichliche (vorbewußte) Vorgänge von zwei Seiten her besetzt.
Das, was wir z. B. Selbstgefälligkeit nennen, verlangt immer eine solche
Konzentration des Ichgefühls an eine Grenze, mit welcher das Individuum
seine eigenen Eigenschaften, Funktionen, Leistungen erfaßt. Die Unsicher-
heit des Selbstgefälligen entsteht dann, wenn eben die als Objekt
fungierende Ichgrenze ebenso stark besetzt ist, als die als Subjekt des
Narzißmus fungierende. Denn, wie schon einmal gesagt, die dauernde
gleichzeitige Besetzung mehrerer Ichgrenzen bedingt von einer gewissen
Intensität und Ausdehnung an Verwirrtheit.. Manche Fälle von
Befangenheitsneurose und von Erröten haben diesen Mechanismus.
Wenn es mir gelungen ist, den Leser an die Vorstellung von einander
berührenden Ichgrenzen zu gewöhnen, so kann ich die Frage nach der
narzißtischen Besetzung des Über-Ichs zur Beantwortung bringen. Nach
dem Gesagten braucht nur die Gliederung des Ichs die Funktionen des
moralischen Wertens, Forderns und Verwerfens zu entwickeln, damit diese
Funktionen auch zwischen zwei Ichgrenzen, also affektvoll und narzißtisch,
vor sich gehen, so daß bei jedem Aktuellwerden des Über-Ichs diese Funk-
tionen von zwei Grenzen aus mit Ichgefühl besetzbar werden. Wäre aber
schon damit der Besetzungsvorgang erschöpfend beschrieben, so würde die
besondere Hervorhebung des Über-Ichs nur eine besondere Aufgabe des
Ichs treffend charakterisieren, aber nicht, was Freud wirklich wollte, die
besondere Doppelsiruktur des Ichs (im weiteren Sinne) benennen. Eine
solche Doppeltheit könnte auch nur vorgetäuscht sein dadurch, daß gerade
zwischen den vom Über-Ich zusammengefaßten Funktionen und dem Ich
die Abgrenzung des Ichgefühls besonders scharf und deutlich jedem zum
Bewußtsein käme.
418 Paul Federn
So wäre das Über-Ich von allen Seiten gleichsam im Ich eingescheidet,
aber doch nur eine besonders entwickelte Funktionsgruppe des Ichs, mit
demselben Ichzentrum wie die anderen Peripherien des Ichs. Dieser Zu-
sammenhang könnte so gering werden, daß, wie gesagt, eine Doppelstruktur
vorgetäuscht würde. Wir kennen doch den großen Antagonismus der beiden,
den das Buch von Alexander uns zu einem gegenseitigen Übertrumpfen
und Überlisten gestaltet hat, der den Dichter vom „Selbsthenker und
Selbstrichter“ sprechen ließ. Es führt also bei stärkerer Libidobesetzung
(vor allem sadistischer) die Grenze zwischen Ich und Über-Ich gerade zur
Entzweiung im Ich, so daß man die uns fraglich erschienene Doppel-
struktur in sich wahrnehmen kann.
Könnte solche Doppeltheit vielleicht schon dadurch zustande kommen, daß
diese Funktionsgruppe überaus stark mit Libido besetzt ist? Dadurch wird die
entsprechende Ichgrenze überempfindlich gegen Unbefriedigtheit, wobei
gerade hier die Bedingungen zur Befriedigung besonders schwere sind,
weil dazu alle Ichideale von der Selbsterkenntnis als durch das wirk-
liche Ich erfüllt befunden sein müssen. Wir benützen hier schon unsere
frühere Auseinandersetzung, daß die Libidobefriedigung an die Bedingung
geknüpft ist, daß die Inhalte der narzißtischen und der Objektbesetzungen
einander gleichen. Die Enttäuschung, das Ausbleiben der Befriedigung
ließe die beiden Grenzen dauernd mit Libido besetzt empfinden, bis zur
Gereiztheit, bis zum Schmerzhaften und bis zur grausamen Verbissenheit
auf der einen, zur Aufgewühltheit auf der anderen Seite. Die großartigste
Projektion dieser libidinösen Besetzungsspannung ist Dantes Höllen-
dichtung!
Es gibt narzißtische Kränkungen anderer, nicht moralischer Art, bei
denen das Ich der Kränkung nachhängt, sich schmerzhaft an sich selbst
haftet; die Diskrepanz zwischen einem phantasierten Ich und der wirk-
lichen Person kann tief den Narzißmus kränken, und doch geht — von
Hysterien, also abnormen Bedingungen abgesehen — nicht das Gefühl der
Icheinheit verloren. Das Ichgefühl erhält hier die Einheit aufrecht zwischen
dem wirklichen egozentrischen Ich, seinen Phantasien und dem Real-Ich.
Nur das Über-Ich ist so tief vom Ich geschieden, daß solch ein Sadismus
zwischen ihnen Platz greifen kann. Erst bei schweren Psychosen kann
sich das Über-Ich im Ich auflösen. Von mangelhafter Anlage der Funk-
tionen des Über-Ichs sprechen wir hier nicht. Beim normalen Menschen
stellt sich eine Harmonie durch ein gewisses gegenseitiges Maßhalten und
Nachgeben meist her; die neurotischen Umwege dazu zeigt uns die Zwangs-
neurose. Bei der Manie wird die Libidobesetzung des Ichs so gesteigert,
daß daneben die des Über-Ichs relativ gering wurde und nichts mehr aus-
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 419
richtet. In der Melancholie ist es umgekehrt. Bei pathologischer Seneszenz
verliert das Über-Ich oft früher als das Ich die libidinöse Speisung seiner
Libidobesetzung vom Es aus.
Mit den bisherigen Erörterungen habe ich den Eindruck, den ich vom
Über-Ich habe, wiedergegeben. Ich schließe aus ihnen, daß die strenge
Bewachung auf der einen, die große Furcht vor dieser Bewachung auf
der anderen Seite die Grenze zwischen beiden sehr verschärfen mußten,
daß aber Ich und Über-Ich vom Anfang an geschieden waren, also die Doppel-
struktur wirklich besteht. Die lateinische Grammatik als Lehrerin der
Psychologie läßt mich eine vor bald fünfzig Jahren gelernte Regel er-
innern. Es ist doch zu eigen, daß gerade Funktionen des Über-Ichs
(piget, pudet, paenitet, taedet atque miseret) nicht in erster Person, sondern
als aus der Tiefe des Unbewußten, unbekannten Ursprungs in dritter
Person flektiert werden. (Daß miseret eine Ausnahme macht, hat selbst
eine spezielle Bedeutung.)
Wer sich eigener Dissonanzen und Dispute zwischen Über-Ich und Ich
erinnert, besonders die Qual der Selbstvorwürfe eines strebenden Menschen
an eigenem Leibe erlebt hat, hat erfahren, daß in eigentümlicher, sonst
nie zu erlebender Art das Ichgefühl zwischen Ich und Über-Ich pendelt
und man nicht gleichzeitig Ich und Über-Ich — sit venia verbo —
sein kann. Um aber von dem einen Ichgefühl zum anderen zu kommen,
muß man wie durch eine Leere an Ichgefühl hindurch. Man hat das
Gefühl seines Ichs verloren, bevor man das seines Über-Ichs wieder be-.
kommt, und umgekehrt. Wie läßt sich das erklären?
Man muß annehmen, daß das Ich und das Über-Ich tatsächlich zwei
— nur jedes in sich, aber nicht miteinander einheitlichen — Ichgefühlen
entsprechen, also zwei Einheiten von Ichlibido; sie haben im
Bewußtsein keinen zentralen Zusammenhang. Daß ein solcher
weder bewußt ist, noch bewußt werden kann (also auch nicht vor-
bewußt ist), schließt nicht aus, daß Ich und Über-Ich peripher gemeinsame
Inhalte, jedes für sich, mit Libido besetzen, daß sie beide die analoge
Trennung vom und. Verbindbarkeit mit den Objektbesetzungen und dem
Real-Ich haben.
Freud hat das Rätsel des Gewissens dadurch gelöst, daß er das Über-
Ich aufdeckte und das unbewußte Über-Ich aus der Identifizierung mit
den gebietenden und verbietenden Personen der Kindheit erklärte. Wir
müssen nun annehmen, daß diese Identifizierung besonders stark und
besonders frühzeitig zustande kam, daß sie bis in die Zeit des primär
narzißtischen einheitlichen Ichs zurückreicht. Da damals noch alles zum
Ich gehörte, so waren auch die hemmenden und gebietenden (jedes Gebot
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420 Paul Federn
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ist eigentlich nur ein Verbieten des Anderstuns und des Unterlassens)
Personen mit Ichgefühl besetzt. Als, wie wir früher auseinandersetzten,
die primär narzißtische, wir benannten sie die „egokosmische“, Ichformation
verdrängt wurde, weil sie der Realanpassung widerstritt, blieb ein Teil von
narzißtischer Ichbesetzung, nämlich der, welcher die Eltern, zunächst die Mutter
betraf, unverdrängt, wie ich jetzt meiner früheren Darlegung ergänzend und
einschränkend hinzufüge. Diese Verdrängung ist ganz im Sinne jener Ver-
drängung unterblieben, denn die Aufrechterhaltung der Elterninstanz im‘
Ich widersprach nicht nur nicht, sondern entsprach gerade der Real-
anpassung. Es erfolgte aber eine Scheidung des Ichs, das die Eltern
außerhalb seines Ichgefühls ließ, und des Ichs, das die Eltern in sich
aufgenommen hatte. Letzteres wurde zum Über-Ich. Dadurch ist die be-
sondere — sozusagen — Ichhaftigkeit des Über-Ichs erklärt. Diese Er-
klärung zeigt auch, daß die Funde verschiedener Psychoanalytiker (Klein,
Rank, Jones, Clark, Burrow) in bezug auf die Bildung des Über-
Ichs in der Zeit vor der Ödipusperiode den Freudschen Lehren nicht
widersprechen. Die besondere Stärke des Über-Ichs wäre daher nicht nur
den erbhaft und individuell gewonnenen Eindrücken vom Sadismus des
Vaters zuzuschreiben, wohl aber der Macht beider Eltern und der Macht
und Unwidersprochenheit, welche der primäre Narzißmus einst dem Kinde
verlieh. Deshalb konnten die Philosophie und die Innenschau des braven
Menschen dem kategorischen Imperativ und dem gestirnten Himmel die
gleiche Wirklichkeit zuschreiben und die gleiche Andacht ihnen zollen.
Beide waren einmal mit gleichem Ichgefühl erlebt. Während aber die
Ichhaftigkeit der Außenwelt, weil unbrauchbar, ins Unbewußte versank,
blieb der Teil der Außenwelt, welcher schon so frühzeitig das Ich zu
beherrschen begann, weil brauchbar, mit Ichgefühl erhalten; er war aber
nicht im egozentrischen Ich, sondern hatte ein anderes Zentrum. Um die
Verwirrung zu vermeiden, wurde die Vorstellung von den ursprünglichen
Personen verdrängt, die hemmende und richtungvorschreibende Macht
blieb allein im Bewußtsein. Da dieser Kern nur die ersten Hemmungen
psychisch repräsentierte, erweiterte er sich durch viele Identifizierungen,
die erst ein brauchbares, oft ein übermäßiges Über-Ich sich gestalten ließen.
Wir glauben, jetzt verständlich gemacht zu haben, weshalb das Ich
und das Über-Ich zwei Ichgrenzen, die so scharf geschieden sind, haben.
Davon, daß das Über-Ich nur eine abstrakte Formulierung für zusammen-
gehörende Funktionen ist, davon ist keine Rede.
*
Während wir zwischen Ich und Über-Ich eine Ichgrenze für den Normal-
menschen fanden, können wir merkwürdigerweise keine solche zwischen
Dr U Dee nn
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 421
geistigem und körperlichem Ich feststellen. Selbstverständlich können die
Wahrnehmungen des eigenen Körpers, wenn seine Teile Objekt des Sehens,
Hörens usw. sind, entfremdet werden. Die eigene Stimme ist besonders
häufig entfremdet. Bei Psychosen hypochondrischer Art kann allen möglichen
Organen und Funktionen das Ichgefühl fehlen. Schizophrene Patienten
wissen oft mehr über ihre Ichgrenzen. anzugeben als normale, analog wie
sie Symbole verstehen, für welche der Gesunde keine bewußte Deutung
hat. So wissen sie oft, wie tief in den Körper ihr Ichgefühl reiche. Ein
Fall begründete damit, daß er mit den Teilen, denen das Ichgefühl fehlt,
nichts tun könne: „Er werde wieder gut atmen können, bis er bis
hinunter sich spüren werde.“ Er klagte aber nicht über Entfremdung!
Ebensowenig hat der Gesunde ein Entfremdungsgefühl, wenn beim ver-
langsamten Einschlafen das Körper-Ich-Gefühl früher verschwindet als das
geistige Ichgefühl. Das widerspricht nicht meinen früheren Erklärungen.
Entfremdung entsteht ja nur, wenn außerichliche (vorbewußte) Funktionen
nicht mehr an das Ich herankommen. Verringerung. im Ichgefühl selber,
nicht in den Grenzen, fallen aber nicht als solche auf, man muß speziell
seine Aufmerksamkeit ihnen zuwenden.
Wir können an diesen Unterschieden jetzt den Unterschied, der zwischen
Entfremdung und Depersonalisation besteht, genau erkennen. (Mitunter
werden aber beide Bezeichnungen unterschiedslos verwendet.) Wenn. aus
dem Vorbewußten ein außerichlicher Vorgang an das Ich herantritt (be-
wußt wird), ohne daß ein Ichgefühl dem Bewußtwerden entgegenkommt,
so wird eine Entfremdung erlebt. Wenn dem bewußten Ich sonst ständig
angehörige Vorstellungen, so besonders die vom Körper, das Ichgefühl
verlieren, dann tritt Depersonalisation ein. So geschieht es bei der Spaltungs-
erscheinung beim abnormen Erwachen und bei der Hysterie, von der ich
in meinen früheren Mitteilungen gesprochen habe. Der Körper wird dabei
rein der Außenwelt zugehörig, außerichlich, nur durch die Erinnerung
an das eigene (historische) Ich gebunden, wirklich depersonalisiert, er wird
aber nicht entfremdet, sondern als ein noch nie erlebtes neues Phänomen
gefühlt. Dieser höchste Grad von Depersonalisation, den ich nur als ganz
vorübergehendes Stadium des Erwachens beschrieben habe, war dadurch
erreicht, daß auch das Real-Ich in diesem Momente noch nicht hergestellt
war. Die genauere Untersuchung der eigentlichen Depersonalisation wird
daher auch über das Beal-Ich manche Schlüsse zulassen, so wie die
Beobachtung der Entfremdung sie für das „egozentrische“, so nannten wir
das narzißtisch besetzte Ich, ermöglicht hat. Körperliches und seelisches Ich-
gefühl sind daher subjektiv eine Einheit, die erst durch Beobachtung der
Zurückziehung des Ichgefühls vom Körper trennbar wird. So hat der Körper eine
| = DS. en eG BENEESEESEEESEEEEEEENGE
422 Paul Federn
dreifache Stellung: er ist Teil des Ichs (nicht nur objektiv beurteilt, sondern auch
subjektiv gefühlt), er liegt zwischen Ich und Außenwelt, weil seine Organe
die Eindrücke der Außenwelt vermitteln, er ist Teil der Außenwelt, weil
durch die der Außenwelt zugewendeten Organe auch Eindrücke des Körpers
als Gegenstand (via Organe) das geistige Ich treffen. Diese dreifache
psychologische Funktionsstellung des Körpers scheint für die Erklärung der
Konversion wichtig. Nebenbei bemerkt, entsprechen ihnen drei Gruppen
von Weltanschauungen, die idealistische, die monistische, die materialistische; -
sie sind Arten, sich selbst anzuschauen. Daß die idealistische den Menschen
mehr beglückt, liegt daran, daß sie die primäre, narzißtische Auffassung
wieder herstellt, und daß sie auch einem der mächtigsten Wünsche des
sekundären Narzißmus, nämlich dem, den eigenen Körper zu lieben und
zu erhöhen, mehr entgegenkommt. Von diesem geliebten Objekte hat ja
die ganze Ichlibido den Namen „Narzißmus“ erhalten. Dieser Name war
darum trefflich geeignet, die anfangs erschütternde Idee durchzusetzen, daß
die antagonistischen Ichtriebe vom Sexualtriebe Libido erhalten. In einer
Zeit, wo alles Partei wurde, sollten die Wissenschaftler es ertragen, daß
der „Eros“ für alles in der Menschenseele Energien spendet!
Ich habe die Zuwendung der Libido von außen gegen den eigenen
Körper als sekundären Narzißmus bezeichnet, annehmend, daß der schöne
Griechenknabe mit dem Liebeserwachen zuerst Objekte gesucht und erst
sekundär der Schönheit des eigenen Bildes zum Opfer wurde. Er dachte,
endlich eine seiner würdige Schönheit umarmen zu können, und fand
sich selbst und den Tod. Ist aber diese Art von Narzißmus als „sekundär“
zu bezeichnen, wenn wir sie analysieren? Stellte er die in früher Kindheit
erreichte Stufe, sich selbst zu lieben, wieder her? War nicht vielmehr der
schöne Knabe auf der früheren Stufe verblieben? Sonst hätte ihm sein
Eigenbild gar nicht besser gefallen als mancher Hirte und manche Hirtin!
Das „sich selbst lieben“ bezeichnet aber Freud als die erste Stufe des
Triebschicksals, also als gewiß „primär“. Aus dem Gesagten ergibt sich,
daß im Freudschen Sinne „primär“ und „sekundär“ nur sich auf die
Geschichte der Vorgänge beziehen, die zu einer bestimmten Besetzung
führen, nicht auf die Art der Dynamik, mit der ich mich hier beschäftigt
habe. Wir können wohl sagen, daß der primäre Narzißmus immer objektlos
sei, daß er es ist, der das Ichgefühl als objektlose, aber stets objektbereite
libidinöse Strebung speist, und daß alle Objektzuwendung im Narzißmus
schon etwas sekundäres sei. Mit den letzten Worten entferne ich mich
von der Nomenklatur, nicht aber von der Ansicht Freuds.
Die Leitlinien meines Vortrages (s. Korrespondenzblatt, diese Zeitschr.,
Bd. XIV, 1928, S. 572.): haben gelautet: ı) Der primäre Narzißmus ist
m m mn mn
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 423
ichlibidinöser, der sekundäre objektlibidinöser Natur. 3) Die Ichgrenzen
sind nicht starr, aber jeweilig dadurch bestimmt, daß psychische Vorgänge
an die einheitliche primär-narzißtische Besetzung herantreten; das einheit-
liche Ichgefühl ist durch eine zusammenhängende narzißtische Besetzung
unterhalten.
Den ersten Satz muß ich nun nicht dem Inhalt nach, wohl aber der
Nomenklatur nach modifizieren. Das Wort „sekundär“ ist von Freud
festgelegt für die Rückwendung eines einem Objekte bereits zugewendeten
Libidoquantums gegen das Ich oder gegen dem Ich zugehörige oder das
Ich zum Inhalt habende Vorstellungsgruppen oder Funktionen. Es steht
mir nicht zu und würde nur Verwirrung stiften, wenn ich das Wort
sekundär im Sinne der Objektbeziehung im Narzißmus benützen würde,
wenngleich die Tatsachen, welche von dem Worte „sekundär“ im ersten
und zweiten Sinne getroffen werden, sich zum großen Teile decken; sie
tun es nicht durchwegs.
Besser fasse ich aber den Gedanken des ersten Satzes heute folgender-
maßen: za) Das Ichgefühl wird von objektloser Ichlibido unterhalten, die
der Vorlust des Triebes entspricht. 75) Der Narzißmus beginnt als mediale
und wird zu reflexiver Libido. „Medialer“ und „reflexiver“ Narzißmus
sind auch weiter bei der späteren Entwicklung zu unterscheiden.
Mit dieser Formulierung verwende ich neue Worte für neu hervor-
gehobene Qualitäten und es bleibt das Wort „sekundär“ als Bezeichnung
für eine vorausgegangene andere Unterbringung einer narzißtischen Besetzung
reserviert.
In welcher Weise wird nun eine Objektbesetzung zu einer sekundär
narzißtischen? Das kann dadurch geschehen, daß das Ichgefühl sich auf
Objektvorstellungen erweitert. Wie wir früher erörtert haben, geschieht das
eigentlich vorübergehend bei jedwedem aktuellen psychischen Vorgang.
Hat nun die libidinöse Befriedigung oder sonstige Erledigung stattgefunden,
so brauchen nachher Objekt- und Ichbesetzung nicht dieselben geblieben zu
sein, sondern es kann sich die Ichlibido auf mehr Elemente der Objekt-
vorstellungen erstrecken und dauernd erstreckt bleiben, als vorher, oder
auch umgekehrt. Das wiederholt sich ungezählte Male. So kommt die
Identifizierung zustande, wenn das Ichgefühl sich auf die ganze Vorstellungs-
gruppe von einer Person dauernd erweitert. Solche Umwandlungen gehen
auch unbewußt vor sich. Es kann sich aber auch Ichlibido, wie ich schon
darlegte, von Vorstellungen und Funktionen zurückziehen, so daß diese
auch späterhin nicht gleichstark beim aktuellen Erleben besetzt werden.
Identifizierungen können aufgegeben werden. Geschieht das aktuelle Erleben
infolge äußerer Wahrnehmung oder wegen unbewußter Zuschüsse trotz-
m —————— — — — — Le
424 - Paul Federn
dem wieder, und hat die ichlibidinöse Besetzung abgenommen, so bekommt
das früher vertraute Objekt oder die betreffende Erinnerung den Charakter
des „fremd geworden sein“. Tatsächlich berührt uns der geliebte Mensch
fremd, wenn er uns plötzlich „nichts mehr angeht“, d.h. wenn wir die
früher für ihn mit Ichlibido besetzte Vorstellung von Ichlibido entblößt
haben. Daß die Objektbesetzung unabhängig davon noch lange fortbestehen
kann, zeigt eben die Psychoanalyse, welche sich mit den unbewußten und
vorbewußten Objektbesetzungen beschäftigt. In Fällen, in welchen die
Objektbesetzungen verdrängt wurden oder durch Libidoverschiebung: ver-
blaßt sind, kann die unscharfe narzißtische Imago noch lange fortdauern.
Zwischen der jedem aus dem gesunden Erleben bekannten Erfahrung,
daß eine bisher geliebte Person plötzlich einem wie fremd erscheinen
kann, bis zur Entfremdung pathologischer Art besteht nur ein quantita-
tiver Unterschied. Wenn Freud (Ges. Schr., Bd.V, S.422) in der Abhand-
lung über „Neurose und Psychose“ die Frage stellt: „welches der einer
Verdrängung analoge Mechanismus sein mag, durch den das Ich sich von
der Außenwelt ablöst“, so erweist sich die Entblößung der Ichgrenze von
Ichlibido und die daraus resultierende Entfremdung als der gesuchte Vor-
gang. Er spielt bei allen Loslösungen von nicht verdrängbaren Objekten
tagtäglich seine Rolle.
Ein ganz anderer als der besprochene Weg, Objektbesetzungen zu sekun-
där narzißtischen zu machen, ist der, welchen wir bei den narzißtischen
Neuropsychosen und den Psychosen nicht sehen, aber erschließen können.
Hier wurde die Libido vom Es aus von den Objekten abgezogen und wir
finden eine verstärkte Ichlibido wieder, also eine auf unbewußten
Wegen gegangene Umschaltung von Libidoquanten.
Der erste Vorgang ist gewiß leichter beeinflußbar. Daß die Ablösung
und die Neuknüpfung von Objektbesetzungen durch Veränderung der Ich-
grenze erfolgen kann, macht uns die heilende Wirkung des Wiedererlebens
und Wiedererinnerns in der Psychoanalyse erklärbar.. Dort, wo aber die
Libido durch das Es der Außenwelt entzogen wird, sind wir psychoana-
lytisch machtlos, können eigentlich psychoanalytisch nur neuerliche An-
knüpfung von Objektbesetzungen erzielen, wenn noch genügend Ichgrenze
nach außen genügend und genügend dauernd besetzt ist; daher nicht bei
schwerer Melancholie oder Manie, auch nicht bei der ganz auf Innenvorgänge
gerichteten Ichlibido des Katatonen.
Wenn es richtig ist, daß außer den Objektbesetzungen von den gleichen
Objekten vielfach narzißtische „Imagines“ bestehen, daß das Ich und das
Über-Ich getrennte Ichgrenzen haben, die aber gemeinsam manche dieser
„Imagines“ mit Ichgefühl und Narzißmus stärker besetzen, dann erhält
Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus 425
die Komplexlehre Jungs eine Stütze. Unbewußt hängen alle „Nieder-
schriften“ durch viele Assoziationen, durch die Erinnerungsspuren von
Erlebnissen, durch verdrängte Erlebnisse aus früheren Ichstadien mit
anderen Ichgrenzen, und auch vom Es aus durch die Erinnerungsspuren,
die die Entwicklung der Libido und speziell der einzelnen Partialtriebe
hinterlassen hat, zusammen. So bilden sie zusammen den Komplex,
der, von derIchseite aus gesehen, auf ganz verschiedene innere und äußere
Ichgrenzen sich verteilt, und von der Objektwelt her betrachtet, ganz ver-
schiedene Gegenstände und Personen der Außenwelt repräsentiert. Im
aktuellen Erleben kommen aber diese vielfachen Besetzungen auf dem
Wege der Berührung der Objektvorstellungen mit der Ichgrenze zur Be-
friedigung oder zu einer sonstigen Entladung. Daher hat es einen guten
Sinn, von Komplexbereitschaft, Komplexbefriedigung, Komplexwirkung usw.
zu sprechen. Komplexe sind, weil zum großen Teil unbewußt, nicht der
Selbstbeobachtung zugänglich, deren wissenschaftliche Benützung das Thema
dieser Arbeit verlangte. Die Komplexlehre gehört aber in diesen Zusammen-
hang, und wir sehen, daß sie eine die Wirklichkeit richtig wiedergebende
Konstruktion ist.
*
Zum Schluß will ich hervorheben: Diese Darstellung ist, soweit sie sich
mit den Ichgrenzen und mit der Dynamik des Narzißmus beschäftigt,
Wirklichkeitsdarstellung. Die Annahme des Ausgleichs von Besetzungen der
Ichgrenze und der Objektvorstellungen ist eine Hypothese. Sie führt die
Theorie der getrennten Niederschriften Freuds weiter. Ich glaube,
daß neue Befunde auch theoretische Ergänzungen nötig machen. Ich habe
aber dem Leser schon reichlich Neuartiges zugemutet.
Wen aber die mitgeteilten Befunde fremd anmuten sollten, dem möchte
ich auch dafür eine theoretische Erklärung auf Grund des Mitgeteilten
vorlegen: Damit wir einen psychischen Akt als befriedigend empfinden,
müssen Besetzung der Objektvorstellungen und narzißtische Besetzung der
für sie passenden Ichgrenze einander entsprechen. Für das Neue besteht noch
keine narzißtische Besetzung, es sei denn, wie z.B. gegenüber einem ge-
winnenden Vortragenden, die aktuelle Identifizierung gelänge sofort. Sonst
braucht das Neue seine Zeit, um vom Ichgefühl des Aufnehmenden einer-
seits, als Objektbesetzung andererseits Libido zu erhalten. Dann erst ist
das Real-Ich imstande, kritisch zu unterscheiden, ob die gegebene Wirk-
lichkeitserfassung eine richtige war. Einfacher ausgedrückt: Dem Neuen
gegenüber gibt es kein Verstehen ohne Einfühlung; sonst läßt es das Vor-
urteil eben beim alten!
Int, Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4 28
Erfolge und Dauer der psychoanalytischen
Neurosenbehandlung.
Vortrag auf dem X. Int. Ps4. Kongreß in Innsbruck, Sept. 1927.
Von
l. Sadger
Wien
Im engeren Kreise der Wiener Analytiker haben unlängst eingehende
Diskussionen über Aussichten und Erfolge der psychoanalytischen Behand-
lung stattgefunden, wobei auch recht pessimistische Ansichten geäußert
worden sind. Es sei mir als ältestem Schüler Prof. Freuds gestattet, auf
Grund von mehr als dreißigjähriger Erfahrung meine persönliche Ansicht
auszusprechen.
Wenn wir von Heilungsaussichten und Heilungsdauer sprechen, müssen
wir uns zunächst darüber einen, was wir unter „Heilung“ einer Neurose
verstehen. Man begreift darunter zumeist die Beseitigung all ihrer Symptome,
wodurch die sogenannte „Gesundheit“ vor Ausbruch des nervösen Leidens
wiederhergestellt wird. Eine solche „Heilung“ kann erfahrungsgemäß unter
günstigen Umständen auch spontan geschehen, ohne jedes Eingreifen
ärztlicher Kunst, d. h. die Krankheitszeichen schwinden von selbst. Nur
hat dieser Erfolg einen fatalen Beigeschmack: man kann mit ziemlicher
Sicherheit darauf rechnen, daß sämtliche Symptome früher oder später
wiederkehren werden, so daß ihr Verschwinden nicht gleichwertig ist
einer wirklichen Heilung. Darum stellten idealere Gemüter die Forderung
auf: man habe nicht etwa bloß die Krankheit, sondern den Kranken selber
zu heilen, oder was das nämliche, nicht nur die gegenwärtigen neurotischen
Symptome zum Schwinden zu bringen, es müsse auch ihre spätere Wieder-
kehr unmöglich gemacht werden. Der frühere Erfolg sei bestenfalls als
„relative“ Heilung zu werten, anzustreben aber sei stets die „absolute“
oder „ideale Heilung“, ohne jede Möglichkeit eines Rückfalls.
Diese zweite Forderung ist keine geringe. Stellt sie uns doch vor die
schwere Aufgabe, den Kranken sozusagen übergesund zu machen. Auch
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Erfolge und Dauer der psychoanalytischen Neurosenbehandlung 427
der noch gesunde, normale Mensch hat ja seine Komplexe, aus denen
heraus er neurotisch zu erkranken vermag. Wer aber durch Psychoanalyse
vollkommen geheilt ist, der besitzt keine störenden Komplexe mehr, kann
psychoneurotisch nicht mehr erkranken, ist also hierin sozusagen ein Über-
mensch. Was vermag nun da die Psychoanalyse zu leisten, genauer gesagt:
kann sie die ideale Heilung erreichen, und wenn das möglich, in welcher
Zeit?
Ehe ich auf all diese Fragen eingehe, will ich zuerst die Verhältnisse
der Alltags-Praxis beleuchten. Ein Kranker mit allerlei hysterischen Be-
schwerden nicht schwerster, aber doch quälender Art sucht mich in meiner
Sprechstunde heim. Er hat nicht viel Zeit und nicht viel Geld, verlangt
jedoch selbstredend völlige Heilung. Mehr aber als zwei bis höchstens drei
Monate könne er an die Behandlung nicht wenden. Darauf pflege ich
folgendes zu erwidern: „Wenn Sie bloß so kurze Zeit zur Verfügung
haben, ist völlige Heilung wohl ausgeschlossen. Versprechen Sie mir
aber, sehr fleißig zu sein, und arbeiten Sie täglich eine Stunde lang
ordentlich mit, dann kann ich Sie in zwei bis drei Monaten von Ihren
quälendsten Sachen befreien, Ihnen eine große Erleichterung schaffen. Vor
Rückfällen freilich sind Sie keineswegs gefeit. Immerhin ist die Psycho-
analyse die einzige Behandlungsmethode, welche Ihre quälendsten Symptome
für längere Zeit mit Sicherheit wegzubringen vermag.“ Entschließt sich
der Kranke nun wirklich zur vorgeschlagenen Kur, dann arbeitet er in
wenigen Monaten meist ohne nennenswerten Widerstand, so daß man tat-
sächlich das Allerärgste wegschaffen kann.
Zu beachten bleibt, daß ich so zu reden bloß berechtigt bin bei leich-
teren bis höchstens mittelschweren Fällen, nie aber etwa bei tiefen De-
pressionen, Phobien, Epilepsie, Perversionen und der Zwangsneurose. Bei all
diesen schweren Affektionen tut man am besten, sich nicht mit einer
relativen Heilung zufrieden zu geben, die obendrein in einer nur zwei- bis
dreimonatigen Kur kaum zu erreichen ist. Und selbst wenn unter glück-
lichsten Umständen eine wesentliche Besserung erzielt worden wäre, so
muß man doch stets mit einem baldigen Rückschlag rechnen. Drum ist
für alle schwereren Fälle dringendst eine absolute, ideale Heilung anzu-
streben, die freilich lange Behandlungsdauer zur Voraussetzung hat.
In meinem ersten psychoanalytischen Aufsatz, den ich im Jahre 1906
verfaßte,' kam ich zu dem Schlusse: „Die Psychoanalyse beherrscht nur
jener, der imstande ist, ein jegliches Symptom bis in die allerersten vier
Lebensjahre, nicht selten sogar bis direkt ins erste zurückzuverfolgen. Wem
ı) „Die Bedeutung der psychoanalytischen Methode nach Freud“, Zentralblatt
für Nervenkrankheiten und Psychiatrie, ı5. Januar 1907.
28*
PER
428 I. Sadger
dies nicht gelingt, der ist noch recht weit vom Endziel entfernt.“ Was
ich damals vor mehr als zwanzig Jahren aussprach, hat seitdem meine
gemehrte Erfahrung nur noch bestätigt. Ja, heute möchte ich jene Sätze
noch dahin ergänzen: Wir sind bei den meisten, vielleicht sogar bei
sämtlichen Symptomen geradezu bemüßigt, ihren Ursprung bis in die
Säuglingszeit, mitunter selbst bis zum „Trauma der Geburt“ zurückzu-
verfolgen, um eine Neurose zu wirklich restloser Heilung zu bringen,
ohne jede Möglichkeit eines Rückfalls.
Vielleicht wird da ein Widerspruch einsetzen. Ist denn so tiefe Zurück-
verfolgung überhaupt möglich, kann man mit absoluter Sicherheit bis in
die Säuglingszeit, ja, bis zur Stunde der Geburt vordringen? Darauf ist zu
sagen: Man ist in Einzelfällen wirklich. in der Lage, den schlüssigen
Beweis für eine solche Möglichkeit zu liefern, die Erinnerung des Kranken
durch das Zeugnis noch lebender, glaubwürdiger Eltern als zutreffend
über jeden Zweifel zu haben. Von mehreren Beispielen, über die ich ver-
füge, will ich nur eines hier anführen. Ich behandelte einen impotenten
Uro- und Spermatorrhoiker, der mir erzählte, er habe in Fieberzuständen
stets das Gefühl, einen Gummiball mit der Hand zu drücken. Er glaube
ganz bestimmt, diese Empfindung sei nichts anderes als das Fühlen der
Ammenbrust, die er in der Hand halte. Ferner zog er aus Einfällen und
Träumen den Schluß, er müsse beim Gestilltwerden eine solche Wollust
empfunden haben, daß er seine Amme anurinierte und die Augen ver-
drehte. Dies bestätigte nun die befragte Mutter: „Wenn du an der Brust
lagst, hast du stets Erektionen bekommen und dich oder andere dabei
regelmäßig angepißt. Wäre dies nicht so häufig erfolgt, hätte ich es mir
sicherlich nicht gemerkt. Du hast dabei auch stets die Augen verdreht.
Deine Augen werde ich nie vergessen, sie waren wie die eines Mannes in
Ekstase. Dies alles spielte sich höchstens sechs Monate ab, denn länger
wurdest du nicht gestillt.“ Ich ergänze, daß die Mutter sehr intelligent ist,
an ihrem einzigen Sohn abgöttisch hängt und ein sehr gutes Gedächtnis
besitzt.
Wenn also tatsächlich Erinnerungen des Kranken aus seiner Säuglings-
zeit zu wecken sind, dann ist man, wenn irgend möglich, verpflichtet,
die Analyse bis dorthin zu führen, wo die wirklichen Grundlagen der
Krankheit liegen und das Konstitutionelle mit dem Frühesterlebten zu-
sammentrifft. Über eins werde man sich allsogleich klar. Mit einer
Schnellkur von Wochen oder selbst ein paar Monaten ist dieses Endziel
nie zu erreichen. Zu solchen Ergebnissen gelangt man kaum eher als im
ı) Später hat Freud die Forderung aufgestell, man müsse die Behandlung
fortsetzen bis zur Aufdeckung der Ereignisse zwischen 2 bis 4 Jahren.
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Erfolge und Dauer der -psychoanalytischen Neurosenbehandlung 429
zweiten bis dritten Jahr der Behandlung. Auf diese Zeit muß man sich
unbedingt einrichten, sofern man eine absolute Heilung erstrebt, und sie
ist ferner unerläßlich in allen schweren Krankheitsfällen.
Man erschrecke nicht, daß ich für eine so häufige Erkrankung wie die
Hysterie’ eine Kur von selbst mehreren Jahren empfehle. Zum Vergleiche
mag uns ein anderes ungemein verbreitetes Leiden, die Tuberkulose,
dienen, bei der ja gleichfalls eine Frühinfektion in der Kindheit statt-
findet. Kein Vernünftiger wird von dem Arzte verlangen, er solle diese
Krankheit durch einen einzigen zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt in einer
Lungenheilstätte zu einer endgültigen Heilung bringen, auch wenn die
Verhältnisse ihn zwingen, mit einer so kurzen Behandlungsdauer faute de
mieux sich zufrieden zu geben. Die Hysterie ist nun mindestens ebenso
verbreitet wie die Tuberkulose, bloß daß man gemeinhin an ihr nicht
stirbt. Andererseits aber liegen die Verhältnisse dadurch noch schlimmer,
daß es keine Volksheilstätten gibt zu ihrer Behandlung, bloß zwei, drei
armselige Ambulatorien in der ganzen Welt, wo naturgemäß nur eine
ganz beschränkte Anzahl von Neurotikern Besserung oder Heilung zu
finden vermag. Und doch erscheint eine jahrelang fortgesetzte Behandlung
bei der Tuberkulose heutzutage schon selbstverständlich, ja sogar eine
lebenslängliche Befürsorgung durchaus gerechtfertigt.” Bei der Hysterie
und den andern Neurosen, die ohne psychische Beeinflussung gleichfalls
lebenslänglich währen, wird man ungeduldig, so die Dauer der Behandlung
zwei bis drei Monate übersteigt!
ı) Ich spreche im folgenden der Kürze halber von Hysterie, doch meine ich da
stets die andern Psychoneurosen mit. Auch gilt das Gesagte für alle sexuellen
Perversionen.
2) Es wurde wiederholt von fachmännischer Seite der Wunsch ausgesprochen,
die Behandlung der Tuberkulose mit der Psychoanalyse zu kombinieren. Doch nicht
etwa wie im „Zauberberg“ von Thomas Mann, wo man für Kranke psychoanalytisch
angehauchte Vorlesungen hält über die Zusammenhänge von Liebe und Tuberkulose,
sondern als regelrechte seelische Mitbehandlung der Lungenaffektion. Bedenkt man,
daß erfahrungsgemäß bei der Tuberkulose die Libido stark gesteigert ist, die Insassen
der Anstalten größtenteils abstinent leben müssen und einer Reihe von seelischen
Konflikten unterliegen, so wird man dieser Forderung Berechtigung nicht absprechen
können. Aus eigener Erfahrung mit Tuberkulösen, die ich wegen gleichzeitiger
schwerer Neurose psychoanalytisch behandelte, kann ich die ungemein günstige
Wirkung dieser Therapie auch auf den organischen Prozeß bestätigen. Ich behandle
z. B. gegenwärtig eine solche Kranke, die sonst jeden Winter wiederholten fieber-
haften katarrhalischen Anfällen unterliegt. In den zwei Wintern ihrer psycho-
analytischen Behandlung aber ist kein solcher mehr zur Entwicklung gelangt. Kam
sie schon einmal mit Husten und Heiserkeit in die Stunde, so war, eventuell nach
kurzem Schwitzen über Nacht, der ganze Katarrh am nächsten Morgen sicher ver-
schwunden. Und das ohne Bettruhe und ohne jede andere Behandlung als eine rein
psychische.
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430 I. Sadger
Ich weiß, es läßt sich eine Reihe von Argumenten anführen, die
Dauer der psychoanalytischen Kur möglichst abzukürzen, zunächst natürlich
solche finanzieller Art. Nach den ungeheuren Vermögensentwertungen,
die der Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Deutschland und Österreich
mit sich brachten, besitzen die wenigsten ja soviel Geld, um eine jahre-
lange Behandlung materiell durchzuhalten, zumindest in jenen meist-
betroffenen Ländern. Dies Argument bekommt man natürlich vor allen
andern und am häufigsten vorgesetzt. Es ist auch für die meisten Kranken
der beliebteste Vorwand, mit dem man andere, minder anständige Motive
zudeckt, von denen ich später noch handeln werde. Jedenfalls aber führte
jener häufige Vorhalt dazu, nach neuen Kombinationen zu suchen, um
die überlange Behandlungsdauer möglichst abzukürzen.
So hat noch zur Zeit des Weltkrieges selber Ernst Simmel- Berlin
der Verbindung mit Hypnose, zumal für eine Massenbehandlung, das Wort
geredet, ohne freilich viel Gegenliebe zu finden — aus bekannten Gründen.
Dann hat S. Ferenczi plötzlich die „aktive Therapie“ entdeckt, ohne
freilich irgendwie bündig auseinanderzusetzen, was darunter eigentlich zu
verstehen sei. Ein gut Stück aktiver Therapie hat ja jeder ausübende
Analytiker von Anbeginn geleistet, den Kranken z. B. stets über ver-
schiedene psychische Mechanismen aufklären müssen, ihm viel theoretische
Belehrung gegeben, am Ende der Behandlung von Phobien zum aktiven
Bekämpfen angehalten, den Widerstand rast- und ruhelos bekämpft u. dgl.
mehr." Das ist also ältestes Handwerk der Methode. Was Ferenczi
darüber hinaus an Beispielen seiner neuen Technik anführt, mag in
einzelnen Fällen vielleicht ein wenig abkürzend gewirkt haben, im allge-
meinen aber würde ich nach meinen eigenen Erfahrungen dringendst.
warnen — und vor allem jeden nicht sehr Geübten — sich auf neue
Formen der „aktiven Therapie“ überhaupt einzulassen. Sie ist ein überaus
zweischneidiges Schwert. Mitunter gelingt sie, doch, wohlgemerkt, stets
nur in einzelnen Fällen, fast hätte ich gesagt, in Ausnahmsfällen. Zumeist
wird sie die Behandlung nicht abkürzen, sondern ganz im Gegenteil durch
Weckung schlafender Widerstände geradezu verlängern. Erhebliche Ver-
ringerung der Behandlungsdauer habe ich durch sie gar nie erlebt. Es
dünkt mich am besten, bei der altbewährten Technik zu bleiben und den
ewig sprungbereiten Widerstand des Kranken nicht zu reizen.
Es blieben noch zwei neuere „Abkürzungsmethoden“ zu besprechen :
die von Otto Rank und von Wilhelm Stekel. Jener knüpft an das
ı) Neuestens hat wieder die Aufdeckung des Kastrationskomplexes und des
unbewußten Schuldgefühls unsere Technik außerordentlich befruchtet. Auch diese
Erkenntnisse muß man dem Kranken aktiv vermitteln.
Erfolge und Dauer der psychoanalytischen Neurosenbehandlung 431
„Trauma der Geburt“ an, das als entscheidendes Faktum im Leben des
Neurotikers hingestellt wird, welches dieser rückgängig zu machen sucht,
um dann sozusagen „neugeboren“ dazustehen. Nun ist ja jedem Psycho-
analytiker längst bekannt, daß alle Nervösen und auch viele sonst Gesunde
in den Zeiten der Niedergeschlagenheit davon träumen, wieder in den
Mutterleib zurückzukehren, wo sie absolut sicher und geborgen waren.
Nur hat dieser Wunsch bei weitem nicht jene zentrale Bedeutung, die
Rank ihm zuschreibt. Von seiner Lehre kann ich bloß sagen: sie ist
weder neu noch überhaupt richtig. Die ältesten Mitglieder der „Wiener
psychoanalytischen Vereinigung“ erinnern sich vielleicht noch, daß seiner-
zeit Grüner jedes beliebige zur Diskussion stehende Thema stets auf
Mutterleibswünsche und -phantasien zurückführte. Die Tendenz zur Rück-
kehr in den Mutterschoß wurde von ihm als universelles Erklärungsprinzip
proklamiert. Später hat dann Freud als Urangst jene bei der Geburt
erklärt. Diese beiden Erinnerungen gaben wohl Rank den Anstoß zu
seiner „Geburtstechnik der Neurosenbehandlung“, wie sie Ferenczi
benannte, die alle Symptome bis in den Mutterleib zurückführt und als
einzige Zeit der Akquisition den Augenblick der Geburt zuläßt. Ja, Rank,
der erfahrene Traumdeuter, ging in seiner neuen Technik noch weiter,
indem er den Träumer gar nicht mehr assoziieren ließ, sondern jetzt alles
aus Eigenem vom Geburtskomplex her ableitete. Es ist überaus bezeichnend,
daß auch ein zweiter erfahrener Traumdeuter, Wilhelm Stekel, neuestens
auf die Einfälle seiner Kranken verzichtet, um sie dann durch seine
„Intuition“ zu ersetzen, d. h. durch eigene vorgefaßte Meinungen. Das
ist natürlich viel bequemer, führt aber niemals in die Tiefe und läßt
vielfach die wichtigsten Zusammenhänge unerschlossen, wie mir jeder
bestätigen wird, der sich mit Traumanalysen beschäftigt. Bezüglich der
Rankschen Technik ist bloß zu sagen, daß es durch sie vielleicht möglich
ist, den Widerstand aus einem Schlupfwinkel rascher herauszulocken, doch
aber nur mit dem Endergebnis, ihn desto fester in einen andern hinein-
zujagen. An eine wirkliche Dauerheilung in wenigen Monaten, wie Rank
sie behauptet, werde ich erst glauben, wenn man mir die Fälle in einigen
Jahren als dauernd geheilt wieder vorstellen kann.
Bleibt endlich noch die Methode Stekels. Er will jeden seiner Fälle in
drei bis sechs Monaten zur Heilung bringen, nur beieinigen besondersschweren
braucht er dazu ein paar Monate länger. Wer Stekels erzählende
Schriften liest, wird sehr bald erkennen, daß dieser ideenstrotzende Autor
seine eigenen Einfälle weit höher wertet als die der Patienten, und daß
er zufrieden ist, wenn seine nach der Jahreszeit wechselnden Gedanken
jeweils durch Äußerungen seiner Kranken „bestätigt“ werden. Er nennt
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432 I. Sadger
diese Kranken dann „geheilt“, auch wenn sie später einen andern Psycho-
analytiker zu Rate ziehen müssen. i
All diesen „Ersparungs“-Methoden gegenüber kann ich nach meiner
Erfahrung nur sagen: das einzige Mittel, die Dauer einer Psychoanalyse
abzukürzen, ist — sie nicht künstlich zu verlängern. Eine jede Gewalts-
kur wirkt nicht abortiv, sondern ganz im Gegenteil den Widerstand des
Patienten steigernd und damit auch die Genesung aufhaltend. In seinem
Verhalten erinnert mich das Unbewußte an den Moribunden, dessen An-
gehörige seinen Hintritt nicht mehr erwarten können. Bis dieser, dem die
Ungeduld seiner Umgebung nicht entgeht, dann schließlich ausruft: „Sterben
will ich, aber drängen lasse ich mich nicht!“ Auch das Unbewußte läßt sich
nicht drängen, mindestens nicht allzusehr. Alle solchen Versuche führen besten-
falls dazu, daß man einzelne, vorbewußte Dinge etwas rascher erfährt, als sie
sonst herauskämen. Was man aber leider gewöhnlich damit bezahlen muß,
daß der Kranke dann erst recht verstockt und noch widerborstiger wird.
Stets ist damit zu rechnen, daß auch der sogenannte willige Kranke,
d. h. jener, der spontan zum Psychoanalytiker geht und nach eigenen
Worten darauf brennt, rasch gesund zu werden, eine wirkliche Genesung
perhorresziert. Er will im Grunde nur behandelt, d. h. mit Liebe dauernd
umgeben, doch ja nicht geheilt werden. Es gibt eine besondere Gruppe
von Hysterikern, zumal von Frauen, die gegen ihre nervösen Symptome
alle möglichen Neurologen aufsuchen. Bloß den Analytikern weichen sie
in weitem Bogen aus, denn diese könnten sie, Gott behüte, wirklich
gesund machen. Und werden sie schon einmal, z. B. vom Gatten, zu
einem solchen geschleift, dann geben sie vor, sie möchten doch lieber erst
eine elektrische oder Wasserkur probieren, oder schieben den Beginn der
Behandlung hinaus — ganz regelmäßig ad Kalendas Graecas — oder
feilschen endlos um den Preis, weil der Arzt sie als Liebesbeweis um ihrer
schönen Augen willen, d.h. umsonst behandeln soll, und ähnliche Dinge.
In der Brust auch des aufrichtigsten Kranken streiten sich zwei Seelen.
Die eine, die Verstandesseele, betreibt die Genesung, denn sie erkennt die
schweren Schäden der Neurose. Anders die Gefühlsseele. Die sieht nur
die Liebesvorteile der Krankheit, den sexuellen Genuß, der den Symptomen
anhaftet, die Erfüllung des unbewußten Strafbedürfnisses, und sträubt sich
heftig, dies alles aufzugeben. Mindestens erzeugt sie einen beständigen, wenn
auch verborgenen Widerstand, der in jeglicher Psychoanalyse zu spüren.
Im allgemeinen darf man behaupten: die wirkliche Bereitwilligkeit
eines Kranken steht in umgekehrtem Verhältnis zu seinen Beteuerungen.
Erklärt mir eine Frau bei der ersten Besprechung, sie würde freudig ihr
‚ ganzes Vermögen opfern, um gesund zu werden, dann werde ich darauf
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Erfolge und Dauer der psychoanalytishen Neurosenbehandlung 433
achten, daß sie das Honorar sofort erlegt, denn dann besteht die größte
Wahrscheinlichkeit, daß sie den Betrag für die erste Konsultation auch
schon schuldig bleiben wird. Der ernstlich Wollende entschließt sich rasch
oder nach kurzer Überlegungsfrist und geht dann ohne viel Worte mit.
Aber selbst bei diesem erlebt man stets wieder, daß er mit Einigem
dauernd zurückhält, um sich die Möglichkeit des Krankheitsgewinnes nicht
ganz und völlig entgehen zu lassen, und wütend wird, wenn man auf
eine absolute, restlose Heilung drängt.
Aus meiner Erfahrung möchte ich da ein schlagendes Beispiel erzählen.
Vor Zeiten behandelte ich einen Mann mit schwerer Hysterie und aller-
hand Phobien. Wegen einer Knieverletzung hatte er jahrelang mit
Chirurgen zu tun gehabt, die er durch seine hysterischen Übertreibungen
so irre führte, daß schon eine Überführung in die Irrenanstalt erwogen
wurde. Durch eine Psychoanalyse von fast dreijähriger Dauer gelang es
nach und nach, ihn von seinen sämtlichen nervösen Beschwerden ganz
zu befreien. Er wurde dick und fett, trotzdem er zu Hause am Hunger-
tuch nagte. Leute, die ihn schon als Todeskandidaten angesehen hatten,
waren verblüfft, als sie ihn nach Jahren blühend zu Gesicht bekamen,
kurz, er wurde eine lebendige Reklame für unsere Methode. Auch
persönlich zeigte er wunderbare Eigenschaften. So schickte er mir alljähr-
lich eine Anzahl von Kranken, erfüllte also das sagenhafte Ideal des
„dankbaren. Patienten“. Geheilt entlassen, begegnet er ein paar Monate
später einem meiner Kollegen, den er in seiner schlechtesten Zeit einmal
konsultiert hatte. „Wie geht es Ihnen? — „Danke, gut.“ — „Sind Sie
völlig geheilt?“ — „Nun ja, von den nervösen Sachen schon. Aber meine
Kniegeschichte habe ich immer noch.“ Ich bemerke, daß der Kranke es
abgelehnt hatte, nach Beendigung der Kur sich einem vorgeschlagenen
Chirurgen in Behandlung zu geben. Wie sich dann später herausstellte,
wollte er eben etwas zurückbehalten. Als ich von jener Zwiesprache erfuhr,
ließ ich dem Manne sagen, er solle noch einen Monat bei mir Analyse
machen, dann würde ich ihm auch die Kniegelenkssache wegbringen. Sie
werden nun glauben, der Kranke sei entzückt gewesen, eine völlige Heilung
zu erreichen. Ach nein, auf meine Botschaft brach er ingrimmig in die
Worte aus: „Alles will mir der Doktor nehmen!“ Er war also wütend
über meine Zumutung, ihn ganz zu kurieren. Auf Drängen seiner Frau
kam er dann doch zu mir, und es gelang auch, die nervöse Verstärkung
seiner Kniebeschwerden völlig zu beheben, so daß er diese zu neuen Klagen
nicht mehr benutzen konnte und auch von ihnen kaum mehr belästigt
wurde. Doch eins hatte ich durch mein Vorgehen erzielt: der Kranke,
der mir bis dahin alljährlich hysterische Patienten „aus Dankbarkeit“ |
PRRBBeU‚[
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434 I. Sadger
| gesandt hatte, verlor jetzt alles Interesse an mir und stellte jede Empfehlung
‚ein. So gründlich hatte ich ihn geheilt. Sie sehen, es hat auch Schatten-
seiten, einen Patienten völlig zu heilen.
Um nochmals alles zusammenzufassen: ich glaube an keine Abkürzungs-
möglichkeit für psychoanalytische Behandlung. Im Gegenteil fühle ich
mich auf Grund von mehr als dreißigjähriger Erfahrung zu der Erklärung
gedrängt: die Behandlungsdauer ist nicht abzukürzen,
sondern zu verlängern, vorausgesetzt, daß man eine absolute, voll-
ständige Heilung zu erzielen wünscht. Ich weiß sehr wohl, daß die
meisten Kranken da nicht ausharren, das Geld oder der Zahlungswille
ihnen ausgeht, daß unvorhergesehene Zwischenfälle den vorzeitigen Abbruch
der Kur erzwingen und dergl. mehr. Dies alles aber schließt nicht aus,
daß eine vollständige Heilung der Neurose mindestens anzustreben ist,
und daß man versuchen muß, ihr wenigstens möglichst nahe zu kommen
— ohne Rücksicht auf Geld oder Zeit des Patienten. Wenn dieser gegen
Ende einer gut durchgeführten Psychoanalyse sich doppelt an den Arzt
zu hängen pflegt und der alle Mühe hat, ihn los zu werden, so ist da
nicht immer nur die Übertragung des Kranken schuld, der die liebevolle
tägliche Unterhaltung nicht missen möchte. Nicht so selten ist es des
Kranken unbewußte, doch gleichwohl tiefgefühlte Erkenntnis, daß er im
Grunde noch nicht fertig sei. Namentlich vor Aufklärung des unbewußten
Schuldgefühls, des daraus entspringenden Strafbedürfnisses und der Lust
an der Selbstkastration haben wir mancherlei gesündigt und unsere
Patienten oft eher entlassen, als sie - wirklich geheilt waren. Am besten
fährt, wer von vornherein gründliche Arbeit macht, die Analyse usque ad
finem führt und dadurch die häufigen Ergänzungs- oder Nachtragsbehand-
lungen sich erspart. Eine solche Behandlung braucht aber Zeit und wird, von
den Kinderanalysen abgesehen, kaum in einigen Monaten zu beenden sein.
Wer sich diese Grundsätze vor Augen hält, wird den Pessimismus
mancher Kollegen nicht zu teilen vermögen. Ich kann, wenn ich meine
Fälle überschaue — und deren Zahl ist wahrhaftig nicht klein — nur
ehrlich erklären: die psychoanalytische Methode leistet in der Neurosen-
therapie um vieles mehr als jede andere Behandlungsweise, ja, ich möchte
behaupten, sie ist die einzige, die da überhaupt etwas leisten kann. Unter
günstigen Bedingungen führt sie zur idealen Heilung und selbst eine
unvollständige oder mangelhaft durchgeführte Kur ergibt noch immer
weit bessere Resultate als sämtliche übrigen Heilversuche. Darum ist die
Methode nicht einzuschränken oder umzugestalten, sondern auszubauen
saluti et solatio aegrorum.
Der genitale und der neurotische Charakter
Untersuchungen über die libido-ökonomische Funktion des Charakters
Von
Wilhelm Reich
Wien
D Der ökonomische Sinn der Charakterbildung
Der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen über die Charakter-
bildung war ein alltägliches therapeutisches Problem. Es ist in der Psycho-
analyse seit langem bekannt, daß der Narzißmus der Kranken, wenn er
die Analyse nicht überhaupt unmöglich macht, doch zumindest bei vielen
Fällen den analytischen Bemühungen eine Grenze der Beeinflussung setzt.
Die Notwendigkeit, sich mit dieser „narzißtischen Schranke“ (Freud)
theoretisch auseinanderzusetzen, ihren ökonomischen Sinn, ihre Dynamik
und ihre Herkunft zu untersuchen, war also ein Gebot des praktischen
Alltags. Dazu kommt die Erfahrung, daß bei einer nicht geringen Anzahl
von Fällen die Analyse des Unbewußten und der verdrängten Kindheits-
erlebnisse dem Anschein nach klaglos verläuft, der Kranke hingegen darauf
therapeutisch nicht entsprechend reagiert; man hat in solchen Fällen
schließlich den Eindruck, als ob alle analytischen Bemühungen an einem
„Panzer“ abprallten, als ob zwischen dem intellektuellen Ich und den
Tiefen der Affektpersönlichkeit eine Mauer stünde, gegen die keine noch
so korrekte inhaltliche Deutung aufkommt. Besinnt man sich auf den
analytischen Grundsatz, daß die erfolgreiche Beeinflussung eines Kranken
die theoretische Kenntnis seiner seelischen Dynamik und Ökonomik zur
Voraussetzung hat, so wird man zur Auskunft, sein Narzißmus sei eben
so stark, daß er nicht beeinflußt werden könne, nicht greifen, sondern
sich sagen, daß man ein wesentliches Stück des Aufbaues der Persönlichkeit
noch nicht erfaßt, nicht verstanden habe. Als wichtigster Angriffspunkt
ergab sich bei der Untersuchung der technischen Schwierigkeiten, daß
sich das Ich verschiedener Patienten bei gleichen verdrängten Inhalten
436 Wilhelm Reich
——————
ganz verschieden zur Analyse im allgemeinen und zur Grundregel im
besonderen einstellt. Man konnte ferner feststellen, daß die Art und Weise
dieser Einstellung eine gewisse Konstanz im Verlaufe der ganzen Analyse
bewahrt, und daß — wohl das Interessanteste und Wesentlichste an diesem
Phänomen — sich die Verhaltungsweise des Ichs in den Zeiten des
Widerstandes am reinsten und klarsten ausprägt, wobei der Kern der
Haltung eine starre, stets wiederkehrende Form beibehält. Mit der Zeit
wurde klar, daß diese Verhaltungsweise vom Charakter des Kranken be-
stimmt wird und sich zu den einzelnen Widerständen, die zur Abwehr
einzelner aus der Verdrängung auftauchender Inbalte mobilisiert werden,
als ein konstanter formaler Faktor von Widerstandscharakter hinzu-
gesellt. Dieser konstante Zuschuß zu den Detailwiderständen verdiente,
durch die Bezeichnung „Charakterwiderstand“ hervorgehoben zu wer-
den;’ weitere Erfahrungen gaben der ersten Vermutung recht, daß so
mancher Mißerfolg in der Analyse auf das Übersehen der konstanten
Haltung, die immer im gegebenen Augenblick zum Widerstand wird,
zurückzuführen ist.
Von der Fragestellung: „Wie stellt sich das Ich des Kranken zur Psycho-
analyse ein, in welcher typischen Art und Weise reagiert es?“ konnte man
leicht zu einer formalen Definition des Charakters gelangen; da das Ich
in der Analyse nicht anders als sonst, nur ausgeprägter, schärfer reagiert,
mußte der Charakter formal begriffen werden, als die typische
Reaktionsweise des Ichs auf das Es und die Außen-
welt. Nicht also war so sehr der Inhalt der Mitteilungen als die Art des
Ausdrucks, nicht etwa der Vorwurf, den der Kranke dem Analytiker
macht, sondern die Art, wie die Persönlichkeit den Vorwurf vorbringt,
der Ausgangspunkt für die Analyse des Charakters und des von ihm
ausgehenden Widerstandes.
Wir wenden uns nun der Frage zu, aus welchem Grunde denn über-
haupt ein Charakter ausgebildet wird und welche ökonomische Funktion er hat.
Die Beantwortung der ersten Frage wird angebahnt durch die Be-
obachtung der dynamischen Funktion und der sinnvollen Arbeitsweise der
charakterologischen Reaktionen: Der Charakter erweist sich
ı) Vgl. „Über Charakteranalyse“, diese Ztschr., Bd. XIV (1928). Der Begriff
„Charakterwiderstand“ ist nicht mit dem des Freudschen „Ichwiderstandes* zu
verwechseln. Er meint die formale Seite jener Phänomene, die Freud mit dem
Begriff „Ichwiderstand“ erfaßt. Also daß das Ich überhaupt einen Widerstand mit
bestimmten Inhalten leistet, nennen wir Ichwiderstand. Der Ausdruck „Charakter-
widerstand“ bezieht sich auf die typische Form, in der die verschiedenen Inhalte
abgewehrt werden. Diese Form bleibt überdies die gleiche, auch wenn ein Es- oder
ein Über-Ich-Widerstand sich einstellt.
Der genitale und der neurotische Charakter 437
hauptsächlich und in erster Linie als ein narzißtischer
Schutzmechanismus.'! Es ist dann naheliegend zu vermuten, daß,
wenn der Charakter in der Gegenwart, etwa in der analytischen Situation,
im wesentlichen dem Schutze des Ichs dient, er seinerzeit als ein Apparat
zum Schutze vor Gefahren entstanden ist. Und die Charakteranalyse eines
jeden Einzelfalles ergibt, wenn man bis in die Zeit der endgültigen Aus-
bildung des Charakters, nämlich ins Ödipusalter, vordringt, daß sich der
Charakter formiert hat unter dem Einflusse der gefahrdrohenden Außen-
welt und der drängenden Ansprüche des Es.
Im Anschlusse an die Theorie Lamarcks haben Freud und besonders
Ferenczi im Seelischen eine autoplastische von einer allo-
plastischen Anpassung unterschieden. Hier verändert der Organismus
die Umwelt (Technik und Zivilisation), dort sich selbst, um bestehen zu
können. Biologisch betrachtet, ist die Charakterbildung eine autoplastische
Funktion, die durch die störenden und unlustvollen Reize der Außenwelt
in Gang gesetzt wird. Im Zusammenprall von Es und Außenwelt, die die
ı) Hier ist es notwendig, unsere Auffassungen von den Aufstellungen Alfred Adlers
über die Charakterbildung und die „Sicherung“ prinzipiell abzugrenzen.
ı) Adler begann seine Abschwenkunrg von der Psychoanalyse und der Libido-
theorie mit der These, nicht auf die Analyse der Libido, sondern auf die des
nervösen Charakters komme es an. Daß er Libido und Charakter in Gegensatz
setzte und jene aus der Betrachtung völlig ausschaltete, war gerade das, was der Psycho-
analyse völlig widersprach. Wir gehen zwar vom selben Problem aus, nämlich von
der sinnvollen Arbeitsweise dessen, was man Gesamtpersönlichkeit und Charakter
nennt, bedienen uns aber dabei einer grundsätzlich verschiedenen Theorie und
Methodik. Wir betrachten den Charakter kausal, wenn wir fragen, was den seelischen
Organismus zwingt, einen Charakter zu bilden, und gelangen erst sekundär zu seinem
Zweck, den wir aus der Ursache ableiten (Ursache: Unlust, Zweck: Schutz vor der
Unlust). Adler bediente sich beim gleichen Problem einer finalen Betrachtung.
2) Wir versuchen, die Charakterbildung libidoökonomisch zu erklären, ge-
langen also zu völlig anderen Resultaten als Adler, der das Prinzip des „Willens
zur Macht“ als Erklärungsprinzip wählt und dabei die Abhängigkeit des „Willens
zur Macht“ als eines narzißtischen Teilstrebens von den Schicksalen des Gesamt-
narzißmus und der Objektlibido übersieht.
3) Die Adlerschen Formulierungen über die Wirkungsweise des Minder-
wertigkeitsgefühls und seiner Kompensationen sind richtig, was nie geleugnet wurde,
nur fehlt auch hier die Verbindung zu den tiefer liegenden Prozessen der Libido,
insbesondere der Organlibido. Wir unterscheiden uns von Adler gerade dadurch,
daß wir das Minderwertigkeitsgefühl selbst und seine Auswirkungen im Ich libido-
theoretisch auflösen.
Manmuß es daher als Ausdruck methodologischer Unklarheit werten, wenn solchen
Untersuchungen entgegengehalten wird, das habe Adler längst gesagt. Er kann es
nicht gesagt haben — weil er sich dabei einer anderen Methode bediente, und, so-
weit er zu gleichen Resultaten gelangte, war er eben noch Psychoanalytiker. Diese
seine Ergebnisse werden ja auch vollinhaltlich anerkannt. In anderen Fällen zeigen
solche Einwände nur, daß eine Scheu besteht, Probleme noch einmal zu untersuchen,
die Adlers eigentliches Arbeitsgebiet waren.
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438 Wilhelm Reich
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Libidobefriedigungen einschränkt oder ganz verhindert, und anläßlich der
Realangst, die dabei entwickelt wird, reagiert der seelische Apparat mit
der Organisierung eines Schutzapparates, den er zwischen sich und der
Außenwelt aufbaut. Um diesen zunächst nur grob angedeuteten Vorgang
zu begreifen, müssen wir für eine Weile den dynamischen und ökonomischen
Gesichtspunkt gegen den topischen eintauschen.
Das Ich, der der Außenwelt zugekehrte, daher exponierte Teil des
seelischen Apparates, den Freud als Reizschutzapparat begreifen gelehrt
hat, ist die Stätte der Charakterbildung. Freud hat uns in klarer und
einleuchtender Weise den Kampf geschildert, den das Ich als Puffer
zwischen Es und Außenwelt (bzw. Es und Über-Ich) zu kämpfen hat.
Das Wesentliche an diesem Kampf ist, daß das Ich bei seinem Versuche,
im Interesse der Selbstbehauptung zwischen den feindlichen Parteien zu
vermitteln, die versagenden Objekte der Außenwelt, und zwar gerade die-
jenigen, die sich dem Lustprinzip des Es in den Weg stellen, in sich auf-
nimmt und als moralische Instanz, als Über-Ich, festhält. Die Moral des
Ichs ist somit kein aus dem Es hervorgegangener, also nicht ein im
narzißtisch-libidinösen Organismus gewachsener, sondern ein fremder, der
drängenden und drohenden Außenwelt entlehnter Bestandteil. Die psycho-
analytische Trieblehre findet im seelischen Organismus zunächst nichts
anderes als ein Bündel primitivster Bedürfnisse, deren Basis körperliche
Erregungszustände sind. Zwischen dieses Bündel primitiver Bedürfnisse
und die Außenwelt schaltet sich im Laufe der Entwicklung das Ich durch
besondere Differenzierung eines Teiles des seelischen Organismus und
wieder auf Grund des der Selbsterhaltung dienenden Urnarzißmus. Denken
wir etwa, um uns das zu veranschaulichen, an ein Urtierchen. Da gibt
es manche, etwa die Wurzelfüßler, die Radiolarien und andere, die sich
gegen die rauhe Außenwelt durch einen Panzer aus anorganischem Material
schützen, der durch chemische Ausscheidungen des Protoplasmas zusammen-
gekittet wird. Manche dieser Urtierchen bilden schneckenartig gewundene,
andere kreisföormige, mit Stacheln versehene Schalen. Die Bewegung dieser
gepanzerten Urtierchen ist gegenüber der einfachen Amöbe beträchtlich
eingeschränkt, der Kontakt mit der Außenwelt ist eingeengt auf die
Pseudopodien, die zum Zwecke der Bewegung und Nahrungsaufnahme
durch feine Löcher im Panzer vorgestreckt und wieder zurückgezogen
werden können. Wir werden noch oft Gelegenheit haben, uns dieses Ver-
gleiches zu bedienen, können aber schon jetzt den Charakter des Ichs,
vielleicht das Ich mit Freud überhaupt, als den reizschützenden Panzer
des Es gegen die Außenwelt begreifen. Das Ich im Freudschen Sinne
ist eine Strukturinstanz. Unter Charakter verstehen wir hier nicht nur die
——_—_——_—_—_—_ _ — — —_— — — —_ — — —_ —„ —_ _ — — — — —_
Der genitale und der neurotische Charakter 439
äußere Erscheinungsform dieser Instanz, sondern auch die Summe all
dessen, was das Ich an typischen, das heißt für diese Persönlichkeit spezi-
fischen Reaktionsweisen leistet, also einen wesentlich dynamisch bestimmten
Faktor, der sich in der charakteristischen Erscheinungsform (Gang, Mimik,
Haltung, Sprechweise, sonstige Verhaltungsweisen) kundgibt. Dieser
Charakter des Ichs baut sich aus Elementen der Außenwelt, aus Verboten,
Triebeinschränkungen und Identifizierungen verschiedenster Art auf. Die
inhaltlichen Elemente des charakterologischen Panzers sind also äußerer,
gesellschaftlicher Herkunft. Ehe wir uns die Frage vorlegen, was den Kitt
dieser Elemente bildet, welches der dynamische Vorgang der Festigung
des Panzers ist, müssen wir uns klarmachen, daß der Schutz gegen die
Außenwelt zwar der Hauptanlaß der Charakterbildung war, aber gewiß
nicht auch später seine Hauptfunktion bildet. An Schutzmitteln gegen die
realen Gefahren der Außenwelt hat der zivilisierte Mensch eine Fülle zur
Verfügung, die gesellschaftlichen Einrichtungen in allen ihren Formen.
Als hochentwickeltem Organismus stehen ihm überdies der Muskelapparat,
um zu fliehen oder zu kämpfen, und sein Intellekt, um Gefahren vor-
auszusehen und zu vermeiden, zur Verfügung. Die charakterologischen
Schutzmechanismen treten dann in typischer Weise in Funktion, wenn,
sei es aus einem inneren Reizzustand heraus, sei es infolge äußerer, den
Triebapparat treffender Reize, das Moment der Triebgefahr, also ein aus
dem Innern stammendes Angstmoment in Frage kommt. Dann hat der
Charakter die Aufgabe, der Aktual-(Stauungs)-Angst Herr zu werden, die
der Energie der nicht zur Abfuhr gelangenden Triebe entstammt.
Die Beziehung des Charakters zur Verdrängung ist darin zu sehen, daß
die Notwendigkeit, Triebansprüche zu verdrängen, die Charakterbildung in
Gang setzt, daß aber andererseits der einmal gebildete Charakter Ver-
drängungsaufwand erspart, indem die Triebenergien, die bei gewöhnlichen
Verdrängungen frei flottieren, in den Charakterformationen selbst aufge-
zehrt werden. Die Herstellung eines Charakterzuges zeigt somit die Lösung
eines Verdrängungskonfliktes an, entweder Ersparnis eines Verdrängungs-
prozesses überhaupt oder die Verwandlung einer zustande gekommenen
Verdrängung in eine starre, ichgerechte Formation. Die Vorgänge der
Charakterbildung entsprechen somit durchaus der von Freud beschriebenen
Tendenz des Ichs zur Vereinheitlichung der Strebungen des seelischen
Organismus. Aus diesen Tatsachen erklärt es sich, daB Verdrängungen,
die in feste Charakterzüge ausliefen, so viel schwerer zu beseitigen sind
als solche, die etwa ein Symptom begründen.
Zwischen dem Ausgangspunkte der Charakterbildung, dem Schutze vor
realen Gefahren, und seiner schließlichen Funktion, dem Schutze vor der
a2ERBRaRaRaRaRAaFmZmamamamaZamamamam — — — ———— —_— — ———————e——
440 Wilhelm Reich
Triebgefahr und der Stauungsangst und der Aufzehrung der Triebenergien,
gibt es eine bestimmte Beziehung. Die gesellschaftliche Einordnung, ins-
besondere die Entwicklung vom primitiven Naturzustand zur Zivilisation,
haben viel Einschränkung an libidinöser Befriedigung gefordert. Die Ent-
wicklung der Menschheit steht, wenigstens bisher, im Zeichen fortschreitender
Sexualeinschränkung, im besonderen ging die Entwicklung der Zivilisation
und der heutigen Gesellschaft mit steigender Zersplitterung und Ein-
schränkung der Genitalität einher. Je weiter dieser Prozeß fortschritt, desto
geringer und seltener wurden die Anlässe der Realangst, freilich nur für
den Einzelnen; gesellschaftlich sind ja die realen Gefahren für das Leben
des Individuums gestiegen. Die imperialistischen Kriege und der Klassen-
kampf wiegen die Gefahren der Urzeit gewiß reichlich auf. Trotzdem
brachte die Zivilisation den Vorteil der Sicherheit im Einzelnen mit sich,
ein Vorteil, der nicht ohne seinen Gegensatz blieb. Um die Realangst
zu vermeiden, war es notwendig, seine Triebe einzuschränken; man darf
seinen Destruktionstrieb nicht ausleben, ‘und der Sexualtrieb ist durch
gesellschaftliche Normen und Vorurteile geknebelt; eine Übertretung der
Normen würde sofort eine reale Gefahr nach sich ziehen, etwa die Strafe
für Onanie im Kindesalter oder Kerker für Inzest und Homosexualität.
In dem Maße, als die Realangst vermieden wird, steigert sich die Stauung
der Libido und mit ihr die Stauungsangst. Aktualangst und Realangst
stehen zueinander also in einem ergänzenden Gegensatz: Je mehr
Realangst vermieden wird, desto stärker die Stauungs-
angst und umgekehrt. Der Furchtlose befriedigt seine starken libi-
" dinösen Bedürfnisse, wenn er dabei auch gesellschaftliche Ächtung riskiert.
Die Tiere sind infolge ihrer mangelhaften gesellschaftlichen Organisation
mehr den Bedingungen der Realangst ausgesetzt, leiden aber, wenn sie
nicht dem Zwange der Domestikation verfallen, und auch hier nur unter
besonderen Umständen, kaum an Triebstauungen. Der Mensch hingegen,
der es verstanden hat, durch die Polizei, Gesetze und Moral die Real-
angst zu verringern, erliegt gleichzeitig der Neurose, dem spezifischen
Ergebnis der Stauungsangst.
Wenn wir hier die (Real-) Angstvermeidung und die (Stauungs-)
Angstbindung als die beiden ökonomischen Prinzipien der Charakter-
bildung hervorgehoben haben, so ist darüber ein drittes Prinzip nicht zu
übersehen, daß nämlich die Charakterbildung im Zeichen des Lustprinzips
auch hinsichtlich größtmöglichen Lustgewinns steht. Ursache und Anlaß
der Charakterbildung ist zwar der Schutz vor den Gefahren, die die Trieb-
befriedigung mit sich bringt; hat sich aber der Panzer einmal gebildet,
so wirkt das Lustprinzip noch weiter, indem der Charakter wie das Sym-
mg
Der genitale und der neurotische Charakter 441
ptom nicht nur der Triebabwehr und der Angstbindung, sondern auch der
verstellten Triebbefriedigung dient. Der genital-narzißtische Charakter etwa
hat sich nicht nur gegen die Einflüsse der Außenwelt geschützt, er be-
friedigt auch ein gut Stück Libido eben in der narzißtischen Beziehung
seines Ichs zu seinem Ichideal. Die Triebbefriedigungen sind von zweierlei
Art. Einerseits werden die abgewehrten Triebregungen selbst, im besonderen
die prägenitalen und die sadistischen, bei der Herstellung und Erhaltung
des Schutzmechanismus zu einem großen Teil energetisch aufgezehrt; das
bedeutet zwar nicht eine Triebbefriedigung im Sinne direkten, unver-
hüllten Lustgewinns, wohl aber eine Herabsetzung der Trieb-
spannung, wie sie etwa auch durch die „verstellte“ Befriedigung im
Symptom erfolgt; und diese Herabsetzung der Triebspannung ist zwar
phänomenologisch verschieden von der direkten Befriedigung, aber ihr
ökonomisch fast gleichwertig: beide vermindern den Druck des Triebreizes.
Die Triebenergie wird aufgewendet bei der Verkittung und
Verlötung der Charakterinhalte (Identifizierungen, Reaktions-
bildungen usw.). So wird etwa bei der Affektsperre mancher Zwangs-
charaktere vorwiegend der Sadismus, bei der übertriebenen Höflichkeit und
Passivität mancher passiv-femininer Charaktere die Homosexualität bei der
Bildung und Erhaltung der Mauer zwischen Es und Außenwelt aufgezehrt.
Die Triebregungen, welche dem Schicksal der Verarbeitung im Charakter
entgehen, streben nun, wenn sie nicht der Verdrängung anheimfallen, der
direkten Befriedigung zu. Welcher Art die direkte Triebbefriedigung ist,
hängt von der Charaktergestaltung ab, und es macht nicht nur den Unter-
schied zwischen gesund und krank, sondern auch den zwischen den
einzelnen Charaktertypen aus, welche Triebkräfte zur Herstellung des
Charakters verwendet und welche zur direkten Triebbefriedigung zuge-
lassen wurden.
Neben der Qualität des Charakters kommt der Quantität der charaktero-
logischen Abpanzerung eine große Bedeutung zu. Hat nämlich die charaktero-
logische Abgrenzung gegen die Außenwelt und gegen das Es einen den
Umständen der Libidoentwicklung entsprechenden Grad erreicht, so bleiben
„Lücken“ im Panzer übrig, die den Kontakt mit der Außenwelt vermitteln.
Durch diese Lücken werden die frei verfügbare Libido und die anderen
Triebregungen der Außenwelt zugewendet oder von ihr zurückgezogen.
Die Panzerung des Ichs kann nun einen so hohen Grad erreichen, daß
die Lücken „zu eng“ werden, die Kommunikationswege mit der Außen-
welt nicht mehr ausreichen, um eine geordnete Libidoökonomie und die
soziale Anpassung zu gewährleisten. Als restlose Absperrung imponiert uns
etwa die katatone Starre, als völlig unzureichende Panzerung die Charakter-
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4 29
m mm mm TI 2, ITTGC I mamamamm—————u
442 Wilhelm Reich
struktur des triebhaften Charakters. Es ist wahrscheinlich, daß jede dauernde
Verwandlung von Objektlibido in narzißtische Libido mit einer Erstarkung
und Verhärtung des Ichpanzers einhergeht. Der affektgesperrte Zwangs-
charakter hat einen starren, unveränderbaren Panzer mit geringen Mög-
lichkeiten, mit der Außenwelt in affektive Beziehungen zu treten.
Alles prallt an seiner glatten, harten Oberfläche ab. Der querulatorisch-
aggressive Charakter hingegen hat zwar einen beweglichen, aber ständig
in der gleichen Weise „stacheligen“ Panzer, seine Beziehungen zur Außen-
welt beschränken sich im Grunde auf seine paranoid-aggressiven Reak-
tionen. Als drittes Beispiel nennen wir den passiv-femininen Charakter;
seine Wesensart scheint nachgiebig und weich, aber in der Analyse lernt
man. sie als eine schwer auflösbare Abpanzerung kennen.
Die endgültige Qualität eines Charakters — das’ gilt sowohl für das
Typische wie für das Besondere — ist zweifach bestimmt: Erstens quali-
tativ durch diejenige Stufe der Libidoentwicklung, an der der Prozeß
der Charakterbildung durch innere Konflikte am nachhaltigsten beeinflußt
war, das heißt durch die spezifische Fixierungsstelle der Libido. Darnach
werden etwa depressive (orale), genital-narzißtische (phallische), hysterische
(genital-inzestuöse) Charaktere und Zwangscharaktere (sadistisch-anale
Fixierung) zu unterscheiden sein. Zweitens quantitativ durch die
Libidoökonomie, die von der qualitativen Bestimmung abhängt. Jene könnte
man auch die historische, diese die aktuelle Bedingtheit der Charakter-
form nennen. In den folgenden Ausführungen wird uns hauptsächlich das
aktuelle, libidookonomische Moment beschäftigen.
I) Die libido-ökonomische Differenz des genitalen und des
neurotischen Charakters
Die Differenz in der Libidoökonomie
Geht die charakterologische Panzerung über ein gewisses Maß hinaus,
hat sie sich hauptsächlich solcher Triebregungen bedient, die unter nor-
malen Umständen den Beziehungen zur Realität dienen sollten, ist dadurch
insbesondere die sexuelle Befriedigungsfähigkeit allzusehr eingeschränkt
worden, so sind alle Bedingungen des neurotischen Charakters gegeben.
Wenn man nun die Charakterbildung und -struktur neurotischer Menschen
mit der arbeits- und liebesfähiger Individuen vergleicht, so gelangt man
zu einem qualitativen Unterschied der Mittel, mit denen die charaktero-
logische Bindung der gestauten Libido erfolgt. Man kann dann feststellen,
daß es zulängliche und unzulängliche Mittel der Angstbindung gibt; als
Prototyp der zulänglichen erweisen sich diegenital-orgastische
Der genitale und der neurotische Charakter 443
Befriedigung der Libido und die Sublimierung, als unzu-
längliche alle Arten der prägenitalen Befriedigung und die
Reaktionsbildung. Dieser qualitative Unterschied drückt sich dann
auch in einem quantitativen aus: Der neurotische Charakter leidet unter
einer sich ständig steigernden Libidostauung, eben weil seine Befriedigungs-
mittel den Bedürfnissen des Triebapparats nicht adäquat sind; der andere,
der genitale Charakter, steht unter dem Einfluß eines ständigen Wechsels
von Libidospannung und adäquater Libidobefriedigung, verfügt also über
einem geordneten Libidohaushalt. Die Bezeichnung „genitaler
Charakter“! rechtfertigt sich durch die Tatsache, daß, ganz vereinzelte
Fälle vielleicht ausgenommen, der genitale Primat und die orgastische
Potenz (selbst durch eine besondere Charakterstruktur bestimmt) gegenüber
allen anderen Libidostrukturen allein den geordneten Libidohaushalt
gewährleisten.
Die historisch bedingte Qualität der charakterbildenden Kräfte und
Inhalte bestimmt also aktuell die quantitative Regulierung des
Libidohaushaltes und macht dadurch auch an einer bestimmten Stelle den
Unterschied zwischen „gesund“ und „krank“ aus. Mit Bezug auf die
qualitativen Unterschiede sind der genitale und der neurotische Charakter
als Idealtypen aufzufassen. Die realen Charaktere stellen Mischformen dar
und es kommt bloß auf die Entfernung von dem einen oder anderen
Idealtyp an, ob die Libidoökonomie gewährleistet ist oder nicht. Hinsicht-
lich der Quantität der möglichen direkten Libidobefriedigung sind der
genitale und der neurotische Charakter als Durchschnittstypen aufzufassen :
Entweder ist die Libidobefriedigung derart, daß sie die Stauung der unver-
wendeten Libido zu beheben vermag, oder sie ist es nicht; in diesem letzten
Falle entstehen Symptome oder neurotische Charakterzüge, die die soziale
und sexuelle Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.
Wir wollen nun versuchen, die qualitativen Unterschiede der
beiden Idealtypen darzustellen und werden dabei der Reihe nach die Struktur
des Es, des Über-Ichs und schließlich die von beiden abhängigen Eigen-
schaften des Ichs einander gegenüberstellen.
a) Struktur des Es:
Der genitale Charakter hat die postambivalente genitale Stufe (Abraham,
a.a. O.) voll erreicht, der Inzestwunsch und der Wunsch, den Vater (die Mutter)
zu beseitigen, sind aufgegeben worden, die Genitalität wurde auf ein
ı) Siehe dazu die für diese Abhandlung grundlegende Studie von Karl Abraham:
„Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung“ (Int. Ps. A. Bibl., Nr. XXVI, 1925);
insbes. Kap. III.: Zur Charakterbildnng auf der „genitalen“ Entwicklungsstufe.
29*
zz ee Sn
444 Wilhelm Reich
heterosexuelles Objekt übertragen, das nicht etwa, wie beim neurotischen
Charakter, das Inzestobjekt aktuell darstellt, sondern seine Rolle völlig
übernommen hat, oder besser, an seine Stelle getreten ist. Der Ödipus-
komplex existiert aktuell nicht mehr, er ist „untergegangen“;
er ist nicht etwa verdrängt, sondern frei von Besetzung. Analysiert man
genitale Charaktere, so muß, wenn die Analyse überhaupt gelingen
soll, erst die Neubesetzung des Inzestobjekts erfolgen, was gewöhnlich eine
vorübergehende Schädigung der aktuellen Liebesbeziehungen zur Folge hat.
Die prägenitalen Tendenzen (Analität, Oralerotik, Voyeurtum usw.) sind
nicht verdrängt, sondern teils in kulturellen Sublimierungen charaktero-
logisch verankert, teils sind sie an der direkten Befriedigung in den Vorlust-
akten beteiligt und jedenfalls der Genitalität untergeordnet. Der Sexualakt
bleibt das vornehmste und lustvollste Sexualziel. Die Aggressivität ist eben-
falls zum größten Teile in sozialen Leistungen sublimiert, zum geringeren
Teile liefert sie ihren direkten Beitrag zum genitalen Sexualleben, ohne
jedoch jemals zur ausschließlichen Befriedigung zu drängen. Diese Ver-
teilung der Triebkräfte sichert die Fähigkeit zur entsprechenden orgastischen
Befriedigung, die zwar nur auf genitalem Wege, das heißt an der genitalen
Zone zu erzielen ist, aber nicht auf das genitale System beschränkt bleibt,
_ sondern die prägenitalen und aggressiven Tendenzen ebenfalls zur Be-
friedigung bringt. Je weniger prägenitale Ansprüche verdrängt sind, je
besser die Systeme der Prägenitalität mit der Genitalität kommunizieren,
desto vollständiger die Befriedigung, desto geringere Möglichkeiten zur Her-
stellung einer pathogenen Stauung der Libido.
Demgegenüber weist der neurotische Charakter die Eigenschaft auf —
wenn er nicht ab ovo schwach potent ist oder abstinent lebt, was bei der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle zutrifft, — seine freie, unsublimierte
Libido nicht entsprechend im Orgasmus abführen zu können. Er ist immer
relativ orgastisch impotent. Diese Tatsache leitet sich aus folgender
Triebkonstellation ab: Die Inzestobjekte sind aktuell besetzt oder die ihnen
zugehörige Libidobesetzung ist in Reaktionsbildungen aufgebraucht. Wenn
ein Liebesleben überhaupt besteht, so stellt man leicht seinen Infantilismus
fest; die geliebte Frau vertritt bloß die Mutter (Schwester usw.) und die
Liebesbeziehung ist mit allen Ängsten, Hemmungen und neurotischen
Schrullen der infantilen Inzestbeziehung belastet (unechte Übertragung).
Der genitale Primat ist entweder gar nicht vorhanden oder nicht besetzt,
oder aber wie beim hysterischen Charakter durch die Inzestfixierung der
Genitalität funktionsgestört. Die Sexualität bewegt sich — das gilt vor-
nehmlich für die Übertragungsneurosen — in den Bahnen der Vorlust,
wenn nicht Abstinenz oder Sexualscheu vorherrscht. So entsteht eine Zirkel-
a
Der genitale und der neurotische Charakter 445
wirkung: Die infantile Sexualfixierung stört die orgastische Funktion des
genitalen Primats, diese Störung wieder schafft die Libidostauung; die
gestaute Libido verstärkt ihrerseits die prägenitalen Fixierungen und so
fort. Durch diese Überbesetzung und Hochgespanntheit der prägenitalen
Systeme schleichen sich libidinöse Regungen in jede kulturelle und soziale
Leistung ein, was natürlich nur eine Störung zur Folge haben kann, weil
dann die Leistung in assoziative Verbindung mit Verdrängtem, Verbotenem
tritt, ja, gelegentlich sogar völlig zur Sexualbetätigung in verstellter Form
wird (z. B. Violinspielerkrampf). Der libidinöse Zuschuß zur sozialen
Leistung ist nicht frei verfügbar, weil er in der Verdrängung an die
infantilen Triebziele gekettet ist.
b) Struktur des Über-Ichs:
Das Über-Ich des genitalen Charakters zeichnet sich vor allem dadurch
aus, daß es wichtige sexualbejahende Elemente enthält; daher besteht
bis zu einem hohen Grad Einklang zwischen Es und Über-Ich. Da der
Ödipuskomplex seine Besetzung verloren hat, ist auch die Gegenbesetzung
an den Kernelementen des Über-Ichs überflüssig geworden. Man kann
sagen, daß praktisch keine sexuellen Über-Ich-Verbote bestehen. Das Über-
Ich ist nicht sadistisch überlastet, nicht nur aus dem eben genannten Grunde,
sondern auch weil keine Libidostauung besteht, die den Sadismus hoch-
treiben und das Über-Ich grausam machen könnte. Die genitale Libido
ist, da sie direkt befriedigt wird, nicht in den Ichidealstrebungen versteckt,
daher sind die sozialen Leistungen nicht in erster Linie Potenzbeweise wie
beim neurotischen Charakter, sondern gewähren eine natürliche, nicht
kompensierende narzißtische Befriedigung. Da die Potenz in Ordnung ist,
bestehen keine Minderwertigkeitsgefühle. Das Ichideal ist vom Real-Ich
nicht allzuweit entfernt, es besteht daher keine unüberwindbare Spannung
zwischen beiden.
Beim neurotischen Charakter sehen wir hingegen das Über-Ich geradezu
gekennzeichnet durch die Sexualverneinung, wodurch automatisch der
bekannte große Konflikt und Gegensatz zwischen Es und Über-Ich her-
gestellt wird. Da der Ödipuskomplex nicht überwunden ist, ist auch der
Kern des Über-Ichs, das Inzestverbot, voll erhalten und stört jede Art von
Sexualbeziehung (Details beim Sexualakt!). Die mächtige Sexualverdrängung
des Ichs und die in ihrem Gefolge sich einstellende Libidostauung ver-
stärkt die sadistischen Antriebe, die unter anderem in einer brutalen Moral
zum Ausdruck kommen. (Hier muß daran erinnert werden, daß nach
1) Über die Abhängigkeit des Sadismus von der Libidostauung vgl. Kapitel VII
in meinem Buche „Die Funktion des Orgasmus“.
446 Wilhelm Reid
1 u 0
Freuds Ausführungen die Verdrängung die Moral schafft und nicht
umgekehrt) Da immer ein mehr oder minder bewußtes Impotenzgefühl
besteht, werden viele soziale Leistungen in erster Linie kompensierende
Potenzbeweise, was die Minderwertigkeitsgefühle nicht verringert; im
Gegenteil: da die sozialen Leistungen oft Potenzbeweise sind, aber das
genitale Potenzgefühl in keiner Weise ersetzen können, wird der neurotische
Charakter das Gefühl der inneren Leere und Unfähigkeit nie los, er mag
noch so gut kompensieren. So kommt es, daß die positiven Ichideal-
forderungen immer höher geschraubt werden, während das Ich, ohnmächtig
und von Minderwertigkeitsgefühlen doppelt gelähmt (Impotenz und hohes
Ichideal), immer untüchtiger wird.
c) Struktur des Ichs:
Betrachten wir nun die Einflüsse, unter denen das Ich des genitalen
Charakters steht. Die periodischen orgastischen Lösungen der libidinösen
Spannung des Es haben zur Folge, daß sich der Druck der Triebansprüche
des Es auf das Ich beträchtlich vermindert; das Es ist weitgehend be-
friedigt und das Über-Ich hat aus diesem Grunde keinen Anlaß, sadistisch
zu sein: Es übt auf das Ich keinen besonderen Druck aus. Das Ich über-
nimmt die genitale Libido und gewisse prägenitale Strebungen des Es
ohne Schuldgefühl zur Befriedigung und sublimiert die natürliche
Aggressivität sowie Teile der prägenitalen Libido in sozialen Leistungen.
Das Ich ist hinsichtlich der Genitalität nicht gegen das Es eingestellt und
kann ihm um so leichter gewisse Hemmungen auferlegen, als es ihm in der
Hauptsache, in der Libidobefriedigung, nachgibt. Das scheint die einzige
Bedingung zu sein, unter der das Es sich überhaupt vom Ich, ohne die
Mittel der Verdrängung, in Schach halten läßt. Eine starke homosexuelle
Strebung wird sich ganz anders verhalten, wenn das Ich auch die Hetero-
sexualität nicht befriedigt, und anders, wenn keine Libidostauung besteht.
Das ist ökonomisch leichter zu verstehen, weil ja bei der heterosexuellen
Befriedigung — vorausgesetzt, daß die Homosexualität nicht verdrängt,
das heißt aus dem Kommunikationssystem der Libido ausgeschaltet ist —
auch den homosexuellen Strebungen Energie entzogen wird.
Da das Ich sowohl von seiten des Es als auch des Über-Ichs unter
geringem Drucke steht, — was in erster Linie der Sexualbefriedigung
zuzuschreiben ist, — muß es sich nicht gegen das Es in der Weise
wehren, wie das des neurotischen Charakters; es braucht nur geringe
Gegenbesetzungen und hat daher reichlich Energien frei für das Erleben
und Handeln in der Außenwelt; sein Handeln und seine Erlebnisse sind
intensiv, frei strömend; das Ich ist sowohl der Lust als auch der Unlust
ZmamaaaamBmaenanamammaanmmmmaonmimmmmmm———,—— mm
Der genitale und der neurotische Charakter 447
in’hohem Maße zugänglich. Auch das Ich des genitalen Charakters hat
einen Panzer, aber es verfügt über ihn, es ist ihm nicht ausgeliefert.
Dieser Panzer ist schmiegsam genug, um sich den verschiedenen Situationen
des Erlebens anzupassen; der genitale Charakter kann sehr fröhlich, aber
er kann, wenn nötig, auch sehr zornig sein; er reagiert auf Objektverlust
mit entsprechender Trauer, aber er verfällt ihr nicht; er kann intensiv
und. hingebend lieben, aber er kann auch energisch hassen; er kann in
entsprechender Situation kindlich sein, wird aber nie infantil erscheinen;
sein Ernst ist natürlich, nicht kompensierend steif, weil er keine
Tendenz hat, sich partout erwachsen zu zeigen; sein Mut ist kein Potenz-
beweis, sondern sachlich gerichtet; er wird daher auch unter Umständen,
etwa in einem Kriege, wenn er von dessen Unberechtigtheit überzeugt ist,
dem Vorwurf der Feigheit nicht ausweichen, sondern seine Überzeugung
vertreten. Da die infantilen Wunschvorstellungen ihre Besetzung verloren
haben, ist sein Haß ebenso wie seine Liebe rational gerichtet. Die
Schmiegsamkeit sowohl wie die Festigkeit seines Panzers zeigen sich darin,
daß er sich in dem einen Falle der Welt ebenso intensiv öffnen, wie er
in einem anderen Falle sich vor ihr abschließen kann. Seine Hingebungs-
fähigkeit zeigt sich vor allem in seinem sexuellen Erleben: Im Sexualakt
mit dem geliebten Objekt hört das Ich bis auf die Wahrnehmungsfunktion
fast zu existieren auf, der Panzer hat sich vorübergehend völlig gelöst,
die ganze Persönlichkeit strömt im Lusterleben, ohne Angst, sich darin
zu verlieren, denn sein Ich hat eine solide narzißtische Fundierung, die
nicht kompensiert, sondern sublimiert. Und sein Narzißmus schöpft aus
dem Sexualerleben seine besten Energien. Betrachtet man seine aktuellen
Konflikte, so sieht man schon an der Art, wie er sie löst, daß sie rationalen
Charakter haben, nicht belastet sind von Infantilem und Irrationalem,
wieder aus dem Grunde, daß die rationelle Libidoökonomie eine Über-
besetzung der infantilen Erlebnisse und Wünsche unmöglich macht.
Wie der genitale Charakter in keiner Hinsicht steif und krampfhaft
ist, so auch nicht in den Formen seiner Sexualität. Da er befriedigbar
ist, ist er zur Monogamie ohne Zwang oder Verdrängung fähig, aber er
ist bei rationaler Begründung auch schadlos fähig zum Wechsel des Objekts.
Er klebt nicht an seinem Sexualobjekt aus Schuldgefühl oder moralischen
Rücksichten, sondern er hält es aus seinem gesunden Verlangen nach
Lust fest: weil es ihn befriedigt. Er kann polygame Wünsche ohne Ver-
drängung bezwingen, wenn sie in Widerspruch zu seiner Beziehung zum
geliebten Objekt stehen; aber er ist auch imstande, ihnen ohne Schaden
nachzugeben, wenn sie ihn allzusehr stören. Den dadurch entstehenden
aktuellen Konflikt erledigt er in realitätsentsprechender Weise.
Te nn Tee 02020 SDSOOS
448 Wilhelm Reich
Neurotische Schuldgefühle sind kaum vorhanden. Seine Sozialität beruht
nicht auf verdrängter, sondern auf sublimierter Aggression und auf seiner
Eingeordnetheit in die Realität. Das bedeutet aber nicht, daß er sich der
Realität immer beugt; im Gegenteil, gerade der genitale Charakter vermag
infolge seiner der Umgebung widersprechenden Struktur — ist doch unsere
Kultur durchaus zwangsneurotisch (anal und sadistisch) — sie zu kritisieren
und zu verändern; seine geringe Lebensängstlichkeit bewahrt ihn vor
Konzessionen an die Umwelt, die seiner Überzeugung widersprechen.
Wenn der Primat des Intellekts eine Forderung der gesellschaftlichen
Entwicklung und ihr Ziel ist, so ist er ohne den genitalen Primat undenkbar,
weil die Vorherrschaft des Intellekts nicht nur dem irrationellen Sexual-
leben ein Ende macht, sondern gerade selbst die geordnete Libidoökonomie
zur Voraussetzung hat. Genitaler und intellektueller Primat gehören ebenso
zueinander, einander wechselseitig bedingend, wie Libidostauung und
Neurose, Über-Ich (Schuldgefühl) und Religion, Hysterie und Aberglauben,
prägenitale Libidobefriedigung und die heutige Sexualmoral, Sadismus und
Ethik, Sexualverdrängung und Vereine zur Hebung gefallener Mädchen.
So wie beim genitalen Charakter der geregelte Libidohaushalt, getragen
von der Fähigkeit zum sexuellen Vollerleben, die Basis ist, auf der sich
‘ die beschriebenen Charakterzüge aufbauen, so wird alles, was der neuroti-
sche Charakter ist und tut, letzten Endes bestimmt von seinem inadäquaten
Libidohaushalt.
Das Ich des neurotischen Charakters ist entweder asketisch oder der
Sexualbefriedigung nur unter Schuldgefühlen zugänglich. Es steht unter
doppeltem Drucke: auf der einen Seite das ständig unbefriedigte Es mit
seiner gestauten Libido, auf der anderen das brutale Über-Ich. Das Ich ist
feindlich gegen das Es und liebedienerisch gegen das Über-Ich eingestellt,
nicht ohne den Gegensatz, sein Liebäugeln mit dem Es und seiner
geheimen Auflehnung gegen das Über-Ich. Seine Sexualität ist, sofern sie
nicht völlig der Verdrängung erlag, vorwiegend prägenital gerichtet, die
Genitalität ist infolge der herrschenden Sexualmoral anal und sadistisch
gefärbt: Der Akt bedeutet etwas Schmutziges und Grausames. Da die
Aggressivität teils im charakterologischen Panzer, teils im Über-Ich ver-
arbeitet, beziehungsweise verankert ist, sind die sozialen Leistungen defekt.
Das Ich ist entweder gegen Lust und Unlust gesperrt (Affektsperre) oder
nur der Unlust zugänglich oder jede Lust verwandelt sich sehr bald in
Unlust. Der Panzer des Ichs ist starr, wenig oder gar nicht beweglich,
die „Kommunikationen“ mit der Außenwelt sind sowohl in objekt-
libidinöser als auch in aggressiver Hinsicht -unzulänglich, ständig von der
narzißtischen Zensur kontrolliert, Seine Funktion ist vorwiegend gegen das
Der genitale und der neurotische Charakter 449
Innen gerichtet; daraus ergibt sich eine mehr oder minder ausgesprochene
Schwäche der Realitätsfunktion. Die Beziehungen zur Außenwelt sind
entweder unnatürlich, unlebendig oder widersprochen, auf keinen Fall
kann die Gesamtpersönlichkeit harmonisch mitschwingen. Die Fähigkeit
zum Vollerleben fehlt. Während der genitale Charakter seine Schutz-
mechanismen abändern, verstärken und abschwächen kann, ist das Ich des
neurotischen Charakters den unbewußt in der Verdrängung sich abspielenden
Mechanismen seines Charakters völlig ausgeliefert; er kann nicht anders,
auch wenn er will. Er möchte fröhlich oder zornig sein, ist aber dazu
nicht fähig. Er kann weder intensiv lieben, weil seine Sexualität in
wesentlichen Stücken verdrängt ist, noch kann er adäquat hassen, weil
sein Ich sich seinem durch die Libidostauung mächtig gewordenen Haß
nicht gewachsen fühlt und ihn verdrängen mußte. Und wo er Liebe oder
Haß aufbringt, entspricht die Reaktion kaum dem rationalen Tatbestande,
im Unbewußten schwingen die infantilen Erlebnisse mit und bestimmen
das Ausmaß und die Art der Reaktionen. Die Starre seines Panzers macht
es ihm sowohl unmöglich, sich irgendeinem Erleben zu öffnen, wie es
ihn verhindert, sich gegen andere Erlebnisse, wo es rational berechtigt
wäre, gänzlich abzuschließen. Ist er‘ nicht sexualscheu oder bei den vor-
bereitenden Aktionen des Sexualaktes gestört, so kommt es entweder über-
haupt zu keiner Befriedigung oder sie ist durch den Mangel an Hingebungs-
fähigkeit so weit gestört, daß der Libidohaushalt nicht geregelt wird. Bei
der genauen Analyse des Erlebens während des Sexualaktes lernt man
Typen unterscheiden, etwa den narzißtischen Menschen, der nicht dem
Lustempfinden zugewendet, sondern darauf konzentriert ist, einen recht
potenten Eindruck zu machen; oder den Hyperästheten, der darauf bedacht
ist, ja keinen Körperteil zu berühren, der sein ästhetisches Empfinden
verletzen könnte; den Menschen mit dem verdrängten Sadismus, der den
Zwangsgedanken nicht los wird, er könnte der Frau weh tun, oder von
Schuldgefühl geplagt ist, daß er die Frau mißbraucht; den sadistischen
Charakter, für den der Akt eine Marterung des Objektes bedeutet; man
könnte beliebig fortfahren. Wo solche Störungen nicht völlig ausgesprochen
sind, findet man die ihnen entsprechenden Hemmungen in der gesamten
Einstellung zur Sexualität. Da das Über-Ich des neurotischen Charakters
keine sexualbejahenden Elemente enthält, wendet es sich vom Sexual-
erleben ab (wie H. Deutsch auch für den Gesunden irrtümlicher-
weise postuliert); das bedeutet aber, daß nur die halbe Persönlichkeit am
Erleben teilnimmt.
Das Impotenzgefühl treibt das Ich dazu, narzißtisch zu kompensieren,
wo der genitale Charakter eine solide narzißtische Fundierung hat. Die
Teen
450 Wilhelm Reicdı
aktuellen Konflikte sind von irrationalen Motiven durchsetzt, was den
neurotischen Charakter unfähig macht, zu rationellen Entscheidungen zu
kommen; die infantile Einstellung, der infantile Wunsch schwingt störend
immer mit.
Sexuell unbefriedigt und unbefriedigbar, muß der neurotische Charakter
schließlich entweder asketisch werden, oder er lebt in starrer Monogamie,
wie er glaubt, aus Moral, oder aus Rücksicht auf den Sexualpartner, in
Wirklichkeit aus Angst vor der Sexualität. Da der Sadismus nicht sublimiert
ist, das Über-Ich streng wütet, das Es ständig auf Befriedigung seiner
Bedürfnisse drängt, entwickelt das Ich Schuldgefühle, die es soziales
Gewissen nennt, und ein Strafbedürfnis, in dem es sich selbst all das
antun möchte, was es dem anderen wünscht.
II) Sublimierung, Reaktionsbildung und neurotische Reaktionsbasis
Wenden wir uns nun den Unterschieden zu, die zwischen den sozialen
Leistungen des genitalen und denen des neurotischen Charakters bestehen.
Wir sagten früher, daß die orgastische Libidobefriedigung und die Sub-
limierung die zulänglichen, die prägenitale Libidobefriedigung und die
Reaktionsbildung die unzulänglichen Mittel sind, die Libidostauung zu
beheben, beziehungsweise der Stauungsangst Herr zu werden. So wie die
orgastische Befriedigung, ist auch die Sublimierung eine spezifische Leistung
des genitalen Charakters, die Reaktionsbildung die Arbeitsweise des neuro-
tischen Charakters. Das will natürlich nicht heißen, daß nicht auch der
Neurotische sublimiert und der Gesunde Reaktionsbildungen hat.
Versuchen wir zunächst, die Beziehung der Sublimierung zur Sexual-
befriedigung nach unseren klinischen Erfahrungen theoretisch zu beschrei-
ben. Die Sublimierung ist nach Freud das Ergebnis der Ablenkung einer
libidinösen Strebung von ihrem ursprünglichen und ihrer Hinlenkung auf
ein „höheres“, sozial wertvolles Ziel. Der Trieb also, der in der Sublimie-
rung befriedigt wird, muß sein ursprüngliches Objekt und Ziel aufgegeben
haben. Aus dieser ersten Formulierung Freuds hat sich schließlich das
Mißverständnis ergeben, daß Sublimierung und Triebbefriedigung über-
haupt Gegensätze sind. Betrachten wir aber die Beziehung der Subli-
mierung zur Libidoökonomie überhaupt, so zeigt uns die alltägliche Er-
| fahrung nicht nur, daß hier keine Gegensätze bestehen, sondern vielmehr,
‚ daß der geordnete Libidohaushalt die Voraussetzung gelungener und
| dauernder Sublimierungen ist. Es kommt nur darauf an, daß diejenigen
| Triebe, die unsere sozialen Leistungen fundieren, nicht zur direkten Be-
f |
' friedigung kommen, nicht aber, daß die Libido überhaupt nicht befriedigt A
werde. Die Psychoanalyse der Arbeitsstörungen lehrt, daß die Sublimie-
| .-
mmmaamamamamamaRaRBRnRBRBRaRaRaRaRaRaRaEaEEERERERBEREREea_aZm ZZ ZZ — — —— ZZ —__u_—mml Tee
Der genitale und der neurotishe Charakter 451
rungen der prägenitalen Libido um so mehr leiden, je größer die Stauung
der Gesamtlibido ist. Sexuelle Phantasien absorbieren die seelischen Inter-
essen, lenken von der Arbeit ab, oder die kulturellen Leistungen werden
selbst sexualisiert und geraten so in den Bereich der Verdrängungsarbeit. '
Die Beobachtung der Sublimierungen des genitalen Charakters zeigt, daß
sie durch die orgastische Befriedigung der Libido immer neu angeregt
werden, daß durch die Erledigung der sexuellen Spannungen Energien für
erhöhte Leistungen frei werden, weil die sexuellen Vorstellungen vorüber-
gehend keine libidinöse Besetzung an sich ziehen. Wir sehen ferner bei
gelungenen Analysen, daß die Leistungsfähigkeit erst dann besonders stark
wird, wenn der Analysand zur vollen Sexualbefriedigung gelangt. Auch
die Haltbarkeit der Sublimierungen ist abhängig von der Regelung des
Libidohaushalts; Patienten, die bloß durch Sublimierung ihre Neurose ver-
loren, weisen einen weit labileren Zustand auf und neigen viel leichter
zur Rezidive, als die, die nicht nur zur Sublimierung, sondern auch zur
direkten Sexualbefriedigung gelangten. So wie die unvollkommene, in erster
Linie die rein prägenitale Libidobefriedigung die Sublimierungen stört,
so werden diese durch die orgastische Genitalbefriedigung gefördert.
Vergleichen wir nun, zuerst rein deskriptiv, die Sublimierung mit der
Reaktionsbildung. An der Erscheinung fällt uns auf, daß die Reaktions-
bildung krampfhaft und zwangsartig ist, die Sublimierung hingegen frei
strömt. Es ist, als ob hier das Es in Einklang mit Ich und Ichideal direkt
mit der Realität in Verbindung stünde, dort hingegen bekommt man den
Eindruck, als ob alle Leistungen von einem strengen Über-Ich einem sich
1) „Man sagt zwar, der Kampf mit dem mächtigen Triebe und die dabei erforder-
liche Betonung aller ethischen und ästhetischen Mächte im Seelenleben ‚stähle‘
den Charakter, und dies ist für einige besonders günstig organisierte Naturen richtig;
zugegeben ist auch, daß die in unserer Zeit so ausgeprägte Differenzierung der in-
dividuellen Charaktere erst mit der Sexualeinschränkung möglich geworden ist,
Aber in der weitaus größeren Mehrheit der Fälle zehrt der Kampf gegen die Sinn-
lichkeit die verfügbare Energie des Charakters auf, und dies gerade zu einer Zeit,
in welcher der junge Mann all seiner Kräfte bedarf, um sich seinen Anteil und seinen
Platz in der Gesellschaft zu erobern. Das Verhältnis zwischen möglicher Sublimierung
und notwendiger sexueller Betätigung schwankt natürlich sehr für die einzelnen Indi-
viduen und sogar für die verschiedenen Berufsarten. Ein abstinenter Künstler
ist kaum recht möglich, ein abstinenter junger Gelehrter gewiß keine Seltenheit.
Der letztere kann durch Enthaltsamkeit freie Kräfte für sein Studium gewinnen,
beim ersteren wird wahrscheinlich seine künstlerische Leistung durch sein sexuelles
Erleben mächtig angeregt werden. Im allgemeinen habe ich nicht den Eindruck
gewonnen, daß die sexuelle Abstinenz energische, selbständige Männer der Tat
oder originelle Denker, kühne Befreier und Reformer heranbilden helfe, weit häufiger
brave Schwächlinge, welche später in der großen Masse eintauchen, die den von
starken Individuen gegebenen Impulsen widerstrebend zu folgen pflegt.“ (Freud,
Ges. Schriften, Bd. V, S. 159.) ö
452 Wilhelm Reich
‚ sträubenden Es aufdiktiert würden. Bei der Sublimierung liegt der Akzent
‚auf dem Effekt der Handlung, wenn auch das Handeln selbst libidinös
"betont ist; bei der Reaktionsbildung kommt es zunächst auf das Tun selbst
an, der Effekt ist ziemlich nebensächlich, und das Handeln ist nicht libi-
dinös betont, sondern negativ bestimmt: Es kann nicht unterlassen werden.
Der Sublimierende kann mit seiner Arbeit auch längere Zeit aussetzen,
die Ruhe ist ihm ebenso wertvoll wie die Arbeit; beim Aussetzen der re-
aktiven Leistung aber stellt sich früher oder später eine innere Unruhe
ein, die sich bei längerer Dauer zu Irritiertheit, ja Angst steigern kann.
Auch der Sublimierende ist gelegentlich irritiert, gespannt, aber nicht, weil
er nicht leistet, sondern weil er seine Leistung sozusagen erst gebiert. Der
Sublimierende will leisten und freut sich an seiner Arbeit; wer reaktiv ar-
beitet, muß —- nach dem treffenden Ausdruck eines Patienten — „roboten“,
und hat er eine Arbeit beendet, so muß er sofort eine neue beginnen,
weil seine Arbeit eine Flucht vor der Ruhe ist. Gelegentlich kann der
Leistungseffekt einer Reaktionsbildung der gleiche sein, wie der einer Sub-
limierung. Gewöhnlich gelingen aber die reaktiven Leistungen in sozialer
Hinsicht weniger als die sublimierten. Jedenfalls würde derselbe Mensch
unter den Bedingungen der Sublimierung weit mehr zustande bringen als
“ unter denen der Reaktionsbildung.
Während bei der Sublimierung keine Verkehrung der Triebrichtung
vorliegt, der Trieb einfach vom Ich übernommen und nur auf ein anderes
Ziel abgelenkt wird, erfolgt bei der Reaktionsbildung eine Verkehrung der
Triebrichtung, der Trieb kehrt sich gegen das Selbst, und nur insoweit diese
Verkehrung erfolgt, wird er vom Ich übernommen. Aus der Besetzung
des Triebes wird bei dieser Verkehrung eine Gegenbesetzung gegen das
unbewußte Triebziel. Als Paradigma kann hier der von Freud beschrie-
bene Vorgang beim Ekel gelten. Das ursprüngliche Ziel behält bei der
Reaktionsbildung im Unbewußten seine Besetzung. Das ursprüngliche Trieb-
objekt wurde nicht aufgegeben, sondern bloß verdrängt. Beibehaltung und
Verdrängung des Triebzieles und -objektes, Verkehrung der Triebrichtung
unter Bildung einer Gegenbesetzung sind die Kennzeichen der Reaktions-
bildung; Aufgeben (nicht Verdrängen) und Eintauschen des ursprünglichen
Triebzieles und -objektes, gleiche Triebrichtung, keine Gegenbesetzung
sind die Kennzeichen der Sublimierung.
Verfolgen wir den Prozeß der Reaktionsbildung weiter. Das wichtigste
ökonomische Moment dabei ist die Notwendigkeit einer Gegenbesetzung.
Da das ursprüngliche Triebziel beibehalten wurde, strömt ihm unaufhör-
lich Libido zu, und ebenso unaufhörlich muß das Ich diese Besetzung in
Gegenbesetzung verwandeln, aus der analen Libido etwa die Energie der
Der genitale.und der neurotische Charakter 453
Ekelreaktion ableiten usw., um den Trieb in Schach zu halten. Die Reak-
tionsbildung ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein ständiger, und wie
wir gleich sehen werden, um sich greifender Prozeß.
Bei der Reaktionsbildung ist das Ich ständig mit sich selbst beschäftigt,
es ist sein eigener strenger Aufpasser. Bei der Sublimierung hat das Ich
seine Energien für die Außenwelt frei. Einfache Reaktionsbildungen, wie
etwa der Ekel und die Scham, gehören zur Charakterbildung jedes Men-
schen. Sie beeinträchtigen die Entwicklung des genitalen Charakters nicht
und bleiben in physiologischen Grenzen, weil keine Libidostauung die
prägenitalen Strebungen verstärkt. Ging aber die Sexualverdrängung zu
weit, betraf sie insbesondere die genitale Libido, so daß eine Stauung der
Libido hinzutrat, so erhalten die Reaktionsbildungen zu viel Zustrom an
libidinöser Energie und zeigen dann eine Eigenschaft, die dem Kliniker
von den Phobien her als phobische Ausbreitung gut bekannt ist.
Als Beispiel sei ein Beamter angeführt, der, wie es sich für einen richtigen
Zwangscharakter geziemt, seine Bureauarbeit äußerst gewissenhaft versah, im
Laufe der Jahre aber, ohne daß ihn die Arbeit im geringsten freute, sich ihr
immer mehr widmete. Als er in die Analyse kam, war es nichts Außer-
gewöhnliches, wenn er bis ı2 Uhr nachts, ja gelegentlich bis 3 Uhr früh
arbeitete. Die Analyse ergab sehr bald, daß erstens sexuelle Phantasien seine
Arbeit störten, er also schon deshalb länger brauchte („Trödeln“), und
zweitens, daß er sich keine ruhige Minute, besonders nicht am Abend, gönnen
durfte, weil dann die überbesetzten Phantasien um so stärker zum Bewußtsein
drängten. In der Nachtarbeit führte er einen Teil der Libido ab, aber der
auf solche Weise unerledigbare große Rest der Libido wuchs immer mehr
an, bis er sich seine Arbeitsstörung nicht mehr verhehlen konnte.
Das Umsichgreifen der Reaktionsbildungen und reak-
tivenLeistungen entspricht also einer ständig wachsen-
den Libidostauung. Wenn schließlich die Reaktionsbildungen nicht
mehr ausreichen, um der Libidostauung Herr zu werden, wenn die
Dekompensation einsetzt, wenn also mit anderen Worten der Charakter
des Ichs in der Aufzehrung der Libido versagt, tritt entweder unverhüllte
neurotische Angst auf oder es entstehen neurotische Symptome, die den
Überschuß an nicht gebundener Angst erledigen.
Die reaktiven Leistungen werden immer rationalisiert. So redete sich unser
Patient auf Überbürdung mit Arbeit aus. Die übertriebene und mechanische
Leistung unseres Beamten hatte nicht nur den ökonomischen Sinn einer
Entspannung und diente nicht nur als Ablenkung von sexuellen Phantasien,
sondern sie hatte auch den Sinn einer Reaktionsbildung gegen seine verdrängten
Haßgedanken gegen den Chef (Vater). Die Analyse zeigte, daß das Bestreben
des Kranken, dem Chef besonders dienlich zu sein, das Gegenteil seiner
unbewußten Absichten darstellte. Man kann solches „Roboten“ nicht letzten
——mmmmmmmaRBmaFRmamamamabahbamamamamRmmmmmmna mm
454 Wilhelm Reich
Endes als Selbstbestrafung deuten. Die Selbstbestrafung ist nur einer von vielen
sinnvollen Inhalten des Symptoms. Im Grunde wollte er sich ja gar nicht strafen,
sondern im Gegenteil vor Strafe schützen. Denn die tiefste Ursache der
Reaktionsbildung war die Angst vor den Folgen seiner sexuellen Phantasien.
So wie die zwangsneurotische Pflichtarbeit, sind auch andere Reaktions-
bildungen nicht imstande, die ganze Stauungsangst zu binden. Denken wir
etwa an die Hypermotorik des weiblichen hysterischen Charakters oder an
die Hyperagilität und Unruhe des neurotischen Bergsteigers. Beide haben
eine mit ungesättigter Libido überladene Muskulatur, beide dringen ständig
zum Objekt vor, das hysterische Mädchen unverhüllt, der Bergsteiger
symbolisch (Berg = Frau—Mutter). Ihre Motilität baut zwar ein Stück Libido
ab, erhöht aber gleichzeitig die Spannung dadurch, daß sie keine End-
befriedigung gewährt; so kommt es, daß das betreffende Mädchen schließlich
hysterische Anfälle bekommt, der neurotische Bergsteiger aber immer
anstrengendere und gefährlichere Bergtouren unternehmen muß, um seiner
Stauung Herr zu werden. Da dem aber eine natürliche Grenze gesteckt
ist, bricht schließlich eine Symptomneurose durch, wenn er nicht, wie es
so oft vorkommt, in den Bergen verunglückt.
Es empfiehlt sich, die Summe aller Mechanismen, die der Aufzehrung
der gestauten Libido und der Bindung der neurotischen Angst in Charakter-
zügen dienen, diecharakterologischeReaktionsbasis zu nennen.
Versagt diese in ihrer ökonomischen Funktion wegen zu weitgehender
Sexualeinschränkung, so wird sie zurneurotischen Reaktionsb asis,
auf deren Beseitigung es dann in der analytischen Behandlung letzten
Endes ankommt. Die umsichgreifende Reaktionsbildung ist nur eine der
Mechanismen der neurotischen Reaktionsbasis.
Die Exazerbation des neurotischen Charakters mag früher oder später
erfolgen; in jedem Falle kann festgestellt werden, daß ein neurotischer
Charakter seit der frühen Kindheit, seit der Konfliktzeit des Ödipusalters
bestand. Das neurotische Symptom weist gewöhnlich eine qualitative
Zugehörigkeit zu seiner neurotischen Reaktionsbasis auf. So steigert sich,
um einige Beispiele zu nennen, die zwangsneurotische Überordentlichkeit
eines Tages bei entsprechendem Anlaß zum Ordnungszwang, der anale
Charakter zur Obstipation, die charakterologische Befangenheit zum krank-
haften Erröten, die hysterische Agilität und Koketterie zum hysterischen
Anfall, die charakterologische Ambivalenz zur Entschlußunfähigkeit, die
Sexualscheu zum Vaginismus, die Aggressivität oder die Übergewissen-
haftigkeit zum Mordimpuls.!
ı) Nicht immer aber entspricht das neurotische Symptom qualitativ seiner
Reaktionsbasis. Es kommt vor, daß das Symptom eine Abwehr der überschüssigen
TE TTTTTä—_äöä) EEE
Der genitale und der neurotische Charakter 455
Ein Überblick über die Ergebnisse dieser Untersuchung mahnt uns, die
Unterscheidung zwischen dem neurotischen und dem genitalen Charaktertyp
so plastisch als möglich zu fassen. Da die Unterscheidung auf einem
quantitativen Kriterium beruht (dem Ausmaß der direkten Sexualbefriedigung
und der Libidostauung), ergeben sich zwischen den Idealtypen unendlich
viele Zwischenglieder realer Charakterformen. Trotzdem scheint eine
typologische Untersuchung wegen ihres heuristischen Wertes und der
Gesichtspunkte, die sie bei der praktischen Arbeit liefert, nicht nur
gerechtfertigt, sondern sogar geboten. Da diese Arbeit nur einen schwachen
Ansatz zu einer genetischen Typenlehre darstellt, muß sie auf den Anspruch
verzichten, allen Fragen gerecht zu werden, die sich aus der Problem-
stellung „Typenlehre“ ergeben. Ihre Aufgabe ist vorderhand erfüllt, wenn
es ihr gelungen ist, zu überzeugen, daß die einzig. legitime Grundlage
einer psychoanalytischen Charakterologie die uneingeschränkte und konsequent
durchdachte Freudsche Libidotheorie ist.
Angst auf höherer oder niederer Libidostufe bedeutet. So kann ein hysterischer
Charakter einen Waschzwang, ein Zwangscharakter eine hysterische Angst oder ein
Konversionssymptom entwickeln. Es braucht wohl kaum weitschweifig ausgeführt zu
werden, daß die realen Fälle unserer Praxis meist Mischformen darstellen, mit
Überwiegen der einen oder der anderen Charakterform. Es empfiehlt sich aber, die
Diagnose nicht nach den Symptomen, sondern nach dem neurotischen Charakter zu
stellen, der den Symptomen zugrunde liegt. So wird man etwa trotz des Konversions-
symptoms, um dessentwillen der Kranke uns aufsucht, die Diagnose Zwangsneurose
stellen, wenn sein Charakter vorwiegend zwangsneurotische Züge aufweist,
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungs-
widerstandes
Von
Richard Sterba
Wien
Neben der Deutung der Inhalte des Unbewußten kommt ein ganz be-
trächtlicher Anteil der analytischen Arbeit der Deutung und Auflösung der
Widerstände zu, da ja die Auflösung der Widerstände die Inhaltsdeutung
und damit die Leistung der Rekonstruktion, die von der Analyse gefordert
wird, erst ermöglicht. Die Untersuchung der Dynamik der Lösung einer
Gruppe von Widerständen, der Übertragungswiderstände, hat sich diese Arbeit
zur Aufgabe gemacht. Die Übertragungswiderstände erscheinen deshalb als
von besonderer Wichtigkeit, weil sie, im Verlaufe der Kur ständig auftauchend,
häufig den Sammelplatz für Widerstände aus anderen Gruppen bilden.
Bevor wir uns der Dynamik der Lösung dieser Widerstände zuwenden,
ist es notwendig, sich über die Dynamik der Entwicklung des Übertragungs-
widerstandes selbst zu informieren. Hören wir zunächst, was Freud über
die Genese des Übertragungswiderstandes schreibt:
„Verfolgt man einen pathogenen Komplex von seiner (entweder als Sym-
ptom auffälligen oder auch ganz unscheinbaren) Vertretung im Bewußten
gegen seine Wurzel im Unbewußten hin, so wird man bald in eine Region
kommen, wo der Widerstand sich so deutlich geltend macht, daß der
nächste Einfall ihm Rechnung tragen und als Kompromiß zwischen seinen
Anforderungen und denen der Forschungsarbeit erscheinen muß. Hier tritt
nun nach dem Zeugnisse der Erfahrung die Übertragung ein. Wenn irgend
etwas aus dem Komplexstoff (dem Inhalt des Komplexes) sich dazu eignet,
auf die Person des Arztes übertragen zu werden, so stellt sich diese Über-
tragung her, ergibt den nächsten Einfall und kündigt sich durch die An-
zeichen eines Widerstandes, etwa durch eine Stockung, an. Wir schließen
aus dieser Erfahrung, daß diese Übertragungsidee darum vor allen anderen
Einfallsmöglichkeiten zum Bewußtsein durchgedrungen ist, weil sie auch
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 457
dem Widerstande Genüge tut. Ein solcher Vorgang wiederholt sich im
Verlaufe einer Analyse ungezählte Male. Immer wieder wird, wenn man
sich einem pathogenen Komplexe annähert, zuerst der zur Übertragung be-
fähigte Anteil des Komplexes ins Bewußtsein vorgeschoben und mit der
größten Hartnäckigkeit verteidigt.“ (Zur Dynamik der Übertragung, Ges.
Schriften, Bd. VI, S. 58.)
Die Entwicklung des Übertragungswiderstandes geschieht nach Freuds
Schilderung also so, daß aus dem nahe dem Vorbewußten liegenden Material
sich jener Anteil ins Bewußtsein vorschiebt und des Analytikers bemächtigt,
der zur Übertragung geeignet ist. Der Analytiker wird zur gehaßten, ge-
liebten oder gefürchteten Person, je nach der Einstellung, die dem Wider-
stand gegen den Fortgang der Analyse, also der Verhinderung des Auf-
tauchens unbewußten Materiales jeweils günstig ist. Es ist vielleicht für
das Verständnis des Folgenden vorteilhaft an einem konkreten Fall zu schildern,
wie die Übertragung gerade als Widerstand gegen die Forschungsarbeit der
Analyse sich entwickelt. Der Fall, der nach 20 Monaten Analyse symptom-
frei und charakterologisch günstig verändert entlassen werden konnte, eignet
sich deshalb zur Untersuchung, weil bei ihm ein bestimmter Übertragungs-
widerstand für eine große Zeitstrecke der Analyse als wichtigstes Hindernis
für den Fortgang der Kur eine entscheidende Rolle spielte.
Ein 27 jähriger abgebauter Bankbeamter sucht die Analyse wegen folgender
Symptome auf: Er leidet an Depressionen, beklagt sich über seine allgemeine
Inaktivität, ferner über Kopfschmerzen, die häufig recht quälend sind. Vor
allem aber leidet er an einer Eßstörung, die bereits zu einer beträchtlichen
Abmagerung geführt hat. Er muß alle Speisen sehr lange kauen, faseriges
Fleisch und häutige Früchte oft wieder ausspucken, denn er hat Angst, beim
Schlucken zu ersticken. Er hat eine Zeitlang nach Ausbruch der Eßstörung,
die ı'/,Jahre vor Beginn der Behandlung erfolgt ist, nur von Milch und
Schokoladebonbons gelebt. Gleichzeitig besteht eine Sexualstörung im Sinne
einer schwereren Ejaculatio praecox. Häufig ist der Patient obstipiert; seit
Ausbruch der Neurose quält ihn ein beträchtlicher Pruritus ani. Charaktero-
logisch gehört der Patient in die Gruppe der passiv-femininen Charaktere;
er ist sehr devot, sehr folgsam, gegen jedermann unterwürfig und voll
Angst, daß er niemanden beleidige. Er ist enorm feig; bisweilen aber,
wenn auch nicht häufig, kommt es vor, daß er gerade gegen Personen, die
er sehr fürchtet, besonders gegen Vorgesetzte, außer Reichweite Anfälle von
blindem Haß entwickelt. In solchen Haß- und Wutanfällen weit hinter dem
Rücken des Veranlassers pflegt er aufs unflätigste zu schimpfen, um sich
bei nächster Begegnung neuerlich devot gegen den Betreffenden einzustellen.
Die Symptome entwickelten sich allmählich, als der Vater des Patienten
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/s. 30
m, mamma — —
458 Richard Sterba
etwa zwei Jahre vor Beginn der Analyse an einer Angina pectoris erkrankte.
Sieben Monate vor Beginn der Analyse war der Vater des Patienten gestorben.
Seit diesem Ereignis hatten sich seine Symptome sehr verstärkt. Er begann
vor allem unter quälenden Gedanken an den Tod zu leiden. Er sah sich
selbst im Grabe liegen, er mußte bei jedermann nachrechnen, wie lange
der wohl noch zu leben haben werde, u. dgl. m. Die Kopfschmerzen und
die allgemeine Depression steigerten sich erheblich. Seit dem Tode des Vaters
hatte er sich bereits mehrere Male um bedeutendere Summen gebracht, und
die Art, wie er dies zustande gebracht hatte, zeigte deutlich, daß eine Tendenz
bestand, das Geld zwanghaft zu verlieren. Das Geld spielte im Seelenleben
des Patienten überhaupt eine zentrale Rolle. Sein ganzes Sinnen und Trachten
war auf Gewinn und Verdienen gerichtet, seine Phantasien beschäftigten
sich fast ausschließlich mit diesem Thema. Um das Geld zentriert sich auch
eine im Ausgang der Pubertät wiederholt ausgeführte Symptomhandlung.
Sie bestand darin, daß der Patient der Mutter Geld stahl, um es für Bordell-
besuche zu verwenden. Das Geld aber hatte die Mutter heimlich dem Vater
entwendet, da dieser aus Geiz zu wenig Geld für die Bestreitung des Haus-
haltes geben wollte. Diese symbolische Handlung der Geldentwendung
stellte sich bald ins Zentrum der analytischen Situation.
Von der Entwicklung der Übertragungssituation und des von ihr aus-
gehenden Widerstandes ist folgendes zu berichten: Der Patient zeigte mit
Beginn der Analyse mir gegenüber die gleiche servile und devote Haltung
wie überall.‘ Er war außerordentlich bestrebt, der analytischen Grundregel
genau Folge zu leisten. Aber nach wenigen Wochen schon stellten sich bei
ihm Gedanken ein, deren Auftauchen ihm äußerst peinlich war und die er
ängstlich bemüht war, von sich abzuwehren, weil sie als Sticheleien und
Feindseligkeiten gegen den Analytiker hätten betrachtet werden können.
Wenn er zum Beispiel meinen Hut im Vorzimmer hängen sah, dachte er
unwillkürlich: „No, der gefällt mir nicht“, erschrak aber sehr über diesen
Gedanken, da doch der Hut mein Eigentum sei und er doch etwas Böses
im Zusammenhang mit mir nicht denken dürfe. Derartige Einfälle traten
anfangs selten, später zunehmend auf; gleichzeitig bekam der Patient Angst
vor solchen Einfällen und vor der Analyse, resp. vor dem Analytiker. Diese
ı) Es ist oft charakteristisch, wie Patienten die Tatsache des In-Analyse-Seins be-
zeichnen. So sagte der Patient immer, wenn von seiner Analyse die Rede war: Ich
lasse mir die Analyse machen, damit oder weil... Diese Bezeichnung
stand in grellem Gegensatz dazu, wie eine ebenfalls zu jener Zeit bei mir in Behandlung
stehende Patientin mit stark viriler und narzißtischer Haltung diese Tatsache bezeichnete.
Wenn sie von ihrer Analyse sprach, so gebrauchte sie regelmäßig die Worte: Ich
mache die Analyse, weil oder damit...
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 459
ee TE de
Angst wurde allmählich so mächtig, daß sie seine Einfälle im weiteren
drosselte und den Fortgang der Analyse für lange Zeit aufhielt, da sie sich
zu einem Denkverbot auswuchs. Einfälle, die sich auf meine Person und
meine Umgebung bezogen, wurden auf das ängstlichste vermieden; wenn
der Patient z. B. im Wartezimmer saß, wagte er es nicht, sich umzusehen,
da er fürchtete, es könnte ihm irgend etwas im Zimmer unangenehm auf-
fallen und es könnte sich ein feindseliger Gedanke gegen mich daran an-
schließen. Eingeleitet wurde diese Phase der Analyse durch einen Traum,
in dem der Patient von der Polizei einer Gelddefraudation wegen gesucht
wird und in große Angst gerät. Dieser Traum war als ein Übertragungs-
traum zu deuten, der Analytiker war dabei durch die Polizei ersetzt worden.
Es erwies sich auch nach kurzer Zeit, daß es sich bei dieser Angstentwicklung
um eine Übertragung vom Vater her handelte.
Die Angst machte den freien Gebrauch der Grundregel unmöglich, da
sie die Einfälle hemmte, die sich gegen meine Person richteten. Sie ver-
hinderte damit aber das Bewußtwerden einer der mächtigsten und auf die
Symptomatik des Patienten einflußreichsten Strebungen seines Seelenlebens,
nämlich des Hasses gegen den Vater. Es ist hier deutlich, wie die Über-
tragung im Dienste des Widerstandes steht, offensichtlich im Dienste des
Verdrängungswiderstandes und des Widerstandes, ausgehend vom unbe-
wußten Schuldgefühl und vom Wiederholungszwang. Die Angst vor dem
Vater stand aber gleichzeitig im Zentrum seiner Neurose. So stand z. B.
das orale Symptom der Erstickungsangst beim Essen in inniger Beziehung
zur Angst vor dem Vater, denn in diesem Symptom erlebte der Patient
eine Identifizierung mit dem Vater als Strafe für die Todeswünsche, die
er gegen den Vater richtete. Die tödliche Erkrankung des Vaters war, wie
bereits berichtet, eine Angina pectoris mit Erstickungsanfällen, besonders
während des Essens, gewesen. In tieferer Schichte freilich erwies sich das
Symptom als der Ausdruck der Abwehr einer libidinösen Einstellung zum
Vater auf Grund einer masochistisch-passiven Identifizierung mit der Mutter.
Die Analyse des libidinösen Anteiles dieses Symptoms führte auf eine
Kindheitsbeobachtung aus dem vierten Lebensjahr. Der Vater pflegte die
Gänse, die von der Familie gehalten wurden, eigenhändig zu stopfen. Der
kleine Junge war nun einmal dabei, wie eine Gans bei dieser grausamen
Prozedur unter den Händen des Vaters erstickte. Im Symptom der Er-
stickungsangst beim Essen festerer Speisen wird die auf die orale Zone
verschobene Kastrationsangst als Folge der passiv-femininen Einstellung in
der Identifizierung mit der erstickenden Gans = Mutter deutlich. Es soll
aber hier auf die libidinöse Beziehung zum Vater nur soweit eingegangen
werden, als es zur Vermeidung einer fehlerhaft einseitigen Darstellung
30*
———_—_—_—_—_—_—_—_—&dhhddhdüOü&d mm mm —————>
460 Richard Sterba
notwendig ist; im großen und ganzen soll sie der Klarheit des Gedanken-
ganges, den die Arbeit entwickelt, zuliebe ausgeschaltet werden.
Es wurde also die zentrale neurotische Reaktion des Patienten, die Angst,
gleich im Beginne der Analyse in Beziehung zum Analytiker gebracht.
Die Folge dieser Angstentwicklung, die den Analytiker in der Übertragung
vom Vater her zum Objekt wählte, war die Verhinderung des Eingeständnisses
gerade jener seelischen Regungen, als deren Konsequenz die Angst ursprünglich
entwickelt wurde. Wie so häufig, muß auch hier der Erfolg eines seelischen
Geschehens als dessen Motiv betrachtet werden. Es wird dann deutlich,
daß die Angst vor dem Analytiker in der Übertragung vom Vater zum
Zwecke des Widerstandes entwickelt wurde. Wir finden übrigens eine ganz
ähnliche Wiederbelebung einer infantilen Angst in der Übertragung, wie
in unserem Falle, bei Freud in der „Geschichte einer infantilen Neu-
rose“ beschrieben. Dort heißt es: „Das erste der ‚passageren Symptome‘.
welches der Patient in der Behandlung produzierte, ging noch auf die
Wolfsphobie und auf das Märchen von den sieben Geißlein zurück. In
dem Zimmer, wo die ersten Sitzungen abgehalten wurden, befand sich eine
große Wandkastenuhr gegenüber vom Patienten, der, abgewandt von mir,
auf einem Diwan lag. Es fiel mir auf, daß er von Zeit zu Zeit das Ge-
sicht zu mir kehrte, mich sehr freundlich, wie begütigend ansah und
dann den Blick von mir zur Uhr wendete. Ich meinte damals, er gebe
so ein Zeichen seiner Sehnsucht nach Beendigung der Stunde. Lange Zeit
später erinnerte mich der Patient an dieses Gebärdenspiel und gab mir
dessen Erklärung, indem er daran erinnerte, daß das jüngste der sieben
Geißlein ein Versteck im Kasten der Wanduhr fände, während die sechs
Geschwister vom Wolf gefressen würden. Er wollte also damals sagen: Sei
gut mit mir. Muß ich mich vor dir fürchten? Soll ich mich wie das
jüngste Geißlein im Wandkasten vor dir verstecken?“ — Die „lange Zeit
später“ erfolgende Ersetzung des Agierens in der Analyse durch die Re-
konstruktion und Erinnerung der Infantilgeschichte weist auch dort, ob-
wohl von Freud nicht direkt ausgesprochen, auf den Widerstandscharakter
der Übertragungssituation hin. Wir wissen aus der Dauer der Analyse des
Wolfsmannes und aus dem Nachtrag, den R.Mack Brunswick zu ihr
geliefert hat, daß die Widerstände dieses Patienten ganz besonders große
waren und schließlich nur einem Gewaltakt, der Terminsetzung,
weichen wollten. Aus der Ubiquität der Kastrationsangst und aus dem
Reichtum ihrer Verarbeitung in neurotischen Symptomen ergibt sich, daß
so überaus häufig gerade die Kastrationsangst im Übertragungswiderstande.
eine Rolle spielt.
ı) Ges. Schr., Bd. VIII, S. 477 f.
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 461
Jede infantile Einstellung, der das Ich notwendigerweise abwehrend
gegenübersteht, wird zum Zwecke des Widerstandes in der Übertragung
auftauchen können. So vor allem die Liebesstrebung des positiven oder
negativen Ödipuskomplexes, die sadistische Aggression, die prägenitalen
Triebeinstellungen usf. Aus dem Widerstandscharakter der Übertragung
in der Analyse ergibt sich nun typischerweise folgendes: Der Patient
reproduziert im Erleben, um der Erinnerung zu entgehen. Die Reproduktion
des Erlebens führt zur Abwehr von seiten des Ichs, die sich notwendiger-
weise gegen die Analyse richtet, da der Analytiker in der Übertragung
als das Objekt der vom Ich abgewehrten seelischen Strebung erscheint.
Die Übertragung steht so im Dienste der Verdrängung, deren Behebung
sich die Analyse zur Aufgabe gemacht hat. Wenn der Patient in unserem
Falle den Analytiker zur Vaterimago werden läßt, vielleicht ist es deut-
licher, zu sagen: als seinen Vater erlebt, so richtet sich dieses Erleben
gegen das Auftauchen — Erinnern — jener, die Abwehr des Ichs for-
dernden seelischen Strebungen, die den Vater zum Objekt haben. Wenn
es in der Arbeit Freuds „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, heißt:
„Je größer der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch
das Agieren (Wiederholen) ersetzt sein“, so entspricht dies notwendig der
Genese des Übertragungswiderstandes. Mit dem Agieren in der Analyse
wird der welcher Quelle immer entstammende Widerstand zum Übertra-
gungswiderstand.
Dem Analytiker fällt nun die Aufgabe zu, diesen Übertragungswider-
stand, der dem Fortgang der Analyse hinderlich ist, zu überwinden. Er
befindet sich dabei in einer schwierigen Situation. Denn gerade an ihm
geschieht ja das Erleben, das die Erinnerung, die er als Analytiker fordert,
verhindern soll. So steht er gewissermaßen einem circulus vitiosus gegen-
über, den er zu unterbrechen hat. Das Mittel, das ihm für diese Unter-
brechung zu Gebote steht, ist die Deutung des Widerstandes. Zunächst
über die Handhaben dieser Deutung. Sie werden dargestellt durch das in
der Analyse agierte Erlebnismaterial. Der Deutung des Widerstandes muß
also notwendigerweise ein Verstehen des Agierens vorausgehen. Der Um-
stand, daß das durch den Übertragungswiderstand bedingte, agierte Erleben
in der Analyse das Material enthält, dessen Erinnerung der Widerstand
gilt, ergibt die Möglichkeit, das für die Deutung notwendige Verständnis
des Widerstandes zu gewinnen. In der Art der Äußerung der agierten
seelischen Strebung, in ihrer zeitlichen Verbindung mit gewissen Neben-
umständen, in der Parallelführung jetziger mit infantilen, vom Patienten
gewissermaßen noch harmlos berichteten Situationen liegen dem Analyti-
ker Erkennungsmöglichkeiten offen. Häufig sind es die sogenannten Über-
Krane m nn man nen
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462 Richard Sterba
tragungsträume, die Klarheit darüber verschaffen, an welchem infantilen
Objekt und was in der Analyse zum Zwecke des Widerstandes wiederholt
wird.
In unserem Falle ergab sich das Verständnis des Übertragungswider-
standes sehr bald. Die in der vierten Analysenstunde berichtete Symptom-
handlung in der Pubertät, welche darin bestand, daß der Patient auf dem
Wege über die Mutter dem Vater Geld entwendete, um es zu Bordell-
besuchen zu verwenden, und der wenige Wochen später auftretende Traum
von der Polizei, die ihn einer Defraudation wegen suche, ließen die Über-
tragungssituation und die Abwehr, zu deren Zweck sie hergestellt wurde,
sofort verstehen. Dies um so mehr, als der Haß, mit dem der Patient dem
Großkapital gegenüberstand, sich auch auf die Polizei erstreckte, deren Ver-
bindung mit dem Kapital zu dessen Schutz den Patienten wiederholt
empört hatte. Abgewehrt wurde die Aufdeckung der feindseligen Regungen
und der Kastrationswünsche gegenüber dem Vater. Die Abwehr erfolgte
unter der Form der Angst. Denn in der Folge des Traumes von der
Gelddefraudation trat bei dem Patienten die Angst auf, es könnte ihm
etwas Feindseliges gegen mich einfallen. Er ertappte sich auch in dieser
Zeit wiederholt bei dem Gedanken, er könnte bei einem ihm befreundeten
Großkaufmann, der ihn sehr unterstützte, Waren entwenden. Er erschrak
über solche Gedanken heftig, weil es ihm äußerst peinlich war, daß er
sie in der Analyse werde mitteilen müssen. Er hatte mich in verschie-
denen Träumen wiederholt mit jenem Großkaufmann identifiziert.
Bald nachdem diese Zusammenhänge erkannt waren, wurde dem Patienten
eine Deutung seines Übertragungswiderstandes gegeben. Sie bestand darin,
daß dem Patienten an Hand des Materiales erklärt wurde, daß er sich doch
gegen den Analytiker so verhalte wie gegen den Vater, und daß dies von
ihm geschehe, um die Kur an ihrem Fortgang zu hindern. Es wurde ihm
klar zu machen versucht, daß er die Feindseligkeit gegen den Vater, von
der ihm einiges wenige bewußt war, doch gerade dann nicht werde mit-
teilen können, wenn er sich so verhalte, als ob der Analytiker sein Vater
sei und er daher unbewußte Feindseligkeit und konsekutive Angst wie
früher dem Vater nun dem Analytiker gegenüber entwickle. Er wurde
dabei darauf aufmerksam gemacht, daß die Angst vor bösen Einfällen
gegen den Analytiker eine Folge der Bereitschaft zu solchen Einfällen und
eigentlich der Beweis einer inneren unbewußten Feindseligkeit sei. — Wir
wollen uns zunächst fragen, welches denn der Sinn einer solchen Deutung
der Übertragungssituation ist und welchen Effekt man sich von ihr ver-
spricht. Durch die Deutung der Übertragungssituation und des aus ihr
entspringenden Widerstandes versucht der Analytiker das Ich des Patienten
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 463
als das Kontrollorgan der Realität der in der Übertragungssituation wieder-
holten triebhaften Aktion gegenüberzustellen. Das Ich des Patienten steht
in der Übertragung unter der Einwirkung der triebhaften Strebungen des
Es, auf die es in unserem Falle mit Angst reagiert. Der Analytiker kommt
dem durch die triebhaften Es-Strebungen bedrängten Ich des Patienten
zu Hilfe, indem er ihm die Möglichkeit zu einer Identifizierung bietet,
die der Realitätsprüfung des Ich Genüge leistet. Diese Identifizierung der
realitätsgerechten Anteile des Ich des Patienten mit dem Analytiker wird
ermöglicht durch die unentwegte, affektreaktionsfreie Betrachtung und Er-
klärung der psychologischen Situation von seiten des Analytikers, die wir
eben als Deutung bezeichnen. Die Aufforderung zur Identifizierung geht
vom Analytiker selbst aus. Er spricht schon im Beginne der Behandlung
von „gemeinsamer Arbeit“, die im Verlaufe der Kur zu leisten sein wird;
vom Analytiker häufig gebrauchte Redewendungen, wie: „Wir wollen uns
doch einmal zusammen anschauen, was Sie da eigentlich gedacht-geträumt-
getan haben“ enthalten eine solche Aufforderung zur Identifizierung an
das Ich des Patienten, ja in jedem „wir“, das der Analytiker auf den
Patienten und sich anwendet, ist sie enthalten. Diese Identifizierung mit
‚dem Analytiker wird, wie bekannt, getragen I) vom Genesungswunsch des
Patienten, 2) von der positiven Übertragung. Diese trägt den stärksten
Anteil; allerdings sind gerade unbewußte Anteile dieses libidinösen Faktors
befähigt, die Kur empfindlich zu stören. In unserem Falle trägt der Glaube
an die Autorität des Vaters viel zur Identifizierungsbereitschaft bei; die
unbewußte passiv-feminine Einstellung mit der ihr zukommenden Kastrations-
gefahr andrerseits aber erhöht die Angstentwicklung; hier wirken also
Anteile der positiven Übertragung im Sinne des Übertragungswiderstandes.
Als auf ein 3) stützt sich schließlich die Identifizierung auf die narzißtische
Befriedigung des Miterlebens der intellektuellen Erkenntnisleistung in
der Analyse.
Der Analytiker ist also mit Hilfe der Deutung bemüht, Anteile des
Ichs des Patienten, und zwar solche, von denen die Realitätsprüfung aus-
geht, zu entzweien mit solchen, die die Exekutoren der unbewußten
triebhaften Wünsche sind oder von der Unterdrückung dieser Wünsche in
Anspruch genommen sind, in unserem Falle also die Angstreaktion liefern.
Er drängt durch die Deutung das agierende Erleben gewissermaßen von
den realitätsgerechten Anteilen des Ichs zurück, er dämpft das Mitschwingen
der infantilen Wiederholung in der aktuellen Situation ab. Die Dynamik
dafür liefert ihm die oben beschriebene Identifizierung des Patienten mit
‚dem Analytiker. Die Deutung versucht also eine wenn auch nur passagere
Ichstärkung gegenüber der triebhaften Aktion zu erzielen. Die Möglichkeit
em——umen—;
464 Richard Sterba
LT ——————— 00
und Fähigkeit zu der für die Wirksamkeit der Deutung notwendigen
Identifizierung ist eine Voraussetzung bei analysefähigen Patienten, worauf
in der analytischen Literatur schon wiederholt hingewiesen wurde.
Wir wissen aus der Erfahrung, daß der Prozeß der Abdrängung der
vom Unbewußten in Anspruch genommenen Anteile des Ichs von den
‚ realitätsprüfenden und -gerechten Anteilen nicht auf eine erste Deutung
‚ gelingt, sondern daß die Deutung wiederholt werden muß. Sie kann dabei
‚durch inzwischen aufgetauchtes Material in ihrer Beweiskraft gestärkt sein,
also auf eine Vertiefung der Identifizierung durch stärkere Stützung von
der intellektuellen Seite her rechnen. Oder sie kann in eine Phase stärkerer
Zuneigung des Patienten fallen, also durch eine libidinöse Verstärkung
der Identifizierungsbereitschaft wirksamer werden. Wir wissen, daß auch
dann oft die Isolierung des Ich von der triebhaften Aktion anfangs nur
‚auf kurze Zeit, auf eine Analysenstunde, ja oft nur auf eine kurze Zeit-
spanne innerhalb einer Analysenstunde sich beschränkt und die triebhafte
Aktion sofort wieder ihre Rechte auf das Ich geltend macht. In diesen
kurzen Phasen aber, in denen aus der Identifizierung mit dem Analytiker
das Agieren unterbrochen wird, gelingt es, dieser kurzdauernden dynamischen
Wirkung ein Stück topische Änderung beizugesellen: zum vorher agierten
Material wird ein Stück erinnert. Mit der topischen Änderung aber ist
aus der passageren Ichstärkung durch Identifizierung bereits eine Ichstärkung
durch Erweiterung des Machtbereiches des Ichs über bisher unzugänglich
gewesene Anteile des Unbewußten geworden. Über das ökonomische
Problem der Deutung des Übertragungswiderstandes wird später noch
einiges zu sagen sein.
Bei unserem Patienten war das Verständnis für die Übertragungssituation
anfänglich kein großes. Sein Ich war sichtlich allzusehr mit der Trieb-
abwehr und der Angstproduktion beschäftigt. Ja, im Gegenteil erhöhte die
Deutung, so vorsichtig sie gegeben worden war, anfangs die Angstbereit-
schaft und vor allem die servile und demütige Haltung. Aber schon nach
kurzer Zeit gelang es, dem Patienten die Parallele zwischen gefürchtetem
Vater und Analytiker deutlich zu machen. Er begann sich an die Angst
zu erinnern, die er vor dem Vater empfunden hatte, und die zum großen
Teil bei ihm in Vergessenheit geraten war. Zunächst erinnerte er sich an
die Angst, die sich bei ihm unmittelbar nach dem Tode des Vaters ein-
gestellt hatte. Er hatte es schon vermieden, zum Begräbnis des Vaters, der
im Ausland gestorben war, zurecht zu kommen, obwohl es ihm möglich
gewesen wäre, da er ja um den baldigen Tod des Vaters gewußt hatte
und ständig zur Heimreise hätte vorbereitet sein können. Er erinnerte sich
ferner an die erste Nacht, die er nach dem Tode des Vaters zu Hause
nn
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Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 465
zubrachte, und wie es ihm vor Angst nicht möglich "gewesen war, allein
in einem Zimmer zu schlafen. Schließlich berichtete er von einem
entsetzlichen Angstanfall, den er erlebte, als er die Hose, die der Vater
‚zuletzt getragen hatte, bei der Durchsicht der Kleider des Vaters in die
Hand bekam. Er warf die Hose mit Entsetzen von sich in eine Zimmerecke
und war durch 24 Stunden nicht mehr imstande, das Zimmer zu betreten.
Er berichtete auch von einer seltsamen Begebenheit in seiner Pubertät.
Er hatte vom fünfzehnten Lebensjahr an onaniert, oft bewußt mit
Phantasien, die der Mutter galten. Als er siebzehn Jahre alt war, bekam
er eines Tages Kopfschmerzen, als er am Abend im Bette lag; er onanierte,
"um sie loszuwerden, die Kopfschmerzen aber wurden danach ärger, er
fühlte sich elend, schwindlig und benommen. Es handelte sich wohl damals
um die Initialsymptome eines akuten Infekts, es trat in der Nacht Fieber
auf, der Arzt wurde gerufen und erklärte die Erkrankung für eine Grippe.
Der Vater regte sich über die Erkrankung des Sohnes, den er sehr liebte,
sehr auf und bekam am nächsten Tag einen nicht näher erklärten Anfall
von Bewußtlosigkeit mit Krämpfen und Schaum vor-dem Munde. Dieser
Anfall war der erste einer kurzen Reihe von Anfällen, die vom Arzt als
epileptische diagnostiziert und auf zerebrale Arteriosklerose bezogen wurden.
Der Patient hatte. seine eigene damalige Erkrankung von vorneherein auf
die Onanie bezogen und Angst gehabt, der Arzt werde bei der Unter-
suchung die Onanie als Ursache seiner Erkrankung entdecken. Im Anschluß
an die Anfälle des Vaters entwickelte er heftige Angst und ein ganz
schweres Schuldgefühl, denn er bezog unbewußt die Anfälle des Vaters
auf seine eigene Onanie, durch die er selbst erkrankt sei und die damit
die Aufregung des Vaters verursacht hatten. Er schränkte im weiteren
die Onanie sehr ein, auch die Gelddiebstähle sistierten von da an.
Die mehrere Jahre später auftretenden Anfälle von Angina pectoris des
Vaters wurden unbewußt mit den epileptiformen gleichgesetzt, der Tod
des Vaters wurde damit auf die eigene Onanie bezogen. Nach Auftreten
der Angina-pectoris-Anfälle des Vaters stellte er die Onanie ganz ein.
Es traten die ersten Symptome auf, Depression, Erstickungsangst beim
Essen, Obstipation und Pruritus ani.
Der Patient betrachtete bewußt alle Symptome als Folgen seiner Onanie und
hatte damit nicht so unrecht. Der zeitliche Zusammenhang zwischen Onanie
und ersten epileptiformen Anfällen des Vaters wurde als Ausdruck einer
magischen Wirkung betrachtet. Die Permanenz der Todeswünsche ließ die
epileptiformen und stenokardischen Anfälle einander gleichsetzen. Es war
also ein Schritt zur Bewußtmachung des Unbewußten durch die wieder-
holte Deutung des Übertragungswiderstandes geschehen, dem Patienten kam
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466 Richard Sterba
die Angst vor dem Vater zum Bewußtsein. Er verlor darum die vor dem
Analytiker nicht, aber der Prozeß der Bewältigung dieser Angst war dadurch
eingeleitet, daß durch die Deutung ein Teil des agierten Materiales in Er-
innerung übergeführt worden war und das ursprüngliche Angstobjekt da-
durch deutlich als solches erkannt wurde. Gleichzeitig mit dem Bewußt-
werden der Angst vor dem Vater verstärkte der Patient allmählich seinen Haß,
aber nicht gegen den Analytiker, demgegenüber seine Unterwürfigkeit eher
zunahm, sondern gegenüber dem Großkapital und gegenüber den Angehörigen
der Rasse, der der Analytiker angehört und der der Patient, selbst einer
anderen Rasse und Religion angehörig, seit jeher feindselig und doch ängstlich
gegenüberstand. Es wurde nicht schwer, dem Patienten zu zeigen, daß er
seinen Haß vom Analytiker weg teils auf das Großkapital verschoben, teils
in seinem Rassenhaß untergebracht habe. Nachdem er eines Tages wieder
wütend gegen das Großkapital losgezogen war und in seiner Wut dabei die
Meinung geäußert hatte, es werde nicht besser werden, bevor man nicht
zweihundert Generaldirektoren aufgehängt habe, träumte er folgendes: Der
Analytiker steht an einem Schreibtisch; er fertigt in tschechischer Sprache
einen Patienten nach dem andern ab und bekommt viel Geld dafür. — Den
Schreibtisch mußte er als den seines ehemaligen Generaldirektors agnoszieren;
die tschechische Nation war ihm seit jeher verhaßt, mein Name aber klingt
ans Tschechische an. Der Kapitalist ist ihm aber gleichzeitig der Vertreter des
Vaters; der Vater hatte ja das Geld, das der Patient entwenden mußte, um
zu Prostituierten — zur Mutter — zu gehen. Das Geld hatte hier typischer-
weise die Bedeutung des Gliedes—Potenz des Vaters. Ein aus viel späterer
Zeit der Analyse stammender Traum bestätigte die schon damals erkennbare
symbolische Bedeutung von Geld und Ware in eklatanter Weise. Nach
einem in dieser späteren Zeit bereits offen und direkt gegen den Analytiker
erfolgten Haßausbruch mit derber Beschimpfung träumte der Patient, ein
Polizeioffizier fahre ihn hart an; am nächsten Tag gehe er an den gleichen
Ort, um Ware abzuliefern; wie er die Ware aus seinem Musterkoffer über-
gibt, sind es lauter männliche Geschlechtsglieder. In diesem Traum wird
die Gleichsetzung von Geld-Ware-Glied überaus deutlich. Dieser Traum
enthält gleichzeitig eine Darstellung der Entwicklung seines passiv-femininen
Charakters. — Die unterwürfige Haltung, die den Patienten befähigte, jede
direkte Manifestation des Hasses auszuschalten, war dem Patienten wohl
auch deshalb möglich, weil sie von der in tieferer Schichte liegenden passiv-
femininen Hingabe an den Vater libidinösen Zuschuß erhielt.
Gegenüber dem Traum, in dem der Patient von der Polizei einer Geld-
defraudation wegen gesucht wird, zeigt der Traum, in dem der Analytiker
am Schreibtisch steht und viel Geld einnimmt, einen deutlichen Fortschritt
nn
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 467
von der ursprünglichen Angstentwicklung zu Ansätzen einer Manifestation
des Hasses, vorläufig allerdings nur in Träumen. Viel deutlicher gibt sich
die innere Wandlung unter dem Einfluß der Deutung kund in einer
Symptomhandlung, die im sechsten Monate der Analyse vorfiel und die
eine Fülle Materiales in der Übertragung agierte.
Der Patient wurde eines Tages, als er von der Analyse fortging, in der
Gasse, in der ich wohne, von jemandem angesprochen und aufgefordert, er
möge Strümpfe von ihm kaufen, die er zu besonders billigen Preisen abgeben
könne. Der Patient vermutete sofort, es sei gestohlenes Gut, ging aber trotz-
dem oder gerade deswegen mit dem, der es anbot, unter ein Haustor und
kaufte ihm sechs Paar Strümpfe ab. Sofort danach stellte sich die Angst
ein, ich könnte vom Fenster aus zugesehen haben. In seinem Unbewußten
wurde Diebstahl und Hehlerei gleichgesetzt, die Nähe meines Hauses und
der Zeitpunkt (nach der Stunde) ließen die Tat als an mir geschehen er-
scheinen. Die Strümpfe hatte er für seine Geliebte bestimmt. Am gleichen
Tage noch vollzog er als Selbstbestrafung an sich eine Art symbolischer
Kastration. Zunächst entdeckte er bald nach dem Kauf, daß er statt sechs
Paar nur drei Paar Strümpfe bekommen habe; daß sie außerdem aus minder-
wertigem Material waren. Bald danach zerbrach er einen ihm gehörigen
wertvollen Gegenstand. Er vermied es in der Folge wochenlang, durch die
Gasse zu gehen, in der die Tat geschehen war, — meine Wohnung ist auch
von einer anderen Straße aus zugänglich, — denn er befürchtete, die Polizei
könnte ihn beobachtet haben, ihm auflauern und der Hehlerei wegen ver-
haften. Es ist hier deutlich, wie die Symptomhandlung der Pubertät, die
symbolische Kastration am Vater, in entstellter Form und unter konsekutiver
Angstentwicklung und Selbstbestrafung am Analytiker ausgeführt wird. —
Auf die weiteren Ergebnisse der Analyse, die die Angst typischerweise
letzten Endes als Kastrationsangst erkennen ließen, wie sie der Reaktion
auf die infantile Onanie entsprach, soll hier nicht weiter eingegangen werden,
da es in diesem Aufsatz ja nur auf die ausschnitthafte Darstellung einer
typischen Übertragungssituation mit dem zugehörigen Widerstand und die
Klarlegung der Dynamik der Bewältigung dieses Übertragungswiderstandes
ankommt.
Der Fortschritt von Angstentwicklung zu agierter Manifestation von Haß
und Kastrationswunsch im Verlaufe der Analyse entspricht einem Angst-
abbau, der der Wirkung von zwei Momenten zuzuschreiben ist. Erstens der
Deutung der Angst in der Analyse als einer Übertragung vom Vater her
zum Zwecke des Widerstandes. Das Bewußtwerden der Angst vor dem Vater
und die damit verbundene Ichbereicherung ermöglichten einen Angstabbau
aus der Einsicht der Differenz zwischen aktuellen und infantilen Bedingungen.
een san mas sms nn nn Se ee el een ln en mn eng 1
468 Richard Sterba
Es war aber wohl auch gleichzeitig als zweites Moment der Mangel jeglicher
Affektreaktion von seiten des Analytikers bei diesem Angstabbau maßgebend.
Wir haben oben erwähnt, daß nach der ersten Deutung sich die Angst und
Unterwürfigkeit des Patienten verstärkte. Diese Verstärkung ist zu beziehen
auf die Erwartung, daß von seiten des Analytikers auf die Aufdeckung des
Hasses, den der Patient gegen ihn in sich trug, eine Reaktion erfolgen
werde. Als diese ausblieb und auch die Verstärkung seines Hasses gegen das
Großkapital und die Aufdeckung der Tatsache, daß auch dieser Haß dem
Analytiker gelte und nur verschoben worden sei, keinerlei Zurückweisung,
Entzug des Interesses an der psychologischen Situation usw. zur Folge hatte
und die ruhige Betrachtung und Erklärung stets die gleiche blieb, gelang
es dem Patienten, einen Teil seiner Angst als überflüssig zu erkennen, und
nun konnte die Deutung der Übertragungssituation dahin wirken, daß auch
'infantiles Material zum vorher agierten, unterdrückten und verschobenen
Haß erinnert wurde. Gerade die Affektreaktionsfreiheit im Verhalten des
Analytikers machte es dem Ich des Patienten leichter möglich, die Über-
tragungssituation in der Identifizierung mit dem Analytiker realitäisgerecht
zu betrachten, weil sie so deutlich darauf hinwies, daß die Feindseligkeit
des Patienten vom Analytiker als nicht real, sondern infantil bedingt be-
urteilt wurde. Wir wissen aber anderseits, daß gerade dieser Affektreaktions-
mangel von seiten des Analytikers zu schweren Übertragungswiderständen
Gelegenheit gibt. Er dient nämlich ausgezeichnet zur Etablierung einer
kontinuierlichen Enttäuschungsreaktion von seiten des Patienten. Wenn eine
derartige Enttäuschung in der Kindheit des Patienten stattgefunden hat,
dann wird sie häufig am Analytiker zum Zwecke des Widerstandes wieder-
holt und kann nur durch die Deutung des Widerstandscharakters dieser
Wiederholung auf dem Wege über die Ichstärkung durch Identifizierung
mit dem Analytiker überwunden werden.
Die lange Zeitstrecke, während deren die Deutung des Übertragungswider-
standes immer wieder vorgenommen werden muß, ehe ihr die topische
Veränderung und damit eine dauernde Ichbereicherung nachfolgt, verlangt
eine Klarlegung der Quantitäten der Wirkung dieser Deutung, also eine
ökonomische Betrachtung, die die vorliegende Untersuchung zu einer meta-
psychologischen ergänzt. Die quantitative Betrachtung der Überwindung der
Widerstände wurde von Freud in der Arbeit „Erinnern, Wiederholen, Durch-
arbeiten“ vorgenommen (Ges. Schriften, Band VI, S. ıı8 ff). Dort spricht
Freud vom geringen Wirkungsgrad der einmaligen Widerstandsdeutung
‘und von der Notwendigkeit ihrer Wiederholung auf eine längere Zeitstrecke.
Er spricht dabei vom „Durcharbeiten“ der Widerstände und vergleicht es
mit dem „Abreagieren von Affektbeträgen“; er fügt hier also eine
Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes 469
ökonomische Größe (Affektbetrag) in den Vergleich ein. Ebenso ist der
Effekt der einzelnen Deutungen des Übertragungswiderstandes ein geringer;
wir haben ja bereits erwähnt, daß das Aufmerksammachen auf den Wieder-
holungscharakter und die Aufforderung zum gemeinsamen Überschauen des
Agierens in der Analyse mit nur äußerst geringer Wirkungsquantität der
mächtigen Widerstandsmasse gegenübersteht und daß diese Wirkung oft
nur eine augenblickshafte ist. Man kann sich der Quantität der Wirkung
einer Einzeldeutung die Quantität des Übertragungswiderstandes gegenüber-
stehend denken und dann nach dem Energieprinzip der Physik folgende
Formel zur Anwendung bringen: 4= p.s (Arbeit = KraftX Weg). Diese
Formel sagt uns, daß die Arbeit 4 der Bewältigung des Widerstandes bei
kleiner Deutungswirkung p nur geleistet werden kann, wenn die Zeitstrecke s
entsprechend groß ist; daß also die dem „Durcharbeiten“ des Übertragungs-
widerstandes zukommende Zeitstrecke eine lange wird sein müssen.
Es bleibt uns noch übrig, die Quantität des Übertragungswiderstandes.
selbst einer Untersuchung zu unterziehen. Die Größe des Übertragungs-
widerstandes ist zum großen Teil abhängig von der Quantität der übrigen
Widerstände. Denn wir wissen, daß die Widerstände die Tendenz haben,
sich dort zu summieren, wo für das Widerstreben gegen die Analyse sich
eine günstige Position ergibt.‘ Meist wird als diese günstige Position die
Übertragung gewählt; an unserem Fall z. B. zeigt sich, daß im Übertragungs-
widerstand der Widerstand aus Wiederholungszwang, der aus unbewußtem:
Schuldgefühl und der Verdrängungswiderstand quantitativ beträchtlich be-
teiligt sind. Freud spricht direkt von „Verwandlung“ der Widerstände
in negative, feindselige Übertragungen (Ges. Schr., Bd.VII, S. 471). Auf Grund
dieser Verwandlung wird ja die Überwindung des Übertragungswiderstandes
so häufig zur Hauptaufgabe der therapeutischen Bemühung. Bei unserem
Patienten ergab sich in der Analyse, daß die Angstentwicklung in der Über-
tragung letzten Endes der Kastrationsangst entsprach, wie sie als Reaktion
auf die infantile Onanie mit ihrer Inzeststrebung der Mutter gegenüber und
ihrem Haß und Kastrationswunsch gegen den Vater in der Kindheit sich
entwickelt hatte. Es wurde also in der Analyse die gleiche Kastrationsangst
mobilisiert, die die Verdrängung der infantilen Onanie besorgt hatte. Die
infantile Onanie war gewissermaßen die letzte Determinante für die Angst-
entwicklung in der Analyse. Wenn der aus dieser Angsteinstellung sich
entwickelnde Widerstand jedoch durch die Addition anderer Widerstände
vergrößert wird, so kann die Größe des genuinen infantilen Angsterlebnisses
nicht mehr maßgebend sein für die Größe des endlichen Widerstandes in
ı) S. die Arbeit des Verfassers „Über latente negative Übertragung“, Int. Zeitschr.
f. PsA., Bd. XIII, 1927.
m
470 Richard Sterba
der Analyse. Denn das Angsterlebnis aus der infantilen Onanie wird seiner
besonderen Eignung wegen gewissermaßen zum Kristallisationskern oder zur
Additionsbasis für die Widerstände. In einer Fußnote des Aufsatzes „Er-
innern, Wiederholen und Durcharbeiten“ wird dieser Gedankengang ange-
deutet. Diese Fußnote schließt an den Textsatz: „Immer wieder wird, wenn
man sich einem pathogenen Komplexe annähert, zuerst der zur Übertragung
befähigte Anteil des Komplexes ins Bewußtsein vorgeschoben und mit der
größten Hartnäckigkeit verteidigt“ an und lautet: „Woraus man aber nicht
allgemein aufeine besondere pathogene Bedeutsamkeit des zum Übertragungs-
widerstand gewählten Elementes schließen darf. Wenn in einer Schlacht um den
Besitz eines gewissen Kirchleins oder eines einzelnen Gehöftes mit besonderer
Erbitterung gestritten wird, braucht man nicht anzunehmen, daß die Kirche
etwa ein Nationalheiligtum sei, oder daß das Haus den Armeeschatz berge.
Der Wert der Objekte kann ein bloß taktischer sein, vielleicht nur in dieser
einen Schlacht zur Geltung kommen.“
DieÜberwindung desÜbertragungswiderstandes bedeutetaber dann nichtnur
eine Überwindung des genuin der infantilen Kastrationsangst zukommenden
Widerstandes, sondern auch ein Freimachen der stützenden Widerstände,
die oft dann erst ihrer gesonderten Bearbeitung zugänglich werden, während
innerhalb der Phase der heftigen Übertragungsaktion diese Widerstände für
eine Deutung und Lösung unzugänglich sind. Man hat dabei den Eindruck,
daß die stützenden Widerstände nicht eine Angstvermehrung bedingen,
sondern nur an der Hartnäckigkeit des Bestandes dieser Angst in der Analyse
beteiligt sind und dadurch die Auflösung dieser Angst erschweren. Dieses
Qualitätsproblem jedoch müßte einer gesonderten Untersuchung unterzogen
werden.
Die Zwangsneurose und ein historisches Moment
in der Über-Ich-Bildung
Vortrag in der Ungarländischen Psychoanalytischen Vereinigung im Oktober 1927
Von
Imre Hermann
Budapest
Meine Erfahrungen bei mehreren Fällen von Zwangsneurose bewogen
mich, die Aufmerksamkeit auf einen für den Aufbau dieser Krankheit
wichtigen äußeren Faktor zu lenken. Dieser akzidentell auftretende oder
dauernd wirkende äußere Faktor steht mit der individuellen Entwicklung
des Über-Ichs in enger Beziehung und liefert daher zugleich einen Beitrag
zur Kenntnis der Psychogenese dieser seelischen Instanz.
In einem Falle von schwerer Zwangsneurose litt der Patient besonders
unter zwanghaften Selbstbeschuldigungen; er klagte sich objektiv ganz un-
möglicher Handlungen an, von denen er bei klarerem Bewußtsein auch
wußte, daß ersie nicht begangen hat; er hätte — phantasierte — Säuglinge von
der Brücke ins Wasser, in Kanalöffnungen, in das Klosett geworfen oder
Feuer angelegt; den Vater hätte er durch Verabreichung einer In-
jektion getötet; mit der Mutter koitiert. Er konnte nichts unternehmen,
ohne danach vom Zweifel befallen zu werden, ob er auch moralisch richtig
gehandelt hätte.
Dem in Bekanntenkreisen hochgeschätzten Vater war der Patient in
großer Liebe und Verehrung zugetan; es bedurfte der Überwindung starker
Widerstände, bis er einige kompromittierende Handlungen des Vaters in
der Analyse enthüllen konnte. Einer solchen Handlung wegen hatte der
Vater, als der Patient vier Jahre alt war, aus dem Militärdienst austreten
und sich nach einer neuen Position umsehen müssen. Unmittelbare
Erinnerung hat der Patient an dieses, für die Familie zweifellos
bedeutungsvolle Ereignis nicht; die Erinnerung, als kränkliches Kind
mit dem damals noch rüstigen Vater in einem Jodwasser-Badeort ge-
wesen zu sein, erwies sich in der Analyse als Deckerinnerung. Hinter
ra
m ————_—_—_————————ımmnmmmmmmmBRBRBRBRmamaemamamammmaRaRm —[eomanınımmmm—————
472 Imre Hermann
-ihr verbarg sich eine Beschuldigung: Die luetische Krankheit, unter der der
Vater später viel stärker zu leiden hatte, erweckte in ihm den Verdacht einer
erblichen Seuche, als Folge lasziver Lebensweise. An spätere, das intime
Familien- und Wirtschaftsleben betreffende Entgleisungen des Vaters konnte
er sich erinnern; er wußte aber auch, daß er sich verzweifelt dagegen
gewehrt hatte, Vorwürfe der Mutter gegen den Vater mitanzuhören; sich
die Ohren zuhaltend hatte er die Mutter gebeten, vor ihm doch nichts
Böses über den Vater zu reden. Das verdrängte Interesse für die Fehltritte
des Vaters verriet sich auch in dem besonderen Interesse, das er dem
„großen Prozeß“ entgegenbrachte, einer Ritualmordaffäre, welche in Ungarn
in der Zeit seiner frühen Kindheit lebhaftes Aufsehen erregte, und die ihn
umsomehr angehen mußte, als der Vater aus der Gegend des Dorfes
stammte, in dem die Anklage erfunden worden war, in welcher Gegend
er als dreijähriger Junge den dort wohnenden Großvater auch besucht hatte.
In seinem Übertragungsverhalten zeigte der Patient einerseits die Angst,
die Behandlung sei nur Schwindel; andererseits hatte er den Wunsch, von
seinem Leiden so befreit zu werden, wie es von einem alten Arzt erzählt
wurde, den er in seiner frühen Kindheit gekannt hatte, der bei einem
hypochondrischen Kranken den in den Magen. phantasierten Frosch in den
erbrochenen Mageninhalt hineingeschmuggelt haben sollte.
Die Entwicklung dieses Kranken stelle ich mir so vor: Er hatte sich
zunächst im Triebverlangen, also in der Absicht, die Mutter zu besitzen,
mit dem Vater identifiziert (Deckerinnerung: Er sitzt mit großem Stolz
auf dem Pferde des Vaters). Später meldete sich das der primitiven Angst
folgende Schuldgefühl und nun identifiziert er sich, Wunsch und Schuld
verdichtend, statt mit dem triebhaften, mit dem schuldigen Vater.
(„Entlehntes Schuldgefühl“, Freud, wobei wir jedoch im Entlehnen das
Gewicht auf die zugrunde liegenden beanstandeten Impulse, nicht
auf die nachfolgenden Schuldgefühle legen.) Durch diesen Mechanismus
ist das aus der Identifizierung mit dem Vater hervorgegangene Über-Ich
in moralischer Hinsicht nicht mehr intakt. Dieses Über-Ich löst offenbar,
ebenso wie das normale Über-Ich moralische Impulse, Impulse zu schuld-
haften Handlungen aus; sonstige gute Einflüsse des Vaters, der Mutter und
der Umgebung hinderten den Patienten jedenfalls, solchen Impulsen weiter-
gehend nachzugeben. Auf dieser Grundlage ist seine Zwangsneurose zu
verstehen. Die moralischen Einwände gegen den Vater wollte er nicht
anhören; dafür war er ständig gezwungen, die zweifelnde Sprache seines
eigenen Gewissens zu hören. Die Anklage, die unbewußt den Vater
betraf, fiel auf Grund der Idealverteidigung (was mit seiner
Kastrationsangst fest verknüpft ist) stets auf ihn selbst zurück. —
Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der Über-Ih-Bildung 473
Natürlich wird die Rolle der von Freud beschriebenen, für die Zwangs-
neurose disponierenden Faktoren durch diese Ableitung keineswegs einge-
schränkt; sie kamen sowohl in diesem als auch in den folgenden Fällen
ebenfalls deutlich zur Geltung.
In einem anderen Falle, bei einem schwer-zwangsneurotischen Mädchen,
hatte sich der Vater der Mutter gegenüber wie ein Betrüger verhalten, indem
er sie trotz des ursprünglichen Versprechens nicht geheiratet hatte, so daß
die nach außen als legitim geltende Ehe in Wirklichkeit jahrelang keine
solche war. Auch von anderwärts wurde gegen den Vater eine Betrugs-
anklage gerichtet, wie sie aus gerichtlichen Vorladungsscheinen erfuhr.
Aus Amerika, wohin der Vater vor seiner Heirat auswanderte, mußte er
wegen einer strafbaren Handlung flüchten. Der väterliche Großvater war,
wie sie wußte, ein schlauer, durchtriebener Mensch, der anderen viele
Schäden zufügte. — Hinter dem Wissen um alle diese Tatsachen verbarg
sich der unbewußte Gedanke, daß der Vater, der zu allem Bösen fähig
sei, auch die Mutter mit ihr selbst betrügen könnte. Die Analyse konnte
eine Szene aus den Kleinkinderjahren rekonstruieren: Sie liegt neben dem
Vater, indem sie ihm den Rücken zuwendet, und spürt von hinten den
Penis des Vaters. Eine verführende „böse Stimme“, die sich vom introjizierten
Vater herleitet, fühlt sie schon seit dem vierten oder fünften Lebens-
jahre als selbständiges, verführerisches Wesen in sich. „Schuldig“ war
aber auch die Mutter, die sich dem Vater hingab und mehrfach abortiert
hatte,
In einem dritten Falle, ebenfalls bei einem Mädchen, hinterging
der Vater mit seinen schlecht verheimlichten Liebschaften die Mutter
in einemfort und die Eltern dachten ständig an Scheidung.
In einem vierten Falle, bei einem zwangsneurotisch-melancholischen
Manne, hielt ich die aus dem Material sich ergebende Beschuldigung, die
Mutter hätte, als die Kinder noch klein waren, mit einem Hausfreund
den Vater hintergangen, zuerst für eine Phantasie. Ein Zufall
machte mich jedoch mit der Realität dieses Vorkommnisses bekannt. —
Zwei Schwestern dieses Kranken leiden an Reinlichkeitszwang. Der Vater ist seit
Jahren arbeitsunfähig und entzieht sich Geldverlegenheiten durch verant-
wortungsloses Schuldenmachen.
Bei dem wissenschaftlich und moralisch anerkannt hochstehenden Vater
eines anderen jungen Mannes, der an einer milderen Form von Zwangs-
neurose (Lachzwang) erkrankt war, konnte bei seinem moralisch vor-
bildlichen Charakter niemand an schuldhafte Handlungen denken. Für
ein Kind sind aber oft scheinbare Kleinigkeiten von grundlegender Be-
deutung: Eine der ältesten Erinnerungen des Kranken berichtet, der Vater
Int. Zeitschr, f. Psychoanalyse, XV/4. Ze { zı
DEREN
474 Imre Hermann
habe vor der Mutter verheimlichen lassen, daß eine leichte Verletzung
des Kindes auf die Schuld des Vaters zurückging, der ihn zum Über-
schreiten eines Holzsteges verleitet hatte. Auch erlaubte ihm der Vater,
Süßigkeiten nie auf einmal, sondern nur in kleinen Portionen zu ver-
zehren, während fremde Kinder mit Süßigkeiten beschenkt wurden und
alles auf einmal aufessen durften. Weinte er, so prügelte ihn der Vater
und sagte: „Jetzt kannst du weinen!“ Für die Erziehung waren überhaupt
äußerste Strenge und Verpönung alles Sexuellen kennzeichnend. Nachdem
er in der Latenzzeit geglaubt hatte, der Vater sei an der Zeugung eines
Kindes unbeteiligt, mußte er zur Zeit der Pubertät anläßlich eines Abortus
der Mutter erfahren, daß der bisher für heilig gehaltene Vater mit den
verpönten Sexualangelegenheiten selbst zu tun hatte.
Der Verdrängungsschub der Pubertät machte den Vater wieder zum
Gegenstand wachsender Bewunderung. Als der Knabe aber diesem hohen
Vorbilde folgen wollte, zwang ihn sein unbewußtes Besserwissen gegen
seinen Willen, die Moral auszulachen. Auch. wenn er jetzt Schicklichkeit
und Takt außer Acht ließ, folgte er unbewußt dem Vorbilde des Vaters.
Sein erstes Zwangslachen trat in der Schule bei der Lektüre einer Novelle
auf, in der ein Mann über das Verschütten eines Glases Wasser, was
nach dem Volksglauben eine bevorstehende Geburt ankündigen soll, lachen
mußte. Es sei noch erwähnt, daß auch die Mutter den Vater zu verspotten
pflegte und ihm etwa mit dem Ausruf: „Das soll ein guter Ehemann sein,
hahaha!“ vorwarf, daß er sich nicht genügend um die Lebensfragen, um
die großen Geldausgaben kümmere. Tatsächlich war, besonders in der Pubertät,
bei dem Kranken auch sonst eine Identifizierung mit der Mutter
bemerkbar.
Ein weiterer Fall von Zwangsneurose ergab, daß der im Hause der Eltern
lebende Großvater das Geburtsdatum seiner Enkel falsch in die
von ihm geführte Matrikel eintrug, damit sie leichter dem
Militärdienst enthoben werden könnten. Der Großvater war übrigens ein
allgemein verehrter Mann, gerade deswegen mit diesem Ehrenamt betraut;
auch die Eltern sind moralisch intakt. Der Kranke litt bereits vor Aus-
bruch seiner Zwangsneurose längere Zeit an Potenzstörungen. Die Zwangs-
neurose wurde im ersten Jahre seiner Ehe ausgelöst, als er erfuhr, daß
ihm von einem Angestellten, dem er fest vertraut hatte, durch Betrug ein
bedeutender Schaden zugefügt worden war. Das Mißtrauen in seine Potenz,
die Angst seine Frau nicht befriedigen zu können und sie deswegen zu
verlieren, waren die bewußten Anlässe seiner Grübelsucht. Seine Grübeleien
drehen sich größtenteils um die Furcht, der Staat werde ihn wegen irgend-
welchen Fehltritten, z. B. in Steuerangelegenheiten, hart bestrafen. Durch
———6——
Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der Über-Ih-Bildung 475
die Grübeleien kann er seine eigenen Ausschweifungstendenzen vor sich selbst
verheimlichen. Im übrigen ein ehrlicher, tüchtiger Mann, hat er zweimal
im Leben selbst Taten in betrügerischer Absicht vollführt: einmal als
Universitätsstudent, indem er eine Professorenunterschrift fälschte, und
später, im Kriege, als er mit Hilfe eines falschen Dokumentes sich eine
zeitweilige Befreiung erwarb. Man beachte die Ähnlichkeit dieser Taten,
welche noch vor die Zeit der Zwangsneurose fallen, mit derjenigen des
Großvaters. Dieser Fall, wo der Betrug eines Fremden auch eine
Rolle spielt, leitet schon auf eine andere Gruppe unserer Beobachtungen
über. Zunächst möchte ich aber einige Parallelen aus von Freud und
anderen beobachteten Fällen zitieren.
„Der Vater unseres Patienten“, so heißt es in den „Bemerkungen über
einen Fall von Zwangsneurose“, „war nach allen Auskünften ein ganz vor-
trefflicher Mann. Er war vor der Heirat Unteroffizier gewesen und hatte
eine aufrichtige soldatische Art sowie eine Vorliebe für derbe Ausdrücke
als Niederschlag aus diesem Stücke seines Lebens behalten. Außer den
Tugenden, die der Leichenstein an jedermann zu rühmen pflegt, zeichnete
ihn ein herzlicher Humor und eine gütige Nachsicht gegen seine Mit-
menschen aus; es steht gewiß nicht im Widerspruch mit diesem Charakter,
stellt sich vielmehr als Ergänzung zu ihm dar, daß er jäh und heftig sein
konnte, was den Kindern, solange sie klein und schlimm waren, gelegentlich
zu sehr empfindlichen Züchtigungen verhalf. Als die Kinder heranwuchsen,
wich er von anderen Vätern darin ab, daß er sich nicht zur unantastbaren
Autorität emporheben wollte, sondern in gutmütiger Offenheit die kleinen
Verfehlungen und Mißgeschicke seines Lebens ihrer Mitwissenschaft preis-
gab.“ — „Der Vater hatte einmal eine kleine Summe Geldes, über die er
als Unteroffizier verfügen sollte, im Kartenspiele verloren .... und wäre
in arge Bedrängnis gekommen, wenn ein Kamerad sie nicht ihm vorgestreckt
hätte, ... die Erinnerung an diese Jugendsünde des Vaters war ihm
peinlich, da doch sein Unbewußtes von feindseligen Aufstellungen am
Charakter des Vaters erfüllt war.“ Wie sich dieser Konflikt des Vaters in
seinem Krankheitszustand wiederholt, so wiederholt sich auch ein anderer:
das Imstichlassen eines armen Mädchens zugunsten eines reichen. (Ges.
Schriften, Bd. VIII., S. 310, 318, 308.)
In einem Falle von Riklin („Aus der Analyse einer Zwangsneurose“)
war der Vater Richter. Der Patient hielt ihn aber für einen miserablen
Richter, zu Hause hatte er keinen Gerechtigkeitssinn. (Jahrbuch f. psa. u.
psychopath. Forsch., Bd. II, ı910, S. 251.)
Jones beschreibt einen Zwangsneurotiker („Einige Fälle von Zwangs-
neurose“, Fall II), der in einer hinsichtlich der Sexualität sehr lasziven
zı*
Ve em mm m
476 Imre Hermann
Atmosphäre erzogen worden war. Alle seine Angehörigen führten ganz
offenkundig ein ungeregeltes Leben. Der Patient hatte bis zur Zeit der
Behandlung nie den Schluß gezogen, daß seine Mutter wahrscheinlich, und
dies mehr als einmal, die Ehe gebrochen habe. Die Mutter war schwere
Trinkerin, in ihren späteren Jahren öffentliche Dirne. Die homosexuelle
Komponente des Patienten war außergewöhnlich stark entwickelt. Die
Identifizierung mit der Mutter war ganz auffallend. (Jahrbuch, Bd. V, 1913,
S. 55 uff.)
Es wäre nun die Frage zu beantworten, wie weit sich diese Erfahrungen
bei Zwangsneurosen verallgemeinern lassen. Wir haben Fälle kennen ge-
lernt, bei denen Handlungen des Vaters, der Mutter, des Großvaters vom
Kinde schon sehr frühzeitig als „schlecht“, „verwerflich“ erkannt worden
und davon spezifische Wirkungen ausgegangen waren. Die Frage lautet,
ob hier eine Verallgemeinerung erlaubt, ob jede Zwangsneurose hier
einzureihen ist. Diese Frage möchte ich, so gefaßt, entschieden verneinen.
Es gibt jedoch eine weitere Gruppe von Fällen, die eine gewisse Ähn-
lichkeit mit der vorgeführten aufweist. Ein eigener Übergangsfall ist uns
schon oben begegnet (Betrug eines Fremden), ein zweiter kann im
Jonesschen Fall II erblickt werden. Typischer sind hier zwei weitere Fälle,
ein Hypochonder und eine zwangsneurotische Kranke mit Angstzuständen.
Der erste Patient wird bei seiner Arbeit durch Zwangsgrübeln gestört; auch
der zweite Kranke muß in zwanghafter Form Grübelfragen an sich selbst
richten, etwa: Ist es wahr, daß ich lebe, daß ich denke, daß ich bin, daß
ich Erinnerungen habe?
Der erste Kranke weiß von sich zu erzählen, daß er der Erziehung große
Schwierigkeiten bot und oft vom Elternhause entfloh. Der Vater züchtigte
ihn oft, auf Anraten eines Nachbarn auch auf grausame Art, indem
er ihn mit Hieben aus dem Schlafe weckte. — Als kleiner Knabe ergötzte
er sich öfter am Treiben eines betrunkenen rabiaten Nachbarn. — In
der Pubertätszeit wurde das Geschäft des Vaters durch unlautere Manipu-
lationen seines Schwagers und Kompagnons zugrunde ge-
richtet. Dieser Onkel, der auf dem gleichen Gebiete begabt war wie der
Patient selbst, war ihm in seiner Knabenzeit Ideal und Vorbild gewesen.
Der Gedanke an den Betrug des Onkels vertrat beim Kranken den Gedanken,
die Mutter hätte den Vater betrügen können, und dieser Gedanke bedeutete
letzten Endes, die Mutter hätte den Vater mitihm betrügen sollen; es bestand
auch tatsächlich eine heiße Liebe zwischen Mutter und Sohn. Die Identi-
fizierung mit dem Onkel, Bruder der Mutter, verknüpft
also die zwei Wünsche: den Vater zu betrügen und der Mutter anzugehören.
Die zweite Kranke hat ihren Vater schon im siebenten Lebensjahre verloren.
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Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der Über-Ih-Bildung 477
Sie kannteihn als anständigen, ehrlichen Menschen.! Vom Großvater aber, der
übrigens auch im Rufe eines durchaus ehrwürdigen Menschen stand, be-
merkte sie in ihrer kindlichen Feinfühligkeit nicht nur seine heimliche
Freude über den Tod des Schwiegersohnes, sondern sie beschuldigte ihn
auch, den Tod des Vaters herbeigeführt zu haben. Ein Todesfall lastete
übrigens wirklich auf dem Gewissen dieses harten, strengen Menschen,
der Tod eines Kollegen, dem er in Geldnot die Hilfe versagt, worauf jener
Selbstmord begangen hatte. — Bedeutungsvoller als die Vorwürfe gegen den
Großvater, der zu Lebzeiten des Vaters in einer fernen Stadt wohnte und
erst nach der Übersiedelung der vaterlosen Familie in innige Berührung
mit ihr kam, war aber die Tatsache, daß sie ihre ganze Umgebung
als verlogen kennen lernen mußte, daß sie sah, wie die Freunde des
Vaters der Mutter den Hof machten und wie sie im Kartenspiel die stark
herabgesetzte Sehschärfe des Vaters mißbrauchten. Dem Großvater mußte wegen
seines Geizes die Wahrheit in Geldangelegenheiten stets verheimlicht werden.
Am wichtigsten in dieser Beziehung war wohl, daß es fernerstehenden
Familienmitgliedern durch List und unanständige Handlungsweise gelang,
den Vater seines Vermögens und die Tochter ihrer Erbschaft zu berauben.
Ich will noch hervorheben, daß sie auch den Vater der Feigheit beschul-
digte, weil er gegen die Hofmacher und gegen den Großvater nicht ent-
sprechend aufgetreten wäre. Mit diesem „feigen Vater“ identifizierte sie
sich in gelegentlichen Angstzuständen. In der Übertragung wirft sie dem
Analytiker vor, er sei ein feiger, habsüchtiger, schlauer Schwindler, der
sie nur anführen will. Ich war ihr ein Repräsentant von Gruppen, wie
von den Juden, aber auch von den lasziven Geistlichen. Es soll auch
nicht unerwähnt bleiben, daß in ihrer Erziehung die Ermahnung „Was
werden die Leute dazu sagen?“ eine wichtige Rolle spielte, ferner, daß
sie sich vor Fremden oft produzieren mußte. Ihre Grundeinstellung wird durch
einen Traum schön illustriert: „Ich befinde mich mit meinem Bruder in einer
Art Kasten in der Analysenstunde und spreche in sehr freier Weise mit
dem Analytiker. Der Bruder will mich zurechtweisen, der Analytiker aber
‚fordert mich duzend auf, weiter so leichthin zu reden.“ Ich bin also der
Hofmacher, der Fremde, der pflichtvergessene Beichtvater, die verführende
Umgebung. Der Bruder erfüllt die Rolle des moralischen Vaters. Daß
diese Gegenüberstellung auch die Spaltung des Vaterbildes voraussetzt,
ist selbstverständlich.
Wenn wir diese zwei Fälle den vorigen hinzureihen, so ergibt sich eine
ı) Nachträglich (?) erfuhr sie allerdings, daß er das Sparkassenbuch der Mutter,
welches zur Deckung ihrer Mitgift bestimmt war, heimlich an sich genommen und
das Geld verspielt hat.
Enns
478 Imre Hermann
Möglichkeit, unsere Aufstellung über die Zwangsneurose zu verallgemeinern.
Wir müssen uns nur entschließen, die bedeutungsvolle innere moralische
Institution nicht nur im introjizierten Vater, sondern auch in den introji-
zierten Repräsentanten der weiteren respektierten Umgebung zu sehen.
Dann ließe sich der Satz, daß beim Zwangsneurotiker das Ideal-Vorbild
nicht nur auf Grund ambivalenter Gefühle „für schlecht“ gehalten wird,
sondern auch real beanstandete Handlungen begangen hat, unmoralisch,
verlogen oder ein Verführer war, aufrecht erhalten: Die reale Unmoralität
wurde jedenfalls in der Kindheit an der einen oder anderen moralischen
Institution erlebt.
Damit erhebt sich eine neue Frage: Haben wir eine Grundlage dazu,
das Über-Ich für nicht nur aus den Elternvorbildern hervorgegangen zu
halten, ist es begründet in der Entwicklung der Moral — und ev. der
Logik — außer den Geboten der nächsten Erziehungspersonen auch der
Allgemeinheit und der weiteren Umgebung eine wichtige und unmittelbare
Rolle zuzuschreiben ?
Die Frage kann auf Grund der Vorgeführten auf zweierlei Art be-
antwortet werden. Unsere erste Antwort hebt hervor, daß in der: kind-
lichen Idealentwicklung außer dem Vater und der Mutter auch anderen
Personen, Verwandten oder Fremden zufällig eine entscheidende Rolle zu-
kommen kann; diese Rolle ist jedoch nicht unabhängig von der Beziehung zu
den Eltern, sondern steht gerade im Dienste des Ausweichens vor ihnen. Mit
dieser Antwort werden nur die Entwicklungsmöglichkeiten des Über-Ichs
näher erläutert.
, Unsere zweite Antwort ist komplizierter und weist darauf hin, daß die
ersten moralischen Idealvorbilder (die Eltern) wesensgemäß eine repräsen-
tierende Funktion erfüllen, indem sie die Moral der Allgemeinheit
repräsentieren.“ Im Laufe der Entwicklung kann es sich dann ergeben,
daß Repräsentierende und Repräsentierte ihrem Gewichte nach die Stelle
vertauschen. Die Fragen, wie der einzelne zur Repräsentierung der All-
gemeinheit gelangen kann, wie die Repräsentierung überhaupt aufzufassen
ist, streifen schon an das Gebiet der Logik; sie sollen eine gesonderte Be-
handlung erfahren. Hier nur soviel: Wie in der Repräsentierung quasi
etwas zurück gebracht wird, so scheint auch in der Idealbildung irgend
ein Zurückkommen des Entfernten (auf introjektivem Wege) eine
wesentliche Rolle zu spielen. Das Entfernte wird in einem gewissen Zu-
rückkommen respektiert und das Entfernte wird unter bestimmten Um-
ı) Diese Repräsentation in der Welt der Objekte hat ihr Analogon in der inner-
seelischen Repräsentation der „ungezählt vielen Ichexistenzen“ im Über-Ich, worüber
Freud in „Das Ich und das Es“ spricht, (Ges. Schriften, Bd. VI, S. 383, 394.)
Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der Über-Ih-Bildung 479
ständen durch Nahes repräsentiert. Diese unsere Antwort stellt demnach
ebenfalls keine neue innere moralische Instanz auf: Durch sie wird nur
das Über-Ich seinem repräsentierenden Charakter zufolge in ein weiteres
Kollektivschema eingebettet und es werden Anschauungen ermög-
licht, welche auf Verschiebungen innerhalb dieses Gruppen-
schemas beruhen und sich in den Entwicklungsgang des Über-Ichs
im engeren Sinne organisch eingliedern lassen.
Wir unterscheiden also zwei Gruppen von Zwangsneurose: In der ersten
waren Vater, Mutter oder Großvater realiter moralisch anrüchig gewesen,
in der zweiten Onkel, Verwandte oder Fremde. Die zwei Gruppen sind
natürlich nicht scharf von einander zu trennen. Der Großvater z. B.
lebte in einem Falle in der Nähe des Patienten, in einem anderen
in einer entfernten Stadt. Dort war er den Eltern fast gleichzustellen,
hier anfangs eher ein Fremder. Die Unterscheidung von zwei Gruppen ist also
nur eine künstliche. Man sollte nur von einer kontinuierlichen Reihe
reden, an deren einem Ende Vater und Mutter, an deren anderem die
völlig fremde Umgebung steht.
Ebenso falsch wäre es, eine scharfe Grenze gegenüber einer dritten
Gruppe von Zwangsneurose zu ziehen, die man theoretisch einführen
könnte, bei der überhaupt nicht von einem real beanstandeten Vorbilde die Rede
sein kann, sondern nur von einem paranoid phantasierten bösen
Vorbilde. Der dritte von Jones publizierte Fall wäre vielleicht in diese
dritte Gruppe einzugliedern. Von diesem heißt es u.a.: „...Das erste
Symptom des Patienten, unter dem er als Kind eine Zeitlang litt..., war
die Angst, daß die Mutter in einem Anfall von Zorn den kleinen Thomas
töten könnte. Er begründete dies damit, daß die Mutter im Zorn über
das schlechte Betragen eines der Kinder oft sagte: ‚Ich werde dich töten,
kleiner Teufel‘, er konnte sich aber nicht erklären, warum sich die Angst
nicht auf ihn selbst, sondern auf Thomas bezog. Es ist interessant zu
sehen, daß schon in diesem frühen Alter ein ausgesprochen paranoischer
Zug in der Psychopathologie des Patienten vorhanden war, so wie auch in
seinen späteren Reaktionen eine markierte Tendenz zur Bildung eines
Verfolgungswahnes auftrat. Er projizierte seinen Wunsch, den Bruder
zu töten, nämlich auf die Mutter, und ich hatte Grund zu glauben, daß
zu jener Zeit beim Patienten die Phantasie bestand, die Mutter habe den
Vater um seinetwillen getötet (was natürlich seinem Wunsch entsprochen
hätte); aber es war mir nicht möglich, Beweise für die Richtigkeit dieser
Annahme zu erhalten.“ (Jahrbuch f. psa. u. psychopath. Forsch., Bd. V,
1913, S.94—95.) Der Fall I von Jones entspricht zwar noch mehr
einem paranoiden Zustandsbilde, zeigt aber zu wenige Spuren einer Zwangs-
EEE EEE EB EEE EEETEr EEE
480 Imre Hermann
neurose, um Veranlassung zu geben, ihn hier einzureihen. — Die Durchsicht
unserer eigenen Fälle belehrt uns übrigens, daß wir keinen nennenswerten
Fall dieser dritten Gruppe aufweisen können.
Wird die Frage aufgeworfen, ob dennreal beanstandete Vorbilder nicht auch
in der Umgebung von Menschen vorkommen, die nicht später an Zwangs-
neurose erkranken, so ließe sich hierauf antworten, daß hier nicht allein von
einem in moralischer Hinsicht tatsächlich entgleisten Vorbilde die Rede ist,
sondern von der ganzen seelischen Situation und Struktur, in welche dieses
Vorbild eingewoben wird. Vieles hängt von der jeweiligen Entwicklungsstufedes
Über-Ichs während der gegebenen Erlebnisse ab, vieles von der allgemeinen
moralischen Höhe, von der Spannung zwischen Moralität und Immoralität
der gesamten Umgebung.
Möchte jemand einwenden, die reale Entgleisung des sonst in-
takten Vorbildes weise selbst schon auf eine ambivalente Einstellung
und auf eine Neigung zu sadistischen Explosionen und damit auf eine
erbliche Disposition zu ambivalenten und sadistischen Reaktionen hin,
so möchten wir zwar dem nicht widersprechen, aber in solcher Art Lösung
nur eine Umgehung des Problems sehen.
Das hier entwickelte strukturelle Moment der Zwangsneurose kann
vermutlich auch auf die Zeremonien der Kindheit und Pubertät, sowie
auf die Dogmenbildung in der Religion (im Sinne von Th. Reik)
übertragen werden. Dort handelt es sich um das als unanständig bewertete
Sexualleben der Eltern, hier — wenigstens in der christlichen Dogmatik
— um die Erbsünde.
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer
verstorbenen Mutter
Von
Marie Bonaparte
Paris
Aus dem Französischen übertragen von Mathilde Hollitscher
D Die Storchhalluzination
Als ich vier Jahre alt war, kehrten wir im September von unserem
Sommeraufenthalt an der See nach Paris zurück; am zweitnächsten Morgen
überfiel mich beim Erwachen ganz plötzlich ein heftiger Blutsturz. Der Arzt
konstatierte eine „Lungenentzündung“ mit sehr starker Verschleimung der
Lungenflügel und fand meinen Zustand so ernst, daß er am Abend erklärte,
ich würde die Nacht sicherlich nicht überleben. Die Mutter meines Vaters,
die mich aufzog, — meine Mutter war nach meiner Geburt gestorben, —
berief daraufhin meinen Vater, der sich damals auf einer Reise durch die
Balkanländer befand, telegraphisch zurück.
Aber ich überstand die Nacht und erwachte am nächsten Morgen wieder;
mein Vater fand bei seiner Rückkehr sein einziges Kind am Leben und
nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Süden war ich vollkommen wieder-
hergestellt.
Ich habe an diesen Blutsturz gar keine Erinnerung bewahrt, obwohl
meine frühesten Erinnerungen über mein viertes Lebensjahr hinausreichen;
ich wußte während meiner ganzen Kindheit überhaupt nichts davon, daß ich
jemals Blut gehustet hätte. Meine Großmutter, die älteren Frauen, die mich
betreuten, und auch unser in veralteten Anschauungen befangener Arzt um-
gaben mich mit übertriebener Sorgfalt: sie behüteten mich vor jedem -Lutft-
zug, ließen mich im Winter nicht ausgehen und untersagten mir sogar, meine
Hände mit kaltem Wasser zu waschen. „Man muß nur bedenken, was vor-
gefallen ist,“ flüsterte einer dem anderen zu, „wenn es nur nicht so wird,
' wie mit ihrer Mutter!“ Aber niemand sprach von dem, was eigentlich vor-
gefallen war, weder zu den Außenstehenden, aus Angst, man könne mich für
„lungenkrank“ halten, noch zu mir, um mich nicht „zu erschrecken“. Selbst-
TE
482 Marie Bonaparte .
verständlich war das Geheimnis um ein düsteres und unheimliches Vor-
kommnis, das mein Leben verdarb, erst recht danach angetan, mich in
Schrecken zu versetzen.
Ich erinnere mich indessen einer anderen, ganz außerordentlichen und
zauberhaften Begebenheit. Eines Morgens, als ich noch sehr klein war,
ich dürfte ungefähr vier Jahre alt gewesen sein, — als ich beim Erwachen
in meinem Bett auf dem Rücken lag, erblickte ich unter den weißen
Musselinvorhängen, die mein Bett schmückten, gerade auf meinem Unterleib
einen hohen, großen, glänzenden Vogel, der in allen Farben des Regen-
bogens schillerte. Aufrecht, nur auf einem seiner beiden langen Beine
stehend, blickte er mich mit ein wenig zur Seite geneigtem Kopf an; er hatte
einen ungeheuerlich dicken, langen und zugespitzten Schnabel. Sah er einem
Reiher, einem Ibis, einem Flamingo, einem Marabu, einem Storch oder einem
Kranich ähnlich? Ich hätte es nicht zu sagen gewußt; übrigens kannte ich
damals die Namen der meisten dieser Vögel auch noch gar nicht. Aber ich
hatte noch niemals etwas so Schönes gesehen, wie diesen großen, in tausend
Farben schillernden Vogel, allerdings auch noch nie etwas so Schreckliches.
Nachdem die prächtige und zugleich erschreckende Erscheinung sich wieder
verflüchtigt hatte, blieb ich den ganzen Tag im Dunklen, bei geschlossenen
Vorhängen in meinem kleinen Bett liegen; ich war damals sehr krank und
ich entsinne mich der Stimmen, der gedämpften Schritte der Erwachsenen
aus den anderen Zimmern; sie schienen mir so fern, so unendlich fern zu
sein, als hätte ich mich damals in einer anderen Welt befunden.
Anläßlich der Erscheinung des großen Vogels lernte ich das Wort „Hallu-
zination“ kennen. Ich hatte meine Vision erzählt und hatte auch selbst sehr
gut wahrgenommen, daß der Vogel nichts Wirkliches sein könne, nachdem
ich beim vollen Erwachen seine schimmernden Konturen sich in Nichts auf-
lösen sah; man sagte mir, daß man eine solche, einem Traum ähnliche, aber
im Wachen erlebte Erscheinung mit dem fremdartigen Wort „Halluzination“
bezeichne.
Mittlerweile mußte der große Vogel, der mir als Bote einer geheimnis-
vollen, schrecklichen Welt erschien, lange sein Geheimnis bewahren.
Erst kürzlich, 1927, infolge meiner seit zwei Jahren währenden Analyse
bei Professor Freud, ist mir seine Botschaft verständlich geworden. Ich will
in der Reihenfolge ihres Auftauchens die zwei wichtigsten Assoziationsketten
wiedergeben, die mir dazu verholfen haben, das Rätsel des großen Vogels
zu lösen.
I) Der Vogel war ein großer Stelzenläufer und stand auf einem. Bein.
Nun war ich am Tage vor meiner Halluzination, also am ersten Tag nach
unserer Rückkehr von der See, im Zoologischen Garten gewesen. Ich befand
mich damals in einer Periode eigensinniger Kampfstimmung; keinem aus
meiner Umgebung war es im Zuge auf der Rückreise von Dieppe gelungen,
mich bis Paris zum Verlassen des offenen Coupefensters zu bewegen, an dem
ich mit wildem Hochgenuß die Abendluft und den Rauchgeruch des Zuges
einatmete. Ebensowenig konnte man mich am nächsten Tag im Zoologischen
Garten von dem Platz losreißen, von dem aus ich, festgebannt vor Bewun-
derung, durch die Gitterstäbe des Käfigs die aschgrauen Kraniche ihre grotesken ia
Tänze aufführen sah. Man hatte nachher vermutet, daß ich mich entweder
un
EEE ZT Pr POS EEE CE EEE OeTETeEBER SCSGERECREEBRSFERCBer CAPE HIETeC- OBERES SRFEEEVEBRgETEBEEEIECE Eu more RES
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 483
am Fenster des Zuges oder beim Stehen auf dem kalten Boden im Zoologischen
Garten erkältet hätte, und daß die Lungenentzündung und der Blutsturz eine
Folge davon gewesen seien.'
Sicherlich befand sich damals im Zoologischen Garten auch ein
Marabu und ganz gewiß waren in ihren Käfigen die rosa Flamingos aus
Ägypten zu sehen, deren Farbe mich so entzückte. Ich hätte stundenlang dort
bleiben und die schönen Vögel betrachten mögen, wie sie auf einem ihrer
zarten Beine im Wasser ihres kleinen Badebeckens standen. Das andere Bein
hatten sie unter ihrem Flügel hochgezogen und ließen manchmal auch ihren
Kopf und Hals darunter verschwinden. Damals meinte ich übrigens, daß ihr
Name Ibis sei. Bei dem Besuch am Tag vor meiner Erkrankung aber hatten
es mir die Kraniche angetan; deren Namen kannte ich damals nicht; ich hielt
sie für eine Storchgattung, und erst später, als ich ihre Tänze wieder sah,
konnte ich sie richtig erkennen.
Störche hatte ich damals auch noch nie in Wirklichkeit gesehen, aber ich
hatte von ihnen gehört. Und zwar wahrscheinlich durch eine Lehrerin, die
ungefähr um diese Zeit zu uns kam, eine Irländerin, die an einen Deutschen
verheiratet war. Mit ihr begann ich Englisch und Deutsch zu lernen und sie
zeigte und erklärte mir auch meine Bilderbücher. In einem von ihnen, das
ich vielleicht schon vor ihrem Eintritt bei uns besaß, befand sich auf der
rechten Seite eine farbige Abbildung, die ich heute noch vor mir sehe. Sie
stellte ein Dorf aus dem Elsaß dar und im Vordergrund auf der Spitze eines
Schornsteins sah man einen auf einem Bein stehenden Storch. Vielleicht hatte
mir diese Erzieherin oder schon eine ihrer Vorgängerinnen von den Störchen
erzählt, daß sie das außerordentliche Amt innehätten, die kleinen Kinder zu
bringen. Ich hätte jedenfalls so sehr gern Störche auf den Schornsteinen ge-
sehen, aber auf den Pariser Häusern waren keine zu entdecken — dazu hätte
ich nach dem Elsaß gehen müssen — und so mußte ich mich eben damit
begnügen, die Kraniche im Zoologischen Garten für Störche anzusehen.
2) Der große Vogel hatte alle Farben des Regenbogens. Das ist das Rätsel-
hafteste. Die Störche haben ja kein farbenschimmerndes Gefieder, ebensowenig
wie einer der anderen stelzbeinigen Vögel, an den ich hätte denken können:
Kranich, Reiher, Marabu oder selbst der rosa Flamingo. Es hilft nichts, den
Flamingo Ibis zu nennen, wegen der Ähnlichkeit des Namens mit Iris; ich
glaube auch im Alter von vier Jahren diese mythologische Bezeichnung des
Regenbogens noch nicht gekannt zu haben.
Nun denke ich zuerst wegen des wunderbaren Farbenspiels des großen
Vogels an den Regenbogen selbst, der, vom Himmel herabgestiegen, sich auf
die Erde zu stützen, in sie Sarg scheint. Ich liebte als Kind den
Himmel, die Sterne und Meteore sehr. Dann denke ich bei dem Farbenspiel
an einen Rötling, von dem man erzählt, daß die Römer des späten Kaiser-
reiches ihm verenden zusahen, bevor sie ihn aufaßen, um sich am Anblick
ı) Ich habe, seit ich das Vorstehende geschrieben, von einer heute noch lebenden
Dame, die unsere damalige Reisebegleiterin war, erfahren, daß es das Fenster des
von unserem Haus in Dieppe zum Bahnhof führenden Omnibusses gewesen war, von
welchem man mich nicht losbekommen konnte. Dieselbe Dame hat mir auch von
dem Bluthusten am übernächsten Morgen Mitteilung gemacht.
484 Marie Bonaparte :
GT Te an
der wechselnden Farben zu ergötzen, die der Fisch im Verlauf seines Todes-
kampfes annahm. Diese Geschichte war mir stets besonders schrecklich und
raffiniert erschienen, aber ich habe sie erst später gelesen — im Alter von
vier Jahren kannte ich sie sicher noch nicht.
Aber plötzlich erinnere ich mich. Es gibt etwas, das ich sicher schon als
vierjähriges Kind erzählen hörte: die Tatsache, daß meine Mutter, von deren
Liebreiz und Sanftmut jeder erzählte, dieses ideale Wesen, das denselben
Namen trug wie ich — Marie — gestorben war, nachdem sie mir das Leben
gegeben hatte. Ich hatte ja meine verstorbene Mutter selbst gesehen! Auf
dem großen Aquarellbild, das meine Großmutter im Salon aufgehängt hatte,
sah ich sie in einem weißen Kleid, wie eine Braut, ganz bleich auf ihrem
Bett auf dem Rücken liegen. Dieses Bild konnte ich alle Tage sehen. Meine
Mutter war einen Monat nach meiner Geburt gestorben, am Abend des
Tages, an dem sie zum erstenmal aufgestanden war. Sie starb an einer
„Embolie“ (Thrombose) — es scheint mir, daß ich dieses Wort immer schon
gekannt habe. Es hieß, daß meine Mutter kaum noch Zeit gehabt habe, sich
wieder zu Bett zu legen und meinen Vater zu rufen, um ihm zu sagen, daß
sie ihr Ende nahen fühle. Dies war die Folge ihrer Mutterschaft gewesen,
aber es gab dafür auch noch eine andere Ursache. Meine Eltern hatten ein-
ander bei einer russischen Dame kennengelernt, zu der man mich auch manch-
mal hinbrachte; sie lag immer zu Bett, weil sie angeblich einen „Schwamm
im Kopf“ hatte und rauchte ohne Aufhören parfümierte Zigaretten; mir er-
schien sie in ihrem stets spitzenverzierten Bett sehr schön. Es scheint nun,
daß diese Dame, wie meine Großmutter öfters erzählte, von dem jungen
Paar als Zeichen der Dankbarkeit ein Geschenk erhielt. Da man ihr aber
kein „Geld geben“ konnte, „kauften“ meine Eltern ihr eines ihrer schönsten
russischen Schmuckstücke „ab“ und bezahlten ihr dafür hunderttausend Frances.
Meine Großmutter sprach öfters von diesem Kleinod, und zwar hatte es den
Anschein, als hätte sie es dieses hohen Preises nicht für wert befunden, ob-
wohl es, wie sie sagte, ein Opal wäre, „groß, wie ein Ei,“ und von schönen
Diamanten eingefaßt. Ich hatte weder dieses Schmuckstück noch die anderen
aus dem Besitze meiner Mutter gesehen; sie waren wohl mein Erbteil, aber
man sagte mir, sie müßten bis zu meiner Großjährigkeit in der Bank auf-
bewahrt bleiben — für mich an einem weit entfernten, geheimnisvollen Ort.
Ich hatte aber bestimmt schon im Alter von vier Jahren von den Juwelen
sprechen gehört, vielleicht anläßlich der Besuche bei der russischen Dame
oder als meine Großmutter mir ihre vielen kleinen Schmuckstücke zeigte
und darunter eines Tages einen Opal in die Hand bekam. Der große Opal
erschien mir besonders deshalb in zauberhaftem Licht, weil die Frauen meiner
Umgebung über ihn noch eine andere Geschichte zu erzählen wußten und
die ähnelte ganz den Märchen, in denen die böse Fee regiert. Sie sagten,
der Opal sei ein Stein, der Unglück bringe. Meiner Mutter hatte der große
Opal, den sie anläßlich ihrer Verheiratung gekauft hatte, Unglück gebracht:
sie war nach der Geburt ihres ersten Kindes gestorben! Und wie sehr
hatte sie sich die Mutterschaft gewünscht! Bei ihrer Hochzeit war sie
zwanzig Jahre alt und es dauerte mehr als ein Jahr, bis sie die Gewiß-
heit hatte, Mutter zu werden. Sie hatte die Hoffnung darauf beinahe
schon aufgegeben. Dann war ich zur Welt gekommen und sie war — zwei-
er
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Änn n 3 un n n ennn n n e n unn}
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 485
undzwanzig Jahre alt — gestorben. Und sogar meine Großmutter fand es
seltsam, wenn es wirklich nicht wahr sein sollte, daß Opale Unglück bringen,
daß doch gerade meine Mutter diesen selten großen Opal besessen habe.
Davon nun mußte ich sicher schon in meinem vierten Jahr erzählen gehört
haben, denn diese Dinge wurden oft im Hause besprochen.
Auch noch etwas anderes habe ich sicher sagen gehört: daß meine Mutter
„schwach auf der Lunge“ gewesen sei und Blut gehustet habe. Trotzdem
meine Großmutter meist hinzufügte, was der Arzt sicher bestätigt hätte, daß
das „nur aus der Kehle gekommen“ sei, wo meine Mutter Geschwüre gehabt
hätte, wurde deshalb nicht weniger darüber geredet. Ganz sicher hatte ich
schon vor meinem vierten Jahr sagen gehört, daß meine Mutter Blut gehustet
habe; besonders so bald nach meiner Mutter Tode war dieses Thema ein täg-
licher Gesprächsstoff in unserem Hause.
Die Halluzination des großen, farbenleuchtenden Vogels beginnt uns ver-
ständlich zu werden. Der große Vogel ist einerseits als allgemeines Symbol
der Storch, der phallische Vogel, der die Kinder bringt; andererseits — als
nur mir zugehöriges Symbol — der glänzende Vogel, dessen Regenbogen-
farben mich an den eigroßen Opal erinnern, der meiner Mutter Unglück
gebracht hat. Ich hatte zwar diesen Opal nie gesehen, aber wie ich schon
sagte, hatte meine Großmutter unter ihren zahlreichen kleinen Schmuck-
stücken mir sicher auch einen kleinen Opal gezeigt; und als ich dann dessen zauber-
haftes Farbenspiel mit Angst und heimlicher Bewunderung betrachtete, hatte
sie mir wohl von dem anderen großen Opal erzählt.
Mein Vater, der mit vierundzwanzig Jahren Witwer geworden war, ver-
heiratete sich kein zweites Mal; er hatte auch niemals die Absicht, es zu tun;
er lebte mit seiner Mutter zusammen, die mich aufzog. Es ist wohl überflüssig,
zu sagen, daß meinem Vater zur Zeit, als ich vier Jahre alt war, meine aus-
schließliche, leidenschaftliche Liebe gehörte. Ich sehe ihn — aus einem noch
früheren Erinnerungsbild — in seiner Offiziersuniform groß und schlank vor
mir und daneben mich kleines Mädchen, das damals nicht älter als drei Jahre
gewesen sein konnte, — denn später war mein Vater aus der Armee aus-
getreten, — wie ich mit verliebter Leidenschaft eines seiner Beine in den
roten Beinkleidern mit meinen kleinen Armen umfasse. Ich vergötterte meinen
Vater; wenn er vor einer Reise Abschied nahm, krampfte sich mein Herz
zusammen und ich lebte dann nur in der Erwartung seiner Rückkehr. Heute
weiß ich, warum ich mit so sehnsüchtigen Blicken im Bois de Boulogne die
Bräute in ihren Wagen betrachtete, die, wie es damals in gewissen Kreisen
der Brauch war, zum Hochzeitsmahl in das Restaurant de la Cascade fuhren:
ich wollte an deren Stelle sein — als Bräutigam meinen Vater an meiner
Seite haben. Dies ist der klassische Traum kleiner Mädchen, der oft sogar
ganz offen ausgesprochen wird.
Ich erinnere mich aus meinem vierten Lebensjahr sogar an meinen Geburts-
tag. Ich sehe mich noch bei glühender Hitze — mein Geburtstag fällt auf
den zweiten Juli — allein in der großen Bibliothek meines Vaters in unserem
Haus am Cours la Reine den Besuch des Barons „Phylloxera“ erwarten. Das
war ein alter Kammerdiener meines Großvaters mütterlicherseits, in der
Familie berühmt wegen seiner Einbildung, der unverstandene Erfinder eines
unfehlbaren Mittels gegen die „phylloxera“ zu sein, die damals die Weinberge
486 Marie Bonaparte
verwüstete. Er kam jedes Jahr und brachte mir einen weißen Blumenstrauß,
nach damaligem Gebrauch in eine Manschette aus weißem Spitzenpapier
gepreßt, den Sträußen ähnlich, die ich durch die Wagenfenster bei den be-
neideten Bräuten im Bois gesehen hatte. Dieser weiße Strauß hatte einen
wunderbaren Duft, den Orangenblüten ähnlich; der Monat Juli ist ja die
Zeit der Lilien und Tuberosen. Ich erwartete also in der großen, heißen,
mit hohen Fenstern versehenen Bibliothek meines Vaters Besuch und Blumen-
strauß des Barons Phylloxera. Dieser kam stets in Begleitung seiner Tochter,
die ich darum beneidete, daß sie immer allein mit ihrem Vater gehen durfte,
was bei mir niemals vorkam. Und in der heißen Bibliothek, die mir das
Symbol für meinen Vater und seine Studien war, jene Studien, die vielleicht
meine Eifersucht erregten, weil sie den Vater von mir fernhielten, sagte ich
mir: „Heute bin ich vier Jahre alt geworden — wie alt bin ich doch!“ Und
das Bewußtsein meiner Jahre erdrückte mich. Ohne Zweifel war dieses Gefühl
der verhüllte Ausdruck für den Wunsch: alt genug, erwachsen genug zu sein,
um endlich meinen Vater heiraten zu können; hinter, diesem Wunsch verbirgt
sich der ganze Neid, den Kinder in der Ohnmacht ihrer leidenschaftlichen
Wünsche gegen die Erwachsenen fühlen.
Ich war nun mit meinen vier Jahren, wie es in diesem Alter meist der
Fall ist, im Begriff, den Höhepunkt des Ödipuskomplexes zu erreichen. Aber
ich war ja ein Kind, dem das Schicksal seine unbewußten Wünsche zum Teil
schon erfüllt hatte. Meine Mutter lebte ja nicht mehr und der ersehnte Platz
an der Seite des geliebten Vaters, den andere Töchter besetzt finden, war für
mich leer. Zwar lebte meine Großmutter, die ich trotz ihrer guten Eigen-
schaften nicht liebte, weil sie eine harte Natur war, und — heute weiß ich
es — hauptsächlich deshalb, weil mein Vater, ein ergebener und verehrender
Sohn, sie zu sehr liebte. Aber schließlich war der Platz meiner Mutter unbesetzt
und daher durfte ich vielleicht eher als ein anderes kleines Mädchen davon
träumen, ihn einzunehmen.
Die Identifizierung mit der Mutter traf aber auf einen Umstand, der für
die anderen kleinen Mädchen, denen die Mutter die lebende Rivalin ist, nicht
existiert: den Tod. Wie wir wissen, existiert für das Unbewußte der Begriff
des Todes nicht; das Ich allein macht sich im Verlauf seiner Entwicklung
irgendeine Vorstellung davon. Für das Unbewußte ist der Tod der Schlummer,
die Ruhe oder eine andere Welt, nicht der Tod selbst, dessen absolutes Nichts
für einen Lebenden unvorstellbar ist. Dadurch wird das Unbewußte in die
Lage versetzt, sich des Todesmotivs, wenn die äußere Realität es bringt, zu
bedienen und es zu erotisieren. Dem Kind liegt die sadistische Auffassung des
Koitus, mag es ihn bei den Erwachsenen beobachtet oder einfach durch eine
Art von phylogenetischem Erinnern vorausgeahnt haben, sehr nahe, und dies
hilft ihm, die Vorstellungen von Liebe und Tod miteinander zu verknüpfen.
Diese Verknüpfung — den Dichtern übrigens so wertvoll — entspricht einer
biologischen Realität: viele Tiergattungen bezahlen die Liebe mit dem Tod.
Und bei allem Lebendigen gäbe es keine Liebe, wenn der Tod nicht wäre.
Derartige philosophische Betrachtungen beschwerten mein vierjähriges Gehirn
sicherlich nicht. Dagegen unterstützten ganz bestimmte Tatsachen meinen
Wunsch, tot zu sein. Tot sein bedeutete für mich die Identifizierung
mit der Mutter, bedeutete, die Frau meines Vaters zu sein und — wie
a
Tr a
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 487
meine Mutter durch ihn — eine Vorstellung voll seltsamer Wonne —
zu sterben.
Nun brachte mir das Schicksal die Realisierung dieses aus meinem tiefsten
Innern kommenden Wunsches. Eines Morgens beim Erwachen „huste ich
Blut“, wie meine Mutter. Dann rufen die mächtigen, unbewußten Regungen
das halluzinatorische Phantasiekild hervor: der Storch bringt mir wie seinerzeit
meiner Mutter ein Kind von meinem Vater; ich bin jetzt seine Frau, seine,
Geliebte und durch ihn Mutter geworden. Und der Storch ist „opalisiert“,
wie es für meine Mutter Heirat und Mutterschaft gewesen sind; das heißt,
der Storch bringt mit der Frucht der Liebe, dem Kind, auch das Unglück,
den Tod.
Zwei weitere Merkmale des großen Vogels sind unter anderen noch be-
sonders aufschlußreich: Der Vogel betrachtet mich mit ein wenig zur Seite
geneigtem Kopf und er hat einen ungeheuren Schnabel, dick, lang und spitzig,
wie bei einem Marabu. Nun pflegte mich mein Vater, der sehr kurzsichtig
war, oft über sein Lorgnon hinweg von der Seite anzusehen. Der große,
farbenleuchtende Vogel zeigte seine charakteristische Kopfhaltung.! Weiters ist
der große, lange, dicke und spitzige Schnabel dem eines Marabu ähnlich,
eines Vogels, dessen Namen ich damals sicherlich noch nicht kannte, den ich
aber im Zoologischen Garten gesehen haben mußte. Nun haben die Marabus
das ernsthafte Aussehen studierender Gelehrter. Sehr viel später konnte mein
Mann im Scherz zu unseren Kindern sagen, als er mit ihnen im Zoologischen
Garten am Marabukäfig vorbeiging: „Da habt ihr den Großpapa.“ Denn mein
Vater war ein „Gelehrter“. Ich habe dieses Wort in Beziehung zu ihm und
seinem arbeitsreichen Leben kennengelernt. Es schien mir ein geheiligtes Wort
zu sein und ich sprach es nur mit Verehrung aus. Andererseits aber ist der
große Schnabel des Vogels ein klassisches phallisches Symbol. Kinder haben
im Alter von vier Jahren gewöhnlich schon die Verschiedenheit der Ge-
schlechter wahrgenommen, und es ist besonders auffällig, daß in dieser Hallu-
zination sowohl bei dem Subjekt, also bei mir selbst, als auch bei dem pro-
jizierten Objekt, der Erscheinung des Vogels, der Akzent gerade auf der
oralen Zone liegt. Die übliche Verschiebung der Libido von unten nach oben
ist klar ersichtlich: obwohl der große Vogel nur auf einem Bein und auf
meinem Unterleib steht, ist das Auffällige an ihm doch dieser große, drohende
Schnabel, ganz so wie bei mir das Bluthusten durch den Mund, die orale
Verletzung, auffällig ist. Nur in der Deckerinnerung, in dem halluzinatorisch
aus mir hinausprojizierten großen Vogel, war es meiner Erinnerung sozusagen
gestattet, das Bild des imposanten Schnabels festzuhalten; während bei der
Verletzung meines Körpers das allzu erschreckende Bild meines eigenen Blutes
in der Waschschüssel verdrängt wurde, und zwar in gründlichster Weise.
Man hatte mir während meiner Kindheit niemals von meinem Bluthusten
erzählt, und als man mir viel später in meiner Mädchenzeit endlich wie ein
schreckliches Mysterium von dem großen Geheimnis meines Blutsturzes im
Alter von vier Jahren Mitteilung machte, war nicht einmal diese Mitteilung
ı) Vgl. die „Brillen“ des Vaters, die das Pferd in der Phobie des kleinen Hans
„trägt“. — Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. Ges. Schr.,
Bd. VII, S. 136.
488 Marie Bonaparte -
— en.
imstande, auch nur die leiseste Erinnerung daran in mir wachzurufen. Erst
in der Folgezeit erstand in mir der Gedanke eines möglicherweise bestehenden
Zusammenhanges zwischen meinem Bluthusten und der ältesten, ernstesten
Krankheitserinnerung meines Lebens und der Storchhalluzination, die daran
teilhatte.
Die Erscheinung des großen Vogels wurde also unter der Einwirkung des
tiefsten meiner Wünsche heraufbeschworen, durch den Wunsch nach Identi-
fizierung mit meiner Mutter, die gestorben war, nachdem sie mir das Leben
gegeben hatte.
Daher stammen auch die beiden miteinander vermischten Affekte, die die
Halluzination begleiteten: die Angst einerseits und andererseits das intensive,
ästhetische Vergnügen. Die Angst gehörte dem Ich an, das durch die Heftig-
keit seiner Wünsche erschreckt war und zweifellos auch durch ein Schuld-
gefühl, daherkommend, daß ich meine Mutter „getötet“ hätte und die Wieder-
vergeltung nicht ausbleiben würde; aber viel stärker als die Angst war der
ästhetische Genuß an der Schönheit des großen, leuchtenden Vogels, der
erste, große, ästhetische Eindruck meines Lebens überhaupt. Es war so
wunderbar, den tiefsten meiner Wünsche verwirklicht zu sehen, endlich die
Frau des geliebten Vaters zu sein, durch ihn Mutter zu werden und den
Storch mir ein Kind bringen zu sehen, wie er es meiner Mutter gebracht
hatte, daß ich dafür mit überquellendem Herzen den Tod auf mich nahm.
Und doch fehlte etwas Wesentliches zu meinem Glück. Ich habe im Vor-
hergehenden berichtet, daß ich damals, als ich im dunklen Zimmer krank
lag, wie aus weiter Ferne Schritte aus den anderen Zimmern und den
Korridoren sich nähern und wieder entfernen hörte. Erst in diesem Jahr (1929)
habe ich verstanden, warum die Erinnerung daran die einzige ist, die mein
Gedächtnis im direkten Zusammenhang mit meiner Krankheit bewahrt hat.
Die Erinnerung an diese entfernten Schritte in den anderen Zimmern und
Korridoren ist für mich von tiefer Melancholie erfüllt. Schwer krank sein
und in einem verdunkelten Zimmer zu Bett liegen, während andere daneben
kommen und gehen, schien mir bis jetzt die Ausdrucksform für Melancholie,
für Heimweh im wahrsten Sinne des Wortes zu sein.
Mein kindliches Ohr lauschte damals den eiligen Schritten auf den Korridoren
nur deshalb mit solcher Aufmerksamkeit, weil es einen bestimmten, einen
einzigen Schritt herauszuhören hoffte. Aber die langen Tagesstunden — vielleicht
meine letzten Lebensstunden — vergingen, das Tageslicht hinter den zuge-
zogenen Vorhängen erlosch, ohne daß die schweren Schritte meines Vaters
— mein Vater trug immer hohe Stiefel — sich vernehmen ließen.
Als meine Mutter ihr Ende herankommen fühlte, hatte sie gerufen:
„Roland, ich sterbe!“ und mein Vater war sofort zu ihr geeilt. Er hatte ihre
Hand gehalten, als sie starb, Jetzt lag ich im Sterben und mein Vater kam
nicht zu mir!
Als er, durch das Telegramm meiner Großmutter gerufen, von seiner
Balkanreise zurückkam, war ich gerettet, und ich habe die unbestimmte
Erinnerung, daß seine Rückkehr mich deshalb enttäuschte. Er war zu spät
gekommen. Das Unbewußte ignoriert die Zeit und rechnet nicht mit der
Dauer weiter Eisenbahnfahrten; etwas in mir hat meinem Vater seine
Abwesenheit an meinem „Sterbebett“ nie verziehen.
in
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a ——n
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 489
ID Die Anubisphobie
Die Erscheinung des großen Vogels ist die leuchtendste Erinnerung aus
meiner Kinderzeit geblieben. Wer die Gesetze des Unbewußten, wie die
Psychoanalyse sie uns erschlossen hat, nicht kennt, mag sich darüber wundern,
daß die schönste Erinnerung meiner ersten Jahre gerade die sein soll, die als
Deckerinnerung für die Tatsache fungiert, daß ich an jenem Tag in Todes-
gefahr schwebte. Wir haben aber gesehen, daß für mein kindliches Vorstellungs-
vermögen der Tod etwas anderes bedeutete als in der Denkart der Erwachsenen,
daß er sich vielmehr einfach in den Dienst meiner glühenden Liebeswünsche
gestellt hatte, um diese schließlich zu verwirklichen. So ist auch das
erschreckendste Element meiner Halluzination, die „Opalisierung“ des Storches,
durch eine Art Verneinung, eine Umkehr des Affekts, zum bezauberndsten
und ästhetischsten Teil derselben geworden.
Später, in der weniger bewegten Zeit der Latenzperiode, verloren die
gleichgebliebene Liebe zum Vater und der gleiche Wunsch nach der Identifi-
zierung mit meiner verstorbenen Mutter ihre leuchtenden Farben und nahmen
eine dunklere Tönung an.
Bereits in San Remo, wohin man mich zur Rekonvaleszenz gebracht hatte,
vom Beginn des nächsten Jahres an hatte ich eine andere Vision, oder
vielmehr Phantasie, die nicht mehr dieselbe Schönheit aufwies wie die erste.
In diesem Jahr suchte ein Erdbeben die ganze dortige Küstengegend heim.
Ich wurde um fünf Uhr morgens in meinem kleinen Bett durch den ersten
Erdstoß aufgeschreckt und sah, im Begriff, mich zu ermuntern, aber noch ganz
verschlafen, im Geist einen Wolf, der auf einer an mein Fenster gelehnten
Leiter aufwärts kletterte und dabei an dem Haus rüttelte" Ich rief um
Hilfe, es kam schon jemand herbeigeeilt, um mich, da man den Einsturz des
Hauses befürchtete, in den Garten hinunterzutragen. Und dort sehe ich mich
noch unter den Orangenbäumen, deren schöne goldene Früchte ich so sehr
liebte, unserem Hauswirt zuhören, der meiner Großmutter schilderte, wie
sich manchmal infolge der Erdbeben der Boden öffne und Menschen in der
so entstandenen Spalte verschwänden, worauf diese sich wieder schließe. Auf
diese Weise sei eine Frau lebendig begraben worden. Daraufhin betrachtete
ich die Erde zwischen den kleinen Kieselsteinen der Allee voll Angst und
doch zauberhaft angezogen von der Vorstellung einer Katastrophe, die mich
möglicherweise hier ereilen konnte.
Aber erst viel später, als ich ungefähr acht Jahre alt war, wurden meine
Phantasien wirklich düster. Der Wolf war mir weiter als Spuk erschienen,
veranlaßt durch die Geschichte vom Rotkäppchen, in der er erst die Groß-
mutter verschlingt — es hätte mich wohl nicht sehr betrübt, meine strenge
Großmutter in seinem Rachen verschwinden zu sehen — und dann das kleine
Mädchen. Aber der Wolf war ein reizendes, vertraut gewordenes Tier im
ı) Zum Vergleich mit dieser Erinnerung folgende Beobachtung: Ich hatte
Gelegenheit, auf der psychiatrischen Klinik eine ältere Frau zu sehen, die anläßlich
des kürzlich in Wien stattgehabten Erdbebens (November ı927) einen Psychoseanfall
folgenden Inhaltes bekommen hatte: Ihr längst verstorbener Vater kam zur Türe
herein und versetzte dabei durch Rütteln das ganze Haus in Erschütterung.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4. ? 32
490 Marie Bonaparte
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Vergleich zu der finsteren Gestalt, die dann, als ich acht Jahre alt war,
meine Nächte zu beunruhigen begann.
Sowohl mein Vater als auch meine Großmutter waren Freidenker und
untersagten meiner alten Kinderfrau, mich zum Beten anzuhalten. Diese tat
es trotz des Verbotes, ünd so betete ich abends stets zitternd vor Angst, daß
meine Großmutter unversehens die Tür öffnen könnte, — so wie anderen
Kindern zumute ist, wenn sie Zuckerwerk stehlen. — Die alte Kinderfrau
ließ mich immer zu meiner Mutter beten, zu meiner „kleinen Mama“, wie
sie sagte.
Mein religiöser Sinn fand aber noch andernorts Nahrung. Ich liebte die
Mythologie, in der ich viel Übereinstimmung mit mir selbst ahnte, über alles.
Und so entdeckte ich einmal, in meinem achten Jahr, beim Blättern in einem
Buch über ägyptische Mythologie auf einer Gravüre Anubis, den düsteren
Gott mit dem Kopf eines Schakals, den „Totenwächter*, und vor ihm auf
einer Steinplatte ausgestreckt, die Mumie. Von diesem Augenblick an bemäch-
tigte sich Anubis meiner Phantasie, und jeden Abend, sobald ich mich in
meinem kleinen Bett auf dem Rücken ausstreckte (in der Lage der Mumie),
ergriff mich die tolle Angst, daß Anubis, der Schakal-Totenwächter, im
Dunklen zu heulen beginnen und in seiner ganzen schrecklichen Majestät vor
meinem Bett erscheinen würde. Die Anubisphobie war dem Anschein nach
noch irrationeller als die Tierphobien anderer Kinder: den kleinen Hans zum
Beispiel, dessen Geschichte Freud erzählt, hätte das Pferd, vor dem er sich
fürchtete, tatsächlich beißen können, während doch wirklich nicht die geringste
Aussicht dafür bestand, daß Anubis vor meinem Bett erscheinen konnte.
Trotzdem beherrschte die Anubisphobie mehrere Jahre meiner Kindheit, ohne
daß ich es gewagt hätte, zu irgendjemandem davon zu sprechen. Mit vier
Jahren hatte ich mich getraut, von der Halluzination des großen Vogels zu
erzählen, mit acht Jahren fand ich nicht mehr den Mut, die Anubisphobie
mitzuteilen. Sowohl meine Verdrängungen als auch der Kampf gegen dieselben
waren stärker geworden; um aber diese neue Einstellung verständlich zu
machen, müßte ich hier meine ganze alte Anubisphobie analysieren — und
das würde zu weit führen.
Sicher ist nur, daß ich der Anubisphobie absolut verständnislos gegenüber-
stand. Ich hatte damals weder die Gedankenverbindung von der Mumie auf
der Gravüre zu meiner Mutter auf dem Aquarell im Salon erkannt, noch zu
der Geschichte, die ich hunderte Male erzählen gehört hatte: daß meine
Mutter „einbalsamiert“ worden sei — wie die Mumien. Ich erfuhr viel
später, daß diese Geschichte nicht auf Wahrheit beruhte, aber während meiner
ganzen Kindheit glaubte ich daran.
Noch viel weniger war es mir klar, daß ich selbst die Mumie war. Nie-
mals berührte mich auch nur im entferntesten der Gedanke, daß ich, wenn
Anubis mich jeden Abend erschrecken kam, sobald ich mich wie die Mumie
in meinem Bett auf dem Rücken ausgestreckt hatte, mir wohl selbst vor-
stellte, dann die Mumie zu sein. Aus dem Paar der Phobie, Anubis und der
Mumie, erfaßte mein Bewußtsein nur den einen Teil, selbstverständlich ohne
zu erkennen, daß es in Wirklichkeit mein Vater war, der aufrecht neben der
Toten stand. Die verstorbene Mutter, mit der ich mich identifizierte, blieb
sowohl als Begriff wie auch als Bild unbewußt, sie war eine unantastbare,
- Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 491
unbewußte Vorstellung. Dieser Tatsache wäre das Vergessen an die Seite zu
stellen, das anläßlich meines Blutsturzes im vierten Jahr die Vorstellung des
Blutes, die Vorstellung von mir s elbst, bluthustend wie meine Mutter,
betraf. Als Deckerinnerung blieb nur das Bild des farbenschillernden Storches,
des großen, väterlichen, phallischen, auf einem Bein stehenden Vogels.
Die Anubisphobie manifestierte sich auch oral, wie dies bei der Storch-
halluzination in noch vollkommenerer Weise der Fall gewesen war. Der
Schakal nährt sich ja in Wirklichkeit von Aas und in meinem Unbewußten
war ‚Anubis, der meinen Vater verkörperte, zugleich Wächter und Ver-
schlinger der Toten — oder vielmehr der toten Frauen.
Tief in meinem Innern trug ich während meiner ganzen Kindheit auch
noch eine andere geheimnisvolle Erinnerung. Ich bildete mir ein, meine ver-
storbene Mutter in Wirklichkeit gesehen zu haben; aber das verschwieg ich
eifersüchtig — niemand sollte davon wissen. Es war an der Meeresküste ge-
wesen, in Dieppe, nach dem ich immer Heimweh hatte. Nach meinem Blut-
husten waren wir nur noch ein einziges Mal dort gewesen und unter dem
Vorwand, daß mir das Meer nicht gut bekomme, weil ich letztes Jahr auf
dem Geröll des Strandes beinahe ohnmächtig geworden war, war das Haus,
das wir als Erbe nach meiner Mutter dort besassen, bald verkauft worden.
Ich hatte aber die Sehnsucht nach Dieppe behalten und auch das Verlangen
nach den verzuckerten Apfelstücken, die ich bei der Durchfahrt im Bahnhof
von Rouen immer bekam; an den Apfelstücken sog ich mit Wonne und doch
auch mit Angst, eingedenk der Geschichte von dem kleinen Jungen, der sich
mit einer spitz-gesaugten Zuckerstange die Zunge durchstochen haben sollte.
Vor allem sah ich aber im Geiste ein Bild vor mir, das mich entzückte,
und nach dem mir jetzt, da wir nicht mehr ans Meer fuhren, vor
Sehnsucht fast das Herz zerbrach: von der Höhe eines schmalen Gäß-
chens, die der Bahnhofsomnibus langsam erklomm, erblickte man plötzlich
zwischen den nahe aneinander stehenden Häusermauern das Meer, ein
Stück blaugrünes, mit weißen Segeln besticktes Meer. Und das sollte ich
vielleicht nie wiedersehen ! Dieppe war aber für mich noch um einer anderen,
viel wunderbareren Erinnerung willen ein geheiligter Ort. War ich dort
nicht einmal, als ich noch ganz klein war, allein mit meiner Mutter in der
düsteren, von Fischern besuchten Kirche gewesen ? Kniete meine Mutter nicht
schwarzgekleidet, Gottes Beistand erflehend, in einem Betstuhl, unbeweglich,
stumm und blaß, blaß wie eine Wachsstatue oder vielmehr wie eine Tote?
Diese Phantasie, an deren Realität ich während meiner ganzen Kindheit glaubte,
bewahrte ich tief in meinem Innern wie einen kostbaren Schatz, den niemand
entdecken oder gar vernichten durfte,
Auch ein oft wiederkehrender Traum aus meiner Kindheit bezog sich auf
das Meer. Der Traum begann immer folgendermaßen : „Ich war in einem
Zimmer und hörte Leute, Männer die Treppe heraufkommen. Da mir der
Weg zur Flucht über die Treppe verlegt war, stürzte ich mich zum offen-
stehenden Fenster hinaus. Und nun flog ich; ich flog über einen Garten hin-
weg und erhob mich mit einem Ruck über die großen ihn einfassenden Bäume,
deren Spitzen im Flug von meinen nachschleppenden Füssen ganz leicht ge-
streift wurden. Mein Flug setzte sich über ausgedehnte Ebenen fort, an deren
Horizont, weit entfernt, der Spiegel des Meeres glänzte. Je näher ich dem
z2*
sangen
492 Marie Bonaparte
Meer kam, desto rascher wurde mein Flug; es war, als würde ich von einem
Wind im Rücken vorwärts gestoßen; und nun, selisam und gräßlich anzusehen,
wurde der ganze Himmel weiß und meine vom Licht geblendeten Augen ver-
loren die Fähigkeit, sich zu schließen. So kam ich in schwindelndem Flug
zur ersten Lagune und überflog sie; ein schmaler Streifen Land, eine zweite
Lagune und noch eine; der Himmel wurde immer heller, meine mehr und
mehr schmerzenden Augen standen weit offen und nun wurde ich über das
offene Meer hinausgetragen. Jetzt aber verlor mein Flug nach und nach an
Schnelligkeit, die Kraft, die mich fortgetragen hatte, ließ nach, ich fiel, fiel
trotz meiner verzweifelten Anstrengung auf die Wellenkämme herab, die meine
Füße schon benetzten. Nun aber, im Moment, wo ich das Wasser berührte,
war mir, als ob es mich einsaugen wollte, ich fühlte das kalte Wasser erst
an meinen Knien, meinen Hüften, an den Lenden, dann verschwanden meine
Schultern darin, und im Augenblick, wo das salzige Wasser mir, den Atem be-
nehmend, in den Mund einzudringen begann, erwachte ich in einem entsetz-
lichen Angstzustand. In wie vielen Nächten habe ich unter diesem Angst-
traum gezittert, in dem das Meer, dieses ewige Muttersymbol, mich so an-
lockte, um mich zu verschlingen, mich ganz in sich aufzunehmen, in dem
der salzige Geschmack des Wassers, das meinen Mund füllte, vielleicht die
unbewußte, unverwischbare Erinnerung an den faden, salzigen Geschmack des
Blutes war, das mich bei meinem Blutsturz beinahe das Leben gekostet hätte.
Auf das Meer bezüglich muß ich hier auch noch eine Erinnerung aus
meiner Latenzzeit erwähnen, die mit meinen geographischen Studien zu-
sammenhängt. Ich begeisterte mich für die Geographie, deren Studium mein
Vater sich gewidmet hatte. Nun, von allen Meeren, deren Namen ich kennen-
lernte, bezauberte und lockte mich keines so sehr, erweckte keines so stark
den Wunsch in mir, es zu sehen und darin zu baden, wie das „Tote Meer“.
Dieses seltsame Meer mit dem salzhältigen Wasser, in dem, wie man mir
sagte, kein Fisch leben kann, in dem man schwimmt, ohne untersinken zu
können, weil der Salzgehalt zu groß ist, dieses Meer, das „einbalsamiert“ ist-
wie die Mumien in ihrem Natronbad, faszinierte mich, ohne daß ich damals
gewußt hätte, warum. Heute weiß ich, daß das Unbewußte sich gern solcher
sonderbarer Wortspiele bedient, die, so absurd sie auch erscheinen mögen,
doch voll eines tiefen Sinnes sind.’
Nun waren von den Wellen des Toten Meeres zwei sündhafte Städte ver-
schlungen worden, deren Namen allein in ihrem absonderlichen und schreck-
haften Klang eine mit Angst vermengte Anziehungskraft auf mich ausübten.
Ich wußte sehr genau, ohne sagen zu können, um was es sich handelte, daß
Sodom und Gomorrha wegen geheimnisvoller, furchtbarer Sünden, die man
vor Kindern geheimhält, bestraft worden waren. Man erzählte doch, daß Lots
Frau, nur weil sie sich nach den dem Fluch verfallenen Städten umgeschaut
hatte, in eine Salzsäule verwandelt worden war. Eine Salzsäule war mir im
Geiste immer ganz blaß erschienen, wie eine Tote. Es mußte da irgend etwas
sein, das man nicht sehen, von dem man nichts wissen durfte! Vielleicht
ı) Anmerkung der Übersetzerin: im Französischen heißt:
la mere morte = die tote Mutter.
la mer morte = das Tote Meer.
nn Du n n n TTwww Tu
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 493
hatte meine Mutter auch — das blieb unbewußt — aus geheimnisvollen Ur-
sachen, die man vor Kindern verbirgt, sterben müssen. Und das Salz! Das
Salz schien mir eine geheiligte, gefürchtete Substanz zu sein.!
Die Vorleserin meiner Großmutter pflegte Salz, das bei Tisch verschüttet
worden war, mit einer beschwörenden Geste über ihre Schulter zu werfen.
Mein Vater ergriff einmal meine Hand, um mich zu hindern, es ihr gleich-
zutun; er wollte mich lehren, abergläubische Gebräuche zu verachten, was
ich sonst nach außenhin auch tat. Aber tief in meinem Innern sah es anders
aus. Die Kristallbildungen, mit denen ich mir die Ufer des Toten Meeres
bedeckt dachte, schillerten zauberhaft. Und die wunderbaren Farbenspiegelungen,
die ich mir vorstellte, riefen sicherlich meinem Unbewußten den Opal ins
Gedächtnis, den wahrhaft verhängnisvollen Opal, der in tiefem Schlaf auf dem
Boden seiner Schatulle in der Bank ruhte.
ID Die Tuberkulosephantasie
Obwohl mein Tuberkuloseanfall aus der Kindheit sich niemals wiederholt
hatte, übte doch der Opal vom Grunde der Schatulle aus, in der er in der
Bank verborgen lag, weiter seine unheimliche Macht. Im Alter von siebzehn
Jahren, nach einer quälenden Periode von Konflikten, die meinen Entwick-
lungsjahren gefolgt war, in der ich Monate hindurch meinem gleichwohl so
sehr geliebten Vater das Leben schwer gemacht hatte, — so zeigt sich die
Gefühlsambivalenz, — machte sich eine Reaktion meiner zärtlichen Gefühle
gegen ihn bemerkbar. Gleichzeitig entstand und setzte sich immer mehr in
mir der Gedanke fest, daß ich, wie meine Mutter, tuberkulös sei und daß
man es vor mir geheimhalte. Ich konstatierte bald alle Arten von bestätigen-
den Symptomen. Es war also klar, daß alle mich täuschten, meine Verwandten,
die Ärzte, die alle beteuerten, daß mir nichts fehle. Einzig und allein meine
alte Kinderfrau, die seit meinem fünften Jahr bei uns war, eine alte, ergebene
und beschränkte Korsin, die mich in meiner Kindheit im Kultus meiner
verstorbenen Mutter stets bestärkt hatte, nur die alte Kinderfrau schüttelte
den Kopf, wenn sie mein schlechtes Aussehen betrachtete, und murmelte mit
Tränen in den Augen: „Ich habe es immer gefürchtet.“ Oh, ich wußte es,
ich gab mich gar keiner Täuschung über mein Schicksal hin, ich war tuber-
kulös geworden und würde, so wie meine Mutter, nach meinem kaum
erreichten einundzwanzigsten Jahr sterben. Hatte ich doch von meinem Anfall
im Alter von vier Jahren sprechen gehört? Hatte man mir damals von dem
Blutsturz erzählt, der meine ganze Kindheit verdüsterte, weil man mich
deshalb ins Haus einschloß? Ich glaube, sagen zu können, daß man mir diese
Mitteilung machte, als ich sechzehn Jahre alt war, also kurze Zeit vorher.
Nun zeigten die Arzte, die sich, wie wir wissen, dem Verständnis
psychischer Konflikte verschließen, in meinem Fall ihr ganzes Können. Unser
Hausarzt begann, obwohl er mich sehr lieb hatte, meine Todesgedanken mit
ständig zunehmender Verachtung zu behandeln, was mich zur Verzweiflung
brachte und im Festhalten an meinen Ideen nur bestärkte. So oft ich mit
ı) Vgl. Ernest Jones: „Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der
Völker“, „Imago“, Bd. I, (1912).
ee Tr m
494 Marie Bonaparte
ihm davon zu sprechen versuchte, schickte er mich, wie man gewöhnlich
sagt, „spazieren“.
In dieser Weise vergingen drei Jahre, während ich den Gedanken an
meine eingebildete Tuberkulose stets mit mir herumtrug. Ich fühlte in meiner
ganzen rechten Seite einen Druck, ich hatte manchmal Beklemmungen, wurde
anämisch; auch magerte ich ab, hatte wenig Appetit und litt während der
kalten Jahreszeit ständig an Kehlkopf- und Luftröhrenkatarrh, was mir meine
Vermutungen nur zu bestätigen schien. Ich sagte mir, daß die Ärzte entweder
zu dumm oder zu nachlässig seien, um klar zu sehen, oder daß sie mich
eben täuschten. Indessen hatte man fortlaufend verschiedene Spezialisten zu
Konsilien gerufen, die immer das gleiche Resultat ergaben: es war nichts
zu finden. Trotzdem glaubte ich weiter daran, daß die Ärzte mich
hintergingen.
Damals entstand in mir der Wunsch, Medizin zu studieren, aber mein
Vater war dagegen, mit der Begründung, daß das Studium meinen Heirats-
chancen schaden könne. Ich unterwarf mich sogleich seinem Willen. Wozu
auch kämpfen? Sicherlich war ich viel zu krank, um auf die Universität
gehen zu können, und dann kam mir damals der Gedanke gar nicht, daß ich
meinem Vater ungehorsam sein könnte. Mein Leben war indessen weder
trübselig noch mutlos. Niemals habe ich, allerdings nur zu Hause, so viel
gearbeitet wie in dieser Zeit; es war für mich eine intellektuell bedeutsame
Periode. Ich stand im Winter vor Tagesanbruch auf und lernte, manchmal
schon von fünf Uhr an bis abends, in meinem Studierzimmer eingeschlossen,
Geometrie, Geographie, Geschichte, Naturwissenschaften, Philosophie, französi-
sche und deutsche Literatur. Ich ging nicht ins Lyzeum, sondern arbeitete
in meinem Zimmer wie mein Vater in dem seinigen, und mit einem zügel-
losen Eifer, der mir größer schien als seiner und mit dem ich mich brüstete.
Ich war stolz darauf, bei den täglichen Mahlzeiten mit meinem Vater von
meinen wissenschaftlichen Studien sprechen zu können; wenn er auch leider
Literatur und Kunst, die ich ebenfalls liebte, verachtete, so sagten ihm
wenigstens meine wissenschaftlichen Neigungen zu. Damals hegte ich die
jugendliche Illusion, daß ich mit der Kraft meines Geistes die Welt erobern
könne. Ich entsinne mich mancher Wintermorgen in meinem einsamen, hoch-
gelegenen Studierzimmer in unserem, die Stadt überragenden Hause: während
meine Lampe erlosch, ging am Horizont von Paris unter meinem Fenster die
rote Sonne auf; in ihrem Rot schien sie mir der Erregtheit meines Herzens
vergleichbar. Vielleicht würde ich jung sterben müssen, aber was lag daran!
Niemals war ich noch so glücklich gewesen.
Und doch entstand in mir zur selben Zeit eine neue Phobie. Ich konnte
zwar nicht Medizin studieren, aber alles, was damit im Zusammenhang steht,
erregte mein leidenschaftliches Interesse. Besonders interessierte mich die
Anatomie, ich wollte mich gründlich damit befassen, mein Studium also am
Skelett beginnen. Nun befand sich in der großen Bibliothek meines Vaters
ein kleines Skelett, das er geschenkt bekommen hatte; es war das Skelett
einer jungen Hindufrau, die im ungefähren Alter von zwanzig Jahren an
Tuberkulose gestorben war. Unter einem Glas daneben lag die Totenmaske,
die ihre abgemagerten Gesichtszüge zeigte.
Ich bat nun meinen Vater, mich das kleine Skelett in meinem ‚Studier-
a —
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 495
zimmer aufhängen zu lassen, damit ich mit Muße daran lernen könne. Aber
meine Bitte entsprang noch einer anderen Ursache: im Grunde fürchtete ich
mich sehr vor dem kleinen Skelett und wollte mich zwingen, mich an
seinen Anblick zu gewöhnen. Außer meinen Angst- und Konversionserschei-
nungen hatte ich zahlreiche Zwangssymptome entwickelt, die mich immerfort
dazu drängten, mich zu überwinden, zu besiegen und gerade die Dinge zu
tun, die ich am meisten fürchtete. Ich will hier nicht näher auf diese
Symptome eingehen, weil ich in der vorliegenden Arbeit nur heraushebe, was
Beziehung zur Identifizierung mit meiner verstorbenen Mutter hat, um davon
ein geschlossenes Bild zu geben.
Nachdem ich nun das kleine Skelett in meinem Studierzimmer aufgehängt
hatte, ging ich daran, es zu studieren. Ich war öfters versucht, es von seinem
Haken herabzunehmen, es neben mich zu stellen und unsere Größenmaße
miteinander zu vergleichen. Meine Mutter war auch um vieles kleiner ge-
wesen als ich und war auch ungefähr im gleichen Alter wie die kleine
Hindufrau gestorben. Aber diese familiären Beziehungen zu dem kleinen
Skelett, weit davon entfernt, es mir vertrauter zu machen, hatten folgendes
Resultat: das kleine Skelett begann mir jetzt, bisweilen Nacht für Nacht, zu
erscheinen. Ich ging im Traum an ihm vorbei... da streckte es die Hand
aus und ergriff mich, als wollte es mich mitziehen. Oder es tanzte vor mir
und kam dann auf mich zu und ich erwachte in einem schrecklichen
Angstzustand. So war die alte Kinderfurcht vor der posthumen Rache meiner
Mutter wieder auferstanden. Das kleine Skelett der zwanzigjährig verstorbenen
Lungenkranken war sie selbst; sie war von ihrem Aufenthaltsort in die
Bibliothek meines Vaters heraufgekommen, um mich dafür zu bestrafen, daß
ich ihn ihr weggenommen hatte. Und jetzt, nachdem ich selbst tuberkulös
war, wie sie es gewesen, kam sie jede Nacht, um mich zu mahnen, daß es
bald an der Zeit sei, ihr ins Grab zu folgen, was ich gleichzeitig fürchtete
und ersehnte.
Als ich einsah, daß ich mich, trotzdem Monate vergangen waren, nicht
an das kleine Skelett gewöhnen konnte, und obwohl ich damals nicht
wußte, daß der Inhalt des Unbewußten der Usur der Zeit nicht unterliegt,
gab ich nach und brachte das kleine Skelett schließlich wieder hinunter in
die Bibliothek.
Und trotzdem beunruhigte es weiterhin meine Nächte. Ich sah mich im
Traum die Treppen hinabgehen, um zu meinem Vater in die Bibliothek zu
gelangen; aber unterwegs erfaßte mich das kleine Skelett von rückwärts mit
seiner ausgestreckten Hand. So lebte ich mit meinen Angstträumen fort und
wagte nicht, bei hereinbrechendem Abend und schließlich sogar bei Tage
nicht mehr, allein in die Bibliothek zu gehen.
Diese Phobie war eben ein ganz wunderbares Kompromiß zwischen zwei
mächtigen Tendenzen meines Unbewußten: meine Mutter sein, sterben wie
sie, befriedigte den positiven Teil meines Ödipuskomplexes, die Liebe zu
meinem Vater; und von meiner Mutter mit dem Tode bestraft werden
als Wiedervergeltung für den Tod, den ich ihr verursacht, entsprach dem
anderen Teil meines Ödipuskomplexes, dem damit verbundenen, unbewußten
Schuldgefühl.
Mein Vater hatte mir, als ich neunzehn Jahre alt wurde, die Erzählungen
nn ne nn en u nn en nm n ne nen nnnunnrLmnnnmnEeEn m unune Danummyammmserens 1
496 Marie Bonaparte
von Edgar Poe, in der Übersetzung von Baudelaire, gegeben und ich
begann sie an den Abenden des folgenden Sommers auf dem Lande zu lesen.
Zuerst las ich den „Doppelmord in der rue Morgue“, den „Gestohlenen
Brief“, den „Goldenen Skarabäus“, die drei Erzählungen, die mein Vater
de, die mir aber keinen übermäßigen Eindruck machten. Als ich
aber „Ligeia“, eine Geschichte, die mein Vater geringschätzte, begonnen
hatte, wurde ich bei Beschreibung des als Rächerin wiederkehrenden Leich-
nams der Frau von solcher Angst ergriffen, das ich damals, wie mir scheint,
nicht imstande war, die Geschichte zu Ende zu lesen. Und bald gab ich
diese schreckenerregende Lektüre ganz auf. Es war darin etwas, dessen Art
ich nicht ertragen konnte, ich, die ich mich — und das seit meinem drei-
zehnten Jahr — an der Aufführung von Tragödien wie Hamlet oder König
Ödipus begeistert hatte. Ich konnte mit den Geschichten von Poe so wenig
vertraut werden wie mit dem kleinen Skelett; es war mir klar, daß, je
mehr ich davon lesen würde, meine Angst sich nur steigern würde; es gab
da sicherlich noch andere, ebenso schreckliche Erzählungen, wie „Ligeia“,
und es war besser, diese gar nicht kennen zu lernen. Und im Verlaufe von
fünfundzwanzig Jahren meines Lebens öffnete ich kein Buch, in dem
möglicherweise eine Geschichte von aus der anderen Welt wiederkehrenden
Geistern, besonders weiblichen Geschlechtes, vorkommen konnte. Ich hatte
nämlich bald bemerkt, daß die toten Frauen mir hundertmal mehr Angst
einflößten als die toten Männer; wegen der in Poes Erzählungen so häufig
vorkommenden weiblichen Geister habe ich mich von der Lektüre seiner
Werke ferngehalten. Ich durfte nicht wagen, „Ligeia“, früher, als jetzt
während meiner Analyse, wieder zu lesen — und wie überfiel mich da die
Angst von neuem! — um nun endlich die Gründe meiner Furcht kennen
zu lernen. Nachdem „Ligeia“ sich als das gezeigt hatte, was sie für mich
war: als die rächende Mutter, die wiederkehrt, um den durch Rowena (mich)
usurpierten Platz an des Vaters Seite wieder einzunehmen, verlor sie mit
einemmal zugleich mit ihrem Geheimnis auch ihre angsteinflößende Kraft.
Das war sogar ein therapeutisches sehr hübsches Resultat meiner Analyse.
Indessen, als ich das Alter von zwanzig Jahren erreicht hatte, — das
Alter, in dem meine Mutter geheiratet hatte, — begann meine „Krankheit“
sich plötzlich zu verschlimmern. Ich magerte ab, ich verfiel zusehends.
Meine immerwährenden Halsübel wurden in diesem Winter zu einer chroni-
schen Krankheit; ich hatte sogar manchmal blutgefärbte Schleimabsonderungen.
Meine Angehörigen erklärten das mit erblicher Belastung; sie sagten, es
wäre genau wie bei: meiner Mutter, die Geschwüre im Halse hatte und
deshalb auch Blut hustete. Ich aber magerte weiter ab, wurde immer
blasser, immer schmächtiger, ich nahm immer mehr und mehr das Aussehen
einer Kranken an und machte das alles so gut, daß mein Vater und meine
Großmutter sich endlich auf den Rat der Ärzte entschlossen, mich fort-
zuschicken. Wenigstens sollte mein Aussehen, das jeden, besonders zukünftige
Bewerber, abgeschreckt hätte, sich bessern; ich sollte mich kräftigen und
meine „Anämie“, so wurde ärztlicherseits mein Leiden genannt, aus-
heilen. Ich wurde in den Süden geschickt.
Gerade das hatte ich mir gewünscht. Ich hatte den Süden — das Land,
in dem meine Mutter aufgewachsen war — seit meinem fünften Jahr, seit ich
mom mm
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 497
nach meinem Blutsturz dort gesund geworden war, nicht wiedergesehen. Aber
ich erkannte alles, als hätte ich es erst gestern verlassen. Und ich finde nicht
genug Worte zur Schilderung meines Entzückens, als ich Palmen, Eukalyptus-
bäume, Zitronen- und Orangenbäume wieder sah und die duftenden, gelben,
blühender Sonne gleichenden Mimosen.
Dort lebte ich meist im Freien und zwang mich nach eigenem Gutdünken
mehrere Monate hindurch zu schrecklicher Überernährung, die mich bald
fast an die Grenze der Fettleibigkeit brachte. Daraufhin schränkte ich meine
Nahrungsaufnahme wieder ein und nahm glücklicherweise an Gewicht ab,
aber das gute Aussehen behielt ich bei. Trotzdem mußte ich an vier aufein-
ander folgenden Wintern wiederkommen, ohne mich indessen schon ganz
gesund zu fühlen. Denn dazu fehlte mir eine Bedingung, von der weder ich
selbst noch meine Ärzte etwas wußten: ich mußte einen bestimmten Zeitpunkt in
meinem Leben überschritten haben. Ich konnte tatsächlich von meiner Tuber-
kulosephantasie nicht genesen, bevor ich mein zweiundzwanzigstes Jahr nicht
überschritten,. also das Alter erreicht hatte, in dem meine Mutter gestorben
war. Ich hätte mich auch früher nicht verheiraten können. Meine Angst vor
Schwangerschaft und Gebären war zu dieser Zeit ohnehin intensiv genug —
es mußte mindestens durch Überschreiten des unheilvollen Zeitpunktes das
drohende Verhängnis beschworen werden. Die Tuberkulosephantasie war ein
Kompromiß, das mich einerseits vor der Heirat, der Schwangerschaft, also
dem tatsächlichen Schicksal meiner Mutter bewahrte, andrerseits aber auch vor
der Untreue gegen meinen Vater; denn sie ließ mich der primitiven Liebe zu
meinem Vater treu bleiben und verwirklichte, wie seinerzeit die Storchhallu-
zination, meinen tiefsten Wunsch: die Identifizierung mit der während meiner
Kindheit bis über den Tod hinaus beneideten Mutter.
Indessen — ich glaube, es war als ich zwanzig oder einundzwanzig Jahre
alt war — kamen die Schmucksachen meiner Mutter aus der Bank zurück,
wo sie seit ihrem Tode aufbewahrt gewesen waren, und wurden mir in aller
Form übergeben; und nichts aus dem Inhalt der Schatulle erregte mein Interesse
so sehr wie der große Opal.
Aber sein Anblick enttäuschte mich. Vor allem hatte er nicht die Form
eines Eies, von der ich während all der Jahre geträumt hatte und die meinen
unbewußten Wünschen besser entsprach, sondern er war herzförmig. Übrigens,
wenn man sich die Brillanten der Umfassung wegdenken wollte, ergab sich
auch nicht — wovon ich solange geträumt hatte — die Größe eines Hühnereies;
der Opal war gerade nur etwas größer als ein Taubenei. Und sein Farben-
spiel war zu milchig, zu matt, jedenfalls viel weniger lebhaft, als das des
großen Vogels — den ich übrigens damals noch nicht mit ihm in Verbindung
brachte. Kurz gesagt, im hellen Licht meiner zwanzig Jahre besehen, ent-
täuschte mich der große Opal.
Ich legte ihn beiseite und trug ihn nicht, weil ich fand, daß dieses alte,
russische Schmuckstück für den modernen Geschmack zu plump sei. Auf diese
Weise rationalisierte ich meine Gefühle.
Als ich indessen endlich mein zweiundzwanzigstes Jahr erreicht hatte,
sagte mein Vater zu mir: „Die Zeit vergeht, Du bist jetzt zweiundzwanzig
und wegen der dummen Ideen über deine eingebildete Krankheit gibt es noch
keine Heiratsaussicht für Dich. Es wäre wirklich an der Zeit, zur Vernunft
m mmmnnnmmmmmamamaRanmRMmRmRamamaZ mmmmmmannmnmnmmmmmmmmmmmmm ZZ ———
498 Marie Bonaparte
zu kommen und von Deinen verrückten Ideen zu lassen.“ Mein Vater sprach
ganz so, als ob er in seinem Unbewußten davon Kenntnis gehabt hätte, daß
tatsächlich der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Realität es mir ermög-
lichte, mich von ihm loszulösen und die liebevolle und schreckliche Phantasie
zu beenden, die mich gegen meinen Willen an sein Haus gebunden hatte.
Meines Vaters Ausspruch über meine „eingebildete“ Krankheit kränkte
mich zuerst. Er glaubt also nicht daran, dachte ich, er denkt eben an nichts
anderes, als mich vorteilhaft zu verheiraten; er liebt mich eben nicht! Und
ich zürnte meinem Vater mit der ganzen Kraft meines Herzens.
Diese Phrase „er glaubt nicht daran“ hatte eben noch eine andere tiefe
Bedeutung außer der, die ich selbst ihr verlieh. Der manifeste Gedanke lautete
für mich: „Er glaubt nicht an meine schwere Krankheit.“ Aber der latente -
Gedanke hieß: „Er glaubt nicht an meine übermächtige Liebe.“ Denn meine
„eingebildete“ Krankheit drückte aus, was am „realsten“ in mir war: die
tiefe und treue Liebe bis zum Tode, die Liebe, von der nur ein, und zwar
der kleinere Teil die Oberfläche des Bewußtseins streifte, die Liebe, die ich
seit meiner Kindheit meinem Vater — und nur ihm allein — bewahrte.
Jetzt aber, da ich zweiundzwanzig Jahre alt war, sagte mir mein Vater
selbst, daß es Zeit sei, auf die aus Liebe zu ihm entstandene Identifizierung
mit der verstorbenen Mutter zu verzichten. Die Realität verkündete es: ich
hatte das Alter von zweiundzwanzig Jahren erreicht und war nicht gestorben;
und da ich gar keine Veranlagung für die Psychose besaß, die Stimme der
Wirklichkeit zu überhören, wenn diese laut genug sprach, reagierte ich auf
das, was sowohl mein Vater als auch das Schicksal sagten.
Tatsächlich begann von diesem Zeitpunkte an meine Tuberkulosephantasie
zu verblassen. Im darauffolgenden Winter im Süden fühlte ich mich immer
besser, immer gesünder; ich hatte das deutliche Gefühl, daß meine Tuberkulose
— an die ich immer noch glaubte — endlich wirklich in der Heilung
begriffen war.
Im folgenden Winter, im Winter meines dreiundzwanzigsten Lebensjahres,
erreichte ein Arzt in Nizza endlich, was allen anderen mißlungen war: er
nahm sich die Mühe, öfters mit mir zu sprechen, und überzeugte mich nach
und nach nicht nur davon, daß ich vollkommen von meiner Tuberkulose
geheilt war, sondern, daß ich auch in den vergangenen sechs Jahren nicht im
mindesten tuberkulös gewesen war. Und das ging mit allergrößter Leichtigkeit
vor sich, ich vergaß wie durch Zauberei die fixe Idee dieser sechs Jahre und
dachte überhaupt nicht mehr daran.
Nun fühlte ich mich wie vom Tode auferstanden und dachte, zur großen
Freude meines Vaters, endlich sogar mit einer Art plötzlichen Verlangens
an eine Heirat.
Mit fünfundzwanzig Jahren verlobte ich mich; Alter und Stellung meines
Verlobten machten es mir leicht, die Liebe zu meinem Vater auf ihn zu über-
tragen. Als ich ihm eines 'Tages meinen Schmuck zeigte, machte er mir den
Vorschlag, alle die alten Schmuckstücke meiner Mutter, die zu unmodern
waren, um getragen zu werden, zu verkaufen und dafür Perlen zu kaufen, die
die von meiner Mutter geerbten ergänzen würden. Ich willigte ein, obwohl
der Gedanke, mich von all diesen alten Andenken zu trennen, mir ein wenig
leid tat. Aber ich brachte es nicht über mich, mich zum Verkauf des einen
Rn m www iTITITTTwwTTTwwwTTTIE
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 499
Steines, des Opales, bestimmen zu lassen, obwohl mein Verlobter mich gerade
dazu besonders drängen wollte. Trotzdem er mir, um mich zu überreden,
sagte, daß ihm dieser Stein nicht gefalle, daß er angeblich ein Unglücks-
bringer sei und wir uns deshalb seiner entledigen sollten, blieb ich hartnäckig
bei der Ablehnung seines Vorschlags. Hatte mich mein Vater nicht von Kindheit
an gelehrt, jeden Aberglauben zu verachten! Es wurden also nur die Brillanten
der Einfassung verkauft, den Opal selbst behielt ich unter dem Vorwand, daß
sein Wert nicht genügend groß sei, es also nicht lohne, ihn zu verkaufen.
Eines Tages, ich glaube, es war während meiner ersten Schwangerschaft,
wollte ich ihn wieder sehen; ich öffnete meine Schmuckkassette, suchte den
Stein — er war nicht zu finden. Der Opal, der Unglücksbringer für schwangere
Frauen, den zu verkaufen ich mich geweigert hatte, war indessen vor meiner
eigenen Niederkunft verschwunden. Man könnte sagen, daß das Schicksal mich
wider meinen Willen vor ihm schützen wollte.
Ich hatte zwei Kinder und starb trotz der beidemaligen schrecklichen
Befürchtungen meines Vaters nicht im Wochenbett. Und nachdem mehrere.
Jahre vergangen waren und ich nach und nach die Hoffnung, ein drittes
Mal Mutter zu werden, aufgeben mußte, fand ich eines Tages, ohne
zu wissen wie und ich glaube auch ohne ihn gesucht zu haben, am Boden
einer alten Schachtel den verbannten Opal, in ein armseliges Stückchen
Seidenpapier gewickelt. Er verschwand aber bald von neuem aus meinem Besitz
und aus meinen Gedanken — bis zum gestrigen Tag, an dem er durch den Ver-
lauf meiner Analyse in seiner ganzen leuchtenden Wichtigkeit wieder auftauchte.
Ich glaubte übrigens bis gestern noch, ihn verloren zu haben, und erst
heute abends, als ich meine -Kammerfrau nach dem Stein fragte, rief sie mir
seine Existenz am Boden der alten Schachtel ins Gedächtnis. Und jetzt darf
der große, seit so vielen Jahren im Dunklen vergraben gewesene Opal das
Tageslicht wieder sehen. Er hat endlich seine furchtbare, geheimnisvolle Macht
eingebüßt, denn — und das könnte eine Devise der Psychoanalyse sein —
die Gespenster verflüchtigen sich, wenn das Licht des Tages auf sie fällt. Aber
man muß vorerst den Mut aufbringen, sie ins helle Licht heraufzubeschwören.
IV) Schlußfolgerung
Ich habe meine Storchhalluzination aus dem vierten Lebensjahr und die
darauffolgende Anubisphobie erzählt, weil sich schwerlich aus der Blütezeit
des Ödipuskomplexes und aus den folgenden Jahren ein schöneres Beispiel für
die aus übermächtiger Liebe zum Vater entstandene, bis zum Tod gehende
Identifizierung mit der Mutter finden läßt.
Ich habe die Erzählung meiner Tuberkulosephantasie im Alter von siebzehn
Jahren hier folgen lassen, weil sie denselben Ursprung hat, aus dem durch
die Pubertät wiedererweckten Odipuskomplex stammt und wohl mein „Fall“
zwischen siebzehn und dreiundzwanzig Jahren von neuem den Einfluß psy-
chischer Komplexe sowohl auf das körperliche Befinden, als auch auf das
persönliche Schicksal zeigt. Wäre damals eine Analyse, die das verdrängte
pathologische Material ans Tageslicht gebracht hätte, möglich gewesen, sie
hätte mir mehr Nutzen gebracht als alle Konsultationen der Ärzte und alle
Aufenthalte im Süden.
500 MarieBonaparte: Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter
Und man kann an diesem Beispiel den so häufigen Gegensatz zwischen der
bewußten und der unbewußten Einstellung zum Aberglauben, wie übrigens
zur Religion im allgemeinen beobachten. Es nützte nichts, daß mein Vater
meine Hand zurückhielt, als ich das verschüttete Salz über meine Schulter
werfen wollte, und daß ich selbst mich in Identifizierung mit diesem be-
wunderten Vater über jeden Aberglauben erhaben fühlte und abergläubische
Leute tief verachtete, mein ganzes Unbewußtes „glaubte“ an die schreckliche
Macht des Opals. Meine Halluzination des irisierenden Storches hatte diese
Tatsache im Alter von vier Jahren nicht deutlicher gezeigt, als mehr als
zwanzig Jahre später das Verschwinden und Wiedererscheinen des verhäng-
nisvollen Steines in Übereinstimmung mit Daten und Ereignissen meines
Lebens als Frau und Mutter.
Aus einer analogen Opposition heraus ist es auch zu erklären, daß ich,
obwohl ich, erwachsen geworden, mich zum Freidenkertum bekannte wie mein
Vater und an ein Weiterleben der Toten nicht glaubte, doch die Angst vor
Geistern in solchem Maße beibehalten hatte, daß ich eine Geschichte von
Edgar Poe erst lesen konnte, nachdem die Analyse mich endlich von dieser
Angst befreit hatte.
In den archaischen Tiefen unseres Unbewußten leben eben die alten
Menschheitsreligionen auch dann noch fort, wenn sich unser Verstand weit
über deren primitive Begriffe hinaus entwickelt hat.
Fine Beobachtung über die kindliche Theorie
des Koitus a tergo
Von
Ruth Mack Brunswick
New York
Man hat allgemein beobachtet, daß sich bei der Analyse von „Urszenen“
der angeblich vom Kinde beobachtete Koitus der Eltern häufig als a tergo
vollzogen darstellt. Diese Idee kehrt mit solcher Beständigkeit wieder, daß
Freud zu der Annahme neigte, die ganze Beobachtung des elterlichen Koitus
könnte vom Kinde häufig nur phantasiert sein.' Zweifellos ist der Koitus
a tergo viel weniger häufig als er in der Vorstellung unserer Patienten
vorkommt.? Seine ständige Wiederkehr in den durch Analyse ermittelten
Kindheitserinnerungen macht in der Einschätzung ihres Realitätscharakters
unsicher, weil sie diese in gewissem Sinne mehr als Phantasie erscheinen läßt.
Wir stehen nun vor der Frage: Wenn ein Patient eine Urszene in Form
eines Koitus a tergo seiner Eltern rekonstruieren läßt, haben wir es dann
ı) Freud, Vorlesungen, Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 487 ff.
2) Immerhin ist in Familien von starker analer Veranlagung der Koitus a tergo
keine ungewöhnliche Erscheinung. Man wird sich aus Freuds „Geschichte einer
infantilen Neurose“ erinnern, daß der Wolfsmann einen Koitus dieser Art bei seinen
Eltern gesehen hat. Teils durch diese frühe Beobachtung, teils infolge seiner über-
wiegend analen Veranlagung wurde diese Art des Verkehres für den Patienten selbst
später die übliche. Er vollzog nicht nur den Koitus a tergo, sondern auch per anum.
Sn m m Te nn nu nen nern 0 mean nen eg
Eine Beobachtung über die kindliche Theorie des Koitus a tergo 501
mit einer Phantasie oder einer tatsächlichen Beobachtung zu tun, oder mit
einer Kombination beider, wobei die wirklich beobachteten Tatsachen
durch aufgesetzte Phantasien verfälscht sind? Therapeutisch ist diese Frage
bedeutungslos; wir wissen, daß hinsichtlich der Folgen kein großer Unterschied
zwischen Wirklichkeit und Phantasie besteht. Aber die Urszene und ihre
Folgen bilden einen ausschlaggebenden Faktor der psychischen Entwicklung
der Kindheit, darum müssen wir bestrebt sein, sie bis in alle Einzelheiten
kennen zu lernen.
Der folgende Auszug aus dem Traume eines Patienten kann vielleicht zu
der Lösung dieses merkwürdigen Problems beitragen:
Es ist Ende Oktober. Auf der Oberfläche eines Teiches verkehren Schild-
kröten und Austern geschlechtlich miteinander. Am Ufer taten Truthühner dasselbe.
Der Akt fand zwar „von vorne“ statt, trotzdem weiß der Träumer, daß der
Penis in den Anus eingeführt wird, und denkt sich, „von rückwärts wäre es
bequemer“.
Ende Oktober ist der Geburtstag des Patienten. Frühere Träume hatten
durchwegs Bezug auf seine Eltern; er träumte von Schlangen, Bergsteigen,
gefährlichen Felsspalten, in die Menschen herabstürzten, usw. Das Thema des
elterlichen Geschlechtsverkehres ist von dem in der analytischen Literatur
ziemlich bewanderten Patienten selbst aufs Tapet gebracht worden. Doch
fügte er hinzu, daß sich in seiner Erinnerung ein Schleier über alle diese
Dinge breite. Er bemerkt gleichzeitig, daß Schildkröten und Austern männliche
und weibliche Symbole sind. Auch gibt er an, daß er im Traume zwar den
Koitus von vorne gesehen, dabei aber doch gewußt hätte, daß der Anus
das empfangende Organ wäre; daher hätte er gedacht, wie viel bequemer der Koitus
von rückwärts wäre; seine Empfindung dabei entspricht durchaus der bei
einem Versuch, sich den Koitus seiner Eltern vorzustellen, von dem er sich
auch kein plastisches Bild machen kann. Offenbar hat er bei seinen Eltern
einen Koitus von vorne mitangesehen, aber am Glauben an die Rolle des
Anus festgehalten und deshalb in der Erinnerung die Stellung so zu ver-
schieben versucht, wie er sie für bequemer hielt. Der weitere Verlauf der
Analyse rechtfertigte diese Deutung.
Der Traum enthüllt gerade die für die Kindheit so typische phantastische
Entstellung des tatsächlichen Erinnerungsbilde. — Wir alle wissen, wie
schwer es ist, die Geburtstheorien eines Kindes zu beeinflussen. Manche unserer
Darlegungen nimmt das Kind hin, die übrigen lehnt es ab oder verändert
es, entsprechend der jeweiligen Phase seiner Entwicklung. Ebenso reagieren
die Kinder auf eine Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehres in ver-
schiedener Weise. Manche durch völlige Ableugnung des ganzen Vorganges,
andere durch Hinnahme der Tatsache unter phantastischen Entstellungen.
Schließlich muß in einer Schicht des Unbewußten die Tatsache des Koitus
doch akzeptiert werden.
Was irgendein Kind, in dessen Anwesenheit die Eltern geschlechtlich ver-
kehren, wirklich sieht, hängt von zahlreichen Faktoren ab, vor allem von
der räumlichen Stellung des Kindes zu seinen Eltern. Daß der Penis des
Vaters leichter zu sehen ist als die Vagina der Mutter, liegt auf der Hand.
Die Vagina ist in der Tat zugleich mit dem Anus nur bei einem Koitus
a tergo sichtbar, und auch dann nur, wenn das Zimmer erleuchtet ist. Wenn
a
‚502 R.M. Brunswic: Eine Beobachtung über die kindliche Theorie des Koitus a tergo
aber das Kind überhaupt imstande ist, etwas zu sehen, dann wird seine Vor-
stellung, daß alle Erwachsenen einen Penis besitzen, über den Haufen ge-
worfen, selbst wenn es die Vagina nicht sehen kann. Sobald sein Glauben
an den Phallus der Mutter ins Wanken gerät, bringen ihn andere Beobachtungen
auf die Idee, daß die Frauen kastriert sind, und auf verschiedenen Wegen
bekommt das Kind schließlich auch eine Vorstellung von der Vagina selbst.
In unserem Falle hatte der Patient als kleines Kind zwischen seinen Eltern
geschlafen; während ihres Koitus lag er so nahe bei ihnen, daß es für ihn
durchaus möglich war, die Vagina selbst bei normaler Stellung des Geschlechts-
verkehres zu sehen. Solche Situationen kommen häufig vor, wenn das Kind
das Bett der Eltern teilt.
Die Entdeckung der Vagina stellt für das Kind die unangenehme Erfahrung
von der Realität der Kastration dar. Es ist daher leicht zu verstehen, warum
das Kind darauf besteht, einen Koitus a tergo beobachtet zu haben. Dadurch
wird die kastrationsbeweisende Vagina überflüssig; in der Vorstellung vollzieht
sich der Verkehr durch den Anus, der beiden Geschlechtern gemeinsam ist,
dessen Existenz der eines Penis nicht widerspricht, und der in dieser Zeit
auch für den Weg gehalten wird, auf dem das Kind zur Welt kommt.
Das Kind weiß aus seinen Beobachtungen (die Truthühner im Traume),
daß sich die Tiere immer von hinten begatten. Ich hatte viele erwächsene
Patienten, die zwar von der Existenz der Vagina bei Tieren unterrichtet
waren und dennoch meinten, der Koitus finde per anum statt, was ja bei
Vögeln, die eine Kloake besitzen, eigentlich auch zutrifft. Zweifellos klammert
sich das Kind hartnäckig an den Glauben, daß der Begattungsakt der Tiere
durch den Anus stattfindet. So ist es durchaus möglich, daß ein Grund für
die Tierliebe der meisten Kinder darin liegt, daß es ihnen leicht fällt, bei
den Tieren die äußere sexuelle Differenzierung trotz der leichteren Möglichkeit
zur Beobachtung zu leugnen. Die Beobachtung an Tieren würde also allein
wohl noch nicht ausreichen, die an den Eltern gemachten. zu korrigieren,
wenn diese a-tergo-Beobachtungen dem Kinde nicht eine Stütze für die von
ihm angestrebte Leugnung der Kastration böten. Die Beständigkeit und Über-
zeugungskraft der kindlichen Vorstellung des Koitus a tergo ist somit dadurch
bedingt, daß sie dem Kinde ermöglicht, trotz gegenteiliger Erfahrungen die
Existenz penisloser Wesen abzuleugnen.
Eine Traumanalyse
Von
Otto Fenichel
Berlin
Es ist in der Praxis nicht gar so häufig, daß eine zu Ende durchgeführte |
Traumanalyse plötzliches Licht wirft auf die Zusammenhänge eines ganzen
Krankheitsfalles. Es ist deshalb vielleicht erlaubt, hier ein Beispiel hiefür zu
erzählen.
Die Träumerin ist ein 2gjähriges Mädchen, das wegen Homosexualität und
Frigidität die Behandlung aufsuchte. Sie hat eine schwere Kindheit bei schwer |
Be
De TU 55 ee en u mm
‚Eine Traumanalyse 503
-neurotischen Eltern durchgemacht und hat sich dann mit zirka 2o Jahren
vom Elternhaus losgesagt; sie zog in eine fremde Stadt, brach jede Verbindung
mit dem Elternhaus ab und begann ein neues Leben. Die unbewußte Fixierung
an die Ängste ihrer Kinderzeit verrieten sich aber noch in schweren Störungen
ihres Gefühlslebens, denn ihre Frigidität beschränkte sich nicht auf das sexuelle
Gebiet, sondern alle ihre differenzierten Gefühlsbeziehungen zu anderen
Menschen waren ständig von dem Ende durch plötzliches Erkalten bedroht.
Erst nach längerer Zeit der Analyse gestand die Patientin den wahren be-
wußten Kernpunkt dieser Ängste ein: Der Vater, ein schwer leidender Mann
hatte die Patientin in ihrem ı2. bis ı5. Lebensjahre wiederholt nachts
im Bette besucht, ihre Hand an seinen Penis geführt und sich so von der
Tochter onanieren lassen. Einige Deckerinnerungen sprechen dafür, daß er
Ähnliches auch schon im 5. oder 6. Lebensjahre der Patientin getan hat.
Die Patientin selbst erinnerte sich dieser Nächte nur mit Angst und Grauen,
sie hat sich dabei stets schlafend gestellt; sie kann nicht glauben, daß sie
selbst dabei sexuell erregt gewesen wäre, obwohl manches Detail dafür
spricht; nicht nur, daß sie den Vater nie verraten hat und dazu besonders
geeignete Gelegenheiten unbenutzt hatte verstreichen lassen, sondern daß
ihre heutigen Liebesbedingungen nur zum Teil die Form hatten: Es darf
nichts so sein, wie es beim Vater war (das war die Formel ihrer Homo-
sexualität), zum anderen Teil aber die Form: Es muß alles genau so sein,
wie es beim Vater war. Zur Zeit des Traumes war die Patientin mit einem
jungen Manne befreundet, im Verkehr noch völlig frigid und kämpfte mit
dem Gedanken, auch diese Bindung — wie schon oft in ähnlichen Fällen
vorher — abzubrechen, wenn es ernst werden sollte. Der Traum lautet:
„An der Fassade eines Hauses hängt ein Riesenweib, deren Körper vom
Dach bis zum Boden reicht. Sie hängt wie als Reklame da. Mit beiden Händen
hält sie sich am Dachfirst fest, Kopf und Oberkörper hängen senkrecht herab,
die Beine aber sind angezogen, so daß der Körper mit den Beinen einen
rechten Winkel bildet und die Beine horizontal liegen. Plötzlich fällt die Frau
herunter und kriecht dann durch eine Tür ins Haus hinein, was ihr sehr schwer
fällt, weil sie so groß, die Tür aber so klein ist. Ich verkaufe dann Vasen.
Eine Käuferin hat die zugehörigen Blumen schon mitgebracht. Sie sehen aus
wie rote Maiglöckchen. Wie die Frau die Blumen in die Vase stecken will,
erweist sich, daß die Blumen für die große Vase viel zu klein sind, sie fallen
hinein und ‚schwimmen‘ gleichsam in der viel zu großen Vase.“
Die Patientin führt zunächst zur „Riesin“ breit aus, welchen Widerwillen
sie gegen Riesen, Zwerge und andere Monstra empfindet. Sie ist vor Jahren
einmal auf einem Sommerfest gewesen, wo zur Belustigung des Publikums
eine Riesin herumging, mit der sie sehr Mitleid gehabt hat. Übrigens soll
Patientin in den nächsten Tagen mit ihrem Freund ein Sommerfest besuchen
und hat gar keine Lust dazu. Die Stimmung pflegt auf solchen Festen so
gezwungen und unnatürlich zu sein, sie will nicht hingehen, möglicherweise
könnte wieder so eine Riesin dort sein. (Der wahre Grund ihrer Unlust ist
wohl die Angst vor dem Zusammensein mit dem Freunde.) Auch schon als
Kind wollte sie nie ins Panoptikum gehen, weil sie Ekel und Mitleid mit
den ausgestellten Monstren empfand. Da fällt ihr eine Episode vom Vortag
ein: Beim Kirschenessen war sie auf eine Doppelmißbildung gestoßen, hatte
504 Otto Fenicel
nn ET ENT
sich geekelt und die Doppelkirsche weggelegt; ihre Freundin wollte sie essen,
da schlug die Patientin sie ihr aus der Hand und rief: „Pfui, das ißt man
doch nicht!“ Die Vorstellung von „siamesischen Zwillingen“ sei unsagbar
ekelhaft. Als Kind habe sie einmal zwei zusammengewachsene Maikäfer fliegen
gesehen und ist vor Angst und Ekel davongelaufen. Ich stelle die Zwischen-
frage, ob das sicher zusammengewachsene Maikäfer gewesen seien. Eben jetzt
falle ihr ein, die Käfer könnten wohl in Begattung begriffen gewesen sein,
sie hätte das noch nie gedacht, immer an eine Mißbildung geglaubt. Bei der
Mißbildungsangst fallen der Patientin auch verschiedene Tierphobien aus ihrer
Kinderzeit ein, besonders eine Mäuseangst, deren sexueller Sinn in der Analyse
schon behandelt worden war. So konnte ich an dieser Stelle der Patientin
den ersten Hinweis darauf geben, daß die Einfälle Sommerfest, Maikäfer,
Maus zeigen, daß der Traum das Thema „Angst vor der Sexualität“
behandelt.
„Das Haus, an dem die Frau hängt.“ Die Patientin erkennt in ihm ein
bestimmtes Haus und erinnert mit einem nächsten Einfall, daß dort wirklich
eine Riesenreklame angebracht war, aber keine Frau, sondern eine Schrift:
„Die gröffte Bar der Welt.“ Ich bemerke, daß sich mit der Formel „Die
größte Dame der Welt“ oft Riesinnen anzukündigen pflegen und frage, warum
sie wohl das Wort „Bar“ durch das „Dame“ ersetzt habe. Sie weiß sofort
die Antwort: Weil der Text der Schrift weitergeht: „so Bardamen.“ Der
Traum hat also den Text „Die größte Bar der Welt — 50 Bardamen“ zu-
sammengezogen zu „Die größte Dame der Welt“. Die Patientin erzählt, sie
sei einmal in dieser Bar gewesen, sie sei in größerer Gesellschaft durch die
Räume durchgegangen. Es war ein unsympathisches Milieu, die Bardamen
sahen aus wie ältere Prostituierte und die Patientin hatte mit ihnen Mitleid
wie mit der Riesin. Also wieder das Motiv: Mitleid wegen Sexualität. Nun
weiß sie: Die Tische in dieser Bar waren rechtwinklig angeordnet, so, wie
die Riesin im Traume an der Fassade hing. In der Bar war Musik. Da fällt
ihr ein, daß sie am Vortage ein Gespräch über die Sinnlosigkeit der Schlager-
texte geführt habe. Die meisten Schlager enthalten zotige Anspielungen, aber
bei manchen könne man die sexuelle Andeutung, die doch darin stecken
müsse, gar nicht entdecken. So habe sie darüber nachgedacht, wo Witz
und Anspielung im Liede vom „Meyer am Himalaya“ gelegen wären. Da
heißt es: „Rauf, ja, das kunnt’ er, aber wie kommt er runter?“ Das Wesent-
liche sei die Vorstellung des kleinen Meyer am großen Himalaya. (Also die
Disproportionalität zwischen groß und klein, die ja in den Traumgedanken
eine bevorzugte Stellung einzunehmen scheint, siehe die große Frau in der
kleinen Tür, die kleinen Blumen in der großen Vase.) Es gibt ja noch manch
andere Lieder, die das Thema „kleiner Mann und große Frau“ behandeln. —'
Ich sage, daß sie damit auch ihre Frage nach dem geheimen sexuellen Sinn
des Liedes beantwortet haben dürfte: Es handelt sich um eine Anspielung
auf den männlichen Masochismus. Ja, meinte die Patientin, diese Dispro-
portionalität hat sicher einen sexuellen Sinn: Sie hat öfter beim Sexualverkehr
das Gefühl gehabt, der Penis sei viel zu klein, sie spüre ihn gar nicht, er
schwimme in ihrer Vagina wie die Blumen in der Vase. Worauf ich bemerkte,
daß Blumen und Vase Sexualsymbole seien, und daß diese Traumstelle also
nur jenes Gefühl in symbolischer Form auszudrücken scheine. — Manchmal
a ——_—__ En
Eine Traumanalyse 505
hätte sie aber auch das entgegengesetzte Gefühl gehabt; der Penis schien so
riesengroß, er könnte gar nicht in sie eindringen, ohne sie zu verletzen. Ich
erwidere, daß im Traum Gegensätze dasselbe bedeuten können, es werde sich
wohl in beiden Gefühlen um die gleichen unbewußten Gedanken handeln.
Welche Idee halte sie wohl für die eigentlichere, ältere, die vom zu großen
oder die vom zu kleinen Penis? Die vom zu großen. Das konnte sich nur
auf den für das kleine Mädchen riesengroßen Penis des Vaters beziehen. Die
Erektion muß ihr ja wirklich wie eine „Mißbildung“ erschienen sein. Die
Gleichsetzung Mißbildung = Krüppel war ihr schon vorher eingefallen. Da
der Vater tatsächlich ein Krüppel war, sage ich ihr, könne die Riesin
nur den Vater, bzw. seinen Penis darstellen, und die Worte „Die größte
Frau der Welt“ seien zu ändern in „Der größte Mann der Welt“. Dazu fällt
der Patientin etwas ein, wovon sie sehr betroffen ist: Der Vater pflegte tagelang
genau so am Sofa zu liegen wie die Frau im Traume hängt: mit aufgerichtetem
Oberkörper und horizontalen Beinen. Nur eines stimmt nicht: Die Frau hält sich
mit den Händen am Dachfirst, streckt also die Arme nach oben; der Vater
aber ließ die Arme nach unten hängen. Das Motiv „Hände nach unten“ ist
also im Traum durch „Darstellung durch das Gegenteil“ entstellt, es muß
also ein anstößiges Motiv in der Idee „Hände nach unten“ gelegen sein.
„Hände nach unten“ kann nur heißen „Hände an den Penis“ und auf die
nächtlichen Besuche des Vaters anspielen, bei denen sie die Hände an seinen
Penis gab.
Es besteht also kein Zweifel, daß die Riesin den Vater darstellt. Warum
ist nun im Traum der Mann in eine Frau verwandelt? Auch das wußte di
Patientin zu sagen, weil die Grundzüge ihrer Homosexualität bereits analysiert
worden waren. Aus Angst vor dem Mann (dem Penis) zog sie sich fluchtartig
zu der Frau zurück. Sie verwandelte den Mann in eine Frau, so wie sie die
Hände von unten nach oben verlegte: Am Mann und am Penis muß eine
besondere Gefahr von ihr gefürchtet sein. — Ihre homosexuellen Beziehungen
hatten nämlich mit einer kleinen Episode begonnen, derentwegen sie ein
unvergleichlich größeres Schuldbewußtsein hatte als wegen des Inzestes mit
dem Vater: Sie hatte nämlich einmal mit ca. 15 Jahren ihre jüngere Schwester
verführt, indem sie eines Nachts, als der Vater nicht anwesend war, also nicht
zu ihr kommen konnte, zur Schwester ins Bett ging, deren Hand nahm und
an die eigene Klitoris führte. Diese Art der Befriedigung blieb auch der Modus
aller späteren homosexuellen Befriedigungen und der Inhalt ihrer Onanie-
phantasien. Sie hatte sich also mit dem Vater identifiziert, in der Schwester
ein ihr selbst ähnliches Objekt gewählt, und benahm sich nun zur Schwester
so wie sich der Vater zu ihr benommen hatte. Ihre Homosexualität war also
nach demselben Mechanismus zustande gekommen, wie nach Freud meist
die männliche Homosexualität zustande kommt. Unaufgeklärt war nur noch
der Anlaß der Abwendung vom Vater, bzw. des Ersatzes der Objektliebe
durch Identifizierung. Wir wissen, daß die Patientin vor den Besuchen des
Vaters Angst hatte, begreifen auch schon gefühlsmäßig diese Angst, bevor
wir noch klar angeben können, worauf sie sich im Unbewußten bezog. Da
dieser Traum über das Thema „Gefahren der Sexualität“ handelt, können wir
hoffen, daß er uns auch auf diese Frage noch Antwort bringen wird. Vor-
läufig begnügen wir uns zu sagen: Die Riesin stellt nicht nur den Vater und
Int. Zeitschr. f. Psychcanalyse, XV/4 33
506 Otto Fenichel
dessen Penis dar, sondern offenbar auch die 'Träumerin selbst und ihren Penis,
nachdem sie sich mit dem Vater identifiziert hat. Die Riesin ist eine Miß-
bildung; der Vater war ein Krüppel; über die symbolische Gleichung Miß-
bildung-Krüppel hat die Riesin des Traumes offenbar auch einen Angstgedanken
zum Inhalt, den man etwa formulieren könnte: Wenn ich dem Vater gleich
werden will, — oder auch: Wenn ich mit ihm sexuelle Beziehungen haben
will — muß ich auch ein Krüppel werden wie der Vater. Dazu stimmt nun
eine Menge Material, das’ wir schon vor dem Traume erhalten hatten, das
auf eine besondere Ängstlichkeit vor Ansteckung zurückging. Das war
wohl auch die Ursache für das Mitleid mit den Monstren. Die Riesin
drückt also auch die Gedanken aus: a) ich möchte so groß sein wie der Vater,
und b) ich fürchte, ich könnte so ein Krüppel werden wie der Vater.
Stellen die Blumen in der Vase den Penis in der Vagina dar, so ist die
Idee: „Ich möchte so groß sein wie der Vater“ zu ergänzen: „und er soll so
klein sein, wie ich war.“ Es handelt sich also um eine die Verhältnisse
umdrehende Rachephantasie, die nur die Deutung zuläßt, daß nur die
Disproportionalität: Hand des kleinen Mädchens — erigierter Penis des Vaters
Ausgangspunkt von Angstvorstellungen war. — Die Patientin wandte ein, daß sie
damals nichts von der Vagina gewußt hätte. Ich erwiderte, daß ich darüber
nichts wisse, daß sie aber gewußt zu haben scheine, daß der Penis in den
Körper eindringen solle, und vielleicht weil sie von der Vagina nichts wußte,
gerade das gefürchtet habe.
Dann machte ich sie darauf aufmerksam, daß ein rechter Traum auf zwei
Beinen stehen müsse, auf dem verdrängten Kindheitsmaterial und auf der
Aktualität. Hier seien die aktuellen Anlässe des Traumes noch nicht genug
durchschaut. Die Patientin wußte auch darauf jetzt Antwort zu geben: Sie
hatte am Vortage nach langer Zeit einen alten Freund wieder getroffen, von
dem die Analyse schon nachgewiesen hatte, daß er ein Vatervertreter war,
und der sich als impotent erwiesen hatte. Gerade deshalb hatte die Patientin
durch längere Zeit an ihm besonders gehangen. Ihr war der erigierte Penis
unsympathisch, ein impotenter Mann als Liebesobjekt deshalb ebenso wie eine
Frau willkommen. Diesen Freund also hatte sie getroffen und sich gedacht,
warum sie jetzt mit ihm gar nicht mehr verkehre. Sie hätte sich gedacht:
„Ich sehe gar nicht ein, warum ich meinen jetzigen Freund nicht mit dem
alten betrügen sollte.“ Nun können wir verstehen: Der ganze Traum gibt die
Antwort auf diesen Gedanken. Er drückt die Sehnsucht aus, den aktuellen
Freund (und seinen gefährlichen Penis) durch den alten (zwar penislosen, weil
impotenten, aber den Vater repräsentierenden) Freund zu ersetzen, und sagt
aber auch, warum sie sich vor dem erigierten Penis fürchtet, und warum sie
dieser zum Vater verführenden Sehnsucht nicht nachgeben soll: Verkehr mit
dem Vater, resp. mit dem erigierten Penis bringt schlimme Gefahren mit sich,
die eine Konsequenz der Disproportionalität zwischen kleinem Mädchen und
großem Vater darstellen. Er versucht weiters, durch die Umkehrungs-
phantasie diese Gefahren zu bannen.
Jetzt erkennt die Patientin im Herunterfallen der Frau das schlaffe Herunter-
fallen des Penis des alten Freundes. Ihr Problem gegenüber dem erigierten
Penis lautete also: „Rauf, ja das kunnt’ er, aber wie kommt er runter?“ Man
erkennt die aktiven Kastrationstendenzen gegenüber dem Penis des Vaters.
Eine Traumanalyse 507
Auf diese Deutung hin erinnerte die Patientin einen epileptiformen Anfall
des Vaters, dem sie, entsetzt und ratlos, im Pubertätsalter zugesehen hatte.
Da war der Vater so plötzlich hingefallen, wie die Riesin des Traumes plötzlich
herunterfällt. — In ihrer Angst vor dem Penis muß die Patientin also den
Gedanken gehabt haben, wie sie wohl dem Vater den Penis rauben könnte.
Nun erinnerte sie sich, daß das Schlimmste bei den nächtlichen Besuchen des
Vaters die Angst gewesen war, sie könnte den Vater beim Hinfassen an die
Hüfte verletzen, meinte aber, daß weit stärker und ursprünglicher noch
die Angst war, sie könnte sich anstecken, durch einen Griff nach dem Vater
ebenfalls ein Krüppel werden wie der Vater. — Man könnte vielleicht diesen
Wortlaut umdrehen und sagen, die Patientin hatte den Gedanken, wie sie den
Vater zu einem ebensolchen Krüppel machen könnte, wie sie selbst einer ist,
nämlich zu einem ebenso penislosen Wesen. Und doch wollen wir der Patientin
gerne glauben, daß die Angst, selbst verletzt zu werden, tiefer sitzt als die Angst,
zu verletzen. (Daß die Angst vor der Verletzung auch die Angst bedeutete, ein
Kind zu bekommen, kam ebenfalls zur Aussprache, erwies sich aber gerade
für diesen Traum als nicht sehr belangvoll.)
Das Kriechen der Riesin durch die Tür ist eine Doublette der Vasen in
der Blume, nur ist der Sachverhalt hier umgekehrt: Der große Körper
soll durch die kleine Öffnung. Hier ist die Traumentstellung am wenigsten
gelungen; das ist ja die größte Angst der Patientin: Der große Penis könnte
in ihren kleinen Körper eindringen wollen.
Der Verkauf der Vasen deckt Dirnenphantasien, entsprechend den Tages-
gedanken, sie wolle das Verhältnis mit dem alten Freund wieder auffrischen.
Das Blumenbukett: Rote Maiglöckchen bedeutet Menstruation. Sind die
Blumen der Penis, so haben wir hier den Traumgedanken, der Penis möge
so blutig sein wie sie selbst bei den Menses. Vor dem Blut hatte sie auch
große Angst. Also: Wenn der Penis in mich eindränge, würde ich bluten.
Und: Soll doch der eindringende Penis sich verletzen und bluten! — Die Blumen
selbst waren aber sehr merkwürdig. Es waren eigentlich keine rechten Mai-
glöckchen, sondern Blumen, bei denen jede Blüte doppelt war: Es lagen
immer zwei Blüten ganz eng aneinander. Und dazu fiel der Patientin ein:
Sie hatte vor einigen Tagen eine Abbildung von Gonokokken gesehen,
(Gonorrhöe ist die reale Sexualgefahr, als solche geeignet, alle irrationalen
Sexualgefahren zu decken), die Gonokokken liegen ja zu zweit. Das Bukett
erinnerte auch an die Kirschenmißbildung und an die siamesischen Zwillinge.
Diese Doppelmißbildungen waren also Gonokokken. Mit anderen Worten, die
unbewußte Sexualangst, die durch den Gedanken an Gonorrhöe gedeckt ist,
lautet: Wenn der übergroße Penis in mich eindringt, könnte eine Spalt-Doppel-
mißbildung entstehen. Und plötzlich verstehen wir, was das für eine Doppel-
mißbildung ist: das sind die Labien, das weibliche Genitale. Wir sind der
Kastrationsangst der Patientin auf die Spur gekommen: Es ist die Angst vor
der Spaltung durch den übergroßen väterlichen Penis. Die Reaktionsbildung
auf diese Angst waren aktive Kastrationstendenzen, auf diese die Liebesbedin-
gung der Penislosigkeit des Objektes bzw. die völlige Liebesunfähigkeit der
Patientin.
508 Hanns Sachs: Agieren in der Analyse
Agieren in der Analyse
Von
Hanns Sachs
Berlin
Die Analysandin, eine jung verheiratete Frau, hatte eine längere Periode
des Widerstandes durchgemacht, in welcher die Andeutung auf das Thema
der Enuresis gehäuft aufgetreten war, ohne daß eine Klarheit gewonnen
wurde. Im Verlaufe einer analytischen Stunde tauchten sukzessive Erinnerungen
auf, die sich an die bis dahin vergessene Schlafzimmereinteilung vor einem
Hausumbau knüpften, der in das vierte oder fünfte Lebensjahr der Analysandin fiel.
Sie erinnerte zuerst die Verhältnisse nach dem Umbau, wo sie Wand an Wand
mit dem um zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder geschlafen und sich mit ihm
durch Klopfen verständigt hatte. Dann tauchte die Erinnerung auf, daß sie
vor dem Hausumbau in einem Zimmer mit dem Bruder geschlafen hatte, wie
sie nun wußte, mit ihm zusammen in einem Doppelbett. Nun vermochte sie
sich zu entsinnen, daß der Bruder manchmal das Bett naßgemacht habe, und
weiter, daß sie sich darüber bei der Mutter beklagte. Auch das Abnehmen
der benäßten Bettücher wurde ihr wieder gegenwärtig.
Ich muß hinzufügen, daß die Analysandin als hervorstechendsten Zug einen
stark entwickelten Kastrationskomplex und Penisneid besaß. Sie hatte sich
z. B. immer nur dann ganz wohl gefühlt, wenn sie Hosen tragen durfte, und
suchte auch jede Gelegenheit dazu auf, wie Reiten, Bergtouren, Skilaufen
und Kostümfeste.
Ich hatte sofort die Vermutung, daß ihre Reaktion gegen die Enuresis des
Bruders eine Auswirkung ihres gegen ihn gerichteten Penisneides war. Sie
konnte so zum Ausdruck bringen, daß er ein inferiores, schmutziges Wesen
sei, das trotz des Gliedes, das er vor ihr voraus hatte, nicht einmal seine
Urinentleerung beherrschen konnte. Diese Vermutung deutete ich am Schlusse
der Stunde an, ohne darauf näher einzugehen.
Am nächsten Tage begann die Analysandin die Stunde mit der zögernden
Mitteilung, daß sie am Abend vorher einen Streit mit ihrem Mann gehabt
habe, an dem sie ausschließlich schuld gewesen sei. Sie war in bester Stimmung
nach Hause gekommen, ihre Laune war aber sofort ins Gegenteil umgeschlagen,
als der Mann nach Hause kam. Sie hatte ihn durch ausfällige Bemerkungen
gereizt und ihm auf der Höhe des Konfliktes eine Schilderung seiner Persön-
lichkeit gegeben, die so verletzend war, daß der Mann die Unterhaltung
abbrach und das Zimmer verließ. Sie machte sich, während sie so handelte,
die ganze Zeit hindurch Vorwürfe, konnte sich aber nicht zurückhalten. Auf
die Frage, was sie dem Manne in erster Linie vorgeworfen habe, erwiderte
sie, daß der Hauptpunkt sein hastiges, unreinliches Essen gewesen sei, bei
dem er immer Flüssigkeit auf dem Tischtuch verspritze.
Sie hatte also „agiert“, den Kindervorwurf gegen den Bruder in oraler
Verschiebung auf den Mann angewendet, natürlich von derselben Entwertungs-
tendenz getrieben.
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
Bericht über den XI. Internationalen
Psychoanalytischen Kongreß
Der XI. Internationale Psychoanalytische Kongreß fand unter dem Vorsitze
von Dr. Max Eitingon (Berlin) vom 27. bis zı. Juli 1929 in Oxford statt.
In sehr erfreulicher Weise zog der diesmalige Ort des Kongresses die
Mitglieder unserer westlichen und überseeischen Gruppen an, und die
Beteiligung aus diesen Ländern war beträchtlich größer als früher; derselbe
Umstand freilich hatte zur Folge, daß wir leider manche treue Teilnehmer
unserer Kongresse aus den kontinentalen Gruppen vermißten und die Jugend,
die Hoffnung unserer Bewegung, in zu großem Ausmaße nur durch schrift-
liche Begrüßung ihre Teilnahme kundtun konnte. Die Beteiligung war trotz-
dem recht erheblich; die .Zahl der Teilnehmer betrug ı86; davon Mit-
glieder der IPV 108. Man kann sich nicht leicht einen interessanteren
Kongreßort vorstellen als diese würdige Stätte alter englischer Kultur und
Wissenschaft. Unsere englischen Freunde Dr. Ernest Jones, dessen Gattin,
Frau Dr.Katherine Jones, Dr. Glover, Dr. Flügel und Dr. Stoddart
haben mit bewunderungswürdiger Sachkenntnis und unermüdlicher Liebens-
würdigkeit die Kongreßteilnehmer durch die interessantesten der ältesten
Colleges Oxfords, durch weltberühmte Schlösser und andere historische Stätten
der Umgebung geführt. Am Vorabend des Kongresses hatte Dr. Jones im
ı) Nach einem Beschluß der Generalversammlung wird künftig der Zentralvorstand
vor jedem Kongreß eine Subskriptionsliste für einen Reisefond auflegen,
510 Korrespondenzblatt
Namen der englischen Gruppe die Teilnehmer auf einem zwanglosen Empfang
in der Halle des Queen’s Colleges begrüßt, und am letzten Kongreßabend
fanden sich nach Schluß der wissenschaftlichen Sitzungen die Teilnehmer
noch einmal bei dem würdig und feierlich veranstalteten Bankett zusammen.
In der aufopferungsvollsten Weise hatte das örtliche Kongreßbureau in
London unter Leitung der Kolleginnen Mrs. Joan Riviere und Dr. Sylvia
Payne den Kongreß vorbereitet. Der herzliche Dank aller Kongreßteilnehmer
ist ihnen sicher.
Eröffnung des Kongresses
Dr. Eitingon eröffnet den Kongreß am Sonnabend, den 27. Juli 1929,
vormittags 9’zo Uhr, in den Masonic Buildings mit folgender Ansprache:
Geehrter Kongreß!
Mit einem Gefühl eigentümlicher Scheu sind wir nach Oxford gekommen, an
diese Stätte so altehrwürdiger wissenschaftlicher Tradition. Dies bedeutet ein Novum
in der Chronik unserer Kongresse und besonders unserer Kongreßorte. Seit dem
I. Kongreß in Salzburg ı908 haben wir die folgenden meist an kleinen, historisch
oder landschaftlich anziehenden Orten gehalten, also gleichsam fern von der Heer-
straße der offiziellen Wissenschaft, vermieden Universitätsstädte, mit Ausnahme der
Kongresse von München, Budapest und Berlin, aber auch da waren wir — mit der
einzigen Ausnahme von Budapest — in symbolischer Weise fern den Stätten des
wissenschaftlichen Betriebes. Sie alle wissen, wie die Wissenschaft sich zur Analyse
verhalten hat, mit Mißtrauen, mit Kritik, die durch ernsthaftes Wissen um das Kriti-
sierte nicht sonderlich beschwert war, teilweise mit Affekten, die schon durch ihre
Intensität fragwürdig waren, und vor allem mit einer Aberkennung der wissenschaft-
lichen Bürgerrechte dem neuen Zweig gegenüber, der sich so energisch und zukunft-
versprechend zu regen begann. Die Analyse antwortete auf diese langjährige Ab-
erkennung ihrer Ansprüche, ja ihrer Daseinsberechtigung, damit, daß sie sich zurückzog,
ihre Tagungen, die frei von propagandistischer Absicht rein der Arbeit gewidmet
waren, in geschlossenem Kreise abhielt, es entgegen alten Fechtregeln sogar ver-
meidend, mit systematischen Ausfällen auf die systematischen Angriffe zu antworten,
wissend, daß die beste Art des Kampfes die ist, ohne Rücksicht auf das Verhalten
der Außenwelt in der eigenen Arbeit fortzufahren. Freuds bekanntes stolzes Wort
darüber, daß er es nur zu gut begreife, daß die Welt ihm böse sei, da er ja an
ihrem Schlaf gerührt habe, müßte wohl den unausgesprochenen Nachsatz haben, daß
sie ihm in unferner Zeit aber auch Dank dafür wissen werde, daß er es getan. Ich
brauche Ihnen nicht erst die Fülle von Zeichen zu zitieren, die dafür sprechen, daß
wir diesem Zeitpunkt mehr als nahe gekommen sind, und ein solches Zeichen ist,
möchten wir meinen, — wenigstens psychologisch, — der Umstand, daß der XI. Kongreß,
der erste einer neuen Dekade von solchen, jetzt in Oxford tagt.
Andererseits gibt es in der an bedeutendsten Ereignissen so reichen Geschichte
der Wissenschaften kaum viele Beispiele einer so raschen Entwicklung und so weit-
gehenden Einflußnahme, wie die Psychoanalyse sie erlebt hat. Die große Gestalt
CharlesDarwins taucht gerade hier wieder vor unseren geistigen Auge auf und die
immense Bewegung, welche die Abstammungsgeschichte des Menschen in den Geistern
seiner Zeit ausgelöst hat.
1
ERMEENEEEEEE ep SU ECHT Er Op PVP ERT TEC HECIRCEEEIROP Tre TER CERrEEECTSTETERTSEEEERSEPPSEET BICSBGECSEGEREEFEERE er SERGERRSPESBERGSCRT FT FORTE SBER SCHERER TRSSEREE ES SE EEE za
Korrespondenzblatt 511
Es ist unschwer zu verstehen, warum der Einfluß der Lehre Freuds, die die
Wege und Gesetze der seelisch-geistigen Art und Evolution des Menschen aufzu-.
zeigen sucht, so viel intensiver sein mußte. Ihre so unerhört viel größere Wirklich-
keitsnähe lockt und drängt zu Einwirkungen auf alle jene wichtigen Gebiete des
individuellen und kollektiven Menschenlebens, wo seit Anbeginn getan, behandelt,
erzogen, geurteilt, gerichtet, regiert und geführt wurde, ohne daß das Objekt all
dieser Tätigkeiten, der Mensch, als Erwachsener wie als Kind, genügend bekannt
gewesen wäre. Freilich kannte das Subjekt sich selbst auch nicht besser.
Sie wissen, daß die Psychologie, eine der ganz jungen unter den Wissenschaften,
um die Mitte des XIX. Jahrhunderts als Wissenschaft entstanden, gegen Anfang
unseres Jahrhunderts nach den ehrlichsten Anstrengungen bewunderungswürdigen
Fleißes ihre Hoffnungslosigkeit eingestehen mußte, Von dem falschen Ansatz aus konnte
sie natürlich nicht zu einer richtigen und irgendwie wirksamen Menschenkenntnis
kommen. Die Psychologie mußte erst ihren wissenschaftlichen Dünkel abschwören,
sich entschließen, endlich einmal wirklich dort Kenntnisse und Erkenntnisse über
den Menschen zu suchen, wo sie allein zu finden sind: in menschlicher Not, mensch-
licher Wirmis und menschlicher Krankheit. Ein anderer Solon, riet Freud dem
armen Krösus Psychologie, seine Grenzen zu überschreiten, um ein neues, ein großes
Reich zu finden. Und seither ist Freud mit seiner unerschrockenen Wahrhaftigkeit
und mannhaften Tapferkeit die Achse alles psychologischen Denkens geworden,
wohin auch dieses sich wenden und worauf es sich praktisch richten mag. Die
systematische Psychotherapie ist erst seit Erscheinen der Psychoanalyse möglich ge-
worden, weil sie erst den Arzt und Heiler mit den Kenntnissen des seelischen
Terrains ausstattet, die er braucht, um Fuß zu fassen und Änderungen herbeizuführen.
Die Pädagogen und Kriminalisten gehen auch daran, mit Hilfe der Psychoanalyse
ihre Disziplinen adäquater zu machen den Objekten ihres Tuns; ihnen folgen und
werden nachkommen alle die, deren Wirkungsfeld und -mittel der Mensch ist und
seine geistigen Produkte. Da die fundamentalen Tatsachen und Zusammenhänge der
Psychoanalyse am Kranken erworben worden sind und dort weiter verfolgt werden
müssen, und dort darum auch am besten erlernt werden können, überwiegen in den
Programmen unserer Kongresse — dieser zeigt dies auch — die theoretischen und
praktischen therapeutischen Interessen, und wir müssen gestehen, daß dieser so gut
begreifliche Umstand noch nicht oder schon nicht mehr das richtige Bild von der
wirklichen Bedeutung der Analyse ergibt, die bereits zu einer Art universitas humanio-
rarum geworden ist.
Erlauben Sie mir, hier eines Jubiläums zu gedenken, das einem Buche gilt, das
vor genau 30 Jahren in Berchtesgaden entstanden ist, und dessen 8, Auflage unser
Meister jetzt am gleichen Orte vorbereitet, eines der denkwürdigsten Bücher unserer
Literatur, mit jenem dunkelkündenden Motto aus Virgil: „Flectere si nequeo superos
Acheronta movebo.“ Ich meine die „Traumdeutung“ Freuds,
Freud hat mit der ihm eigenen unvergleichlichen Klarheit auch über sich selbst
gleich richtig gewußt, welch einem geistigen Kinde er da das Leben geschenkt hatte,
welchen entscheidenden Weg er da in das dunkle Reich der seelischen Unterwelt
gebahnt hatte. In der so inhaltvollen Vorrede zu der nach neun Jahren erschienenen
zweiten Auflage dieses Buches sagt er: Wenn er in den langen Jahren seiner Arbeit
an den Neurosenproblemen wiederholt ins Schwanken geraten sei, dann sei es immer
wieder die Traumdeutung gewesen, an welcher er seine Sicherheit wiedergewonnen
hätte. Seine zahlreichen wissenschaftlichen Gegner hätten alle einen guten Instinkt
EEE On gerne
512 Korrespondenzblatt
gezeigt, wenn sie ihm gerade auch auf das Gebiet der Traumdeutung nicht haben
folgen wollen. Dieses Buch enthält bereits die voll entwickelte Ansicht Freuds
über das Unbewußte und seine Wirkungsweisen. Hier taucht auch zum erstenmal
und gleich vollständig der Ödipuskomplex auf, einer der zentralsten und’
weitestreichenden Begriffe, die Freud geschaffen.
Das „Oxford Dictio nary of Current English“ hat dieses inhaltvolle Wort
in den Sprachschatz des Englischen, der Sprache Shakespeares, aufgenommen, Wir
Fremden dürfen, dafür den sorgfältigen Verfassern großen Dank abstattend, noch be-
merken, daß sie ihrem Sprachschatz damit ein wirkliches geistiges Kronjuwel ein-
verleibt haben.
Hierauf tritt der Kongreß in die wissenschaftlichen Verhandlungen ein.
Erste wissenschaftliche Sitzung
Samstag, den 27. Juli, vormittags:
Präsidium: Dr. S. Ferenczi
D) Dr. Edward Glover (London): Grades of Ego-differentiation.
Eine kurze Untersuchung über die letzten systematischen Formulierungen
der psychoanalytischen Psychologie, besonders des Es-Begriffes und der Beziehungen
zwischen Es und Triebleben einerseits, dem Es und den primitiven Ichbildungen
andererseits. Die Notwendigkeit, Genaueres über die Entwicklungsstufe zu erfahren,
in welcher das Über-Ich in Funktion tritt. Zwei sich widersprechende dies-
bezügliche Gesichtspunkte und ihre Bedeutung für die psychoanalytische Theorie.
(Autoreferat)
2) Dr. H. Nunberg (Wien): Die synthetische Funktion des Ich.
Eine den libidinösen Strebungen des Es analoge bindende, vereinigende
Kraft wohnt auch dem Ich inne. Die Aufgabe des Ichs ist die Vermittlung
zwischen der Innen- und der Außenwelt und der harmonische Ausgleich aller
Gegensätze innerhalb der Persönlichkeit.
Die vermittelnde und bindende Rolle des Ichs, seine synthetische Funktion
wird zuerst am deutlichsten bei der Bildung des Über-Ichs.
Diesynthetischen Fähigkeiten desIchsassimilierenFremdes
von innen und außen, vermitteln Widersprüche, vereinigen
Gegensätzliches miteinander und regen die geistige Produk-
tivität an.
Die synthetische Arbeitsweise des Ichs dürfte mehr sein als nur eine Analogie
zu den nach Vereinigung und Bindung strebenden Komponenten des Es: zum
Eros. Das Kausalitätsbedürfnis z. B. legt Zeugnis dafür ab. Der Forschungs-
zwang des Menschen nach der eigentlichen Ursache der Erscheinungswelt zeigt
sich als der sublimierte Ausdruck des Fortpflanzungstriebes im Eros. Was also
im Es als Tendenz zur Vereinigung und Bindung zweier Wesen zum Vor-
schein kommt, manifestiert sich am Ich gleichfalls als Tendenz zum Vereinigen
und Binden, aber nicht von Objekten, sondern von Gedanken, Vorstellungen
und Erlebnissen. Das Kausalitätsbedürfnis stellt das bindende Prinzip im Ich dar.
ED TUE IST ESGESE SoSe Se op eo EPG er ereremree nnen meter
. Korrespondenzblatt 513
Auch die wissenschaftliche, künstlerische oder soziale Produktivität setzt
von seiten des Ichs in sublimierter Form die Fortpflanzungsbestrebungen des
Es, gewissermaßen die Produktivität des Eros, fort.
Die Tendenz des Ichs zur Vereinigung, Bindung und zum Neuaufbau ist
mit einer Tendenz zur Vereinfachung und Verallgemeinerung
vergesellschaftet. Diese Generalisierungstendenz des Ichs ist eine andere Er-
scheinungsform seiner synthetischen Funktion, welche verrät, daß diese Funktion
einem ökonomischen Prinzipe unterworfen ist, durch welches das
Ich einen Arbeitsaufwand erspart.
Dank seiner synthetischen Funktion gehört es zu den hauptsächlichsten
Aufgaben .des Ichs, Konflikte zwischen den einzelnen Anteilen der Persönlichkeit
zu lösen. Das Ergebnis der Konfliktlösung wird je nach der Disposition Sub-
limierung, Charakterveränderung oder Neurose sein,
Der kompromißartige Charakter eines jeden Symptomes zeigt zur Ge-
nüge den Anteil der Synthese des Ichs.
Die Neurosen und Psychosen zeigen deutlich, daß das Ich, dank seiner
Abstammung vom Es, neben seiner destruktiven auch eine aufbauende, synthe-
tische Funktion besitzt, die sich auf die ganze psychische Tätigkeit erstreckt
und den Menschen zur harmonischen Vereinheitlichung seiner Strebungen und
zur Produktivität im weitesten Sinne des Wortes bringt.
In der Neurose ist die synthetische Funktion des Ichs gestört, nicht aber
aufgehoben, sie ist nur in falsche Bahnen gelenkt. Die Heilung voll-
zieht sich dadurch, daß man der Synthese die richtigen Bahnen weist.
Auch das eigentliche Bewußtwerden psychischer Akte vollzieht
sich unter dem Einflusse der Ichsynthese. (Autoreferat)
3) Dr. A. R. Allendy (Paris): L’instinct social.
Das Bedürfnis nach Sicherheit, das mit dem Selbsterhaltungstrieb zusammen-
hängt, schafft das soziale Leben. Dieses Bedürfnis muß einem speziellen Trieb
entsprechen, der das Individuum auf die Duldung der Umwelt hinweist und
diejenigen Ichtendenzen einschränkt, die einen Konflikt mit der Umwelt her-
beiführen können. Der soziale Trieb ist eine Form des Selbsterhaltungstriebes,
er enthält positive Strebungen (Nachahmen der Majorität, Verlangen nach An-
erkennung) und negative Strebungen (Wunsch nach Beherrschung der anti-
sozialen Neigungen). In dieser Beziehung setzt er sich mit den Ichtrieben in
Widerspruch.
Die Verdrängungsinstanz, der die Forschung den Namen Über-Ich beigelegt
hat, ist vor allem als ein individuelles Phänomen aufgefaßt worden. Man ver-
steht seine Macht und seine Beständigkeit besser, wenn man es mit dem
ethischen und angeborenen sozialen Trieb in Zusammenhang bringt; man
versteht dann, daß die Konflikte sich vor allem auf die Sexualität, eine in
höchstem Grade soziale Leistung beziehen; man kann alle großen Komplexe
(Ödipuskomplex, Kastrationskomplex, Entwöhnung) mit dem sozialen Trieb in
Beziehung setzen. Die Schüchternheit, der Exhibitionismus, der Komplex des
Voyeurs lassen sich in Beziehung zur Überwachung bringen, die in der
Gesellschaft das Individuum von den andern zu ertragen hat. (Autoreferat)
514 Korrespondenzblatt
4) Dr. Ernest Jones (London): Anxiety, Hate and Guilt.
Über die primäre Natur der Angst. Der komplizierte Aufbau und die
Abwehrfunktion des Schuldgefühls. Die Beziehungen des Hasses zu Angst und
Schuldgefühl. (Autoreferat)
5) Dr. Ludwig Jekels (Wien): Zur Psychologie des Mitleids.
Jegliches über Menschen verhängte Leid wird von unserem Unbewußten
als tragische, die Bestrafung unabwendbar nach sich ziehende Schuld empfunden.
Bei Wahrnehmung des Leids eines anderen regt sich auch unser Schuldgefühl —
wie es ja die PsA für die Wirkung der Tragödie wiederholt beschrieben —
und auf Grund dieser Gemeinsamkeit erfolgt eine Identifizierung mit
dem Leidenden.
Diese Identifizierung wird jedoch alsbald aufgehoben, und zwar aus Angst
(Kastrations-Über-Ich-Angst), was an einem Traum und klinischen Fällen
erwiesen wird.
Diese Angst hat jedoch zur Folge nicht allein die Lösung der Identifizierung,
sondern auch den inbrünstign Wunsch des strafbar gewordenen Ich, vom
Über-Ich nicht wie der Leidende, sondern liebevoll, hilfreich und gütig
behandelt zu werden.
Dieser Wunsch wird nun gleichsam realisiert, indem mit der ihm zugrunde
liegenden, somit rein narzißtischen Libido nunmehr der Leidende besetzt
wird; er ist dadurch völlig in das Verhältnis eines Objektes zum Bemitleidenden
geraten und wird nunmehr so von ihm behandelt, wie das
Mitleidssubjekt sein Ich vom Über-Ich behandelt wissen
möchte.
Diese Projektion, diese Ersetzung des Ichs durch das Du, wird hier wesentlich
begünstigt durch den Umstand, daß beim Schuldgefühl die Spannung zwischen
Über-Ich und Ich sogar bis zum völligen Abrücken vom letzteren zu führen
scheint, so daß das Ich dadurch ohnehin in das Verhältnis quasi des Nicht-Ich,
des Du, gegenüber dem Ichideal gerät, was an einem Falle von „Mitleid
mit sich selbst“ demonstriert wird.
Derart ist das Mitleid im Grunde: unser eigener, auf die von uns gewünschte
Weise erledigter Konflikt — am anderen zum Ausdruck gebracht. So wird es
uns erklärlich, — was manchen Untersuchern nicht entgangen ist, — daß es sich
beim Leid des Mitleidsobjekts und beim Mitleiden um zwei völlig verschiedene
Qualitäten handelt.
Diese Auffassung des Mitleids als rein narzißtischer Besetzung macht fast
sämtliche seiner Eigentümlichkeiten, die es den Philosophen zu einem Rätsel
machten, verständlich; seine Natur einer „vermischten Empfindung“ (Unlust
mit Lust), daß es nicht von langer Dauer ist, das Verklingen seiner Intensität,
daß das Leid uns sehr nahe stehender und sehr geliebter Personen wohl bei
uns Entsetzen, aber kein Mitleid hervorruft (weil die starke objektlibidinöse
Bindung für die narzißtische keinen Platz läßt). Vor allem aber macht sie
uns vollends verständlich, warum Freud das Mitleid nicht als Triebver-
wandlung des Sadismus, sondern als Reaktionsbildung gegen den Trieb
auffaßt. (Autoreferat)
Korrespondenzblatt 515
Zweite wissenschaftliche Sitzung
Sonntag, den 28. Juli, vormittags:
Präsidium: Dr. Ernest Jones
D Dr. S. Ferenczi (Budapest): Fortschritte der analytischen Technik.
Kurzer Rückblick auf die bisherige Entwicklung, mit Bezugnahme auf die
gegenseitige Beeinflussung der Theorie und der Technik. Würdigung der
bisherigen Einsichten und Erfolge. Einfluß der ichpsychologischen Forschungen
auf die Technik. Aktivität (Spannungssteigerung) und Relaxation. Voraussage
über die nächsten Entwicklungen unter Mitteilung eigener Ergebnisse, die zu
größerem therapeutischem Optimismus ermutigen. (Autoreferat)
2) Dr. Rene Laforgue (Paris): La therapeutique psychoanalytique
et la volonte de guerir.
Der Ausgangspunkt der aktiven therapeutischen Technik ist, wie Ferenczi
mit Recht gesagt hat, der von Freud gegebene Rat, den Kranken zu veran-
lassen, daß er die Hindernisse, die ihn im Leben hemmen, zu überwinden
trachtet; auf diese Weise lernt man die Art der Widerstände kennen, welche
die Analyse zur Bewältigung vorfindet. Im folgenden eine Anzahl von Fällen,
in denen diese Regel unter verschiedenen hier geschilderten Bedingungen und
mit verschiedenen Resultaten angewendet wurde. Man gewinnt den Eindruck,
daß je nach den realen Schwierigkeiten, die dem Neurotiker im Leben
begegnen, sein Wille zur Gesundung und seine Bereitschaft zum Aufgeben
der aus der Neurose bezogenen infantilen Befriedigungen verschieden stark ist.
Auf welchem Wege ließe sich der Gesundungswille verstärken? Dieses
Problem bildet das Thema für den zweiten Teil der Ausführungen, die keine
definitiven Lösungen bringen, sondern das Problem nur aufwerfen wollen.
(Autoreferat)
9) Dr. Franz Alexander (Berlin): Die Grenzen und Entwiclungs-
möglichkeiten der psychoanalytischen Therapie.
Rückblick auf die Fortschritte der Behandlungstechnik und der Theorie.
Bezeichnend für die neue Entwicklung ist die Anwendung der Therapie auf
neue Objekte. (Charakterfälle, Kind, Kriminelle.) Die Grenzen der Therapie
erblickt man besonders bei der Behandlung von Nichtneurotischen (di-
daktische Analysen) und von Kriminellen. Gewisse für unsere heutige Zivili-
sation typische, überindividuelle Lebensbedingungen machen die konfliktlose
Anpassung auch für nichtneurotische Menschen sehr schwer. Enterotisie-
rung der Ehe und des Berufes. Einige große selbstgeschaffene Ventile der
Gesellschaft zur Abfuhr von überindividuellen Libidostauungen in der Ver-
gangenheit und in der Gegenwart. (Der römische Zirkus — der Film.) Es
drängt sich die Frage auf, ob die Psychoanalyse nicht zur Änderung der
Lebensformen, also in alloplastischem Sinne wirken könnte. (Psychoanalytische
Seelenhygiene.) (Autoreferat)
maaERmmammamamamamamZm mm m mamma — m ———— ——mm—m———
516 Korrespondenzblatt
4) Dr. Ernst Simmel (Berlin): Psychoanalytische Voraussetzungen
für die Behandlung der Schizophrenie.
Voraussetzung für den Ausbau der psychoanalytischen Therapie der Schizo-
phrenien ist, wie bei der Neurosentherapie, in erster Linie eine sich ständig
vertiefende Kenntnis von der Struktur und Genese dieser Psychose. Ein solcher
aus der Empirie sich ergebender Fortschritt ist aber nur möglich, wenn im
Gegensatz zur Neurosenanalyse das Anstaltsmilieu des Patienten, in dem sich
die Behandlung abspielt, eine spezielle psychoanalytische Berücksichtigung findet.
Denn bei der Psychose, einem „Konflikt zwischen Ich und Realität“, bleibt die
Umwelt des Kranken ein reaktiver lebendiger Faktor, der nicht nur für die
Entstehung, sondern auch für den Verlauf der Krankheit von entscheidender
Bedeutung ist.
Die psychoanalytische Neurosentherapie muß also eine spezielle Modifikation
erfahren, um auf die Therapie der Psychosen anwendbar werden zu können.
Ein wesentlicher Teil dieser Modifikation muß in einer systematischen Ein-
flußnahme auf die den Kranken umgebende Objektwelt bestehen, d. h. vom
Therapeuten muß die Verhaltungsweise des Pflegepersonals entsprechend ihrer
Imaginesbedeutung für den Kranken reguliert werden. — Es wird im einzelnen
ausgeführt, daß es auf diesem Wege gelingt, die psychotischen Reaktionen des
Kranken zur umgebenden Objektwelt letztlich auf die Beziehung zum Analytiker
als Repräsentanten der Realität, d. h. zu dem Urkonflikt zwischen Es und
Realität auf der Basis einer „psychoanalytischen Situation“ einzuengen.
Es wird einzelnes aus der Symptomatologie, im speziellen die Affektökonomie
des Schizophrenen in ihrer Bedeutsamkeit für die einzelnen therapeutischen
Hilfsmaßnahmen (Injektionen von narkotischen Mitteln, Isolierungen usw.) dar-
gestellt. Es wird u. a. gezeigt, daß der Kranke in seinen Aggressionen auf dem
Wege der Psychokatharsis den Rückweg zur Objektwelt sucht, daß „Liebes-
entzugsangst“ ihn dabei auf die für die schizophrene Reaktion bedeutsamste
Fixierungsstufe, auf die Stufe des „intestinalen“ Libidoanspruchs regredieren
läßt. Der Psychotiker sucht sich das Objekt einzuverleiben, demgegenüber der
Prozeß der Identifizierung mißlungen ist.
Das Behandlungsprinzip besteht im Gegensatz zur Neurosentherapie — die
eine Lockerung der Verdrängungsschranke und damit eine Aktualisierung eines
neurotischen Konflikts anstrebte — in einer Wiederaufrichtung. der Ver-
drängungsschranke und damit in einer Introversion des unzeitgemäß bereits
aktualisierten Konflikts.
Die Realitätsprüfungsfunktion, die dem destruierten psychotischen Ich ver-
loren gegangen war, wird dadurch wieder erworben, daß der Schizophrene
sein Ich im Analytiker wiederfindet und sekundär zu einer Strukturierung
dieses Ichs gelangt. (Autoreferat)
5) Dr. Paul Federn (Wien): Unterscheidung des gesunden und
krankhaften Narzißmus.
Freuds Unterscheidung des primären und sekundären Narzißmus bezieht
sich auf die Umwandlung früherer Objektlibido in Ichlibido.
ı) Unabhängig von dieser Unterscheidung halte ich für notwendig, und zwar
auf Grund der Untersuchung des Ichgefühls, von Anfang an einen medialen
- Korrespondenzblatt 517
und einen reflexiven Narzißmus zu unterscheiden. Ersterem entspricht das
Gefühl: das Ich ist objektlos libidinös, dem zweiten das Gefühl: das Ich ist
mit auf das Ich gerichteter Libido libidinös. Der mediale Narzißmus ist das
psychische Korrelat zum Autoerotismus in der objektlosen Organlust, der re-
flexive Narzißmus ist das psychische Korrelat zum Autoerotismus in der objekt-
losen Onanie.
Der mediale Narzißmus ist die Grundlage des Ichgefühls.
Der reflexive Narzißmus ist die Grundlage des Selbstgefühls — des Persön-
lichkeitsbewußtseins Schilders und des Autismus im Sinne Bleulers.
2) In der Norm bestehen für alle Inhalte Objektbesetzungen und narzißtische
Besetzung unabhängig voneinander und vorübergehend vereinigt. Die Prävalenz
der Besetzungen der einen Art ist noch nicht pathologisch; sie ist die Grund-
lage der Unterscheidung verschiedener Charaktertypen, so auch der Jungschen
Unterscheidung in Intra- und Extravertierte.
3) Pathologisch sind aber erstens: Mangel der einen Art Besetzung für
wesentlich wichtige Inhalte und zweitens: die dauernd untrennbare Vereinigung
beider Besetzungen an wesentlich wichtigen Inhalten.
4) Die narzißtische Besetzung behält den Vorlustcharakter der verschobenen
Libido; die Befriedigung des Narzißmus ist normal, respektive pathologisch,
je ae ob sie an objektlibidinöse Befriedigung gebunden ist oder nicht.
(Autoreferat)
Dritte wissenschaftliche Sitzung
Sonntag, den 28. Juli, nachmittags :
Präsidium: Dr. A. A. Brill
1) Dr. M.D. Eder (London): Dreams as Resistance.
Der Traum ist die via regia zum Unbewußten. Das stimmt für den
Analytiker immer. Ist es auch für den Analysanden immer wahr’?
Die psychoanalytische Literatur hat längst nachgewiesen, daß lange und
komplizierte Träume (Beispiel) oder übermäßig reichliches Träumen (Beispiel)
Zeichen des Widerstandes sein können. Der Widerstand kann sich auch in
Besorgnis wegen Nichtträumens oder im Vergessen der Träume ausdrücken.
Umständliche Bemühungen, die Traumbilder und -worte genau wiederzugeben,
Ängstlichkeit, Kargheit oder Fehlen der Assoziationen. Der Traum als bequemes
Thema — als Deckmantel für Angst.
Die Träume werden dem Analytiker sozusagen an den Kopf geworfen:
„Ich habe meine Pflicht getan, wenn ich den Traum erzähle, jetzt zeigen Sie,
was Sie können.“ Patienten, die Traum und Deutung als intellektuelle Vor-
gänge zur Befriedigung ihrer wissenschaftlichen Neugier verwerten. Träume
als Rationalisierungen. Angst vor der Deutung. Typische Träume und Symbole.
Schnelles Akzeptieren der Deutung als Widerstand. Die Deutung des Traums
durch den Patienten als Widerstand gegen das Assoziieren. Über die Über-
windung derartiger Widerstände.
Im Verlaufe der Untersuchung wird die Frage aufgeworfen, warum manche
Menschen reichlich, andere wenig oder gar nicht träumen. (Autoreferat)
Eins
518 Korrespondenzblatt
2) Frau Melanie Klein (London): Theoretische Ergebnisse aus
der Analyse einer frühinfantilen Dementia Praecox.
Der Fall eines vierjährigen dementen Knaben, der meiner Untersuchung
zugrunde liegt, erweist, daß unter bestimmten, näher zu besprechenden Voraus-
setzungen die verfrühte und übermäßige Abwehr des Ichs gegen den Sadismus
die Ichentwicklung und die Herstellung der Realitätsbeziehung unterbindet.
(Autoreferat)
3) Miß N. Searl (London): Danger Situations of the Immature Ego.
Alle Gefahrsituationen sind (1) äußerlich: diese hinterlassen keine Nach-
wirkungen, wenn dem Ich kein Schaden zugefügt worden ist; (2) innerlich,
entstanden durch Stauung der Libido durch Reizzufuhr und (oder) Versagung.
Das Ich ist auf die Gefahr eingestellt; es ist seine Aufgabe, seine Wünsche
zu befriedigen und Gefahr zu vermeiden. Das Unbewußte kennt keine Negation,
- also auch keine Gefahr mit Ausnahme der Versagung (Frustration). Folglich
hängt die Sicherheit davon ab, daß das Ich im Spiel der Kräfte der Stärkere
bleibt; Angst, wenn diese Kräfteverteilung nicht gesichert scheint.
Das kleine Kind hat ein unreifes Ich und eine starke Libido; daher die
Unsicherheit des Gleichgewichts und die Häufigkeit der Angst. Die pflegende
Mutter ist die notwendige Ergänzung des infantilen Ichs, obwohl sie nach
der Entwöhnung die Libido nur mehr unvollkommen befriedigt. Daraus ergibt
sich die folgende Aufeinanderfolge von Beziehungen zwischen Mutter und
Kind, von der Sicherheit bis zur Gefahr: a) die „Ich“-Mutter als volle Er-
gänzung des unreifen Ichs befriedigt und (oder) schränkt ein in Übereinstimmung
mit der äußeren und der psychischen Realität; b)...c)... usw, g) die
Mutter bringt Reizzufuhr und Einschränkung mit starker Beimischung nicht
ichgerechter Einstellung unter dem Einfluß ihrer eigenen Libido und ihres
Über-Ichs; ..... s) das Kind wird seinen starken Wunschregungen überlassen,
kann sie weder befriedigen noch Hilfe herbeirufen, sein Ich wird durch Er-
schöpfung geschwächt. „Es kann gefährlich werden, etwas zu wünschen, was
man nicht haben kann“ ... . z) die Eltern sind anwesend, steigern aber die
Libido des Kindes nur, ohne sie zu befriedigen oder einzuschränken, das Kind
wird über ihren eigenen gegenseitigen Liebes- oder Haßbeziehungen vernach-
lässigt; „Libido“-Eltern, bei denen alles möglich ist; das Ich des Kindes wird
geschwächt, seine Libido gleichzeitig gesteigert. Das Ich verbündet sich jetzt
mit der Libido und das Über-Ich wird gebildet: „Du darfst nicht zu viel
verlangen.“ Der Wirklichkeitssinn des Ichs wird geschwächt durch Bündnisse
mit irrealen Kräften, als Resultat bleibt eine deutliche Angst vor inneren
Vorgängen, wo die äußere Autorität nicht direkt eingreifen kann, d.h. vor
Gefühlen und exkrementellen Vorgängen, Angst vor „dem Inneren“.
(Autoreferat)
4) Anna Freu’d (Wien): Ein Gegenstück zur Tierphobie der Kinder.
Dieselben Elemente, welche sich sonst in der Struktur der infantilen Tier-
phobie nachweisen lassen, werden in zwei hier berichteten Fällen zum Aufbau
einer Tierphantasie verwendet, welche die Angst vor dem Vater kompensiert
und in ihr Gegenteil verwandelt. Derselbe Mechanismus ist auch in Träumen,
Kindergeschichten und Märchen zu finden. (Autoreferat)
TE —
- Korrespondenzblatt 519
5) Dr. S. Pfeifer (Budapest): Über einen Typus der
Abwehr.
Neurosen mit Dauersymptomen. — Dauerlust und Verdrängung, — Zur
Wiederkehr des Verdrängten und ihrer Dynamik. — Über eine Abwehrform
bei narzißtischer Fixierung. — Bindung der (Kastrations-) Angst durch Ver-
mischung mit prägenitaler narzißtischer Libido. — Prätraumatischer Zustand
des Ich. — „Aphanisis“ und ihre Abwehr im Dauersymptom. — Thera-
peutische Folgerungen. (Autoreferat)
Vierte wissenschaftliche Sitzung
Mittwoch, den 31. Juli, vormittags:
Präsidium: Dr. Ernst Simmel
1) Dr. Isador Coriat (Boston): Instincetual Mechanisms in the
Neuroses.
Erörterung der dynamischen Mechanismen der Neurosen durch Heranziehung
der Begriffe der Lebens- und Todestriebe. Nachweis, daß verschiedene Neu-
rosen durch eine zeitweilige Entmischung und Beherrschung des Todestriebes
entstehen. Das Ziel der analytischen Übertragung ist eine Mischung der auf-
gesplitterten Triebe. (Autoreferat)
2) Frau Dr. Helene Deutsch (Wien): Über Frigidität.
Beziehung der Frigidität zu verschiedenen Neurosenformen. Schicksal der
Frigidität im Heilungsvorgang. Problem der statistisch festgestellten Tatsache,
daß die Frigidität auch bei praktisch gesunden Frauen außerordentlich ver-
breitet ist. Bedingungen, unter denen die Frigidität im psychischen Gesamt-
bilde nicht den Charakter eines neurotischen Symptoms besitzt. Biologische
und psychologische Grundlagen für das letztgenannte Verhalten.
Therapeutisch-prognostische Schlüsse für die Behandlung der Frigidität.
(Autoreferat)
3) Dr. Maxim Steiner (Wien): Die Bedeutung der femininen
Identifizierung für die männliche Impotenz.
Wir müssen davon ausgehen, daß jeder Mann schon von vornherein mit
einer mehr oder weniger weitgehenden Femininität ausgestattet ist. Sie wird
mit fortschreitender Kultur und Zivilisation eine immer größere Rolle
spielen und ihrerseits wieder zur Verfeinerung des männlichen Indivi-
duums und zur Hebung des kulturellen Niveaus der Gesellschaft beitragen.
Diese sozusagen physiologische feminine Identifizierung kann unter gewissen
Umständen eine beträchtliche Steigerung erfahren:
I) Durch konstitutionelle Momente. Diese sind sicherlich sehr bedeutungs-
oa ma ao a am mo m mg
520 Korrespondenzblatt
voll und interessant, können aber, da sie etwas Gegebenes und auch Unab-
änderliches vorstellen, nicht Gegenstand dieser Studie sein, die sich mit den
psychologischen Ursachen und Auswirkungen dieses Phänomens befaßt.
II) Durch. frühinfantile Konstellationen. Es handelt sich hierbei um eine
vom normalen Typus abweichende Erledigung der Ödipussituation. Die
Kastration führt nicht zum Mutter- und vorläufigen Sexualverzicht, sondern
im Wege einer weitgehenden Mutteridentifizierung zu einer exquisit femininen
Sexualeinstellung.
Daraus ergibt sich:
ı) Das Fehlen einer eigentlichen Latenzperiode in der Vorpubertätszeit.
2) Ein von der Norm wesentlich abweichendes Verhalten in der Nach-
pubertätszeit. Die Beziehungen zum Weibe spielen sich mehr oder weniger
in der Form einer feminin-homosexuellen Beziehung ab.
Die Prognose dieser Fälle ist nicht einheitlich. Die schlechteste geben die
Fälle, die an der Grenze zwischen I und II stehen, namentlich solche, die
gar nicht zur genitalen Stufe der Sexualentwicklung, also auch nicht zur
genitalen Onanie gelangt sind. Weitaus die meisten Fälle sind aber glück-
licherweise viel leichterer Art und geben im allgemeinen eine günstige Prognose.
Sie sind sogar als „formes frustes“ von Neurosen anzusehen, da ihre Sexualität
nicht ins „Neurotische“ verarbeitet, sondern, wenn auch in einer etwas
bizarren Entstellung, erhalten geblieben ist.
Vom Gesichtspunkt der Therapie ergibt sich demnach eine gewisse Ver-
einfachung der analytischen Behandlung in bezug auf die Dauer im Sinne der
Abkürzung des Zeitraumes und in bezug auf die Methode im Sinne einer
größeren Aktivität, Maßnahmen, die sich nach meinen praktischen Erfahrungen
zu bewähren scheinen.
Die obigen Darlegungen werden an Hand einiger einem größeren Material
entnommenen Fälle illustriert. (Autoreferat)
4) Dr. Otto Fenichel (Berlin): Zur Psychologie des Trans-
vestitismus.
Der Fetischist hat nach Freud die Penislosigkeit der Frau nicht akzeptiert,
der Homosexuelle seine Liebe zur Mutter durch eine Identifizierung mit ihr
ersetzt. Für den männlichen Transvestiten treffen diese beiden Formeln gleich-
zeitig zu: Er hat den Glauben an die phallische Frau nicht aufgegeben und
sich mit dieser phallischen Frau identifiziert. Dementsprechend hat der trans-
vestitische Akt einen doppelten Sinn: ı. Einen objekterotischen (fetischistischen).
Der Patient verkehrt statt mit einer Frau mit deren Kleidern. 2. Einen
narzißtischen (homosexuellen). Er stellt selbst eine phallische Frau dar. Der
Penis ist dabei doppelt vertreten: a) im wirklichen unter den Frauenkleidern
vorhandenen Penis, 5) im Kleid, das den Penis symbolisch darstellt und das
ebenso narzißtisch-stolz zur Kastrationswiderlegung demonstriert wird wie
der wirkliche Penis vom Exhibitionisten. Allerdings geht die narzißtische
Regression, deren Ausdruck diese Identifizierung ist, weit über die des Homo-
sexuellen hinaus. In dieser Identifizierung mit der phallischen Frau sucht der
Patient auch neue Objekte: ı. Wie der Homosexuelle den Vater, dem er
nt TTTT— w
Korrespondenzblatt 521
gleichsam sagt: Liebe mich, ich bin ebenso (phallisch) wie die Mutter. Oder
korrekter: Liebe mich wie die Mutter! Es ist nicht wahr, daß ich durch
solchen Wunsch meinen Penis gefährde. Aber 2. auch weiterhin die Mutter.
Das wichtigste akzidentelle Moment ist nämlich, daß die Identifizierung mit
der Frau meist eine solche mit einem kleinen Mädchen ist, wenn nämlich
die Mutter frühzeitig partiell durch eine Schwester ersetzt wurde, so daß
dann der Transvestit nicht nur in der dargestellten Weise den Vater anredet,
sondern gleichzeitig der Mutter sagt: Liebe mich, ich bin ebenso (phallisch)
wie die Schwester. Oder korrekter: Liebe mich wie die Schwester! Es ist
nicht wahr, daß ich durch solchen Wunsch meinen Penis gefährde.
Ein gründlich .analysierter Fall bringt reichlich Material zum Beweise
dieser Thesen. Eine pathognomonische Ätiologie ergibt sich nicht. Der Trans-
vestitismus tritt häufig mit anderen Krankheiten gleicher ätiologischer Voraus-
setzungen kombiniert auf; unser Fall erwies sich überdies determiniert durch
spezielle Milienumstände. Unsere Befunde stimmen vollkommen überein mit
denen von Boehm, nur können wir sie dank der inzwischen erschienenen
Arbeiten von Freud einheitlicher beschreiben.
Seit Sachs wissen wir, daß es dem Perversen gelingt, einen Teil seiner
infantilen Sexualität auf die Seite des Ichs zu ziehen und eben dadurch den
Rest (den Ödipuskomplex) in der Verdrängung zu halten. Fraglich blieb, unter
welchen Umständen infantile Partialtriebe Orgasmusfähigkeit behalten oder
erwerben können. Die nunmehr mögliche Antwort lautet: Das Motiv der
normalen Verdrängung ist Kastrationsangst. Perverse sind Menschen, die diese
Angst durch Leugnung oder Widerlegung zu überwinden suchen. Soweit ihnen
das gelingt, ersparen sie Angst und können sich deshalb partiell und unter
gleichzeitiger neuerlicher Leugnung des Angstgrundes infantil-sexuell betätigen.
(Autoreferat)
5) Dr. A. S. Lorand (New York): Fetishism in statu nascendi.
Anknüpfung an Freuds Arbeit über den Fetischismus, die feststellt, daß
„der Fetisch ein Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter) ist, an den
das Knäblein geglaubt hat und auf den es nicht verzichten will“. Die Richtig-
keit dieser Behauptung wird erwiesen durch Beobachtungen der Phantasien
und Handlungen eines vierjährigen Knaben in Gegenwart und auch in Ab-
wesenheit seiner Eltern. Diese Handlungen zeigen den Zusammenhang zwischen
seiner in der Entwicklung befindlichen Ödipusbeziehrng und dem damit ver-
bundenen Schuldgefühl sowie die Versuche, seine Kastrationsangst aus der
Welt zu schaffen. Der Fetisch als Kompromißbildung zur Abwehr der
Kastrationsangst. (Autoreferat)
6) Dr. Dorian Feigenbaum (New York): Paranoia und Magie.
Erfolgreiche Analyse von weiblichem Verfolgungswahn demonstriert die
Bedeutung magischer Tötung im Aufbau und Endausgang der Psychose. Unge-
wöhnliche "Umstände gestatteten die sadistische Befriedigung im magischen
Sinne und begünstigten Übertragung und Heilung. (Autoreferat)
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4. 34
522 Korrespondenzblatt
Fünfte wissenschaftliche Sitzung
Mittwoch, den 31. Juli, nachmittags :
Präsidium: Dr. Paul Federn
D Dr. Carl Müller-Braunschweig (Berlin): Der normale
Kern der religiösen Einstellungen.
Die fruchtbare psychoanalytisch-genetische Erforschung der religiösen
Phänomene darf uns die von jeder genetischen Betrachtung unabhängige Be-
deutung und Funktion der religiösen Einstellung nicht übersehen lassen.
ı) Die religiöse Einstellung ist weder notwendig ein pathologisches noch
ein imfantiles Phänomen. Sie kann vielmehr nur dann als ein solches
anmuten, wenn ihr Träger als pathologisch oder infantil anzusehen ist. Die
religiöse Einstellung läßt sich am normalen, gesunden und reifen Erwachsenen
vorfinden und studieren. Man findet dann als ihren Kern Einstellungen, die,
zumindest im Ansatz, bei allen Menschen vorzufinden sind.
2) Für die religiösen Einstellungen kommt den Vorstellungsanteilen
nur sekundäre Bedeutung zu, während die affektiven Anteile von primärer
Bedeutung sind.
Diese Affekte sind allgemein menschlicher Natur, es handelt sich vor allem
um die Affekte: Glauben, Vertrauen, Liebe, Hoffnung und um den Charakterzug:
Gehorsam. Diese Affekte sind das Wesentliche, die religiösen Vorstellungen
sind nichts als Symbole, die diesen Affekten eine sinnvolle und einheitliche
Repräsentanz geben. So werden in der Vorstellung „Gott“ u. a. folgende
Momente gedacht: a) diejenige Tendenz des Weltgeschehens, die es ermöglicht,
es und das eigene Schicksal zu lieben, ihm zu vertrauen und auf es zu hoffen;
b) eine Repräsentanz des für das Handeln des Menschen Richtunggebenden
(des „Moralischen“, des sachlich und vernünftig Notwendigen). Die Gottes-
vorstellung ist also keine Wahnvorstellung, sondern ein höchst sinnvolles und
lebenswichtiges psychisches Gebilde, und wir müssen sie auch dort als vor-
handen annehmen, wo sie bewußt abgelehnt wird. (Das eigentliche Unbe-
wußte kennt keine Verneinung.)
3) Die in jedem Menschen vorfindbaren religiösen Affekte können im
Einzelnen mit jedem Maß gegensätzlicher Affekte gemischt sein: Glauben mit
Unglauben, Vertrauen mit Mißtrauen (Ergänzungsreihen). Ein gewisses Maß
von Skepsis und Mißtrauen ist der Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des
Lebens sogar angemessen. Aber anderseits hört bei einem relativen Mindest-
maß der genannten positiven Affekte die Lebens-, Leistungs- und Genuß-
fähigkeit des Menschen auf.
4) Die religiösen Affekte und Vorstellungen haben innerhalb des psychischen
Lebens eine vereinheitlichende Funktion zu erfüllen. Sie tragen zentral bei
zu einer erhöhten Einheit des Stiles und der Lebensführung der Persönlichkeit.
Es wird zu den wesentlichen künftigen Aufgaben der psychoanalytischen
Ichpsychologie gehören, Funktion und Ökonomie der Gottimago und der
religiösen Affekte zu untersuchen.
5) Bedeutung für die psychoanalytische Therapie: Der Analytiker hat den
TH
Korrespondenzblatt 523
religiösen Äußerungen der Analysanden nicht rationalisierend (etwa „es gibt
einen Gott“ oder „es gibt keinen Gott“) zu begegnen, sondern sie zu ana-
lysieren. Beschränkt er sich darauf, so wird er den positiven, lebensfördernden
Kern der religiösen Einstellung seines Analysanden ähnlich von Hemmungen
oder Überkompensationen befreien können, wie er das bei der analytischen
Befreiung der elementaren Libido gewöhnt ist. (Autoreferat)
2) Hans Zulliger (Ittigen-Bern): Psychoanalyse und Führer-
schaft in der Schule.
Ausgehend von Freuds Massenpsychologie und Ichanalyse wird untersucht,
ob aus der Kenntnis der Psychoanalyse für den Lehrer Hilfen gewonnen
werden können, um die Schüler zu einer Masse im Freudschen Sinne zu-
sammenzufügen und diese zu führen. (Autoreferat)
3) C.D. Daly (Poona, India): The Genesis of Psychic Evolution.
Die psychoanalytische Untersuchung der weiblichen Tabus, besonders des Tabu
der Menstruation, zeigt ihre zentrale Bedeutung für das Verständnis der Neurosen.
Die Menstruation, die ursprünglich mit dem Beginn der Schwangerschaft,
dem Ausgangspunkt der Geburtsvorgänge, zusammenfiel, ist begreiflicherweise
der wichtigste unter den drei Zuständen der menschlichen Spezies.
Der Autor verfolgt die Bedeutung der Brunstperiode (die sich später
unter dem Einfluß der Abwehr der Befruchtung in dieser Periode zur Men-
struation wandelt), von der Eiszeit bis zur Gegenwart. Er bringt parallele Beob-
achtungen aus Krankengeschichten und den Sitten primitiver Völker unserer Zeit.
Er weist schließlich nach, daß Eindrücke, die dem Tabu-Gewissen des
Individuums zuwiderlaufen, sehr leicht vergessen werden, — ebenso wie es
bei den Völkern der Fall ist. Als Beispiel führt er den vergessenen Ursprung
des englischen Hosenbandordens an, dessen wirkliche Entstehungsgeschichte
sich von der allgemein berichteten stark unterscheidet.
Das Kleidungsstück, das die Gräfin von Salisbury verlor, war nicht ihr Hosen-
band, wie man allgemein annimmt, sondern das, was man heute eine Men-
struationsbinde nennen würde. Als König Edward sah, daß die Ritter über
die Verlegenheit der Dame lachten, sagte er, er würde die stärksten unter
ihnen dazu bringen, diese Binde als das vornehmste Zeichen ihrer Ritterschaft
zu tragen. Es konnte nur einem König gelingen, dieses Tabu wenigstens vor-
übergehend aufzuheben; bald gelang es dem Druck des universellen Tabu-
Gewissens, diesen Punkt seiner fürstlichen, freimüt:g-gütigen Handlung wieder
in Vergessenheit geraten zu lassen. Honny soit qui mal y pense. (Autoreferat)
4) Miss Ella Sharpe (London): On ade Aspects of Subli-
mation and Delusion.
ı) Analytische Untersuchung der folgenden Sublimierungen: Malen,
Musizieren (Singen), historische Forschungen.
2) Aus dieser Untersuchung, sich ergebende Schlußfolgerungen über das
Schicksal des magischen Denkens und Handelns.
3) Der Weg über das Über-Ich zur Beherrschung der Umwelt. Wahn-
bildung. Sublimierung. (Autoreferat)
34*
ee LLL—— ———— — [ _
524 Korrespondenzblatt
5) Dr. Sarasi Lal Sarkar (Bengal): A Conversion Phenomenon
in the Life of the Dramatist Girish Chandra Chose.
(Autoreferat nicht eingegangen.)
Zwangloser Diskussionsabend
Am Abend des zweiten Kongreßtages wurde für Mitglieder eine zwang-
lose Diskussion über das Thema „Die Beendigung der Analysen“ veranstaltet.
Den Vorsitz führte Dr. Jelliffe, das einleitende Referat hielt Dr. Ferenczi.
An der Aussprache beteiligten sich zahlreiche Redner.
Sitzung der Internationalen Unterrichtskommission
Samstag, den 27. Juli, nachmittags :
Der Vorsitzende der IUK, Dr. M. Eitingon, gibt folgenden Bericht:
Die heutige Sitzung der IUK ist die zweite offizielle während der nun 2ı jährigen
Dauer der IPV und der elf Kongresse, die sie bisher abgehalten hat. Als auf dem
Homburger Kongreß die Schaffung von Unterrichtsausschüssen und deren Zusammen-
fassung zu einer Internationalen Unterrichtskommission beantragt und beschlossen
wurde, hatte dieser Beschluß nur etwas sanktioniert, was in den drei ältesten Gruppen
der IPV bereits existierte, und bildete den Anstoß zur Schaffung von Unterrichts-
ausschüssen da, wo sie bis dahin noch nicht existiert hatten. Ungarn, die Schweiz,
Holland, die beiden amerikanischen Gruppen und zu allerletzt auch die Psycho-
analytische Gesellschaft von Paris haben jetzt solche Unterrichtsausschüsse. Außer
Indien und Rußland, also in allen Gruppen, wo Analyse wirklich gelehrt und
gelernt wird, bestehen jetzt solche Ausschüsse, denen die Gruppen die Leitung des
Unterrichtes, wie auch die Verantwortung für denselben überantwortet haben, und
ich freue mich, jetzt die Träger dieser Verantwortlichkeit in so großer Zahl hier
versammelt zu sehen. Wenn die IPV am lebendigen Kleide der Psychoanalyse als
Wissenschaft wie als Bewegung wirkt, so sind unsere Unterrichtsanstalten der Ort,
wo dieses Wirken geschieht. Der Unterricht ist die einzige Stelle, wo die Früchte
unseres Tuns noch in einem entscheidenden Maße vom Inhalt wie von der Art
dessen abhängig sind, was wir aussäen. Die Auswirkungen der Resultate unseres psycho-
analytischen Forschens und wissenschaftlichen Produzierens sind von uns nicht oder nur
sehr teilweise zu kontrollieren, Sich in vielfachen Medien brechend, sehen sie, wenn sie
von der Außenwelt auch vielfach akzeptiert werden, meist noch lange nicht so aus,
daß wir uns mit ihnen identifizieren können. Im Gegenteil müssen wir mahnen,
daß das von den offiziellen, uns benachbarten oder entfernteren Wissensgebieten
übernommene Stück der Analyse nur mit Mühe manchmal wiedererkannt werden
kann, so bastardiert und entstellt ist es. Die von uns zu Analytikern Erzogenen aber
sollen das Ganze der Analyse lernen, wie es dasteht, sich glücklich schätzend, wenn
es ihnen vergönnt sein kann, an der Weiterentwicklung des Ganzen mitarbeiten zu
können und so die Welt auch mahnen, daß man von der Analyse zu wenig akzeptiert,
wenn man von ihr nur Teile — und sei es auch als sehr wesentlich deklarierte —
akzeptiert. So liegen also, soweit es sich in der Psychoanalytischen Vereinigung um
anderes und mehr handelt, als um tendenzlose psychologische Forschung und An-
a m ee —_
Korrespondenzblatt 525
wendung des Erforschten und der Forschungsmethoden auf andere Wissens- und
Tätigkeitsgebiete, alle wesentlichen organisatorischen Aufgaben der IPV, d. h. alles
Arbeiten für die Zukunft unserer Bewegung, in den Händen unserer Unterrichtsanstalten.
Die meisten Anwesenden werden sich noch deutlich der Sitzung der IUK erinnern,
die auf dem vorigen Kongreß in Innsbruck stattgefunden hat. Wir versuchten,
Ihnen dort, wenn auch skizzenhaft und ohne ihn zur Diskussion zu stellen, den
ganzen Gang des Unterrichts resp. der Ausbildung — und zwar zunächt aus-
schließlich die der psychoanalytischen Therapeuten — vorzuführen: den theoretischen
Ausbildungsgang, Lehranalyse und Kontrollanalyse.. Viele von Ihnen entsinnen
sich sicher noch der entsprechenden Ausführungen von Dr. Rad6, Dr. Sachs
und Frau Dr. Deutsch. Einen breiten Raum hatte damals auch die Frage der
Zulassungsbedingungen angenommen. Sie wissen, daß der Kongreß uns beauftragt
hat, dieses Problem durch eine besondere Kommission bearbeiten zu lassen. Im
dritten Punkt unserer heutigen Tagesordnung werde ich Ihnen genaueren Bericht
über die Arbeit derselben zu erstatten haben.
Die Diskussion der einzelnen Probleme der Ausbildung, in denen übrigens keine
großen Divergenzen zwischen den einzelnen Instituten und Unterrichtsausschüssen
zu bestehen scheinen, sollen späteren Sitzungen der IUK vorbehalten bleiben. Bis
jetzt haben sich unsere Versuche, den Unterrichtsgang zu bestimmen, in erster
Linie und eigentlich fast ausschließlich mit der Frage der Ausbildung von psycho-
analytischen Therapeuten beschäftigt. Inzwischen ist aber die Ausbildung zweier
anderer Kategorien von Menschen, die Analyse lernen wollen, sehr dringend
geworden, d. i. die Frage der Ausbildung von Kinderanalytikern und des analy-
tischen Unterrichts von Pädagogen. Darüber werden uns zwei damit beauftragte
Kommissionen, die Wiener Kommission, bestehend aus Frl. Anna Freud und Herrn
August Aichhorn, und die Londoner Kommission, bestehend aus Miss Low, Mrs.
Klein, Miss Searl, Mrs. Isaacs und MissSharpe, Bericht erstatten und Thesen
vorlegen. Wir werden Sie bitten, diese zur Kenntnis zu nehmen, sich in Ihren Gruppen,
soweit ein Bedürfnis für die Regelung dieser Aufgaben bereits besteht — und soweit
ich unterrichtet bin, besteht das an allen Orten — mit diesen Thesen auseinanderzusetzen.
Ihnen allen ist aus dem letzten Bericht der Ungarischen Psychoanalytischen
Vereinigung wahrscheinlich schon bekannt, daß es dem dortigen Unterrichtsausschuß
gelungen ist, seine Lehrorganisation zu einem psychoanalytischen Institut auszubauen.
Unsere Institute sind besonders wichtig als Antwort auf die Frage, wie Analyse
gelernt werden kann, mit einem Hinweis darauf, wo sie richtig gelernt wird. Es ist
ein besonders bezeichnendes Symptom für die Entwicklung der Analyse und die
Anerkennung ihrer Bedeutung, daß in den letzten Jahren an manchen deutschen
Universitäten z. B. die Psychoanalyse gelehrt wird, von Personen allerdings,
denen wir die Kompetenz zum Lehren der Analyse nicht zuerkennen können. Was
dabei herauskommt, ist denn auch bestenfalls eine geistreiche, meist aber zu leicht-
fertige Freud-Kritik, auf Grund unzulänglichen Freu d-Studiums. Hier wieder-
holt sich, was wir früher meinten, daß, wie es den antiken Bauwerken einst geschah,
Steine herausgebrochen werden aus dem Bau der Psychoanalyse, um zum Aufbau
anderer Wissensgebäude verwandt zu werden. Unsere Institute beanspruchen nun
für sich die Kompetenz, das zu lehren, was Freud geschaffen, und wie immer
auch die Außenwelt sich zu uns und zur IPV verhalten mag, unsere Institute
machen im Prozeß der Erwerbung von Anerkennung und Autorität unverkennbare
und stetige Fortschritte.
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526 Korrespondenzblatt
Der Bericht des Vorsitzenden wird mit Beifall zur Kenntnis genommen.
Der Vorsitzende teilt mit, daß die Unterrichtsausschüsse der Zweigver-
einigungen unter Hinweis auf ihre Veröffentlichungen im Korrespondenzblatt
auf die Erstattung eingehender Berichte verzichten. Statt dessen fordert er
die Anwesenden auf, etwaige bemerkenswertere Vorkommnisse aus dem Lehr-
betrieb ihrer Gruppen in einer zwanglosen Aussprache vorzubringen. Hierauf
berichtet Dr. Federn über die Organisation eines Seminars zum Studium
Freudscher Schriften, dassich vortrefflich bewährthat. — Dr. Eitingon und
Frau Dr. Deutsch bringen Probleme der analytischen Unterweisung und
Kontrolle der Lehrer zur Sprache. — Dr. Radoö erzählt über die seit Jahren
bestehende und nunmehr sehr weitgehend ausgebaute Organisation der Seminare
am Berliner Institut. Dr. Ferenczi erwähnt die einschlägigen Erfahrungen
aus Budapest.
Der Vorsitzende gibt über die Tätigkeitder Berliner Unterkommission,
die zur Redaktion eines Entwurfes über die internationale Regelung der
Zulassungs- und Ausbildungsfragen eingesetzt worden ist, folgenden Bericht:
Sie erinnern sich gewiß noch alle, wie lebhaft die Diskussion der Zulassungs-
bedingungen zur Ausbildung auf dem Innsbrucker Kongreß gewesen ist, besonders an
den Teil, der die Zulassung von Nichtärzten betraf, obwohl oder weil schon vorher
die sogenannte „Laienfrage“ in ausgiebiger Weise diskutiert worden war. Sie
erinnern sich alle an die damalige Resolution Eitingon und an deren Schicksal.
Nach den verschiedenen Amendements, die dieser Resolution ihren Sinn genommen
hatten, ließ der Kongreß sie fallen und faßte folgenden Beschluß :
„Der Kongreß beauftragt die Internationale Unterrichtskommission, einen
Entwurf über die Zulassungsbedingungen zur Ausbildung zum psychoanalytischen
Therapeuten sowie über das Ganze des psychoanalytischen Ausbildungsganges im
allgemeinen, und im speziellen nach den Verhältnissen der einzelnen Länder,
schließlich über die erforderliche Zusammenarbeit der einzelnen Unterrichtsaus-
schüsse in der technischen Durchführung auszuarbeiten und dem Kongreß vorzu-
legen. Bis dahin unterbleibt jede Beschlußfassung über diese Fragen.“
Zur Bearbeitung dieses Auftrages war die Einsetzung einer speziellen Unter-
kommission erforderlich. Da die Mitglieder dieser Kommission vom Kongreß bzw.
der IUK nicht bestellt worden waren, blieb es damals mir als dem Vorsitzenden der
IUK überlassen, diese Kommission zu ernennen. Ich hatte nun zwei Möglichkeiten
des Vorgehens. Die erste war, diese Kommission möglichst international zu gestalten,
mit komplizierten Enquete- und Fragebogen zu arbeiten. Sie können sich denken,
wie schwerfällig dieses procedere geworden wäre; es hätte alles auf brieflichem
Wege gemacht werden müssen, Einzelheiten schon hätten endlose Korrespondenzen
hervorgerufen. Mit dem Arbeiten von Kommissionen Vertraute werden sich leicht
vorstellen können, wie vielversprechend es ist, auf diesem Wege Resultate in abseh-
barer Zeit erreichen zu wollen. Ich entschied mich daher für einen anderen Weg,
der mir zunächst einfacher und zweckmäßiger zu sein schien, der uns freilich auch
sehr viel Kritik und — wie ich mir festzustellen jetzt erlauben darf — teilweise
recht unberechtigte Kritik eingetragen hat. Ich wählte also drei an einem Ort, d.h.
in Berlin, ansässige Mitglieder, die trotz ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit
ausgesprochener Stellungnahme doch individuell genügend differierten, um geneigt
zu sein, das Problem von verschiedenen Seiten zu beirachten, und die Kommission
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Korrespondenzblatt 527
nahm sich vor, unter meiner Leitung einen möglichst vollständigen Entwurf auszu-
arbeiten, zu dem dann die anderen Gruppen in ebenso vollständiger Weise zustim-
mend oder variierend Stellung nehmen sollten. Anstatt also mit einem Fragebogen
zu beginnen, legten wir gleich einen Bogen mit Antworten vor, der keinen anderen
Sinn hatte, als Vorschläge zur Diskussion zu stellen. Wir gedachten, mit Hilfe der
Antworten, die wir von allen Gruppen vollständig erwarteten, — und von einigen
auch der Erwartung gemäß vollständig erhielten, — eine Linie zu finden, die in
allen wesentlichen Punkten eine gemeinsame Richtschnur der ganzen Unterrichts-
tätigkeit abgeben könnte. Wir hatten unseren ersten Entwurf mit einer Notiz einge-
leitet, welche die Technik unseres Vorgehens darlegt, und um die planmäßige
Mitwirkung aller Gruppen an der gemeinsamen Arbeit bittet. Es ist uns demnach
ganz unerfindlich gewesen, wie man in diesem ersten Entwurf etwas anderes sehen
konnte als die Anregung zu eingehender Äußerung, und wie man sie als ein versuchtes
Diktieren auffassen konnte. Daß einige Gruppen, statt daran mitzuarbeiten, diese
ganze gemeinsame Linie zu finden, wesentlichen Teilen des Entwurfs gegenüber
nur ein ganz einfaches Nein hatten, war natürlich nicht dazu geeignet, die Absichten,
die sich die Kommission gesetzt hatte, einer Erfüllung näher zu bringen.
Aus dem Ihnen in extenso überreichten Material der Kommission werden Sie
ersehen, warum die Kommission die ihr übertragene Aufgabe als ungelöst betrachten
muß und außerstande ist, Ihnen und durch Sie dem Kongreß einen Entwurf vorzu-
legen und zur Annahme zu empfehlen. Über die Zulassungsbedingungen gehen die
Antworten noch in einem so hohen Maße auseinander, daß es weitere und glück-
lichere Kommissionsarbeit braucht, um jene Einigkeit herbeizuführen, die wir als
gemeinsame Plattform unbedingt brauchen. Es hieße sich Illusionen hingeben, wenn
wir erwarten würden, daß die jetzige Sitzung diese Meinungsverschiedenheiten aus
der Welt schaffen würde, daher werden wir Ihnen einen Vorschlag machen, der den
Versuch, jetzt und hier zu einer Klärung zu kommen, ersetzen soll.
Muß aber die Kommission erklären, daß sie insofern erfolglos gearbeitet hat, als
es ihr nicht gelungen ist, den Auftrag voll zu erfüllen, so muß sie doch auf sehr
erfreuliche Einzelresultate ihrer Arbeit hinweisen. Sie hat mit großer Genugtuung
feststellen können, daß, wo Psychoanalyse gelehrt wird, dies mit einer logischen
— und ich möchte sagen — schönen Planmäßigkeit getan wird, an unseren ver-
schiedenen Lehrstätten, wohl unter organischer gegenseitiger Beeinflussung in
weitestgehend analoger Weise. Die Gruppen, die noch keine Lehrorganisation haben,
stimmten dem Lehrplan zu und sind bereit, ihn anzuwenden, vom Moment ab, wo
sie solche Möglichkeiten haben werden. Da wir einsichtig und bescheiden genug
sind, nur das in der analytischen Lehre zur Tat gewordene Wissen und Können an
dazu Befähigte weiter zu vermitteln, muß die Struktur dieser Doppelaufgabe auch
die Wege zu ihrer Lösung finden helfen. Über das Was und das Wie des Lehrens
gehen die Ansichten gar nicht sonderlich auseinander, sehr weit leider noch bei der
Frage, wem gelehrt werden soll. Und hier auch kann die Personenfrage zu einer
Schicksalsfrage werden. Es sind aus der Psychoanalyse dem heilenden Tun so uner-
hört neue Impulse und Aspekte gegeben, daß deren Voraussetzungen durch die
ausschließliche Bindung an den überkommenen ärztlichen Stand nicht Rechnung
getragen wird. Wir müssen Mittel und Wege, Bedingungen und Kautelen finden,
unter denen wir den Kreis der auch zur Therapie Zuzulassenden erweitern können.
Und es drängt, die Entwicklung unserer Sache verlangt von uns, das Suchen
nach diesen Bedingungen ohne Aufschub zugunsten irgend welcher Teilzwecke der
m mg
528 Korrespondenzblatt
Bewegung fortzusetzen. Man kann und darf nicht lange warten, nicht nur weil
unsere Einheit gefährdet werden kann, wenn wir uns nicht bald einigen, sondern
auch weil während der prinzipiellen Unentschiedenheit über den Kreis der Zuzu-
lassenden unser ganzes Lehren teilweise in der Luft hängt, etwas Schwankendes und
Unsicheres an sich hat und zu Verwicklungen führen muß. Ein höchst ungesunder
Zustand voller Gefahr.
Weil es nun der Berliner Kommission nicht gelungen ist, diesen Zustand zu
beseitigen, erklärt sie selbst ihr Unternehmen als gescheitert, und ich bitte Sie,
indem ich den Kollegen Radö, Frau Horney und Müller-Braunschweig
für ihre schwere und aufopferungsvolle Arbeit in unser aller Namen herzlichst danke,
diese Demission anzunehmen.
Zugleich aber bitte ich Sie, folgende Resolution als die Ihrige der Generalver-
sammlung des Kongresses zur Annahme zu unterbreiten, da ihm die demissionierte
Kommission den aufgetragenen Entwurf nun auch nicht vorlegen kann:
„Da es der im Auftrage des X. Internationalen Kongresses in Innsbruck ein-
gesetzten Unterkommission zur Ausarbeitung von Richtlinien für die Ausbildung
in der Psychoanalyse (gemeint war zunächst die Ausbildung zum psychoanalytischen
Therapeuten) nicht gelungen ist, eine volle gemeinsame Plattform zu finden,
schlägt die IUK dem Kongreß vor, diese Bemühungen von einer neuen Unter-
kommission, deren Liste sie nun vorlegt, fortsetzen zu lassen, und bittet den
Kongreß, von allen Anträgen genereller oder speziell-technischer Art, die mit
dieser Frage zusammenhängen, absehen zu wollen, bis die neu eingesetzte Unter-
kommission positive Resultate erreicht haben wird.“
Ich glaube, daß es sich erübrigt, diese Resolution eingehender zu begründen.
Ich erinnere nochmals an die nicht so leicht zu vergessenden Affekte, die die
Generalversammlung in Innsbruck an den Tag treten gesehen hat. Solche Affektent-
ladungen sind einer Klärung, wie wir sie benötigen, kaum gedeihlich, sie würden
uns in den Einigungsbestrebungen nicht weiter und einander nicht näher bringen,
vor allem möchten wir sie in diesen würdigen Hallen vermieden wissen, damit die
neue Kommission im Moment ihres In-die-Welt-Tretens eine Atmosphäre von Ruhe
und möglichstem Vertrauen umgibt.
Helfen Sie ihr dazu!
Auf eine Zwischenfrage wird vonDr.Eitingon sein Antrag dahingehend
interpretiert, daß auch die neue Unterkommission — ebenso, wie es die frühere
tat — sich ihrer Aufgabe unter Mitwirkung der Unterrichtsausschüsse aller
Zweigvereinigungen zu entledigen habe.
Hierauf wird der Resolutionsantrag Dr. Eitingon ohne Diskussion ein-
stimmig angenommen.
Dr. Eitingon stellt den ergänzenden Antrag, die IUK möge dem Kongreß
zur Entsendung in die Unterkommission folgende Mitglieder in Vorschlag
bringen: Mme. Bonaparte (Paris), Dr. Brill (New York), Frau Dr. Deutsch
(Wien), Dr. Eitingon (Berlin), Dr. Ferenezi (Budapest), Anna Freud (Wien),
Dr. Jelliffe (New York), Dr. Jones (London), Dr. van Ophuijsen (Haag),
Dr. Sachs (Berlin), Dr. Sarasin (Basel).
Der Antrag wird einstimmig angenommen.
Frau Melanie Klein legt zwei Entwürfe vor, die von einer britischen
Kommission herrühren; die eine betrifft die Ausbildung zum Kinderanalytiker,
die andere die analytische Ausbildung der Pädagogen.
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‚Korrespondenzblatt 529
Frl. Anna Freud erörtert die Vorschläge, die über dieselben Gegenstände
von ihr selbst in Gemeinschaft mit August Aichhorn ausgearbeitet worden sind.
Dr. Eitingon dankt Frau Klein, Frl. Freud und ihren Mitarbeitern
für ihre Bemühungen und bittet die Mitglieder, sich mit dem vernommenen
Material bis zum nächsten Kongreß vertraut zu machen.
In einer vom Vorsitzenden angeregten zwanglosen Aussprache beleuchtet
Zulliger durch einige Beispiele, wie der praktisch tätige Lehrer kleine päd-
agogische Psychotherapie betreiben und die Psychoanalyse verwerten könne.
Dr. Hermann berichtet über seine Erfahrungen mit der psychoanalytischen
Unterweisung von Pädagogen.
Für den Sitzungsbericht der IUK:
Dr. Säandor Radö
Sekretär
Geschäftliche Sitzung
Dienstag, den 30. Juli, vormittags :
Der Vorsitzende Dr. Eitingon eröffnet die Generalversammlung mit
folgender Ansprache:
Es gibt etwas, das unseren Kongreß von anderen Kongressen, sei es rein
wissenschaftlichen oder mehr oder weniger angewandt wissenschaftlichen Charakters,
unterscheidet, und wenn auch unsere Kongresse die Veranstaltungen einer Vereinigung
sind, welche Pflege und Ausbau der Psychoanalyse als Wissenschaft wie ihrer
Anwendungen sich zum Ziel gesetzt hat, so hat unsere Vereinigung von Anfang an
— besonders in den Anfängen, aber deutlich auch noch jetzt — den Charakter
einer Gemeinschaft mit starker innerer, ganz persönlicher Kohäsion. Das starke
Anwachsen der Mitgliederzahl vermag diesen Charakter nicht zu verwischen, denn
nur als Gemeinschaft kann die IPV ihre Mission erfüllen, welche ihr den
eigentlichen Sinn’ gibt, darüber zu wachen, daß die Psychoanalyse als Ganzes sich
erhalte und weiterentwickle, entgegen den Tendenzen, sie zu zerstückeln und die
Stücke in andere Zusammenhänge einzufügen und anderen, ihr oft fremden
Gesichtspunkten unterzuordnen. Es ist in Deutschland z. B., wo die Analyse in den
letzten Jahren an Schätzung und Bedeutung außerordentlich gewonnen hat, üblich
geworden, von uns als von den „Vereinsanalytikern“ zu reden, im Gegensatz zu
vielen anderen, die sich auch als Psychoanalytiker bezeichnen. Wir wollen diesen
uns verliehenen Titel gern tragen, wenn er wirklich Abhebung von den anderen
bedeuten soll. Und wir werden nach einem alten niederländischen Beispiel das uns
angehängte Schild als Ehrenschild betrachten, weil wir von der Notwendigkeit und
der wichtigen Funktion der Vereinigung überzeugt sind. Wie die Erhaltung einer
jeden Gemeinschaft nicht ohne persönliche Opfer abgeht, so muß auch unsere große
Gemeinschaft von den Gruppenindividuen, die sie zusammensetzen, Opfer verlangen,
die sicher zu leisten sind, wenn man mit voller Klarheit den Sinn unserer Vereinigung
sich vergegenwärtigt. Sie sind auch dort zu leisten, wo sie sehr schwer zu sein
scheinen, wenn man sich die Werte vorhält, die in der Vereinigung verkörpert sind,
und die schließlich über alle äußeren Hindernisse hinwegwachsen müssen. Es ist
unvermeidlich, daß in solchen Gemeinschaften ältere führende Individuen eine
ausschlaggebende Rolle spielen; wir alle haben es erlebt, wie es in den Gemeinschaften
amamaaRmaamRRRÖ@Ö@ÄÖ@ßnnmhReReRßeaeas
530 Korrespondenzblatt
vor uns erlebt worden war — die Erkenntnisse der psychoanalytischen Massen-
psychologie haben es uns nur bewußt gemacht — und es ist immer ein freudiger
Moment, Gelegenheit und Anlaß zu haben, einem älteren Freunde, Mitkämpfer und Führer
danken zu können für das, was er für unsere Gemeinschaft und also für uns getan hat.
Ernest Jones ist gerade am ersten Tage dieses Jahres 50 Jahre alt geworden.
Wir würden es diesem Jugendlichen noch schwerer glauben, wenn unsere Zeit uns
nicht gelehrt hätte, daß alt jetzt nur die Jungen sind. Wenn man aber die Fülle
dessen betrachtet, was Jones geleistet hat, so würde man meinen, daß dazu nicht
Fleiß und Talent allein, sondern auch viel mehr Zeit noch gehören müsse, als sein
Kalender es ihm erlaubte. Ein biographischer Umstand hilft unserem Staunen. Ernest
Jones ist nämlich in wissenschaftlicher Hinsicht ein glücklicher Frühbeginner. Mit
2ı Jahren bereits Doktor der Medizin, hat er eine ebenso gründliche wie vielseitige
Spitalspraxis in der Chirurgie, Ophtalmologie, Gynäkologie, der internen Medizin
und Kinderheilkunde also im Gebiete der praktischen Gesamtmedizin, durchgemacht,
bevor er sich für die Neurologie spezialisierte. Seine Arbeiten in der organischen
Neurologie verschaffen ihm auch sehr früh schon die Mitgliedschaft der Neurological
Society in London, der American Neurological Association und der Deutschen
Neurologischen Gesellschaft. Aber sehr früh schon gilt sein Hauptinteresse der
psychologischen Seite seines Spezialgebietes, und er verfaßt einige psychologisch
orientierte Arbeiten, noch bevor das Werk Freuds seine Wege kreuzt. Im
Jahre 1906 trifft er zuerst auf Freud, liest dessen damals erschienene Hauptwerke
und beginnt sofort das Gelesene anzuwenden, trifft im Jahre 1907 Jung, lernt dann
auf dem Salzburger Kongreß im April ıg08 Freud persönlich kennen und eine
Reihe von jetzt noch anwesenden älteren Kollegen. Im Herbst 1908 kommt er als
Professor der Psychiatrie an die Universität von Toronto, als welcher er vier Jahre
dort bleibt, während welcher Zeit er allen psychoanalytischen Kongressen auf dem
Kontinent beiwohnt. Der erste englisch geschriebene Artikel über Psychoanalyse
stammt von ihm, wie auch das erste englische Buch über diesen Gegenstand. Und
als er im Jahre ıgız nach London übersiedelt, ist er unter den ersten Analytikern,
welche auf die Idee kommen, sich zu Lernzwecken auch analysieren zu lassen, und tut das
bei Ferenczi im selben Jahre. Im Jahre ı914 gründet er die Britische Analytische
Gesellschaft und im Jahre ı926 rief er die Londoner Psychoanalytische Klinik ins
Leben. Sie werden wohl alle, die sein wissenschaftliches und literarisches Schaffen
näher verfolgt haben, mit Überraschung in dem ihm gewidmeten eben erschienenen
Festheft der „Internationalen Psychoanalytischen Zeitschrift“, wie des „International
Journal of Psycho-Analysis“ ersehen haben, wie außerordentlich viel Jon es geschaffen
hat, aber auch wir, die wir ihn und sein Wirken seit langem genau zu kennen
glaubten, waren erstaunt über den Umfang seiner bisherigen Gesamtleistung. Wohl
alle Psychoanalytiker werden gemerkt haben und wissen, daß Jones außer seinem
überraschend großen allgemeinen und medizinischen Wissen sozusagen ein Polyhistor
in psychoanalyticis ist, wenn’s erlaubt ist, so zu sagen. Doch beherrscht er nicht nur
das ganze Gebiet, sondern hat in den meisten Teilen desselben auch selbständig
mitgearbeitet und ist neben Ferenczi und Abraham der vielseitigste und
anregendste Autor unter uns, besonders die angloamerikanische Welt hat nach Freud
in ihm den ersten Lehrer der Psychoanalyse. So viel verdankt ihm unsere Wissenschaft.
Der Vereinigung, als dem Träger des Kampfes um die Psychoanalyse, wurde er
sehr bald undimmer mehr zum führenden Mitglied: an allen Beratungen organisatorischer
Fragen nahm er in entscheidendem Maße teil. Während des Krieges hielt er den
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Korrespondenzblatt 531
überhaupt noch möglichen Kontakt der durch den Weltkrieg zerrissenen psycho-
analytischen Gemeinschaft aufrecht und war dann durch eine Reihe von Jahren
Präsident unserer Vereinigung. In seiner Heimat hat er mit ebenso großer Ausdauer
und Energie, wie mit Takt und Geschick für die Verteidigung und offizielle
Anerkennung der Analyse gekämpft, zuletzt noch im Psycho-Analysis Committee der
British Medical Association. Sie sehen, für wie vieles die Vereinigung Ernest
Jones zu danken hat; wenn wir ihm in Ihrer aller Namen noch eine Reihe von
Jahrzehnten von Gesundheit, Arbeit und Erfolg wünschen, wünschen wir der
Vereinigung, daß ihr noch viele solche führende Mitglieder erstehen wie Jones,
von seinem geistigen Kaliber und so „eifrig und tatkräftig, streitbar und der Sache
ergeben“. So hat ihn unser Meister in seinem Festgruß apostrophiert.
Dr. Eitingon überreicht nach diesen Worten unter warmem Beifall
der Versammlung Dr. Jones die zu seinem fünfzigsten Geburtstag heraus-
gegebenen Festhefte der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ und
des „International Journal of Psycho-Analysis“.
Dr. Jones erwidert mit herzlichen Dankesworten, ihm sei das Gefühl,
verläßliche Freunde und Mitarbeiter zu haben, besonders wertvoll.
Dr. Eitingon setzt hierauf seine Rede fort:
Versuchen wir, bevor wir auf die Situation in unseren einzelnen Schwesterver-
einigungen eingehen, einen Blick zu werfen auf das Verhalten der allgemeinen
wissenschaftlichen Umwelt und Welt überhaupt zur Psychoanalyse, so bekommen
wir einen ganz analogen Eindruck, wie ihn auch die letzte Berichtsperiode ergeben
hat. Der Ton der Analyse gegenüber ist doch ein wesentlich anderer geworden —
auch abseits vom modischen Lärm, der um die Psychoanalyse entstanden ist, ver-
sucht man es, in nunmehr teilweise sehr ernsthafter Weise sich mit ihr auseinander-
zusetzen — die Anerkennung wächst ständig. Diese hat aber noch mehr als häufig
den Charakter eines Danaergeschenkes an sich, der darin besteht, — wie ich es schon
oft angedeutet habe, — daß man die Psychoanalyse nur teilweise akzeptiert, mit Aus-
wahl, mit zu großer Vorsicht und unter zu vielen Rücksichten. Wir haben allen
Grund, wachsam zu sein in Anbetracht einer solchen Anerkennung. Die Vereinigung
selbst wächst sehr langsam, die Zahl der Mitglieder ist seit dem letzten Kongreß
nicht wesentlich verändert. Die scheinbare Langsamkeit dieses Wachstums erklärt
sich in ausreichender und auch befriedigender Weise durch den Umstand, daß die
meisten Gruppen jetzt die Bedingung des eigenen Analysiertseins, also ein ganz
anderes Vertrautsein mit der Analyse, verlangen, als wir es früher getan haben. In
der wissenschaftlichen Arbeit gilt das Hauptinteresse der Ichanalyse und der Technik.
Unsere englische Zweigvereinigung, in deren Mitte wir jetzt weilen, hat
einen deutlichen Zuwachs ihrer Mitgliederzahl aufzuweisen. Für die größere Geneigt-
heit der öffentlichen englischen Stimmung der Psychoanalyse gegenüber, besonders
der Ärztewelt, spricht die Art und Weise, in welcher das erwähnte „Psycho-Analysis
Committee“ der „British Medical Association“ seine Resolution über die Psycho-
analyse schließlich zusammengefaßt hat. Drei Jahre lang hat dieses Committee diskutiert,
und ich muß hier noch einmal das Verdienst von Ernest Jones unterstreichen, der
als einziger Vertreter der Freudschen Psychoanalyse in dem Committee für sie focht.
Als das wesentlichste wissenschaftliche Ereignis in der Vereinigung selbst wird von
unseren Freunden das im Dezember ı927 abgehaltene „Symposion über die Kinder-
analyse“ angesehen.
532 Korrespondenzblatt :
Unsere österreichische Gruppe entfaltet zurzeit wohl die intensivste und
Zruchtbarste Propaganda. Ich hoffe, daß der Vorsitzende der Wiener Vereinigung
und die Leiterin des dortigen Lehrinstitutes uns Genaueres darüber erzählen werden.
In Deutschland, dem klassischen Lande des längsten und hartnäckigsten
Widerstandes gegen die Analyse, schreitet die Wandlung der Einstellung zur Psycho-
‚analyse, wenn auch langsam, so stetig fort. Man hat die Analyse so lange und so
‚gut kritisiert, daß man sie allmählich auch etwas besser zu verstehen und zu erkennen
beginnt. Die schon auf dem vorigen Kongreß berichtete ansteigende Welle des
Interesses für Psychotherapie und die jedenfalls schon in Innsbruck erwähnte „Deutsche
‘Gesellschaft für Psychotherapie“ gibt zu, die wesentliche Strukturgrundlage ihrer
Gesellschaft in der Psychoanalyse zu sehen, was sie natürlich nicht hindert, die
Psychoanalyse mit entsprechender Ambivalenz zu behandeln. Ich erwähnte an anderer
Stelle schon, daß in den Verzeichnissen verschiedener Universitäten auch Vorlesungen
über die Psychoanalyse in den letzten Jahren auftauchen. Wir machen uns
keinerlei Illusion über die Bedeutung solcher Tatsachen und wissen, daß die richtigste
Antwort darauf noch immer der Ausbau der IPV und unserer Institute bedeutet.
Die ungarische Gruppe hat eine sehr rege innere wissenschaftliche und
Propagandatätigkeit entfaltet, die öffentlichen Kurse sind gut besucht; neuerdings hat
die Gruppe auch die schon lange beschlossene Eröffnung eines Ambulatoriums realisiert, _
nachdem es schon vorher gelungen war, die theoretischen Kurse in einer systematischen
und geschlossenen Weise durch eine Anzahl von Mitgliedern der Vereinigung auszubauen.
Die französische Gruppe entwickelt sich unter der rührigen und energischen
Leitung von Laforgue relativ rasch, hat jetzt bereits ı5 ordentliche und ı2 außer-
‚ordentliche Mitglieder, hält alljährlich eine psychoanalytische Konferenz ab, bei
welcher bestimmte psychoan alytische Themen lebhaft diskutiertwerden. In der „Groupe
d’etudes philosophiques et scientifiques pour l’examen des tendances nouvelles“ sind
von Kollegen Allendy eine Reihe von psychoanalytischen Vorträgen arrangiert
worden. Der Kontakt mit auswärtigen analytischen Gruppen wird aufrecht erhalten
:und gepflegt. In der letzten Zeit haben Dr. Jones und Dr. Sachs neben anderen
‚auswärtigen Kollegen dort Vorträge über analytische Probleme gehalten, zuletzt
Dr. Sachs einen sehr beifällig aufgenommenen Kurs über psychoanalytische
Technik. An der Klinik von Ste. Anne wurde eine besondere psychoanalytische
Poliklinik eingerichtet, dank der Initiative der Frau Marie Bonaparte und
der wohlwollenden Neutralität von Prof. Claude. Es arbeiten dort die Kollegen
Laforgue, Loewenstein und Nacht. Im „cercle de neuropsychiatrie infantile“
ist eine Psychoanalytikerin, Frau Dr. Morgenstern, früher in Zürich, für die
psychoanalytische Behandlung von Kindern zugelassen worden.
Unsere Schweizer Gruppe ist diejenige, welche in dieser Berichtsperiode wohl
das bewegteste innere Schicksal von allen Gruppen gehabt hat. Sie haben aus dem
Korrespondenzblatt in der ersten Nummer der „Zeitschrift“ dieses Jahres erfahren, daß
im Anfang des Jahres ı928 der langjährige Vorsitzende der „Schweizer Psychoana-
Iytischen Vereinigung“, Dr. Emil Oberholzer, nach vorhergegangener Niederlegung
seines Amtes mit einer Reihe von ärztlichen Mitgliedern unserer alten Schweizer Zweig-
vereinigung (Dr. med. H. Bänziger, Privatdozent Dr. med. R. Brun, Dr. med. A.
Großmann, Dr. med. A. Loepfe, Dr. med. M. Müller, Frau Dr. med. M. Oberholzer
und Dr. med. H. J. Schmidt) eine neue psychoanalytische Vereinigung gegründet
hat, die „Schweizer ärztliche Vereinigung für Psychoanalyse“. Im Februar ı928 hat
‚nun die neue Gesellschaft den Zentralvorstand der IPV um ihre Aufnahme in
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Korrespondenzblatt 533
unseren Verband angesucht, dieses Gesuch in einem längeren Memorandum moti-
vierend. Der Zentralvorstand der IPV sah sich nach reiflicher Prüfung des Sach-
verhaltes genötigt, dieses Gesuch abzulehnen, weil die angeführten Motive, welche
die Neugründung zu rechtfertigen suchten, ihm nicht ausreichend zu sein schienen,
und weil er es vor allem sehr bedauerlich empfand, daß kein anderer Weg als die
Spaltung einer alten Gruppe hatte gefunden werden können, um eingetretene
Schwierigkeiten zu überwinden. Ein neuer Vorstand, an dessen Spitze der Kollege
Dr. med. Ph. Sarasin steht (neben ihm die Herren Zulliger, Dr. med. E.
Blum, Dr. med. H. Behn-Eschenburg und Pfarrer Pfister), übernahm
die Leitung der alten Schweizer Gruppe und ging mit verheißungsvollem Eifer an
die Belebung und Vertiefung der Arbeit in der Vereinigung. Der Zentralvorstand
glaubt, daß der weitere Verlauf der Ereignisse in der Schweiz seine Ablehnung der
Aufnahme der neuen Gruppe gerechtfertigt hat. Die „Schweizer ärztliche Gesellschaft
für Psychoanalyse“ hat keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihre wenig freundliche
Gesinnung gegenüber ihrer alten Muttergesellschaft öffentlich an den Tag zu legen.
Die niederländische Gruppe hat eine Belebung ihrer Arbeit durch die „Leidsche
Vereeniging voor Psychoanalyse en Psychopathologie“ erfahren. Beide Vereinigungen
stehen in einem lebhaften Kontakt, indem die Mitglieder der einen Gesellschaft
ständige Gäste bei den Sitzungen der anderen sind. An Stelle des langjährigen Vor-
sitzenden der Gruppe, des Dr. van Emden, ist Dr. van Ophuijsen seit
vorigem Jahr Präsident der Gruppe. Und Dr. van Ophuijsen bemüht sich in
der ihm eigenen stillen, zähen und aufopferungsvollen Weise, die Bedingungen zum
Beginn systematischen Unterrichts auch in Holland zu schaffen.
Die New York Psycho-Analytic Society zeigt einen bedeutenden Zuwachs ihrer
Mitglieder, trotzdem die Aufnahmsbedingungen verschärft worden sind. Mitglieder
der New Yorker Gruppe haben wiederholt Vorträge im Rahmen der jungen Balti-
more-Washington Gruppe gehalten. Im Winter ı928/29 sind die Wiener Kollegen
Prof. Schilder und Dr. Wittels in New York gewesen, und der Kontakt der
Alten und Neuen Welt unserer Vereinigung scheint beiderseits sehr befriedigend aus-
gefallen zu sein.
Die Situation unserer russischen Gruppe konnte sich natürlich infolge der
Umstände, unter denen sie arbeitet, nicht verändern, besonders da das geschätzte
langjährige Haupt ihrer Gruppe seinen Wohnsitz verlegt hat. In bewunderungs-
würdiger Tapferkeit sehen wir unsere Kollegen in der Moskauer Gruppe, wie auch
einzelne in Kiew und Odessa, um die Behauptung und Vertiefung ihres psycho-
analytischen Besitzes weiterringen.
Ebenfalls aus dem Bericht im „Korrespondenzblatt“ ist Ihnen bekannt, daß in
Brasilien, und zwar an der Universität Säo Paulo, sich die „Sociedade Brasileira
de Psychoanalyse in Säo Paulo“ gebildet hatte; eine Reihe von Professoren der ver-
schiedenen Fakultäten der Universität und anderer Lehrinstitute unterzeichneten als
Gründer. Sehr bald schuf sich diese Gesellschaft auch ihr eigenes Organ, die „Revista
Brasileira de Psychoanalyse“, auch Bücherpublikationen sind seither erschienen, welche
das ganze Gebiet der Psychoanalyse behandeln. Vor kurzem hat die Gesellschaft
noch eine Erweiterung dadurch erhalten, daß sich in Rio de Janeiro eine Schwester-
vereinigung gebildet hat, im engsten Kontakt mit der von Säo Paulo. Die ausführ-
lichen brieflichen Mitteilungen über die Arbeit dieser Gesellschaft lauteten so er-
freulich und vielverheißend, daß wir uns sehr gefreut hätten, dem Kongreß ein
offizielles Aufnahmsgesuch dieser Gesellschaft vorlegen zu dürfen. Dasselbe ist
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534 Korrespondenzblatt
aber — es ist uns unbekannt, ob infolge der weiten Entfernung — noch nicht ein-
gelangt. Der Vorstand gedenkt von seinem Recht, eine neue Gesellschaft provisorisch
aufzunehmen, Gebrauch zu machen, sobald das Gesuch einläuft, und wird den
nächsten Kongreß um Bestätigung dieser Aufnahme ersuchen.
Zuletzt lassen Sie uns der Lücken gedenken, welche der Tod in unsere Reihen
gerissen hat. Unsere englische Schwestervereinigung hat den Tod von Dr. Warburton
Brown und des Dr. Thacker zu beklagen, die New Yorker Psychoanalytische
Vereinigung den von Dr. Carncross, der noch vor kurzem zu analytischen
Studienzwecken in Berlin geweilt hatte, und in Rußland ist der Prof. M. A.
Reußner gestorben, eines der ältesten Mitglieder der Moskauer Psychoanalytischen
Vereinigung, der in zahlreichen Arbeiten die Psychoanalyse auf soziologische und
religionspsychologische Probleme angewandt hat. Unsere deutsche Gesellschaft für
Psychoanalyse hat den Verlust dreier Mitglieder zu verzeichnen, den Tod Dr. Walter
Cohns, eines jungen und sehr hoffnungsvollen Kollegen und Assistenten unseres
Instituts, den des Dr. W. Wittenb erg, der durch viele Jahre allein den verein-
samten Posten der Psychoanalyse in München vertrat, und schließlich noch den Tod
von Dr. Georg Wanke, der als einer der ersten Psychoanalyse in Sanatoriummilieu
und -behandlung hineingenommen hat. Ehren wir durch Aufstehen das Andenken
der toten Kollegen.
Das Protokoll des vorigen Kongresses wird genehmigt.
Dr. van Ophuijsen unterbreitet folgenden Kassenbericht:
Soll An die „Internationale Psychoanalytische Vereinigung“. Haben
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Saldo am 26. September 1927 . . Mk. 3826°52 Korrespondenzblatt:
Beiträge der Mitglieder: 1927 2..... Mk. 77257
197 2 SEE ME 163 12T Te 1935
1928 22220. „2561.80 er) aan. « _» _1745:44 Mk. 405344
BIN ea 15 20:63 337278 Kongresse:
Zinsen, 9 Prozent p. a. vom Dar- Innsbruck . ..... Mk. 370:24
lehen: Oxford oe ne ._ „91:14 „ 132138
127 2.2.0... Mk 73% Vorstand:
BIZBE EL 0 010 30198 1927 2.0.0... Mk 167%
II2ONERE ae 20 238:69° , :620:51 MIDI eo er 88:33
129 Lernen 64280 „ 711
Darlehen an den I. PsA. Verlag:
1927 2.2. 0 0.0 Mk 2705:95
1928 2.0.0... _„ 124602
Mk. 3951'97
RI Te. ab, 16283064172
Darlehenssaldo „ 364585 _
Mk. 9819'78 Mk. 9819:78
Haag, den 16. Juli 1929. J. H. W. van Ophuijsen, m.p.
Druckkosten des Korrespondenzblattes (in Mark).
1927 1928
7 HR | 110 | IV I | Il | Iu
Deutsch .. . _ — 17857 | 594° — —_ 270— | 306° —
Englisch . . „| 291:60 | 162°— | 210:60 | 97:20 | 39-— | 109— | 236-—
nn
Korrespondenzblatt 535
Dr. van Ophuijsen macht zu diesem Bericht einige erläuternde Be-
merkungen. Die Mitgliedsbeiträge sind, von einigen wenigen Ausnahmen ab-
gesehen, vollständig eingelaufen. — Der ganze Besitz der IPV ist dem Verlag
gegen 9% pro anno geliehen. Der Besitz ist aber in den letzten zwei Jahren
sehr zurückgegangen. Schuld daran tragen I) die steigenden Kosten der Kor-
respondenzblätter; sie werden demnächst durch das Dazukommen einer fran-
zösischen Ausgabe noch wesentlich gesteigert werden, 2) die Kosten der Kon-
gresse. — Während der Homburger Kongreß ungefähr 27 englische Pfund
gekostet hatte, waren die Kosten des Innsbrucker Kongresses bereits 39 Pfund,
der Oxforder Kongreß wird etwa 60 Pfund kosten. So könne es nicht weiter-
gehen. — Dennoch will Dr. Ophuijsen den Mitgliedsbeitrag der IPV vor-
läufig nicht erhöht wissen.
Mrs. Riviere erklärt die hohen Kosten des gegenwärtigen Kongresses
durch die hohen Preise in England. Da die Mietkosten für das Kongreßlokal
30 Pfund betragen, die Druckkosten für Programme, Richtlinien usw. 25 Pfund,
so betragen die Ausgaben für alles andere bloß 5 Pfund, was gewiß nicht viel ist.
Dr. Steiner schlägt vor, die Kongreßkosten separat zu verwalten.
Dr. Jones macht darauf aufmerksam, daß es sonst bei wissenschaftlichen
Kongressen allgemein üblich sei, von den Teilnehmern eine Teilnahmsgebühr ein-
zuheben, von der die Kosten bestritten werden; eine Summe von etwa 5 bis
6 Mk. pro Person würde genügen. Sein Antrag wird von Dr. Brill unterstützt.
Dr. Eitingon erwidert zunächst Mrs. Riviere, daß die Kosten keiner
Entschuldigung bedürfen. Als beschlossen wurde, den Kongreß in England ab-
zuhalten, hätte man gewußt, daß England teuer sei. — Ferner meint er, daß
nichts dagegen einzuwenden sei, die allgemein übliche Sitte eines Kongreß-
beitrages der Mitglieder und Gäste für die Zukunft auch bei uns einzuführen.
Man müsse sich jetzt nur noch über die Höhe eines solchen Beitrages einigen.
Dr. Federn beantragt, die Festsetzung der jeweiligen Beitragshöhe dem
Vorstand zu überlassen.
Dr. Jones beantragt, den Beitrag vorläufig mit s Mk. zu fixieren.
Dr. Alexander findet diese Summe im Vergleich zu den Beiträgen anderer
Kongresse sehr niedrig; es sei auch üblich, den Beitrag der Gäste höher an-
zusetzen als den der Mitglieder.
Dr. Simmel ist dafür, allgemein 10 Mk. einzuheben und den Überschuß
dazu zu verwenden, um materiell schwächeren Kollegen einen Teil der Kongreß-
Reiseunkosten zu ersetzen.
Dr. Laforgue meint, dann sei es besser, den offiziellen Beitrag niedrig
zu belassen, und außerdem eine Subskriptionsliste für einen Unterstützungs-
fonds zirkulieren zu lassen.
Dr. Federn unterstützt das ganz besonders. Gerade am gegenwärtigen
Kongreß konnten sehr viele Kollegen aus materiellen Gründen nicht teilnehmen.
Hierauf wird im Sinne des Antrages Dr. Jones’ der Kongreßbeitrag für
Mitglieder und Gäste vom nächsten Kongreß an auf RM. 3.— festgesetzt. Ferner
wird im Sinne des Antrages Dr. Laforgues beschlossen, der Vorstand möge
vor künftigen Kongressen eine Subskriptionsliste für einen Reise-Unterstützungs-
fond auflegen.
Dr. Eitingon bittet die Vertreter der einzelnen Gruppen um etwaige
ergänzende Berichte.
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536 Korrespondenzblatt
Dr. Brill erzählt, daß die psychoanalytische Bewegung in Amerika leb-
haft fortschreitet. Wenn es dabei vielleicht noch manches auszusetzen gäbe, so
glaube er, versprechen zu können, daß es sich in Zukunft bessern werde.
Dr. Federn teilt mit, daß in Wien die intensive innere Arbeit der Ver-
einigung. befriedigend vorwärts gehe. Die sogenannten „erweiterten Vorstands-
sitzungen“ bei Professor Freud, in denen Prof. Freud immer selbst seine
Ansicht in der Diskussion darlegt, seien eine besondere Beglückung für die
Teilnehmer und Förderung der Arbeit. — Äußerlich seien auch erfreuliche
Erfolge zu verzeichnen. Die Stellungnahme der Studenten hat die Universitäts-
professoren gezwungen, sich um die Psychoanalyse zu kümmern. So hören viele
Teilnehmer des psychologischen Seminars von Professor Bühler auch am
psychoanalytischen Institut Kurse; der tatkräftige Studentenverein für „medi-
zinische Psychologie“ ließ sich nicht von seinen Beratern hindern, von Psycho-
analytikern Vorträge halten zu lassen. So seien besondere Propagandaveranstaltungen
kaum mehr nötig, da eine große Anhängerschaft unter Studenten und im Bürger-
tum bereits bestehe. Alle politischen Reaktionäre seien gegen, alle Fortschritt-
lichen für die Psychoanalyse. So hat bekanntlich die — sozialdemokratische — Stadt
Wien Professor Freud einen Baugrund zur Errichtung eines psychoanaly-
tischen Instituts geschenkt. Bald darauf hat die — christlichsozial-großdeutsche —
Bundesregierung die Bewilligung eines Lehrinstitutes verweigert und der Oberste
Gerichtshof diesen Ukas des Ministeriums gebilligt. — Das vermag aber die
Arbeit nicht zu hindern. Die Vereinigung hat beschlossen, den für den beabsich-
tigten Hausbau bestimmten Fonds zur ständigen Erweiterung der Arbeiten des
Instituts zu verwenden, das dafür mehr Ärzte und Lehrkräfte anstellt.
Dr. Sarasin: Seit dem Austritt von Dr. Oberholzer und seinen
Freunden finden in der Schweizerischen Vereinigung durchschnittlich fünf Sitzungen
im Quartal statt. Die Mitglieder reisen aus dem ganzen Lande zu den in Zürich
stattfindenden Sitzungen. Außerdem existiert ein „psychoanalytisches Seminar
und Kolloquium“, das theoretische und technische Fragen zur Diskussion stellt
und den jüngeren Kollegen Gelegenheit gibt, sich weiter auszubilden. —. Die
Vereinigung veranstaltete weiter zwei öffentliche Vortragsreihen in Zürich und
Bern. Auch im Schweizer Psychiaterverein hielten Mitglieder unter Beifall
psychoanalytische Vorträge. — Über die Schicksale der „Schweizer Ärzte-
gesellschaft für Psychoanalyse“, d. h. der Oberholzer-Gruppe, sei ihm nichts
bekannt. Nur einmal stand in der offiziellen Schweizer Ärztezeitung zu lesen,
daß diese Gruppe der von der Vereinigung veranstalteten öffentlichen Vortrags-
reihe durchaus fernestehe. — Die Mitgliederzahl beträgt gegenwärtig 33, davon
19 Ärzte.
Dr. Ferenczi meint, auch in Ungarn zeige die psychoanalytische Bewegung
eine stete Besserung, ihre Inkubationszeit sei dort wohl jetzt überwunden.
Kreise, die der Psychoanalyse ganz ferne standen, behaupten jetzt schon, selbst
Psychoanalyse zu betreiben. Das sei zwar nicht besonders wertvoll, aber immerhin
ein Zeichen der Zeit. Die öffentliche Meinung interessiere sich sehr lebhaft
für die Psychoanalyse. Bei öffentlichen Vorträgen, die Dr. Ferenczi selbst in
Budapest hielt, mußte er wegen des starken Besuches — etwa 1200 Hörer —
auf Anordnung der Polizei in den größten Saal Budapests mit seinem Audi-
torium übersiedeln. Außer diesen öffentlichen Vorträgen wurden auch spezielle
Kurse für Ärzte und für Pädagogen gehalten. — Das „Lehrkomitee“ ist in
Korrespondenzblatt 537
ein „Lehrinstitut“ umgewandelt worden, das bestrebt ist, dem Beispiel der
älteren Lehrinstitute nachzueifern.
Dr. Simmel: Über die qualitative und quantitative Steigerung der psycho-
analytischen Arbeit in Berlin wird der Bericht des Institutes orientieren, das
in ein neues, größeres und schöneres Lokal übersiedelt ist. Die Bibliothek
des Institutes wurde in dem Sinne erweitert, daß sie nunmehr auch die
Literatur der Grenzgebiete umfaßt, was für das praktische Studium von großer
Bedeutung ist. — Aber die deutsche psychoanalytische Gesellschaft ist längst
nicht mehr auf Berlin beschränkt. Sie sieht die Notwendigkeit, sich regional
zu organisieren. Es bestehen die „Südwestdeutsche Arbeitsgemeinschaft“ in
Frankfurt a. M., eine Arbeitsgemeinschaft in Leipzig und der Ansatz zu einer
solchen in Hamburg. Dort werden Interessenten gesammelt, die auch an Ort
und Stelle ihre Analyse durchmachen. Dann pflegen sie nach Berlin zu kommen
und in den Sitzungen der Gesellschaft Referate zu halten, um Mitglieder zu
werden. — Frankfurt hat auch schon den Anfang eines eigenen Institutes. —
Interesse beansprucht auch die große psychoanalytische Bewegung außerhalb
unserer Gesellschaft in Deutschland, die gefährlich wird, weil sie die Psycho-
analyse so „rückhaltlos“, nämlich ambivalent, akzeptiert. In Berlin allein gibt
es drei oder vier Vereine für „freie“ Psychoanalyse; eine hat den Geburtstag
von Professor Freud feierlich gefeiert und man hört von ihren Mitgliedern
die Meinung, sie nur seien die wahren Vertreter der Freudschen Lehre,
die sie vor den „Vereinsanalytikern“, die sie mißverstanden hätten, schützen
müßten. — Man freue sich in Berlin ganz besonders, daß Berlin - und sein
Institut immer mehr Anziehungspunkt für auswärtige Mitglieder und für
Interessenten aus solchen Ländern werde, die noch keine Vereinigung besitzen.
So sei z. B. Dr. phil. Raknes aus Oslo, der in Berlin seine Ausbildung
genossen habe, hier am Kongreß anwesend, der beabsichtige, sein psychoana-
lytisches Wissen nunmehr in das bis jetzt von der Analyse noch zu wenig
berührte Norwegen zu tragen.
Dr. Laforgue: Die Pariser Gruppe sei heute nicht mehr im Zustande
eines „Nebelsterns“, sondern beginne bereits sich zu verdichten. Aber das
bringe auch die Gefahr mit sich, daß „Planeten“ sich ablösen könnten,
Mme. Bonaparte, Mme. Sokolnicka und Herr Dr. Loewenstein
haben durch die Durchführung von Lehranalysen besonders zur Festigung der
Gruppe beigetragen. — Sitzungen finden alle 14 Tage statt. Sie sind von
zweierlei Art: ı) Vortragsabende unter Teilnahme der außerordentlichen
Mitglieder. 2) Technische Abende im engeren Kreis. — Alljährlich finden
französische psychoanalytische Konferenzen statt. Die heurige war besonders
gut besucht. Dr. Saussure sprach über weibliche Homosexualität und Mme.
Sokolnicka über die psychoanalytische Technik. — Im nächsten Jahr sollen
von der Vereinigung Lehrkurse veranstaltet werden, der Anfang dazu ist durch
einen Kurs von Dr. Sachs gemacht worden. Vielleicht wird es gelingen, den
Chef der Pariser psychiatrischen Klinik dazu zu bewegen, daß er gestattet,
psychoanalytische Vorlesungen an der Klinik abzuhalten. Wenn nicht, so muß
auch die französische Gruppe an die Gründung eines Institutes denken.
Dr. Berkeley-Hill: Die indische psychoanalytische Bewegung ging von
Calcutta aus und hat in Bengalen rasche und schöne Fortschritte zu ver-
zeichnen. Bei der eifersüchtigen Einstellung aller indischen Provinzen aufein-
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4 35
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- == — ——— —
— essen.
ey zz
538 Korrespondenzblatt
ander ist nun leider wenig Hoffnung vorhanden, daß die Psychoanalyse, die
nun bereits als „bengalische“ Angelegenheit gilt, etwa auch in Madras oder
Bombay Fuß fassen könnte. In Calcutta aber geht es gut vorwärts, besonders
durch die intensive Arbeit der hervorragenden und liebenswürdigen Persön-
lichkeit des Dr. Bose. Die Sitzungen sind immer sehr stark besucht von
Ärzten, Juristen u. a. Besonders interessiert an der Analyse ist in Calcutta auch
die Polizei. Dr. Bose hält vor den Polizeischülern ständige psychoanalytische
Vorträge, und das Besuchen psychoanalytischer Kurse gehört in Calcutta zur
‘offiziellen Polizeiausbildung.
Zu den Berichten über die psychoanalytischen Institute ergreift als erster
Dr. Glover das Wort:
Die Organisation der Poliklinik und des Instituts in London wurde bereits am
letzten Kongreß dargestellt, so daß es nicht notwendig ist, diesen Bericht heute zu
wiederholen. Mr. Prince Hopkins hat in freigebiger Weise das Institut wie bisher
unterstützt und uns auf diese Weise von den drückendsten finanziellen Schwierig-
keiten befreit, wenngleich wir nach wie vor aus finanziellen Gründen am er-
wünschten Ausbau der Arbeit verhindert sind. — Ich werde mich hier darauf beschränken,
einige Bemerkungen über den Fortgang der Arbeit in Poliklinik und Institut und
über einige Personalveränderungen zu machen. Zum Stab der Ärzte ist Dr. Adrian
Stephen dazugekommen, während Dr. Cole ausgeschieden ist. Von den sieben
Assistenten der Poliklinik, die im letzten Bericht genannt wurden, ist Dr. Warburton
Brown verstorben; die übrigen setzen ihre Tätigkeit fort; außerdem sind jetzt
als Assistenten noch tätig: Dr. Pailthorpe, Dr. Karin Stephen, Dr. Jessie
Wiltshire und Dr. Yates.
In den letzten zwei Jahren fanden 97 Konsultationen statt, 86 davon erschienen
als zur Behandlung geeignet. Von diesen waren 37 Fälle von Hysterie, ı8 von
Zwangsneurose oder Zwangscharakter, 5 von Melancholie, 6 von dementia praecox,
5 von Paranoia, 3 von Sexualstörungen, 4 von Neurasthenie, 7 diverse Neurosen, wie
Tic, Stottern usw., und ı Fall von Hypochondrie. — In diesen zwei Jahren wurden
22 Patienten in Behandlung genommen. Die Zahl der täglichen Behandlungen
schwankt zwischen 20 und 25.
Die Unterrichtskurse, die im letzten Bericht erwähnt wurden, wurden fortgesetzt;
ebenso die Kontrollanalysen. Diese werden gegenwärtig geführt von: Dr. Jones (5),
Dr. Payne (3), Dr. Glover (4), Dr. Eder (1), Dr. Riggall (1). — Außerdem
befinden sich sechs Kandidaten, die noch nicht selbständige Arbeit begonnen haben,
in Lehranalyse. Von diesen sind vier Ärzte, zwei nicht. Ihre Lehranalytiker sind
Mrs. Klein, Mrs. Riviere, Dr. Glover, Dr. Jones und Mr. Strathey.
"Im ganzen sind vierzehn Kandidaten in verschiedenen Ausbildungsstadien am Institut.
Bis auf zwei sind alle Ärzte. Acht weitere Kandidaturen wurden zurückgewiesen
‚oder aufgehoben.
Die Frage der Arbeit von Laienanalytikern und -kandidaten an der Poliklinik
wurde aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Geschäfts-
sitzung des Kongresses, zurückgestellt. Sie werden, denke ich, alle sehr einverstanden -
sein, wenn wir nach den Ferien die Regelung dieser Frage in Angriff nehmen werden.
Frau Dr. Deutsch berichtet über das Wiener Lehrinstitut:
Es befinden sich in Wien derzeit achtzehn Kandidaten in Ausbildung. In den
letzten zwei Jahren wurden vierzehn Ausbildungen abgeschlossen, acht neue Kan-
A nn ——— ——eeeeeeeeeäe——
Korrespondenzblatt 539
didaten haben sich gemeldet. Die Ursache des Rückganges der Kandidatenzahl ist in
dem Umstande gelegen, daß bis jetzt die meisten Wiener Kandidaten unentgeltlich
ausgebildet worden sind, während wir nunmehr beschlossen haben, unsere Opferbe-
reitschaft mehr zugunsten der Weiterbildung der schon angenommenen Kandidaten
zu verwenden, so daß nur ausnahmsweise nicht zahlende Schüler angenommen werden.
Kurse und Seminare waren ebenfalls mehr für die älteren Schüler bestimmt, während
das Interesse der Anfänger relativ zurücktreten mußte. Auch die offiziell „entlassenen“
Kandidaten blieben sämtlich freiwillig noch länger in Kontrolle und nahmen an Kursen
und Seminaren weiter teil.! Ein besonderer Fortschritt wurde in der Ausbildung der
Pädagogen und Kinderanalytiker erzielt. Auf Einladung der Stadt Wien hielten
Frl. Anna Freud und Herr Aichhorn Kurse für Pädagogen ab. Im Institut
selbst hielten Aichhorn und Hoffer theoretische Kurse für Pädagogen
und Sozialbeamte. Im nächsten Jahre sollen diese Kurse durch eine praktische
Ausbildung in Horten und ähnlichen Instituten durch Aichhorn ergänzt werden.
Diese Praxis soll zu einem obligaten „praktischen Jahr“ für Laienkandidaten,
analog der psychiatrischen Ausbildung der Ärzte, ausgebaut werden. Außerdem
leitete für Kinderanalytiker Frl. Anna Freud ein Seminar, in dem Kinderanalysen
fortlaufend referiert wurden,
Zur Propaganda veranstaltete die Vereinigung im Jahre ıg28 einen öffentlichen
Vortragszyklus „Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“ und
außerdem Kurse für weitere Kreise von Interessierten. Medizinischen Fachvereinen,
insbesondere dem „Verein für medizinische Psychologie“, schickt die Vereinigung
auf deren Ansuchen ständig Referenten zu.
Dr. Hitschmann berichtet über das in Wien aus äußeren Gründen
vom Lehrinstitut getrennte „Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung“ :
Das Ambulatorium, das nun das neunte Jahr besteht, und dessen gemietete Räume
durch Zubau vermehrt worden sind, hat andauernd einen überreichlichen Zuspruch
und zahlreiche Patienten müssen auf die Behandlung lange Zeit, auch mehrere Jahre,
warten. Das Ambulatorium entspricht einem Bedürfnis Wiens und sowohl Ärzte als
Krankenkassen schicken Patienten hin. Wir bemühen uns, die Krankenkassen zu
zwingen, wenigstens ein bescheidenes Honorar zu zahlen, so daß diese Kranken privat
an Ärzte gewiesen werden können.
Am Ambulatorium angestellt sind jetzt sechs Ärzte, die Erziehungsberatung hat
Frau Dr. Sterba übernommen. Eine zweite Erziehungsberatungsstelle leitet seit
längerer Zeit Herr Aichhorn im „Settlement“. Eines ganz besonders fleißigen
Zuspruches auch der älteren Kollegen erfreuen sich die alle vierzehn Tage abge-
haltenen Sitzungen des Therapeutischen Seminars, in denen über Fälle des Ambula-
toriums berichtet wird und alles Streben, auch in dramatischen Debatten, dahin geht,
die Behandlungstechnik zu verbessern und die Behandlungen abzukürzen, sobald
dieses ideale Ziel real erreichbar sein wird. Die therapeutischen Seminare leitet
Dr. Reich mit hingebendem Eifer.
Dr. Oberndorf: Eine besondere Propaganda für die Psychoanalyse ist
in Amerika nicht nötig, weil überall ein außerordentliches Interesse für sie
besteht. Auseinandersetzungen mit anderen parallel gerichteten oder feindlichen
Fachvereinen sind allenthalben notwendig, besonders mit den in Europa noch
fast unbekannten Bestrebungen der Mental Hygiene. Trotzdem wurden von
35*
De —_——_ — — , ({O —— _— om
540 Korrespondenzblatt
unserer Vereinigung psychoanalytische Vorlesungen abgehalten, besonders von
Dr. Brill. Neue Ausbildungskandidaten können sich einer Lehranalyse bei
einem Mitglied der Vereinigung unterziehen. Auch wenn die theoretische Aus-
bildung noch nicht gut organisiert ist, so finden die Kandidaten doch genug
Gelegenheit zu lernen.
Wichtig ist, daß die psychiatrische Vereinigung mit der unsrigen gemein-
same Sitzungen abhielt, die sehr gut besucht waren. Auch außerhalb New Yorks
wird fleißig gearbeitet. Dezentralisierte Gruppen sind in Washington, Boston,
Baltimore und Chicago in Bildung begriffen.
Dr. Eitingon gibt über das „Berliner Psychoanalytische Institut“ folgenden
Bericht:
Unser Institut, das nun in sein zehntes Lebensjahr eingetreten ist, und welches
im Herbst vorigen Jahres neue größere und schönere Räume bezogen hat, welche
auch noch für eine weitere Expansion in den nächsten Jahren ausreichend sein dürften,
darf sich immer mehr als konsolidiert betrachten. Es wahrt seine alte, von uns immer
wieder zu unterstreichende therapeutische Tradition, indem die Zahl der nebenein-
ander laufenden Analysen stetig wächst, von 85 zur Zeit des Innsbrucker Kongresses
sind es jetzt 115 geworden. Wir machen uns keine Hoffnung, mit den uns zur Ver-
fügung stehenden Mitteln diese Zahl noch wesentlich weiter wachsen lassen zu
können und werden uns bescheiden müssen, da wir keine Aussicht haben, von irgend
welcher Seite materielle Unterstützung zu erhalten.
Die Zahl der bei uns in Ausbildung befindlichen Kandidaten beträgt etwa 26, von
denen der größere Teil auch schon im Institut unter Kontrolle arbeitet.
Daß die beiden Aufgaben des Institutes, Therapie und Didaktik, so sehr sie auf-
einander angewiesen sind, auch gerade in ihrer Entwicklung eine Antinomie ent-
halten, die mit dem Wachstum der beiden Aufgaben immer deutlicher wird und
nicht ganz befriedigend zu lösen ist, in dem Sinne, daß die therapeutische Absicht
des Instituts sich ja auch gerade an schweren Fällen bewähren will, während
unsere didaktischen Bemühungen leichte und sozusagen klassische Fälle für die
Schüler brauchen, ist einleuchtend; nur unter der aufopferungsvollen Mithilfe auch
der älteren Mitglieder der Vereinigung ist es möglich, der Lösung beider in einer
inneren Spannung befindlichen Aufgaben näher zu kommen.
Um dem Schüler in seiner praktischen Arbeit weitgehend helfend zur Seite stehen
zu können, haben wir außer den Kontrollanalysen technische Seminare geschaffen,
und als wir die Gefahr bemerkt hatten, daß größere technische Seminare nur zu
leicht in Debattier-Klubs ausarten, haben wir sie neuerdings durch kleine Seminare
von nicht mehr als 6 Mitgliedern ersetzt, welche eine enge Arbeitsgemeinschaft
bilden, unter Führung eines älteren Analytikers, wobei ein enger und ziemlich kon-
stanter persönlicher Kontakt zwischen Leiter und Teilnehmern leicht geschaffen und
aufrecht erhalten werden kann. Diese neue Einrichtung scheint sich sehr zu bewähren.
Weiter dürfen wir Ihnen mitteilen, daß unser Institut sich immer wachsender
Anerkennung erfreut, daß z. B. die wiederholt erwähnte „Deutsche Gesellschaft für
Psychotherapie“, die alle führenden Richtungen der Psychotherapie zu vereinigen
bestrebt zu sein scheint, die Neigung gezeigt hatte, uns als offiziellen Ausbildungs- °
ort in der Analyse zu erklären, wenn wir nicht einige Schönheitsfehler für sie hätten,
z. B. den, daß bei uns unter Lehrern wie Schülern sich auch Laien befinden. Wir
trösten uns auch damit, daß wir nicht dazu da sind, ihnen zu gefallen, sondern
damit sie etwas von uns lernen.
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Korrespondenzblatt 541
Zur Frage der Aufnahme neuer Gruppen teilt Dr. Eitingon mit, daß
die brasilianische Gruppe, über die bereits Mitteilung gemacht wurde,
ein ‘offizielles Aufnahmegesuch bisher nicht eingereicht hat. Sobald das Auf-
nahmegesuch vorliegt, wird der Vorstand diese Gruppe provisorisch aufnehmen und
diese Aufnahme dem nächsten Kongreß zur endgültigen Beschlußfassung vorlegen.
Dr. Eitingon legt den Bericht der IUK vor:
Die IUK erhielt — wie Sie wissen — vom letzten Kongreß den Auftrag,
einen Entwurf über die internationale Regelung der Zulassungs- und Ausbildungs-
fragen auszuarbeiten und diesem Kongreß vorzulegen. Ich habe demgemäß eine aus
Frau Dr. Horney, den Herren Dr. Müller-Braunschweig und Dr. Rad6
bestehende spezielle Unterkommission eingesetzt und damit betraut, unter meiner
Leitung und unter Mitwirkung der Unterrichtsausschüsse der Zweigvereinigungen
diesen Entwurf zustande zu bringen. Diese Unterkommission hat eine rege Tätigkeit
entfaltet, zwei Entwürfe verfaßt und zur Diskussion allen Unterrichtsausschüssen
vorgelegt; das gesamte Material ihrer Arbeiten wurde in einem umfangreichen Band
allen Mitgliedern der IUK zugänglich gemacht. Trotz dieser Bemühungen ist es ihr
nicht gelungen, in der Frage der Zulassungsbedingungen unter den Gruppen die
wünschenswerte Einigkeit herzustellen. Da in allen anderen Fragen, insbesondere in
der Regelung des analytischen Ausbildungsganges, unter allen Gruppen volle Über-
einstimmung erzielt werden konnte, darf man der Hoffnung Ausdruck geben, daß es
fortgesetzter Arbeit doch gelingen wird, die Schwierigkeiten zu überwinden. Die
erwähnte Unterkommission hat, da sie ihre Aufgabe nicht erfüllen konnte, demis-
sioniert. Angesichts dieser Sachlage hat die IUK in ihrer am ersten Kongreßtag
abgehaltenen Sitzung beschlossen, Ihnen folgenden Resolutionsantrag vorzulegen:
„Da es der im Aüftrage des X. Internationalen Kongresses in Innsbruck ein-
gesetzten Unterkommission zur Ausarbeitung von Richtlinien für die Ausbildung
in der Psychoanalyse nicht gelungen ist, eine volle, gemeinsame Plattform zu
finden, schlägt die IUK dem Kongreß vor, diese Bemühungen von einer neuen
Unterkommission, deren Liste sie nun vorlegt, forisetzen zu lassen, und bittet den
Kongreß, von allen Anträgen genereller oder speziell — technischer Art, die mit
dieser Frage zusammenhängen. absehen zu wollen, bis die neu eingesetzte Unter-
kommission positive Resultate erreicht haben wird.“ — Die von der IUK
vorgeschlagene Liste lautet: Mme. Bonaparte (Paris), Dr. Brill (New York), Frau
Dr. Deutsch (Wien), Dr. Eitingon (Berlin), Dr. Ferenczi (Budapest), Anna
Freud (Wien), :Dr. Jelliffe (New York), Dr. Jones (London), Dr. van Ophuijsen
(Haag), Dr. Sachs (Berlin), Dr. Sarasin (Basel).
Die Resolution wird einstimmig angenommen. — Dr. Eitingon gibt
— zugleich auch im Namen von Vertretern unserer amerikanischen Gruppen
— noch einmal seiner Überzeugung Ausdruck, daß die Arbeit, die noch nicht
vollendet werden konnte, bis zum nächsten Kongreß in allseitig befriedigender
Weise beendet sein dürfte.
Dr. Ophuijsen spricht unter allgemeiner Zustimmung der zurücktretenden
Unterkommission, die so schwere und undankbare Arbeit geleistet hat, den
Dank der Vereinigung aus.
Dr. Federn gibt eine Anregung, deren Idee von Dr. Hollös ausgeht.
Die Gruppen mögen die Frage diskutieren, was die Psychoanalyse bezüglich
der Ausbildung von Pflegepersonal für Geisteskranke vorzuschlagen habe.
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542 Korrespondenzblatt
Dr. Sarasin lädt im Namen der Schweizer Gruppe die IPV ein,
den nächsten Kongreß im Herbst 1931 in der Schweiz abzuhalten und die
nähere Auswahl des Ortes der Schweizer Gruppe zu überlassen. Der Antrag
wird mit lebhaftem Beifall einstimmig angenommen.
Dr. Jelliffe macht darauf aufmerksam, daß im Herbst 1931 in Bern
ein Internationaler Neurologenkongreß stattfindet." Der Vorstand wird gebeten,
bei der Festsetzung des Kongreßtermins diesen Kongreß zu berücksichtigen.
Dr. Eitingon bittet um Entlastung des bisherigen Vorstandes, die per
acclamationem erteilt wird. Auf seine Bitte übernimmt Dr. Jekels den
Vorsitz.
Dr. Jekels schlägt vor, den Vorstand nicht nur zu entlasten, sondern
ihm den besonderen Dank der Vereinigung für seine aufopferungsvolle Arbeit
auszusprechen. — Lebhafter Beifall. — Er bittet um Vorschläge zur Neuwahl
des Präsidenten.
Dr. Jones stellt den Antrag, den bisherigen Präsidenten Dr. Eitingon
wiederzuwählen, was der Kongreß durch lebhafte Akklamation tut.
Dr. Eitingon übernimmt wieder den Vorsitz und dankt für das ihm
entgegengebrachte Vertrauen. Er verlautbart, daß im Sinne der Statuten auf
Grund der erfolgten Präsidentenwahl die beiden Beiräte des Zentralvorstandes
Dr. Ferenczi und Dr. Jones in ihrem Amte verbleiben und schlägt dem
Kongreß vor, die bisherige Zentralsekretärin Frl. Anna Freud und den bis-
herigen Zentralkassenwart Dr. van Ophuijsen in ihren Funktionen wieder-
zuwählen. Die Wiederwahl erfolgt per acclamationem.
Sodann wird Dr. Eitingon per acclamationem zum Vorsitzenden der
IUK wiedergewählt. Dr. Eitingon dankt dem Kongreß auch für diese
Wiederwahl und nominiert Dr. Rado6 als Sekretär der IUK, was der
Kongreß per acclamationem bestätigt.
Anna Freud
Zentralsekretärln
ı) Der Internationale neurologische Kongreß wird, einem seither veröffentlichten
Beschluß der Vorbereitungskonferenz zufolge, vom zı. August bis 4. September 1931
in Bern stattfinden. (Anm. d. Red.)
REFERATE
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Weizsäcker, Viktor von: Kranker und Arzt. Junker und
Dünnhaupt, Verl., Berlin 1929.
Die Therapie ist so lange ohne tiefere Problematik, als der Patient durch-
aus mit ihr einig geht. Erst im Augenblick, in dem sich in ihm ein Wider-
stand gegen die Behandlung zeigt, öffnen sich jene Probleme, denen dieser
Vortrag gilt. Der Arzt kann in einem solchen Fall zweierlei tun. Er kann
dem Patienten seine Hilfe mit den ihm zur Verfügung stehenden Gewalt-
mitteln aufzwingen. Er kann aber auch den Widerstand des Kranken mit
als „krankhaften“ Faktor in Rechnung ziehen. In diesem Moment erscheint
das Leiden in einem neuen Licht. Seine Problematik dehnt sich über den
Ort der Symptomäußerung auf den gesamten Menschen, auf seine Bewußt-
seinseinstellung, ja, über diese hinaus auf sein biologisches Sein aus. Ja,
W. verwirft auch noch den Begriff des Biologischen als zu eng. Er spricht
von einer anthropologischen Auffassung der Krankheit.
Ihre Erfassung ist mit den naturwissenschaftlichen Methoden nicht mög-
lich. Nicht weil diese falsch wären. Sie erfassen aber nur einen Ausschnitt
des Gesamtgeschehens und haben darum engere Grenzen, als der naturwissen-
schaftlich eingestellte Arzt glauben möchte. Sie stehen im Dienste .eines be-
wußten objektiven Zwecks, und es ist durchaus nicht ausgemacht, daß der
Gesamtorganismus mit diesem einig gehen muß. Ja, er kann es oft nicht,
selbst wenn das Bewußtsein es anstrebt.
Das Mittel, durch das der Arzt befähigt ist, über das Symptom hinaus jenes
anthropologische Krankheitsbild zu erfassen, ist die Liebe. Der Arzt muß sich selbst
vom Patienten ein Stück weit verändern lassen, um ihn erfassen zu können.
Die Psychoanalyse hat die sorgfältigste Beschreibung der Liebesvorgänge in
der Psychotherapie hervorgebracht. Sie hat „gezeigt, daß in der Neurosen-
therapie eine Liebesform auftritt, welche sie als Übertragungsliebe bezeichnet
hat“. „Indem der Analytiker sowohl die Umarmung wie die Apotheose ab-
weist und sich und den Kranken auf die ärztliche ‚Sache zurückweist, ja
schon, indem er den Begriff der Übertragung bildet und damit den Vorgang
objektiviert, weist er das Anerbieten, das in jeder Liebesregung liegt, faktisch
ab.“ Er benützt die Übertragung zur Erreichung des ärztlichen Zieles. „Sinn-
liche und geistige Liebesformen werden mit solcher Technik objektiviert,
entsinnlicht, entgeistigt, versachlicht.“ Das bedeutet aber einen Liebesverlust,
aRaRamaRMmRaaEamamamaAmmamaAamamaaeaILm ‚aaa m mm —————,_——
544 Referate
den wir auch im ärztlichen Alltag immer wieder nachweisen können.
„Schweitzer erzählt, wie er einen Neger in Narkose operiert hat. Nach-
her belauscht er, wie dieser seinem Bettnachbar erzählt, der Arzt habe ihm
Gift in die Nase gegeben, um ihn zu töten, doch sei ihm das Gift aus-
gegangen und so sei er gerettet worden. Weil die objektive Handlung auch
in der Form objektiv vollzogen wurde, anstatt den magischen Charakter per-
sönlicher Dämonenbekämpfung zu tragen, erweckt sie eine Wahrnehmung
liebloser, ja, sogar feindseliger Handlung.“
Daß die Psychoanalyse den Sachverhalt des Liebesverlustes in dieser all-
gemeingültigen Form nicht hervorgehoben hat, schreibt W. dem Umstande
zu, daß sie sich „objektivistisch mißverstehe“, indem sie an die „Möglich-
keit der Abstraktion von Wertordnungen glaubt“. „Sie kennt nur einen
quantitativen Libidobegriff und dann die Unterschiede ihres Gegenstandes —
nicht qualitative Unterschiede der Liebesakte als solcher.“
Dieses so häufige Mißverstehen der Psychoanalyse beruht darauf, daß W.,
wie so viele, übersieht, daß die Voraussetzung für die psychoanalytische Ab-
straktion von Wertungen die stillschweigende Annahme einer dem mensch-
lichen Organismus innewohnenden Ordnungstendenz ist. Im Ziel, das sich die
Psychoanalyse steckt, den Patienten genußfähig zu machen, wird das deutlich
sichtbar. Der Psychoanalytiker glaubt zu wissen, daß Genußfähigkeit nur
dann für alle Zeit gesichert ist, wenn die Triebabfuhr in jeder Richtung in
entsprechender Weise geschehen kann. Das aber ist allein möglich im Wissen
um die innere Beziehung aller Triebqualitäten. Diese An-sich-Wertung des
Organischen als solchen, die überall hinter der psychoanalytischen Theorie
sichtbar wird, ist allerdings in ihrem Wesen grundverschieden von einer
„quantitativen Unterscheidung der Liebesakte“. Erst die Möglichkeit, diese in
ihrer Struktur vermittels des Libidobegriffs zu durchleuchten, schafft ja den
Angelpunkt, von dem aus sie in ihrem Verhältnis zueinander erkannt werden
können. In die Behandlung eine Qualifizierung im Sinne von „hoch“ (geistig)
und „nieder“ (sinnlich) hineinzutragen, würde es verunmöglichen, die ver-
schiedenen Liebesakte des Patienten in ihrem subjektiven Wert für seine
Gesamtpersönlichkeit zu erfassen, der in ihrer inneren Verbundenheit liegt.
Einen vollkommenen Irrtum begeht W. mit der Annahme, die Psycho-
analyse habe je die Meinung vertreten, „die Gegenübertragung sei durch die
obligatorische Lehranalyse des Arztes gleichsam ausgeschaltet“. Die Psycho-
analyse vertritt im Gegenteil den Standpunkt, daß einzig und allein die Lehr-
analyse den Arzt befähige, die Gegenübertragung in den Dienst des thera-
peutischen Ziels zu stellen, das ja so oft einen ganz anderen Weg weist als
die in den Übertragungswünschen sich manifestierenden bewußten Strebungen
des Patienten. Gerade diese Abstraktion von den Wertordnungen ist es ja, die dem
Psychoanalytiker eine „anthropologische“ Auffassung vom Leiden ermöglicht, wenn
diese auch vorläufig nur am einzelnen Individuum in ihren feineren Verzwei-
gungen erfaßt werden kann und darum soziologisch noch nicht formulierbar ist.
Auch W. vermag diese Formulierung nicht zu geben. Er betont nur, daß
jegliche organische Symptomatik in einen umfassenden Bedingungskomplex
gehört, der weit über sie hinausweist. „Es sei nur eine Folge der kulturellen
Differenzierung des Menschen, daß er jene Erscheinung der Not gleichsam in
Fakultäten verteilt.“ Ihrem Wesen nach hat das Urphänomen der Not unend-
A nn m m nn m
Referate 545
lich viele Äußerungsformen, von denen Krankheit nur eine unter anderen ist.
Ihrem Wesen nach kann also Krankheit nur im Zusammenhang der gesamten
Noterscheinungen begriffen werden. Darum gibt es auch letzten Endes keine
ethischen Forderungen für den Arzt. „Ich sehe wenig Möglichkeit, Sätze der
Tugendlehre und materialen Wertethik unbesehen in den Sittenkodex des
Arztes zu übernehmen.“ „In den Ordnungen dieser Gemeinschaft walten
Ordnungen, die man entdecken kann, ich sehe aber keine Gesetze, die ich
anderen auferlegen kann.“ „Die Durchformung der Gemeinschaft bewegt sich
zwischen der Szylla der Sachlichkeit und ihrem Liebesverlust und der
Charybdis der Liebe mit ihrer Neigung zur Unsachlichkeit.“ Kein meta-
physisches Gebäude ist berechtigt, weil es logisch einwandfrei ist, sich als
„wahr“ auszugeben und praktische Forderungen zu erheben. „Ich meine, als
Arzt darf ich die Frage stellen, ob die Erkenntnis der Wahrheit eben doch
dort erst beginne, wo sie den Denker gesund macht.“ Bally (Berlin)
Bychowski, G.: Über Psychotherapie und Schizo-
phrenie. Der Nervenarzt, I. Jg., H. 8, Berlin 1928.
Das Problem, ob die Schizophrenie psychotherapeutischen Bemühungen
zugänglich sei, wird in der letzten Zeit oft diskutiert. Die Meinungen sind
recht divergierend. Pessimismus und Optimismus streiten miteinander in der
Beurteilung der Erfolgsmöglichkeiten. Grund dieser Meinungsverschiedenheit
ist offenbar die Ungeklärtheit des Krankheitsbegriffes Schizophrenie. Für die
therapeutischen Chancen ist mit der schematischen Diagnose „Schizophrenie“
noch wenig gesagt, nur eine individuelle Diagnose, die feststellt, welche An-
teile der Persönlichkeit noch intakt sind, wie weit die Psychose schon organi-
siert, in die Persönlichkeit eingebaut ist, kann etwas Näheres über die Mög-
lichkeiten einer Therapie aussagen.
Bychowski gehört zu den Optimisten. Namentlich die erst in der
Entwicklung begriffenen Schizophrenien scheinen ihm Erfolg zu versprechen.
Hier soll noch die Möglichkeit bestehen, durch Bewußtmachung der psycho-
logischen Mechanismen, die zur Bildung der Wahnideen führen, das Wieder-
herstellen der Realitätsprüfung zu erreichen. In diesen Fällen, meint Verfasser,
mit von psychoanalytischen Kenntnissen geleiteter Besprechung der aktuellen
Konflikte auskommen zu können; die analytische Durchforschung der Lebens-
geschichte erübrigt sich.
Auch Bychowski warnt vor der Gefahr, eine latente Psychose durch Analyse
zu aktivieren. Die Indikation der Analyse ist anders zu beurteilen, wenn
innerhalb einer Neurose psychotische Züge auftreten oder wenn nach dem
Abklingen eines akuten psychotischen Schubes erst eine Neurose hervortritt.
Bychowski empfiehlt bei der Analyse der Schizophrenie Modifikationen
der Technik, die aus den andersgearteten Bedingungen der Behandlung sich
ergeben. Passivität wie Aktivität müssen manchmal über das bei der Neurosen-
behandlung gewohnte Maß gesteigert werden. Die Schwäche des Ichs bei. den
Psychosen erfordert große Vorsicht bei den Deutungen. Aktive Verbote können
in bestimmten Phasen der Kur und nach entsprechender Vorbereitung not-
wendig sein. „Eine entsprechende Kombinierung der aktiven und passiven
Technik gehört zu den schwierigsten und wichtigsten Aufgaben der Psycho-
therapie der Schizophrenie.“ Gerö (Wien)
546 Referate
v. Hattingberg, H.: Die analytische Erschütterung.
Beitrag zur Diskussion über die Heilwirkung der Psychoanalyse.
Der Nervenarzt, I. Jg., H. 6, Berlin 1928.
Verfasser stellt fest, daß das Ärgernis zum Wesen der Psychoanalyse gehört.
Das ist sicher richtig. Nur seiner Begründung: „Das Ärgernis gehört zum
Wesen der Methode, was ärztlich gesprochen vor allem die Tatsache beweist,
daß die Psychoanalyse Gefahren mit sich bringt wie keine andere Technik
der Psychotherapie“, können wir nicht beipflichten. Auch andere ärztliche
Eingriffe, wie etwa die chirurgischen, sind nicht frei von Gefahrsmomenten
und doch fehlt ihnen gegenüber jene intensive »affektive Ablehnung, der
die Psychoanalyse begegnet. Da dürften doch andere Motive mitspielen.
Hattingberg bringt die „Gefahren“ der Psychoanalyse in Zusammenhang
mit dem analytischen Prinzip, das, etwa gegenüber dem der Suggestivtherapie,
das der Störung ist. „Hier geht es zunächst auf die „analytische Erschütte-
rung“ eines oberflächlichen Gleichgewichts“ ... Das Wesen der analytischen
Erschütterung meint Hattingberg in folgendem zu sehen:
Die analytische Erschütterung ruft den Ambivalenzkonflikt wach. Nun, das
ist ja ein analytischer Gemeinplatz. Allerdings bekommt bei Hattingberg der
Begriff der Ambivalenz eine neue, sehr eigenartige Färbung. „Der Ambivalenz-
konflikt — meint Hattingberg — ... dringt... über das rational und affektiv
Verständliche hinaus in eine Tiefe, die psychologisch grundsätzlich unfaßbar ist.“
Referent bekennt, daß ihm weder rational noch affektiv gelungen ist, irgend-
einen verständlichen Sinn den Hattingbergschen Ambivalenzbegriff herauszufinden.
Die weiteren Merkmale der analytischen Erschütterung, die Hattingberg
angibt, sollen die unabsehbaren Gefahren der Methode zeigen. „Die Wesens-
verwandtschaft der neurotischen kann die analytische Erschütterung zu einer
ernsten Gefahr machen.“ „Die Gefahr wird vergrößert durch die Unabsehbar-
keit des analytischen Prozesses im Unbewußten.“ Ebensowenig wie es mög-
lich ist, anzugeben, wann die analytische Erschütterung zu tief greift, kann
man auch die Tiefenlage der Störung abschätzen.
Das ist doch etwas zu viel von Agnostizismus, Resignation. Schließlich
bietet schon das Symptombild einen gewissen Maßstab, um die „Tiefenlage“
der Störung abzuschätzen. Auch sind in der analytischen Theorie eine Reihe
Gesichtspunkte angegeben worden, die geeignet sind, prognostisch und dia-
gnostisch zu einer richtigen Beurteilung der Neurose beizutragen. Wir wissen,
daß die analytische Kur so zu führen ist, daß zu tiefe Regressionen möglichst
vermieden werden. Und schließlich sind die fortschreitende Organisierung der
analytischen Ausbildung wie die stetige Entwicklung der analytischen Theorie
die besten Mittel, um die Gefahren der „analytischen Erschütterung“, die wir
auch sonst nicht so schwarz sehen können, zu vermeiden. Gerö (Wien)
Zenker, G.: Traumdeutung und Traumforschung.
Astra-Verlag, Leipzig-Dresden 1928.
Eine vollkommen auf der psychoanalytischen Literatur aufgebaute Dar-
stellung, die sich nur da und dort Reservationen leistet, auch in der Form,
statt Unbewußtes Unterbewußtes zu schreiben, und Adler, Stekel, Silberer
und Poul Bjerre in Schutz zu nehmen. Hitschmann (Wien)
Referate 547
Redlich, E.: Kritische Bemerkungen zur Frage der
Peyahoberee und Psychotherapie der Epilepsie.
Der Nervenarzt, 2. Jg., H. I, Berlin 19209.
R. gibt zu, daß auch bei organischen Erkrankungen des Nervensystems
psychische Momente nicht bedeutungslos sind, und daß eine Psychotherapie
darum nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Er meint ferner, daß echte
epileptische Anfälle bei Epileptikern durch psychische Momente ausgelöst
werden können. Nur müßte man in solchen Fällen eine irgendwie gegebene
Disposition zum Auftreten epileptischer Anfälle voraussetzen.
Eine Psychogenese in engerem Sinne, eine wirkliche Bedingtheit der
Epilepsie durch psychische Schädigungen lehnt Verfasser allerdings ab. Nament-
lich lehnt er ab die Psychogenese der Epilepsie, wie sie von Stekel und
seinen Schülern vertreten wird.
R. findet auch das Argument des therapeutischen Erfolges durch Analyse
für diese Theorie nicht stichhaltig. Er macht Stekel und seinen Schülern
den Vorwurf, daß die Katamnesen bei den von ihnen publizierten Fällen
nicht lange genug verfolgt wurden und dadurch der wirkliche Erfolg der
Behandlung fraglich blieb. Auch wäre es möglich, daß diese Fälle zu denen
gehören, die auf antiepileptische Mittel paradox reagieren, und daß das mit
der Analyse meistens verknüpfte Aussetzen der medikamentösen Therapie
günstig gewirkt hat.
Verfasser schließt seine Ausführungen damit, daß das vorliegende Material
nicht ausreichend ist, die Psychogenese der Bee die Berechtigung ihrer
psychoanalytischen Deutung zu erweisen, die psychoanalytische Behandlung der
Epilepsie als die einzig richtige darzutun.
Dazu sei bemerkt, daß ein solcher Radikalismus in der Epilepsiefrage im
analytischen Lager auch nie vertreten wurde. G. (Wien)
v. Gebsattel, V. E.: Über Fetischismus. Der Nervenarzt,
2. Jg., H. 1, Berlin I929.
Eine sehr gründliche, weit ausholende Analyse des eigentümlichen Ver-
haltens der Fetischisten.
Verfasser stellt in Übereinstimmung mit Freud fest, daß das Phantasie-
leben des Fetischisten von Kastrations- und Zerstücklungsmotiven erfüllt ist.
Das Vorherrschen dieser Motive bei den Fetischisten sind nach Gebsattel
Projektionen realer intrapsychischer Spannungen. Das Zerstücklungsmotiv drückt
nach ihm den Antagonismus zwischen Ich- und Vitalsphäre aus, einen Anta-
gonismus, der bei den Fetischisten tatsächlich bestehe, während das Kastrations-
motiv eine psychische Situation abbilde, die bei den Fetischisten wirk-
lich eingetreten sei: die durch seine Gegenstellung gegen die vitale Schicht
gesetzte Einbuße des Ichs an Kraft, Leidenschaft, Instinktsicherheit und Potenz.
Auch ein anderer Punkt der Freudschen Theorie des Fetischismus, nach
dem der Fetisch Ersatz für den Penis der Mutter ist, fand Gebsattel in
einem Fall bestätigt. Nur daß er auch hier, statt darin eine positivistische
und kausale Deutung zu sehen, zu einer Auffassung neigt, nach der das herma-
phroditische Symbol für den Fetischisten eine sehr treffende Verbildlichung
m TE RE a oO
548 Referate
seiner innerseelischen Verfassung sei: Der Fetisch repräsentiere ein Indifferenz-
stadium des Männlichen und Weiblichen, in welchem der Fetischist sich
selber befinde.
Zusammenfassend sagt Gebsattel: Der Fetisch ist eine Liebeswirklich-
keit irrtümlicher Bildung; charakteristisch für ihn ist die Indifferenz des
Männlichen und Weiblichen, Wirklichen und Phantasiemäßigen, des Ich und
Du. Der Fetisch bedeutet eine Teilsetzung, die Verstümmelung eines Ganzen,
nämlich der normalen, personalen Liebeswirklichkeit des erotischen Partners.
Fetischismus drückt eine besondere erotische Verfassung des Individuums
aus, die eine besondere Abart der autoerotischen Verfassung ist. Als soziolo-
gische Tatsache steht sie zum Normgemäßen der erotischen Wir-Bildung im
Gegensatz.
„Geschaffen auf der Flucht vor der fremden Persönlichkeit und vor dem
fremden Sexus, ist der Fetisch Ersatz ebenso für das fremde Du wie für die
fremde Leiblichkeit... Entwicklungsgeschichtlich besagt die Flucht in den
Fetisch, daß der Fetischist im mütterlichen (oder) väterlichen Liebeskreis
steckengeblieben ist, ohne ihm zu entwachsen.“
Manches in diesen feinen und vielfach treffenden Ausführungen mutet als
eine Weiterführung Freudscher Gedankengänge auf dem Gebiet der Ich-
psychologie an. Nur daß die Psychoanalyse bei so einem Versuch vorziehen
würde, statt etwa von Ich- und Vitalsphäre zu reden, die konkreten, inhalt-
lich erfüllten psychischen Systeme aufzuzeigen, deren Konflikt für das Seelen-
leben des Fetischisten bezeichnend ist. G. (Wien)
Heyer, G.R.: Seelische Führung durch Gymnastik.
Ein neuer Hilfsweg bei der Behandlung von Neurosen. Der
Nervenarzt, I. Jg., H. 7, Berlin 1928.
An Sachlichem enthält diese Arbeit etwa folgendes: Das neurotische Ver-
sagen, Unfähigkeit, Angst wird den Kranken bei Ausführung von gymnasti-
schen Übungen (wie, könnte man sagen, auch im Leben oder in der Analyse)
erlebnismäßig aufgedrängt. Das Verhalten bei gymnastischen Übungen läßt
sich deuten (Heyer selbst gibt recht hübsche Deutungen), wie eben neuro-
tisches Agieren sich deuten läßt.
Die gymnastischen Übungen können nun bei Neurotikern als gutes Hilfs-
mittel der Behandlung dienen. Zunächst eben als Hilfsmittel der Kenntnis-
machung der Insuffizienz, aber auch als lösende Faktoren; wenn es gelingt,
bei der Gymnastik die Hemmungen zu beseitigen, so wirkt das Erreichte
auch auf den ganzen Menschen zurück. Freilich soll Gymnastik nicht Psycho-
therapie ersetzen, auch sind nicht alle Neurotiker gymnastisch erfaßbar. Ver-
fasser betont nur die Wichtigkeit der Gymnastik in der Neurosenbehandlung
als ausgezeichnetes Hilfsmittel.
Wogegen auch nichts einzuwenden wäre. Es ist schon gut denkbar, daß
durch gymnastische Übungen manche Widerstände sich beeinflussen lassen.
Bedeutet doch die Ausführung einer gymnastischen Übung die Realisierung
einer seelisch-körperlichen Gesamteinstellung und Aufgabe des Gymnastik-
lehrers ist eben, die Widerstände zu beheben, mit allen Mitteln menschlicher
Beeinflussungskunst den Schüler dazu zu bringen, diese Gesamtleistung eben
u
TB GGpCv vb
Referate 549
realisieren zu können. Doch damit ist das Problem nicht erschöpft. Einen
anderen, gewiß nicht unwesentlichen, Punkt behandelt Heyer etwas stiefmütter-
lich. Er weist richtig darauf hin, daß bei der Gymnastik manche Partial-
trieb, Komponente der Vorlust, zu Befriedigung kommen, so etwa Exhibi-
tionismus und Schaulust, der primäre Narzißmus als Haut- und Muskelerotik
und so fort. Doch meint er, die Gymnastik schafft eben ein Ventil für diese
Triebe, eine realitätsgerechte Auslebensmöglichkeit für sie, wie Heyer sich
wohl wenig einleuchtend ausdrückt: „.... rhythmische Gymnastik, entsexuali-
siert durch Erotisierung.“
Sie tut das leider nicht immer in verläßlicher Weise. Ausleben der Vor-
lust kann zwar Spannungen lösen, aber auch willkommene Ersatzbefriedigung
der verdrängten Genitalität sein. Vielleicht entscheidet gerade die unaufgedeckte,
gymnastische Befriedigung der Partialtriebe und die Art der Bindung an den
gymnastischen „Seelenführer*, ob Gymnastik ein Mittel für „Gesundung“
wird oder ob sie zur Fixierung und Stabilisierung der Neurose führt. Das
Bild, das manche Gymnastikgemeinschaften, Tanzsekten zeigen, läßt ahnen,
wie oft dieser letztere Weg eingeschlagen wird.
Gerö (Wien)
Stuchlik, J., und Frank, J.: Die Psychotherapie der
Impotenz. Vortrag gehalten auf dem Kongreß der tschechosl.
Ärzte und Naturforscher in Prag. Erschienen im Vestnik VI. sjezdu
&sl. lekatü, Bd. II, p. I5I, 1928.
Jede Impotenz — abgesehen selbstverständlich die durch grobe organische
Veränderungen verursachte — ist psychisch bedingt. Wo wir über hormo-
nale Dysfunktion sprechen, bildet diese nur das somatische Entgegenkommen
und ist an sich schwer beeinflußbar. Durch psychische Behandlung können
sich selbst feminine sekundäre Geschlechtsmerkmale eines Homosexuellen
in einem gewissen Maße zurückbilden. Die Störungen des Sexuallebens sind
markante Beweise der wechselseitigen Beziehungen, die zwischen der Psyche
und der genitalen Sphäre bestehen. Die allgemeine Fragestellung: somatisch
oder psychisch ist falsch. Bei jeder Erkrankung sind beide Komponenten wirk-
sam. Aus ökonomischen Gründen muß man selbstredend bei der Behandlung
die eine oder die andere bevorzugen. Die psychische Impotenz ist wie
jede neurotische Störung nur triebpsychologisch erfaßbar. Die zahlreichen
therapeutischen Erfolge beweisen, daß die triebpsychologische resp. psychoana-
lytische Methodik nicht nur heuristischen, sondern auch praktischen Wert
hat. Der Vortragende weist auf die verschiedenen psychotherapeutischen
Richtungen hin. Die Persuasion, Suggestion, Reedukation und ähnliche
Behandlungen neurotischer Störungen können nur passagere Besserungen
erzielen.
Die psychoanalytische Behandlung ist kausal-genetisch, schließt den Kern
der Erkrankung auf und erzielt dadurch dauernde Heilung. Einige seelische
Mechanismen Freuds werden gestreift, ihre Gesetzmäßigkeit betont, die in-
dividuellen Verschiedenheiten gewürdigt. Nach Erfahrungen der Autoren mani-
festiert sich, allgemein gesprochen, die primäre Angst bei phobisch-neuroti-
schen Zustandsbildern als Erscheinungsform des Kastrationskomplexes. Sekun-
Te nn Tr
550 5 Referate
där wird diese Angst überbaut und tritt als larvierte Homosexualität, libi-
dinöse Bindung an Imagines usw. bei den einzelnen Fällen auf. Die jeweilige
in der Urneurose real erlebte Situation, d. h. die libidinöse Bindung an
Inzestobjekte und die damit gegebenen Gefahren, erlebt der Impotente bei
jedem Koitusversuch. Sie verursachen notwendigerweise, wie einst in der
Kindheit, Versagung, resp. Impotenz. Die kausale Therapie besteht in der
Befreiung der libidinösen Bindung, wodurch die gebundenen Libidoquanten
für das heterosexuelle Leben mobilisiert werden. Dies ist nur mittels psycho-
analytischer Methodik möglich (freie Einfälle, Traumdeutung usw). Es folgt
psychoanalytische Kasuistik. Man ersieht, daß, entsprechend der manchmal
stattfindenden Identifikation: Phallus = Körper, bei Impotenz ein allgemeines,
auf die meisten Funktionen sich erstreckendes Minderwertigkeitsgefühl ent-
steht, Pawlow („bedingte Reflexe“) und Adler („Minderwertigkeit der
Organe“) werden in diesem Zusammenhange erwähnt.
(Autoreferat)
Lottig, H.: Seelische Behandlung in der Klinik. Der
Nervenarzt, 2. Je., H. 2.
Es ist selbstverständlich, daß die Psychoanalyse, wenn sie als Behandlungs-
methode in einer Klinik angewendet wird, gewisse Änderungen technischer
Art erfahren muß. Auch das braucht nicht gesagt zu werden, daß die
Universitätskliniken in ihren heutigen organisatorischen Formen keine Mög-
lichkeiten zur Durchführung wirklich tiefgehender Analysen bieten. Aber es
wäre schon ein bedeutender Schritt vorwärts, wenn die Psychoanalyse in die
Kliniken überhaupt Eingang finden und dem Geiste nach richtig gehandhabt
würde. Diese Arbeit, aus der Weizsäckerschen Klinik stammend, zeigt ein
erfreuliches und seltenes Phänomen. Verfasser hat die grundlegenden Ent-
deckungen und die Methode der Psychoanalyse in einem tieferen Sinn „ver-
standen“ und sich zu eigen gemacht als es sonst üblich ist
Die mitgeteilten Fälle betreffen psychogen überlagerte organische Symptom-
bilder.
G. (Wien)
Tissi, $.: La Psicanalisi (Scienza dell’Io o del mistero-problema
psichico — con saggi di analisi psichica su drammi di Pirandello,
Shakespeare, Ibsen, Tolstoi e Shaw) — Hoepli, Milano 1929.
Nicht immer leicht verständlichen historischen Hinweisen auf die Psycho-
analyse folgt eine kurze, aber klare Zusammenfassung von Freuds „Vor-
lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (wovon schon ı922 eine
italienische Übersetzung erschien). In dieser Zusammenfassung, welche in
einem lebhaften, nicht ermüdenden Stil verfaßt ist, erblicken wir (den
Wert des Buches. Der Autor analysiert dann einige berühmte Bühnenstücke von
den im Untertitel (der sicher nicht den Sinn der Psychoanalyse wiedergibt)
genannten Autoren; es werden jedoch die Analysen nicht einmal annähernd
mit der gebührenden Schärfe und Tiefe durchgeführt.
E. Weiß (Triest)
Referate 551
Unger, Waldemar: Psychoneurosen, funktionelle Neu-
rosen, Erschöpfungszustände. Bd. Il, Teil 2 der „Prak-
tischen Differentialdiagnostik für Ärzte nnd Studierende”, heraus-
gegeben von Dr. Honigmann, Dresden und Leipzig, Th. Stein-
kopft, 1927.
Daß in einer größeren Sammlung zur gesamten „praktischen Differential-
diagnostik“ den Psychoneurosen ein eigener Band gewidmet wird, ist jeden-
falls erfreulich; eine solche Untersuchung wäre praktisch sehr belangvoll,
wenn aus ihr prognostische und therapeutische Konsequenzen gewonnen
werden könnten; ich erinnere etwa an die prognostischen Schwierigkeiten der
sogenannten „Schizoiden“. Wenn sich aber die Bemühung des Autors darauf
beschränkt, den Leser differenzieren zu lehren zwischen Erschöpfungszuständen,
Neurasthenie, Organneurosen, Hysterie, traumatischen Neurosen, Zwangs-
neurosen (deren eine Form die Phobien sein sollen), haltlosen Psychopathen,
Migräne und Epilepsie, so scheint mir mit solchem nichtssagenden, von
keinem Einteilungsprinzip beherrschten System nichts gewonnen. Das ge-
schieht außerdem auf so oberflächliche, psychologisch so absolut insuffiziente
Art, daß ein Praktiker diesem Buche kaum etwas Brauchbares entnehmen
könnte.
Zur Psychoanalyse stellt sich der Autor in der nachgerade gewohnten
ambivalenten Weise ein. Er rühmt sie lobend, aber indem er als ihr Ver-
dienst preist, „die Welt des Unbewußten oder Minderbewußten“ (sic) er-
schlossen zu haben; er rühmt die Anerkennung der Bedeutung der Sexualität,
tadelt aber den „Pansexualismus“ ; er bespricht relativ ausführlich ihre Lehre,
aber als eine Untersuchungsmethode neben etwa Untersuchung auf körperliche
Konstitution, auf Erregbarkeit des vegetativen Nervensystems, neben exakt-
psychologischen Methoden und der Klagesschen Charakterlehre, als eine
Untersuchungsmethode, die der Praktiker so nebenbei, neben all diesen anderen
Methoden anwenden soll, denn es werden auch technische Ratschläge zur
Psychoanalyse gelehrt, etwa: „Sorgsame Beachtung aller in der Psychoanalyse
gegebenen Gesichtspunkte ohne dogmatische Bindung an ihr System ist über-
haupt zu empfehlen.“ ... „Manchmal kommt eine Assoziation erst dann in
Gang, wenn man dem Patienten eine Probe des Produzierens freier Einfälle
gibt. Oder wenn man ihn durch scheinbar ablenkende Unterhaltung in das
- Äußern seiner Einfälle gewissermaßen unmerklich hineingleiten läßt. Ein
bestimmtes Schema läßt sich für die Überwindung der Anfangsschwierigkeiten
nicht geben ... So begann einer unserer Patienten, ein schüchterner
Psychastheniker, erst dann seine Einfälle auszubreiten, als ihm Verwunderung
über die Stärke seiner Widerstände gezeigt wurde. Diese ihn interessierende
Frage brachte nun schnell das Hauptmotiv nicht nur seiner Widerstände,
sondern überhaupt seines ganzen seelischen Verhaltens: ein starkes Minder-
wertigkeitsgefühl, zutage.“ Ungefähr ebenso’ tief sind die analytischen Resultate
auch der übrigen Beispiele. Zusammenfassung: „Die Psychoanalyse gibt auf
dem Gebiet der Psychoneurosen eine willkommene Ergänzung zur konstitu-
tionellen Betrachtungsweise.“
Fenichel (Berlin)
552 Referate
Levy-Suhl, Max: Über Hypnotismus und seine Be
ziehungen zur Psychoanalyse. Verlag S. Hirzel, Leipzig.
Die Freud-Ferenczische Theorie der Hypnose wird zwar anerkannt
(und sogar in beschränktem Maße auf die sogenannte Tierhypnose erweitert),
aber „nur innerhalb der biologischen Sphäre“. Der Tatsache, daß die Welt der
Werte naturwissenschaftlicher Denkweise nicht zugänglich ist, und der, daß
in Hypnose vom Arzt Werte suggeriert werden, will der Autor in nicht ganz
begreiflicher Weise eine Insuffizienz der triebenergetischen Theorie für die
Erfassung der hypnotischen Phänomene entnehmen.
Fenichel (Berlin)
Aus der psychoanalytischen Literatur
Schultz-Hencke, Harald: Einführung in die Psycho-
analyse. Gustav Fischer, Jena IQ27.
Ein zwar sehr schwierig zu lesendes, aber höchst lesenswertes Buch, dessen
aufmerksame Lektüre eine Arbeit ist, die sich kein an der Psychoanalyse
Interessierter entgehen lassen sollte. Zahlreich sind die Anregungen, die der
Psychoanalytiker für seine Praxis, aber auch für seine theoretische Arbeit,
besonders im Gebiet. von ungeklärten, im Flusse der Forschung befindlichen
Problemen erhält. Das Buch ist aber nicht eigentlich für Psychoanalytiker
gedacht. Es will ja eine „Einführung“ in die Psychoanalyse geben. Der Autor
denkt dabei an einen ganz bestimmten Leserkreis, — der durchschnittlich
Gebildete wird sich nur mit größter Mühe durch dieses Buch durchlesen
können und sicher lieber eine andere „Einführung“ wählen, — nämlich an
psychologisch interessierte praktische Psychotherapeuten, die an die Termino-
logie und Denkweise der deskriptiven Psychologie gewohnt sind und denen
deshalb die psychoanalytische Literatur schwer zugänglich bleibt. Das Buch
hat „ausdrücklich nicht die Absicht, der Psychoanalyse neue Tatbestände
oder auch nur neue Gesichtspunkte hinzuzufügen“. „Die Ordnung dieses (von
Freud gegebenen) Materials dagegen und seine Präparierung für die Über-
nahme durch die breite Masse derer, die auf Vermittlung dieser Kenntnisse
Anspruch haben, ist hinter den übrigen Arbeiten zurückgeblieben ..., also
vorwiegend eine darstellerische Leistung steht hier in Frage.“ Es wird aus-
drücklich betont, daß nur eigene Analyse, Studium von Freud und aktive
analytische Arbeit am Patienten über die „Einführung“, die das Buch einzig.
geben kann, hinausführen. — Und tatsächlich wird es sicher Leser geben,
denen der Autor verständlicher sein wird als Freud. Umgekehrt wird der
Psychoanalytiker es oft schwer haben, in den Ausführungen des Autors die
ihm bekannten Lehren wiederzuerkennen. Das geht so weit, daß z. B. die Aus-
drücke „unbewußt“ und „das Unbewußte“ kaum vorkommen, was der Autor
in einem eigenen Absatz rechtfertigt: Es sei ihm vor allem daran gelegen,
sachliches Verständnis nicht durch terminologische Schwierig-
keiten hintanzuhalten. Sachlich bestehe der von der Psychoanalyse aufgefundene
rm ann an. | Tan nn ca. nd Er nern Tre. an rn
TE —
Referate 553
Tatbestand zu Recht: Gewisse bewußte Vorstellungen und Impulse fallen infolge
gewisser kindlicher Erlebnisse weg, treten nicht mehr auf; gleichzeitig aber
tritt anderes auf, was so erscheint, als ob jene Vorstellungen und Impulse im
Seelenleben noch existierten. Diesen Tatbestand mit dem Terminus zu be-
schreiben, jene Vorstellungen und Impulse seien unbewußt, erscheine zwar
dem Autor ebenso wie Freud durchaus legitim, praktisch und der Kürze wegen
vorzuziehen. Wem aber aus „terminologischer Sauberkeit“ (wir würden sagen
aus einem „terminologischen Vorurteil“) dieser Ausdruck nicht passe, der
könne ihn auch vermeiden; er dürfe nur nicht glauben, mit einer Polemik
gegen das Wort „unbewußt“ „die Psychoanalyse“, d. h. den von ihr auf-
gedeckten Tatbestand, „widerlegt“ zu haben. Ob es ein psychisch Unbewußtes
gibt oder nicht, entscheide die Definition: Nenne man „psychisch“ das
„subjektiv Wahrgenommene“, dann gäbe es kein Unbewußtes und die Tat-
sachen müßten komplizierter beschrieben werden; nenne man „psychisch“ den
Inbegriff der Äußerungen, die auf Gedanken, Gefühle usw. schließen lassen,
so gäbe es ein Unbewußtes. Dazu komme, daß der Gebrauch des Wortes
„unbewußt“ zu Verwechslungen mit „unreflektiert“ führt. — Nun: Die
Absicht des Buches ist, die psychoanalytischen Erkenntnisse eben Leuten mit
terminologischen Vorurteilen dieser Art zugänglich zu machen. Es ist also
konsequent, den Widerstand solcher Leser nicht durch Nomenklatur reizen zu
wollen und das Wort „unbewußt“ möglichst zu vermeiden. Das muß aller-
dings durch manche Opfer erkauft werden; es fragt sich, ob dieser Preis
lohnt.!
Der Gefahr, durch terminologisches Entgegenkommen die Analyse zu „ver-
oberflächlichen“, zur Bewußtseinspsychologie zurückzukehren oder das Spezifische
anFreuds Arbeit nicht genügend zu betonen, entgeht der Autor dadurch, daß
er sich immer und immer wieder auf die Tatbestände beruft, diese aufweist
und erläutert und deshalb die Terminologie mit Recht für weniger bedeutungs-
voll hält. So beginnt das ganze Buch nicht mit einer Einführung in die
dynamische Denkweise an möglichst einfachen Beispielen (etwa Fehlhandlungen),
um systematisch zu komplizierteren überzugehen; der Autor stellt den Leser
unmittelbar den komplizierten Wirklichkeiten gegenüber, immer die unendlich
zusammengesetzte und differenzierte Natur aller psychischen Phänomene be-
ı) Referent scheint zu übersehen, wie bedenklich es ist, eine Wissenschaft von
Grund auf in eine neue Terminologie einkleiden zu wollen. Es hat schon seinen
Sinn, daß man sich in jeder Erfahrungswissenschaft auf eine einheitliche Kunst-
sprache festlegt und dabei die Bezeichnungen respektiert, die den Dingen und
Begriffen ihre Entdecker und Schöpfer gegeben haben. Wohin käme man nur, wenn
sich jeder „Darsteller“ der Psychoanalyse veranlaßt sehen würde, das Werk Freuds
in das Idiom der von ihm gerade bevorzugten Philosophie zu übersetzen? Man kann
gerade als Analytiker das Argument nicht gelten lassen, daß es in der Wissenschaft
auf Worte nicht ankomme. Wenn Worte wirklich so belanglos sind, warum geht
man dann darauf aus, Worte, eben nur Worte zu modifizieren? Es liegt im Wesen
der Analyse, daß sie all denen verschlossen bleiben muß, die es nicht fertig bringen,
alte, affektbetonte Denkgewohnheiten zu überwinden. Durch den Versuch, die Analyse
den überkommenen intellektuellen und affektiven Vorurteilen anzupassen, wird man
— wie es eine Reihe von Beispielen zeigt — die Gegner immer in dem Maße
gewinnen, als man die Analyse verliert. (Anm. d. Red.)
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4 36
nn ee nn SD Sn Bed
554 Referate
tonend, immer vor Simplifizierung warnend, immer auf die realen Tat-
bestände rekurrierend, Gegebenheiten aufzeigend und Spekulationen vermei-
dend oder wenigstens als solche ausdrücklich bezeichnend. Wie ein roter
Faden durchzieht der Gedanke das Buch: Wesentlich an der Psychoanalyse
ist die Erkenntnis bestimmter psychischer Realitäten, nicht deren Inter-
pretation.
Die Kindererlebnisse sähen anders aus als der Erwachsene, der seine eigene
Kindheit vergessen hat, meine. Das Kind sei triebhaft und lebe in einer
Wunschwelt, an die der Erwachsene nicht gerne zurückdenke. Diese Wünsche
des Kindes erlitten in der späteren Entwicklung verschiedene Schicksale: Zum
geringsten Teil setzen sie sich einfach durch, manche passen sich an und
schränken sich dabei ein, andere entwickeln sich in verschiedenster Weise
weiter (und jede Fortentwicklung könne ihrerseits selbst wieder alle diese
Schicksale erleiden), manche erlöschen auch spontan. Viele dieser Wünsche
aber stoßen mit entgegengesetzten Wünschen der Erwachsenen zusammen.
Die Erwachsenen haben die Macht, die Erfüllung der Kinderwünsche hintan-
zuhalten und den Gedanken an diese Erfüllung in der Seele des Kindes mit
Furchtvorstellungen unlösbar zu verknüpfen. Wo solche -Zusammenstöße sich
ereignen, hahe das Kind noch immer mehrere Möglichkeiten: Eine davon sei
die Verdrängung — und eben die verdrängten Wünsche und ihre
weiteren Schicksale seien das eigentliche Forschungsgebiet der Psychoanalyse.
(Der Autor gebraucht hier offenbar den Ausdruck „Verdrängung“ im weiteren
Sinne von „Triebabwehr“.) Eine andere mögliche „Wirkung der Bedrohung“
sei der wirkliche Verzicht, der ermöglicht werde durch Ableitung in
Spiel und Arbeit, durch Affekte der Trauer und Hoffnung, durch Identifi-
zierungen und lIdealbildungen, die alle einzeln ausführliche Darstellung
finden.
„Verdrängung“ sei zunächst ein Name für genau beschreibbare und auf-
zeigbare (bewußte) Veränderungen, die „Wirkungen“ der Verdrängung, die
der Autor einzeln beschreibt. Entweder die „verdrängten“ Vorstellungen und
Impulse fallen zunächst einfach weg; es entstehen „Lücken“, die ihrerseits
entweder bleiben können oder überkompensiert werden; oder aber nicht die
Wünsche selbst, nur ihre Fortentwicklungen fallen weg; oder sie bleiben trotz
der Verdrängung „dennoch wirksam“, von welcher Möglichkeit die neuro-
tische Symptombildung ein Spezialfall sei. Auch diese Möglichkeiten werden
einzeln im Hinblick auf ihre realen Erscheinungsformen ausführlich besprochen.
— Die einfachen Lücken spielen als „Hemmungen“ in der Pathologie eine,
wie der Autor darlegt, größere Rolle als gewöhnlich angenommen wird.
Wichtiger noch seien ihre Weiterbildungen, die von ihnen ausgehenden
Reaktions-, Ersatzbildungen usw. Ihrem Wirken entsprechen die vielen das
Wesen des Neurotischen ausmachenden „Fehlausgänge“ : Objektverlust, Fixierung
(Regression), Durchbruch des Verdrängten (Symptom), Ankündigungen eines
solchen Durchbruchs: Angst und Schuldgefühl bzw. Depression. Auch hier
ist die für das ganze Buch charakteristische Art, die genaue Differenzierung
aller tatsächlich vorkommenden Möglichkeiten, durchgeführt. Als Beispiel für
diese systematisierende Denkart wollen wir hier die Tabelle von $. 154
wiedergeben. — Beim „Durchbruch des Verdrängten“ könne wieder in Er-
scheinung kommen:
me ee m
Referate 555
A) Wunschteil.
ı) Vorstellungen vom Wunschobjekt.
2) Vorstellungen von lustvollen Teilen
am Wunschobjekt.
3) Erregungsgefühle.
4) Erregungssensationen.
5) Lustgefühle.
6) Vorstellungen von Lustgefühlen.
7) Motorische Impulse zur Erlangung
von Lust.
8) Teile von Handlungen zur Erlan-
gung von Lust.
9) Motorische Impulse zur Abwehr
von Lustbetätigungen.
10) Teile von Handlungen zur Abwehr
von Lustbetätigungen.
ıı) Vorstellungen von solchen Teilen.
B) Furchtteil.
ı) Vorstellungen vom Furchtobjekt.
2) Vorstellungen von furchtbaren Teilen
am Furchtobjekt.
3) Erregungsgefühle.
4) Erregungssensationen.
5) Furchtgefühle.
6) Vorstellungen von Furchtgefühlen,
7) Motorische Impulse zur Vermeidung
von Gefahr.
8) Teile von Handlungen zur Ver-
meidung von Gefahr.
9) Vorstellungen von Bedrohungen und
Strafen.
10) Vorstellungen von Bußen.
11) Impulse zu Bußhandlungen.
12) Teile von Bußhandlungen.
Dieser Tabelle nach entspräche Angst der Kombination 43, zum Teil
44, B3, Bj, ebenso B4. An Depression und Schuldgefühlen seien 47, B7
vorwiegend beteiligt. Als Zwangsvorstellungen treten auf 41, 42, BI, B2,
46, Aıı, B9, B10, als Zwangsimpulse 47, 49, B7, BI1I, als Konversions-
symptome A4, B4, 48, BS8, 410, BI2 usw.
Im allgemeinen ist bei den „Fehlausgängen“ weniger von „neurotischen
Symptomen“ die Rede als von Abweichungen der Gesamtreaktionen gegenüber
der Realität: Charakterzüge (normale und pathologische), besonderes Fehlen
oder besonderes Hervortreten bestimmter Erlebnisqualitäten, das sind die
Dinge, auf die von Anfang an besonders Bezug genommen wird. Der Autor
hat — man sieht es — immer die praktische Arbeit vor Augen und ganz
besonders die heutige, die es immer mehr und mehr mit Charakterfehl-
entwicklungen zu tun bekommt. Für den Anfänger mag das besonders schwer
und verwirrend sein. Wenn es ihm aber gelungen ist, sich durch das Buch
durchzuarbeiten, so wird er verstehen, daß die Psychoanalyse nicht in der
Einzelauflösung von „Symptomen“ oder „Komplexen“, sondern in der Be-
freiung des gesamten Menschen von den unglücklichen Folgen seiner kind-
lichen Angst- und Schulderlebnisse ihr Ziel sieht. Die Tabellen z. B. auf
S. 22, 46 und 56, die Charakterfolgen der Schicksale der oralen, analen und
urethralen Triebanteile darstellend, sind der Anfang einer feineren systema-
tischen psychoanalytischen Charakterologie und verdienten gewiß, im einzelnen
nachuntersucht zu werden.
Inhaltlich wird das Reich der in Betracht kommenden Kinderwünsche ein-
geteilt in das orale, das intentionale, das epidermale, das anale, das urethrale,
das manuale und das genitale Gebiet. Mit Recht wird betont, daß die soge-
nannten „Organisationsstufen der Libido“ nur ein relatives Deutlicherwerden
der einen oder anderen Kategorie bedeuten, daß aber zunächst alle Kategorien
als koordiniert aufzufassen sind; auch die Libidoentwicklung wird durch eine
Tabelle (S. ı2) übersichtlich gemacht, in der Breite (Fülle der Erlebnisse) und
Tiefe (Intensität) von Farbstreifen das in den verschiedenen Altern stärkere
oder schwächere Hervortreten der einzelnen Wunschgebiete symbolisiert.
36*
m
556 Referate
An einigen Stellen weicht diese inhaltliche Darstellung von Freudschen
Ansichten, wie uns scheint nicht vorteilhaft, ab: Wenn die sadistischen
Regungen im wesentlichen dem manualen Gebiet zugeordnet werden, so muß
man, ohne den Zusammenhang zwischen Sadismus und Handerotik natürlich
zu leugnen, an die Ergebnisse der Analysen von Zwangsneurosen und Manisch-
Depressiven denken, die den engen Zusammenhang zwischen Sadismus und
analem bzw. oralem Gebiet aufdeckten. Eine andere Abweichung betrifft die
Auffassung der Zärtlichkeit, die nach dem Autor ein Wunschgebiet sui generis
ist, nach Freud durch Zielhemmung anderer, sinnlicher Begehrungen ent-
steht. Aber der Autor subsumiert sie dem „epidermalen“ Gebiet; nun, sind
die ursprünglichen Begehrungen kindlicher Hauterotik nicht ausgesprochen
sinnlicher Art und von dem, was man gewöhnlich „Zärtlichkeit“ nennt,
ebenso verschieden wie ein oral-sinnliches Begehren von einem zärtlichen
Kuß? — Das Dritte endlich ist die Aufstellung eines autonomen „inten-
tionalen“ Gebietes. Gewiß, das Kind hat das Begehren, sich die Welt der
Objekte zu erobern, die Dinge wahrzunehmen bzw. zu apperzipieren. Aber
gerade die Psychoanalyse bringt uns zu der Annahme, daß das Kind das
alles nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern um mit den „eroberten“,
apperzipierten Dingen etwas zu tun (sie zu ergreifen, in den Mund zu
nehmen usw.), um sie zu Objekten seiner übrigen oralen, manualen, analen
usw. Begehrungen zu machen. Wird aber versucht, die Autonomie der Inten-
tionalität durch den Hinweis auf isolierte Störungen dieses Gebietes zu
rechtfertigen, etwa auf neurotische Apperzeptionsstörungen, so ist zu sagen,
daß es solche Störungen wohl gibt, daß sie aber nicht spezifisch zu sein
brauchen: Alle verdrängten Impulse sind solche zu Triebhandlungen, haben
also die Vorstellung einer bestimmten Beziehung des Ichs zu Objekten zum
Inhalt; jede Verdrängung kann also in Verbreiterung und Verallgemeinerung
zur Störung der Beziehungen zur Objektwelt überhaupt, zu speziellen Apper-
zeptionsstörungen führen; und hat der Autor das nicht selbst angedeutet,
wenn er den allgemeinen „Fehlausgang“ des „Objektverlustes“ beschreibt-
Wenn der Autor im allgemeinen Realitätsverlust bei Psychosen eine allge
meinere „Apperzeptionsstörung“ solcher Art sieht, hat er natürlich recht,
und doch scheint es uns nicht angängig, diese Regression zum Narzißmus als
eine Regression in ein „präorales“, rein intentionales Stadium zu bezeichnen.
Der Darstellung des „Tatbestandes“ folgt eine ebenso ausführliche der
„Therapie“. Als ihr Ziel wird die Aufhebung von Angst- und Schuldreaktionen,
als ihr Weg das Finden der „Angstorte“, d. h. der „Lücken“, bezeichnet. Die
Methode der freien Assoziation, die Toleranz der „analytischen Atmosphäre“,
die Erinnerungsarbeit des Patienten und die Deutungsarbeit des Analytikers
werden hier — immer wieder unter Betonung der Differenziertheit und
Feinheit des Materials — besprochen; es folgen Traumdeutung, Erörterung
der Bedeutung der Übertragung, des Wiedererlebens in Agieren und Durch-
arbeiten usw. Mit Recht wird auf die Nutzlosigkeit eines einseitig bloß
historischen Arbeitens hingewiesen, als das sich vielleicht ein Außenstehender,
die Literatur mißverstehend, die Psychoanalyse vorstellt. Auf die Wirksamkeit
des Historischen in der Gegenwart kommt es an, sekundäre Gewinne,
sekundäre Ängste können therapeutisch ausschlaggebende, Bedeutung haben,
wobei wieder versucht wird, die ungeheuere Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit
nn nn m m m nn 1
Referate 557
durch systematisches Andeuten der Möglichkeiten dem Leser nahezubringen.
Der Gesamteindruck der „technischen Einzelheiten“ ist sogar eher der, daß
der Autor diese Dinge vielleicht etwas zu sehr betont, das dem nichtanalytischen
Psychotherapeuten, an den sich ja das Buch hauptsächlich wendet, ganz
unbekannte Gebiet des rein genetisch-historischen Forschens in der Analyse
zu wenig. £
Der dritte Teil bringt „grundsätzliche Überlegungen“ psychologischer und
erkenntnistheoretischer Art zur Rechtfertigung der Psychoanalyse überhaupt.
Es sind interessante prinzipielle Ausführungen über das „Beweisen“ in der
Psychologie, über Kausalität, Quantität und Energetik im Bereich des Psychischen.
Der Autor scheint hier zu Zugeständnissen bereit, die uns nicht nötig scheinen
(etwa „Akoluthie“). Es schiene uns heuristisch wertvoller, die Übereinstimmungen
mit den sogenannten exakten Naturwissenschaften herauszuarbeiten als die
Differenzen. Daß wir mit den Ausführungen über die Unzweckmäßigkeiten
der psychoanalytischen Nomenklatur und die rein metaphorische Natur vieler
Termini nicht übereinstimmen können, haben wir bereits anläßlich des
Begriffes „unbewußt“ gesagt. Es scheint, daß der Autor mit der ausdrücklichen
Hervorhebung der Unzweckmäßigkeit oder reinen Metaphorik der Ausdrücke
„Es“ oder „dynamisch, topisch, ökonomisch“ in der richtigen Betonung des
Umstandes, daß nur tatsächliches Erleben und nicht Theorie Verständnis für
die Psychoanalyse geben kann, doch die selbständige wissenschaftliche Bedeutung
der Theorienbildung erheblich unterschätzt.
Ein letzter Abschnitt, „Allgemeines“, bespricht die Beziehungen der Psycho-
analyse zu Philosophie, Weltanschauung, öffentlichem Leben, Pädagogik, Strafrecht
_ (Polemik gegen den naiven Optimismus, der etwa argumentiert: „Die Psycho-
analyse befreit von Schuld. Die Sensation des Schuldigseins ist der Haupt-
antrieb zum Verbrechen. Also wird dieser mit den Erkenntnissen der Psycho-
analyse beseitigt“), Ehe.
Es ist nicht möglich, in einem kurzen Referat auf die zahlreichen, durch-
wegs nachdenkenswerten Einzelheiten und Exkurse einzugehen. (Allerdings
gibt es auch manche psychoanalytische Problemkreise, deren Behandlung nur
eine recht kursorische ist.) Als Beispiel für ihre Vielseitigkeit wollen wir aus
vielen nur zwei Stellen noch herausgreifen, eine, die uns besonders gelungen
und wertvoll, und wieder eine, die uns unklar und verwirrend erscheint. (Für
beide Kategorien könnten aber zahlreiche Beispiele gefunden werden.)
So scheint uns für die Psychologie der Zwangsneurose der Hinweis darauf
besonders wertvoll, daß Gedanken, die gleichsam ferne von der Motorik sind,
eben deshalb als ungefährlich gelten und bewußt werden können: „Z. B. kann
einer Frau die Möglichkeit der genitalen Untreue so ungeheuerlich erscheinen,
daß eine solche Versuchung mit einer starken Lücke beantwortet wird. Aber
der folgende Gedanke: wenn sie untreu würde, müßten auch ihre sie
störenden Kinder erst verschwinden, kann aus der aller möglichen Betätigung
fernen sadistischen Phase her als „bloße“ Vorstellung, sie könne ihre Kinder
morden, durchbrechen. Dann erscheint der Mordgedanke zwar vollständig,
das richtig und folgerichtig aufgebaute Totalerlebnis aber, von dem der Mord-
gedanke nur ein Teil ist, nicht.“ — Uns erscheint diese Erklärung für
manche Fälle von „Bewußtwerden der anstößigen Gedanken“ plausibler als
die von Alexander vom „vorher befriedigten Über-Ich-Anspruch“.
EEE TE ae EEE EEE PERS TITS01OE EC HEBeTBOrR © FERNER BEBETCETrESSORPeNE TS ETSESZEHEEESEN BET ZOESERERBEEE EEE PBEBeeTSe RE erg SEELE EEE EEeBsrzngrg
558 Referate
Dagegen erscheint uns z. B. folgendes in jeder Beziehung verwirrend: „Wir
wollen hier gleich einmal einfügen, daß für die Psychosen wohl nicht nur
der Sexualtrieb als Motiv in Betracht kommt. Wohl mehr prozentual als bei
den Neurosen. Als andere Möglichkeiten kommen ohne Zweifel Habgier, die
zum Verbrechen führen müßte, vielleicht auch dem Träger unerträglich
verwerflich erscheinende Neigung zu prägenitalen Perversionen in Betracht.“
Ja, sind solche Perversionen nicht sexuell? Und kann „Habgier“ allein wohl
wirklich eine Psychose machen? Und muß Habgier ein Gegensatz zu „Sexual-
trieb“ sein? Und: „Wohl prozentual mehr als bei den Neurosen.“ Was ist
damit gemeint? Doch wohl nicht, daß der Sexualtrieb bei Neurosen prozentuell
seltener oder überhaupt jemals nicht das Hauptmotiv sei?
Im ganzen, können wir nur wiederholen, ist die Lektüre dieses schweren
und interessanten Buches durchaus zu empfehlen. Hier wird Freud — zum
Teil wenigstens — in eine andere Denkwelt eingefügt. Den Menschen dieser
Denkwelt, denen die Psychoanalyse bisher verschlossen war, wird sie durch
dieses Buch zugänglich gemacht. Und dem Psychoanalytiker selbst ist es gewiß
gut, die ihm bekannte Welt auch einmal mit anderen Augen betrachtet zu
sehen. Fenichel (Berlin)
Schultz-Hencke, H.: Zur Diskussion der Örgan-
neurosen. Der Nervenarzt, I. Jg., H. II, Berlin 1928.
Verfasser zeigt, leider recht schwerfällig formuliert, welchen Schwierig-
keiten die wissenschaftliche Erfassung des Problems der Organneurose begegnet,
wie viele Vorurteile dabei zu überwinden sind, wie kompliziert das ganze
Problemgebiet ist.
Die Auffassung, daß schon „eine spezifische organisch-nervöse Bedingung für
jede Funktionsanomalie eines nicht nervösen Organs“ als Organneurose anzu-
sehen wäre, weist er als zu eng und zu wenig scharf gefaßt zurück.
Die richtige Fragestellung nach ihm ist: „Handelt es um organische
Bedingungen eines psychischen Phänomens, die spezifisch dazu ausreichen,
das Entstehen des Phänomens zu erklären; ohne die Einfügung von physischen
Korrelaten von psychischen Phänomen, die zu einem ganz heterogenen Zu-
sammenhang gehören? Oder kann man etwa zeigen, daß wesentliche bedingende
psychische Phänomene sämtlich als Korrelate psychischer Erscheinungen 'nach-
zuweisen sind, die wiederum Teile eines in sich geschlossenen seelischen
Zusammenhanges bilden?“
Das heißt, das Problem der Organneurose ist nicht durch eine Alternativ-
lösung zu geben. Es besteht die Möglichkeit, daß man sowohl von der
physischen Seite spezifische Faktoren wie von der psychischen her sinnvoll
eingeordnete Korrelate auffinden wird. Dann muß eine Gewichtsabschätzung
erfolgen.
Das Problem wird erschwert, indem es sich herausstellt, daß unbewußte
psychische Phänomene als Korrelate der körperlichen Erscheinungen, die als
Organneurose imponieren, hineinbezogen werden müssen.
Nach Verfasser gibt es drei Grundtypen von Organneurosen: die Organ-
neurose als ubw Affektneurose, die Organneurose auf hypochondrischer Grund-
lage und die symboldarstellende Organneurose. G. (Wien)
Referate 559
Wechsler, J. S: Delusional Projection Mechanism
in a Case of Paralysis Agitans. Int. Journal of Ps-A.,
VII, 4.
Ein Fall von Paralysis agitans entwickelte gleichzeitig mit der organisch
bedingten Impotenz einen ausgesprochenen Eifersuchtswahn, der zurückging,
wenn die Potenz sich passager besserte, schlimmer wurde, wenn die Potenz
zurückging. Mit dem allmählichen Nachlassen des Sexualverlangens überhaupt
ließ auch der Eifersuchtswahn nach. An der Bildung des Wahns war sicher
unbewußte Homosexualität beteiligt. Eine eingehende Psychoanalyse war nicht
möglich. Fenichel (Berlin)
Symons, N. J.: On Seeing Oneself Dead ina Dream.
Int. Journal of PsA., VII, 4.
Der Autor fand für Träume, in denen der Träumer sich selbst tot sieht,
folgende Deutungen: I) Der Traum stellt ein Kompromiß dar zwischen
Mutterleibssehnsucht und Lebensverlangen. 2) Die Mutterleibssehnsucht deckt
das Inzestverlangen, Totsein bedeutet Bei-der-Mutter-Sein, ist also eine Er-
füllung des Ödipuswunsches. 3) Dabei auftretende Angst entspricht dem Ein-
spruch des Ichs gegen die Ödipuswünsche. 4) Totsein bedeutet auch Kastriert-
sein. Dadurch stellt der Traum gleichzeitig mit der Erfüllung der Ödipus-
sehnsucht auch die Befriedigung des dazugehörigen Strafbedürfnisses dar.
5) Totsein bedeutet ferner Muttersein, so daß der Traum auch feminine
Tendenzen, passive Kastrations wünsche ausdrückt. 6) Zur Idee des „Tot-
seins“ gehört auch die der „Wiedergeburt“.
Die Untersuchung ist eine rein theoretische. Es werden zwar Traum-
beispiele mitgeteilt, aber keine von den Träumern dazu gegebene Assozia-
tionen. Fenichel (Berlin)
Bryan, Douglas: A Dream Of Forensic Interest.
Klein, Melanie: Note On The Preceding Communica-
tion. Internat. Journal of Psycho-Analysis, IX, 2.
Ein sehr merkwürdiger Fall: Ein Patient mit Dämmerzuständen ruft eines
Sonntags Bryan telephonisch an, er müsse ihn sofort sprechen: Er
berichtet dann von einem entsetzlichen Angsttraum: Er hätte geträumt,
seine Mutter hätte im Nachthemd auf ihm gekniet, ihn gewürgt und
geschlagen, indem sie ihm vorwarf, er hätte den Personen A, B, C, D,
E, F und G die Summe von L6, ı3sh 4d gestohlen. Nach dem Erwachen
habe sich das Gefühl eingestellt, er hätte wirklich diese Summe diesen Per-
sonen gestohlen, aber er wisse nichts davon. — Es stellte sich dann dazu
folgendes heraus: Der Patient war Kassier und hatte für seine Firma in
Ruundgängen bei Kunden Summen einzukassieren,. Er hatte nun wirklich,
ohne es zu wissen, Gelder unterschlagen, und zwar den im Traum genannten
Personen, sämtlich Frauen, indem er jede Woche eine der sieben Partial-
summen an sich genommen hatte, deren Gesamtsumme genau L6, ızsh 4d
ausmachte. Er hatte also die ihm unbewußten Partialsummen im Traume
addiert. — Anlaß zum Traum war die Angst vor dem Entdecktwerden durch
aanmamamZmamamamamamamaZmamamamamamamamamaZmaZ ZZ ZZ ZZ ZZ ————,—
560 Referate
I) Männer gewesen: Es war die Gefahr vorhanden, daß der Chef die Unter-
| schlagungen bemerken könnte; außerdem hatte der Patient in diesen Tagen
| einen neuen Angestellten einzuarbeiten, vor dem die Unterschlagungen natür-
! lich auch geheim bleiben mußten. — Nun war die Frage: Wann hatte der
| Patient die Summen aus der Tasche, in die er die einkassierten Gelder zu
| stecken pflegte, unwissentlich herausgenommen, und was hatte er mit ihnen
angefangen? Genaue Exploration ergab, daß der Patient über alles, was er an
den Tagen der Einkassierarbeit getan hatte, genau Bescheid wußte, bis auf
einen Punkt: Vor dem Essen hatte er sich immer ins Badezimmer, das gleich-
zeitig Klosett war, begeben, um sich die Hände zu waschen; er wußte nicht
genau, was er inzwischen mit der Tasche gemacht hatte. Die Analyse ließ
annehmen, daß er in dieser Zeit das Geld der Tasche entnommen und ins
Klosett geworfen hatte, um dann sofort den ganzen Vorgang zu vergessen.
Die Analyse zeigte vor allem eine ganz besonders intensive Kastrationsangst,
sowohl vor Vaterfiguren (der Traum ist ja aus Strafangst vor dem Vater
geträumt) als auch insbesonders vor Frauen (Mutterimagines): Frühinfantile
| Sexualszenen hatten eine besondere Hexenangst gesetzt und die Auffassung
| entstehen lassen, beim Sexualakt tue die Frau dem Mann etwas Schreckliches
(|| an. Aber auch die der Angst zugrunde liegende Aggressionsneigung gilt beiden
Geschlechtern, insbesonders der Mutter: Hatte er doch nur Muttervertreterinnen
bestohlen. In einem Dämmerzustand wollte er einmal nach den Orkney-Inseln
fahren. Es stellte sich heraus, die Mutter hatte beim Geographieunterricht
Schottland mit einer Hexe, die Orkneys mit ihrem Hut verglichen. Er strebte
also zum Penis der Mutter.
Frau Klein fügt der Deutung dieses Falles einiges hinzu. Sie habe bereits
wiederholt darauf hingewiesen, daß es ein archaisches, allgemein menschliches
Triebziel der prägenitalen Objektlibido, analog der Total- oder Partial-
| einverleibung Abrahams, gäbe, der Mutter ihr Körperinneres (Kind, Kot,
in ihrem Innern vorgestellter Penis des Vaters) zu rauben. Wenn der Patient
die Mutterfiguren bestiehlt, so hat er versucht, dieses Triebziel zu realisieren.
Wenn er das gestohlene Geld dann ins Klosett wirft, so will er offenbar
(Klosett = Mutter) die Tat ungeschehen machen, ihr das Geraubte wieder
retournieren. Das tut er, wie die Analyse gezeigt hat, aus Strafangst. Angst
und Aggressionen betreffen beide Geschlechter, weil ja das „Körperinnere der
Frau“, insoferne es als väterlicher Penis perzipiert wird, auch väterliche, also
männliche Färbung hat. Fenichel (Berlin)
Inhaltsverzeichnis
des XV. Bandes (I020)
F* 42.
Seite
Franz Alexander: Strafbedürfnis und Todestrieb . . Kt
Edward Bibring: Klinische Beiträge zur Paranoiafrage IL. Ein
Fall von Organprojektion . . . BEE TEN RE NA
Mary Chadwick:;: Die Furcht vor ae 'lode EAPELER, or
M. D. Eder: Zur Ökonomie und Zukunft des Über- ichs ats 2.102
Paul Federn: Über einen alltäglichen Zwang . . . 2.2... 214
— Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus . . . . .... 3293
9. Ferenczi: Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb . . 149
J. C. Flügel: Symbolik und Ambivalenz in der Kleidung . . . 306
Freud: Ernest Jones zum 50. Geburtstag . . 117,
Edward Glover: Zur analytischen Eundlegene den Massen-
PSycHoloDie nl Ne nn 32 2 7007
Imre Hermann: Die Zwangsneurose und ein historisches Moment
in der Über-Ich-Bildung . . ee It
Susan Isaacs: Entbehrung und Schuldgefühl RE 0000
Melanie Klein: Die Rollenbildung im Kinderspiel. . . . . .. ı7ı
Yrjö Kulovesi: Zur Entstehung des Tis . . 2.222020... 82/0
R. Laforgue: Absperrungsmechanismen in der Neurose und ihre
Beziehung zur Schizophrenie . . 246
Barbara Low: Notiz über den Einfluß EEE De hhoanalyes ER die
englische Erziehung während der letzten ı8 Jahre . . 340
Ruth Mack Brunswick: Ein Nachtrag zu „Freuds Beachte
einer infantilen Neurose“. . . 1
J. H.W. van Ophuijsen: Das le] des evallatigen Sadierins 154
Sylvia Payne: Der Mythos von der Bernikel-Gans . . zig
Wilhelm Reich: Der genitale und der neurotische Charakter en
Theodor Reik: Neurosentherapie und Religion . . . . .2......160
Joan Riviere: Weiblichkeit als Make . . 2. 2 22 2020.2..288
I. Sadger: Genitale und extragenitale Libido . . . ...183
— Erfolge und Dauer der psychoanalytischen Ne en ehendlene 426 /
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XV/4 37
562 Inhaltsverzeichnis
N. Searl: Die Flucht in die Realität .
Ella Sharpe: Hamlets Ungeduld
— August Stärcke: Das Gewissen und die Wiedaholise
Richard Sterba: Zur Dynamik der Bewältigung des ie
widerstandes
Gregory Zilboorg: Setzophrenien Back Hrebiudingene
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Marie Bonaparte: Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer ver-
storbenen Mutter SORTE RN ON N GE Poor ı
Gustav Bychowski: Ein Fall von oralem Verfolgungswahn
Michael Josef Eisler: Über wahnhafte Selbstanklagen
Otto Fenichel: Eine Traumanalyse er SE BANNER
Barbara Lantos: Analyse einer Konversionshysterie im Klimakterium
Ruth Mack Brunswick: Eine Beobachtung über die kindliche
Theorie des Koitus a tergo .
‘ Hanns Sachs: Agieren in der Analyse
J. H. Schultz: Symptompersistenz aus den ersten vier Trehenewentieh
PSYCHOANALYTISCHE BEWEGUNG
Außenposten der Psychoanalyse . . 2.2 22... e . . (Vollrath)
SID DIEHTW ne mare ee Badener ee ee ee ee Sr nn
REFERATE
Aus den Grenzgebieten
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phrener und dichterischer Produktion . 2» 22... 0... (Ball)
Seite
259
529
222
456
67
481
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137
137
552
550
139
nn ee Te 85”}35G,:2CSHHEE
Inhaltsverzeichnis 563
Seite
Redlich, Kritische Bemerkungen zur Frage der Psychogenese und Psycho-
therapie der Epilepsie . . . . a ao re ..(G) 3547 St
Stuchlik und Frank, Die Pyheik dr Impotenz "daten N) 549
Tissi, La Psicanalii ,.... 5 ® Weiß) 550
Unger, Psychoneurosen, Bendle ee Erschäpfungszüstände
(Fenichel) 551
Weizsäcker, Kranker und Arzt. . 222 2.222.200... (Bally) 543
Zenker, Traumdeutung und Traumforschung . . . .. . . (Hitschmann) 546
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ceding Communication . . . las ac K(Benichel) 559
Hollös, Hinter der gelben Mauer a 1 a en 139
Schultz-Hencke, Einführung in die Paychonnalyue v0. . (Fenichel) 552
— Zur Diskussion der Organneurosen „.,.. DR « (G.) 558
} Symons, On Throwing Dishes from a Window in De B Sekrichel) 140
— On Seeing Oneself Dead ina Dream . . 2 2 2 2 220. (Feniche) 559
Wechsler, Delusional Projection Mechanism in a Case of Paralysis
ANNE Sa n.0. 0 ürdade a ou. (Fenichel) 559
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHO-
ANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Mitteilungen des Vorstandes . ...... ER ze . . 141, 362
Bericht über den XI. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß... . 509
Berichte der Zweigvereinigungen
American Psychoanalytie Association . 2 2 u 2 m mo en . 362
British Psycho-Analytical Socity . . 2.2 2 222 .. SEE Er. 260%
Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft . 2 2 2 2 2 m m en . 365
Dr. Georg Wanke + .., OD da ee a 142
Indian Psycho-Analytical Society. 06 av Dosen oonoen 369
Magyarorszägi Pszichoanalitikai Egyesület: Re 370
Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse . .... 2... er 372
NewssYorkgBsychoanalyticWsocietyy ne en 373
Russische Psychoanalytische Gesellschaft . . . ee : 143
Prof. M. A. Reußner +, on Dar oa et 0 143
Schweizerische Gesellschaft Bir Psychoanalyse ow 0.D oe more n 374
Wiener Psychoanalytische Vereinigung . . » . 2 2 2... oo 378
Mitgliedsverzeichnis eo oo eo 0... ee ce 09281
Verzeichnis der wissenschaftlichen Vorträge und Veröffentlichungen
Moneliyglirnesp ones een 347
(Ausgegeben Ende Dezember 1929)
Paul Federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus „zn sea ne.
I. Sadger: Erfolge und Dauer’ der psychoanalytischen Neurosenbehandlung ER f
Wilhelm Reich: Der genitale und der neurotische Charakter. » . vs 00 2. 0 wa e,
Richard Sterba: Zur Dynamik der Bewältigung des Übertragungswiderstandes . „eo. |
Imre Hermann: Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der ne a7 te
KASUISTISCHE BEITRÄGE a = > =
Marie Bonaparte: Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 481 ; E |
Ruth Mack Brunswick: Eine Beobachtung über die kindliche Eneone des Koitus
a tergo VE WE RE TEE TE Malt Part Wr Dee u, DEE ha EA RS A a a VE RER Bist 27%) 500 H ER
Otto Fenichel: Eine Traumanalyse . « co... nen ee nn nei ne. 502 2 Bez
Hanns Sachs: Agieren in der Analyex 2. oe een ne ee nme 508 »
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG e 3 ee
Bericht über den XI. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 509.
REFERATE a te
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur:
Weizsäcker; Kranker und Arzt (Bally) 543. — Bychows ki i, Über Fee und Z
Schizophrenie (Gerö) 545: — v. Hattingberg, Die analytische Ersehütterung (Gerö\ 546. ER
— Zenker, Traumdeutung und Traumforschung (Hitschmann) 546.— Redlich, Kritische =
Bemerkungen zur Frage der Psychogenese und Psychotherapie der Epilepsie (G.) 547. —
v. Gebsattel, Über Fetischismus.(G.) 547. — Heyer, Seelische Führung durch Gymnastik
(Gerö) 548. — Stuchlik und Frank, Die Psychotherapie der Impotenz (Autoreferat) 549:
— Lottig, Seelische Behandlung in der Klinik (G.) 550. — Tissi, La Psicanalisi (2. Weiß)
550. — Unger, Psychoneurosen, funktionelle Neurosen, Erschöpfungszustände (Fenichel) 551.
— Lervy-Suhl, Über Hypnotismus und seine Beziehungen zur Psychoanalyse (Fenichel) 552.
Aus der psychoanalytischen Literatur:
Schultz-Hencke, Einführung in die Psychoanalyse (Fenichel) 552.— Schultz-Hencke, ?
Zur Diskussion der Organneurosen (Fenichel) 558: — Wechsler, Delusional Protection 5.
Mechanism in a Case of Paralysis Agitan (Fenichel) 559: — Symons, On Seeing Oneself
Dead ina Dream (Fenichel) 559. — Bryan, A Dream of Forensic Interest. —Klein, Note on
The Preceding Communication (Fenichel) 559.
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Karl Wrba, Wien.) »