XVI. BAND
1930
HEFT I
Internationale Zeitsdirift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ dei Internationalen PsyAoanalytisdien Vereinigung
Herausgegeben von ; ^ v
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Girindrashekhar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones J. W. Kannabich
Kalkutta New York Wien London Moskau
Rene Laforgue J, H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin Ernst Simmel
Paris Haag Basel Berlin
redigiert von
M. Eitingon, S. Ferenczi, Sandor Radö
Berlin
Budapest
Berlin
Ernest Jones . .
Otto Fenichel .
Maxim, Steiner
B, D. Lewin . .
Melanie Klein .
Th. M. F r e n c h
A. S. Lorand .
G6za Röheim .
Susanne Hupfer
Angst, Schuldgefühl und Haß
Zur Psychologie des Transvestitismus
Die Bedeutung der femininen Identifizierung für
die männliche Impotenz
Kotschmieren, Menses und weibliches Über-Ich
Symbolbildung und Ichentwicklung
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der
Bogengänge
Fetischismus in statu nascendi ' .
Zur Deutung der Zwergsagen
Über Schwangerschaftsgelüste
W. V. Silverberg . Zur Phantasie: Ein Kind wird geschlagen
Diskussionen — Referate — Korrespondenzblatt
der IntemationoJen Psychoanalytischen Vereini^ng
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien
INTERNATIONALE
ZEITSCHRIFT FÜR
PSYCHOANALYSE
XVI. BAND
1930
a INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Girindrashekhar Bose A. A. Brill Paul Federn Emest Jones J. W. Kannabidi
Kalkutta New York Wien London Moskau
Rene Laforgue J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin Ernst Simmel
Paris Haag Basel Berlin
redigiert von
M. Eitingon S. Ferenczi Sändor Radö
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XVI. Band
1930
Internationaler Psydioanalytisdier Verlag
Leipzig / Wien / Zürich
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COPYRIGHT 1930 BY „INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG, GES. M. B. H.% WIEN
Drude: Elbemühl, Wien, III., Rüdengasse 11
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
XVI Band 1930 Heft 1
Angst, Sdiuldgefuhl und Haß
Vortrag auf dem XI. Internationalen Psychoanaljrtischen Kongreß in Oxford, am 2 *j. Juli 1^2^
Von
, Ernest Jones
London
Aus dem englischen Manuskript übertragen von Editha St erb a
I
Wer jemals ernstlich versucht hat, die komplizierten Beziehungen zu
entwirren, die zwischen je zweien dieser Gefühlseinstellungen bestehen,
wird zugeben müssen, daß die darin enthaltenen Probleme außerordentliche
Schwierigkeiten bieten. Ich hoffe dennoch durch die folgenden Über¬
legungen wenigstens einigermaßen das Wesen der in Rede stehenden
Verwicklungen aufzuhellen und damit die Annäherung an dahinter¬
liegende tiefere Probleme fördern zu können. Wie uns unsere tägliche
analytische Praxis zeigt und auch jede Form wissenschaftlicher Forschung
erweist, ist die klare Problemstellung weder die leichteste noch die
unwichtigste Aufgabe,
Wir wollen zunächst die Beziehungen mehr vom klinischen Standpunkt
aus betrachten. Die Hauptschwierigkeit wird dabei von selbst bald zutage treten.
Sie besteht nämlich darin, daß — um sich einer statischen Ausdrucks¬
weise zu bedienen — merkwürdige Schichtenbildungen vorhanden sind,
wobei eine Schichte mit der andern in klarer Beziehung steht; diese
Beziehung ist oft reaktiver Natur. Dies gilt für jede einzelne der in
Frage stehenden Gefühlseinstellungen, so daß man eine derselben auf
einer bestimmten Stufe im Seelischen, eine andere auf einer tieferen, die
erstere wieder in der nächsttieferen antreffen kann, usf. Diese schichten¬
weise Lagerung macht es so schwierig zu sagen, welches der primäre und
6
Ernest Jones
der sekundäre Anteil innerhalb einer der beiden Gruppen ist. Dynamisch
ausgedrückt, ist es die komplizierte Reihe der Wechselwirkungen zwischen
diesen Einstellungen, die es so erschwert, die Genese ihrer Beziehung
chronologisch zu bestimmen.
Lassen Sie mich zuerst ein Beispiel für diese Allgemeinheiten geben.
Wenn wir einen Patienten haben, der an irgend einer Form von Angst¬
neurose, Vim gebundener oder frei flottierender „krankhafterAngst leidet,
wissen wk aus Erfahrung, daß bestimmt auch Schuldgefühl vorhanden
sein muß. Oft ist es leicht, dieses nachzuweisen, oft außerordentlich
schwierig, aber wir wissen, daß bei genügend tiefgehender Analyse diese
Voraussetzung sich immer als richtig erweist. Ich will nicht die abstrakte
Behauptung aufstellen, daß Angst nicht ohne Schuldgefühl Vorkommen
kann, behaupte aber, daß hinter klinisch beobachteter Angst, etwa als
neurotischem Symptom, immer Schuldgefühl verborgen ist. Schon Shakespeare
sagt: „So macht Gewissen Feige aus uns allen.Allein so einfach liegt
der Sachverhalt nicht. Es ist wohl nicht möglich, daß eine phylogenetisch
so alte Gefühlsreaktion wie die Angst bloß auf einer späteren Erwerbung
beruhen oder durch sie hervorgerufen sein soll, wie es das Schuldgefühl
ist, dessen Vorhandensein — wenigstens in seiner ausgeprägtesten Form —
bei andern Lebewesen als beim Menschen höchst zweifelhaft ist. Wir
haben hier ein Beispiel dafür, wie ein biologischer Ausblick uns bei der
klinischen Forschung als Orientierung dient und uns warnt, einen Weg
zu betreten, der allzu leicht irreführt. Unsere Vorsicht erweist sich bei
tiefergehender analytischer Forschung als begründet. Besonders durch die
Aufdeckung der frühesten Stadien der kindlichen Entwicklung, die Gewi߬
heit dafür gibt, daß das Schuldgefühl selbst einem noch früheren Stadium
von Angst seine Entstehung verdankt. Es ist wichtig, sich in diesem
Zusammenhänge daran zu erinnern, daß das Schuldgefühl außerordentlich
tiefliegend sein kann. Manchen Patienten gelingt es, unbewußte Schuld¬
gefühlskonflikte so sehr als Angst manifest werden zu lassen und so
weitgehend davon überzeugt zu sein, daß ihre Schwierigkeiten nur aus
dieser Angst stammen, daß es jahrelanger Analyse bedarf, um das dahinter
befindliche Schuldgefühl bewußt zu machen. Wäre es nicht so, daß die
Aufdeckung dieses Zusammenhanges nicht notwendigerweise mit der thera¬
peutischen Lösung Hand in Hand geht, könnte der Analytiker sich
allerdings seiner Arbeit damit begeben und darüber befriedigt sein, eine aus¬
reichende Erklärung des Problems der Phobie gefunden zu haben, nämlich
daß sie dem Schuldgefühl entspringt.
Auch beim Haß liegt eine ähnliche Schichtung vor. Er ist gewöhnlich
ein Deckmantel des Schuldgefühls und seine Funktion ist leicht verständlich.
Angst, Schuldgefühl und Haß
7
Haß gegen jemanden beinhaltet, daß dieser durch seine Grausamkeit und
Lieblosigkeit die Leiden des Hassenden verursacht, daß diese also nicht
von ihm selbst auferlegt oder irgendwie selbst verschuldet sind. Alle
Verantwortung für das Elend, das durch das Schuldgefühl verursacht
wird, wird so auf die andere als grausam angenommene Person abgewälzt,
die eben darum von Herzen gehaßt wird. Dieser Mechanismus ist natürlich
wohlbekannt aus der Übertragungssituation. Wir wissen, daß dahinter stets
ein Schuldgefühl steckt, doch zeigt eine tiefere Analyse nach meiner
Erfahrung immer, daß das Schuldgefühl von einer tieferen und völlig
unbewußten Schichte von Haß ausgeht, wobei dieser Haß sich auffällig von
dem der oberen Schichte dadurch unterscheidet, daß er nicht ichgerecht ist.
Bei der letzten der möglichen Kombinationen, der von Angst und Haß,
kann man das gleiche beobachten. Haß, besonders in der gemilderten
Form von Übellaunigkeit, Reizbarkeit und Ärger, ist gewöhnlich ein
Deckmantel für eine tiefer liegende Angst oder dient der Abwehr einer
solchen. Dies kann in chronischer Verteilung z. B. bei einem unangenehmen
und reizbaren Charakter oder aber akut auftreten, wenn ein plötzlicher
Schreck einen Ausbruch von Ärger an Stelle einer panischen Reaktion
erzeugt. Doch haben wir gute Gründe zur Annahme, daß die zugrunde*
liegende Angst selten, wenn nicht überhaupt niemals auftritt, ohne eine
noch tiefere Schichte von Haß, von demselben nicht ichgerechten Typus
wie oben aufgezeigt, erkennen zu lassen.
Es ist folglich nicht schwer, in allen diesen drei Fällen das Vorhandensein
von drei Schichten festzustellen, von denen die erste und dritte gleicher
Art sind. In einem der drei Fälle bildet die Angst die tiefste Schichte, in
den andern beiden der Haß. Wir befinden uns hier aber erst am Beginn
der Problemlösung, denn der vorgebrachte Tatbestand beleuchtet nur die
Kompliziertheit der Verhältnisse; er vermag nichts über die entscheidenden
chronologischen oder ätiologischen Beziehungen auszusagen. Dazu bedarf
es einer tieferschürfenden Untersuchung, und ich halte es in diesem Falle
für angezeigt, jede der drei Gefühlseinstellungen gesondert zu betrachten.
Ich möchte mit der Untersuchung des Hasses beginnen, dessen Beziehungen
am wenigsten kompliziert erscheinen.
I
n
Wir haben gesehen, wie die verschiedensten Äußerungen des Hasses
sowohl Angst wie Schuldgefühle überdecken können, und daß es berechtigt
ist, anzunehmen, daß in allen diesen Fällen noch eine weitere, tiefere
Schichte von Haß vorhanden ist. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die
8
Emest Jones
oberflächliche Schichte von dieser tieferen stammt, so daß man in gewissem
Sinn von einem Durchbruch des Verdrängten sprechen könnte. Es ist
natürlich nicht ein einfacher Durchbruch, da es zwischen den beiden
Haßschichten bemerkenswerte Unterschiede gibt, so in bezug auf Richtung,
Bedingung des Auftretens usf. Unter diesen Unterschieden ist zweifellos
die Beziehung zum Ich die wichtigste. Was wir als oberflächliche, d. h. be¬
wußte Schicht bezeichnet haben, ist in den meisten Fällen wenigstens
im Augenblick der Empfindung in ganz besonderem Ausmaß ichgerecht.
Es gibt wenige Gefühlsvorgänge im Leben, die dem Träger eine derartige
Überzeugung geben, im Recht zu sein, und die ein solches Gefühl von
Eigenrechtfertigung mit sich bringen wie der Ärger, der im sogenannten
gerechten Zorn seine Akme erreicht. Schon der Begriffsbestimmung nach
ist es bei den tieferen unbewußten Schichten des Hasses ganz anders. Wenn
wir nun versuchen, die genauere Beziehung der beiden Schichten zu
ermitteln, kommen wir zu folgenden Ergebnissen: Der primäre Haß kann
nur die instinktive Erwiderung des Kindes auf die Versagung seiner
Wünsche, besonders der libidinösen, sein, gewöhnlich in Form des Wut¬
ausbruches erfolgend. Dieser primäre reaktive Impuls vereinigt sich ge¬
wöhnlich mit der sadistischen Komponente der Libido zu dem, was uns
klinisch als Sadismus begegnet. In der Überwältigung des versagenden
Objektes liegen demnach zwei Quellen libidinöser Befriedigung: die ur¬
sprüngliche frühzeitig versagte und die rein sadistische. Später allerdings
wird auch diese Befriedigung durch das Schuldgefühl gehindert. Die
sekundäre, bewußte Haßreaktion stellt einen Versuch dar, das Schuldgefühl
oder besser die Hilflosigkeit, die durch dieses erzeugt wird, zu bewältigen.
Die Auflehnung gegen das Schuldgefühl geschieht derart, daß man es nach
außen projiziert, indem man die verbietende Instanz mit einer anderen
Person identifiziert, die dann der ursprünglich versagenden Person, von
der das Schuldgefühl seinen Ausgang genommen hat, gleichgesetzt wird.
In diesem Sinne können wir den Haß der sekundären Schichte als eine
Wiederkehr des Verdrängten bezeichnen. Möglich wird dieser Vorgang nur
durch die Schaffung der phantasierten Annahme, daß die andere Person
im Unrecht sei, oder durch ein Verhalten in der Realität, daß die Ver-
wirklichung dieser Phantasie zur Folge hat.
Es ist merkwürdig und klingt paradox, daß das Schuldgefühl nur durch
das In-Erscheinung-Treten der Ursache seiner Entstehung, nämlich des
Hasses, gemindert werden kann. Das Talionsprinzip ist uns in der Psychologie
wohlvertraut und ebenso die Genauigkeit, mit der die Strafe zum Ver¬
brechen paßt. Wir haben hier ein Beispiel für ein ähnliches Prinzip, das
man vielleicht als „isopathisches^^ Prinzip bezeichnen könnte, nachdem die
Angst, Sdiuldgefühl und Haß 9
Ursache die Wirkung heilt.^ Wenn Haß Schuldgefühl erzeugt, dann kann
nur Haß, oder vielmehr in geänderter Form geäußerter Haß das Schuld¬
gefühl beseitigen. Das bemerkenswerteste Beispiel hierfür ist die von jedem
Neurotiker geäußerte unbewußte Meinung, teils Täuschung, teils Wahrheit,
daß Liehe das einzige Heilmittel gegen das Schuldgefühl sei und daß er
nur durch das Streben nach einem Sexualziel (und die Erlaubnis hiezu)
von seinem Leiden erlöst werden könne. Diese Meinung setzt sich zusammen
aus einer etwas pleonastischen Platitüde („wenn ich mich in einer sexuellen
Situation frei und gutgeheißen fühle, werde ich kein Schuldgefühl haben“)
und aus der fälschlichen Voraussetzung, daß Entbehrung oder Versagung
notwendigerweise Strafe für eine Schuld bedeuten. Ich möchte noch ein
anderes Beispiel für dieses isopathische Prinzip heranziehen, eines, das
mit den hier in Diskussion stehenden Themen eng verknüpft ist. In einer
früheren Arbeit über Ursprung und Aufbau des Über-Ichs legte ich be¬
sonderen Wert auf den Abwehrcharakter des Schuldgefühles, das entsteht,
um das Individuum vor der Entbehrung, die charakteristischerweise als
Versagung (z. B. von seiten des Vaters) aufgefaßt wird, zu schützen. Dieses
Schuldgefühl beobachten wir klinisch bei Neurosen und immer in der
Übertragungssituation, hauptsächlich aber in der indirekten Perspektive
der Projektion; die verbietende, verurteilende und versagende Funktion
der schuldgefühlerzeugenden Instanz des Über-Ichs spiegelt sich in der
Vorstellung, die sich der Patient vom Analytiker macht. Besonders wenn
die Selbstbestrafungstendenzen in hohem Maße ausgebildet sind, dürfen
wir erwarten, daß der Patient Strafen von seiten der Außenwelt (d. h. von
Vaterersatzpersonen) provozieren wird, und man kann leicht wahrnehmen,
daß dies geschieht, um das Schuldgefühl zu vermindern; durch die Provokation
einer Strafe von außen rettet sich der Patient wenigstens teilweise vor
einer von innen kommenden (Selbst-)Bestrafung. Wir haben es hier also
wieder mit drei Schichten zu tun, die in ihrer Reihenfolge den oben
erwähnten sehr ähnlich sind: zuerst Angst vor äußerer Strafe (z. B. von
seiten des Vaters), dann Schuldgefühl und Selbstbestrafung, die das Individuum
von der von außen zu erwartenden Strafe schützen sollen, etwa nach Art
der religiösen Buße; schließlich die Provokation einer Strafe von außen,
nichts anderes als die ursprünglich gefürchtete in verhüllter Form, und
dazu angetan, das Individuum vor der Strenge der Selbstbestrafungstendenzen
zu schützen. So wird der Vater zu Hilfe gerufen, um das Individuum
i) Beim Kongreß gebrauchte ich den Ausdruck „homöopathisches Prinzip“;
Dr. Federn erinnerte mich aber daran, daß die Homöopathen den Terminus
„Isopathie“ für das hier in Rede stehende, ihnen wohlbekannte Prinzip reserviert
haben.
Ki
10 Emest Jones
vor dem zu retten, wodurch es sich seinerzeit vor dem Vater rettete. Wie
bei der Vakzinentherapie wird die Krankheit geheilt, indem man eine
Dosis ihrer Ursache verabreicht, und ebenso wie dort hängt der Erfolg der
Kur von der willkürlich kontrollierbaren Dosierung des Krankheitserregers ab.
Das zuletzt Ausgeführte wird uns, wie ich hoffe, bei unseren weiteren
Betrachtungen zu Hilfe kommen und führt uns zum zweiten Thema, zum
Schuldgefühl. Man darf allgemeine Übereinstimmung unter den Analytikern
hinsichtlich der klinischen und analytischen Beobachtung erwarten, daß das
Schuldgefühl die verborgenste — wenn auch nicht unbedingt die zutiefst
liegende der drei von uns untersuchten Gefühlseinstellungen ist. Meiner
Erfahrung nach erträgt das menschliche Bewußtsein Angst oder Haß viel
eher als Schuldbewußtsein. Das Gefühl der Minderwertigkeit oder allgemeinen
Wertlosigkeit erreicht oft einen so hohen Grad, daß die Mehrzahl der
Patienten es sehr schwer erträgt. Man kann aus der übermäßigen Empfind¬
lichkeit gegenüber dem bloßen Gedanken an eine Kritik nur folgern, daß
die Gefahr wirklichen — nicht bloß wörtlichen — Zugeständnisses eines
Unrechts eine ungeheure Bedrohung der Persönlichkeit bedeutet. Diese
Intoleranz ist natürlich bei verschiedenen Individuen verschieden groß, und ich
habe deutlich den Eindruck, daß die Intensität des vorhandenen Sadismus
einer der Hauptfaktoren ist, von dem ihre Größe abhängt. Wenn sich diese
Beobachtung als richtig erweist,^ — nämlich, daß die Intoleranz gegenüber
dem Schuldgefühl direkt vom Ausmaß des vorhandenen Sadismus abhängt, —
wohl mit Melanie Kleins Schlußfolgerung, daß der Ursprung
des Über-Ichs eher in der sadistischen als in der phallischen Stufe zu suchen
ist, zur Vereinbarung bringen. In diesem Zusammenhang muß man sich
fragen, ob Schuldgefühl allein auf den Versuch hin, die primäre Angst
aus unbefriedigter Libido zu bewältigen, — also als Abwehr — entstehen
kann, und andrerseits, ob es immer und unvermeidlich mit dem Haßgefühl
verknüpft ist. Ich wäre geneigt, diese beiden Fragen bejahend zu beantworten,
doch mit der wesentlichen Einschränkung, daß man dabei zwei Phasen in
der Entwicklung des Schuldgefühls unterscheiden muß. Im ersten Fall der
Entstehung aus der primären Angst wäre es nicht ganz richtig, von Schuld¬
gefühl im vollen Sinn des Wortes zu sprechen: es bedürfe hier eines eigenen
Ausdrucks wie etwa „vor-verbrecherisches“ (pre-nefarious) Stadium des
Schuldgefühls. Dieses Stadium muß den Vorgängen bei Hemmung und
Verzicht sehr ähnlich sein; die Formel dafür wäre ein kategorisches „ich
darf nicht, weil es unerträglich ist Es ist ein Versuch, der primären
Angst zu entgehen. Die Situation kompliziert sich aber durch das Auftreten
i) Freud hat eine ähnliche Beziehung für die Zwangsneurose aufgezeigt (Hemmung,
Symptom und Angst, S. 50).
Angst, Schuldgefühl und Haß 11
einer Objektbeziehung. Hier bricht Sadismus mit Wut kombiniert auf die
Versagung hin durch, Liebe^ zur anderen Person kämpft mit Angst vor
Strafe, die von ihr ausgeht (Kastration und Liebesentzug durch die geliebte
Person), woraus das zweite Stadium, das des vollentwickelten Schuldgefühls,
resultiert. Hier können wir die Formel so fassen: Ich soll nicht, weil es unrecht
und gefährlich ist. Liebe, Angst und Haß^ sind alle gleich notwendig für
das endgültige Zustandekommen des Schuldgefühls, so daß es nicht unrichtig
wäre, das Über-Ich als eine Zusammensetzung dieser drei zu bezeichnen,
da seine Wesenheit darin besteht, eine früher nach außen gerichtete
Einstellung zu einer nach innen gerichteten zu machen. Wie schon früher
erwähnt, ist es wenig zweifelhaft, daß die selbstbestrafende Funktion des
Schuldgefühls dazu dient, das Individuum vor der Gefahr einer Strafe von
außen zu bewahren, ebenso wie dies bei der religiösen Buße der Fall ist.
Wir stoßen hier auf eines der wichtigsten Probleme. Wie kommt es,
daß der Vorgang, der das Individuum vor einer unerträglichen Situation
schützen soll und den wir vorläufig als haßbedingte Angst bezeichnen
wollen, selbst unerträglich wird, so unerträglich, daß das Individuum aus
Selbstverteidigung gegen diese Rettung zu der ursprünglichen Einstellung
von Angst und Haß zurückkehrt, vor denen es sich schützen wollte? Wie
können diese gleichzeitig unerträglicher und weniger unerträglich sein als
das Schuldgefühl? Dies ist nur dadurch möglich, daß wir zwei verschiedene
Erscheinungen im Psychischen verwechseln und mit ein und derselben
Bezeichnung „Schuldgefühl^^ benennen. Ich meine, daß diese beiden Zu¬
stände die oben erwähnten zwei Stadien sind, nämlich das des Verzichtes und
das der Selbstbestrafung. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, werden wir eine
gewisse Wechselbeziehung zwischen beiden erwarten dürfen. Dafür besitzen
wir viel Beweismaterial, und Reik und Alexander gehen sogar so weit,
daß sie in den Selbstbestrafungstendenzen ein Mittel sehen, das dem Individuum
die Notwendigkeit des Verzichtes ersparen soll, d. h. es bestraft sich selbst,
um sich dadurch die nötige Bedingung zur Befriedigung zu verschaffen.
Es sei ferner daran erinnert, daß, wie vorhin bereits erwähnt, das sekundäre
Auftreten von Angst und Haß keineswegs mit Angst und Haß der tieferen
Schichten identisch ist. In einer Hinsicht ist die Sachlage viel künstlicher:
die Gefahr der Strafe von außen z. B., der sich das Individuum aussetzt,
ist selten wirklich ernstzunehmen, jedenfalls nicht im Vergleich zur grausamen
1) Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich, daß Schuldgefühl in Zusammenhang mit
einem nur gehaßten Objekt auftreten kann: Ambivalenz ist eine wesentliche Bedingung
des Schuldgefühls.
2) Es ist interessant, daß das Wort y^Innocmt^ ein Sich-Zurückhalten vom Wehetun
bedeutet.
12 Ernest Jones
Tatsache, die das Unbewußte in der ursprünglichen Gefahr sieht. Die
sekundären Schichten von Angst und Haß sind mit anderen Worten viel
ichgerechter als die primären Schichten, viel mehr unter Kontrolle und
Regulierung des Ichs.
Wir müssen uns jetzt dem dritten und letzten Gegenstand unseres
Themas zuwenden, nämlich der Untersuchung der Angst.^ Wir wollen
zu Beginn die Frage aufwerfen: Beinhaltet Angst (vor Beschädigung) immer
den Gedanken an Wiedervergeltung, d. h. ist sie immer mit einer vorher¬
gehenden Haßeinstellung verknüpft oder gar mit einer von Schuldgefühl
zugleich? Theoretisch ist nicht einzusehen, warum es so sein sollte, und
bei manchen furchtsamen Tieren, z. B. beim Hasen, erschiene diese Annahme
geradezu grundlos. Doch müssen wir nach unseren klinischen Erfahrungen
zugeben, daß wir in allen Altersstufen mit Ausnahme der frühen Kindheit
das eine nie ohne das andere finden, so daß wir annehmen müssen, daß
Haß und wahrscheinlich auch Schuldgefühl überall dort vorhanden sind,
wo wir auf Angst stoßen. Dies ist vielleicht deshalb der Fall, weil die
bloße Entbehrung so rasch die Bedeutung von Entzug und Versagung
bekommt und daher Zorn und Haß erweckt. Wenn sich die Entbehrung
als unerträglich erweist und infolgedessen Angst entwickelt wird, kann
man sicher ein, daß auch Angst und Schuldgefühl vorhanden sind. Diese
klinische Beobachtung aber ist kein Beweis dafür, daß die frühe Angst
auf Haß oder Schuldgefühl hin entsteht, wie dies in den obersten Schichten
oft zu sein scheint. Im Gegenteil, alles spricht dafür, so besonders die
Befunde aus den Kinderanalysen, daß die Angst ihnen vorangeht.
Was nun die Angst selbst betrifft, müssen wir unterscheiden zwischen Angst
bei einer äußeren Gefahr, die durch ein äußeres Ereignis hervorgerufen
wird, und Angst vor einer inneren Gefahr, die sich aus einer bestimmten
inneren Situation entwickelt. Es besteht kein Zweifel, daß unsere Fort¬
schritte in der Erkenntnis der Tatsachen früher dadurch sehr verzögert
wurden, daß wir die Bedeutung dieses Unterschiedes nicht erkannten.
Dieser Unterschied ist von Freud so klar in „Hemmung, Symptom und
Angst“ formuliert worden, daß ich Ihre Erinnerung daran durch das Zitat
nur einer Stelle auffrischen möchte: (S. 120 ) „Der Angst wurden so im
späteren Leben zweierlei Ursprungs weisen zugewiesen, die eine ungewollt,
automatisch, jedesmal ökonomisch gerechtfertigt, wenn sich eine Gefahr¬
situation analog jener der Geburt hergestellt hatte, die andere vom Ich
produzierte, wenn eine solche Situation nur drohte, um zu ihrer
1) Es wird Ihnen klar sein, daß ich das Wort „Fear“ in diesem Vortrag im
klinischen Sinn von Angst imd Besorgnis verwende, nicht im fein biologischen Sinn,
etwa von erhöhter Wachsamkeit und dazugehörigen Reaktionen.
Angst, Sdnildgefühl und Haß
13
Vermeidung aufzufordern.“ Unsere Patienten liefern uns oft einen bewußten
Hinweis darauf, wenn sie darüber klagen, daß „sie sich vor der Angst
fürchten“.
Bevor wir Wesen und Funktionen der Angstreaktion untersuchen,
müssen wir uns über das Wesen der Gefahr klar werden. Freud bezeichnet
als „traumatische Situation“ (a. a. O., S. 126) eine solche, die charakteri¬
siert” ist durch Hilflosigkeit, Unbestimmtheit und Objektlosigkeit des zu
Befürchtenden, wobei das Individuum unfähig ist, das Übermaß an Er¬
regung, für die keine Abfuhrmöglichkeit besteht, zu bewältigen. Es ist
evident, daß dies die Ursprungssituation ist, obwohl er meint, daß diese
Situation im späteren Leben, speziell in der somatisch bedingten Angst¬
neurose, wiederkehren kann. Andererseits bezeichnet er die tjyische Angst
der Psychoneurosen als Reaktion auf eine „Gefahrsituation“, wobei die
Angst absichtlich vom Ich erzeugt wird, um das Individuum vor der
Möglichkeit der Annäherung einer traumatischen Situation zu warnen und
die Notwendigkeit von Abwehrmaßnahmen anzuzeigen. Diese beiden Situa¬
tionen entsprechen dem, was wir vorläufig als äußere und als innere Gefahr
bezeichnet haben. Freud betont, daß die Angst der Psychoneurosen eine
Angst vor äußerer Einwirkung ist, daß der Libidoimpuls nicht an und für sich
als Quelle der Angst betrachtet werden kann, sondern nur insoferne, als er
eine solche äußere Einwirkung veranlaßt (a. a. O., S. 67). Es scheint
daraus zu folgen, daß grundsätzlich auf zweierlei Weise die äußere
Gefahr in Kraft tritt, und wir sehen, daß beide zur Wiedereinsetzung der
primären inneren Gefahr führen. Entweder wird das Objekt der Befriedi¬
gung, für den Knaben also die Mutter, entzogen, oder es droht ein Eltern¬
teil, beim Knaben der Vater, mit der Beraubung des zur Befriedigung
nötigen Organs. In beiden Fällen ist das Resultat dasselbe: im ersten
Falle tritt die Entbehrung direkt ein, im zweiten auf dem Weg über die
Beraubung. Aber Entbehrung ist nur eine andere Bezeichnung für die
ursprüngliche traumatische Situation, die sich als unerträgliche Reiz
Spannung infolge Sperrung der Abfuhrwege darstellt. Wir können also
sagen, daß die Gefahr, auf die Freud anspielt, wenn er von „Kastrations¬
angst des Ich“ spricht (a. a. O., S. 40), darin besteht, daß das Ich die
Fähigkeit oder Möglichkeit erotischer Befriedigung einbüßen könnte. Die
Angst vor einer Libidoerregung, die nicht die Möglichkeit noch Gestattung
der Befriedigung hat, kann mit jener Libido, der eine Befriedigungs
möglichkeit offen steht, in Interferenz treten; um es anders auszudrücken,
die Libido, die nicht ichgerecht ist, stellt eine Gefahr für die ichgerechte
Libido dar. Dies drückt sich klinisch als Impotenzangst aus, die inter¬
essanteste Variation aber finden wir in der Angst vor dem Verlust der
Emest Jones
t4
Persönlichkeit, vor dem Verlust der erhabensten Ideale oder hochgeschätzten
Genüsse. Die Analyse zeigt dann, daß es sich da bei diesen immer um
unvollkommene Sublimierungen von Tnzestwünschen handelt, die
den Kernpunkt im narzißtischen Gefüge des Ichs bilden. Daher kann die
in Rede stehende Gefahr ebensowohl als Gefahr für das Ich oder für
die Libido bezeichnet werden; genauer gesprochen ist es eine Gefahr
für den libidinösen Bestand des Ichs, für seine Fähigkeit zu libidinöser
Befriedigung in sinnlicher oder sublimierter Form.
Dies aber entspricht genau dem, was ich seinerzeit als „Aphanisis“
bezeichnet habe. Einige Kollegen brachten ihr Erstaunen zum Ausdruck,
daß gerade ich, der ich immer die konkrete Natur des Unbewußten,
besonders im Zusammenhang mit der Symbolik, betonte, jetzt einen Teil
seines Inhalts mit einem so abstrakten griechischen Terminus belegt habe.
Ich hatte dafür zwei Gründe. Erstens finde ich es notwendig, die un¬
eingeschränkte Ausdehnung des zu Befürchtenden zu betonen, die in
gewissem Sinne weiter geht und vollständiger ist als die der Kastration,
das Wort im eigentlichen Sinn gebraucht. Denn auf den Penis kann vom
Mann weitgehend Verzicht geleistet werden, — sogar im Uiiv, — da seine
Stelle auch von andern erogenen Zonen übernommen werden kann, und
bei Frauen ist seine Bedeutung ja überhaupt eine sekundäre. Die äußerste
Gefahr, um die es sich hier handelt, droht nicht nur allen jenen Formen
der Sexualität, die unerreichbar und verboten sind, sondern auch den ich-
gerechten und ihren Sublimierungen. Sie bedeutet eine völlige Vernichtung
der direkten und indirekten sexuellen Genußfähigkeit, eine Tatsache, auf
deren Bedeutung wir noch bei Betrachtung der primären traumatischen
Situation werden zurückgreifen müssen. Zweitens wurde damit der Ver¬
such einer intelligiblen Schilderung für einen Tatbestand unternommen,
dem beim Kind weder bewußt noch unbewußt ein gedankliches Gegen¬
stück im Seelenleben entspricht. Hier unterscheidet sich dieser Versuch
wesentlich von der analytischen Deutung des Unbewußten im gewöhn¬
lichen Sinn. In der Angstneurose z. B. gibt es nach Freud viel eher
eine automatische Herstellung einer Angstsituation als eine bewußte oder
unbewußte Furcht vor einer bestimmten Gefahr. Wie immer sich das
verhalten mag, mir erscheint die Freudsche Annahme ziemlich wahr¬
scheinlich, — wir müssen zugeben, daß dies jedenfalls in der Kindheit
so sein muß, in einem Stadium vor jeder gedanklichen Entwicklung. Ich
meine damit nicht die Geburtssituation selbst, an der noch so vieles
unklar ist, sondern den viele Monate später beobachtbaren Tatbestand
einer als vorgedanklich und als primär zu bezeichnenden Angst (Urangst).
Erst wenn diese Situation mit der Außenwelt in Verbindung gebracht
Angst, Sdiuldgefühl und Haß
15
wird und die Angst vom Ich als warnendes „Signal(Freud) erzeugt
wird, können wir von Angst mit einem bestimmten gedanklichen Inhalt
sprechen.
Da wir jetzt das Wesen der „Gefahr^^ einigermaßen geklärt haben,
können wir uns nunmehr einer genaueren Untersuchung der Angst selbst
zuwenden. Dabei stoßen wir auf den Begriff der primären „traumatischen
Situation“. Es ist kaum zweifelhaft, wie Freud von Anfang an betonte,
daß diese frühe Angstsituation direkt in Zusammenhang steht mit der ein¬
fachen Situation der libidinösen Versagung. Wir sagen „in Zusammenhang
steht“, doch bildet gerade die Erforschung der genaueren Natur dieser
Beziehung das zweite Grundproblem dieser Arbeit und führt uns in eines
der dunkelsten Gebiete der gesamten Psychoanalyse. Ich habe seit vielen
Jahren die Ansicht vertreten, daß Freuds Formulierung über die Kon¬
version verdrängter Libido in Angst psychologisch und biologisch unhalt¬
bar sei. Freud hat diese Formulierung kürzlich zurückgezogen (a. a. O.
S. 40), obwohl er für den Fall einer primären, automatisch erzeugten und
objektlosen Angst dabei eine Ausnahme macht (a. a. O. S. 41, 88). Es er¬
hebt sich also die Frage, ob die bekannte biologische Funktion der Angst
als einer Abwehrmaßnahme im Zusammenhang mit der ebenso ausdrück¬
lich als Abwehrmaßnahme zu wertenden „Signal“bedeutung der Angst
der Psychoneurosen nicht berechtigt, für den Fall der Urangst eine gleiche
Funktion anzunehmen. Für diese kann die Situation folgendermaßen
charakterisiert werden: Hilflosigkeit gegenüber unerträglicher Libidospan¬
nung, für die es keine Abfuhr, Erleichterung und Befriedigung gibt;
Freud spricht von „Unbefriedigung, Anwachsen der Bedürfnisspannung,
gegen die der Säugling ohnmächtig ist“ (a. a. O. S. 82), und sagt, daß der ei¬
gentliche Kern der „Gefahr“ „das Anwachsen der Erledigung heischenden
Reizgrößen ist“ (a. a. O. S. 83). Ist diese Formulierung nicht erweiterungs¬
fähig? Warum ist die in Rede stehende Reizspannung unerträglich und
warum gefahrdrohend? Bedeutet der evidente Hemmungscharakter der
Angst in gewissem Sinn eine Abwehr des Unerträglichen oder ist er auf
eine einfache, sozusagen mechanische Folge der von der Abfuhr abge¬
sperrten Reizspannung zurückzuführen? Ich meine, es ist beides der Fall.
Wenn wir unsere Schwesterwissenschaft, die Physiologie, befragen, —
vielleicht sind wir dazu berechtigt, wenn es sich um ein so tiefliegendes
A^orgedankliches Gebiet handelt, — erfahren wir, daß es dort eine ähnliche
Situation gibt, die man experimentell erzeugen kann, und die in der
Reizerschöpfung selbst ein Ende findet; ein Hungriger hört auf, Hunger
zu empfinden, wenn er lange Zeit Nahrungszufuhr entbehren muß, und
Hungerkünstler sind wahrscheinlich Leute, die das Anfangsstadium des
16
Emest Jones
Hungerreizes besser ertragen und eine gastrische Empfindungslosigkeit
leichter erreichen als andere. Wenn es sich mit der Libido ähnlich ver¬
hält, müßte es in einem solchen Fall zur vollkommenen Vernichtung der
Libido und jeder sexuellen Genußfähigkeit — der subjektiven Empfindung
nach für immer — kommen. Es kann nun sein, daß die Urangst eben¬
falls eine Abwehr bedeutet, u. zw. gegen den Zustand der Aphanisis, welcher
dem oben geschilderten äußeren Gefahrenzustand entspricht.
Es gibt noch zwei andere Punkte, von denen aus Licht auf dieses
Problem fallen kann. Wenn wir die konstituierenden Elemente der Angst
betrachten, finden wir, wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt
habe, daß körperliche und seelische Erscheinungsformen der Angst in zwei
Gruppen zerfallen, in solche der Hemmung und solche der Übererregung.
Der Gegensatz zwischen Verminderung des Speichelflusses und Zunahme
der Harnproduktion demonstriert dies deutlich. Dies muß eine Bedeutung
haben. Eine zweite Überlegung führt uns zu folgendem. In Fortsetzung
des früheren Gedankenganges ermöglicht sich die Annahme, daß auch die
Urangst eine, wenn schon nicht im psychologischen Sinn zweckvolle
Funktion hat. Es wäre ja nicht weiter verwunderlich, wenn das Ich in
dem verzweiflungsvollen Zustand der Bedrohung durch die Aphanisis jeden
erdenklichen Versuch macht, sich Erleichterung zu verschaffen. Ich glaube,
man könnte diesen Versuch in zwei Gruppen teilen, die die Einteilung
der beiden oben erwähnten Erscheinungsformen der Angst überdecken.
Die eine Gruppe besteht in dem Versuch, das Ich von der Erregung zu
isolieren; dieser würde — wenn er Erfolg hätte — einen der hysterischen
Anästhesie verwarndten Zustand erzeugen. Er muß wohl den Beginn dessen
darstellen, was Freud Urverdrängung nennt. Dem steht gegenüber
der Versuch, auf direktem Wege die Reizspannung zu erledigen, u. zw.
entweder durch Eröffnung beschränkter Abfuhrmöglichkeiten oder in einer
mehr aggressiven Form durch Erdrückung der Erregung selbst. Die erste
Gruppe bedarf keiner weiteren Erklärung, doch ist es nötig, die Darstellung
der zweiten zu erweitern. Viele Erscheinungen der Übererregung, z. B.
die Aufregung, Pollakisurie, müssen ein gewisses Maß an Libidoabfuhr
bringen, und Freud meint (a. a. O. S. 129, Fußnote), daß selbst die durch
Hemmung erzeugte Lähmung durch die Angst zur masochistischen Befrie¬
digung benutzt werden kann. Man erinnert sich daran, daß, was bisher
noch nicht ausdrücklich formuliert wurde, dies in gleicher Weise für alle
Abwehrmechanismen zutrifft. Reik und Alexander z. B. haben zwin¬
gend dargelegt, daß die Wirkung des Schuldgefühls nicht allein in der
Hemmung der verbotenen Impulse besteht, sondern daß es in gewissem
Ausmaß den Mechanismus der Bestrafung auch befriedigen könnte. In der
Angst, Sdmldgefühl und Haß
17
Regression, die, wie Freud klar gezeigt hat, eine Form der Abwehr ist,
erfolgt ein Einbruch in tiefere, leichter zugängliche Stufen, auf die sich
die Libido zurückzieht. Sogar die schuldgefühlsbedingte Selbstkastration
eröffnet dem Individuum Befriedigungsmöglichkeiten in Form femininer
Erotik. Was den Prozeß der Unterdrückung der Libido anbelangt, der den
Kern jeder Hemmung bildet, so fasse ich ihn als frühestes Stadium der
Verzichtleistung auf. Diese Verzichtleistung stellt andererseits den wesent¬
lichen Anteil jenes Prozesses dar, durch den die fruchtlosen Inzestwünsche
in nützliche psychische Aktivität gewandelt werden. Aus der zentralen
Bedeutung dieses Prozesses für die Neurosenentstehung soll er nun der
Gegenstand unserer Aufmerksamkeit sein.
Wenn unsere Annahme zutrifft, kommen wir zu folgendem Schluß:
Was das Kind in der primären „traumatischen" Situation als so unerträg¬
lich empfindet und dem es sich so hilflos ausgeliefert fühlt, ist der Ver¬
lust der Herrschaft über die libidinöse Erregung und über die Möglichkeit,
die libidinöse Erregung abzuführen und aus dieser Abfuhr Lust zu bezie¬
hen. Wenn diese Situation nicht beendet wird, muß sie unbedingt in den
Erschöpfungszustand einer temporären Aphanisis übergehen, der zweifellos
für das Kind die Bedeutung eines Dauerzustandes annimmt. Alle die kom¬
plizierten Abwehrmaßnahmen, die das Studienobjekt der Psychoanalyse
bilden, sind im Grunde Versuche, diesem Endzustand zu entgehen. Urangst,
nicht weniger als späteres „Angstsignal" gehören ihrem Wesen nach zu
den Abwehrmaßnahmen. Di^^e Verdrängung, die, wie Freud kürzlich aus¬
führte, auch nur eine Form der Abwehr ist, ist eine der Folgen der
Angst.
m
Es bleibt noch übrig, die zwischen Angst, Schuldgefühl und Haß
bestehenden Beziehungen zu ordnen und die allgemeinen Einsichten zu
formulieren, die sich aus den ausgeführten Details ergeben.
Wir haben beobachtet, daß in der Entwicklung jeder der drei seelischen
Reaktionen zwei Stufen feststellbar sind. Bei der Angst ist die erste Stufe
die primäre Furcht vor der Aphanisis, die aus der ins Unerträgliche
gesteigerten Bedürfnisspannung entsteht; die zweite finden wir dann, wenn
die Entbehrungssituation mit einer äußeren Versagung identifiziert wird,
als „Angstsignal" vor dieser Gefahr. Beim Haß ist die erste Stufe der
Ärger über die Versagung, die zweite der aus der Sexualisierung des Ha߬
impulses entstehende Sadismus. Beim Schuldgefühl ist die erste Stufe die,
welche wir als „vorverbrecherischen" Hemmungszustand bezeichnet haben.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i 2
18
Emest Jones
dessen Funktion eine Unterstützung der früheren Angstreaktion darstellt
und tatsächlich auch von dieser nur schwer zu unterscheiden ist, als
zweites das Stadium des eigentlichen Schuldgefühls, dessen Funktion im
Schutz vor äußeren Gefahren besteht.
Es ist bemerkenswert, daß Hemmung nur bei Angst und Schuldgefühl
auftritt. Wenn dabei im weiteren Verlauf auf Grund der Verzichtleistung
die Wünsche in mehr Befriedigung versprechende Bahnen gelenkt werden,
mag dieser Ausgang als zufriedenstellend bezeichnet werden. Möglicher¬
weise, weil der Hemmungsfaktor in der Haß- und Sadismusreaktion fehlt
und weil diese von Natur aus die äußere Gefahr provoziert, hat gerade
diese sozial wie pathologisch so ungünstige Wirkungen (Zwangsneurose,
Paranoia, Melancholie). Klinisch erscheint dieser Ausgang gewöhnlich als
einziger Ausweg zwischen Hemmung und Schuldgefühl, als Abwehr oder
Protest dagegen; es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein, daß
nämlich Hemmung und Schuldgefühl abwechselnd als Abwehr gegen die
Gefahren des Sadismus eintreten.
Der kritische Punkt für die ganze Untersuchung liegt offenbar dort, wa
die innere Situation nach außen verlegt wird, wo Entbehrung zur Ver¬
sagung wird. Weil die Außenwelt, leichter zugänglich, leichter beeinflußbar
ist und eine willkommene Hilfe bei der Erstrebung der Befriedigung
darstellt, muß das Kind den Eindruck gewinnen, daß die Situation sich
zu seinem Vorteil geändert hat, obwohl es in Wahrheit nur alten Gefahren
in neuer Form begegnet. Hier spielt die Phantasiegestalt des strengen
Elternteils eine wichtige und unentbehrliche Rolle. Die Vergrößerung der
äußeren Gefahr erhöht die Vorteile, die sich aus der Verlegung nach außen
ergeben, und in der Entwicklung des Über-Ichs liegt ein Weg, die
Schwierigkeiten in neuer Form zu bewältigen. Ebenso wie die Reaktionen
der Pubertät durch die der infantilen Sexualphase bestimmt werden, müssen
auch die Reaktionen der äußeren (Ödipus-) Situation der Kindheit unter
dem Einfluß der vorhergehenden inneren Situation stehen. So z. B. jo
größer die Urangst, um so strenger die Elternimago der Ödipussituation.
Je sadistischer die erste Haßreaktion, desto schwieriger die Bewältigung^
des Schuldgefühls in der späteren usf. Wir sehen uns so veranlaßt,
besonderen Nachdruck auf die Bedeutung der frühesten Reaktionen zu
legen. Es war eine Offenbarung, als Freud die fundamentale Wahrheit
verkündete, daß alle Angst letztlich Angst vor den Eltern ist. alles Schuld¬
gefühl, Schuldgefühl den Eltern gegenüber und aller Haß Haß gegen die
Eltern. Wir beginnen aber einzusehen, daß auch die ganz frühen Ein¬
stellungen prähistorische Vorgänger haben müssen, ’ von denen sie aller
Voraussetzung nach stark beeinflußt werden.
Angst, SdmldgefQhl und Haß
19
Um die Aufzählung unserer Schlüsse zu vervollständigen, sei wieder auf
die am Anfang vorgebrachten Erwägungen hingewiesen. Dort machte ich
auf die Schichten aufmerksam, innerhalb deren eine sekundäre Abwehr
der drei Einstellungen, Angst, Haß und Schuldgefühl, erfolgt, und zeigte
auf, daß diese Abwehrmechanismen selbst eine Art „Wiederkeh;: des Ver¬
drängten“ darstellen. Wir haben damals gesehen, wie tieflregend die
primären Schichten dieser drei Einstellungen sein müssen und daß man in
der Entwicklung jeder einzelnen zwei Stadien unterscheiden kann. Die
Beziehung der sekundären Schichte scheint folgende zu sein. Jede dieser
Grundeinstellungen kann sich auf der primären Stufe als unerträglich
erweisen, so daß es zur Bildung sekundärer Abwehrreaktionen kommt, die
wie eben erwähnt, sich aus einer anderen dieser Einstellungen entwickeln.
So kann sekundärer Haß aus der Bewältigung von Angst oder Schuldgefühl
hervorgehen, sekundäre Angst („Signal“angst) aus der Bewältigung schuld-
gefühlerzeugendeu Hasses oder vielmehr der damit verbundenen Gefahr,
und bisweilen sogar sekundäres Schuldgefühl aus der Bewältigung der
beiden andern. Diese sekundären Reaktionen sind daher regressiver Natur
und dienen der Abwehr wie jede andere Regression.
Es ist wichtig, auf die Rolle der Libido im Zusammenhang mit diesen
drei Gefühlseinstellungen hinzuweisen. Jede von ihnen kann sexualisiert
werden. In der Angst ist es der masochistische Charakter von Lähmung
und Hemmung und die somatische Abfuhr in der Angstreaktion selbst,
beim Schuldgefühl ist es der moralische Masochismus und beim Haß die
Entwicklung des Sadismus.
Freud hat kürzlich auf die bemerkenswerte Tatsache hingewiesen,
daß wir auch jetzt noch nicht in der Lage sind, die anscheinend so ein¬
fache Frage, warum eine Person neurotisch wird und eine andere nicht,
zu beantworten. Ich bin überzeugt, daß es sich bei der endlichen Lösung
dieser Frage heraussteilen wird, daß die Antwort in der Reaktion des
Kindes auf die primäre „traumatische“ Situation sich ergeben wird und
im weiteren in der Reaktion auf die Gefahren der Ödipussituation, die
sich daraus entwickelt. Das Hauptergebnis dieses Vortrages ist, daß Angst,
Haß und Schuldgefühl als Reaktionen auf diese Ursituation anzusprechen
sind und daß sie deren Bewältigung versuchen. Als 'Wichtigstes erhebt
sich die Frage, wie es möglich ist, einen hohen Grad libidinöser Reiz¬
spannung zu ertragen, ohne der Macht über die Situation verlustig zu
gehen. Wenn das Kind so hilflos ist, daß es die Gefahr spontaner Aphanisis
nicht bewältigen kann, wird es zu verzweifelten Maßnahmen greifen und
in Gefahr geraten, zwischen zwei unvorteilhaften Situationen hin und her
zu pendeln. Einerseits kann es zu sehr von der artifiziellen Aphanisis
20
Ernest Jones: Angst, Schuldgefühl und Haß
durch die Hemmung abhängig sein, was seinerseits wieder den Verlust
der Macht über die störenden Wünsche bedeuten kann, die damit selbst
zum Schwinden gebracht werden. Anderseits mag es den leichtern Pfad
betreten und in exzessivem Ausmaß Abwehrmaßnahmen in der Form von
Angst, Haß und Schuldgefühl entwickeln, ein Weg, der sicher zur Neurose
führt. Es wäre wahrscheinlich richtiger zu sagen, daß das Kind nicht
zwischen den beiden Möglichkeiten hin und her schwankt, sondern daß
die erstgenannte die primäre ist, die zweite aber ergriffen wird, wenn die erste
fehlschlägt. Dies würde genügend erklären, woher die überragende Bedeu¬
tung der „Alles- oder Nichts“ Reaktion kommt, die für schwere Neurosen
und für die offenkundige Angst vor dem Maßhalten, die die Neurotiker
aufweisen, so sehr charakteristisch ist. Einen Wunsch in der Hand zu
haben und zu lenken, oder mit ihm zurückzuhalten, wenn nötig, bedeutet
für den Neurotiker die Schuldgefühlsreaktion spielen lassen, die für ihn
den einzigen Grund darstellt, seine Wünsche zu zügeln. Davon nun hat
er wohlbegründete Angst, da er niemals gelernt hat, die hemmende Tendenz,
die das Wesen des Schuldgefühls ausmacht, und in der Gefahr artifizieller
Aphanisis verbunden ist, zu beherrschen. Gerade das, worin er ursprüng¬
lich Rettung suchte, ist für ihn zur größten Gefahr geworden.
Wenn der hier niedergelegte Gedankengang sich als richtig erweist, muß
er bedeutende Folgen für die praktischen Probleme der Therapie haben.
Das am schwersten zu erreichende Ziel der therapeutischen Analyse ist,
Toleranz zuerst für das Schuldgefühl zu erreichen: und dann für den Haß und
die Angst die ihm zugrunde liegen, und die größte Schwierigkeit die uns
begegnet, ist der Mangel an Vertrauen in die Möglichkeit der Bewältigung
der ursprünglichen Abwehrhemmung bei unseren Patienten. Der Kampf
ist halb gewonnen, wenn der Patient einsieht, daß es andere als moralische
Gründe gibt, Triebbefriedigungen einzuschränken; völlig gewonnen aber
ist er, wenn der Patient die volle Überzeugung erlangt, daß seine Fähig¬
keit zur Einschränkung, statt, wie bisher stets eine Gefahr zu bedeuten,
im Gegenteil die einzige Möglichkeit darstellt, das zu erlangen, was er
5ucht, nämlich sichere Herrschaft über seine Persönlichkeit, besonders in
libidinöser Beziehung zugleich mit Selbstbeherrschung in des Wortes voller
Bedeutung. Nur dann ist er imstande, der Realität entsprechend gegen¬
überzutreten, innerhalb seiner eigenen Persönlichkeit wie in der Außenwelt.
Zur Psydiologie des Transvestitismus
Vortrag auf dem XL Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Oxford^ Juli 1^2^
Von
Otto F e n i c h e 1
Berlin
I
Alle Autoren, die sich mit Transvestiten beschäftigt haben, sind sich
darüber einig, daj 3 deren rätselhaftes Tun Berührungspunkte mit ver¬
schiedenen anderen perversen Praktiken aufweist. Erst 1910 wurde diese
Erscheinungsform der Psychopathia sexualis von Hirschfeld mit Recht
als eigene Perversionsart beschrieben,^ die früheren Autoren hatten ein¬
schlägige Fälle auf der Basis solcher Berührungspunkte anderen Perversionen
subsumiert. Diese Verwandtschaft mit den anderen Perversionen erweckt
die Hoffnung, daß die psychoanalytische Aufklärung des Transvestitismus
auch zur Klärung der Perversionspsychologie überhaupt wichtige Beiträge
wird liefern können. Diese Verwandtschaft wird uns aber auch — soweit
verwandte Perversionen bereits analytisch durchforscht sind — den Weg
zum Verständnis des Transvestitismus bahnen helfen.
Wenn auch das Tun mancher Transvestiten durchaus als masochi¬
stisch imponiert (man denke etwa an den seiner Herrin Omphale in
Frauenkleidern dienenden Herkules, der Idealfigur vieler Transvestiten),
wenn viele auch nur zur Befriedigung kommen, wenn sie in der Ver¬
kleidung gesehen werden, also eigentlich Exhibitionisten sind, die
weitaus deutlicheren Beziehungen, die auch Gegenstand wissenschaftlicher
Kontroversen geworden sind, sind die zu Fetischismus und Homo¬
sexualität: Die Überschätzung der Kleidung und Wäsche und viele
eigentlich fetischistische Züge bei einschlägigen Fällen, z. B. besondere
Vorliebe für Schuhe oder Ohrringe, gaben Anlaß, die Transvestiten als
eine besondere Art Fetischisten aufzufassen, wogegen Hirschfeld^ und
1) M. Hirschfeld: „Die Transvestiten.Berlin, Pulvermacher und Co., loio-
2) A. a. O. ’ ^
22 Otto Fenidiel
Ellis^ mit Recht hervorhoben, daß der Transvestit ja durch einen dem
Fetischismus fremden Zug charakterisiert ist, nämlich dadurch, daß der
»Fetisch“ nur am Körper des Patienten selbst zu einem solchen wird,
nicht (oder in nur sehr abgeschwächtem Maße) als Objekt an sich. —
Die Transvestiten wollen aber nicht nur weibliche Kleidung tragen, sie
wollen überhaupt weiblich leben, sind effemeniert; was Grund genug
war, sie vielfach den passiven Homosexuellen zu subsumieren, wogegen
Hirschfeld sehr energisch auftrat indem er bewies, daß die Trans¬
vestiten sich meist ausschließlich zu Personen des anderen Geschlechts
erotisch hingezogen fühlen. Später teilte er^ und Näcke^ die Transvestiten
je nach ihrer Sexualrichtung in heterosexuelle, homosexuelle, narzißtische
und asexuelle ein. Dem Psychoanalytiker erscheint eine solche Einteilung
bedeutungslos, weil sie sich nur an die manifesten Triebäußerungen hält
und die unbewußten Triebabläufe ganz außer acht läßt. Diese einbe¬
ziehend, meinte S t e k e 1 ,^ den Transvestitismus doch nur als Maske der
Homosexualität auffassen zu sollen. Das Problem ist aber, unter welchen
Bedingungen gerade diese Maske gewählt wird.
Zusammengefaßt: Mit dem Fetischisten hat der Transvestit die Über¬
schätzung der weiblichen Kleidung und Wäsche gemeinsam, mit dem
passiv Homosexuellen (und dem femininen Masochisten) die feminine
Einstellung. Von beiden weicht er in seinem spezifischen Sexualwunsch,
die Kleidung des anderen Geschlechts anzulegen, ab. Der Psychoanalytiker
argwöhnt, daß den manifesten Übereinstimmungen auch solche der zu¬
grunde liegenden unbewußten Mechanismen entsprechen werden. Und
dieser Argwohn wird durch die Analyse von Transvestiten durchaus
bestätigt.
Fetischismus und passive Homosexualität des Mannes sind analytisch so
weit durchforscht, daß man die Resultate dieser Durchforschung auf kurze
Formeln bringen kann: Der Fetischist hat nach Freud aus Kastrations¬
angst die Penislosigkeit der Frau nicht akzeptiert und kann nur lieben,
wenn er seinem weiblichen Objekt illusionär einen Penis verleiht.^ Der
feminine Homosexuelle krankt ebenfalls an der Kastrationsangst. Er kann
penislose Wesen überhaupt nicht lieben; er hat aus Kastrationsangst (und
natürlich aus konstitutionellen Gründen) seinen Ödipuskomplex so erledigt,
daß er seine Liebe zur Mutter durch eine Identifizierung mit ihr ersetzt
1) „Eonisiii“ in „Studies in the Psychology of sex“, Vol VII, F. A. Davis Company,
Philadelphia, 1928.
2) Jahrbuch f. sexuelle Zwischenstufen, 1925.
5) „Zum Kapitel der Transvestiten“, Archiv f. Kriminalanthropologie, XVII.
4) S. „Der Fetischismus“ und „Onanie und Homosexualität“.
5) Freud: „Der Fetischismus.“ Ges. Sehr., Bd. XI.
Zur Psydiologie des Transvestitismus 23
hat Er ist nun selbst die Mutter, die Frau, und sucht nun als solche
neue Objekte, je nachdem den Vater oder einen Vertreter seiner eigenen
Person.^ _ Transvestit, der mit beiden verwandt ist, scheint nun der
zu sein, für den beide Formeln gleichzeitig zutreffen: Er hat den Glauben
an die phallische Natur der Frau nicht aufgeben können, sich aber außer¬
dem mit dieser phallischen Frau identifiziert. — Die Identifizierung mit
der Frau an Stelle oder neben der Liebe zu ihr ist im manifesten Bild
so deutlich, daß Ellis, wie wir noch hören werden, darin das Wesen
des Transvestitismus gesehen hat.^ Daß aber die Frau, mit der der Trans¬
vestit sich identifiziert, phallisch gedacht ist, und daß gerade das das
Wesentliche ist, konnte, weil es unbewußt ist, ohne Psychoanalyse <?nicht
gefunden werden.
Im transvestitischen Akt sind Objektliebe und Identifizierung vorhanden,
beide in ihren Erscheinungsformen durch den Kastrationskomplex, durch
das Festhalten am phallischen Glauben, modifiziert. Der transvestitische
Akt hat einen doppelten Sinn, einen objekterotischen (fetischistischen) und
einen narzißtischen (homosexuellen). /) Der Patient verkehrt statt mit der
Mutter oder ihrer Ersatzfigur fetischistisch mit deren Kleidern, die er
möglichst nahe an seinen Körper, an seine Genitalien heranbringt; daher
erklärt sich die häufige „Liebesbedingung^^ daß es benutzte, womöglich
vom Gebrauch durch eine Frau noch warme, den Geruch der Frau ent¬
haltende Kleidung oder Wäsche sein muß. Dieser Verkehr ist typischer¬
weise sadistisch gedacht. 2) Der Patient selbst stellt eine phallische Frau
dar. Eine Frau — das schreit er ja überlaut heraus; eine phallische —
das ergibt die Analyse. Der Penis ist dabei doppelt vertreten: a) im wirk¬
lichen unter den Frauenkleidern vorhandenen Penis des Patienten. — Ein
Transvestit phantasierte sich immer wieder die Überraschung eines Lieb¬
habers, der ihn als Frau anspricht und dann beim Entkleiden seinen Penis
entdeckt, b) Im Kleid, das den Penis symbolisch ersetzt, und das der
Transvestit, auch wenn er nur geheim und onanistisch seiner Leidenschaft
frönt, ja immer zur Schau stellen will, — ein verschobener Exhibi¬
tionismus, der, wie der echte, zum Zweck der Kastrationswiderlegung
erfolgt. — Diese Formeln bedürfen nun noch einer Ergänzung, um das
klinische Bild des Transvestitismus psychoanalytisch verständlich zu machen,
der Beschreibung der sich — wie beim Homosexuellen — nach voll¬
zogener Identifizierung abspielenden neuen Objekt wählen. Diese haben
wieder einen narzißtischen und einen objekterotischen Teil. Bezüglich des
1) S. z. B. „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.“ Ges, Sehr., Bd. V, S. 18,
Fußnote.
2) A. a. O
24
Otto Fenidiel
ersteren ist zu. sagen, daß die Möglichkeit einer so weitgehenden Ersetzung
einer Objektliebe durch eine Identifizierung nur gegeben ist bei besonders
ausgeprägter narzißtischer Konstitution. Tatsächlich geht die narzißtische
Regression, deren Ausdruck diese Identifizierung ist, weit über das hinaus,
was wir bei Homosexuellen zu sehen gewohnt sind. Die Liebe zu sich
selbst, Phantasien, daß der männliche Teil der Person mit dem weiblichen,
also mit sich selbst, Geschlechtsverkehr haben könnte, sind nicht selten;
die Liebe zur phallischen Mutter geht vielfach in eine Liebe zu dem
durch die Identifizierung mit der phallischen Mutter veränderten Ich
über, ein Zug, der auch schon nichtanalytischen Autoren aufgefallen ist,
die neben einem hetero- und einem homosexuellen einen narzißtischen
Transvestitentyp beschrieben haben. — Andererseits suchen sich die
Patienten aus der femininen Identifizierung heraus auch neue Realobjekte,
sie wollen als Frauen gesehen und geliebt werden, bzw. in Wendung des
ursprünglichen Sadismus gegen das Ich, masochistisch gequält werden.
(Auch hier zeigt sich im passiven Sexualziel, das trotz des p h a L
lischen Charakters der dargestellten Frau das Rild beherrscht, der
narzißtische Einschlag.) — Diese Objekttendenz des Transvestiten erweist
sich analytisch als gerichtet auf j) in tiefer Schichte den Vater. Darin
gleicht der Transvestit dem passiv Homosexuellen, nur daß ihm die homo¬
sexuelle Natur dieser Objektwahl selten bewußt ist. Er sagt gleichsam dem
Vater: Liebe mich, ich bin ebenso schön (phallisch) wie die Mutter. Oder
korrekter: Liebe mich wie die Mutter; es ist nicht wahr, daß ich durch
solchen Wunsch meinen Penis gefährde! — Aber auch 2) auf die Mutter.
Diese Beziehung ist die oberflächlichere und auffallendere. Um ihretwillen
konnte der das Unbewußte nicht berücksichtigende Hirschfeld die
Homosexualität der Transvestiten mit Recht leugnen. Solche Transvestiten
haben bewußt ein besonderes Interesse für weibliche Homosexualität,
wollen als Frau von einer Frau geliebt werden, als Sklavin einer Herrin
dienen. Analytisch erklärt sich das durch das wichtigste akzidentelle
Moment des Transvestitismus, nämlich dadurch, daß die Identifizierung
mit der Mutter meist gleichzeitig in einer anderen, oberflächlicheren
psychischen Schichte, eine solche mit einem kleinen Mädchen ist,
was alle Vorteile einer Regression in die frühe Kindheit bringen soll.
(Ein transvestitischer Patient näßt eines Nachts unter transvestitischem
Traum das Bett, nachdem er tags zuvor mit einem weiblichen Säugling
zu tun gehabt hatte.) Das kann geschehen, wenn, was häufig der Fall zu
sein scheint, die Mutter frühzeitig weitgehend durch eine Schwester ab¬
gelöst werden konnte, so daß dann der Transvestit nicht nur in der oben
charakterisierten Weise seinen Vater anredet, sondern gleichzeitig der
Zur PsyAoIogie des Triinsvestitismus
25
Mutter sagt: Liebe mich, ich bin ebenso schön (phallisch) wie die Schwester.
Oder korrekter: Liebe mich wie die Schwester! Es ist nicht wahr, daß
ich durch solchen Wunsch meinen Penis gefährde!
II
Nun wäre es meine Aufgabe, diese Thesen am analytischen Material
zu beweisen. Ich will mich darauf beschränken, aus einem gründlich
analysierten Fall das Wichtigste mitzuteilen, was den dargestellten Sinn
des Transvestitismus einleuchtend machen soll.
Es handelt sich um einen 40 jährigen, verheirateten, trotz seiner Neurose
erfolgreich berufstätigen Mann, Vater mehrerer Kinder, Zwangsneurotiker
und Hypochonder mit einigen paranoiden Zügen. Er liebt seine Frau sehr,
steht auch sehr gut und herzlich zu ihr, nur läßt ihn der Geschlechts¬
verkehr mit ihr unbefriedigt. Befriedigung findet er nur bei der Onanie,
die entweder mit transvestitischen Phantasien oder — häufiger — mit
realen transvestitischen Akten einhergeht, indem der Patient die Sachen
seiner Frau anlegt. Die begleitende Phantasie lautet nur: „Ich bin eine
Frau.“ Von den in der Analyse ermittelten Details sei erwähnt, daß eine
wichtige Zusatzphantasie lautete: „und werde als solche gesehen,“ und
daß die Bedingung existierte: Das Anlegen der Frauenkleider muß etwas
Alltägliches sein, d. h., er geriet in die höchste Erregung, wenn er sich
vorspielte, daß er die Frauenkleider nicht zum Zwecke der Erregung anzog,
sondern weil es für ihn der natürliche Zustand sei, in solchen Kleidern
zu gehen. — Daneben vielfache masochistische Phantasien vom Typus:
Die Sklavin dient der Herrin, und Wünsche nach Frausein auch außer¬
halb des eigentlich Sexuellen.
Aus der Kindheitsgeschichte: Die Mutter ist früh gestorben, der Vater
heiratete bald ein zweitesmal. Der Vater war ein kleinlicher, nörgelnder
Analcharakter, die Stiefmutter draufgängerisch, streitsüchtig und zu den
Kindern sehr streng. Der Vater war an die Stiefmutter offenbar sehr sinn¬
lich (wahrscheinlich passiv-anal) gebunden, trieb aber daneben noch eine
Art Kult mit dem Andenken an die erste Frau. Das Regiment im Hause
führte durchaus die Stiefmutter — Schema „schwacher Vater“ —, so daß
der Patient reichlich Gelegenheit bekam, an ihre phallische Natur zu
glauben. Er stand zu ihr durchaus ambivalent, aber sowohl im Hassen
(Furchten) als auch im Lieben durchaus passiv: Von ihr ging eine mächtige
erbotsatmosphäre aus; die Kastratoren der Träume erwiesen sich als Deck
■guren für sie. Sie hatte dem Jungen gegen die Onanie (bzw. zur Ver¬
meidung des Kratzens während einer Wurmkur) Handschuhe angezogen
und die Hände festgebunden (was Ausgangspunkt späterer masochistischer
26 Otto Fenidiel
Phantasien wurde). Sie hat ihm aber auch, als er als kleiner Junge einen
Rektumprolaps hatte, das Rektum nach jeder Defakation digital reponiert.
Im Laufe der Analyse erinnerte der Patient noch das ungeheure Lust¬
gefühl, das er dabei hatte.
Das wesentliche Sexualobjekt der Kinderjahre war eine um drei Jahre
ältere Schwester, mit der es zu allen möglichen sexuellen Spielen, mutueller
Onanie u. dgl. kam. Wahrscheinlich war die ältere Schwester ursprüng¬
lich der verführende Teil gewesen, so daß seine sexuelle Entwicklung
durch diese Verführung in ähnlicher Weise gestört worden ist wie die
des Wolfsmannes.^ Es gab allerdings auch eine Zeit, in der er gegenüber
der Schwester aktiv eingestellt war; so erinnert er, sie einmal anuriniert
zu haben. Auch dieses Verhältnis war sehr ambivalent. Er hat die Schwester
auch als Rivalin gehaßt. Dieser Haß verband sich mit der Sinnlichkeit zu
einer stark sadistischen Einstellung, die vielleicht ein üngeschehenmachen
der Verführung bezweckte, und die eines Tages wieder verschwand und
einer rein passiven Haltung Platz machte; wir werden noch darüber zu
sprechen haben, wann und warum. Zur Zeit der Analyse zeigte sie sich
nur noch in einer zwangsneurotischen Ängstlichkeit und in einer be¬
deutungsvollen Deckerinnerung, die behaupten wollte, er hätte der
Schwester einmal einen Arm ausgerissen. Sonst war sie verdrängt und
durch Wendung gegen das Ich in Masochismus verwandelt.
Aus dem Verhältnis zur Schwester entwickelte sich auch der Trans¬
vestitismus. Die Schwester spielte „Puppenanziehen^^ und kleidete auch die
lebendige Puppe, den kleinen Bruder, um, zog ihm Sachen von sich an.
Das war etwa im vierten Lebensjahre des Patienten und war ihm zuerst
unlieb, wahrscheinlich wegen der Degradation zur Puppe. Bei Wieder¬
holungen lernte er das Spiel schätzen, und zwar wegen des sexuellen
Genusses, den ihm der an den Kleidungsstücken, besonders Haarschleife
und Schürze, haftende Schwestergeruch verschaffte. Im achten und zehnten
Lebensjahr gab es Theateraufführungen, bei denen die Kinder die Kleider
tauschten. Das wurde dann im Spiel häufig wiederholt, wobei der Patient
bei dem Gedanken, ein Mädchen zu sein und besonders als solches ange¬
sehen zu werden, schon eindeutig sexuellen Genuß mit orgasmusähnlichen
Gefühlen hatte. Dann wurde das Spiel der Schwester langweilig, der Patient
mußte immer mehr Überredungskunst aufwenden, um sie dazu zu bewegen.
Schließlich zog er sich allein und heimlich ihre Kleider an, hatte auch
wegen des Genusses durchaus schweres Schuldgefühl dabei. Mit etwa
dreizehn Jahren geriet das Spiel in Vergessenheit und wurde im sieb-
i') S. Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Ges. Sehr., Bd. VIII.
Zur Psydiologie des Transvestitismus
27
zehnten Jahr in eindeutiger sexueller Erregung wieder erinnert und auf¬
geführt. Von da an verband sich das Umkleiden mit manueller Onanie
und von da an datiert die Perversion. Bemerkenswert ist, daß der Patient
noch lange die Kleider der Schwester, später die von Schwester-Ersatz¬
figuren benutzte; der Gedanke, Kleider der Stiefmutter oder ihr ähnlicher
Frauen anzulegen, hatte gar keinen Reiz.
Was also ist der Sinn dieser Perversion? Der objekterotische war
historisch leichter und eindeutiger zu eruieren. Der erste Genuß war vom
Geruch der Kleider ausgegangen, Haarschleife und besonders Schürze
waren gleichsam Körperteile der Schwester, mit der er onanierte. Eine
Form der Onanie bestand darin, daß die Schwester auf seinem Schoß saß
und hin und her rutschte. Wenn er die Schürze der Schwester anhatte,
bewegte er sie in gleicher Weise. Die Schürze war eine Doublette des
Körpers der Schwester. Wenn er später die Kleider der Schwester statt
ihrer selbst nahm, so hatte er den Vorteil, sich im Sexualgenuß von der
eigensinnigen und nicht immer geneigten Schwester unabhängig gemacht
zu haben. Übrigens hatte ursprünglich die Benutzung desselben Bettes,
desselben Badewassers gleiche Bedeutung wie die derselben Kleidungs¬
stücke. — Was war aber nun verantwortlich dafür, daß die Schwester
selbst sexuell mehr und mehr bedeutungslos wurde und immer mehr
durch ihre „Symbole“, die Kleider, ersetzt wurde? Die Analyse gab die
eindeutige Antwort: Die Entdeckung ihrer Penislosigkeit. Wir erwähnten
die merkwürdige Deckerinnerung vom ausgerissenen Arm, die die mutuelle
Onanie, besonders seinen Sadismus, deckte. Er hatte das Genitale der
Schwester anläßlich eines gemeinsamen Bades in der Badestube gesehen
und eine noch ältere verdrängte Erinnerung an das Genitaile der Stief¬
mutter dabei reaktiviert. Da die Schwester zu derselben Zeit wegen Bett¬
nässens elektrisiert wurde und dabei furchtbar schrie (auch der Patient
selbst war eine Zeitlang Bettnässer), gab es nur die zwei Möglichkeiten:
Entweder das Elektrisieren war die Kastrationsstrafe für sexuelle Unarten,
dann droht sie nach der Schwester auch ihm. Oder es war eine ärztliche
Maßnahme wegen des schon fehlenden Penis, der seinem Sadismus zum
Opfer gefallen ist, — dann erwartet ihn erst recht die Talionsstrafe der
Kastration. In dieser Angst nun hat er den Sadismus ganz eingestellt und
gegen sich selbst gewendet, mit der an das Unheil erinnernden Schwester
nichts mehr zu tun haben wollen und sie durch ihre Kleider ersetzt, die
die verräterische Nacktheit wieder aufhoben. Die Badewanne (übrigens
später das Wasser überhaupt) blieb der Ort des Schreckens; daß die Angst
die Form annahm, das abfließende Wasser könnte einen Finger oder den
ganzen Körper mit sich reißen, daß sie sich auf das Klosett verschob, wo
28
Otto Fenidiel
die Spülung mit den Stuhlmassen das ganze Kind mitreißen könnte, wird
uns noch beschäftigen. So weit ging alles nach dem Schema, das Freud
vom Fetischismus entworfen hat.
Der Patient wurde aber Transvestit, weil zu diesem Festhalten am
weiblichen Penis die Identifizierung mit der Frau trat. Daß der Patient
selbst die Schwester spielte, sie sein wollte, wurde in den späteren Jahren
überdeutlich. Er dachte sich immerfort in ihr Leben hinein, fühlte sich
z. B. später an den Menstruationstagen seiner Frau unwohl. Von der Straf¬
seite her hieß es: Habe ich der Schwester Böses zufügen wollen, so muß
ich jetzt Schwester werden, um mir Böses gefallen zu lassen. Von der
Triebseite her gab es genug Grund, die Schwester zu beneiden. Sie war
die ältere und wurde zweifellos von beiden Eltern bevorzugt; besonders
auf ihre Beziehung zur Stiefmutter, die mit ihr „weibliche Geheimnisse^^
hatte, war er sehr eifersüchtig. Später erkrankte er neurotisch, als die
Eltern die Schwester verheiraten wollten; die Analyse ergab den eifer¬
süchtigen Gedanken: Warum verheiraten sie sie und nicht mich? Für die
tieferen Schichten bedeutungsvoll ist die Erinnerung an einen heftigen
Neidanfall, als die Schwester einmal zu Weihnachten von der Mutter in
besonders feierlicher Weise eine besonders schöne Puppe geschenkt bekam.
Bei solcher Ambivalenz war nach innerem Verbot der Objektbeziehung
durch Kastrationsangst die Regression zur Identifizierung vorgezeichnet.
Diese Identifizierung mit dem Mädchen mußte aber erst recht auf die
allerheftigste Kastrationsangst stoßen. Ihr Einfluß wirkt sich in der Ziel¬
setzung aus: Ich möchte meine Schwester sein und dennoch meinen Penis
behalten. — Bei seiner transvestitischen Betätigung pflegt sich der Patient
nach erfolgter Ejakulation die Kleider so rasch wie möglich wieder vom
Körper zu reißen. Dazu fiel ihm ein: Man hatte gedroht, wenn man
Grimassen schneide und die Uhr schlage, bleibe es stecken. So fürchtete
er, er könnte im „Weibsein“ wirklich stecken bleiben, d. h. den Penis
opfern müssen. Die transvestitische Aktion soll die Kastrationsangst wider¬
legen. Beweisend dafür ist die Erinnerung, daß er, als er einmal einen
verkrüppelten Jungen sah, den Impuls verspürte, mit ihm die Kleider zu
wechseln. Das hieß: Es ist nicht wahr, daß der Junge verkrüppelt ist.
Der Patient verband seine Weiblichkeit mit einer naiv-narzißtischen Liebe
zu seinem eigenen Penis, den er als Kind mit Kosenamen belegte; ja, der
Mädchenname, den er als Mädchen führen wollte, hatte mit diesem Penis¬
kosenamen auffallende Ähnlichkeit. Als er zum erstenmal mit Frauen zu
tun hatte, wußte er nicht, wo die Scheide zu suchen sei, und suchte am
Oberschenkel. Auch jetzt noch hat er beim Sexualverkehr immer das
Gefühl, er müsse erst etwas suchen, was er nicht finden könne. — Bei
Zur Psydiologie des Transvestitismus
29
einer der Theateraufführungen, bei denen er ein Mädchen agierte, stellte
er auch einen Osterhasen dar; er erinnert sich, daß er traurig war, weil
ihm Ohren und Schwanz des Hasen nicht steif genug erschienen. — Die
so erwiesene phallische Natur der von ihm agierten Frau wird verständ¬
licher, wenn wir uns vor Augen führen, unter welcher ungeheuren
Kastrationsangst dieser Mann stand. Wir erwähnten die Kastratrixrolle der
Stiefmutter. Für die zahllosen Kastrations-Deckerinnerungen ein einziges
Beispiel: Der Patient mußte zwangsweise nach seinem Penis fassen (analy¬
tisch: ob er noch da ist), die Zahl der Zehen zählen (ob keine fehlt).
Die Analyse deckte die Angst auf, die Mutter könnte ihm beim Reponieren
des Rektumprolapses den Darm rauben, wie er damals überhaupt fürchtete,
der Darm könnte ins Klosett fallen. Das Unheimliche an Klosett und
Badewanne war, daß Stuhl und Wasser einfach verschwunden, nicht mehr
da waren; so, fürchtete er, ist auch der Penis der Schwester verschwunden.
Dieselbe Vorstellung vom „Wegsein“ hatte er aber vom Sterben. Und das
schreckliche Geheimnis der Kastration verdichtete sich bei ihm völlig mit
dem schrecklichen Geheimnis vom Tode der ersten Mutter, Die unbewußte
Angst lautete nicht nur: Der Penis der Schwester ist durch sexuelle Be¬
tätigung verschwunden; sondern auch: Meine erste Mutter ist durch
sexuelle Betätigung gestorben. Entsprechenderweise litt der Patient, besonders
in seiner späteren Hypochondrie, unter der heftigsten Todesangst (besonders
Infektionsangst, siehe später). Im Speziellen führte die analytische Ver¬
folgung dieser Angst über die Vorstellungen der schwarzen Farbe und der
Haare (er selbst trug als Kind langes Haar, fürchtete das Haarschneiden,
bewahrte seine abgeschnittenen Locken auf; seine Stiefmutter trug falsches,
d. h. abnehmbares Haar, Kopfhaar stand für Schamhaar) auf ürszenen-
träume, auf Gelegenheiten, bei denen er lange vor der Erfahrung an der
Schwester von der Beschaffenheit des mütterlichen Genitales unter Angst
und Protest Kenntnis genommen hatte.^
So erwies sich der Transvestitismus als ein Versuch, diese Ängste zu
beschwichtigen. Es gibt phallische Mädchen: Ich selbst bin eines.
Nun zur neuen Objektsuche nach vollzogener Identifizierung und damit
zu der hinter der Schwester gelegenen Mutterbeziehung:
überdeutlich war der Narzißmus. Er liebte nicht nur sich als Mädchen
(Szenen, Stellungen vor dem Spiegel, Liebe zum langen Mädchenhaar), er
liebte auch als Mädchen aktiv sich so, wie er von der Schwester gerne
1) Das weibliche Genitale wird bei solchem Anblick nicht nur wegen seiner
Ahfl' r"» drohende Waffe gefürchtet. (Klosett und Badewannen-
T® als fressendes Maul.) S. meine Arbeit „Zur Angst vor dem Gefressen-
werden«, diese Ztschft. Bd. XIV, (1928) S. 404.
30
Otto Fenichel
geliebt worden wäre. So träumt er, daß er einen kleinen Jungen umarme
und zu ihm zärtlich sage: „Mein Brüderchen!“
Auch zur eigentlichen neuen Objektsuche wollen wir mit einem Traum
beginnen. Er lautet: „Meine Frau hat eine Lungenkrankheit, Eine große
Frau macht ihr von hinten einen Stich in den Rücken, Dann hin ich mit
nacktem Oberkörper in einem Theater,^ — Die Exhibitionssituation am
Schluß bereitet uns darauf vor, daß der Traum ein transvestitischer ist.
Tatsächlich leidet der hypochondrische Patient an der Angst vor Lungen¬
krankheiten. Er ist also die Frau, der eine andere von hinten einen Stich
macht. Zu diesem Stich fallen ihm Zäpfchen, Phantasien von analer Gift¬
applikation und schließlich Klystiere ein, die ihm als Kind die Stiefmutter
verabreicht hatte. Vor dem Einschlafen hatte der Patient transvestitiert. Also
Deutung: Wenn ich in Frauenkleidern bin, möchte ich, daß die Stief¬
mutter mir etwas in den Popo steckt, ich habe aber auch Angst davor.
— Die passiv-analen Wünsche in der Feminität waren in der Übertragung
überdeutlich geworden, die Klystier- und Prolapserinnerungen zeigten, daß
sie der phallisch gedachten Mutter galten. Hieher gehören die Sklavinnen¬
phantasien und der Sinn war: Ich möchte von der Stiefmutter wie ein
kleines Mädchen behandelt werden, ich brauche aber die Kastration dabei
nicht zu fürchten. — Dem entsprachen zwei Frauenimagines des Patienten,
die streng unterschieden waren, das „kleine Mädchen“ und die „Amazone“,
d. h. die Schwester und die Stiefmutter. Die Kleider wollte er nur von
Frauen des ersten Typs anlegen, masochistisch behandelt sein wollte er
nur vom zweiten maskulinen Typ.
Als diese anale Abhängigkeit von der Frau eruiert war, schien es nahe¬
liegend, folgendermaßen zu denken: Der Patient hat insoferne einen nor¬
malen Ödipuskomplex, als auch er bei der Mutter die Stelle des Vaters
einnehmen will. Nur war die Stellung dieses realen Vaters zu dieser Stief¬
mutter eine passiv-anale gewesen; ebenso will der Patient zur phallischen
Mutter passiv-anal eingestellt sein. Tatsächlich ließ die Stiefmutter dem
Vater anale Pflege angedeihen, tatsächlich wünschte der Patient seinem
Vater auch aus diesem Grunde den Tod. —
Aber nicht immer war der Vater dem Kinde so hilflos-passiv erschienen.
Auch er war einmal mächtig und aktiv gewesen, und in tiefster Schichte
galt die feminine Einstellung des Patienten doch dem Vater.
Die Analyse der sozialen Gehemmtheit des Patienten brachte den Beweis,
daß seine Passivität und Angst nicht den Frauen, sondern im Grunde den
Männern galt. Auch die Exhibition, die Sehnsucht, von der unbestimmten
Allgemeinheit als Frau bewundert zu werden, galt den Männern. Für den
Vater der infantilen Frühzeit tauchte dann erst eine vergessene Deckfigur
Zur Psydiologie des Transvestitismus 31
in der Erinnerung auf, ein Tischler, der im Hause gearbeitet hatte, und
von dem der Patient sich hatte bewundern lassen. Dann geschah es, daß
der Patient den Drang spürte, sich vor dem Bilde des Vaters selbst um¬
zukleiden. Und endlich kamen die Erinnerungen an ängstliche und deut¬
lich sexuelle Erregungen, wenn er mit dem Vater im Bett gelegen hatte.
Besonders eklatant war aber, wie viele Gehemmtheiten im realen Verkehr
mit Männern dem Patienten jetzt plötzlich einsichtig wurden! — Unklar
wurde das Bild noch einmal durch eine aus der späteren Kindheit auf¬
tauchende Erinnerung: Ich habe dem Vater etwas in den Popo stecken
wollen. Wir konnten deuten: Ich will dich, Vater, genau so lieben, wie
es die Stiefmutter tut, mußten aber doch annehmen, daß vor dem Wunsch,
etwas in den Vater zu stecken, der bestanden haben muß, von ihm etwas
hereingesteckt zu bekommen. Es stimmte doch, daß der Patient sich mit
der Stiefmutter nicht identifiziert hatte; sondern hinter der Identifi¬
zierung mit der Schwester stand die mit der ersten, mit der echten Mutter.
Vergiß nicht das Andenken an deine erste Frau, sie lebt ja in mir weiter,
rief der Patient dem Vater zu, liebe mich, deine erste Frau, mehr als die
Stiefmutter! Und die schreckliche Angst, die sich solchem Wunsche ent¬
gegenstellte, war die: Hat die Mutter nicht sterben müssen, weil sie sich
vom Vater lieben ließ? So werde auch ich sterben müssen. Und jetzt
wurde verständlich, daß die ungeheure Kastrationsangst, die im Trans-
vestitismus aus der Welt geschafft werden sollte, letzten Endes eine Angst
davor war, vom Vater geschwängert zu werden. Das war der Sinn der
Infektions-, Vergiftungs- und Wasserangst und einer Anzahl Gebärneid-
Deckerinnerungen. Das Kind muß phantasiert haben, daß seine Mutter an
einer Schwangerschaft zugrunde gegangen sei, muß zu der Theorie ge¬
kommen sein: Kinderkriegen kostet den Penis — und im Transvestitismus
einen Versuch machen, auch diese Angst zu leugnen: Ich darf mir Weib¬
sein, Gebärmöglichkeit wünschen und doch meinen Penis behalten!^
III
Wir haben alle im ersten Teil behaupteten Thesen am Material be¬
stätigt. Fragen wir uns nun nach einer pathognomonischen Ätiologie des
Transvestitismus, so müssen wir sagen, eine solche haben wir nicht auf-
1) Die tiefere Analyse der narzißtischen Schichten ergab schließlich, daß die
Identifizierung mit der toten Mutter (dem „Geist“ der Mutter) durch Introjektion
(Einatmung) erfolgt ist, und daß im Unbewußten die introjizierte Mutter und der
eigene Penis gleichgesetzt wurden. So galt die symbolische Gleichung: P. in Frauen¬
kleidern = Mutter mit Penis = Penis überhaupt. — Siehe die Ähnlichkeit des
ersehnten Mädchennamens mit dem Kosenamen des Penis.
32 Otto Fenidiel
gedeckt. Eine besondere bisexuelle Anlage müssen wir jedenfalls annehmen,
ohne sie hätte z. B. der Gebärwunsch nie eine solche Bedeutung gewinnen
können, — obwohl wir nicht wissen, ob der starke Sadismus des Patienten
bei anderen Erlebnissen nicht auch eine männliche Entwicklung ermög¬
licht hätte. Aber diese Konstitution ist beim Homosexuellen nicht anders
als beim Transvestiten. — Auch die Erlebnisreihe Urszene—Kastrations¬
angst—Ausweichen in Femininität bei narzißtischer Grundlage kommt auch
sonst vor und wir wissen noch nicht, unter welchen Umständen der phal-
lische Glaube in spezifisch transvestitischer Weise festgehalten wird, denn
diese Reihe kommt auch bei anderen Krankheiten vor. Allerdings tritt
der Transvestitismus gerade mit diesen Krankheiten — narzißtische Neu¬
rosen, Hypochondrie, man denke an den Fall von Alexander,* andere
Perversionen — häufig kombiniert auf. Unser Fall schien überdies deter¬
miniert durch spezielle Milieuverhältnisse, die Charaktere von Vater,
Mutter und Schwester und deren Zusammenspiel schienen den Patienten
in seine Rolle hineinzuzwingen. Aber auch solche spezielle Milieuumstände
scheinen nicht selten zu sein, wenn man bei allen Autoren von Trans¬
vestiten liest, deren Mütter sich so sehr eine Tochter gewünscht hatten l
Ellis führt sogar diesen Umstand fälschlich als Beweis für die rein
hereditäre Ätiologie des Transvestitismus an.
Was in der analytischen Literatur über Transvestitismus bisher mit¬
geteilt wurde, steht unseren Befunden außerordentlich nahe. Wir haben
diese nur dank der inzwischen erschienenen Arbeiten von Freud theore¬
tisch einheitlicher beschreiben können als Sadger® und Boehm .3 Sadger
kam für den Transvestiten zu folgender zusammenfassender Formel: „Als
Weib werde ich von der Mutter, ja, eigentlich von allen, mehr geliebt;
wenn ich den Kittel der Mutter anlege, ist mir, als wäre ich sie selbst
und könnte als solche den Vater reizen oder sie sogar bei ihm ausstechen;
endlich findet ein Dritter am Rock des Weibes das gleiche Gefallen wie
an diesem selbst, erblickt also in dem Anlegen des Kittels einen Geschlechts¬
akt.“ In dieser richtigen Formel fehlt unseres Erachtens das so wichtige
phallische Moment, das an anderer Stelle akzidentell allerdings auch mehr¬
mals von Sadger erwähnt wird, obwohl er wieder an anderer Stelle
im Gegensatz dazu sagt, der Fetisch stelle die Vulva vor. B o e h m wieder
betont isoliert eben diesen phallischen Charakter („Sie stellen in ihren
Verkleidungen die Mutter, mit dem Penis versehen, dar“)* und den sadi-
1) Alexander: Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit. VII. Vorlesimg.
2) „Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen.“ Wien 1921.
5) „Bemerkungen zum Transvestitismus.“ Diese Zeitschr., Bd. IX, S. 497.
4) Dr. Boehm hatte die Freundlichkeit, mir mitzuteilen, daß weitere Analysen
von Transvestiten ihn in dieser Ansicht noch weiter bestärkt haben. Einer seiner
Zur Psydiologie des Transvestitismus 33
stischen Charakter der ursprünglichen auf die Mutter gerichteten Wünsche.
St ekel, allzu begnügsam, sagt nur, daß unbewußte Homosexualität und
Mutterfixierung dem Transvestitismus zugrunde liegen. — Die voranaly¬
tische Literatur sagt dem Analytiker allzu wenig, und doch zeigt auch
das manifeste Material der dort mitgeteilten Fälle allerhand Bestätigendes.
Wir sehen neben dem Transvestitismus einherlaufende fetischistische,
masochistische, exhibitionistische Tendenzen, Narzißmus, Herrin-Sklavin-
Phantasien, Identifizierungen mit der Mutter, ältere verführende Schwestern,
Abneigungen gegen körperliche Sexualität, besonders gegen Nacktheit,
gegen den nackten weiblichen Körper, gegen Homosexualität, die y,retour
a Venfance'^ (E 11 i s), aber auch Sehnsucht nach virilen Frauen (Hirsch¬
feld). Ein Fall von Hirschfeld kommt zum Transvestitismus dadurch,
daß er als Kunstschützin auftritt, sich also öffentlich als „Frau mit Gewehr“
bewundern läßt.^ Ein Fall von Ellis scheint zu widersprechen, weil ihm
die Kastration selbst allzu deutlich Sexualziel ist, aber gerade dieser Fall
zieht Schuhe und Ohrringe der Frauen an, d. h. er wünscht zwar die
Kastration, sie muß aber immer wieder ungeschehen gemacht werden.^ Fälle
von realer Selbstkastration bei Transvestitismus oder von Ekel vor dem
männlichen und Sehnsucht nach dem weiblichen Genitale müßten erst
analytisch untersucht werden, bevor man über sie Aussagen machen
könnte. Die Theorie von Ellis: In jeder normalen Liebe stecke ein
Stück Identifizierung; hier sei dieses Stück hypertrophiert, ,,he has put
too much of yme^ into the ^you that attracts hirriy'^ erscheint uns richtig,
aber unvollständig. Wir glauben über Charakter und Ursachen dieser
Identifizierung einiges ausgesagt zu haben. Ebenso richtig und unvoll¬
ständig ist seine Formel über die Beziehung zur Homosexualität, sie und
der Transvestitismus seien „zwei allotrope Modifikationen der Bisexualität'',
denn man kann auch differentiell die Charakteristik dieser Modifikationen
angeben.
IV
Wenn wir so die Beziehung zum Kastrationskomplex als das spezifische
Moment erkannt haben, fragen wir uns, ob dieses Resultat die Perversions¬
psychologie überhaupt etwas zu fördern imstande ist. Eine Untersuchung
von Sachs zeigte uns, daß der Perverse dadurch charakterisiert ist, daß es
Patienten pflege sich eine Flasche auf seinen Penis zu stülpen, dann Frapenkleider
nzuziehen ^d so vor dem Spiegel zu tanzen und schließlich zu onanieren,
ij »Die Transvestiten.“ Fall V.
a) L. c., Ss. 65 ff.
3) L. c., S. io8.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i
3
34 Otto Fenidiel, Zur Psydiologie des Transvestitismus
ihm gelingt, einen Teil seiner infantilen Sexualität auf die Seite des Ichs
zu ziehen, sich zu gestatten und eben dadurch den Rest (den Ödipus¬
komplex) in der Verdrängung zu halten." Das Rätsel ist, wieso dieser
Prozeß möglich ist, unter welchen Umständen perverse Partialtriebe
Orgasmus Fähigkeit behalten oder erringen können. Seit wir nun wissen,
daß alle Perversionen, inklusive des Transvestitismus, so eng mit dem
Kastrationskomplex Zusammenhängen, wird eine hypothetische Antwort
möglich: Normalerweise bedingt die Kastrationsangst das Schwinden der
infantilen Sexualität (den Untergang des Ödipuskomplexes).Wenn nun
der Homosexuelle penislose Wesen überhaupt nicht ansieht, der Fetischist
ihre Existenz leugnet, der Exhibitionist, Voyeur und Transvestit sie fort¬
während zu widerlegen sucht, so sehen wir, daß diese Perversen durch
Leugnung der Ursache ihre Angst zu überwinden suchen. Soweit ihnen
die Illusion: Es gibt keine Penis]osigkeit, gelingt, ersparen sie Angst und
können deshalb sich infantil-sexuell betätigen, weil ihre die infantile
Sexualität sonst hindernde Kastrationsangst um so viel geringer ist, als die
Leugnung ihrer Begründetheit wirkt. Allerdings aber auch nur so
weit. D. h. diese Betätigung ist gebunden an eine gleichzeitige fort¬
währende neuerliche Leugnung des Angstgrundes, die die perverse Handlung
darstellt. Der Perverse sagt in seinem Tun: Du brauchst dich nicht zu
fürchten! — und darf, soweit er sich selbst glaubt, bei infantil-sexueller
Betätigung zum Orgasmus kommen, der die Befriedigung seiner Ödipus¬
wünsche bedeutet.
Allerdings werden dadurch die weiblichen Perversionen um so pro¬
blematischer, wie das Gesamtgebiet des weiblichen Kastrationskomplexes.
Tatsächlich hat man den Eindruck, als ob sie zum Teil wirklich anderer,
wenn auch verwandter Natur wären als die männlichen Perversionen.
Wenn man etwa an weibliche Exhibitionisten denkt und an die Arbeit
von Harnik über die Unterschiede des Narzißmus bei Mann und
Frau,3 leuchtet das ein. Weibliche Fetischisten sind äußerst selten. Weib¬
liche Transvestiten scheinen einfach Penisneidige zu sein, die sich mit
Männern um ihres Penisbesitzes willen identifiziert haben.
1) „Zur Genese der Perversionen.“ Diese Zeitschr., Bd. IX, S. 172.
2) S. Freud: „Der Untergang des Ödipuskomplexes.“ Ges. Sehr., Bd. V.
5) H ä r n i k: „Schicksale des Narzißmus bei Mann und Weib.“ Diese Zeitschr.
IX, S. 278.
Die Bedeutung der femininen Identifizierung für
die männliche Impotenz
Vortrag auf dem XL Internationalen Fsychoanalytischen Kongreß in Oxford^ Juli 1929
Von
Maxim. Steiner
Wien
Ein Sexualarzt, der im Laufe der Jahre viele hunderte Fälle von männ^
lieber Impotenz gesehen hat, bekommt mit der Zeit eine gewisse Erfahrung
und wird je nach seiner Einstellung zu gewissen Gesichtspunkten gelangen,
die es ihm ermöglichen, den jeweils vorliegenden Fall in eine bestimmte
Gruppe einzuordnen, vornehmlich um Anhaltspunkte für die Prognose und
für das therapeutische Vorgehen zu gewinnen. Er wird dann, geleitet von
diesem vorwiegend praktischen Gesichtspunkte, verschiedene Gruppen von
Fällen unterscheiden können, beginnend von den leichtesten, die nur
geringfügige Störungen zeigen, bis zu den schwersten, bei denen es sich
um ganz ausgesprochene Schädigungen der Arbeits- und Genußfähigkeit
handelt. Betrachten wir nun diese Fälle vom Standpunkte des Analytikers,
so sind nur diese letzteren, wo die Potenzstörung ein Teilsymptom einer
gewöhnlich schweren Neurose darstellt, für die richtige klassische Kur
geeignet. Die ersteren sind weder geneigt, sich einer solchen Behandlung
zu unterziehen, noch wäre es auch ratsam, sie bei ihnen durchzuführen,
wenn sie dazu bereit wären. Ich wenigstens hätte dabei das Gefühl, mit
Kanonen auf Spatzen zu schießen. Zwischen diesen ganz leichten und den
ganz schweren Fällen steht aber eine große Schar von Männern, bei denen
es sich schon nach oberflächlicher Fühlungnahme ergibt, daß nicht nur
eine Beeinträchtigung der Genußfähigkeit, sondern auch eine Störung in
der Struktur der Gesamtpersönlichkeit vorliegt — Männer, die ganz gut
wissen, daß etwas bei ihnen nicht klappt und auch intelligent genug sind,
ihren Defekt als vorwiegend psychisch zu erkennen, und von diesen
^ wiederum ist es eine Gruppe, die durch Intelligenz und einen gewissen
Charme ganz besonders hervortritt, und das ist die Gruppe, mit der sich
5*
36
Maxim. Steiner
mein heutiger Vortrag befaßt, nämlich die Männer, für deren Sexualstörung
die feminine Identifizierung als ätiologisches Moment anzusprechen ist.
Die feminine Identifizierung spielt schon beim normalen Manne eine
bedeutende Rolle. Das Weib ist für ihn nicht nur Liehesobjekt, sondern
er interessiert sich noch außerdem für ihr ganzes Tun und Treiben, das
ihm eigenartig und geheimnisvoll erscheint. Er interessiert sich nicht nur
für ihre Kleidung und ihre Allüren, sondern auch für ihre Gedanken-
und Gefühlswelt. Männer sind es, die alle die tausend Dinge erfinden und
erzeugen, die bestimmt sind, dem Weibe das Leben hienieden angenehm
zu machen, Männer sind es großenteils, die das weibliche Lern- und
Unterhaltungsbedürfnis decken, Männer sind es, die sich mit den spezifisch
weiblichen Erziehungsfragen befassen, die sich um ihre körperlichen und
seelischen Leiden mühen, und Männer sind es ja auch, die die Vorkämpfer
der weiblichen Emanzipation gewesen sind. Diese sozusagen physiologischo
feminine Identifizierung spielt eine große Rolle in unserer Gesellschaft
und wird mit zunehmender Kultur und Zivilisation eine immer größere
Rolle spielen. Sie hat gewisse Vorteile im Sinne einer Verfeinerung der
ursprünglich rauhen männlichen Sitten, einer Unterdrückung so mancher
Roheiten und Rrutalitäten, sie hat aber auch zweifellose Nachteile, denn
sie führt zur Verweichlichung in körperlichen und seelischen Belangen,,
vielleicht sogar zu manchen Verfallserscheinungen, die ich wohl nicht des
näheren auszuführen brauche. Wir opfern, wie Freud sagt, für jedes
Stück Kultur, das wir erwerben, auch ein Stück unserer Potenz. Die
physiologische Identifizierung geht aber noch darüber hinaus, und wir
Männer finden die Einfühlung nicht nur in das normale Tun und Lassen
des Weibes, sondern auch in seine Launen, Kapricen und Extravaganzen,,
nicht zuletzt auch in seine Perversionen. So spielen z. B. vielleicht infolge
größerer Hilfsbedürftigkeit und eines gewissen Anlehnungsbedürfnisses
homosexuelle Tendenzen beim Weib eine weit größere Rolle als beim
Mann. Auch in diese vermag er sich recht gut einzufühlen; so findet er
es z. B. ganz charmant, zwei weibliche Wesen miteinander kosen zu sehen,
er findet es auch recht nett, wenn zwei Frauen miteinander tanzen,,
während ihm ein analoges männliches Verhalten abstoßend erscheint. (lu
parenthesi gesagt, bringen die Frauen der männlichen Homosexualität
gegenüber eine ähnliche Toleranz nicht auf und ihre Einstellung ist in
diesen und ähnlichen Fällen kein Spiegelbild, sondern eine Kopie des
männlichen Verhaltens.)
Wir sehen nun recht häufig, daß diese physiologische feminine
Identifizierung ins Pathologische ausartel, und müssen uns fragen, aus
welchen Gründen das geschehen kann. Die naheliegenden konstitutionellen
Die Bedeutung der femininen Identifizierung für die männlidie Impotenz 37
Momente, die zu so einer Anomalie führen und mit deren Studium die
moderne biologische Forschung so intensiv beschäftigt ist, fallen, so interessant
sie auch sein mögen, aus dem Rahmen dieses Vortrages^ da sie durch
psychologische Methoden weder zu erkennen noch zu beeinflussen sind.
Dagegen kommen für uns die psychischen Bedingungen in Betracht, die
zur pathologischen femininen Identi/izierung des Mannes führen
können. Aber auch beim Studium dieser Bedingungen werden uns Einsichten,
die wir unserer Lebenserfahrung danken, wesentlich fördern. Das traurige
Erlebnis des nun glücklicherweise hinter uns liegenden Krieges hat uns
wie in einem Massenexperiment den Mechanismus aufgezeigt, wie die
pathologische feminine Identifizierung zustande kommen mag. In wie vielen
Männern hat sich wohl damals das intensive Verlangen nach weitestgehender
femininer Identifizierung geregt! Und in analoger Weise wird dieser Wunsch
in allen Fällen auftauchen, wo sich der Mann jedem anderen Kampf,
namentlich dem Kampf ums Dasein, nicht gewachsen fühlt. Bei der Stärke
der Motive, die zu dieser Flucht in die feminine Identifizierung führen,
ist es nicht zu verwundern, daß sie, wenn einmal zustande gekommen,
zähe festgehalten wird, namentlich wenn das Motiv wie in unseren Fällen
stets unbewußt und aus einer frühinfantilen Konstellation hervorgegangen
ist. Wie mag diese Ödipussituation aussehen? Der Knabe begehrt die
Mutter, da er aber nicht den Mut aufbringt, mit dem Vater um das
Liebesobjekt zu kämpfen, so sucht er seine Absicht durch List zu erreichen.
Er bringt es zuwege, sich durch Hilfs- und Schutzbedürftigkeit die Intimität
mit der Mutter zu erschleichen. Sie dauernd festzuhalten, wird ihm um
so eher gelingen, je mehr er sich in allen Stücken ihr anpaßt, also je
mehr er sich mit ihr identifiziert (siehe Jakob und Rebekka). Bei diesem
atypischen Ablauf des Ödipuskonfliktes kommt es zu keiner ehrlichen
Erledigung, also auch zu keinem Mutterverzicht. Diese Identifizierung ist
dem Knaben ein Ersatz für das freiwillig geopferte Stück Männlichkeit.
Er hat sich dadurch heimlich ein Kapital reserviert, das ihm für das
ganze künftige Leben die Chance einer gewissermaßen weiblichen Sexual¬
befriedigung ermöglicht. Bei diesem Knaben verläuft auch die spätere
Kindheit atypisch. Die Periode des Knabenstolzes, gepaart mit Mädchen¬
verachtung, fehlt bei ihm entweder ganz oder sie ist nur rudimentär.
Dagegen trachtet er, sich dem weiblichen Idol möglichst anzugleichen,
in die weiblichen Mysterien einzudringen, und genießt auf diese Weise
wenigstens in der Phantasie ein Stück Sexualität in der Epoche, in die
bei normalen Knaben die Latenzzeit fällt. Er verhält sich den heranreifenden
Mädchen seines Kreises gegenüber nicht so verständnislos wie der Durch¬
schnittsknabe, sondern etwa wie ein Mädchen, das noch nicht entwickelt
38 Maxim. Steiner
ist, und sich von den anderen bereits in die Pubertät gelangten zurückgesetzt
und von ihren Geheimnissen ausgeschlossen sieht.* Er onaniert mit weiblich
homosexuellen Phantasien, meist masochistischen Charakters, läßt sich auch
wahlweise in männlicher oder weiblicher Rolle vom Weibe schlagen oder
vergewaltigen. Der aktuelle masturbatorische Akt wird in vielen Fällen
durch Friktion der Mamilla eingeleitet, mitunter auch zu Ende geführt.
Aber* auch wenn er am Genitale ausgeführt wird, spielt die Lustempfindung
an der Brv stwarze oft eine gewisse Rolle. Die Masturbation am Genitale
erfolgt meistens nicht durch Friktion des Penis, sondern durch Streichen
am Damm, durch Quetschen des Penis zwischen den Schenkeln, durch
Zuhilfenahme einer Kletterstange oder anderer Instrumente, oder durch
alle möglichen Manipulationen in Rückenlage. Manche masturbieren vor
dem Spiegel mit dem zwischen den Schenkeln eingepreßten und somit
versteckten Penis, andere in Frauenkleidern, um die entsprechende Illusion
herzustellen. Einer meiner Patienten, der nie zu einer genitalen Onanie
gelangt war, fand seine Lust am bloßen Probieren von weiblichen
Kleidungsstücken vor dem Spiegel, ein anderer im Beriechen getragener
weiblicher Wäschestücke. Übrigens spielt der Spiegel fast bei allen eine
große Rolle. Die meisten sind stark narzißtisch eingestellt, sehr soigniert
und tun sich auf Kleidung, Manieren, Auftreten viel zugute. Bei manchen
tritt der Narzißmus in einer betonten, selbstgefälligen Schönrednerei zutage.
Sehr häufig wird vom Patienten an der Idee eines weiblichen Penis fest¬
gehalten, zu einer Zeit, da andere Knaben schon aufgeklärt sind; muß er
sie aber notgedrungen aufgeben, so treten als Ersatz fetischistische Besetzungen
aller prominenten weiblichen Körperpartien auf, während das Interesse für
die weiblichen Kavitäten in den Hintergrund tritt. Treten solche Männer
in aktuelle Sexualbeziehungen zu Frauen, so zeigen sie eine Vorliebe für
mutuell masturbatorische Manipulationen, für Fellatio resp. Cunnilingus
oder ähnliche Betätigungen, die ihnen die Realisierung ihrer Phantasien
fast störungslos ermöglichen. Manche meiner Patienten erzielten die Lust¬
empfindung nur dadurch, daß sie das Eintreten des Orgasmus bei ihrer
Partnerin feststellen konnten. Lassen sich solche Männer notgedrungen zu
einem richtigen Koitus herbei, dann muß ihnen die Umkehrung der
Position zur Lust verhelfen. Wenn auch dieser Ausweg unmöglich wird,
bleibt ihnen nichts übrig, als bei Ausübung des Verkehres zu Hilfs¬
vorstellungen ihre Zuflucht zu nehmen.
i) Einer meiner Patienten hatte diese Ideologie auf ein anderes Gebiet verschoben.
Er war Christ, hatte aber den heißen Wunsch, den Juden zuzugehören, denen
gegenüber er sich minderwertig fühlte und denen er Fähigkeiten und Geheimnisse
zumutete, von denen er sich ausgeschlossen wähnte.
Die Bedeutung der femininen Identifizierung für die männliche Impotenz 39
Die Einstellung dieser Männer verleiht den Beziehungen zur Frau oft
eine eigenartige Note. Sie haben angesichts eines schönen Weibes nicht
den ausschließlichen Wunsch nach Besitzergreifung, sondern auch eifer¬
süchtige Regungen, wie sie eine Konkurrentin (Rivalin) empfinden würde.
Sie haben daher immer auch die Tendenz, die Vorzüge des Weibes herab¬
zusetzen, ihre Koketterien und kleinen Tricks zu durchschauen. Dieses
Verhalten ermöglicht es ihnen, beim unvermeidlichen Kampf mit männ¬
lichen Konkurrenten um die Gunst des Weibes zurückzutreten, ohne an
Selbstachtung einzubüßen. Gelangt so ein Mann aber trotzdem zu einem
Verhältnis mit einem Weibe, so ist er ihr gegenüber stets viel kritischer
als ein Vollmann, er läßt sich nicht so leicht von ihr bluffen. Die Be¬
friedigung, wenn sie überhaupt zustande kommt, ist nicht nachhaltig und
läßt jedenfalls Raum für eine oft feindselige Einstellung zur Partnerin,
also ein Verhältnis, in dem Zu- und Abneigung oft wie Ebbe und Flut
wechseln (Strindberg), wie es etwa bei Mädchenfreundschaften gang und
gäbe ist. Solche Männer können mit der Frau kaum je auskommen,
aber ohne sie auch nicht. Man könnte zur Charakterisierung ihrer Ein¬
stellung sagen, sie haben nicht das Verhältnis, sondern das Verhältnis hat
sie, und sie verstricken sich darin wie in einem unentwirrbaren Problem.
Gelingt es solchen Männern auf maskulin identifizierte Frauen zu stoßen,
so können sie ihre Phantasien befriedigend realisieren. Normale Frauen
stehen ihnen verständnislos gegenüber und der Konflikt wird manifest.
Mitunter wird der Konflikt auf ein Nebengeleise verschoben. So flüchtete
einer meiner Patienten in die Musik, in der er für seine Phantasie
entsprechende Anregung fand und die auch die Scheidewand zwischen
ihm und seiner nüchternen unmusikalischen Frau herstellte. Die weitest¬
gehende feminine Identifizierung tritt in manifest homosexuellen Neigungen
und Beziehungen zutage, in denen der Patient seiner ganzen Struktur nach
naturgemäß die passive Rolle spielt.
Die Prognose aller dieser Fälle ist durchaus verschieden. Die schlechteste
muß man dort stellen, wo nicht nur eine Genuß-, sondern auch eine
Arbeitsstörung oder gar eine Charakterveränderung vorliegt. Man hat in
solchen Fällen oft den Eindruck, daß der Patient das Sexualsymptom nur
in den Vordergrund stellt, um seine eigentliche schwere Neurose vor dem
Zugriff des Arztes zu bewahren. Oft spielen natürlich auch konstitutionelle
und hormonale Faktoren mit, und man kann angesichts so mancher
finsterer Gesellen nicht umhin, die Vorsehung zu preisen, die solche
Menschen von der Fortpflanzung ausschließt. Die meisten Fälle, die man
zu sehen bekommt, sind aber glücklicherweise viel leichterer Art. Namentlich
solche, bei denen es sich um leichte Störungen mit erhaltenem Orgasmus
40
Maxim. Steiner
handelt. Da genügt oft einfachste Suggestionstherapie, kombiniert mit
organischen Behandlungsmethoden, die wohl nur als Unterstützung dieser
Suggestionstherapie zu werten sind. Das Gros der Patienten, bei denen
feminine Identifizierung vorliegt, bedarf nicht nur, sondern verlangt auch
nach einer systematischen psychischen Kur, und dazu ist die Psychoanalyse
durch Ihre Beziehung zu den Schicksalen der Libido prädestiniert. Doch
habe ich mir mit Rücksicht auf die Natur dieser Fälle, die als leichteste
Neurosen aufzufassen sind, eine Technik zurecht gelegt, die sich mir für
meine praktischen Zwecke außerordentlich bewährt hat.
Der Umstand, daß meist jüngere, arbeitsfähige Männer, die der Realität
nicht ganz entfremdet sind, in Betracht kommen, bringt es mit sich, daß
sie, obwohl überzeugt, daß bei ihnen ein psychischer Defekt vorliegt, und
obwohl bereit, sich einer psychischen Behandlung zu unterziehen, meist
nicht geneigt sind, eine allzulange Kur durchzumachen, abgesehen davon
daß sie auch nicht in der Lage wären, die Kosten hiefür aufzubringen!
Eine unentgeltliche Behandlung aber ist bei diesen Patienten noch viel
eplacierter als bei schweren Neurotikern, da damit eines der wichtigsten
timulantien für die Realitätsanpassung in Wegfall käme. Diese Erwägun
gen haben mich dazu geführt, eine Methode zu suchen, durch die auch
bei kürzeren Behandlungen der Heilzweck erreicht werden kann. Die Me-
hode besteht in größter Aktivität des Analytikers, raschester Herstellung
er Übertragung analog dem Vorgehen Anna Freuds bei der Kinder¬
analyse, geleitet von dem Bestreben, die Bedeutung der analytischen Situa¬
tion zu unterstreichen, ja sogar absichtlich ein wenig zu übertreiben.
lesem Bestreben kommen diese feminin identifizierten, meist intelligenten
und phantasiebegabten Männer willig auf halbem Wege entgegen, so daß
ihnen schon meist in den ersten Stunden die Bedeutung der Analyse als
dramatisches Erleben klar wird. Deutungen werden an der Hand des Traum
und Assoziationsmaterials reichlich gegeben, aber nicht oktroyiert, die Be
deutung der negativen Widerstände besonders hervorgehoben. Ge- und
Verbote auferlegt — alles im Dienste der übermächtigen Situation. Dadurch
wird einerseits eine möglichst große Konzentration in der Stunde erzielt,
andererseits fällt es dem Patienten nicht schwer, das Gebot zu befolgen’
außerhalb der Stunde der Kur keine Gedanken zu widmen, da er dies
ohne Mitwirkung seines lebhaft agierenden Gegenspielers gar nicht zu¬
wege brächte. So gelangt er in relativ kurzer Zeit nicht nur zum Ver¬
ständnis, sondern sogar zum Erleben der infantilen Situation, des Begriffes
der Kastration und Gegenkastration, der Umkehrungstendenzen, des Wieder¬
holungszwanges. Er erlebt Schuldgefühl und Strafbedürfnis und nicht ohne
Erschütterung das nochmalige Abrollen seines Lebensfilms in gedrängter
Die Bedeutung der femininen Identifizierung für die männliche Impotenz 4t
Kürze, schließlich auch Tod und Wiedergeburt. Ich möchte nicht un^
erwähnt lassen, daß ich nach mannigfachen Schwankungen dahin gelangt
bin, dem Patienten während der Dauer der Kur sexuelle Abstinenz auf¬
zuerlegen, da auch ich finde, daß die Libidostauung die Analyse befruchtet.
Das hat den Vorteil, daß auch die Übertretung des Verbotes durch Weckung
von Schuldgefühlen der Analyse nicht minder wertvolles Material lieferti
Der Patient begreift nach den eindringlichen Erlebnissen der Kur die rela¬
tive Bedeutungslosigkeit des Aktuellen im Vergleich zur Überwertigkeit
der psychischen Realität. Er fühlt schließlich die Erstarkung seines Ichs,
das die kriminellen Tendenzen des Es durchschaut und auch das strafende
Über-Ich als Popanz erkannt hat. Immer mehr kommen Emanzipations¬
bestrebungen zum Durchbruch, die vor der Degradation des Analytikers
und auch der Analyse nicht haltmachen. Die Träume ändern ihren Cha¬
rakter; ursprünglich angstvoll, werden sie später mehr reflektierend und
kritisierend. Hand in Hand damit geht eine Änderung der Gesamtpersöm
lichkeit, der Patient wird freier, heiterer, selbstbewußter. Aber auch ein
wichtiges, unzweideutiges Symptom, beweiskräftiger als alles andere, ist
wahrzunehmen. An Stelle der so häufigen anfänglichen Pollutionen und
Pollutionsträume treten Träume, aus denen der Patient mit kräftigem
Erektionen erwacht. An dieser Stelle will ich es ganz präzise aussprechen,
daß ich in Anlehnung an die Auffassung Abrahams von der Ejaculatio
praecox die namentlich im Anfang der Analyse auftretenden gehäuften
Pollutionen bei schlaffem Gliede als organisches Korrelat der femininen
Identifizierung, die Erektionen als das organische Korrelat der fortschrei¬
tenden maskulinen Identifizierungansehe. Das ist sehr bedeutungsvoll und
wird auch vom Patienten so empfunden, der bei diesem Anlaß die seltene
Gelegenheit hat, die Entstehung des organischen Symptoms aus dem
psychischen Material sozusagen in statu nascendi zu beobachten. In diesem
Stadium der Analyse^ tritt in Träumen und Assoziationen immer mehr
die Tendenz der Angleichung an den Analytiker in den Vordergrund; er
wird als Freund, Kollege usw. dargestellt, während er in der Anfangszeit
in allen möglichen weiblichen Gestalten, nicht selten auch als Kokotte
auftritt, anscheinend eine Anspielung darauf, daß er sich bezahlen läßt.
Auf diese Art wird die homosexuelle Beziehung zwischen Analytiker und
Analysanden ins Feminine transponiert.
Wenn man’s recht überlegt, scheint die Leistung dieser Analyse darin
zu bestehen, daß die perverse Phantasie auf das höhere Niveau der analy¬
tischen Situation verschoben und in ihrer ursprünglichen Form entwertet
wird, und daß dem Patienten der verbleibende intellektuelle und ethische
Gewinn eine hinreichende Entschädigung für diesen Verzicht gewährt.
42 Maxim. Steiner, Die Bedeutung d. femininen Identifizierung f. d. männl. Impotenz
Die Chancen der zustande kommenden Heilung sind insofern nicht un¬
günstig, als die aus der neurotischen Bindung nunmehr freigewordene
feminine Identifizierung so mannigfache SuhlimierungsmÖglichkeiten zu¬
läßt. Welcher Art diese sind, habe ich schon eingangs erwähnt. Das hängt
auch von der Orientierung des Patienten ab. Ist er Maler, Dichter oder
Komponist, so kann er diese Identifizierung in vollstem Maße der künst¬
lerischen Verwendung zuführen. Aber auch der Beruf des Arztes, des
Pädagogen, ja sogar der des Kaufmanns läßt für derartige Möglichkeiten
hinreichenden Raum. Ich komme zum Ende. Um Mißverständnissen vor-
zuheugen, will ich ausdrücklich betonen, daß ich meine Modifikation der
analytischen Kur durchaus nicht für die Behandlung schwerer Neurosen
empfehlen würde. Mein Verfahren bleibt ein Notbehelf, anwendbar für
solche leichteste Neurosen, wo die genuine Sexualität zwar ins Groteske
entstellt, aber noch nicht ins Neurotische verarbeitet ist. Und obwohl ich
mir der Schwächen dieser Üherrumplungsanalyse durchaus bewußt bin,
möchte ich sie nicht mehr missen, denn mit Hilfe dieses etwas ungera¬
tenen, aber legitimen Sprößlings der klassischen Analyse ist es mir doch
im Laufe der Jahre gelungen, vielen wertvollen Menschen, die oft schwer
deprimiert und durch Mißlingen allerverschiedenster Behandlungen ent¬
mutigt waren, zur Genuß- und Arbeitsfähigkeit zu verhelfen.
Kotsdimieren, Menses und weibliches Über-Icb
Von
Bertram D. Lew in
New York
1) Die Beziehung zwischen Haut- und Analerotik
Gewisse Befunde, über die ich in dieser Arbeit berichten werde, haben
mich veranlaßt, die Beziehung zwischen Haut- und Analerotik zu erfor¬
schen. Diese Befunde wiesen darauf hin, daß unter gewissen Umständen
die Haut als Ersatzorgan für die Befriedigung von passiv-analen Wünschen
dienen konnte, und sie führten mich dazu, die Rolle, welche die Phan¬
tasie des Kotschmierens spielen könnte, zu untersuchen. Kurz gesagt, das
Kotschmieren schien eine Analogie zu der Koprophagie zu bilden; der
Schmiertrieb schien durch dieselben Motive belebt, die der Koprophagie
zugrunde liegen, das heißt, durch den Wunsch, ein verlorenes Objekt wieder
ei nzuverleiben.
Um den Weg zu zeigen, auf dem diese Ergebnisse gefunden wurden,
berichte ich zuerst ein Bruchstück einer Krankengeschichte.
Der Patient A ist ein junger Mann von schwacher Genitalität, der sich
durch die Exhibition seines nackten Körpers erotisch befriedigt. Diese
Handlung bildet den unentbehrlichen Vorläufer zu einem lustvollen
Koitus, sie ist der weitaus genußreichste Teil des ganzen Aktes. Die Ex¬
hibition des Penis hat für ihn wenig Interesse, dagegen kann das bloße
Ausziehen der Kleider einen spontanen Orgasmus zustande bringen.
Während der Pubertät onanierte er gar nicht, kam aber zum spontanen
Orgasmus beim Baden, beim nackten Liegen auf dem Bett un^beim^
Turnen ohne Kleider. Während dieser Zeit beneidete er die Weiber, be¬
trachtete sie als schön, reizend, verlockend usw., weil sie keinen Penis
besäßen, und verbarg den Penis zwischen den Beinen, um sein femini-
siertes Aussehen im Spiegel zu bewundern. In seinem aktuellen Liebes¬
ieben ist er nach femininer Art narzißtisch: Er wünscht, geliebt zu werden
und durch seine eigenen persönlichen Reize andere Menschen zu Liebes-
anträgen zu verlocken.
44 Bertram D. Lewin
Dieser Mann hat zahlreiche Infantilismen beibehalten und gestattet sich
eine Reihe geheimer analer Perversionen; so erteilt er sich täglich mit
einem Meinen BabyMistier eine rektale Dusche. Früher benutzte er eine
gewöhnliche Wachskerze, und er hat eine Reihe von rektalen Dilatoren
für zukünftigen Gebrauch gekauft, die ihm für eine selbstverschriebene
„Therapie einer Afterschrunde dienlich sein sollten. Er merkt gar nicht
und bestreitet sogar entrüstet, daß diese Prozeduren ihm Befriedigung
bringen. Seine Rationalisierung lautet einfach, daß er seinen Stuhl er¬
weichen und die Schrunde gestreckt halten muß, damit diese ordentlich heilen
kann. Als er während seiner Analyse seine analen Gebräuche beschrieb
und Einfälle brachte, die seine passiv analen Wünsche gegenüber dem
Vater zeigten, träumte er:
Er besuchte eine Demonstration in der Hautpoliklinik. Dr. X. demon¬
strierte einen Neger mit einem anulären Ausschlag, und in der Mitte eines
jeden Herdes war eine weiße Flüssigkeit, wahrscheinlich Eiter. Dr. X. sagte:
„Sie sehen natürlich, daß dies eine Psoriasis ist. Wir werden nur ein Stück¬
chen von seiner Zunge abschneiden; das cjuetscht die Schleimhäute, so daß
die Haut heilt. Oder er sagte: „Es quetscht den Körper. Dann wird die
Krankheit zum Rektum gehen.^
Ich teile nicht jene Assoziationen mit, welche sich auf die Übertragung
bezogen (ein Arzt spricht medizinischen Unsinn), und erwähne nur
diejenigen, die sich auf mein Thema beziehen: „Ein Ausschlag ist schmutzig
wie Kot. Der Eiter in den wunden Stellen erinnert mich an Samen.
Anulär ,anuli’ kleine Anusse. Der Dr. X. demonstrierte einmal einen
Neger mit einem Schanker am Anus. Der Ausschlag sah aus wie ein syphi¬
litischer anulärer Ausschlag. Psoriasis — schmerzhafte Anusse'—die Lä¬
sionen waren wie wunde Anusse {,sore asses'). Eine mir bekannte Frau
quetschte ihr Bein und verlor danach ihre Psoriasis. Das Quetschen eines
Beines erinnert mich an einen kürzlichen Traum, worin ich eine
Beinquetschung hatte. Mein Kindermädchen, das ich mit fünf Jahren hatte,
hat mir einmal auf das Bein geklapst, wo diese Quetschung im Traum
ist, und gesagt: ,Du hast Angst, daß ich dein Genitale sehe.‘ ,Das Be¬
schneiden der Zunge : Ich denke an das Ausschneiden der Zunge, um der
Metastase eines Tumors vorzubeugen; ferner an eine Hautgeschwulst, die
ausgeschnitten wurde, um eine Metastase zu verhüten.“
In diesem Traum bringt er also seine alte Idee, daß die Kastration
(Zungebeschneiden, Körperquetschung) eine Verschönerung des Körpers
(Heilung der Psoriasis, Vorbeugung der Metastase) bewirken kann. Aber
i) Englisch: Psoriasis — sore asses, eine unübersetzbare scherzhafte Klangassoziation,
üie den Studenten ganz geläufig ist.
Kotsdimieren, Menses und weiblidies Über-ldi
45
die Hautläsionen (anulär, syphilitisch, Psoriasis) setzt er analen Läsionen
gleich (analer Schanker, „5ore assses"*). Die Haut wird dem Anus
gleichwertig, ein passives Organ (z. B.: Eiter oder Samen in dem
anulären Herd, Schanker im Anus), eine Ansammlung kleiner Anusse.
Der Traum weist auch darauf hin, wie die Haut zum Anusersatz werden
kann: Der Ausschlag ist schmutzig, fäkalisch; der syphilitische Aus¬
schlag ist dem analen Schanker untergeordnet; Tumore bilden sich in
der Haut durch Metastase; Metastase ist aber nur das griechische Wort
für Verschiebung. Die Haut wird zum erotischen Organ durch Ver¬
schiebung vom Anus, geradeso wie analer Schmutz (Herde) zu Haut¬
schmutz ward. Wir können auch sagen, das Schmieren überträgt libidinöse
Lust vom Anus auf die Haut.
Ich erzähle noch einen Traum desselben Patienten mit ähnlichem In¬
halt und ähnlicher Verarbeitung:
Ich ziehe einen TFäschepfosten aus der Erde und lege ihn nieder. Dann
lege ich mich rücklings auf einen Balkon; zahlreiche Insekten kommen und
heißen mich am ganzen Körper.
Das Ausziehen des Pfostens erinnert ihn an das Verschwinden einer
Erektion, an ein Entwurzeln, an den Verlust des Penis. Auf dem Balkon
des Traumes wurde, wie er wußte, einmal ein Notzuchtversuch gemacht.
Das erinnerte ihn an die Phantasie, von dem Analytiker anal vergewaltigt
zu werden, die er vor einigen Tagen hatte. Die beißenden Insekten
erinnerten ihn an die Ratten in Freuds Arbeit („der Rattenmann“).
Ein Insekt hatte die Größe des Klistiers, das er zum täglichen rektalen
Ausspülen gebrauchte. Wir müssen noch erwähnen, daß eine allerfrüheste
E'rinnerung des Patienten die Phantasie behandelt, vom Vater gefressen
zu werden.
Der Traum ist also leicht verständlich: Er ist ein passiv-homosexueller
und masochistischer Traum auf drei Libidostufen. Er wird kastriert, dann
sucht er masochistische Befriedigung auf der analen Stufe (im Anus koi-
tiert oder gebissen zu werden). Indem er aber auf den Anus verzichtet,
verschiebt er die Libido anf die Körperoberfläche und empfängt die Bisse
am ganzen Körper. Die Beziehung zum Vater bleibt passiv-masochistisch;
aber der Weg der Libido geht vom Genitalen über das Anale zur Körper¬
oberfläche.
Eine Traumserie aus einer späteren Zeit der Kur hatte denselben latenten
Inhalt. Zunächst träumte er, daß er zwischen den Schulterblättern von
einer Biene gestochen werde. Später war es in der lumbalen Rückengegend;
er unterwarf sich auch einer Lumbalpunktion. Schließlich wurden die
Insekten zu einer Schlange, die ihn in den Anus zu beißen versuchte.
Bertram D. Lewin
In den beiden geschilderten Träumen scheint ein Punkt bemerkenswert,
die zerstreute Verteilung der Hautlokalitäten und ihre Vielfältigkeit. Die
Haut wird nicht als ein Organ, sondern als eine Vielheit von Organen
dargestellt. Man wird dabei an Freuds Schizophrenen erinnert, der seine
Hautporen als Scheiden betrachtete.» Zu einer Erklärung vermag uns viel¬
leicht unsere Kenntnis von der polyphallischen Symbolik verhelfen. Der
Medusenkopf mit dem gehäuften Penisersatz bedeutet latent „keinen Pe¬
nis . Ähnlich scheint es sich hier um eine „polyanale“ Symbolik zu
handeln; die vielen „anuli“ wären sodann die polyanale Kompensierung
für den Verzicht auf den erotischen Gebrauch des Anus.
Als Bestätigung der oben angeführten Deutungen schildere ich den
Traum einer Patientin B., einer jungen Medizinerin:
Ich lese einen Bericht eines Arztes, welcher behauptet, daß ich eine Pa¬
tientin mit Hautkrebs untersucht habe, ohne den Krebs zu entdecken. Dann
gehe xch in ein anderes Zimmer, wo ich eine Negerin sehe, und denke:
„Hat sie eine Geschwulst?“ Ich schaue hin und bemerke eine große blu¬
menkohlartige Masse, die von ihrem Anus ausgeht, eine eitrige Geschwulst,
und sehe, daß die Wand zwischen Vagina und Rektum ganz ulzeriert ist.
Ich sage; „Sie hat ein enormes Mastdarmkarzinom.“
Die Mastdarmgeschwulst erinnert die Patientin an eine Frau, die daran
leidet, die Mutter einer intimen Freundin; dann daran, daß ihre eigene
Mutter eine Fehlgeburt hatte, als die Patientin zehn Jahre alt war. Mast¬
darmkrebs und Hautkrebs erinnerten sie an einen Fall von Syphilis, der
als Schanker in ano anfing und dann einen Hautausschlag entwickelte.
Zu Hautausschlag fiel ihr Melanom ein, dann ein brauner Fleck (Naevus),
den sie auf ihrer Haut hat, dann Kot. Es erschien dann eine Erinnerung
aus der frühen Kindheit, ihre jüngere Schwester beschmiere sich mit Kot.
„Keine Wand zwischen Vagina und Rektum“ führte zu Einfällen über
Duschen, Klistiere usw., also die Gleichwertigkeit von Anus und Vagina.
Unser Hauptinteresse richtet sich hier auf die Tatsache, daß auch diese
Patientin eine rektale Masse (Schanker, Geschwulst, Kot) Flecken auf oder
in der Haut gleichsetzt (Hautgeschwulst, syphilitischer Ausschlag, geschmier¬
ter Kot). Man beachte auch, daß die rektale Masse das „anale Kind“ oder
vielmehr die „anale Fehlgeburt“ bedeutet. Ferner weiß die Patientin um
das erotische Element beim Anus (keine Trennung zwischen Anus und
Vagina). Kurz, auch hier kann die Haut wieder durch das Schmieren den
Anus ersetzen, Stoffe auf oder in der Haut die Fäzes.
1) Freud, Das Unbewußte, Ges. Sehr. V.
2) Ferenczi, Int. Zsch. f. PsA., IX, 69, 1923.
Kotschmieren, Menses und weibliches Über-Ich
47
Beobachtung an derselben Patientin B.: Einige Monate nach dem
obigen Traum wurde die Patientin, deren Charakter viele gegen anale
Wünsche aufgerichtete Reaktionsbildungen aufweist, vom Sexualpartner
zum analen Koitus aufgefordert. Er versuchte mit dem Penis in ihren
Anus einzudringen, aber wegen ihres Widerstandes ohne Erfolg. Zwei
Tage danach bekam die Patientin eine Impetigo und eine Angina
V i n c e n t i. Da sie in ihrer Körper- und Mundpflege sehr sorgfältig war,
wurde sie sehr verstimmt und fühlte sich „schmutzig“. In ihren Assozia¬
tionen betrachtete sie eindeutig das Impetigoexsudat als Kot auf der Haut.
Die Vincentsche Krankheit führte durch die Assoziationen Spirochaete,
Syphilis, „schmutzige“ Geschlechtskrankheit zu koprophagischen Phanta-
_ es war, als ob sie Kot im Munde hätte, ihr Atem röche nach
Kot usw.
Die Analyse zeigte, daß die Schuld, für welche sie ihre Krankheiten
empfing, sich auf unbewußte Versuchungsphantasien bezog, den Mann beim
analen Koitus zu kastrieren und den Penis im Anus zu behalten. Der
Ursprung dieser Wünsche in ihrer frühinfantilen Vaterbeziehung wurde
auch klar.
Unter Vernachlässigung der Probleme, die die „Flucht ins Organische“
betreffen, sehen wir mit Bezug auf unser Thema, daß die Patientin, nach¬
dem sie auf den sexuell-sadistischen Gebrauch des Anus verzichtet hat,
ihre Haut erotisierte (und strafte). Durch Koprophagie und Sich-beschmie-
ren versuchte sie das Aufgegebene wieder zu gewinnen. Die Libido war
vom Anus auf die Haut verschoben.
11. Menses = exkrementeile Inkontinenz. Kompensatorische
Hauterotisierung
Seit vielen Jahren hat die Psychoanalyse erkannt, daß die Menstrual-
flüssigkeit oft bewußt, zuweilen unbewußt als eine Exkretion angesehen
wird und die Menstruation als eine „schmutzige“ Funktion. Es sollte eine
direkte Folgerung aus dieser Anschauung sein, daß das Weib den men¬
struellen Abfluß als eine Inkontinenz, als ein Versagen der Sphinkter¬
tätigkeit betrachtet. Daß dies auch der Fall ist, sollen einige Beobachtun¬
gen beweisen.
Beobachtung: Patientin C., eine junge Frau mit auffallend vielen
analen Charakterzügen, hat folgende Gewohnheit: Während der Menstrua¬
tion besucht sie öfter die Toilette, wo sie durch besondere Bewegungen
der perinealen Muskulatur das Menstrualblut aus der Vagina auszustoßen
versucht. Zwischen diesen Besuchen glaubt sie, gewissermaßen das Blut
48
Bertram D. Lewin
in der Vagina zurückhalten zu können, indem sie eine sphinkterartige Be¬
tätigung der Scheidemuskeln übt. Während des ersten Teiles ihrer Analyse
litt sie an schwerer Obstipation, welche am ersten Tag der Blutung ver¬
schwand. Diese wurde dann während der Blutung durch eine Diarrhöe
ersetzt, kehrte aber am Ende der Blutung wieder. Während der Menstruation
wurde auch ihre sonstige Sparsamkeit durch einen Einkaufszwang, haupt¬
sächlich von Kleidern, ersetzt.
Diese Tatsachen führe ich nur an, um die bei dieser Patientin enge
Beziehung zwischen Menstruation und Exkretion zu zeigen, die so weit
geht, daß die Patientin eine Sphinkterkontrolle über ihre Blutung auszu-
uben versucht; sie sollen auch für das Verständnis der folgenden analyti-
sehen Beobachtung dienen:
Zwei Tage vor einer ihrer Perioden drehten sich ihre Einfälle um ihre
stark positive Übertragung; dann traten am ersten Tage der Blutung As-
«iziationen mit Bezug auf ihren Kastrationskomplex zutage, hauptsächlich
Kindheitserinnerungen von frühzeitigen Mahnungen bezüglich ihres Beneh¬
mens, Deckerinnerungen für Kastrationsdrohungen, bei denen es klar war
daß für sie die Menstruation „einen Penis verlieren“ bedeutete. Am nächsten’
lag kam sie in mürrischer Laune, böse auf ihren Mann und auf andere
Familienmitglieder in die Stunde, und klagte, daß das Leben für sie nichts
enthalte. Gegen Ende der Stunde, welche hauptsächlich der Schilderung
ihrer Verstimmung diente, erzählte sie die folgende Phantasie:
„Ich war gestern so niedergeschlagen, daß ich mich im Spiegel ansah
und dachte: ,Es gibt nur zwei Dinge in der Welt, wovon ich Befriedigung
bekommen könnte. Entweder könnte ich eine große Schachtel Schokoladen¬
konfekt kaufen — nicht etwa beliebige, sondern wirklich gute, teure
Schokolade und dann mich hinsetzen, um sie zu essen; oder, ich
konnte mein ganzes Geld aus der Bank nehmen und es für Kleider ver¬
schleudern. * — Bei dieser Bemerkung machte sie eine unver¬
kennbare Bewegung, indem sie mit der inneren Handfläche über den
ganzen Körper vom Hals bis zu den Knien strich.
Eine zusammenfassende Deutung dieser Einfälle, die die Einstellung
der Patientin gut wiedergeben, besagt, daß die Menstruation als Kastration
angesehen wird, aber als eine „anale“ Kastration, als eine unerwünschte.
Unwillkürliche Inkontinenz. Um sich dann für den Verlust des Kot—Penis
zu entschädigen, kann sie zwei Mechanismen anwenden. Ihr narzißtischer
Verlust (vergl. das Schauen im Spiegel) kann durch Koprophagie (teure
i) Das Deutsche gibt den
m on clothes /«. Das Wort hlow
stoßen und Zerstreuen.
englischen Ausdruck nur schwach
(blasen) vermittelt den Eindruck
wieder; y^and hlow it
von explosivem Aus-
Kotsdimieren, Menses und weiblidbes Über-Idi
49
Schokolade essen) oder durch Schmieren kompensiert werden (ihre Gebärde,
das Geld zu nehmen und in der Form von Kleidern auf den Körper zu
streichen). Wenn ein verlorenes Objekt dem Kot gleichgesetzt wird, so
kann es, wie wir aus Abrahams Arbeit wissen,^ auf koprophagische
Weise wieder zurückgewonnen werden. Hier haben wir ein Beispiel für
diese Methode, mit einem verlorenen Objekt umzugehen; wir sehen aber
auch, daß es noch eine andere Methode gibt, die des Schmierens.^
Aus der oben geschilderten Szene und Phantasie scheint sich klar zu
ergeben, daß die Menses regressiv einer unwillkürlichen Inkontinenz
gleichkommen. Als Bestätigung dieser Auffassung sei erwähnt, daß diese
Patientin regelmäßig wütend ist, wenn ihre Menstrualblutung zu früh auftritt,
sich dagegen sehr freut, wenn sie verspätet ist. Die Patientin B, deren
Träume ich oben erwähnt habe, hat dieselbe Einstellung, obschon bei
ihr das herrschende Gefühl eher Demütigung als Wut ist. Ihre Erklärung
lautet: „Der Gedanke ist mir zuwider, daß ich meine eigenen Funktionen
nicht beherrschen kann. Zu diesem Satz assoziiert sie Erinnerungen an
frühes Sphinkterversagen und an die Demütigung gelegentlich einer
unwillkürlichen Exkretion. Besonders bemerkenswert ist, daß in der Pubertät
die erste Blutung plötzlich und unerwartet eintraf und ihre Wäsche
beschmutzte. Ihre damalige starke Demütigung war bestimmt mit Erinnerungen
an frühkindliche, unwillkürliche Beschmutzung der Wäsche durch Exkretionen
assoziativ verknüpft. Bei dieser Patientin spielten Erinnerungen an Enuresis
und an unwillkürliche Miktion eine wichtigere Rolle als Erinnerungen
an unwillkürliche Defakation, und während der Menstrualzeit versuchte
sie wenigstens im Anfang ihrer Analyse, als sie vom Männlichkeitskomplex
beherrscht war, zu leugnen, daß die Menstrualflüssigkeit Blut sei. Sie
brachte zahlreiche Träume, worin das Blut an sich verleugnet wurde, und
der Fluß dem Urin, manchmal selbst dem Samen zugeschrieben wurde. 3 Der
folgende Traum soll als Beispiel dienen:
Ein Haus üt von Wasser und Wellen umgeben. Die WelUn schlagen
o er und hoher, so daß man fast von einer Flut sprechen könnte.
Zu Flut sagte sie; „Ich habe eine Menstrualflut.“ (>/ am flooding
menstrually:) Weiter: Eine ihrer Freundinnen erlebte einen Schiffbruch
wahrend der Menstruation; das Blut durchnäßte ihre Kleider, so daß es
^ u”;- Entwicklungsgeschichte der Libido,
waren in ihr Blut und Kot gleichgesetzt
(etnl rote anW^ T* oder Merkurochrom
Ferner : sie ißt Schoko! Haut tun ? Sie entschied sich für Jod.
3) Es scheint erwäh ^ auf Eis gern, kann aber Erdbeersaft nicht leiden.
eitigen, sich ihr Menstruationszyklus von 28 auf 26 Tage änderte.
Im. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i
4
50
Bertram D. Lewin
aussah, als ob sie eine starke Blutung hätte. Sie dachte dann an die
Jamestown-Überschwemmung, an den Ausbruch des Aetna, an Lava,
welche einen Berg hinunterfließt und Häuser niederwirft und an eine
vom Erdbeben zerstörte Stadt. Dann fiel ihr ein Ford-Auto ein, bei dem
der Deckel vom Kühler wegfliegt. Dann kam der Satz: „Es bereitet mir
Lust, wenn ich das Tröpfeln der Menstruation verspüre. Es kommt mir
wie Urin vor.^^
Offenbar wird der Versuch gemacht, das Menstrualblut in Urin
u.mzuwandeln und davon Lust nach dem infantilen Vorbild des Urinierens
(die Flut) zu gewinnen, ferner, die Menses einem männlichen (destruktiv
nrinären) Orgasmus gleichzusetzen.
Aus dem hier dargebotenen Material ziehe ich den Schluß, daß für das
Unbewußte die Menstruation unter anderem ein unwillkürliches Versagen
des Sphinkters bedeuten kann. Außerdem habe ich Beweise dafür angeführt,
daß das Schmieren eine Kompensation für dieses Versagen darstellen kann,
oder besser gesagt, für den Verlust der Fäzes (oder ihrer Äquivalente). Das
heißt, das Objekt kann erhalten werden. Was bei der Kotentleerung verloren
ging, kann durch anal-kutane Verschiebung vermittels Schmierens zum Ich
wiederkehren. Wenn dann Objekte dem Kot gleichgesetzt werden, kann ein Ver¬
such gemacht werden, solch ein Schmieren in symbolischer Form vorzunehmen.
III) Die Rolle des Sdimierens bei der Entwicklung des weiblidien
Narzißmus und des Über-Icbs
Wir haben gesehen, wie leicht die Menstrualblutung regressiv als eine
unwillkürliche Inkontinenz angesehen, und wie das Kotschmieren dann als
kompensatorischer Trost benutzt werden kann. Es entsteht nun die Frage:
Hat dieser Mechanismus eine allgemeine Bedeutung? In einem Fall haben
wir gesehen, wie dieser durch die Menstrualblutung entstandene Schmier¬
impuls in ichgerechter Weise in einer Phantasie zum Ausdruck kam, Geld
zur Bekleidung des Körpers zu verwenden. In anderen Fällen trat dieser
Schmierimpuls in einer Verschiebung der Libido vom Anus zur Haut
zutage. Gibt es nun einen Zeitpunkt oder ein Erlebnis, wo die beiden
Mechanismen, die regressive Behandlung der Menstruation und die Erotisierung
der Haut, durch Verschiebung Zusammentreffen?
Unser Material zeigt uns, daß die erste Menstrualblutung mit den
regressiven Phantasien verknüpft, d. h. als eine unwillkürliche Inkontinenz
betrachtet werden kann, und gewisse analytische Theorien sagen uns, daß
es einen bestimmten Zeitpunkt in der weiblichen Libidoentwicklung gibt,
wo ein Schub der Libido zur Körperoberfläche stattfindet — die Pubertät.
Kotschmieren, Menses und weibliches Über-Icfa 51
Ferner hat Harnik^ die wichtige Rolle der ersten Menstrualblutung bei
diesem Vorgang betont; sie dient als Anlaß zu diesem Libidoschub.
Zumindest aus zwei Gründen wird demnach unsere Aufmerksamkeit auf
die weibliche Pubertät und auf das Auftreten der ersten Menstrualblutung
gelenkt.
Harnik vertritt mit guter Begründung die Ansicht, daß das x&wachsen
des Körpernarzißmus beim jungen Weib in der Pubertät durch eine
Verlegung der Libido von der Klitoris bewirkt wird. Nach seiner Darstellung
werden die Libidoquantitäten, die früher an Klitorisaktivitäten gebunden
waren, auf die Körperoberfläche verschoben, wo sie den dort schon
vorhandenen Narzißmus vermehren und als Interesse an „Schönheit“, „Reiz“
und andere typisch weibliche Ideale zum Ausdruck gelangen. „Hinsichtlich
der psychischen Motive bei diesem Vorgang zeigt die analytische Erfahrung,
daß der letzte Anstoß zum Aufgeben der Klitorismasturbation normalerweise
von einem einschneidenden Erlebnis, vom Eintreten der ersten Menstruations-
blutung, herrührt.“ In Anlehnung an eine Bemerkung von Radö, daß die
libidinöse Leitzone des Fötus die ganze Körperoberfläche sei, weist Hdrnik
auf die regressive Bedeutung dieses Schubes hin und erblickt in der
Regression eine Wiederbelebung des intrauterinen Zustandes, wobei der
„ganze Körper ein Genitale“ ist.
Meine Befunde stimmen mit den Ansichten von Harnik sehr gut überein.
Außerdem aber scheinen sie die Annahme zuzulassen, daß es noch eine
Etappe zwischen dem Verzicht auf die Klitorisbesetzung und der darauf¬
folgenden Besetzung der Körperoberfläche gibt, eine Zwischenstufe, wobei
die betreffende Libido anal regrediert. Der Vorgang, der durch die erste
Menstruation eingeleitet wird, könnte also folgendermaßen aufgefaßt werden:
Die Menses setzen ein und werden im Unbewußten als Kastration betrachtet.
Aber gleichzeitig wird die Kastration verleugnet und es erscheint die
Phantasie: „Das ist nicht Blut. Es ist Kot (Urin).“ Mit anderen Worten,
es wird eine anale (oder urethrale) Regression vorgenommen. Aber der
Vorgang bleibt hierbei nicht stehen, denn wenn dies eine anale Kastration
ist, so vermag der psychische Apparat die Situation gut zu meistern: der
Verlust kann durch Schmieren oder Koprophagie wieder gutgemacht
werden. Man darf also annehmen, daß mit dem Auftreten der Menstruation
im heran wachsen den Mädchen ein Schmierbedürfnis entsteht. Aus meinen
Beobachtungen wird auch ersichtlich, wie das Bedürfnis sich Ausdruck
^rschafft, weil eine unsublimierte Handlung selbstverständlich tabu wäre,
ir haben gesehen, daß in meinen Fällen das Kotschmieren eine Erotisierung
1) Härnik, Schicksale des Narzißmus bei Mann und Weib. Zscli. IX, 278, 1923.
4 *
52 Bertram D. Lewin
der Haut bedeutet, eine Verschiebung der Libido vom Anus zur Haut.
In dem Pubertätsvorgang hätten wir denselben Prozeß zu sehen. Die Libido,,
die zuerst genital, dann anal ist, wird endlich auf die Haut verschoben.
Die seit dem Auftreten der ersten Menstruationsblutung entstandenen
Schmierimpulse kommen in dem Schub der Libido zur Körperoberfläche
zum Ausdruck.^
Von einem etwas anderen Standpunkt könnte man auch sagen, daß,
ebenso wie der Kotverlust eine „Vorstufe der Kastration“ bildet, auch das
Kotschmieren eine „Vorstufe der narzißtischen Kompensation“ darstellt und
in Fällen, wo die Kastration regressiv dargestellt wird, eine wichtige Rolle
spielen kann.
In den Pubertätsriten der Primitiven finden wir eine Andeutung des
anal-kutanen Mechanismus, der für die narzißtischen Kompensationen eine
Rolle spielt, bei der Tätowierung. Hier ist der Grundritus eine schmerzhafte
Einführung in die Sippe, wobei der Schmerz öfters durch Vorhaut- oder
Zahnverstümmelung vermehrt wird. Aber zugleich mit dieser symbolischen
Kastration bekommt der junge Mann eine narzißtische Kompensation: seine
Haut wird mit Pigment verschönert.® Diesem Pi gm ent gebrauch, oder der
Berechtigung, sich mit Farben zu bemalen usw., scheint ein Schmierimpuls
zugrunde zu liegen. Es ist interessant, in diesem Zusammenhang die
Farbstoffverwendung der Primitiven mit der Gewohnheit gewisser Frauen
zu vergleichen, die sich lediglich während der Menstruation schminken.
Die Rationalisierung, daß sie dann blasser sind als sonst u. dgl., verhüllt
nicht ganz die darunterliegende Lust am Schmieren, und sie gesteht
auch zu, daß diese Gewohnheit eine Kompensation darstellt.
Aus der Tatsache, daß meine Patienten so oft das Schmieren und die
Koprophagie mit Bezug auf das Wiedergutmachen von Verlusten gleich¬
stellen, und aus dem, was wir über die Bedeutung von oralen Riten der
Primitiven bei Trauerfällen (Nekrophagie, in späterer Zeit Leichenschmaus,
usw.) wissen, möchte ich vermuten, daß die Zeremonie, sich als Trauer¬
zeichen mit Asche zu beschmieren, als ein Versuch gedeutet werden könnte,,
das verlorene Objekt kutan zu introjizieren, ganz analog dem kannibali-
stischen (d. h. koprophagischen) Vorgang.
Zur nachfolgenden Erörterung möchte ich bemerken, daß ich nur An¬
deutungen und unzulängliche Beweise anführen kann, um meine Thesen
1) Eine weitere Diskussion der urethralen Regression wird in dieser Arbeit nicht;
versucht. Die Gleichsetzung, Menses = Harn, wie im oben angeführten „Fluttraum^^,
scheint immer den Effekt zu haben, daß der Männlichkeitskomplex verstärkt wird,
wie es nach K. Horneys Ansicht zu erwarten ist.
2) von Sydow, Primitive Kunst und PsA., erkennt die Tätowierung als eine
hauterotische Sublimierung.
Kotscfamieren, Meuses und weiblidies Über-Idi 53
bestätigen. Es ist aber sehr verlockend, die Frage aufzustellen, welche
Rolle der kompensatorische Schmierimpuls, in dem wir eine Libidover^
Schiebung erblicken, am Anfang der Latenzperiode, d. h. zur Zeit der
frühen Über-Ich-Bildung, spielen mag. Wir müssen zu allererst die ganz
wahrscheinliche Annahme machen, daß dieser Vorgang, der Schmiermecha¬
nismus, im psychischen Apparat schon angelegt ist. Dies ist wahrschein¬
lich, weil wir glauben dürfen, daß dieser Mechanismus in einer Zeit
entstanden ist, in der der Trieb, den Kot zu behalten und den verlorenen
Kot dem Körper wieder zurückzuführen, in der Blüte war, nämlich in der
vorangegangenen analerotischen Phase der Libidoentwicklung. Es ist auch
offensichtlich, daß in der postödipalen Phase der Schmierimpuls in seiner
krassen Form schon verdrängt oder auf eine ichgerechte Form gebracht
worden ist. Es widerspricht also keinen psychoanalytischen Prinzipien, an¬
zunehmen, daß der Schmierimpuls, der als Versuch, den Verlust von analen
Werten wettzumachen, entsteht, in der früh postödipalen Zeit vorhanden
ist, und zwar in seiner späteren modifizierten Form, als Impuls, anale
Werte auf die Haut oder Körperoberfläche zu verschieben. Wir wissen
auch, daß das orale Analogon dieses anal-kutanen Vorganges zu dieser Zeit
lebendig ist.
Zuerst betrachten wir die Eigenschaften der spätinfantilen Sexualorgani¬
sation des Mädchens, bei dem die Akzeptierung der Kastration als voll¬
zogene Tatsache zum Verzicht auf die Klitorissexualität und zu einer
regressiven Wiederbelebung von passiv-analen Wünschen führt. Diese
kommen besonders in dem Wunsch nach dem „analen Kind“ zum Ausdruck
(Freud, Deutsch). Nach Deutsch^ ist dies der erste Passivitätsschub,
der die Vorgänge in der Pubertät bereits vorzeichnet. Aber der Kindes¬
wunsch wird nie erfüllt, und deswegen wird der Ödipuskomplex verlassen.
Ich möchte jetzt eine zweite Annahme machen, daß nämlich der Ver¬
zicht auf das Kind (das „anale Kind“) regressiv und analsymbolisch als
eine Defäkation gedacht wird. Für die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme
haben wir viele Beweise.^ Wir müssen uns auch daran erinnern, daß die
Deutung der Menses als Kastration nicht erschöpfend ist; sie bedeuten
auch das Mißlingen des Kindeswunsches. In den Defäkations- und Schmier¬
träumen der Patienten A und B stellten die rektalen Massen (analer
Schanker, Mastdarmkrebs) auch Kotkinder dar. Es war weiter charakteri¬
stisch, daß 5, wie auch andere Patientinnen, die Menstruation nicht nur
als eine Exkretion und eine Kastration, sondern auch als eine Fehlgeburt
1') H. Deutsch: PsA. d. weibl. Sexualfunktion. Int. PsA. Verlag 1925.
2) Freud: Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik. Ges. Sehr. V.
Bertram D. Lewln
empfanden. Dieser Punkt ist ja wohlbekannt, und ich erwähne ihn nur,
um meine Annahme, daß die erste große „Fehlgeburt“, der Verzicht auf
den Wunsch, ein Kind vom Vater zu haben, Defäkationsbedeutung habe,
zu erhärten. Es zeigt auch, daß der Menstruation als Verlust des analen
Kindes eine zweite Bedeutung zukommt.
Wir würden erwarten, daß das Mädchen bei der Aufgabe des Wunsches,
ein anales Kind und den Vater als Liebesobjekt zu haben, einen Antrieb,
den analen Verlust wettzumachen, verspüren würde. Wenn nun meine
Annahme richtig ist, käme dieser Antrieb auf zwei Wegen zum Ausdruck,
(i) in koprophagischen (bzw. nekrophagischen) Impulsen und ( 2 ) in Schmier¬
impulsen.’
Diese beiden sind geeignet, einen Objektverlust wieder gutzumachen,
und es ist vorstellbar, daß entweder nur einer von diesen Vorgängen allein
wirkt, oder daß beide in verschiedenen Proportionen wirksam werden. Wir
würden annehmen, daß die Wahl zwischen beiden von der Stärke der
gegen die verschiedenen Impulse aufgerichteten Gegenbesetzungen abhängt, i
ferner davon, wie weit sie einer ichgerechten Modifizierung unterworfen
waren. Eine konstitutionelle Bevorzugung des Mundes oder der Haut
könnte bei der Wahl ebenfalls eine Rolle spielen.
Wenn die erste (orale) kompensatorische Tendenz vorwiegt, so entstünde j
ein Zustand, wie ihn Sachs“ neuerdings beschrieben hat. Die oralen '
Wünsche kommen ins Spiel. Hat man nach der Versagung gänzlich auf j
den Vater verzichtet, so findet eine wirkliche Introjektion mit wirk¬
licher Über-Ich-Bildung statt. Hat man auf den Vater nicht verzichtet, so
entsteht der andere Über-Ich-Typus der primitivere, in derselben Arbeit
geschilderte Typ, bei dem die oralen Wünsche in den sexuellen Akt eingehen
und eine Reihe von Männern, nachdem sie „durch die Vagina einverleibt“
sind, zu „Über-Ichen“ werden. Es ist interessant und scheint meine
Theorie der zwei möglichen Richtungen zu unterstützen, daß die von
Sachs beschriebene Patientin, deren orale Wünsche so stark waren, einen
übermäßigen Mangel an Interesse für Kleider und Schmuck zeigte. Unter
anderen Motiven könnte dieser Zug durch das Vorherrschen der oralen
Tendenzen mit einem entsprechenden Mangel an Bedürfnis für Kompen¬
sationen im Gebiet der Haut- oder Oberflächenlibido bedingt sein, — mit
anderen Worten, durch einen Mangel an kompensatorischem Schmier¬
bedürfnis. Als Stütze für meine These, daß die oralen Wünsche, die nach
dem Verzicht auf anale ödipuswünsche entstehen, in erster Linie diesen
1) Ich lasse absichtlich die Betrachtung des „Männlichkeitskomplexes“ beiseite.
2) Sachs: Über einen Antrieb bei der Büdung des weibllichen Über-Ichs. Diese
Zschr. XIV. 165, 1928.
Kotsdiinieren, Menses und weiblidies Über-Idi 55
analen Verlust kompensieren sollen, erwähne ich den von Sachs ange¬
führten männlichen Masochisten, dessen passiv-feminine Einstellung durch
die Analyse abgebaut worden war, und der dann u. a. auch wirklich zum
Kotessen kam. Daß eine orale Regression auch auf anderem Wege und
aus anderen Motiven entstehen kann, gebe ich natürlich zu.
Betrachten wir den zweiten Teil meiner These: der anale Verlust nach
dem Untergang des Ödipuskomplexes werde durch Schmieren kompensiert.
Eine so gebildete Persönlichkeit würde dann dem von H d r n i k^ beschrieheneu
Typ entsprechen. Dieser Autor hat in einer weiteren Abhandlung im wesent¬
lichen seine Theorie über das Schicksal der Libido in der Pubertät auf
das postödipale Schicksal der Libido übertragen. Der Verzicht auf den
Penis führt zur Verschiebung der Libido vom Genitale zur Körperober¬
fläche, welche als eine Überschätzung des körperlichen Aussehens zum
ichgerechten Ausdruck kommt. Ich bin bereit, in diesem Punkte mit
Hdrnik übereinzustimmen, nicht nur, weil es von vornherein wahr¬
scheinlich ist, daß die Pubertätsvorgänge Wiederholungen der infantilen
Vorgänge darstellen, sondern auch wegen gewisser Befunde bei drei
Patientinnen.
Alle drei machten eine Zeit der infantilen Masturbation durch, der die
Kastrationsangst ein Ende bereitete, und sie scheiterten auch sehr früh in
ihrem starken Wunsche, ein „anales Kind^‘ vom Vater zu bekommen. Alle
drei gingen ferner durch eine Latenzperiode, in der narzißtische Phantasien
vorherrschten. Eine von ihnen erinnert sich lebhaft an ihre Hauptphantasie.
Sie bildete sich ein, in einem schön gestärkten weißen Kleid „ganz sauber
und reizend‘‘ (,flZZ clean and lovely*) zu sein; dann suchte sie den Vater
auf, der sie darum lobte. Die zweite, die sich früher daran vergnügte,
ihre Puppen mit Senf zu beschmieren, hatte Tagträume über hübsche
Kleider während der Latenzperiode. In ihrer späteren Zwangsneurose boten
ihr Kleider eine ichgerechte Abfuhrmöglichkeit, während Kind und Penis,
die sie als Gaben des Vaters ebenso wie die Kleider auch dem Kot gleich¬
setzte, nur durch strenge schuldberuhigende Maßnahmen erkauft werden
konnten. Die dritte Patientin bezeugt noch mit 28 Jahren ein minutiöses
Interesse für ihre körperliche und geistige Person und interessiert sich
übermäßig für die Pflege ihres körperlichen Aussehens. Ihre narzißtische
Einstellung begann in der frühen Latenzperiode, wo die Phantasie, sie sei
eine „kleine Prinzessindie die ganze Umwelt durch ihre „Persönlichkeit“
bezaubern würde, eine große Rolle spielte. Durch diese Phantasie hat sie
sich wirklich eine Art Privatwelt geschaffen.
1) Hdrnik, Die ökonomischen Beziehungen zwischen Schuldgefühl und weib¬
lichem Narzißmus, Zschr. XIV, 175, 1928.
Schub T **^"“^^* Satz, daß es einen postphallischen
Schub der Lxbxdo vom Genitale zum Körper geben kann, zu bestätigen.
( htorismasturbation. Peniswusch) und vor dem Auftreten der narziß-
ischen Phantasien in der Latenzperiode eine Phase der analen Regression,
wel b W . Sekenn.eichL war
welcher Wunsch entweder aufgegeben oder mit großem Schuldgefühi
unbedingt bei diesem Schub-
yorgang vorhanden sein muß, ist nicht zu entscheiden. In vielen Fällen aber
es höchst wahrscheinlich, daß der Schub von der regressiven Phantasie
vom kompensatorischen Schmieren seine Kraft bekommt.
dem' r'' daß der Begriff der Körperschönheit von
egri er Reinlichkeit nicht scharf abzutrennen ist, — das Tragen
eines nett ^stärkten Kleides vermehrt doch die Schönheit und die Rein-
ichkeit gleichzeitig, - und einen Teil seiner Wertschätzung aus den Reak-
tionsbildungen gegen anale Beschmutzung ziehen muß.
Wo der Schmierimpuls über den Impuls zur oralen Einverleibung über-
Enttäuschung im Kindeswunsch, - kann die Frage
des vollständigen oder partiellen Verzichtes auf den Vater als Liebesobjekt
ne ähnliche Rolle spielen wie bei den von Sachs beschriebenen Fällen
n r Ob angeführten Fällen geht klar hervor,
Off b mehr oder weniger aufgegeben werden kann,
ffenbar kann die Verschönerung (wie im ersten angeführten Fall) die
bsicht haben sich die väterliche Bewunderung zu erwerben. Das
e ßt, die Libido braucht nicht ganz narzißtisch zu werden; sie kann
teüweise immer noch mit Objekten in Beziehung bleiben. Wie dem auch
sei, es scheint, daß zwischen der Körperbesetzung und der Besetzung, die
A.ntriebe eingeht, eine quantitative Beziehung besteht Je
großer die eine, desto kleiner die andere. Da wir also wissen, daß'das
Uber-Ich durch die orale Introjektion entsteht, so wird in denjenigen
Fallen, wo die Besetzung hauptsächlich zur Körperoberfläche verschoben
wird, weniger orale Libido für den Vorgang der Objekteinverleibung zur
Verfügung stehen, und es ergäbe sich dann eine weniger assimilierte
weniger vollständige Introjektion und Über-Ich-Bildung. Anal ausgedrückt’
Was geschmiert wird, braucht nicht gefressen zu werden. Dieses Moment
sollte zusammen mit dem von Sachs angeführten als zweite mögliche
Ursache für die Entwicklung eines unvollständigen Übei-Ichs in Betracht
gezogen werden.
/
Die Bedeutung der Symbolbildung für die
Ichentwiddung
Fortrag auf dem XL Internationalen Psjrchoanalxtischen Kongr^ in Oxford^ Juli
Von
Melanie Klein
London
Meine Damen und Herren I
Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Annahme eines frühen
Entwicklungsstadiums, in dem es zur Aktivierung des Sadismus auf allen
Quellgebieten kommt.’ Diese Phase wird durch die oralsadistische
Begierde, die Brust, resp. die Mutter zu fressen, eingeleitet, klingt in der
früheren analen Stufe ab und umfaßt nach meinen Erfahrungen
die höchste Blüte des Sadismus. Ihr leitendes Streben ist darauf gerichtet,
sich den Inhalt des Mutterleibes anzueignen und sie mit allen Mitteln
des Sadismus zu zerstören. Diese Phase leitet zugleich auch den Ödipus¬
konflikt ein. Die bereits beginnende Wirksamkeit des Genitales bleibt zu¬
nächst undurchsichtig, da die prägenitalen Triebregungen das Feld beherr¬
schen. Die Tatsache, daß der Beginn des Ödipuskonflik¬
tes unter der Vorherrschaft des Sadismus erfolgt, ist
die Grundlage für alle meine weiteren Aufstellungen.
Das Kind erwartet, im Innern der Mutter den Penis des Vaters, Ex¬
kremente und Kinder, die es eßbaren Stoffen gleichsetzt, zu finden. Seine
frühesten Phantasien vom Koitus der Eltern („Sexualtheorien“) gehen dahin,
daß der väterliche Penis, resp. der ganze Vater der Mutter einverleibt wird.
Die auf diese Weise gegen beide Elternteile gerichteten sadistischen An¬
griffe, in denen diese in der Phantasie zerbissen, zerrissen, zerschnitten,
zerstampft werden, lösen die Angst vor der Strafe beider, miteinander
vereinigten Eltern aus, eine Angst, die sich zufolge der oralsadistischen
Bd.*XIV™9T8 Frühstadien des Ödipuskonfliktes.“ Diese Zeitschrift,
58 Melanie Klein
Introjektion der Objekte auch verinnerlicht und so den äußeren Ob¬
jekten und den in tro j izierte n, also auch schon dem frühen
Ü b e r-I c h gilt. Diese Angstsituationen der frühen Stufen haben sich mir
als die tiefsten und überwältigendsten erwiesen. Bei dem in der Phantasie
verübten Angriff auf den Mutterleib kommt dem nach meinen Erfahrun¬
gen im dichten Anschluß an den oralen Sadismus und Muskelsadismus
einsetzenden urethralen und analen Sadismus eine bedeutungsvolle
Rolle zu. Die Exkremente werden in der Phantasie in gefährliche Waffen
verwandelt, das Nässen einem Schneiden, Stechen, Brennen, Über¬
schwemmen, die Stuhlstange Angriffswaffen und Geschossen gleichge¬
setzt. In einem späteren Abschnitt der von mir beschriebenen Phase wer¬
den die gewaltsamen Angriffsmethoden durch versteckte, mit den raffinierten
Mitteln des Sadismus unternommene, abgelöst und die Exkremente ver¬
giftenden Stoffen gleichgesetzt.
Das Übermaß des Sadismus löst Angst aus und setzt die frühesten Me¬
thoden der Abwehr seitens des Ich in Gang. Freud schreibt^ „Es kann
leicht sein, daß der seelische Apparat vor der scharfen Sonderung von Ich
und Es, vor der Ausbildung eines Über-Ichs, andere Methoden der Ab¬
wehr übt als nach der Erreichung dieser Organisationsstufen.“ Nach
meinen Ergebnissen richtet sich die früheste Abwehr des Ich gegen zwei
Gefahrquellen: gegen den eigenen Sadismus und das ange¬
griffene Objekt. Diese Abwehr trägt einen gewaltsamen, dem Aus¬
maße des Sadismus entsprechenden Charakter und unterscheidet sich we¬
sentlich von dem späteren Mechanismus der Verdrängung. In der Relation
zum eigenen Sadismus bedeutet diese Abwehr ein Hinausdrängen,
in der Relation zum Objekt dessen Vernichtung. Der Sadismus
wird zur Gefahrquelle, weil von ihm der Anlaß zur Angstentbin¬
dung ausgeht und weil die gegen das Objekt gewendeten zerstörenden
Mittel des Sadismus als Gefahr auch für den eigenen Körper empfunden
werden. — Das angegriffene Objekt wird zur Gefahrquelle, weil die ana¬
logen Angriffe von seiner Seite befürchtet werden. Dem ganz unentwickelten
fällt also die auf dieser Stufe noch unlösbare Aufgabe der schwersten
Angstbewältigung zu.
Nach Ferenczi kommt die Identifikation, — die Vorstufe der Sym¬
bolik so zustande, daß das ganz kleine Kind in jedem Ding seine
Organe und deren Tätigkeiten wieder zu finden sucht. Nach Jones er¬
möglicht „das Lustprinzip den Vergleich zweier sonst ganz verschiedener
Dinge auf Grund einer lust- oder interessebetonten Ähnlichkeit“. — Ich
i) Hemmung, Symptom und Angst. Ges. Sehr., Bd. XI.
Die Bedeutung der Symbolbildung für die Idientwiddung 59
bin in einer vor Jahren erschienenen Arbeit, auf diese Aufstellungen ge¬
stützt, zu dem Ergebnis gelangt, daß die Symbolik die Grundlage aller
Sublimierungen und Begabungen sei, indem Dinge, Tätigkeiten, Interessen
auf dem Wege der symbolischen Gleichsetzung Gegenstand libidinöser
Phantasien werden.
Ich kann nun meine damaligen Aufstellungen^ dahin ergänzen, daß
nebst dem libidinösen Interesse es die in der von mir beschriebenen Phase
einsetzende Angst ist, die den Mechanismus der Identifikation in Gang
setzt. Die Zerstörungswünsche gegen die die Objekte vertretenden Organe
— Penis, Vagina, Brust — lösen Angst vor den Objekten aus. Diese Angst
trägt zur Gleichsetzung dieser Organe mit anderen Dingen bei und treibt
dann von den durch diese Gleichsetzung zu Angstobjekten
verwandelten Dingen weg zu immer neuen und anderen Gleichsetzungen,
die die Basis für ein mit diesen Gegenständen verknüpftes Interesse und
für die Symbolik bilden.
Die Symbolik wird so nicht nur die Grundlage für alle Phantasietätig¬
keit und Sublimierungen, sondern — mehr als das — auch die für die
Herstellung der Beziehung zur Umwelt und Realität im allgemeinen. Ich
hob hervor, daß das Objekt des höchstgesteigerten Sadismus und des mit
diesem einsetzenden und einhergehenden Wißtriebes der Mutterleib mit
seinem phantasierten Inhalt ist. Diese auf den Mutterleib gerichteten sa¬
distischen Phantasien stellen die erste und grundlegende Beziehung zur
Außenwelt und Realität her, der mehr oder weniger gelungene Durch¬
gang durch diese Phase wird grundlegend für die weitere Erwerbung einer
Umwelt im realitätsgerechten Sinne. Die früheste Realität des Kindes ist
demnach eine ganz phantastische; es ist von Angstobjekten umgeben,
wobei Exkremente, Organe, Objekte, leblose und belebte Dinge zunächst
einander äquivalent sind. Von dieser irrealen Realität geht schrittweise im
Einklänge mit der Ichentwicklung die Herstellung einer wirklichen Reali¬
tätsbeziehung aus. Ichentwicklung und Realitätsbeziehung sind somit ab-
hängig von der besseren oder geringeren Fähigkeit des ganz frühen Ichs,
den Druck der frühesten Angstsituationen zu ertragen, wobei es sich wieder
um ein gewisses Optimum der zusammenwirkenden Faktoren handelt.
Ein genügendes Ausmaß an Angst ist die Grundlage für eine reiche
Symbolbildung und Phantasietätigkeit, — eine genügende Fähigkeit des
Ichs, Angst zu ertragen, ist die Vorbedingung für eine gelungene Ver¬
arbeitung dieser Angst, den günstigen Verlauf dieser grundlegenden Phase
und das Gelingen der Ichentwicklung.
1 ) „Zur Frühanalyse«, Imago, Bd. IX (1925).
6o
Melanie Klein
Diese Aufstellungen, die das Resultat meiner allgemeinen analytischen
Erfahrungen sind, erhalten eine besonders beweiskräftige Bestätigung durch
einen Fall, bei dem eine ungewöhnliche Hemmung der Ichentwicklung
vorlag.
Dieser Fall, auf den ich nun näher eingeh en werde, ist der eines vierjähri¬
gen Knaben, der seinem geringen Wortschätze nach und intellektuell auf
der Stufe eines etwa fünfzehn bis achtzehn Monate alten Kindes sich befand.
Realitätsanpassung und Gefühlsbeziehung zur Umwelt fehlten fast voll¬
ständig. Weitgehend affektlos, war Dick auch gleichgültig gegen die An¬
wesenheit oder Abwesenheit von Mutter und Nurse. Angst war seit jeher
nur selten und in abnorm geringem Ausmaße aufgetreten. Mit Ausnahme
eines Interesses, auf das ich später zurückkomme, hatte er kaum irgend¬
welche Interessen oder Spieltätigkeit und auch keine Verständigung mit
der Umwelt entwickelt. Dick reihte meist nur in sinnloser Weise Laute
aneinander, wobei er einzelne Klänge fortgesetzt wiederholte, und wendete
auch seinen geringen Wortschatz meist nicht richtig an.
Es lag aber nicht nur eine Unfähigkeit zur Verständigung vor, sondern
es mangelte auch der Wunsch darnach. Mehr als das, es war für die
Mutter deutlich ein Gegenwille fühlbar, der sich darin ausdrückte, daß
Dick oft das Gegenteil dessen, was von ihm erwartet wurde, tat.
Gelang es z. B. ihn zum Nachsprechen einzelner Worte zu bringen, so
veränderte er oft diese Worte völlig, bei anderen Gelegenheiten aber konnte
er die gleichen Worte gut aussprechen. Zeitweise wieder sprach er die
Worte richtig nach, wiederholte sie dann aber immer wieder und auf
mechanische Art bis zum Überdruß der Umgebung. Beiderlei Verhalten
ist ein von dem des neurotischen Kindes abweichendes. Während sich beim
neurotischen Kinde die Ablehnung in Form von Trotz, die Folgsamkeit
auch wo sie überängstlich auftritt — doch mit einem gewissen Verständ¬
nis und mit einer Beziehung zur Sache oder Person zu äußern pflegt,
war die Ablehnung und Folgsamkeit Dicks affekt- und verständnislos.
Dick bewies ferner, wenn er sich beschädigte, eine weitgehende Un¬
empfindlichkeit gegen Schmerz und empfand auch gar nicht das sonst
bei kleinen Kindern so allgemeine Bedürfnis, nach einer solchen Beschä-
<iig^ng getröstet und geliebkost zu werden. — Ganz ungewöhnlich war auch
seine körperliche Ungeschicklichkeit. Er vermochte Messer oder Schere
nicht festzuhalten, wobei aber hervorzuheben ist, daß er den Löffel, mit
dem er aß, normal handhaben konnte.
Der Eindruck, den ich bei seinem ersten Besuch bei mir gewann, war
der, daß sein Verhalten von dem bei neurotischen Kindern beobachteten
ganz abweichend sei. Er hatte die Nurse ohne jede Affektäußerüng ver-
Die Bedeutung der Symbolbildung für die Idientwiddung 6l
lassen und war mir ganz gleichgültig in das Zimmer gefolgt. Dort lief
er ziel- und planlos auf und ab, — wiederholt auch rund um mich herum,
wobei er keinen Unterschied zwischen mir und den Möbelstücken machte,
für die Gegenstände im Zimmer aber auch keinerlei Interesse zeigte. Bei
diesem Hin- und Herlaufen machten seine Bewegungen keinen koordi¬
nierten Eindruck. Der Augen- und Gesichtsausdruck war starr, abwesend
und interesselos. Ich ziehe wieder das Verhalten schwer neurotischer Kinder
zum Vergleich heran. Ich denke dabei an jene Kinder, die, ohne daß es
zu einem eigentlichen Angstausbruch kommt, sich heim ersten Besuch
bei mir scheu und steif in eine Ecke drücken oder bewegungslos vor dem
Tischchen mit dem Spielzeug sitzen oder auch — ohne zu spielen — nur den
einen oder anderen Gegenstand aufnehmen und wieder hin legen. Bei all diesen
Verhaltungsarten ist die große latente Angst deutlich kennbar; die Ecke,
das Tischchen bilden eine Zuflucht vor mir. — Dicks Verhalten aber diente
keinem Sinn und Zweck und war auch nicht mit Affekt und Angst
verbunden.
Ich gehe nun auf die Vorgeschichte näher ein. Dick hatte eine unge¬
wöhnlich unbefriedigende und gestörte Säugeperiode gehabt, da die Mutter
die ergebnislosen Versuche, ihn zu stillen, einige Wochen fortsetzte, wobei
er fast verhungerte. Es wurden dann Versuche mit künstlicher Ernährung
unternommen. Als Dick endlich im Alter von sieben Wochen eine Amme
bekam, gedieh er auch nicht mehr an der Brust. Er litt an Magen-Darm¬
störungen und war mit einem prolapsus ani behaftet, zu dem später
auch Hämorrhoiden hinzukamen. Von Bedeutung für den Entwicklungs¬
verlauf war zweifellos auch die Tatsache, daß das Kind zwar alle nötige
Fürsorge, aber keine wirkliche Liebe genoß, da die Mutter ihm von An¬
fang an mit Kälte begegnete.^
Da auch der Vater und die Kinderfrau dem Kinde keine Zärtlichkeit
zuteil werden ließen, ist Dick in einer ungewöhnlich liebesarmen Umgebung
aufgewachsen. Als Dick im dritten Lebensjahre eine andere, geeignete und
liebevolle Nurse bekam, bald nachher auch längere Zeit mit der sehr
zärtlichen Großmutter beisammen war, zeigte sich der Einfluß dieser
Änderungen auf folgende Art in seiner Entwicklung. Dick, der in etwa
normalem Alter gehen gelernt hatte, war nur schwer an die Beherrschung
der exkretalen Funktionen zu gewöhnen. Unter dem Einfluß der neuen
Nurse ging die Reinlichkeitsgewöhnung viel schneller vonstatten. Er wurde
mit etwa drei Jahren sauber und zeigte dann sogar in diesem Punkte einen
i) Der Umstand, daß die Mutter, u. zw. schon gegen Ende des ersten Lebens¬
jahres, den Eindruck gewann, daß das Kind abnorm sei, verschlechterte noch ihre
Einstellung ihm gegenüber.
Melanie Klein
62
gewissen Ehrgeiz und Ängstlichkeit. Auch in einem anderen Punkte zeigte
sich im vierten Lebensjahre eine Empfindlichkeit gegen Tadel. Die Nurse
hatte festgestellt, daß er onaniere, und ihm dies als ^ncLughty'^ verwiesen.
Diese Verweise lösten deutlich Ängstlichkeit und Schuldgefühl bei ihm aus.
Auch zeigte Dick im vierten Lebensjahre im allgemeinen ein größeres
Bestreben zur Anpassung, das aber sich vorwiegend auf äußere Dinge,
insbesondere die mechanische Erlernung einer Anzahl neuer Worte,
erstreckte. Es hatten von Anfang an ganz abnorme EßSchwierigkeiten
Vorgelegen. Als Dick die Amme bekam, erwies er sich als ganz sauge¬
unlustig, was sich dann auch später nicht mehr änderte. Er wollte dann
auch nicht aus der Flasche trinken. Als er zu festerer Nahrung übergehen
sollte, weigerte er sich, sie zu zerbeißen, und lehnte alle nicht breiige
Nahrung völlig ab; aber auch die breiige Nahrung mußte ihm fast
gewaltsam beigebracht werden. Der günstige Einfluß der neuen Nurse
machte sich nun auch in der Richtung geltend, daß die Nahrungsaufnahme
sich etwas besserte, wobei aber die Eßschwierigkeiten im wesentlichen
weiter bestehen blieben.^ Der Einfluß der liebevollen Nurse hatte sich also
zwar in einigen Punkten in Dick’s Entwicklung geltend gemacht, hatte
aber nicht die fundamentalen Entwicklungsdefekte berührt. Dick hatte zur
Nurse ebenso wenig wie zu anderen einen gemütlichen Rapport hergestellt,
es war also auch der Zärtlichkeit von Nurse und Großmutter nicht gelungen,
die unterbliebene Objektbeziehung Dicks in die Wege zu leiten.
Die ungewöhnliche Entwicklungshemmung Dicks hat sich mir in der
Analyse als die Folge des Mißlingens der frühesten, eingangs meines Vor¬
trages besprochenen Entwicklungsschritte erwiesen. Bei Dick lag eine
völlige, allem Anscheine nach konstitutionelle Unfähigkeit des Ich, Angst
zu ertragen, vor. Es erwies sich, daß das Genitale bei ihm sehr früh in
Wirksamkeit getreten war; dies wurde bestimmend für eine verfrühte und
überstarke Identifizierung mit dem angegriffenen Objekt und hatte die
verfrühte Abwehr des Sadismus verstärkt. Das Ich. hatte den Ausbau der
Phantasietätigkeit und die Herstellung der Realitätsbeziehung abgestellt.
Die Symbolbildung war bei ihm nach geringen Ansätzen zum Stocken
gelangt. Die vorhandenen Ansätze hatten sich in einem Interesse dokumen¬
tiert, das aber — vereinzelt und ohne Beziehung zur Realität — nicht die
Grundlage für weitere Sublimierungen abgeben konnte. Das Kind war
gleichgültig gegen die meisten ihn umgebenden Dinge und Spielsachen,
erfaßte auch deren Zweck und Sinn nicht, hatte aber Interesse für Züge,
1) Dieses Symptom Dicks hat sich auch bisher in der Analyse als das resistenteste
erwiesen.
1
“ ' Die BedeutQQg der Symbolbildung für die Idientwiddung 63
Bahnhöfe, ferner für Türknöpfe, Türen und das Öffnen und Schließen
von Türen.
Das Interesse für die eben aufgezählten Dinge und Handlungen hatte
einen gemeinsamen Ursprung: Es galt dem Eindringen des Penis in den
Mutterleib; Türen und Verschlüsse stellten Aus- und Eingänge des Mutter¬
leibes, die Türknöpfe den Penis des Vaters dar. Die weitere Symbolbildung
war also zum Stocken gelangt an der Angst vor dem, was ihm nach
dem Eindringen in den Mutterleib dort — inbesondere seitens des väter¬
lichen Penis — geschehen würde. Ferner erwies sich die Abwehr gegen die
destruktiven Regungen als grundlegendes Entwicklungshindernis. Bei Dick
lag eine absolute Unfähigkeit zu jeder Aggression vor, deren Grundlage
sich schon so früh in seiner Abneigung gegen das Zerbeißen von Nahrung
dokumentiert hatte. Im Alter von vier Jahren vermochte Dick Schere,
Messer, Werkzeuge nicht festzuhalten und zeigte auch eine ungewöhnliche
Ungeschicklichkeit in allen Bewegungen. Die Abwehr gegen die sadistischen
mit den Koitusphantasien verbundenen Regungen gegen den Mutterleib
und dessen Inhalt hatten zur Einstellung der Phantasien, — zum Stocken
der Symbolbildung geführt. Dicks weitere Entwicklung war daran ge¬
scheitert, daß er die sadistische Beziehung zum Mutterleib in der Phantasie
nicht herzustellen vermochte.
Die ungewöhnliche Schwierigkeit, vor die mich Dicks Analyse stellte,
war nicht die mangelnde Sprachfähigkeit. Die Spieltechnik, die den symbo¬
lischen Darstellungen des Kindes folgend, den Zugang zu Angst und Schuld“
gefühl eröffnet, vermag der Assoziationen durch das Wort weitgehend zu
entraten. Diese Technik beruht aber auch nicht etwa nur auf der Analyse
des Spieles, sondern kann — wie das bei spielgehemmten Kindern
geschieht, — das Material auch aus der Symbolik, die sich in den Einzel¬
heiten des allgemeinen Verhaltens des Kindes offenbart, erschließen.^ Bei
Dick mangelte es aber an der Entwicklung der Symbolik. Dies ging zu¬
nächst aus dem Mangel einer Affektbeziehung zu den Dingen hervor, die
ihm nahezu alle gleichgültig waren. Er besaß fast kein spezielles Ver¬
hältnis zu bestimmten Gegenständen, wie das sonst auch bei schwer ge- ,■
hemmten Kindern der Fall ist. Zufolge der mangelnden affektiven und |
symbolischen Beziehung zu den Dingen hatten etwaige Handlungen, die H
1) Dies bezieht sich nur auf die Ingangsetzung und auf Teilstrecken der Analyse. |]
Ist aber erstmals der Zugang zum Ubw eröffnet und eine Verringerung von Angst- 1
Quantitäten eingetreten, so setzen nach und nach in der Analyse (u. zw. Hand in (1
Hand mit der durch die analytische Arbeit bewirkten Ichentwicklung) die Spiel- J
tätigkeit, die sprachlichen Assoziationen und alle anderen Mittel der Darstellung i
in steigendem Ausmaße ein.
Ö4
Melanie Klein
Dick mit ihnen vomahm, deshalb auch nicht den Phantasiegehalt, der
ihnen den Charakter symbolischer Darstellungen gibt. Sein Mangel an
Interesse für die Umwelt, die Schwierigkeiten der Verständigung mit ihm \
waren, wie ich an bestimmten Unterschieden in seinem Verhalten zu
dem anderer Kinder erkennen konnte, — nur die Auswirkung der fehlen- i
den symbolischen Beziehung zu den Dingen. Bei diesem, dem g r u n d- j
legenden Hindernis für die Herstellung einer Verständigung hatte also j
die Analyse einzusetzen. J
Dick hatte, als ich ihn zur ersten Stunde von der Nurse übernahm,
diese wie schon erwähnt — ohne jede Affektäußerung verlassen. Als |
ich ihm die vorbereiteten Spielsachen zeigte, betrachtete er sie völlig j
interesselos. Ich stellte dann einen größeren neben einen kleineren Zug j
und benannte sie „Papa-Zug“ und „Dick-Zug“. Er nimmt hierauf den i
kleineren, von mir Dick benannten Zug, läßt ihn zum Fenster fahren und i
sagt „Station“. Ich erkläre: „Station ist Mutti, — Dick fährt in die Mutti“. —
Er läßt hierauf den Zug sein, läuft zu dem durch die Doppeltüren des
Zimmers gebildeten Zwischenraum, schließt sich dort ein, sagt dabei
„dunkel“, läuft gleich wieder von dort heraus und wiederholt dieses Vor- j
gehen einige Male. Ich erkläre „Dunkel in Mutti, Dick ist in dunkler
Mutti“. Dazwischen nimmt er wieder den Zug auf, flüchtet aber bald |
wieder in den Türzwischenraum. — Während meiner Erklärung, daß er i
in die dunkle Mutter gehe, — sagt er zweimal fragend: „Nurse?“ Ich j
erwidere: „Nurse is soon coming“. (Nurse wird bald kommen), was er j
wiederholt, auch später richtig anwendet und beibehält. — In der nächsten '
Stunde wiederholt er das Gehaben der ersten Stunde. — Er läuft nun |
aber ganz aus dem Zimmer hinaus in den dunklen Flur. Auch legt er i
den mit Dick benannten Zug in diesen Vorraum und will, daß er dort !
bleibe. Wiederholt fragt er dabei: Nurse coming? (Kommt Nurse?) — '
In der dritten Stunde zeigt er das gleiche Verhalten, nun aber flüchtet i
er außer in den Flur und den Türzwischenraum auch in die Ecke hinter i
^^o^^ode, wobei er ängstlich ist und mich zum erstenmal zu sich !
ruft. Er fragt wiederholt mit nun deutlich erkennbarer Ängstlichkeit nach !
der Nurse, die er, als die Stunde vorüber ist, in ganz ungewohnter Weise \
freudig begrüßt. Mit dem Hervortreten von Angst hatte also auch das I
Anlehnungsbedürfnis zuerst an mich, dann auf die Nurse eingesetzt, ‘
zugleich aber auch das Interesse für meine zur Beruhigung verwendeten i
Worte, denn — abweichend von seinem sonstigen Verhalten — hatte er i
ja meine Worte „Nurse is soon coming“ nachgesprochen und auch behalten. !
Während dieser dritten Stunde aber hatte er auch die Spielsachen zum i
erstenmal mit Interesse betrachtet, wobei zugleich auch eine aggressive ’
Die Bedeutung der Symbolbildung für die Idientwiddung 65
Regung hervortrat. Er sagte, auf einen kleinen Kohlenwagen deutend:
Schneiden.“ Ich gab ihm eine Schere und er versuchte an den schwarzen^
Kohle darstellenden Holzstückchen zu kratzen, konnte aber die Schere
nicht halten. Auf einen Blick von ihm schnitt ich diese Holzstückchen
aus dem Wagen heraus, wonach Dick den beschädigten Wagen und dessen
Inhalt in die Schublade warf und sagte d. i. „weggegangen“.
Ich deute ihm den Vorgang dahin, daß Dick aus der Mutter Stuhl
herausschneide. Hierauf läuft er in den Türzwischenraum, kratzt ein wenig
mit den Nägeln an der Türe, zeigt also die Identifizierung von Tür¬
zwischenraum mit dem Wagen und beider mit dem Mutterleib, den er
angreift. Er läuft gleich wieder aus dem Türzwischenraum heraus, ent¬
deckt den Schrank und kriecht hinein. — Zu Beginn der nächsten Stunde
weint Dick, als die Nurse ihn verläßt — ein bei ihm ungewöhnliches
Verhalten, er beruhigt sich aber bald. Er vermeidet diesmal Türzwischen¬
raum, Schrank und Ecke, beschäftigt sich aber eingehender und mit deut¬
lich einsetzender Wißbegierde mit dem Spielzeug. Er stößt hierbei auf
den in der letzten Stunde beschädigten Wagen und dessen Inhalt, schiebt
beides schnell beiseite und verdeckt es mit Spielzeug. Nach meiner Deutung»
daß der beschädigte Wagen die Mutter vorstelle, sucht er den Wagen und
die Kohlenstückchen wieder hervor und trägt sie in den Türzwischenraum,
Der Fortgang der Analyse erwies, daß dieses Hinauswerfen die Ausstoßung
darstellte und sowohl dem beschädigten Objekt, wie dem eigenen Sadis¬
mus resp. dessen Mitteln galt, der auf diese Weise in die Außen¬
welt projiziert wurde. Dick hatte auch das Waschbecken als Symbol des
Mutterleibes entdeckt und eine außerordentliche Angst vor dem Benäßt-
werden durch Wasser trat hervor. Er wischte das W^asser von seiner und
meiner Hand, die er auch ins Wasser getaucht hatte, ängstlich weg und
zeigte gleich hernach dieselbe Angst beim Urinieren. Urin und Stuhl be¬
deuteten beschädigende, gefährliche Stoffe für ihn.^
1) Auf diese Art klärte sich auch eine Ängstlichkeit besonderer Art auf, die der
Mutter an Dick zuerst im Alter von etwa fünf Monaten und später auch wieder von
Zeit zu Zeit aufgefallen war. Das Kind hatte einen sehr ängstlichen Gesichtsausdruck
beim Defäzieren und Urinieren. Da der Stuhl nicht hart war, scheint auch der Um¬
stand, daß Prolapsus und Hämorrhoiden vorliegen, keine genügende Erklärung für
diese Ängstlichkeit, zumal sie auch beim Urinieren in gleicher Weise hervortrat. In
der Analysenstunde steigerte sich die Angst dermaßen, daß, wenn Dick das Bedürfnis
äußerte, zu urinieren oder zu defäzieren, er dies (u. zw. gleicherweise beim Uri¬
nieren wie beim Defäzieren) erst nach langem Zögern mit Anzeichen schwerer Angst
und mit Tränen in den Augen tat. Nach der Analyse dieser Angst veränderte sich
sein Verhalten beim Urinieren und Defäzieren weitgehend und ist mm nahezu ein
ganz normales.
Int. Zeitachr. f. Psychoanalyse, XVI/i
5
66
Melanie Klein
Es erwies sich, daß ihm Stuhl, Urin, Penis in der Phantasie als Angriffs- i
Objekte gegen den Mutterleib dienten und deshalb auch als beschädigend |
für ihn selbst empfunden wurden. Diese Phantasien hatten Anteil an der j
Angst vor dem Leibesinhalt der Mutter, insbesonders vor dem im Mutterleib !
phantasierten Penis des Vaters, den wir — zugleich mit sich verstärkender |
Aggression gegen denselben — in zahlreichen Darstellungen kennen lernten, i
wobei die Begierde, den Penis zu fressen und zu zerstören, hervortrat. Dick j
führte z. B. ein Spielmännchen zum Munde, knirschte mit den Zähnen ;
und sagte: „Tea daddy^^ damit meinte er:' „Essen Papa“, worauf er j
Wasser zu trinken verlangte. Die Introjektion des väterlichen Penis erwies i
sich mit der Angst vor diesem, — als einem primitiven beschädigenden |
Über-Ich und mit der Angst vor der Strafe seitens der beraubten Mutter, — |
also mit der Angst vor den äußeren und introjizierten Objekten verbunden. I
Hiebei trat die früher von mir erwähnte, für diese Entwicklung bestimmende, |
zu frühe Wirksamkeit der genitalen Stufe darin hervor, daß solche
Darstellungen nicht nur von Angst, sondern auch von Reue, Mitleid und
dem Bedürfnis, gut zu machen, gefolgt wurden. Dick legte dann diese
Männchen auf meinen Schoß oder in meine Hand, tat alle Dinge in die
Schublade zurück usw. Die frühe Wirksamkeit der von der genitalen j
Stufe ausgehenden Reaktionen, die eine Folge zu früher Ichentwicklung |
war, hatte diese selbst aber nur gehemmt. Diese frühe Identifizierung !
mit dem Objekt konnte noch nicht mit der Realität in Beziehung gebracht
werden. So z. B. sagte Dick, als er einige Holzstückchen vom Bleistiftspitzen
auf meinem Schoß sah: „Arme Frau Klein.“ Er sagte aber ebenso bei
einer ähnlichen Gelegenheit „armer Vorhang“. Nebst der Unfähigkeit,
Angst zu ertragen, wurde diese zu frühe Einfühlung ein bestimmender
Faktor zur Abwehr aller destruktiven Regungen. Dick hatte die Absperrung
von der Realität und der Phantasietätigkeit durchgeführt, indem er Zuflucht
in den Phantasien eines dunkeln, leeren, unbestimmten Mutterleibes fand.
Damit war es ihm geglückt, seine Aufmerksamkeit auch von den einzelnen
Dingen in der Außenwelt, die den Inhalt des Mutterleibes, nämlich Penis,
Exkremente, Kinder repräsentierten — abzuziehen. Den eigenen Penis als
Organ des Sadismus — und die eigenen Exkremente sollten als gefährlich
und aggressiv entfernt, resp. negiert werden.
Es war in der Analyse von Dick gelungen, den Zugang zum Unbewußten
herzustellen, indem ich mich mit den vorhandenen Ansätzen der Phantasie¬
tätigkeit und Symbolbildung in Verbindung setzte. Daraus folgte eine
Verminderung der latenten Angst, die das Manifestwerden von Angst¬
quantitäten ermöglichte. Damit aber wurde die Verarbeitung dieser Angst
mittels der symbolischen Beziehung zu Dingen und Objekten eingeleitet und
Die Bedeutung der Symbolbildung für die Idientwidslung 67
zugleich wurden Wißtrieb und Aggression aktiviert. Jeder Schritt vorwärts war
von der Auslösung neuer Angstquantitäten gefolgt und führte zur teilweisen
Abwendung von Dingen, mit denen die affektive Beziehung schon hergestellt
war und die so zu Arigstohjekten geworden waren. Diese Abwendung war
von der Zuwendung zu neuen Objekten begleitet, wobei die Aggression
und der Wißtrieb sich wieder zu diesen neuen affektiven Beriehungen
gesellten. So z. B. mied Dick eine Zeitlang vollständig den Schrank,
beschäftigte sich aber eingehend mit dem Waschbecken und dem elektrischen
Ofen, die er in allen Teilen untersuchte, wobei sich wieder Zerstörungs¬
absichten gegen diese Gegenstände zeigten. Als er dann sein Interesse von
Ofen und Waschbecken ab zu neuen Dingen, aber auch wieder zu schon
bekannten und wieder aufgegebenen Dingen wendete und er sich neuerlich
mit dem Schrank beschäftigte, war dieses neuerliche Interesse von einer
viel stärkeren Aktivität, Wißbegierde und Aggression in allen Formen
begleitet als vorher. Er schlug mit einem Löffel auf den Schrank ein,
kratzte und schnitt mit dem Messer daran, bespritzte ihn mit Wasser.
Er untersuchte nun lebhaft die Türangeln, das Funktionieren der Türe,
des Schlosses usw., kletterte von innen hinauf und forschte auch
den Bezeichnungen der einzelnen Teile nach. So vergrößerte er gleichzeitig
mit diesen sich entwickelnden Interessen seinen Wortschatz, denn nun
nahm er, — u. zw. im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Interesse
für die Dinge die zugehörigen Worte auf, die er früher gehört und nicht
beachtet hatte, und nun behielt er sie und wendete sie auch richtig an.
Hand in Hand mit diesen sich entwickelnden Interessen und einer sich
verstärkenden Übertragung auf mich setzte auch die vorher unterbliebene
Objektbeziehung ein. Es hat sich in diesen Monaten ein zärtliches, nor¬
males Verhältnis zur Mutter und Nurse entwickelt; er verlangt nun nach
ihrer Anwesenheit, wünscht, daß sie sich mit ihm beschäftigen, und ist
betrübt, wenn sie ihn verlassen. Auch zum Vater besteht nun eine Be¬
ziehung, die wachsende Anzeichen der normalen Ödipuseinstellung zeigt
und auch eine sich verstärkende Objektbeziehung im allgemeinen. Der
früher fehlende Wunsch nach Verständigung hat voll eingesetzt. Dick
trachtet, sich mit Hilfe seines noch immer geringen, aber wachsenden
Wortschatzes zu verständigen, und ist eifrig bestrebt, ihn zu vergrößern.
Auch die Herstellung der Realitätsbeziehung ist, wie an zahlreichen An¬
zeichen erkennbar ist, angebahnt worden.
Die Behandlung umfaßte bisher sechs Arbeitsmonate und die in dieser
Zeit in allen fundamentalen Punkten angebahnte Entwicklung läßt eine
günstige Prognose als berechtigt erscheinen. Einige in diesem Fall sich
ergebende Probleme besonderer Art haben sich als lösbar erwiesen. Es war
5*
68
Melanie Klein
möglich, mit Hilfe weniger Worte eine Verständigung zu erzielen, es war
möglich hei dem ganz affekt- und interesselosen Kinde Angst zu aktivieren,
und es war ferner auch möglich, die Angst schrittweise wieder aufzulösen
und so zu dosieren. Hier möchte ich betonen, daß ich in diesem Falle
eine Modifizierung meiner sonstigen Technik vorgenommen habe. Im alF
gemeinen deute ich das Material erst dann, wenn es in mehrfacher Dar¬
stellung zum Ausdruck gekommen ist. In diesem Falle hingegen, wo die
Darstellungsfähigkeit fast vollständig fehlte, sah ich mich genötigt, auf
Grund meiner allgemeinen Kenntnisse auf relativ vage Darstellungen hin
zu deuten. Indem ich so den Zugang zum Unbewußten fand, gelang es
mir, Angst und Affekte zu aktivieren. Durch die zugleich damit einsetzen¬
den reicheren Darstellungen gewann ich bald eine festere Basis für die
Analyse und konnte so allmählich zur üblichen Technik der Frühanalyse
übergehen.
Ich habe früher beschrieben, auf welche Weise es gelang, durch Ver¬
minderung der latenten Angst ihr Manifest werden zu ermöglichen. Die
auftretende Angst wird z. T. durch die Deutung aufgelöst, zugleich aber
eine bessere Art der Angstverarbeitung ermöglicht, indem sie auf immer
neue Dinge und Interessen verteilt wird; hierdurch tritt eine Abschwächung
der Angst ein, die sie für das Ich erträglich macht. Ob mit Hilfe dieser
Dosierung das Ich fähig werden kann, normale Quantitäten von Angst zu
ertragen und zu verarbeiten, kann nur durch den weiteren Verlauf der Be¬
handlung erwiesen werden. Es handelt sich also in diesem Fall darum,
durch die Analyse einen grundlegenden Entwicklungsfaktor zu verändern.
Bei diesem Kinde, das sich nicht verständigen konnte, und bei dem
eine Beeinflussung des Ich nicht möglich war, war der Versuch, sich den
Zugang zum Unbewußten zu verschaffen und durch Verminderung der
unbewußten Schwierigkeiten die Entwicklung des Ich anzubahnen, die
einzige Möglichkeit einer Analyse. Der Zugang zum Unbewußten ging
selbstverständlich auch in diesem Falle wie in jedem über das Ich. Es
erwies sich hiebei, daß selbst dieses so mangelhaft entwickelte Ich aus¬
reichend war, um die Verbindung mit dem Unbewußten herzustellen.
Theoretisch bedeutsam scheint mir daran auch, daß es in einem so extre¬
men Falle, bei dem das Ich so mangelhaft entwickelt war, gelang, sowohl
j ! die Ichentwicklung wie die libidinöse Entwicklung nur durch die Analyse
I der unbewußten Konflikte ohne jedwede erzieherische Beeinflussung des Ich
! herbeizuführen. Es scheint einleuchtend, daß, wenn selbst dieses mangel¬
haft entwickelte Ich eines Kindes, das überhaupt keine Realitätsbeziehung
besaß, die mit^ Hilfe der Analyse bewirkte Aufhebung von Verdrängungen
ertragen kann, ohne vom Es überwältigt zu werden, es nicht zu befürchten
Die Bedeutung der Symbolbildung für die Ichentwiddung
69
ist daß bei neurotischen Kindern, also in sehr viel weniger extremen Fällen,
das Es das Ich überwältigen könnte. Es ist auch bemerkenswert, daß der 1
erzieherische Einfluß der Umgehung, der früher wirkungslos abprallte, nun, i
da zufolge der Analyse die Ichentwicklung fortschreitet, in steigendem 1
Maße an Wirkung gewinnt, — mit den durch die Analyse mobilisierten
Triebregungen Schritt halten kann und vollauf genügt.
Ich habe nun auch noch auf die Frage der Diagnose einzugehen.
Kollege Dr. Forsyth hat in diesem Falle die Diagnose Dementia praecox
gestellt und den Versuch einer Analyse für angebracht gehalten. Für diese
Diagnose spricht der Umstand, daß das Bild, das der Fall bot, mit dem
Bilde einer fortgeschrittenen Dementia praecox Erwachsener in vielen
wesentlichen Punkten übereinstimmte. — Es bestand— um es hier noch¬
mals zusammenzufassen — eine fast vollständige Affekt- und Angstlosigkeit,
eine sehr weitgehende Abziehung von der Realität und Unzugänglichkeit,
das Fehlen eines gemütlichen Rapportes, negativistisches Verhalten ab¬
wechselnd mit Anzeichen von Befehlsautomatie, Gleichgültigkeit gegen
Schmerz, Perseveration, also Symptome, die für die Dementia praecox
charakteristisch sind. Für die Diagnose Dementia praecox spricht ferner
der Umstand, daß eine organische Erkrankung sich mit Sicherheit aus¬
schließen läßt, erstens durch den Befund von Dr. Forsyth, zweitens durch
die Beeinflußbarkeit des Falles durch eine psychische Behandlung. Eine
Psychoneurose ist in diesem Falle, wie mir die Analyse erwiesen hat, mit
Sicherheit auszuschließen.
Gegen die Diagnose Dementia praecox spricht der Umstand, daß im
wesentlichen eine Entwicklungshemmung und keine Regression vorliegt,
ferner die überaus große Seltenheit der Dementia praecox im frühen Kindes¬
alter, die viele Psychiater zu der Auffassung veranlaßt, eine Dementia praecox
im frühen Kindesalter nicht anzuerkennen.
Ich enthalte mich der Stellungnahme zur Frage der Diagnose vom
Standpunkt der klinischen Psychiatrie. Hingegen kann ich, auf meine all¬
gemeinen analytischen Erfahrungen an Kindern gestützt, einige Bemerkungen
genereller Art über die Psychose im Kindesalter machen. Ich kam zur
Überzeugung, daß die Schizophrenie im Kindesalter sehr viel häufiger ist,
als gewöhnlich angenommen wird. Von den Gründen, warum dies im all¬
gemeinen nicht erkannt wird, führe ich einige an. l) Die Eltern, insbe¬
sondere die der ärmeren Schichten, wenden sich meistens nur in ver¬
zweifelten Fällen, — wenn sie sich mit dem Kinde gar nicht mehr helfen
können — an den Psychiater. Auf diese Weise entzieht sich eine beträchtliche
Anzahl von Fällen der ärztlichen Beobachtung. 2) Bei den Fällen, die der
Arzt zu sehen bekommt, ist er auf Grund einer flüchtigen Beobachtung
U/V'v
70 Melanie Klein
häufig nicht imstande, die Schizophrenie festzustellen. So werden viele Fälle
dieser Art unter unbestimmteren Bezeichnungen, wie „Entwicklungshemmung,
Psychopathie, Verwahrlosung, (Asoziale)Debilität“usw., zusammengefaßt. Vor
allem aber ist die Schizophrenie im Kindesalt^r undurchsichtiger und unauf¬
fälliger als beim Erwachsenen. Züge, die für die Schizophrenie charakte¬
ristisch Sind, fallen beim Kinde weniger auf, weil sie in geringerem Aus¬
maße zur Entwicklung des normalen Kindes gehören. So fallen auch eine
starke Realitätsabsperrung, mangelnder gemütlicher Rapport, Unfähigkeit
zu ausdauernder Beschäftigung, läppisches Verhalten und Unsinnreden beim
Kinde weniger auf und werden auch anders gewertet als beim Erwachsenen.
Die Überbeweglichkeit und die Bewegungsstereotypien sind beim Kinde
eine überaus häufige Erscheinung und unterscheiden sich nur durch ihr
Ausmaß von der Hyperkinese und den Stereotypien des Schizophrenen.
Befehlsautomatie muß schon in sehr starkem Ausmaße vorliegen, um von
den Eltern als etwas anderes als „Folgsamkeit“ angesehen zu werden.
Negativistisches Verhalten wird meistens als „Ungezogenheit“ betrachtet
und die Dissoziiertheit ist ein Phänomen, das beim Kinde meist überhaupt
nicht bemerkt wird. — Daß die phobische Angst des Kindes oft schwere
Verfolgungsideen paranoischen Charakters* und hypochondrische Befürch¬
tungen enthält, ist nur bei geschärfter Beobachtung, oft auch nur durch
die Analyse festzustellen. Noch häufiger als Psychosen liegen psychotische
Züge bei Kindern vor, die — unter ungünstigen Umständen — später
zur Erkrankung führen.
Ich meine also, die vollentwickelte Schizophrenie im Kindesalter ist
häufiger und insbesondere ist das Vorkommen schizophrener Züge eine viel
allgemeinere Erscheinung, als gewöhnlich angenommen wird. Ich bin auch
zur Überzeugung gekommen, die ich an anderer Stelle ausführlich begründen
werde, — daß der Begriff der Schizophrenie (im besonderen und der Psychose
im allgemeinen) im Kindesalter einer Erweiterung bedarf, und sehe eine
der vornehmsten Aufgaben der Kinderanalyse in der Aufdeckung und
Heilung der Psychosen im Kindesalter. Die dabei sich ergebenden theo¬
retischen Erkenntnisse dürften einen Beitrag zur Kenntnis der Struktur
der Psychosen liefern und auch dazu verhelfen, die diagnostische Abgrenzung
der einzelnen Erkrankungen gegen einander zuverlässiger zu gestalten.
Im Sinne der von mir vorgeschlagenen Erweiterung halte ich es für
begründet, den Fall von Dick als zur Schizophrenie zugehörig zu betrachten.
Sein Fall unterscheidet sich allerdings von der typischen Schizophrenie
1) S. auch meine Arbeit „Die Rollenbildung im Kinderspiel“. Diese Zeitschr.,
Bd. XV (1929).
•m Kindesalter dadurch, daß bei ihm eine Entwicklungshemmung vorlag,
!^hrend es in den meisten Fällen zu einer Regression nach einem Stuck
slhon vollzogener Entwicklung kommt ferner trägt auch die Schwere
des Falles zur Ungewöhnlichkeit des Bildes bei. Trotzdem aber habe ich
G^rund anzunehmen, daß auch dieser Fall nicht vereinzelt dasteht, — da
ich in letzter Zeit zwei analoge Fälle (ungefähr im gleichen Alter wie
Dick stehend) kennen lernte. Die Annahme liegt also nahe, daß bei
geschärfterem Blick die Kenntnis auch solcher Fälle sich vergrößern dürfte.
Ich fasse nun meine theoretischen Ergebnisse zusammen, denen außer
dem hier vorgetragenen Fall auch noch einige andere weniger extreme
Fälle von Schizophrenie von Kindern im Alter zwischen fünf und dreizehn
Jahren und meine allgemeinen analytischen Erfahrungen zugrunde liegen.
Die Frühstadien des Ödipuskonfliktes stehen unter der Vorherrschaft
des Sadismus. Sie fallen in eine Entwicklungsphase, die durch den oralen
Sadismus eingeleitet wird, zu dem der urethrale Sadismus, der Muskel¬
sadismus und der anale Sadismus sich gesellen, und finden mit der Vor¬
herrschaft des analen Sadismus ihren Abschluß.
Die Abwehr gegen die libidinösen Triebregungen tritt erst in den
späteren Stadien des Ödipuskonfliktes hervor, in den Frühstadien des
Ödipuskonfliktes wendet sie sich gegen die mit den libidinösen Trieb-
regungen legierten destruktiven Triebe. Die früheste Abwehr des
Ich richtet sich gegen den eigenen Sadismus und das angegriffene
Objekt als Gefahr quellen, und trägt noch einen gewaltsamen, von dem
Mechanismus der Verdrängung abweichenden Charakter. Diese gewaltsame
Abwehr gegen den Sadismus richtet sich beim Knaben auch gegen den
eigenen Penis als Exekutivorgan des Sadismus und ist eine der tiefsten
Quellen aller Potenzstörungen.
Ich lasse nun diesen auf die Entwicklung des Normalen und des Neurotikers
bezüglichen Aufstellungen die folgen, die sich auf die Genese der Psychosen
beziehen.
Den ersten, die gewaltsamen Angriffe beinhaltenden Abschnitt der
Phase der Höchstblüte des Sadismus habe ich als die Fixierungsstelle für
die Dementia praecox, den zweiten, die vergiftenden Angriffe bein
haltenden und unter der Vorherrschaft der urethral- und analsadistischen
i) Die Tatsache, daß es der Analyse in verhältnismäßig so kurzer Zeit gelang,
eine Verständigung herzustellen und ein Stück Entwicklung zu erzielen, läßt es
allerdings als möglich erscheinen, daß schon vorher nebst der erkennbaren gering¬
fügigen Entwicklung auch noch ein Stück latenter Entwicklung bestanden habe.
Aber selbst unter dieser Voraussetzung war die bei Dick vorliegende Entwicklung
eine so abnorm geringe, daß es kaum angängig ist, hier eine Regression nach schon
vollzogener Entwicklung anzunehmen.
72 Melanie Klein; Die Bedeutung der Symbolbildung für die Idientwiddung
Tnebregungen stehenden Abschnitt dieser Phase habe ich als die Fixierungs¬
stelle der Paranoia kennen gelernt.* Ich verweise auf die Feststellung
Abrahams, daß bei der Paranoia die Libido auf die frühere anale Stufe
regrediert. Meine Ergebnisse stehen auch in Einklang mit den Aufstellungen
Freuds, nach denen die Fixierungsstellen für die Dementia und Paranoia
im narzißtischen Stadium liegen und die Fixierungsstelle für die Dementia
der der Paranoia vorausgeht.
Die übermäßige und zu frühe Abwehr des Ich gegen den Sadismus
unterbindet die Herstellung der Realitätsbeziehung und den Ausbau der
Phantasietatigkeit. Indem die weitere sadistische Aneignung und Erforschung
des Mutterleibes wie auch die der Außenwelt — als eines Mutterleibes
im weiteren Sinne — zum Stocken gelangt, wird die symbolische Beziehung
mit den den Inhalt des Mutterleibes repräsentierenden Dingen und Objekten
und damit zur Umwelt und zur Realität mehr oder weniger weitgehend
eingestellt. Diese Zurückziehung wird zur Grundlage für die bei der
Dementia praecox vorliegende Affekt- und Angstlosigkeit. Bei der Dementia
praecox würde also die Regression bis zurück zu der frühen Entwicklungs¬
phase erfolgen, in der die in der Phantasie unternommene sadistische
Aneignung und Zerstörung des Mutterleibes und die Herstellung der
Realitätsbeziehung aus Angst unterbunden, resp. beeinträchtigt wurde.
i) Das Material und die ausführlicheren Begründungen für diese Aufstellungen
werde ich an anderer Stelle nachtrag^en.
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der
Von
Thomas M. F r e n c h
Bloomingdale Hospital, New York
Aus dem englischen Manuskript übertragen von Editha St er ha
Das folgende Material stammt aus der Krankengeschichte eines dreißig¬
jährigen Mannes, der seit Anfang Dezember 1927 in Anadyse war. Die
Analyse hatte im Verlaufe einer leichten Depression ohne Wahnideen ein¬
gesetzt, die während des Abklingens eines akuten Erregungszustandes aus¬
gebrochen war. Der Erregungszustand hatte vorwiegend manischen Charakter
gehabt, war aber auf der Höhe deutlich schizoid gefärbt gewesen.
Im Zusammenhang mit gewissen Details, die ich nunmehr vorlegen
will, ist es bedeutsam zu wissen, daß 1919 eine nasale Infektion abge¬
laufen war, die eine Schwerhörigkeit des linken Ohres hinterlassen hatte.
Ich will hier nur jene Anteile des analytischen Materials wiedergeben,
die auf mein Thema Bezug haben.
Am 13. April hatte der Patient nach einer Defäkation das Gefühl, als
ob er hin und her schwanken würde. Anfangs erschreckte ihn die Emp¬
findung, später war das Gefühl eher so, als ob er etwas Komisches gesehen
hätte. Er war dabei nicht schwindlig. Als Assoziation fielen ihm Ab¬
bildungen von Darmschlingen ein; daß er einmal einen masturbierenden
Affen gesehen hatte; Schlangen, eine Schlange, die in seinen Mastdarm
kroch und seinen ganzen Körper erschütterte, Sexualverkehr.
Am 7. Mai, dreieinhalb Wochen später, brachte er einen zweiteiligen Traum:
Er ist in einem gelben Landhaus an einem See, Seine Mutter kommt zu
Besuch, Es sind zwei Betten da^ eines höher als das andere^ an angrenzen¬
den Wänden des Raumes stehend, so daß die Kopfenden der Betten einander
gegenüberstehen. Der Patient kann sich nicht vorstellen, wie es unter diesen
Umständen möglich sein wird, den nötigen Anstand zu wahren, wenn seine
Mutter sich auszieht.
74
Thomas M. Frendi
Dazu erinnert er, daß in früher Kindheit die Betten seiner Eltern und
sein eigenes genau so gestanden haben wie im Traum, nur daß die Fu߬
enden einander gegenüberstanden. Im Alter von zwölf Jahren nahm ihn
die Mutter in eine überfüllte Sommerfrische mit, wo er und die Mutter
im gleichen Zimmer schlafen mußten. Er behauptete nun, einmal durch
zwei Ratten geweckt worden zu sein, die auf seinem Gesicht miteinander
rauften. Als er erwachte, sei die eine Ratte den einen, die andere den
anderen Arm entlang davongelaufen. Er betont ebenso die Lebhaftigkeit
dieses Erinnerungsbildes wie seine Überzeugung, daß es nicht ein Traum,
sondern ein wirkliches Erlebnis war.
Ich glaube, wir können annehmen, daß hier ein wirkliches Erlebnis
dahintersteckt, aber das Wirkliche daran ist wohl früheren Datums. Dieses
Nachtgespenst ist wohl eine recht wenig verhüllte Darstellung der Urszene.
Die beiden Ratten sind seine Eltern, und die wahrscheinliche Annahme
ist die, daß er, als er mit den Eltern im gleichen Zimmer schlief, einmal
einen Geschlechtsverkehr beobachtet und ihn als einen Kampf aufgefaßt
hatte. Als er dann im Alter von zwölf Jahren wieder mit der Mutter in
einem Raum beisammen schlief, wurde diese Erinnerung wiederbelebt
und in dem Traumgespenst lebendig. Der jetzige Traum verleugnet die
Realität der Szene, indem er die Betten umstellt.
Wir wollen nun zum zweiten Teil des Traumes kommen:
Die Mutter des Patienten wird nun zu dessen Frau und er führt sie in
einem Boot vom Landhaus aus auf den See. Im See ist eine Insel. Plötz¬
lich beginnt die Landschaft sich im entgegengesetzten Sinn des Uhrzeigers
zu bewegen, wie ein Panorama, aber die einzelnen Szenen erscheinen in
der Reihenfolge, als ob die Landschaft sich in umgekehrter Richtung be¬
wegte. Die Insel weicht dabei aus und der Patient zeigt seiner Frau einen
Platz, wo er, sein Vater, seine Mutter und sein Bruder einmal ein Picknick
abgehalten hatten.
Der See, das Landhaus und der Picknickplatz entsprechen einer Örtlich¬
keit, wo der Patient wirklich mit Vater, Mutter und Bruder ein Picknick
abgehalten hatte; im wirklichen See ist aber keine Insel. Die Insel hat
im Traum die Form einer weiblichen Brust, Vom Picknickplatz aus wurde
damals eine Photographie vom Patienten und seinem Bruder gemacht, in
einem Boot, als ob sie ruderten, aber das Bild fiel ein wenig lächerlich
aus, weil darauf deutlich zu sehen war, daß sie in Wirklichkeit völlig
still gesessen hatten. Die sich drehende Landschaft erinnerte ihn an die
schon berichtete Phantasie von der Schlange im Mastdarm, die seinen
Körper zum Schwanken brachte. Er erinnert sich ferner an ein Gemälde
der Schlacht von Waterloo und an einen Sketch, in dem Wellington eine
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge 75
Pfeife nach der andern aus dem Mund geschossen wird, worauf er sich
immer wieder eine neue anzündet. Dem Patienten hatte man auch erzählt,
daß nach Victor Hugo der Ausgang der Schlacht vom Kopfnicken eines
Bauern abhängig war. Er erinnert sich auch an die Aussicht vom
Fenster eines fahrenden Zuges, und an einen Kreisel, der durch Druck
auf einen senkrecht stehenden Knopf in Bewegung gesetzt wurde.
Hinter dem Patienten und etwas rechts von ihm, als er im Boot mit
seiner Frau saß, war ein schmales, weißes Haus, mit der Aufschrift
^Hobo’s Rest‘^^ Die Lage des Hauses entspricht räumlich der Stellung
des Analytikers, der etwas rechts hinter dem Patienten sitzt.
In diesem Traumteil sehen wir die traumatische Erinnerung an die
Urszene in zweierlei Weise umgestaltet, wobei freilich die eine nicht mit
der anderen übereinstimmt.
1) An Stelle des unbeweglichen, schreckerfüllten Kindes voll Kastrations¬
angst ist er nun der große Wellington, der den Penis jederzeit ersetzt,
wenn er ihm abgeschossen wird, und die ganze Schlacht „hängt von seinem
Kopfnicken ab“.
2 ) Der Patient hat jetzt die Mutter, während der Vater (Analytiker)
sich in „Hobo’s Rest“ befindet. Es muß also bemerkt werden, daß es
in beiden Fällen die hilflose Passivität gegenüber der Urszene ist, gegen
die er sich auflehnt und die er überkompensiert.
Was aber ist der Sinn der sich drehenden Landschaft? Zwei Gedanken
drängen sich auf. Die rasche Bewegung der Landschaft ist zweifellos eine
Darstellung der heftigen Bewegung in der Urszene. Wahrscheinlich spiegelt
sich in der Verwirrung der Bewegungsrichtung die Bestürzung des Kindes
über den ungewohnten Anblick wider. Wir haben allen Grund anzu¬
nehmen, daß er gleichzeitig erschrocken und neugierig war. Im Traum
zeigt er seiner Frau einen früheren Picknickplatz, eine Geste, die deut¬
lich kompensatorisch für die unbefriedigte Neugier aus der früheren Szene
eintritt. Außerdem: Bewegt sich nicht die Insel aus der Blickrichtung
weg, damit er sehen kann? Es liegt auch noch ein tieferer Konflikt vor,
der viel zu seiner Bestürzung beigetragen haben mag. Einige seiner Asso¬
ziationen zum Traum — die Phantasie von der Schlange im Mastdarm,
der Kreisel mit dem Kopf zum Draufdrücken und das Bild von Wellington
mit der Pfeife im Mund — weisen auf eine Identifizierung des Kindes
niit der Mutter in ihrer passiven Rolle hin; aber die ganze Tendenz dieses
Traumes ist eine heftige Zurückweisung dieses Wunsches zugunsten seines
aktiven Narzißmus. Ein solcher Konflikt kann wohl als Ursache der Be¬
stürzung betrachtet werden.
1) Ruhesitz des Vagabunden.
76
Thomas M. Frendi
Aber warum ist die Verwirrung gerade durch eine rotierende Land¬
schaft dargestellt ? Der Patient vergleicht den Eindruck mit dem, den man
beim Schauen aus einem fahrenden Zug gewinnt. Dies legt die Möglich¬
keit nahe, daß der Patient selbst es ist, der bewegt wird. Wir erinnern
uns hier an die Versuche auf dem Drehstuhl zum Zwecke der Funktions¬
prüfung der Bogengänge.
Die frühen Berichte der Literatur über die Richtung der Bewegung der
umgebenden Gegenstände nach Drehstuhlversuchen widersprechen einander.
Purkinje, Hering, Breuer und Hitzig berichten, daß die schein¬
bare Bewegung der Objekte entgegengesetzt ist jener, in der die Versuchs¬
person bewegt worden ist. Helmholtz behauptet andererseits, daß,
wenn die Versuchsperson während der Drehung die Augen offen hatte,
die postrotatorische scheinbare Bewegung der Objekte, die gewöhnlich in
derselben Richtung erfolgt wie die Rotation, manchmal in entgegen¬
gesetzter Richtung abläuft; dagegen sei bei Rotation bei geschlossenen
Augen die scheinbare Bewegung fast regelmäßig in entgegengesetzter
Richtung erfolgt. Nach B d r a n y gibt es individuelle Unterschiede. Er
stellt fest, daß bei gleichzeitigem Nystagmus mit der raschen Zuckung
nach rechts (so wie er nach einer Drehung nach links auftritt) für manche
Individuen die Objekte sich nach rechts zu bewegen scheinen, für andere
vor und zurück, für wieder andere nach links und schließlich für wieder
andere überhaupt nicht. Ewald beobachtete, daß eine Laterne sich in
einer Richtung bewegt hätte und ein dahinter liegendes Haus in einer
anderen. Eine Arbeit von Leiri scheint manches Widerspruchsvolle zu
klären. Leiri setzte sich, nachdem er zehnmal rasch nach rechts gedreht
worden war, rasch in einen Stuhl beim Fenster und fixierte dort eine
Vase. Er konnte beobachten, daß die Vase sich nach links zu bewegen
schien, d. h. in der entgegengesetzten Richtung als die, in der er selbst
gedreht worden war; aber die Wand dahinter schien nach rechts zu gehen,
also in der Richtung seiner eigenen Drehung.
Leiri versucht ferner, diese Beobachtung mit dem postrotatorischen
Nystagmus in Zusammenhang zu bringen. Dieser besteht, wie wohl be
kannt, in einer raschen Zuckung der Augen in der der vorhergehenden
Drehung entgegengesetzten Richtung und einer langsamen Bewegung iri
der Richtung der vorhergehenden Drehung und entspricht weitgehend dem
Nystagmus, der auftritt beim Versuch, nahegelegene Objekte vom Fenster
eines fahrenden Zuges aus zu fixieren. Im Falle des Schauens aus dem
Waggonfenster führt das Auge eine langsame Rückwärtsbewegung aus im
Bestreben, dem Objekt nach rückwärts zu folgen, dann holt es durch eine
rasche Bewegung, die in der Richtung des fahrenden Zuges erfolgt, den
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge
77
durch das Zurückbleiben erlittenen Verlust wieder auf. Ein Vergleich
weist auf einen Zusammenhang einerseits zwischen der langsamen Be¬
wegung des Nystagmus und der fixierenden Sehfunktion der macula lutea
und andererseits zwischen der raschen Bewegung des Nystagmus und der
unfixierten Sehtätigkeit der peripheren Retina hin. Dies entspricht genau
Leiris Beobachtung, daß nach heftiger eigener Rechtsdrehung die
fixierte Vase der langsamen Bewegung des postrotatorischen Nystagmus,
die in diesem Falle nach rechts erfolgte, entsprechend nach links zu gehen
schien, während die Wand dahinter, die nur mit der Peripherie der Retina
gesehen wurde, sich entsprechend der raschen Zuckung des postrotatorischen
Nystagmus, die nach links erfolgte, nach rechts zu bewegen schien.
Nachdem ich die Beschreibung dieses Experimentes gelesen und es an
mir selbst erprobt hatte, kam es mir in den Sinn, daß damit vielleicht
ein neues Licht auf gewisse Einzelheiten in der Traumbeschreibung
meines Patienten fallen könnte, die vorher ungenügend erklärt waren. Ich
wiederhole die Beschreibung des Traumes, wie der Patient sie gab:
Plötzlich heginnt die Landschaft sich im entgegengesetzten Sinn des Uhr¬
zeigers zu bewegen, wie ein Panorama, aber die einzelnen Szenen erscheinen
in der Reihenfolge, als oh die Landschaft sich in entgegengesetzter Richtung
bewegte. Die Insel weicht dabei aus.
Ich bedauere es, daß diese Schilderung nicht genauere Einzelheiten
enthält, so in bezug auf die Richtung der Bewegung der Insel, weil ich
verabsäumt hatte, danach zu fragen, zu jener Zeit nicht bedenkend, daß
es von theoretischer Bedeutung werden könnte; aber der Ausdruck „moved
out of the way“ den der Patient für die Insel gebrauchte, deutet zumindest
auf eine Bewegung entgegengesetzt der der umgebenden Objekte hin. Dies
war auch der endgültige Eindruck, den die Erzählung bei mir hinterließ.
Wenn dieser Eindruck richtig ist, dann entspricht die Beschreibung genau
dem Eindruck, den man beim Patienten erwarten würde, wenn er knapp
vorher nach links gedreht worden wäre und sofort nach dem Auf hören
der Drehung die Insel fixiert hätte. Die Landschaft im ganzen bewegt
sich nach links; die Insel ^geht aus dem Weg^^ nach rechts. Aber obwohl
Landschaft und Insel sich in entgegengesetzter Richtung bewegen, findet
keine Veränderung der relativen Lage der beiden zueinander statt, ein
Phänomen, das dahingehend beschrieben wird, daß die Szenen der Land¬
schaft gerade in der entgegengesetzten Richtung auftauchen, als die Be¬
wegung es hätte erwarten lassen. Es sei daran erinnert, daß in den wissen¬
schaftlichen Arbeiten die Angaben über die postrotatorische scheinbaire
Bewegung visuell apperzipierter Objekte verworren sind, und daß Versuchs¬
personen B a r d n y s die Bewegungen sogar als oszillatorische geschildert
78
Thomas M. Frendi
haben. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß die Empfindung des
Patienten, es bestehe ein Widerspruch in der Bewegungsrichtung, einen
individuellen Versuch darstellt, die subjektive Bewegungsempfindung, die
aus der nystagmischen Oszillation der Augäpfel resultiert und der kein
wirklicher Wechsel in der Relation der Positionen der Objekte entspricht,
zu charakterisieren.
Wenn wir aber eine Ähnlichkeit zwischen Traumbild und dem Zu¬
stand, der durch einen postrotatorischen Nystagmus bedingt wird, an¬
nehmen, was hilft uns diese Annahme zur Deutung des Traumes? Können
wir annehmen, daß der Patient durch ein Sichumdrehen im Bett den
Vestibularapparat ausreichend gereizt habe, um das gewöhnlich postrotatörisch
auftretende Phänomen im Traumbild entstehen zu lassen? Und wenn das
der Fall ist, wie steht das mit einer Reaktion auf die Urszene in sinn¬
voller Beziehung?
Im meine, wir lassen diese Frage vorläufig unbeantwortet, bis wir
anderes Material, das der Patient später brachte, diskutiert haben.
Der folgende Traum wurde vom Patienten am i6. Mai gebracht, also
neun Tage nach dem Traum, der den Gegenstand obiger Diskussion bildete.
Der Patient hatte vorher mit der Phantasie von einer Prostituierten mastur¬
biert, mit der er das erste und einzige Mal in seinem Leben zu Beginn
seines Erregungszustandes Geschlechtsverkehr hatte. Die Masturbation war
gefolgt vom Antrieb, Selbstmord zu begehen durch Verschlucken von
Stecknadeln, die im Bureau lagen. In der Nacht träumte er dann folgendes:
Er ist auf einem Ozeandampfer. Obwohl das Wasser spiegelglatt ist,
geht das Schiff auf und nieder. Der Patient geht nach vorne, um zu sehen,
wie der Bug das Wasser schneidet, aber es ist nicht möglich, genug weit
nach vorne zu gehen. Dann klettert er auf einen Mastkorb. Er hat ein Steuer¬
rad in der Hand und fühlt, daß er das Schiff steuert. Er fühlt eine
freudige Erregung darüber, so viel Macht in der Hand zu haben. Dann
kommt das Schiff in eine Stadt. Der Patient lenkt es durch die Straßen
der Stadt und kann dabei über die Dächer der Häuser hinweg sehen. Ein¬
mal streift das Schiff ein rauchgeschwärztes Gebäude und prallt gegen die
andere Seite ab. Er wendet sich an seinen Bruder (vier Jahre älter), der
neben ihm steht.
Dann steht er in der Straße, in der das Schiff war. Er sieht die Leute
vorbeiströmen, als wäre es ein Strömen, verursacht durch den Dampfer, der
gerade vorbeigefahren ist.
Er gibt dazu folgende Assoziationen: Das strömende Volk erinnert ihn
an Spermatozoen, die Durchfahrt des Schiffes durch die Straßen an den
Koitus. Er erinnert sich an eine Ozeanreise, bei der das Wasser Spiegel-
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge
79
glatt war, er aber eine von unten aufsteigende Strömung beobachten
konnte Auf einer anderen Ozeanreise gab der Decksteward einem anderen
gegen ein Trinkgeld bei der Auswahl der Deckstühle den Vorzug vor dem
Patienten. Das ärgerte ihn während der ganzen Reise. Bei der Marine
versuchte er einst in einen Mastkorb zu klettern, fand ihn aber ver¬
schlossen. Wenn er über den Ozean hinblickte, hatte er das Gefühl, daß
er so klein und unbedeutend sei im Vergleich zur unermeßlichen Aus¬
breitung der Wasserfläche. Der Traum erinnert den Patienten ferner an
seine zahlreichen Schiffsphantasien, die häufig seine Onanie begleiten. In
diesen Phantasien malt er sich das Schiff oft sehr klein und eng aus.
Es sei festgestellt, daß dieser Traum viele Merkmale des vorher be¬
sprochenen Traumes wiederholt. Der Patient ist wieder auf einem Schiff.
Der Verkehr der Eltern ist in durchsichtiger Symbolik dargestellt und der
Patient hat wiederum das Gefühl, daß er die ganze Kraftentfaltung lenkt.
Andererseits ist das Gefühl seiner Hilflosigkeit und Nichtigkeit dies¬
mal ebenfalls deutlich ausgedrückt. Er fühlt sich so klein im Vergleich
zum unermeßlichen Weltmeer. Die vergebliche Neugier, die im letzten
Traum kompensiert war, ist nun direkt empfunden, dann überkompen¬
siert: Er klettert in den Mastkorb, den er in Wirklichkeit verschlossen
gefunden hatte. In der Besprechung des anderen Traumes wurden wir
dazu geführt anzunehmen, daß der Patient sich selbst als passiv bewegtes
Objekt dargestellt habe. Im jetzigen Traum ist die passive Bewegung direkt
dargestellt, aber gleichzeitig auch negiert. Das Boot geht auf und nieder,
wiewohl das Wasser glatt ist. Endlich findet die sich drehende Landschaft
eine Art Analogon im strömenden Volk, dessen Bewegungsursache das
Schiff ist, und wir haben damit eine Verstärkung unserer Analogie mit
dem postrotatorischen Effekt; denn hier ist ausdrücklich betont, daß die
Strömung durch die Durchfahrt des Schiffes, auf dem der Patient fuhr,
verursacht wurde.
Ein anderer Punkt, der im vorigen Traum kaum angedeutet war, wird
hier völlig klar. Der Patient ist auf einem Schiff, in einer Stadt; sein
Bruder ist bei ihm, er sieht die Spermatozoen an sich vorbeiströmen. Wir
haben es hier offenbar mit der Phantasie einer intrauterinen Koitus¬
beobachtung zu tun. Dies wirft neues Licht auf die passive Bewegung,
die dem Patienten widerfährt.
Zwölf Tage später, am 28. Mai, litt der Patient nachts an Übelkeit.
Er träumte dabei, daß er versuchte^ sich von faserigem Tjeugy das an seiner
Tjunge klebte^ zu befreien.
Den Assoziationen nach entsprach die Zunge einem Penis sowie dem
Kopf eines Lateinprofessors, der gerne obszöne Anspielungen machte und
80
Thomas M. Frendi
später an einer Lähmung der Zunge erkrankte. Das Material der nächsten
Tage brachte die Phantasie von einem Boot, in der sich deutlich der unbe¬
wußte Verdacht ausdrückte, daß der Analytiker sich allzusehr für die Frau des
Patienten interessiere. In der nächsten Nacht war dem Patienten wieder
schlecht und er träumte folgendes:
Er befindet sich in einer Art chinesischem Flußdampfer, der in
einen Küstenhafen einläuft. Die TFellen fegen steuerbords über Deck. Ein
Chinese steht auf einem Sessel auf dem einzigen trockenen Fleck. Dann
kommen einige chinesische Weiber, als ob sie vor einer Woge davonliefen.
Das Boot schwankt, und der Patient fragt seine Frau, ob sie seekrank sei.
Sie sagt „nein . Er beobachtet, wie das Boot das Wasser schneidet. Das
Boot fährt knapp an einer roten Boje vorbei.
Die Assoziationen waren folgende: Er erinnert sich an eine Seekrank¬
heit, die er auf einem „French“-Dampfer durchgemacht hat und die ihm
schon im Zusammenhang mit dem Traum vom faserigen Zeug auf der
Zunge eingefallen war. Er erinnert sich ferner an eine Reise auf einem
chinesischen Flußdampfer, auf dem die Chinesen im Zwischendeck zu¬
sammengedrängt waren und bei der Landung ohne Umstände hinaus-
getriehen wurden. Er erinnerte sich weiter an zahlreiche Stürme auf hoher
See, besonders an einen Monsun, bei dem das Wasser furchtbar über
Steuerbord ging, so daß er seekrank wurde. Die Boje erinnert ihn an
einen nervösen Kapitän auf einem Flußdampfer, der beim Landungsversuch
beinahe auf eine Ankerboje aufgefahren wäre. Der Chinese auf dem
einzigen trockenen Fleck läßt ihn an sich selbst denken, wie er ohne
Rücksicht auf seine Frau im Spital verbleibt.
Dieser Traum ist in seinem latenten Sinn deutlich dem vorher be¬
sprochenen verwandt; aber der Ansturm der passiven Strebungen ist viel
stärker und der männliche Narzißmus des Patienten verteidigt sich nun¬
mehr mit Hilfe organischer Symptome (Übelkeit), die er nun auch auf
seine Frau zu projizieren versucht. Seine Wunschvorstellung, daß er
selbst die Ursache der Bewegung sei, ist nunmehr nicht länger
haltbar. Die beste Abwehr, die er jetzt aufbringen kann, ist, sich
„auf den einzigen trockenen Fleck“ zu begeben. Es sei betont, daß die
Übelkeit hier einen zweifachen Sinn hat: Erstens als Abwehr oraler, homo¬
sexueller Wünsche, zweitens kann die Seekrankheit als Abwehr der passiven
Rotation, die hier wiederkehrt, aufgefaßt werden. Es ist von Interesse, daß
die Wogen von rechts kommen und daher das Boot zu einer Drehung
von rechts nach links veranlassen müssen. Es sei daran erinnert, daß der
Traum von der rotierenden Landschaft auf eine vorhergegangene Drehung
in der gleichen Richtung hinzuweisen schien.
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge
81
In den nächsten zwei Monaten kam kein Material, das den Gegenstand
unseres Interesses betraf, aber Mitte Juli brachte der Entschluß des Patienten,
die Onanie einzustellen, Material, das die homosexuellen Triebregungen
des Patienten ins Zentrum der Analyse rückte. Der Patient war in bezug
auf die Existenz solcher Triebregungen äußerst skeptisch. Am 25. Juli
berichtet der Patient von einer Phantasie, in der er Mädchen unterwies,
sich dem Koitus ohne Widerstreben zu unterwerfen. Dann wurde das
homosexuelle Material durch eine Periode von drei Tagen (26. bis 28. Juli)
unterbrochen, während deren der Patient über Schwindel, Schwäche (wie
er meinte, aus Hunger) und leichte Übelkeit klagte.
Er erinnerte sich dann, daß er kurze Zeit vorher, als der Friseur seinen
Kopf rasch von links nach rechts drehte, die Empfindung gehabt hätte,
als ob der Raum und die Lichter in derselben Richtung liefen. Bei einer
anderen Gelegenheit, als er auf seinem Ruhebett lag und sich umdrehte,
hatte er sofort danach das Gefühl, als ob er sich in der entgegengesetzten
Richtung drehe. In seiner Kindheit hatte er einmal geträumt, daß er an
der rechten Bettkante liege und herauszufallen drohe. Er drehte sich nach
links, um dieser Gefahr zu entgehen, und fiel tatsächlich aus dem Bett.
Vor dieser Sitzung hatte der Patient sich drei Nächte hintereinander so zu
Bett gelegt, daß er auf den Decken ]ag, war aber jedesmal von den
Decken bedeckt aufgewacht. In der nächsten Nacht ertappte er sich
dabei, wie er die Decke über sich zog, indem er sich herumrollte. Als
Kind pflegte er sich um sich selber zu drehen, bis er schwindlig wurde
und hinfiel. Dabei stellte er sich vor, daß er einen heroischen Tod erleide.
Schließlich verbot ihm die Mutter dieses Spiel. Er schaukelte sehr gern
auf einer Schaukel und tagträumte dabei, daß er erwachsen sei, Schiffs¬
reisen unternehme und darüber schreibe. Er saß auch oft unbeweglich in
der Schaukel und stellte sich vor, daß der Raum sich um eine eiserne
Achse drehe. Nachdem wir drei Tage solches Material besprochen hatten,
durchbrach der Patient das erstemal nach siebzehn Tagen seine selbst auf¬
erlegte Onanieabstinenz.
Aus dem Material geht deutlich hervor, daß der Patient eine unge¬
wöhnlich hohe Erregbarkeit der vestibulären Reflexe aufwies. Wenn der
Friseur nur rasch seinen Kopf drehte, oder wenn er sich im Schlaf um¬
dreht, tritt derselbe Effekt ein, wie bei anderen Menschen nach wieder¬
holter Drehung. Der Reflexablauf selbst ist dabei von normalem Typus.
Es sei daran erinnert, daß ein beträchtlicher Grad von Schwerhörigkeit
im linken Ohr des Patienten seit einer nasalen Infektion von 1919 her
vorhanden war. Eine Prüfung im April 1927, kui-ze Zeit vor der Auf¬
nahme in das Bloomingdale Hospital, fand die Luftleitung rechts etwas.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i
6
1
82 Thomas M. Frendi
links beträchtlich herabgesetzt. Eine tönende Stimmgabel an die Stirn ge¬
setzt, wurde links gehört. Die Bdrdnysehen Versuche ergaben, daß kein
pathologischer Nystagmus vorlag und daß die Drehreaiktion normal war.
Beide Trommelfelle erschienen normal. Die Schwerhörigkeit des Patienten
beruht sonach offenbar auf einer Mittelohraffektion und nicht auf einer
Erkrankung des Lab3rrinths.
Gesteigerte Erregbarkeit des Vestibularapparates ist als gewöhnlicher
Befund bei Neurosen beschrieben, in deren Symptomenkomplex Schwindel-
zustande eine Bolle spielen. B d r a n y behauptet, daß „Neurasthenie“
besonders die Dauer des horizontalen Nystagmus nach Rotation in
der Horizontalebene erhöht. Das Auftreten rotierender Bilder in Träumen
von Patienten, die an nervösem Schwindel leiden, wurde von L e i d 1 e r
und L o e w y beschrieben. Es ist dabei von Interesse, daß eine Reihe der
Fälle von L e i d 1 e r und L o e w y ebenfalls von lustbetonten Phantasien
und Spielen in Verbindung mit Reizung der Bogengänge berichten.
Es ist damit also sichergestellt, daß unser Patient die Gewohnheit hat,
sich im Schlaf umzudrehen und interessanterweise, soweit wir es beurteilen
können, immer in derselben Richtung, und zwar von rechts nach links. Es
sei daran erinnert, daß alles Traummaterial dieselbe Drehrichtung aufwies.
Rückkehrend zum Traum von der rotierenden Landschaft, können wir
jetzt kaum daran zweifeln, daß er eine Reaktion des Patienten auf eine
Umdrehung im Schlaf in der Richtung von rechts nach links darstellt.
Es bleibt die Frage: Wie paßt dies zum Sinn des Traumes? Der Traum
stellt den Patienten dar, wie er seiner Frau einen früheren Picknickplatz
zeigt, wo er einmal mit Vater, Mutter und Bruder war; aber die Analyse
der Rotationsbewegung läßt den Schluß zu, daß er dabei in Wirklichkeit
auf die Insel blickte. Kann diese Diskrepanz irgendwie beseitigt werden?
Es sei daran erinnert, daß die Insel die Form einer weiblichen Brust hatte.
Die Mutterbrust ist nun in der Tat ein Picknickplatz für das Kind. Insel
und Picknickplatz sind also in ihrer unbewußten Bedeutung identisch.
Der Sinn des Traumes ist nun klar. Der Traum stellt eine Reaktion
auf die ürszene dar, nicht im Sinne einer Identifizierung mit Vater oder
Mutter, sondern in Form einer Regression auf den Wunsch nach der
Mutterbrust.
Nun haben wir noch seine Umdrehung nach links zu deuten. Hier
können wir eine neuere Beobachtung von Hoff zu Rate ziehen. Bei der
Untersuchung der Tatsache, daß durch die Einwirkung von Medinal und
Veronal sich oft eine völlige Ungleichheit der Reizbarkeit des Vestibular¬
apparates nach beiden Seiten zeigt, findet Hoff, daß die untersuchten
Fälle, bei denen organische Erkrankungen des vestibulären und zerebellaren
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge
83
Apparates ausgeschlossen werden konnten, in jedem Falle ständig auf der
Seite schliefen, die dem stärker erregbaren Vestibularapparat entsprach. Er
fand daß unter hundert organisch normalen Individuen annähernd
70 Prozent nur in einer bestimmten Lage schlafen konnten, wobei,
was für uns von hohem Interesse ist, viele von ihnen von dieser Tat¬
sache gar keine Kenntnis hatten, was dem Umstand zuzuschrfiben war,
daß diese Lage oft erst eingenommen wurde, nachdem das I idividuum
schon eingeschlafen war. Wenn die Versuchsperson durch mechanische
Vorrichtungen gezwungen wurde, in einer anderen Lage zu schlafen,
konnte sie nicht einschlafen. Nur durch Mittel, die außerordentlich starke
Ermüdung erzeugten, gelang es in einigen Fällen, trotzdem Schlaf zu
erreichen. Aber auch in diesen Fällen war der Schlaf sehr gestört und
die Versuchsperson erwachte nach einigen Stunden und berichtete von
Träumen, in denen sich Gegenstände um sich selbst gedreht hatten, oder
daß andere Phänomene, die für den Vestibularapparat charakteristisch sind,
aufgetreten waren.
Kehren wir zu unserem Fall zurück: Die Tendenz des Patienten, sich
nach links zu drehen im Verein mit den visuellen Erscheinungen, die so
auftraten, wie sie zum Nystagmus mit der raschen Zuckung nach rechts
gehören, weisen ziemlich eindeutig auf den rechten Vestibularapparat
als den leichter erregbaren hin. In diesem Falle haben wir nach Hoffs
Befunden zu erwarten, daß er auf der rechten Seite schlafe. Es wird dann
durchaus verständlich, daß, wenn er sich im Schlaf umdrehte, das in der
Richtung nach links erfolgte, denn dies war die einzig mögliche Richtung.
Es bleibt die Frage offen, welches die psychologische Bedeutung der
Drehung in Zusammenhang mit dem restlichen Traummaterial ist. Zwei
Gedanken drängen sich hier auf. Vielleicht ist seine Drehung nach links
selbst ein Bestandteil der Urszene. Nach der Beschreibung des Patienten
von der relativen Lage der Betten erscheint es, daß das Bett der Eltern
in der Richtung des Fußendes links vom Bett des Patienten stand. W^enn
der Patient nun auf der rechten Seite lag, mußte er, um seine Eltern zu
sehen, sich auf die linke Seite umdrehen.
Eine zweite Möglichkeit steht damit nicht im Widerspruch. Vielleicht
belebt er darin Erinnerungen daran, daß seine Mutter ihn zu sich gedreht
hat, um ihm die Brust zu reichen. Der Traum wird dann verständlich
als eine Verdichtung der beiden Erlebnisse, indem der wichtige affektive
Gehalt der Urszene auf das eine charakteristische Merkmal, das mit der
Erfahrung beim StillaJkt gemeinsam war, nämlich das Herumdrehen ver¬
knüpft mit der anscheinenden drehenden Bewegung der Objekte, ver¬
schoben wurde.
6*
84
Thomas M. Frendhi
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch an die allgemeine
symbolische Bedeutung von „rechts“ und „links“, die sich auch im
Sprachlichen widerspiegelt, erinnern, nämlich auf den Zusammenhang
zwischen rechter Körperseite und dem im moralischen Sinne Rechten. Die
rechte Hand ist die, die die Kinder zu gebrauchen unterwiesen werden,
und um „aufrecht“ gehen und stehen zu können, bedarf es einer ge¬
wissen Selbstbeherrschung, zu der die Eltern ebenso auffordern. Vielleicht
ist deshalb die linke Seite leichter assoziiert mit einer Regression auf Er¬
innerungen, in denen das Individuum Objekt passiver Bewegung war.
In Verbindung mit dieser Regression will ich noch einen anderen Punkt
hervorheben. Das Spiel und die Phantasien, die ich oben erwähnt habe,
machen es deutlich, daß nicht nur der Stillakt, sondern auch das Herum¬
gedrehtwerden für den Patienten eine erotische Befriedigung mit sich
brachten. In der Tat schien das Schwindelgefühl und die Übelkeit für
eine Zeit von drei Tagen den größten Anteil seiner Libido zu absorbieren.
Es ist ja bekannt, daß Kinder gern geschaukelt werden, ältere
Kinder gerne schaukeln und Karussell fahren, und die meisten Erwachsenen,
wenn sie einmal die Seekrankheit überwunden haben, am Rollen und
Stampfen eines Schiffes auf hoher See Vergnügen finden. Es ist auch
wohl möglich, daß der visuelle Eindruck der scheinbaren Bewegung der
Umgebung eine nicht unwichtige Rolle bei der Lust an solcher Bewegung
spielt, denn wir alle wissen, daß Kinder besonders von bewegten Gegen¬
ständen angezogen werden, und es besteht wenig Grund, anzunehmen,
daß das Kind von vornherein genau zwischen scheinbarer Bewegung der
Umgebung auf Grund der eigenen Bewegung und wirklicher Bewegung
der Gegenstände unterscheiden könne. Ich neige daher dazu, anzunehmen,
daß in den angeführten Träumen wir den Beweis für visuelle, der
Labyrinthfunktion entsprechende und kinästhetische Lustmomente finden,
die aus der passiven Bewegung stammen, die zumindest in diesem Falle
einebedeutendeRollein Verbindung mit der Oralerotik im frühesten Stadium
der postnatalen libidinösen Entwicklung spielten und später in engen
Zusammenhang mit Mutterleibsphantasien gebracht wurden.
Es ist von Interesse, den engeren Zusammenhang zwischen diesen Lust¬
momenten der passiven Bewegung und dem homosexuellen Material
unseres Patienten zu betrachten. Ich vermute, daß die Verdichtung der
beiden Strebungen in der Mutterleibsphantasie mehr darstellt als ein bloß
zufälliges Zusammentreffen, daß sie durch eine Art struktureller Einheit¬
lichkeit bedingt ist. Es wäre möglich, daß die passiv-homosexuellen Wünsche
als einen wichtigen Bestandteil eine spätere Differenzierung und Um-^
Wandlung der kindlichen Lust an der passiven Bewegung enthalten!
Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge
85
Der Verlust der Fähigkeit, zwischen eigener Bewegung und Bewegung
der umgebenden Objekte zu unterscheiden, der ein so auffallendes Charak¬
teristikum unseres Materials darstellte, bildet ein interessantes Korrelat zu
Tausks Konzeption vom Verschwinden der Ichgrenzen bei tief regressivem
Material. Das Fehlen von Ichgrenzen im Tauskschen Sinne ist im
Material unseres Patienten sehr deutlich und gehört ebenso zur frühesten
Periode der postnatalen Entwicklung. Dieser Verlust der Ichgrenzen macht
dem Patienten den Übergang vom Gefühl äußerster Hilflosigkeit und
Nichtigkeit im Vergleich zum Vater zur Identifizierung mit diesem Vater
in seiner Allmacht möglich.
Es ist ferner bemerkenswert, daß die Übelkeit und die Schwindel¬
gefühle erst auftreten, sobald der Patient mit einer aktiven Abwehr gegen
seine passiven Strebungen einsetzt. Dies stimmt endlich überein mit
der organischen Auffassung des Schwindels als eines Symptomes des
drohenden Gleichgewichtsverlustes. Seekrankheit z. B. wird bedeutend
gemildert durch horizontale Ruhelage, das heißt durch die Auf¬
gabe des Versuches, die aufrechte Position einzuhalten. Das Symptom des
Schwindels, das nach Ferenczi häufig am Ende der analytischen
Stunde auftritt, stimmt mit unserer Erklärung des Schwindels als Aus¬
druck eines Konflikts zwischen passiven Wünschen (Luststreben nach
passiver Bewegung, passive homosexuelle Strebungen) und einem Ich, das
darum kämpft, eine mehr aktive Rolle zu erlangen, völlig überein. Die
allgemeiner gefaßte Konzeption von Bauer und Schilder, daß der
psychogene Schwindel „ein Ausdruck der ünversöhnlichkeit zweier Sphären
psychischer Erfahrung“ sei, paßt ebenfalls zu der hier vertretenen Auf¬
fassung.
Literatur
Bäräny, Robert: Physiologie und Pathologie des Bogengangapparates beim
Menschen. 1907.
Bauer, J. und Schilder, P.: Über einige psychophysiologische Mechanismen
funktioneller Neurosen. Zeitschr. f. Nervenheilkunde, 1919, Bd. 64.
Breuer, J.: Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinths. Med. Jahr¬
bücher, Wien, 1874. Zitiert von Leiri.
Ewald, J. R. und Wollenberg, R.: Der Schwindel. In „Spezielle Pathologie und
Therapie“. Nothnagel, Bd. XII, 2. Aufl., 1911, zitiert von Leiri.
Ferenczi, S.: Schwindeiempfindung nach Schluß der Analysenstunde. Int. Zeitschr.
f. PsA., 1914.
Helmholtz, H. von: Handbuch der physiologischen Optik. Bd. III, Hamburg, 1910.
Hering, E.: Beitrag zur Physiologie. Heft 1, 1861.
Hitzig, E.; Der Schwindel. In „Spezielle Pathologie und Therapie“. Nothnagel,
Bd. XII, 2, Wien 1899.
86 Thomas M. French: Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge
Hoff, H.: Zusammenhang von Vestibularfunktion, Schiefstellung und Traumleben.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 1929, Bd. 71.
Lei dl er und Loewy: Der Schwindel bei Neurosen. Monatsschrift für Ohren¬
heilkunde und Laryngo-Rhinologie, 1925, Bd. 57.
Leiri, F.; Über den Schwindel. Zeitschrift für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde,
1927, Bd. 17.
Purkinje, J.: Beiträge zur näheren Kenntnis des Schwindels nach heautognostischen
Daten. Tled. Jahrbücher, Wien, 1820. Zitiert von Leiri.
Tausk, V.: Über die Entstehung des Beeinflussungsapparates in der Schizophrenie.
Int. Zeit sehr. f. PsA., 1919.
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Fetisdiismus in statu nascendi
Vortrag auf dem XL Internationalen Psychoanalxtischen Kongreß in Oxford, Juli 1929
Von
A. S. Lorand
New York
Meine Freundschaft mit den Eltern eines kleinen vierjährigen Knaben
ermöglichte es mir, ihn genauer zu beobachten. Als einziges Kind bildete er
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und das Objekt überzärtlicher Liebe
von seiten des Vaters und der Mutter sowie von Verwandten und Freunden
des Hauses. Die Beobachtungen, die ich an ihm machen konnte und die ich
Ihnen Vorbringen möchte, werden Ihnen nichts Neues bieten, da ja die prak¬
tische Ausübung der Psychoanalyse die Möglichkeit gewährt, frühkindliche
Erlebnisse ähnlicher Art des öfteren zu rekonstruieren. Ich will meine Beob¬
achtungen auch nur als bestätigendes Material für Freuds jüngste Aus¬
führungen über den Fetischismus, erschienen 1928, Vorbringen.
Ich möchte eine kurze Lebensgeschichte des kleinen Jungen vorausschicken,
damit der Zusammenhang zwischen seinen Symptomen und den vorangegangenen
Erlebnissen verständlicher werde.
Harry war frühreif und entwickelte sich sehr rasch. Sein Interesse und
seine Neugier allen Dingen gegenüber war sein hervorstechendster Charakter¬
zug und konnte durch alle Phasen seiner Entwicklung deutlich verfolgt werden.
Es trat zutage in zahllosen Fragen über alle möglichen Personen und Dinge.
Dieser Fragedrang wrurde sehr eingeschränkt im Alter von ungefähr vier
Jahren, als er zu versuchen begann, sich Dinge selbst vorzustellen, wie z. B.
Bedeutung von Ziffern, Worten usw. Er war gerade vier Jahre alt, als ich
eine merkwürdige Gewohnheit bei ihm wahrnahm, die ich gleich schildern
will und die er schon seit einigen Monaten übte. Sie bestand darin, daß er
die Schuhe von Freundinnen seiner Mutter streichelte und küßte, aber nur
von solchen, die er besonders gern hatte. Auch versuchte er, unter den Tisch
zu kriechen, wenn Freundinnen der Mutter bei Tisch saßen. Wenn intimere
Freundinnen der Mutter zu Gast waren, trachtete er, ihre Röcke zu heben
und darunter zu schauen. Die Gewohnheit, unter den Röcken Nachschau zu
halten, war vor ungeßihr einem Jahr aufgetreten, die Mutter hatte sie zum
S8
A. S. Lorand
erstenmal bei einem Bootausflug bemerkt. Harry versuchte damals, ihren Rock
den einer Freundin in die Höhe zu heben, und machte geradezu eine
Szene, als man es ihm verwies. Kürzlich hatte er wiederholt von einer guten
Freundin seiner Mutter gefragt, ob sie ein so großes „Pussy“ (so nannte er
den Penis) habe wie Papa, zur größten Verlegenheit der Eltern. Es gab auch
noch andere Fragen, durch die er die Eltern in Verlegenheit brachte, denn
«r ragte sehr oft in Gegenwart anderer Leute in verschiedener Form, nach
^n Eingeweiden und nach der Funktion des UHnlassens. Die meist von der
utter gegebenen Antworten schienen ihn nicht zu befriedigen, Wenii die
ut^r ihm erklärte, daß der Urin vom Wasser komme, das er trinke, und
die Fäzes von den festen Speisen, fragte er: .Wie kommt es, daß das ,Wi-
wi so heiß ist, wenn ich doch so viel kaltes Wasser trinke, und das Essen
so gut riecht wenn ich es esse, und so stinkt, wenn es herauskommt?“ Diese
und viele andere Fragen blieben aUerdings von den Eltern unbeantwortet.
Wenn die Mutter ihm wegen der Liebkosungen der Schuhe ihrer Freun-
1- ’^n fragte, warum er dies tue, wurde das
gewöhnlich sehr lebhafte Kind plötzlich still, zog sich in sein Zimmer zurück
und konnte in den darauffolgenden Stunden kaum zum Reden gebracht werden
Die Eltern waren durch mein Interesse an dem Kind geschmeichelti
nb^ens nicht durch den wissenschaftlichen Hintergrund desselben und nicht
mehr, als ihnen ^das Interesse jedes anderen für ihr Kind geschmeichelt hätte.
Ich wurde gut Freund mit dem Vierjährigen und besuchte ihn durch mehr
als ein halbes Jahr ein- bis zweimal wöchentlich, meist an Sonn- und Feier-
togen, an denen ich fast den ganzen Abend mit ihm verbrachte. Er wurde
bald sehr zutraulich mit mir. Beim ersten Besuch suchte er meine Schuhe
zu liebkosen, was nach Aussagen der Eltern ganz ungewöhnlich war. Er
hatte nie vorher Schuhe eines Mannes geliebkost. Er machte mich mit seiner
Spielwelt bekannt und begann mir kleine Geschichten zu erzählen. Einige
hatte man ihm aus Märchenbüchern vorgelesen, die meisten hatte er sich
selbst ausgedacht.
Als sein Vertrauen zu mir zugenommen hatte, versuchte er, sich mir mit
ragen zu nahem, wahrscheinlich, um auszuprobieren, ob er mir andere Ant-
r! r " hatten. Seine
Fragen betrafen die Herkunft der Kinder, den Tod, und einmal stellte er
auch eine Frage nach dem Gebrauch des Penis. Sie lautete: „Verwendest du
auch dem Pussy zum ,Wi-wi-machen?“ Als ich meine Beobachtungen auf-
nahn^ war sem liebstes Spiel, stundenlang vor einem kleinen Tisch zu sitzen
und Puppen aus Papier anzukleiden. Als wir uns darüber unterhielten, fragte
ich ihn einmal direkt, wen er dabei ankleide, wenn er die Puppen anzieL.
Er erwiderte spontan: „Die Mama.“ Er hatte damals lebhaftes Interesse für
die Kleider seiner Mutter. Er machte immer Bemerkungen über ihr Ans¬
ehen; er war immer um sie, wenn sie sich ankleidete, und wollte ihr helfen
r achtete auch genau auf das, was seine Mutter aß und sagte, er wünsche,
daß sie schlank bleibe, da er dicke Frauen nicht leiden könne. Die Mutter
legte viel Gewicht auf ihr Außeres, besondere Aufmerksamkeit aber schenkte
sie Ihrem Schuhwerk; so kaufte sie immer mehrere Paar Schuhe auf einmal
In dieser Zeit konnte er, wenn er eine Weile gespielt hatte, plötzlich so
heftig aufschreien, daß die Eltern eilig in sein Zimmer stürzten. Auf ihre
Fetisdiismus in statu nascendi
89
Fragen erklärte er, er habe geschrien, weil er einen schwarzen Schatten vor
dem Fenster oder eine dunkle Wolke habe vorbeiziehen sehen. Er zeigte mir
auch, vvrie er sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen und das
Gesicht dabei auf den Boden anpressen müsse, um den Schatten nicht zu
sehen. Auch träumte er oft von einer schwarzen Wolke, und rannte dann
eilig zur Mutter ins Bett, das in der Nähe des seinen war, da er einen
Schlafraum mit der Mutter teilte, während der Vater im Nebenzimmer
schlief. Er sagte, daß er sich nicht mehr fürchte, wenn er zu seiner Mutter
ins Bett gehe. Er erzählte mir auch von einem Traum, in dem er den
Obelisken im Zentralpark sah. Davor stand ein Mann, der mit den
Kindern über die Länge des Schattens sprach, den der Obelisk warf. Die
Mutter sagte mir, daß sich dies wirklich einmal im Zentralpark zuge¬
tragen hatte.
Als ich ihn das nächstemal besuchte, nachdem er mir vom Schatten des
Obelisken erzählt hatte, hüpfte er lustig auf meinen Schoß und erzählte mir
einen anderen Traum. Er hatte ein Kind gesehen, u. zw. ein hölzernes
Kind mit einer großen Nase, die Hände waren ihm ab geschnitten. „Du hast
sie abgeschnitten , sagte er lachend zu mir. Als ich fragte, warum ich sie
abgeschnitten habe, sagte er, daß ich es getan hätte, damit sich das Kind
nicht kratzen könne. Und als ich weiter fragte, was es denn kratze, sagte er
„die Nase“. Kurz vorher hatte mir die Mutter gesagt, daß das Kind die
Gewohnheit angenommen habe, fortwährend vorne an seiner Hose herum¬
zunesteln, und daß sie ihn darauf aufmerksam gemacht habe, daß dies nicht
schicklich sei. Harry erzählte mir im weiteren von einem anderen Kind, auch
mit einer großen Nase, das auf Bäume kletterte, um Raupen zu suchen. Die
Raupen hätten sich an seiner Nase angebissen und sie kleiner gemacht. Lange
Zeit hindurch sagte er mir immer am Anfang, wenn ich zu ihm hinkam,
„Weißt du, was dem Kind seit letztem Mal passiert ist?“ und erzählte mir
dann, daß dem Kind ein anderer Körperteil weggefressen worden sei, einmal
der eine Arm, das nächstemal der andere Arm, dann der Fuß. Ich erfuhr,
daß die Eltern versucht hatten, ihn mit Angst zur Wahrheit zu erziehen,
indem sie ihm sagten, man würde an der Härte oder Weichheit seiner Nase
erkennen, ob er gelogen habe oder nicht.
Unterdessen entwickelte sich bei ihm eine Angst vor Infektionen. Wenn
er sich am Finger nur ein wenig kratzte, nicht einmal so arg, daß es blutete,
rannte er gleich ins Badezimmer und gab Jod darauf. Er zeigte dann voll
Stolz die Jodflecke und verlangte immer wieder die Versicherung, daß ihm
nichts passieren werde. Die Gewohnheit, sich zu jodieren, nahm er an,
nachdem er in der Untergrundbahn einen Mann gesehen hatte, der an beiden
Händen bandagiert war, wobei die Bandagen ganz mit Blut befleckt waren.
Er erzählte mir auch, daß er im vorhergehenden Sommer in Camp ein
Mädel gesehen habe, dem die Finger an beiden Händen fehlten. Man hatte
ihm erklärt, daß ihr die Finger abgefroren seien, aber trotzdem fragte er
mich immer wieder, warum sie keine Finger hatte.
Als ich das nächstemal kam, näherte er sich mir ganz still und fragte
mit angsterfüllten Augen: „Du wirst mich doch nicht verschwinden lassen,
nicht wahr?“ Er kümmerte sich während dieses Besuches auch nicht viel um
sein Spielzeug und sprach auch nicht viel. Statt dessen saß
er an seinem
90
A. S. Lorand
kleinen Tisch, kritzelte auf einem Stück Papier und zeichnete Gestalten, Als
er bemerkte, daß ich mich für seine Zeichnungen interessierte, zeichnete er
einen Buben und ein Mädel für mich und dann einen häßlichen großen
Buben (ugly big hoy). Er zeichnete die Augen und Ohren besonders sorgfältig
und zählte fünf Finger an jeder Hand ab und zeichnete bei allen Figuren am
unteren Teil des Bauches einen Strich, der das „Pussy*^ darstellte. Er sprach
wieder von Kratzen und Wunden und forderte die Versicherung, daß seine
Mandeln, die man ein Jahr früher entfernt hatte, gänzlich heraus seien und
er nicht wieder operiert werden müsse.
Bei meinem nächsten Besuch teilte man mir mit, daß Harry sich am Vor¬
tag, als er allein im Zimmer war, eine Haarlocke von seiner Stirn abgeschnitten
habe. Er sprach mit mir bereitwillig darüber, erzählte mir die Geschichte
lachend und sagte, daß er nicht wisse, warum er es getan habe, aber daß es
ihm leid tue.
Während ich bei ihm war, kam ein Verwandter zu Besuch, der einen
Fuß amputiert hatte. Harry konnte nicht dazugebracht werden, das Zimmer
zu betreten; sobald er den Mann draußen reden gehört hatte, war er schreiend
ins Schlafzimmer gerannt. Als ich ihn das nächstemal sah, fragte er mich
oft und eifrig über den Tod aus und sagte mir mit weinerlicher Stimme,
daß er wolle, daß sein Vater nicht bald sterben, sondern immer am Leben
bleiben solle. Er war auch sehr begierig, auf seine Frage nach dem Ursprung
der Kinder eine Antwort zu bekommen. Der Vater hatte ihm erklärt, daß Gott
sie mache und dann herabschicke. Dieser Erklärung folgten unerschöpfliche
Fragen, wie: Wie kommen sie herunter? Es gibt doch keine Stiege für sie,
usf. Dann plagte er seine Eltern mit der Frage, warum manche Kinder Buben
und manche Mäderln seien. Die Mutter erklärte ihm, daß sie eben Kleider
anhätten, die sie zu Buben oder Mäderln machen. Darauf erwiderte Harry:
„Warum habt ihr mich als Buben gekleidet, wenn ihr ein Mäderl gewünscht
habt?*^ Diese Frage bezog sich auf eine Bemerkung seines Vaters, der ihn
einmal aufforderte, brav zu sein, seine Mutter hätte ohnehin ein Mäderl
gewünscht, denn Mädchen seien viel artiger. Er wollte von mir wissen, ob
die Kinder nackt geboren werden, wieviel Kinder Gott macht und warum er
sie nicht gleich erwachsen macht. Als ich ihn fragte, warum er es lieber
hätte, daß die Kinder erwachsen geboren würden, dachte er eine Weile nach
und sagte dann: „Dann hätte ich nicht so viel Gemüse essen müssen.“
Ich habe bereits erwähnt, daß seine Eltern getrennte Schlafzimmer hatten.
Er schlief mit der Mutter in einem Zimmer, Bis vor einem Jahr hatte er
mit ihr sogar in einem Bett geschlafen und zuweilen tat er es auch jetzt
noch. Dabei gab es für ihn reichlich Gelegenheit, den Körper seiner Mutter
zu beobachten. Bisweilen, wenn er auf dem Schoß der Mutter saß, langte er
nach ihrer Brust, auch in meiner Gegenwart. Wenn man ihn dann fragte,
was er da mache, antwortete er lachend, er suche nach dem „Daddy“
(Diminutiv für Papa). Die Mutter schien zu verstehen, was er meinte, und
erzählte mir, daß er, als er knapp nach seiner Phimosenoperation, von der
ich noch später sprechen werde, eine Kuh sah, gerufen habe: „Schau, wie
viel ,Pussies’ die Kuh hat!“ Er war sehr eifersüchtig auf seinen Vater, und
wenn der Vater die Mutter beim Abschied küßte, so küßte er sie danach
viele Male.
Fedsdüsmus in statu nascendi
91
Mit zwei Jahren hatte er eine Phimosenoperation durchgemacht, nach der
sich lange Zeit vor bewegten Gegenständen fürchtete, so besonders vor
dem Pendel einer Uhr, was die Eltern damit in Zusammenhang brachten,
daß eine große Pendeluhr im Wartezimmer des Arztes gewesen sei, der ihn
operierte. Auch hatte knapp vor der Operation, als der Vater den Kleinen
auf seinen Schultern herumtrug, der schwingende Luster den Kleinen aut
den Kopf getroffen. In diesem Alter wurde er für seine Geschicklichkeit sehr
bewundert, jede Grammophonplatte aus der Unzahl von Platten, die seine
Eltern hatten, herauszufinden. Jetzt, fast drei Jahre später, nahm ich einige
der Platten und fragte Harry, woran er sie erkannt habe. Um das Loch in
der Mitte jeder Platte herum, dort, wo sie auf den Zapfen aufgesetzt wird,
waren zwei Linien. Er erkannte nun die Platte an Fehlern in diesen Linien
und auch an kaum wahrnehmbaren Unterschieden in der Farbe der Papier¬
etikette, die um das Loch in der Mitte geklebt ist. Dieser scharfe skoptophile
Instinkt blieb unverändert, ebenso wie seine ausgesprochene Begabung, Gesehenes
oder Gehörtes zu erinnern. Seine Vorliebe für das Zeichnen kehrte nach
einigen Monaten Unterbrechung wieder, aber jetzt waren seine Gestalten nicht
so deutlich wie die früher geschilderten. Er fügte bei Zeichnungen von
Knaben und Mädchen auch jetzt noch einen Penis hinzu, aber nicht mehr
durch eine einfache Linie dargestellt. Dieser Teil der Zeichnung wies eine
große Ähnlichkeit mit dem männlichen Genitale auf und bis zu einem gewissen
Grad war der ganze Körper genitalisiert, indem in der Zeichnung der Hals
auffallend lang, der Kopf und die Brust besonders schmal waren. Die Augen
wurden in den früheren Zeichnungen sehr sorgfältig mit Pupillen versehen,
jetzt waren es nur mehr Kreise.
Seine Vorliebe für das Liebkosen von Schuhen zeigte er nicht mehr länger.
Es schien, daß Vorwürfe und Drängen der Eltern ihn instandgesetzt hatten,
sie zu unterdrücken.
Diese etwas fragmentarische Geschichte des kleinen Harry bietet uns
bestätigendes Material für die Schlußfolgerungen, die Freud in seiner Arbeit
über Fetischismus gezogen hat, und beleuchtet die ursprüngliche infantile
Struktur des Fetisch. In Freuds Arbeit erweist sich der Fetisch als Ersatz
für den Penis der Mutter, an den der kleine Junge einmal glaubte und auf
den er nicht verzichten will, sich so vor seiner Kastrationsangst schützend.
Der Fetisch beim Erwachsenen ist das Resultat des hartnäckigen Festhaltens
an dieser Phantasie, auch wenn sich das Individuum von ihrer Unhaltbarkeit
überzeugt hat; in der Kindheit hat eine Phantasie vom „weiblichen Penis^
noch andere Konsequenzen. Im Zusammenhang mit dem Fall des kleinen
Harry interessierte mich die Fußnote in Freuds Abhandlung ganz besonders,
in der er sich auf seine 1910 erschienene Arbeit „Eine Kindheitserinnerung
des Leonardo da Vinci^ bezieht. Dort erwähnt er, daß beim Fuß- oder
Schuhfetischismus der Schuh ein Ersatzsymbol für den Penis der Frau ist,
wobei diese Frau regelmäßig die Mutter ist. Diese zufällige Erwähnung ent¬
hielt bereits die 1928 niedergelegten Ergebnisse. Alle Untersuchungen des
Fetischismus, besonders die bei Abraham, führen zu dem Schluß, daß der
Fetisch etwas mit dem weiblichen Penis zu tun hat. Wir wissen, daß alle
psychosexu eilen Schwierigkeiten und Perversionen des Erwachsenen das
92
A. S. Lorand
Ergebnis der Erfahrungen sind, die während der Sexualentwicklung der
frühen Kindheit gemacht wurden und auf einer Fixierung in dieser Zeit
beruhen. W^enn der Fetischismus gewissermaßen eine Deckerinnerung an eine
wichtige Periode der Sexualentwicklung ist und der Fetisch einen Ersatz für
den Penis der Frau darstellt, drängt sich sofort die Erklärung auf, daß diese
Frau nur die Mutter sein kann, das erste Liebesobjekt, das mit dem Kind
während seiner frühen Sexualentwicklung immer beisammen ist und um das
sich die sexuelle Entwicklung des Kindes vollzieht. Aber es ist doch etwas
ganz anderes, ob man einem Ergebnis theoretischer Folgerungen oder, wie in
unserem Falle, direkt beobachtbaren Tatsachen gegenübersteht. Wir können
nach Freud nur dann von Fetischismus reden, wenn der Fetisch vom
ursprünglich geliebten Objekt vollkommen getrennt ist und alle Eigenschaften
des Sexualobjektes selbst aufweist. So sieht der Fetischismus als
Perversion des Erwachsenen aus. Aber in der Kindheit ist die¬
selbe fetischistische Äußerung vorübergehend und geeignet, unter dem Druck
der Verdrängung zu verschwinden.
Man darf nicht unbeachtet lassen, daß das Interesse des Kindes auf dieser
frühen sexuellen Entviricklungsstufe vom Liebesobjekt, also der Mutter, nicht
getrennt werden kann. Die Kastrationsangst, der Mittelpunkt, um den die
Sexualentwicklung des Kindes kreist, verstärkt das Festhalten am Glauben an
den weiblichen Penis und äußert sich in verschiedensten Manifestationen.
Wir müssen in Betracht ziehen, daß die Kastrationsangst sehr groß sein muß,
wenn sie die Ableugnung einer Tatsache verursacht, von deren Bestehen der
kleine Junge sich zu überzeugen reichlich Gelegenheit hatte. Klein Harrys
Neugierde, die ihn immer Neues entdecken ließ und die skoptophilen
Tendenzen schärfte, die in seiner Geschicklichkeit, geringe Farbunterschiede
imd Linien auf Grammophonplatten zu erkennen, sich ausdrückte, hingen
sicher mit einer ganz frühen Neugier in sexuellen Dingen zusammen. Je
größer der Forschungstrieb, um so größer waren die Anforderungen der Realität,
anerkannt zu werden. Wenn der Forschungstrieb sich auf sexuellem Gebiet
ausbreitet, bedarf es dann natürlich auf der Stufe, auf der das Über-Ich mit
seiner verbietenden Tätigkeit einsetzt, um so stärkerer Verdrängung. Wir
müssen feststellen, daß die verbietende Funktion des Über-Ichs beim kleinen
Harry sehr spät auftrat die Neugier auf Körper und Genitalien der Mutter
wurde lange Zeit nicht unterdrückt. Und trotz der Tatsache, die sich dem
Kleinen aufdrängte, konnte er doch seine Vorstellung vom weiblichen Penis
nicht aufgeben. Die Akzeptierung der Tatsache der Penislosigkeit der Frau
wäre der fast schrankenlosen Möglichkeit, seine Neugier zu befriedigen, ent¬
gegengetreten, welche Neugier im Schlafen bei der Mutter und im Herum-
klettem auf ihr den Höhepunkt d^r Befriedigung fand. Vom Standpunkt des
Uber-Ichs konnte er dies nur solange tun, als die Mutter und er gleicher
Gestalt waren, denn die Akzeptierung der Tatsache des Geschlechtsunterschiedes
zwischen ihnen beiden hätte jedem sexuellen Spiel mit der Mutter (so z. B.
der Mutter unter die Röcke zu kriechen) ein Ende gesetzt.
Die grundlegende Phantasie vom Penis der Mutter muß noch eine andere
bedeutungsvolle Phantasie nach sich gezogen haben, die die Geburt der Kinder
betraf. Sein fortwährendes Fragen nach der Geburt der Kinder im Alter von
vier bis fünf Jahren zeigte deutlich sowohl den inneren Konflikt wie auch
Fetischismus in statu nascendi
93
die Versuche, ihn befriedigend zu lösen. Mit der Annahme der Mutter mit
dem Penis ist auch die Ablehnung der Vagina vollzogen und damit die
vaginale Geburtstheorie.'
Bei der Entstehung von Harrys infantiler Symptomneurose kommt dem
Schuldgefühl ein -wesentlicher Anteil zu. Die Impulse, die nach Freud von
primärer Bedeutung für die Entwicklung des Fetischismus sind, epistemo-
philischer Instinkt und Osphresolagnie, waren bei Harry schon im frühen
Alter von zwei Jahren vorhanden und verstärkten die Kastrationsangst
beträchtlich. Das Resultat davon war, daß die Mutter mit einem Penis aus¬
gestattet wurde, was man in gewissem Sinn auch als eine Identifizierung des
Kleinen mit der Mutter auffassen kann. Er machte die Mutter sich selbst
gleich, um nicht zum Verzicht auf seinen eigenen Penis gezwungen zu sein,
dessen narzißtische Einschätzung bei ihm wohl noch durch die ungestörte
und oft ermöglichte Beobachtung des Gliedes seines Vaters verstärkt worden
war. Wir können verschiedene Mächte innerhalb der Sexualbestrebungen des
kleinen Harry am Werk sehen. Seine genitale Tendenz auf der Höhe der
Ödipussituation trieb ihn zur Besitzergreifung der Mutter, was ja ihre
Eroberung mittels des Penis beinhaltet. In diesem Sinn hatte er die genitale
Stufe der Ödipusperiode erreicht. Aber auf dem Höhepunkt seiner Selbst¬
einschätzung, nachdem er sein ganzes Leben der Mittelpunkt seiner Umgebung
gewesen war und alle erdenklichen Möglichkeiten gehabt hatte, mit der
Mutter herumzuspielen, begann das Verbot und die Versagung gegen die
genitalen Tendenzen durch das sich entwickelnde Über-Ich wirksam zu werden.
Dies äußerte sich in Form der Kastrationsangst, die bei Harry auftrat. Um
ein Kompromiß zu schließen zwischen seinen Wünschen und seinem Schuld¬
gefühl, stattete er die Mutter mit einem Penis aus; dadurch wurde er vor
der Kastrationsgefahr gerettet, da er damit die Vagina der Mutter verleugnete
und das glückliche Dreieck, Vater, Mutter, Kind, konnte ohne Unterbrechung
weiterbestehen.
In diesem frühkindlichen dramatischen Konflikt muß man die verschiedene
Verteilung der dynamischen Kräfte für die Wahl der verschiedenen möglichen
Einstellungen verantwortlich machen. Homosexualität entsteht nach Freud
aus der Kastrationsangst beim Anblick des weiblichen Genitales, Fetischismus
zur Abwehr der Kastrationsangst; als dritten Ausgang muß man die vollständige
Überwindung der Kastrationsangst betrachten. In allen diesen Fällen, Normalität,
Homosexualität und Fetischismus, können wir sagen, daß Form und Grad der
Identifizierung mit den Eltern für den Ausgang des Kastrationskomplexes
einen entscheidenden Faktor darstellen, womit natürlich die Entstehung der
Perversion oder der normalen sexuellen Einstellung zusammenhängt. Bei der
Homosexualität ist eine nahezu völlige feminine Identifizierung vorhanden,
indem der Homosexuelle die Mutter mit dem zugehörigen weiblichen Genitale
innerlich akzeptiert, wobei er sich ihr gleichsetzt. Der gesunde Ausgang ist
eine vollkommen maskuline Identifizierung mit dem Vater. Der Fetischismus
rettet das Individuum vor der Homosexualität, hält es aber gleichzeitig vom
Normalsein ab, das die Kastrationsgefahr mit sich brächte.
i) Vgl. Fenichel, Einige noch nicht beschriebene infantile Sexualtheorien.^
Int. Zeitsehr. f. PsA. XIII (1927).
94
A. S. Lorand: Fetisdiismus in statu nascendi
Klein Harry zeigte entschieden eine Tendenz zur femininen Identifizierung,
die in seiner Nachahmung der Mutter sowohl als auch in seinen Fragen
zutage trat, warum ihn denn die Eltern nicht als Mädchen gekleidet hätten,
da sie sich so sehr eines gewünscht hätten. Es bedarf nun einer Erklärung,
wieso es kommt, daß man in so früher Kindheit einen so klaren Unterschied
zwischen den beiden Wegen der Identifizierung findet. Gewiß kann Freuds
These, daß quantitative Faktoren für den Ursprung jeder Neurose verantwortlich
sind, hier Anwendung finden und zum Verständnis des Zustandekommens des
Fetischismus verhelfen. Ein gewisses Schwanken in Harrys Objekt wähl zeigte
sich darin, daß er zuerst Schuhe von Frauen liebkoste, dann aber zu Beginn
des Kontaktes mit mir dasselbe mit meinen Schuhen zu tun versuchte. Er
versuchte zuerst, sie glänzend zu machen und sie zu küssen, später in sitzender
Stellung darauf zu reiten, was ihm die angenehme Sensation des Schaukelns
und des Kontaktes mit der Analregion bot. Die zärtliche Behandlung der
Schuhe und das Fehlen jedes feindlichen Elementes dabei könnte man nach
Freud auf den Mangel einer tiefergehenden Identifizierung mit dem Vater
zurückführen. Wenn bei erwachsenen Fetischisten eine tiefere Identifizierung
mit dem Vater vorhanden ist, kann eine ehrfurchtsvolle oder aggressiv-kastrierende
Tendenz gegenüber dem Fetisch beobachtet werden, wie ich sie bei einem
meiner Patienten feststellen konnte, der seine fetischistischen Tendenzen in
seinem Beruf sublimierte. Frauen hatten diesen Mann sein lebenlang angezogen,
aber er hatte nie einen Verkehr gehabt. Er erreichte seinen Orgasmus beim
Anblick und beim Streicheln der Genitalbehaarung, bisweilen riß er daran,
bis es schmerzte. Bei der Wahl seines Sexualobjektes spielte die Haarfarbe
eine besondere Rolle. Nachdem er nach Absolvierung der Schule Buchhalter
geworden war, ergriff er später den Beruf eines Kürschners. Das gab ihm
die Möglichkeit, mit Pelzhaaren umzugehen, sie zu zerschneiden, und er gelangte
in diesem Beruf zu viel Erfolg.
Ich möchte besonders auf die zwei Reihen der Zeichnungen hinweisen,
von denen ich berichtet habe, und auf die Veränderung, die im halben Jahr
zwischen ihnen vor sich ging. Die Tendenz, den ganzen Körper zu genitalisieren
und die Größe des Körpers mehr und mehr zu betonen, zeigte sich in den
späteren Zeichnungen, für deren Zeitpunkt wir bereits das Schwinden von
Harrys Vorstellung vom weiblichen Penis feststellen können. Je mehr er die
unvermeidliche Tatsache des Penismangels beim Weibe anerkennen mußte,
um so stärker wurde seine Kastrationsangst, und nötigte ihn, immer fester
an der Phantasie des weiblichen Penis als an einer schützenden Vorstellung
festzuhalten, was in der Größenzunahme des Penis in den Zeichnungen seinen
Ausdruck findet.
Beim kleinen Harry war das Schneiden mit der Schere, das Zeichnen, die
Liebkosung der Schuhe, das wiederholte Ankleiden der Puppen, das wohl das
Gegenteil zu bedeuten hatte, nämlich ein Entkleiden, das ja auch in der Lust,
weiblichen Besuchern unter die Röcke zu kriechen, zum Ausdruck kam, kurz,
aUe seine Spiele waren im Zusammenhang mit seinen infantilen Sexual¬
strebungen, wie ein solcher Zusammenhang ja schon von Pfeifer und
Melanie Klein betont wurde.
In den Liebkosungen meiner Schuhe kann man wohl einen Versuch sehen,
sich dem Vater zuzuwenden, um die Kastrationsangst zu vermindern.
Zur Deutung der Zwergsagen
95
Zur Deutung der Zwergsagen
Von
Geza Rohe im
Budapest
Unlängst erschien in dieser Zeitschrift die Arbeit von F e r e n c z i über
Gulliver-Phantasien“.^ Ferenczi gibt darin die vollkommen zutreffenden
Deutungen der Vorstellungen von Zwergen und Riesen und fordert dann dazu
auf, diesen Zusammenhängen analytisch weiter nachzugehen. Ich hatte in
einem Falle dazu günstige Gelegenheit.
Ein Patient, Beamter von 30 Jahren, mit mäßiger Ejaculatio praecox, stark
an die Mutter fixiert, Analcharakter, erzählt in einer Analysenstunde Ereig¬
nisse des letzten Tages:
„Ich ging zur blonden Frau, wollte mit ihr wieder anfangen. Die ganze
Familie war dort, auch ihr Vater, ein buckliger, gräßlich aussehender Zwerg,
ein ekelhafter Mensch. Sein Kopf ist spitzig wie eine Wurst. Da fällt mir
eine Geschichte von einer Geburt ein. Sie dauerte sehr lange und der Kopf
des Kindes war wurstförmig ausgezogen, als er herauskam.“ Dann erzählte
er eine Phantasie von einer Maschine, in die Leute hineingehen und als Würste
herauskommen. „Die Blonde hat mir die Hälfte voi ihrem Milchkaffee an-
geboten, es hat mich sehr angeekelt, ich habe es aber trinken müssen. Wenn
meine Mutter mir einen solchen Kaffee gibt, sag ich gewöhnlich: Pfui, das
ist ja Pferdeurin, weg damit I Die Pferde urinieren so, daß der Urin aus
ihrem Hinterteil kommt. Ein mächtiger Strahl; es ist schrecklich ekelhaft.“
Ich erinnere ihn daran, daß er bis zum zehnten Jahr glaubte, daß die
Kinder aus dem After kommen. Wenn sie aus dem After kommen, können sie
auch auf dem oralen Weg, eventuell durch das Essen von Exkrementen oder
Urin, in den Leib hineingeraten. Er hätte ja Kaffee-Urin getrunken und darauf
Kopfschmerzen,^ d. h., eine nach oben verschobene Schwangerschaft bekommen.
Er sagt nichts zur Deutung, sondern fährt fort: „Ich war vier Jahre alt,
als die Kinder einmal mein Gesicht mit Kot beschmierten. Im fünften oder
sechsten Jahr waren die Kopfschmerzen bei mir schon ziemlich häufig. Sein
Freund F. hätte ihm erzählt, daß er als Kind dreimal die „Fraisen“ hatte^.
Die Professoren sagten, F, werde sterben, aber ein junger Arzt, der „von hinten
etwas mit ihm gemacht habe, hätte ihn gerettet. Der junge Arzt hätte aber
auch gesagt, wenn das Kind am Leben bleibe, werde es blöde werden.
„Nun, blöde ist er auch geworden“, — fährt der Patient in der Erzählung
fort, — „er arbeitet in einer Fabrik und ein Stück Blei ist in die Maschine
gefallen. Da hatte er Mitleid mit dem Blei, er griff danach und die Maschine
schnitt ihm den Finger weg.“
Nach einer kurzen Pause spricht er über das unsinnige Benehmen seiner
Familie und der Erwachsenen im allgemeinen Kindern gegenüber. Dann in
1) Ferenczi, Gulliver-Phantasien. Diese Zeitschrift, Bd. XIII, 379
2) Die Schwangerschaftsbedeutung der Kopfschmerzen war schon vorher bei Traum¬
deutungen und der Analyse der Symptombildung gewonnen worden.
96
Geza Röheim
wütendem Tone: „Wenn dieser Fratz“ (seine Frau ist schwanger) „geboren
wird, kann ich mir vorstellen, was für Dummheiten sie mit ihm machen
werden.
Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß er nun zum erstenmal über das
Kind in der Analyse spricht, und zwar, wie es scheint, nicht gerade in freund¬
licher Art und Weise. — Darauf sagt er, daß die Frauen immer Knaben
haben wollen, daß sie aber diesen Wunsch ableugnen. Seine Frau habe gesagt:
„Nur keinen Knaben, denn sobald ein Penis da ist, ist es schon ein Schuft.“
Seine Schwägerin wollte nur einen Knaben haben. „Ich glaube, sie hätte den
Kopf oder den Schwanz ihres Mannes dafür gegeben, um einen Sohn zu be¬
kommen.
Einen Sohn zu bekommen, bedeutet demnach eine Kastrationsgefahr. Man
kann vermuten, daß der Patient seinerzeit ähnliche Wünsche gegen den Vater
gespürt haben dürfte und jetzt deshalb die Vergeltung von seiten des Sohnes
fürchten muß. Der Patient besitzt eine einzige Kastrationserinnerung: Jemand,
wer, wo und wann weiß er nicht, habe ihm gesagt, der Hund werde seinen
Penis abbeißen. Daher wohl seine schreckliche Hundeangst.^
Nehmen wir die ekelhafte Speise zum Ausgangspunkt dieser Untersuchung.
Sie ist ein Verdichtungsprodukt von Milch (angeboten von der blonden Frau)*
Urin (Pferdeurin) und Exkremente (Kaffee, Pferd uriniert aus dem After,'
Kindheitsszene). Er ist durch diese Speise geschwängert, gibt das männ¬
liche Genitalstreben auf und entzieht sich der unangenehmen Situation durch
die Flucht. Der aktive Phallus, nach dem sich seine feminine Einstellung sehnt, ist in
der Maske des buckligen Zwerges mit dem spitzen Kopf, dem Vater der
blonden Frau, zu finden, denn seine Anwesenheit hat den Ekel und die
Verstimmung ausgelöst. Die Bedeutung dieses buckligen Zwerges ist aus einem
früheren Traum ersichtlich:
„Ich gehe zur blonden Frau. Ihr Vater, der Zwerg, zankt mit ihr in einer
unwahrscheinlich tiefen Männerstimme. Die Frau ist im Speisezimmer, man
sagt mir, daß sie ißt, ich weiß aber, daß sie sich wäscht. Jetzt versuch’ ich,
auch, in einer so tiefen Männerstimme mit meiner Mutter zu sprechen. Es
gelingt mir aber nur eine kurze Weile. Dann ziehe ich die Uhr aus der Tasche
und sag’, ich muß nach Hause gehen. Dabei ergibt sich etwas Merkwürdiges
mit der Uhr. Unter dem Glas ist flüssiges Email-, ich gieße es hin und her,
doch ein Teil hleiht unbedeckt. “
Ein Nachtrag ergänzt, daß das Gespräch mit der Mutter im Vorzimmer
stattfand. Dazu fällt ihm ein, daß er als kleines Kind dort immer den
i) Im Laufe der Analyse wurden diese Deutungen wiederholt bestätigt. So spricht
er von kleinen Burschen im Stadtwäldchen, die die Mütze schief auf dem Kopf
tragen. „So ein Kleiner mit einer Kappe ist ein Penis.“ In einer anderen Analysen¬
stunde spricht er vom Skalpieren und sagt, daß man sich aus den abgezogenen Skalpen
eine Mutze machen lassen könnte. Dazu fällt ihm ein ungarisches Sprichwort ein:
Wenn man eine Frau, die man hätte haben können, nicht koitiert, wird einem im
Jenseits ihre Scheide wie eine Kappe über die Nase gezogen. Er erzählt ferner, daß
er als Kind phantasierte, der Besitzer eines Däumlings (Hüvelyk Matyi) zu sein :
„Gulliver unter den Liliputianern wäre auch nicht schlecht.“ Mit einer riesigen
Eisenbarre könnte man dann alle Schlösser öffnen, alles Geld, alle Frauen wegnehmen,
natürlich müßte er dazu auch unverwundbar sein.
Zur Deutung der Zwergsagen
97
Priester nachzuahmen pflegte. Priester heißt ungarisch „pap“, Vater „papa“.
__ Es dürfte daher gar keinem Zweifel unterliegen, daß der bucklige Zwerg,
der Vater der blonden Frau, den eigenen Vater, und zwar in einer unheim¬
lichen Art und Weise, darstellt. — Darauf spielt auch die Szene mit der
Uhr an. Zu den merkwürdigen Künsten, die er mit der Uhr macht, fällt
ihm eine Zeichnung aus einem Witzblatt ein. Ein Herr sitzt im Separee
mit einer nackten Frau. Der Herr nimmt ein Bonbon aus einem Stanniol¬
papier und die Dame sagt ihm: „Wirf das Papier nicht weg, mein Mann
sammelt es.
Aus dem Papier kommt ein Bonbon hervor — und von der Uhr ist ein
Teil durch das Email nicht bedeckt. Die Situation mit der nackten Frau
legt die Deutung nahe, daß so die Eichel, die aus der Vorhaut hervorkommt,
dargestellt wird. Einige Stunden früher hatte er erzählt, daß der Vater immer
mit ihm badete. Er fragte dabei immer den etwa zehn- bis vierzehnjährigen
Knaben, ob er auch die Vorhaut zurückziehe und die Eichel wasche, und
sagte ihm, wenn jemand einen kleinen Penis hätte, hätten ihn die Frauen
nicht lieb. Diesem Ausspruch des Vaters schreibt er eine große Wichtigkeit
in der Entstehung seiner Neurose zu. Jetzt wissen wir, warum er plötzlich
die Uhr zieht und die Flucht ergreift. Er versucht, der Mutter mit der
tiefen Stimme des Vaters zu imponieren, das gelingt ihm aber nicht, denn er
hat ja im Bad den Riesenpenis des Vaters gesehen. Der eigene Penis ist
klein, er ist impotent, kastriert, kann der Mutter und der blonden Frau nicht
imponieren. Man sagt ihm zwar, wie einem Kind, daß sie jetzt etwas Un¬
schuldiges tut, während er doch sehr gut weiß, daß sie sich wäscht (d. h. nach
dem Koitus).
Der bucklige Zwerg ist daher der Vater in einer besonders unheimlichen
Form — als verkörperter Phallus. Die Phantasie solcher phallischen Wesen
ist eigentlich eine Bestätigung, zugleich aber eine Widerlegung der Kastrations¬
angst, indem damit doch ausgesagt sein soll, daß der Penis tatsächlich abge^
schnitten wird, jedoch als selbständiges Wesen weiterlebt. Die Identifizierung
des ganzen Körpers mit dem Penis gestattet es, der Kastrationsgefahr aus¬
zuweichen.
Daß diese Kastration an dem Penis des Vaters zugleich dargestellt und
auch geleugnet wird, dem entsprechen wohl alte aktive Kastrationstendenzen
gegen den Vater und ein starkes Schuldgefühl deswegen. Es handelt sich um
Regungen, die dem positiven Ödipuskomplex zugehören. Der Patient hat
tatsächlich mit seiner Schwester koitiert, und zwar während Vater, Mutter
und die beiden Geschwister in zwei Betten nebeneinander lagen. Er phantasierte
auch, wie es gewesen wäre, wenn er sich nicht an die Schwester, sondern
an die Mutter herangewagt hätte.
Die zweite Bedeutung dieser phallischen Vatergestalt gehört aber dem
negativen Ödipuskomplex zu. Kopfschmerz und Erbrechen deuten die orale
Befruchtung an und so oft das Thema der Homosexualität in der Analyse
anklang, sprach der Patient über die Fellatio. Er sagt ja auch, daß der Arzt
mit seinem Freund „von hinten“ etwas gemacht habe, wodurch dieser „blöde“
wurde, d. h. sich den Finger abschneiden ließ. Es ist nun leicht zu erraten,
was in dem Kind, dem der Vater sein Glied im Bad zeigte, vorging. Es
entstand nicht nur die Betrübnis über das eigene (relative) Kastriertsein,
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse XVI/i
7
98
Geza Röheim
sondern auch dem Vater gegenüber eine passive Einstellung. — Gegenwärtig
ist aber seine eigene Frau schwanger. Er spricht über die unrichtige Erziehung,
die den Kindern gegeben wird, und scheint als zärtlicher Vater sich Sorgen
zu machen, daß das Rind ähnliche Kastrationsangst erleiden könnte wie er
selbst. Seine Kastrationsangst war aber, wie wir gesehen haben, die Kehrseite
eines Wunsches, dem Vater den Penis abzuschneiden, und daher steckt wohl
hinter der Sorge um das Kind auch die Vergeltungsangst, das Kind könnte
ihm dasselbe wünschen, denn die Schwägerin hätte ja, um einen Knaben zu
bekommen, das Glied ihres Mannes gerne geopfert. Auf den zukünftigen
Knaben ist er schon jetzt eifersüchtig, denn dieser Knabe ist ja ganz Penis
und besitzt seine Frau, wie einst der Vater die Mutter besessen hat. Er pflegt
z. B. vom Lernen als von einem lästigen Zwang zu sprechen, der vom Vater
ausging, und sagt jetzt, daß seine Tätigkeit im Amt ihm heute ebenso lästig
sei; heute wird er aber vom ungeborenen Kind gezwungen zu arbeiten.
Es ist kein Widerspruch gegen diese phallische Deutung, daß man das
Ganze auch in der analen Sprache ausdrücken kann. Der bucklige Zwerg wird
einer Wurst verglichen, die aus der Maschine herausfällt, und gerade in
letzter Zeit hatten seine Träume eine Kinderszene zum Gegenstand, in der
er als vier- oder fünfjähriger Knabe im Klosett durch die Wand das Defäzierefi
einer Frau beobachtete. Der bucklige Zwerg ist also auch das auf dem oralen
Weg vom Vater empfangene Kotkind. Die Empfängnis geschieht entweder
durch die Fellatio oder durch das Essen von Menschenfleisch. Er hat nämlich
verschiedene individuelle Speiseverbote, die auf die Vorstellung der „Patrophagie“
zurückgehen. Er ißt den Vater und läßt ihn in Kotform wiedererscheinen,
eine Konstellation, die ganz dem Ritual auf dem Grabe des Tui Tonga
entspricht.^ Ich vermute, daß es sich hier wie dort nicht um ursprünglich
Anales, sondern um eine aus Kastrationsangst erfolgte Regression von der
genitalen zur analen Stufe handelt.
Ich kann demnach die von Ferenczi gegebene Deutung der Zwerge
als phallische Gestalten, die aus einer Überkompensierung der Kastrationsangst
entstanden sind, nur bestätigen und zur Ergänzung hinzufügen, daß wenigstens
in diesem Fall der Zwerg einerseits den Penis des Vaters, andererseits den
Sohn als eigenen abgeschnittenen Penis und als den wiedergeborenen väter¬
lichen Rivalen bedeutet. Es handelt sich demnach um die Vorstellung der
Kastration, jedoch im Gefüge der Ödipuseinstellung, bzw. als Generations-
Umkehrungsphantasie.^
Versuchen wir jetzt, auch das reiche völkerpsychologische Material —
wenigstens in Umrissen — heranzuziehen. Auf dem Bruchstück eines helleni¬
stischen Reliefbildes in der Villa Albani zu Rom sehen wir Herakles im Schlafe
auf der Löwenhaut ausgestreckt, in der linken den Skyphos haltend, ein
kleiner Wicht aber, ein Satyr oder ein Pygmaios, hat eine Leiter angelegt,
diese erklommen, neigt sich, auf der obersten Sprosse stehend, mit dem
ganzen Oberkörper über den Rand des Bechers und schlürft aus Leibeskräften.
1) Vgl: Röheim, Heiliges Geld in Melanesien. Diese Zeitschrift, Bd. IX, 1922.
2) Vgl. Jones: Die Bedeutung des Großvaters. Diese Zeitschrift, I, 222. Die
phallische Deutung der Zwerge findet sich schon bei Freud: Märchenstoffe in
Träumen. Ges, Schriften, III, 260.
Zur Deutung der Zwergsagen 99
_ philostratos beschreibt ein Gemälde, das einen Angriff von Pygmaien-
scharen auf den schlafenden Herakles darstellte. „Neben dem tot hingestreckten
Antaios liegt Herakles in tiefem Schlaf, dabei steht Hypnos, um den Heros
aber scharen sich Pygmaien, um an ihm den Tod ihres Riesenbruders Antaios
zu rächen; denn auch sie sind YTJYevetS, Erdgeborene, Söhne der Mutter Erde.
Sie scharen sich zum Angriff, eine Gruppe gegen die linke, andere
gegen die rechte Hand gerichtet; Bogenschützen imd Schleuderer g jeifen die
Beine an, voller Staunen über die mächtigen Waden; gegen das Haupt zieht
eine andere Schar, unter Anführung des Königs, mit mancherlei Geschütz
und Belagerungsgerät. So krabbeln sie auf des Gewaltigen Gliedern herum,
ohne ihn im mindesten zu schädigen. “ Zum Schluß, meint Philostratos, richtet
er sich lachend auf und steckt seine Feinde samt und sonders in die Löwen¬
haut.^
W a s e r erklärt die Szene mit vollem Recht aus dem Alptraum. Am deut¬
lichsten sind die Beziehungen der Zwerge zum Alptraum in der deutschen,
bzw. europäischen Volkssage. Zwerg oder eigentlich Twerg bedeutet
Drücker.^ Der Wald zwischen Hirzenhain und Usenborn wird von einem
unverschämten Kobold bewohnt. Er springt unversehens den Leuten auf den
Buckel und sie müssen ihn tragen bis zur Eichbaumswiese. Dort springt er
von ihnen. Er sieht schwarz aus wie ein Geißbock und hat langes und
straff niederhängendes Haar. Andere Kobolde werden beim Auf hocken zentner¬
schwer und die Leute, denen sie aufhocken, müssen laufen, sonst drücken sie
ihnen die Kehle zu.^ Wenn der Alp einen drückt, muß man sprechen: „Alp
gleich fort, ich geh’ dir auch ein Brotei.“ „Da wird man sehen, wie ein
kleines, graues Männchen entweicht. “ 4 - Der Alp ist ein kleines, buck¬
liges Männchen, das sich den Leuten auf die Brust setzt und ihnen den
Atem nimmt .5
Die griechische Sage bezieht sich demnach wohl auf einen ursprünglich
angstvollen Alptraum des Herakles, Das Komische entsteht hier, wie gewöhn¬
lich, aus dem ersparten Aufwand der Angstentwicklung, und es wird nun
unsere Aufgabe sein, dem Ursprung dieser Angst nachzugehen.
Pygmaien sind Fäustlinge ('Tcuyp/'^ = die Faust). Ein Hauptzug der Sage
war der Kampf der Pygmäen mit den Kranichen. Dabei setzen sich die
Pygmäen Hörner auf, reiten auf Ziegenböcken usw.,® wie andererseits der
Piller Norg in der Tiroler Volkssage, ein dreieinhalb Schuh hoher Zwerg,
gelegentlich doch als ungeheurer Stier erscheint.^ Stephani bemerkt zu
den Kampfszenen, daß den Alten ebenso entschieden wie ihnen für den
Pygmaien-Begriff männliches Geschlecht und lächerliche Häßlichkeit als uner¬
läßliche Elemente galten, in dem Kranich dieselbe komische Häßlichkeit,
aber weibliches Wesen ausgeprägt erschien. „Auch war nach alter Anschauung
1) O. Waser: Pygmaien, Roschers Lexikon, III, 5505, 3306.
2) L. Laistner: Das Rätsel der Sphinx. 1889, I, 60.
3) Th. Bindewald: Oberhessisches Sagenbuch. 1873, 87, 88.
4) R. Kühn au: Schlesische Sagen. 1913, III, 111. Vgl. ebenda 136.
5) R. Kühn au: Ebenda III, 154. Vgl, auch Laistner: L. c„ I, 557.
6) Waser: L. c., 3287,
7) I. V. Zingerle: Sagen aus Tirol. 1891, 77.
7 *
1
:iii
Üi I
100 Geza Roheim
dieser Häßlichkeit des Kranichs ebenso wie der Häßlichkeit der Pygmaien
eine mehr oder weniger stark ausgeprägte laszive Beimischung eigen.
Der Kampf der Pygmaien mit den Kranichen wäre also der „laszive“
Kampf zwischen Mann und Weib oder eigentlich Penis und Vagina. Daß es
sich aber dabei um eine im Grunde genommen sehr ernste Sache handelt,
die bloß ins Groteske verzerrt ist, zeigen die beigefügten Abbildungen mit
ihrer deutlichen Kastrationsanspielung (S. 5295, Nr. 2, S. 5294, Nr. 5), Zu
den Fäustlingen gehören auch die Daktyloi idaioi, die Finger, die bezeichnender¬
weise trotz ihrer Fingergröße, Fünfzahl und Daumenform auch als Riesen
im Dienste der Muttergöttin Rhea erscheinen. Als idäischer Daktyle erscheint
gelegentlich auch Herakles^ mit seinen Brüdern, die alle Heroen der Heil¬
kunst sind .3 K a i b e 1 hat aber in einer berühmten Arbeit die phallische
Natur dieser Wesen aufs deutlichste erwiesen.^ Dem bei Pausanias er¬
wähnten Grabmal des Daktylos analog wird auch das am Berge Sipylos aus¬
gegrabene Grabmal des Tantalos gewesen sein.
y^The keystone of the great vault is a terminal cone like ihe Delphic om-
phalosy the chamher of deatk was crowned by ihe primitive symhol of life,
It is no Stele commemorating an individual man, still less is it a mere archi-
tectural or decorative feature; it is there with solemn magical intent to ensure^
to inducey the renewal of life^ reincarnation, Numerous phalloi were found
round the tomh of just the rite size to serve as keystones.^^
An der Grimselstraße in der Schweiz hausten Erdmännchen, welche den
Mädchen nachstellten.^ — Zwischen Görtelsdorf und Leuthmannsdorf liegen
die Zwergsteine, die von Zwergen der kleinsten Art bewohnt wurden; denn
sie waren nur zwei Spannen lang. Auch waren ihre Füße insofern gar
komisch gebildet, als sie den Gänsefüßen ähnlich sahen. Alle Zwerge trugen
lange Bärte und waren zumeist mit einem grauen Mantel und einer
Kapuze bekleidet. Trotz ihrer winzigen Gestalt begehren sie aber die schönen
Bauemmädel und entführen sie auch gelegentlich.^ Vor langer Zeit kam an
jedem Abend ein kleiner, aber schöner Bursche zu einer Magd in den Stall,
wenn diese die Kühe fütterte und melkte. Sie liebten sich sehr und es wurde
schon von Heirat gesprochen, als das Mädchen einmal hörte, wie der Zwerg
sang:
„Güngele spinn, Haspele wind,
Ist guat, daß mein’ Braut nit weiß,
Daß i klein Wäldkügele beiß’“
Da entfernte sich das Mädchen so rasch es konnte, denn sie hatte ihren
Geliebten als Pechmannl erkannt.® Sie scheinen besonders gerne an den Hoch-
1) Stephani: Gompte-Rendu de Petersburg. 1865, 121. Zitiert bei Was er:
L. c., 3516.
2) S t r a b o, VIII, 355. D i o d o r, V, 64.
3) V. Sy bei: Daktyloi. Roscher, I, 940.
4) Kai bei: Daktuloi idaioi. Göttinger Gelehrte Anzeigen, 1901.
5) J. E. Harris on: Themis. 1912, 402, 403.
6) Laistner: L. c., II, 42.
7) R. Kühn au: Schlesische Sagen. 1911, II, 79.
8) Zingerle: L. c., 80 bis 82.
Zur Deutung der Zwergsagen
101
Zeiten in unsichtbarer Gestalt zu erscheinen,^ was ihrer unbewußten Bedeutung
entspricht, denn ohne den „Zwerg“ gibt es ja keine Hochzeit. —
In Altindien ist der Gandharve, ViCvavasu, der „alles Gute Besitzende ,
derjenige, der vor der Verheiratung alle Mädchen besitzt.^ Diesem buhlerischen
Gandharven sitzen aber die Füße, ebenso wie unseren Zwergen, verkehrt an,
mit der Ferse nach vorn .3 — An der Identität der Zwerge, Elbe und
Gandharven läßt sich nach der Beschreibung der Gandharven im Atharvaveda
wirklich nicht zweifeln:
Einer wie ein Hund, einer wie ein Affe, ein ganz behaarter kleiner
Kerl, die Gestalt des Liebsten annehmend, stellt der Gandharve dem Weibe
nach.“^ — Somit hätten wir wohl genug Ursachen zur Annahme, daß die
komische Herakles-Szene schon die sekundäre Bearbeitung einer angstvollen,
drückenden Traumsituation ist, und daß die Angst wohl mit der Penis¬
bedeutung des Zwerges im Zusammenhang steht. Ein Schritt weiter führt
uns die nähere Beschreibung dieser winzigen Dämonen.
„Sie werden vorgestellt als kleine, meist dickköpfige Gestalten von beiderlei
Geschlecht, die Männer meist alt, mit langem grauem Bart,
mit Gänse- und Geißfüßen, wohl auf ihre geisterhafte Geschwindigkeit deutend,
sie lassen aber ihre Füße nicht gern sehen, sondern verdecken sie durch
einen langen Mantel, und wenn man Asche und dergleichen streut, um ihre
Fußspuren zu sehen, dann verschwinden sie; bisweilen haben sie auch Kinder¬
füße, aber an jedem Fuß fehlt eine Zehe.“^
Ein merkwürdiger Zug an der äußeren Gestalt der Zwerge soll nun be¬
sonders hervorgehoben werden. Ihr hohes Alter (der lange graue Bart)
wird ebensooft betont wie ihr jugendliches Aussehen. Wenn das
Nörgl das neue Gewand erblickt, sagt es:
„I bin so olt,
I woaß die Moarspitz
Kioan, wie a Kitz
Und die Moarwies’
Neunmal Wies’
Und neunmol Wald.‘‘6
Oder aber:
„Ich bin so grau, ich bin so alt.“ 7
Andererseits heißt es wieder, den norwegischen Nissen stellte man sich klein
wie ein Kind yot ^ und der schwedische Zwerg sehe aus wie ein einjähriges
Kind .9 Laut dem Volksglauben in Göcsej sind die „Erdkleinen“ oder Zwerge
\) Vgl. Kühn au: L. c., II, III, 145.
2^ Laistner: L. c., II, 45.
5) Vgl. L. von Schroeder: Griechische Götter und Heroen. 1887, 101.
4) L. von Schroeder: Mysterium imd Mimus im Rigveda, 1908, 509. Vgl.
derselbe: Griechische Götter und Heroen. 1887, 66.
5) Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube. 1900, 41.
6) 1 . V. Zingerle: Sagen aus Tirol. 1891, 62.
7) Derselbe: Ebenda, 72, 75 und 85.
8) J. Grimm: Deutsche Mythologie. I, 420.
9) Grimm: Ebenda, I, 423.
102
Geza Roheim
Kobolde, die eigentlich mehr dem Kinderglauben zuzurechnen sind. Sie sind
^hr liebe kleine Wesen, ungefähr von der Größe eines kleinen Kindes
jedoch mit einem wallenden Bart.» Die „kleinen Leute“ der Odjibwä sind
eigentlich Kinder, die nie erwachsen werden,^
Da also die Aussagen schwanken z-wischen „ein sehr alter Mann“ und
»ein einjähriges Kind , so liegt wieder die Annahme nahe, daß es sich um
eine Verdichtung der Gestalt des eigenen Vaters mit der des
eigenen Sohnes handelt. Diese Deutung läßt sich auch weiter folkloristisch
erhärten, denn der Zwerg ist ein Hausgeist, mit anderen Worten einUhnen-
geist. „El lebt in einem bestimmten Hause, zu dem er unzertrennlich gehört,
zieht aber auch mit der Familie und oft gegen ihren Willen mit aus.“3 In
Galizien sitzen die Totenseelen als Hausgeister um den Herd. In Lüthausen
heißen diese Hausgeister Kaukas und sind nur ein Fuß hoch. Man gibt ihnen
winzige Röcke, um sie günstig zu stimmen, denn sie können auch gefährlich
werden. Wenn man sie mißhandelt oder nicht beachtet, zünden sie das Haus
an. Bei den Ruthenen in Viatka ist der Haus- oder Ahnengeist (Domovoj)
ein kleiner alter Mann, nicht größer als ein Knabe von fünf Jahren, der in
einem roten Hemd und mit weißem Bart am Herde sitzt.**
Wir sehen demnach, daß die Analyse wenigstens dieser mitteleuropäischen
Zwergsagen die an einem Fall gewonnene Deutung der Zwerge vollends bestätigt.
Den Zusammenhang mit der Kastration erweisen die merkwürdigen Füße,
während der lange Bart, das Alter, besonders aber die Zugehörigkeit zur
Klasse der Hausgeister den Zusammenhang mit dem Ahnenkult, d. h. mit dem
Vater erhärtet. Doch der Zwerg ist auch der wiederkehrende Vater, das
®tgene Kind, denn so heißt es im ungarischen Volkglauben 3 — die Zukunft
gehört den Zwergen, und während die Riesen als Vorgänger der Menschen
in der Weltherrschaft betrachtet werden, sind die Zwerge seine Nachfolger.
Kehren wir nun zu den Alpträumen zurück. Wenn der Träumende sich
von Elfen (winzigen Wesen) gedrückt fühlt und aus dem Traum mit einem
Angstschrei erwacht, kann die Angst nur aus den verdrängten homosexuellen
Regungen erklärt werden. Eine solche Voraussetzung ist gerade in der Herkules-
s^e man denke an die Szene bei Omphale sowie an die dorische Knaben¬
liebe — sehr wohl zulässig. Die Angst gilt dem Penis des Vaters, dem
negativen Ödipuskomplex, der Vorstellung der weiblichen Rolle (der Alp
liegt stets oben), des Kastriertwerdens.
Wie bei unserem Fall, können wir auch am folkloristischen Material oft
sehen, daß eine Regression von der genitalen auf die anale Stufe stattgefunden
hat, und daß die kleinen Männchen zu Vertretern der Exkremente wurden.
Ihnen gehören nämlich die Schätze. Oft heißt es, daß sie dem Sterblichen
einen scheinbar wertlosen Gegenstand geben, der sich dann bei Tageslicht in
Gold verwandelt, aber auch umgekehrt, sie geben Gold und zu Hause wird
daraus Dreck. Sie werfen Goldstücke in d ie Braupfanne der Menschen und
1) Gönczi: Göcsej. 1914, 172, 175.
2) *H. R. Schoolcraft: The Myth of Hiawatha. 1856, 90.
3) Wuttke: Volksaberglaube, 43. *
4) W. R. S. Ralston: The Songs of the Russian People, 1872, 121, 122.
5) Vgl. Kälmäny: Vilägunk alakuläsai nyelvhagyomdnyaink ban, 1891.
6) Vgl. Röheim; Psychoanalysis äs ethnologia. Ethnographia 1918.
Zur Deutung der Zwergsagen 103
werden durch Menschenkot verjagt.^ Der Schatz wird von kleinen braunen
Männlein mit langen Bärten gehütet.^ Die anale Bedeutung der braunen
Männlein wird noch wahrscheinlicher, wenn wir hören, daß die Tschuktschen
die Exkremente als alte Männer in braunen Pelzen personifizieren. ^ Auch sind sie bla¬
sende wehende Wesen; die Zwergnamen Austri, Vestri, Nordri und Sudri sowie
Windalfri deuten auf die Winde. Dazu kommt noch als Zwergname Gustr, -—
und gustr bedeutet altnordisch Flatus^ — Ein richtiger Zwerg muß aber auch
einen Hut, eine Kapuze oder eine Tarnkappe haben. Im steirischen Hochlande
haben die Truden grüne Käppchen auf, die sie unsichtbar machen. Gelingt
es einem, solch ein Käppchen zu erhaschen, so kann er die Trud sehen.
Schon der alte Petron weiß, daß, wer dem Incubo, dem Alp, das Hütchen
nimmt, einen Schatz gewinnt. Ein Nachfahr des lateinischen Incubo ist der
neapolitanische MonacieUo mit seinem breitrandigen Hut . . . Bei den Sandomierer
Waldbewohnern heißt der Alp Vjek, der Alte, oder Gnotek, Drückerlein,
und wenn man ihm die Mütze wegnehmen kann, bringt er viel Geld Die
Tarnkappe erscheint auch als bergende Haut, als Mantel, so wie Helm eigentlich
Hülle bedeutet.^ Zur Kaiserzeit erscheint in den Münzen von Pergamon neben
dem Schlangengott Asklepios die Gestalt eines Kindes oder Zwerges mit
Spitzhut (Kapuze) und Mantel, der Zwerg heißt Telesphoros und wird von
der Antike als Heildämon der Genesung betrachtet. Das Wort scheint mit
,^teleios^‘ „vollkommen^^ zusammenzuhängen und der Gott wäre demnach
der Vollendete und Vollendende. Die Epheben feiern ihn als Vorbild, er gilt
als lebensspendend und als Förderer jeglichen Wachstums. Es sind auch kleine
Bronzestatuen des Telesphoros mit Spitzhut aufgefunden worden, bei denen
der obere Teil der Statue abgenommen werden kann, wodurch ein Phallos
sichtbar wird.^
Spitzhut, Tarnkappe und Kapuze werden also auch mit dem Phallos
Zusammenhängen. — Nun wollen wir wieder auf unser klinisches Material
zurückgreifen und erzählen, wie der Patient auf den Einfall kam, den Penis
als einen Knaben mit Mütze darzustellen.
Er erzählt folgenden Traum: Ich hin der Besitzer eines wunderharen Bücher¬
ladens. „Konstruktivistische^^ Zeichnungen, moderner Stil, alles einfach, geome¬
trisch im Laden.
Dazu fällt ihm ein: „Das ist eine vornehme Sache.“ Er pflegt vornehm
zu sprechen, um Mädchen, die ihm Avancen machen, abzuschrecken. Diese
vornehme Manier ist ein Panzer, ein Schutz. Dann fallen ihm die beiden
Wörter ein: Kruzifix und Kerze. Als Kind kam ihm immer beim Einschlafen
die Vision eines Kruzifixes; Kerze bedeutet Onanie. Dann fällt ihm ein Witz
mit einem Zündholz ein; ehe man es anzündet, ist es erigiert, dann hängt
1) Laistner: Das Rätsel der Sphinx, 1889, I, 557, 545.
2) Kühn au: Schlesische Sagen, III, 1915, 595.
5) W. Bogoras: The Chukchee. Jesup North Pacific Exp., VII, 285.
4) Vgl. Gylfag, 14, 14. Grimm: Deutsche Mythologie, I, 582.
5) L. Laistner: Das Rätsel der Sphinx, 1889, I., 155.
6) J. Grimm: Deutsche Mythologie, I., 585.
7) J. Schmidt: Telesphoros Roschers Lexikon 75. Lieferung, S. 509. (Bezweifelt
die Zugehörigkeit der Statuen zu Telesphoros, nicht aber die phallische Deutung.)
J. E. Harrison: Themis, 1912, 581.
Geza Röheim
es langsam schlaff herab. Picasso hat solche kubistische Vorstellungen arran-
giert: Der Schauspieler und die Schauspielerin sind in einer geometrischen
Figur, gehen nach Hause und haben Geschlechtsverkehr. Dann spricht er
darüber, daß Goethe ein Gedicht an den eigenen Penis geschrieben habe, in
dem er den Penis als bezeichnet, und sagt: „Ich stelle mir den Penis
als kleinen Spitzbuben vor, mit seitwärts aufsitzender Kappe.“ Hierauf spricht
er von einer Statue in Budapest und vergleicht die Figuren der Statue mit
schlaff hängenden Gliedern.
Es scheint demnach, daß die Frage, ob der Penis einen Hut hat oder
nicht, eng mit der anderen Frage zusammenhängt, ob er erigiert ist oder
schlaff herunterhängt, das heißt mit der infantilen Onanie und mit der in
der Kruzifixvision enthaltenen Kastrationsdrohung. Wenn man den Hut ab¬
nimmt (Telesphorosstatuen), kommt der Phallus heraus, d. h, beim erigierten
Penis ist die Vorhaut (Hut, Kapuze, Mantel) nicht sichtbar. Nun geht aber,
wie wir von Grimm erfahren haben, der Hut in den Mantel, in die Hülle
über. Zu den stets wiederkehrenden Phantasien unseres Patienten gehört die
Märehenphantasie des unsichtbar machenden Mantels, des riesigen Stabes
(Penis) aus Eisen, der persönlichen Unverwundbarkeit und des nie versiegenden
Geldbeutels; alle diese Wunderdinge dienen dazu, die Kastrationsangst zu um¬
gehen, bzw. als Penis (des Vaters) ewig in der Vagina zu leben. So geht die
Symbolik des Hutes (Vorhaut) in die der Hülle (Vagina) über, ganz im Sinne
Ferenczis, der annimmt, daß die Dauerinvaginierung der Eichel in einer
Schleimhautfalte (in der Vorhaut) selbst nichts anderes ist — als eine Ge¬
schichte von den Tuanjiraka:
In Rubuntja, einem Ort im Nordosten, lebten einst viele kleine Männer,
namens Tuanjiraka. Diese schnitten sich mit ihren Steinmessern ihr rechtes
Bein ab und gingen nur auf einem Bein weiter. Wenn an einem Jungen die
Beschneidung vollzogen werden soll, so bringt man ihn zu Tuanjiraka. Dieser
schlägt ihm mit einem Eidechsenschwanz den Kopf ab und am folgenden
Morgen versetzt er ihn mit dem Schild aus Echidnafell einen Stoß, worauf
der Junge umherwandert. Der Tuanjiraka selbst beschneidet den Jungen und
wandert mit ihm herum.^
Was das Abschneiden des Beines, das Kopfabschneiden usw. in Zusammen¬
hang mit der Beschneidung bedeutet, braucht nicht erst ausgeführt zu werden,
zumal die Sage gerade von dem Echidna-Ahnen erzählt, daß er in der Urzeit
die Jungen nicht beschnitten, sondern kastriert habe. Tuanjiraka ist aber das
Schwirrholz, also ein heiliges Gerät, dessen Penisbedeutung feststeht.^ Dem
Burschen wird ja der Kopf mit einem Eidechsenschwanz abgeschlagen, die
Eidechse ist aber das Tier, welches für die Geschlechtsunterschiede verant¬
wortlich gemacht wird;3 d. h. wiederum der Penis. Die Kastration wird also
von einem Penis ausgeführt, und zwar, wie dies aber nur den Eingeweihten
mitgeteilt wird, vom Penis eines mütterlichen Totemvorfahren. Die Einge¬
weihten nennen den Tuanjiraka „nankara^^ d. h. den Leib eines Totem-
Ahnen, der den Jüngling überall begleitet und schützt. Ein zweites Schwirr-
1) Strehlow: Die Aranda und Loritja. I, 102.
2) Spencer und Gillen: The Arunta. 1927, I, 516.
5) Vgl. Röheim: Australien Totemism. 1925.
Zur Deutung der Zwergsagen
105
holz welches dann mit dem Blut des subinzidierten Penis bestrichen und beim
Liebeszauber benützt wird, wird dem Jüngling bei der Subinzision gegeben.
Dieses namatuna stellt ebenfalls einen Ahnen dar, und man sagt dem Jüng¬
ling: „Dies ist dein Körper, dein zweites Ich,“^ d. h., das Ichideal entsteht
auf der Grundlage einer Identifizierung des eigenen Penis mit dem Penis des
Vaters.
Für unseren Patienten ist aber der Hund das Kastrationssymbol. An¬
schließend an die Drohung vom Hund, der ihm den Penis abbeißen wird,
erzählt er, daß sein Vater ihm zu seiner Geliebten mitnahm, und daß er sich
dort vor einem großen Hund im Hof sehr fürchtete. Später identifiziert er
dann einen Hund sowohl mit der eigenen Person als auch mit dem Penis
des Analytikers, d. h. kurz zusammengefaßt, der Penis des Vaters erscheint
als Hund oder Waffe, von der die Kastration droht, und der Zwerg wäre
einerseits der abgeschnittene, andererseits aber auch der kastrierende (zum
Weib machende) Penis des Vaters.
Zur Vorstellung, daß die Kastration vom Penis des Vaters ausgeht, bringt
derselbe Patient noch folgendes Material:
Er erzählt eine Phantasie von einem Hund, der seinem Besitzer über
Meere und Kontinente folgt. Der Hund blutet, er durchbrach eine Fenster¬
scheibe, um seinem Herrn folgen zu können. „So einen Penis sollte man
haben, so stark, daß er Glasscheiben durchbricht.“ Dann wiederum sagt er
mit Ekel und Aufregung: „Wie wenn der Hund der Penis des Herrn Doktor
.. u
wäre. —
Ein anderer Patient berichtet von einer passiv-homosexuellen Onanie¬
phantasie mit dem Analytiker und erzählt gleich darauf, er hätte die ganze
Nacht schreckliche Angst gehabt, eine große Maschine könnte ihm den Penis
abschneiden. „Große Maschine, das wäre wohl der Penis des Vaters,“ sagt
er dann und berichtet, daß er am letzten Tage eine lustvolle (korrigiert dann:
Nein, lebensvolle) Vorstellung vom Penis des Vaters gehabt hätte.
Über Sdiwangersdiaftsgelüste
InauguraUDissertation zur Erlangung der Doktorwürde^ der medizinischen Fakultät der Ruperto-
Carola-Universität zu Heidelberg vor gelegt
Von
Susanne Hupfer
Medizinalpraktikantin
Die Schwangerschaftsgelüste und -abneigungen haben in der Literatur eine
recht widerspruchsvolle Beurteilung erfahren. N a e g e 1 e schreibt um die
Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem „Lehrbuch der Geburtshilfe : „Sehr
gewöhnlich und oft in sehr belästigender Weise äußert sich der Einfluß der
Schwangerschaft im Verdauungssystem. Zu den häufigsten Erscheinungen bei
Beginn der Schwangerschaft gehören z. B. Übelkeiten, Neigung zum Er-
i) Strehlow: L. c., II, 80, 81.
L
106
Susanne Hupfer
brechen, Widerwille gegen manche Speisen und Getränke, besondere Begierden
(Gelüste) nach anderen, oft ungewöhnlichen und zuweilen selbst ekelerregen¬
den Dingen. Anm.: Die angegebenen Veränderungen im Verdauungssystem
scheinen^ durch die veränderte Blutmischung und Innervation bedingt zu
werden. “
H. Kogerer in «GenerationsVorgänge und Neuroseh“ (1927) ist der An¬
sicht, daß bei den Gelüsten „der Charakter des Zwangsmäßigen nicht mit
solcher Deutlichkeit auftrete, daß man daraus auf bestimmte psychische Mecha¬
nismen schließen könnte . Seiner Ansicht nach wäre viel eher anzunehmen,
„daß die Gelüste und Ekelgefühle zum Teil wenigstens durch sekretorische
Störungen bedingt sind“.
E. Kehrer in „Physiologie der Schwangerschaft“ (1925) betont dagegen
bereits, daß die bis zum Ekel gesteigerte Abneigung gegen manche Speisen
„vor allem auf Veränderungen in der Psyche, also wohl auf eine Unlust an
der eingetretenen Schwangerschaft“ zu beziehen seien (Anorexia nervosa). „Die
wiederholt ausgesprochene Annahme, daß diese Aversionen durch die Sekretions¬
verhältnisse des Magens bedingt sind, ist nicht oder nur zum kleinen Teil
berechtigt. Vermutlich ist der umgekehrte Weg anzunehmen, nämlich die
Abhängigkeit der Magensekretion von der Psyche (Dreyfus), wie vor allem
aus den nach Pawlow angestellten Scheinfütterungsversuchen am Hund
hervorgeht. Das Verlangen nach sauren Speisen läßt sich iii wissenschaftlich
befriedigender Weise erklären durch die Herabsetzung der freien HCl und
der Gesamtazidität des Magensaftes und durch das Bestreben des Körpers,
seine Magensekretion auf die Norm einzustellen.“
J.^Novak in „Die Beziehungen des weiblichen Genitales zum Verdauungs¬
trakt (1927) führt u. a. aus: „Viele Schwangere haben Widerwillen gegen
bestimmte Speisen, namentlich gegen Fleisch, Süßigkeiten, seltener gegen
saure Speisen. Andere bevorzugen stark gesalzene und gewürzte Speisen,
einzelne auch Süßigkeiten. Während sich derartige Veränderungen der Ge¬
schmacksrichtung noch im Rahmen der üblichen Kostformen bewegen, kann
man bei anderen Schwangeren ganz sonderbare Gelüste beobachten, z. B. eine
Vorliebe für den Genuß von Kreide, Erde, Asche u. dgl. . . . Wir müssen
gestehen, daß wir über eine gesicherte Erklärungsmöglichkeit nicht verfügen.
Wir können uns zwar ganz gut vorstellen, daß Hyp-, bzw. Anazidität eine
gewisse Vorliebe für'saure Speisen, Hyperazidität für säurebindende Sub¬
stanzen (Kreide u. dgl.) weckt. In den meisten Fällen dürfte es sich aber um
unterbewußte Vorstellungskomplexe abnorm veranlagter Frauen handeln.“
G. Steiner in „Psychische Untersuchungen an Schwangeren“ (1922)
weist darauf hin, daß die Gelüste /) spontan auftreten können, ohne äußere
Anregungen, daß sie 2) auftreten unter der Erscheinung des subjektiven
Zwanges, der „in Auftreten und Wirkungsweise psychologisch durchaus unver¬
ständlich genannt werden muß“. An anderer Stelle führt er "aus: „Es sieht
fast so aus, wie wenn die Gelüste und Ekelgefühle die polaren Enden einer
und derselben psychischen Erscheinungsreihe wären."
Helene Deutsch in „Psychologie des Weibes in den Funktionen der
Fortpflanzung (1925) behandelt das Thema vom psychoanalytischen Stand¬
punkt aus. Sie sagt u. a.: »Die bereits im Koitus sich kundgebenden ambi¬
valenten Regungen späterer Entwicklungsphasen werden in der Schwanger-
über Sdiwangersdiafisgelüste
107
Schaft stärker. Der der ,späteren oralen Entwicklungsphase* (Abraham)
zugehörige Ambivalenzkonflikt äußert sich in der Tendenz, das einverleibte
Objekt wiederum — auf oralem Wege — auszustoßen. Sie findet ihren Aus¬
druck ini Schwangerschaftserhrechen, in typischem Aufstoßen, in sonderbaren
Speisegelüsten usw.“
Soweit die von mir benützte Literatur. Ich möchte kurz meine Stellung
zu dem Thema darlegen. Mir war das geheimnisvolle Kapitel der Schwanger¬
schaftsgelüste schon lange besonders anziehend erschienen. Vor einigen Jahren
erfuhr ich zufällig die als Fall ii mitgeteilte Schwangerschaftsgeschichte einer
mir persönlich gut bekannten Frau. Der mir sehr lebhaft geschilderte rätsel¬
hafte Zwang erregte meine „Neugier“. Das in den letzten Jahren betriebene
Studium analytischer, folkloristischer und anthropologischer Literatur legte mir
den Gedanken nahe, mit den so gewonnenen Gesichtspunkten an die Frage
der Schwangerschaftsgelüste heranzutreten. Ich befragte vierzig Frauen und
Mädchen, größtenteils Hausschwangere der Heidelberger Universitäts-Frauen¬
klinik. Im folgenden gebe ich das Ergebnis der Besprechungen, soweit es für
diese Arbeit von Interesse ist, kurz wieder.
Fall 1. Frau G. G. aus Mannheim, 19 Jahre alt, verheiratet seit drei Wochen.
Stets gesund gewesen; seit dem i 5 . Lebensjahr regelmäßig menstruiert, Erstschwangere
im neunten Monat. Es bestanden keinerlei Beschwerden während der Gravidität,
kein Erbrechen, kein Ekel. Im zweiten Monat trat starkes Gelüst nach Äpfeln auf
die sie zwar auch früher gern aß, aber nie so heftig begehrt hatte. Sie erinnert sich
nicht, je von einem Gelüst nach Äpfeln in ihrer Bekanntschaft gehört zu haben. Das
Verhältnis zu ihrem Mann soll stets gut gewesen sein. Sie freut sich auf das Kind,
möchte einen Buben haben. An infantile Sexualtheorien kann sich die Pat. angeblich
nicht erinnern.
Fall 2. Frau A. M. aus Neustadt, 22 Jahre alt, verheiratet seit zwei Monaten.
Stets gesund gewesen; seit dem 14. Lebensjahr regelmäßig menstruiert. Zweit¬
schwangere im neunten Monat; das erste Kind ist gesund. Beide Graviditäten ver¬
liefen beschwerdefrei, — es bestand kein Widerwille gegen irgendwelche Speisen, —
dagegen beidemal Gelüst nach Obst, besonders nach Äpfeln. Von einem „Vorbild“
für dieses Gelüst weiß sie nichts. Das Verhältnis zum Mann ist gut, beide freuen
sich auf das Kind. Geschlecht ist gleichgültig. Infantile Sexualtheorien werden
nicht berichtet.
Fall 5. Frau E. K. aus Ludwigshafen, 24 Jahre alt, verheiratet seit zwei Jaliren,
stets gesund gewesen, menstruiert regelmäßig seit dem 14. Lebensjahr. Dritt-
schwangere im neunten Monat (eine Totgeburt, ein Abortus). In den beiden ersten
Graviditäten keine Beschwerden, kein Ekel, Gelüst nach Obst. Sie ist jetzt angeblich
von einem Fremden überwältigt worden, ihr Mann verbüßt seit einem Jahr eine
Gefängnisstrafe. Sie steht nicht gut mit ihm, er hat sie stets mißhandelt. In den
ersten drei Monaten ab und zu Erbrechen, seitdem Wohlbefinden. Starkes Gelüst
auf Obst. Infantile Sexualtheorien: Sie glaubte an die „Schnittentbindung“; über das
Woher hat sie angeblich nie nachgedacht.
Fall 4. Fräulein S. Sch. aus Köln, 28 Jahre alt, Zimmermädchen, War immer
gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Erstschwangere im neunten
Monat. Die Gravidität verlief beschwerdefrei. Sie hat Widerwillen gegen Fleisch,
das sie sonst gern aß; seit dem zweiten Monat Gelüst auf Obst, besonders auf
Orangen. Die sehr intelligente Pat. gibt an, daß die Gelüste ganz etwas anderes
seien als etwa der Appetit auf ein als „gesund“ bekanntes Nahrungsmittel. Es sei
„wie ein Zwang“. Infantile Sexualtheorien werden nicht berichtet. Pat. wünscht sich
ein Mädchen. Ihre Verlobung ist seit einigen Monaten gelöst.
Susanne Hupfer
108
Fall 5. Fräulein E. H. aus Eppingen, Dienstmädchen. Stets gesund gewesen,
regelmäßig seit dem 15. Lebensjahr menstruiert. Zweitschwarigere im neunten Monat.
Der Vater des ersten Kindes, eines jetzt vierjährigen gesunden Mädchens, hat sie
verlassen. Der Vater des zweiten Kindes läßt seit einiger Zeit nichts mehr von sich
hören. Beide Graviditäten verliefen heschwerdefrei. Beidemal traten im ersten Monat
bereits Gelüste auf nach Äpfeln, Orangen und sehr gewürztem Tee mit Zitrone und
Vanille. Sie hat viel Freude am ersten Kind imd freut sich trotz der materiellen
Sorgen auch auf das zweite; das Geschlecht ist ihr gleichgültig. Über infantile
Sexualtheorien kann sie keine Angaben machen.
Fall 6. Fräulein A. Sch. aus Heßheim, 22 Jahre alt, Dienstmädchen. War immer
gesund; regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Erstschwanger im achten
Monat. Die Gravidität verlief beschwerdefrei, kein Erbrechen, kein Ekel. Seit dem
zweiten Monat Gelüst nach Äpfeln. Geschlecht des erwarteten Kindes ist ihr gleich¬
gültig. Das Verhältnis zum Vater des erwarteten Kindes ist nicht gut. Von ihren
infantilen Sexualtheorien weiß sie angeblich nichts.
Fall 7. Fräulein L. K. aus Heitersheim, 25 Jahre alt, Dienstmädchen. Stets gesund
gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Zweitschwangere im
neunten Monat, vor drei Jahren Abortus im sechsten Monat. Keine Beschwerden in
der Gravidität, kein Erbrechen, keinen Ekel. Von Anfang an Gelüste nach Bananen;
ihre Tante ist Hebamme, hat ihr gesagt, daß Obst für das Kind sehr gesund sei.
Das schon vordem recht gute Einvernehmen mit dem Vater des Kindes soll sich in
der Gravidität noch gebessert haben. Das Geschlecht des Kindes ist ihr gleichgültig.
Infantile Sexualtheorien werden nicht erinnert.
Fall 8. Fräulein E. Sehr, aus Eberbach, 22 Jahre alt, Dienstmädchen. War stets
gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Erstschwangere im neunten
Monat. Anfangs zweimal erbrochen, sonst keine Beschwerden, kein Ekel. Von Anfang
an Gelüst nach Bananen. Sie kannte niemanden mit ähnlichen Gelüsten. Das Ver¬
hältnis zum Vater des Kindes ist gut. Geschlecht ist ihr gleichgültig. An infantile
Sexualtheorien erinnert sie sich nicht.
Fall g. Fräulein E. A. aus Sinsheim, 22 Jahre alt, Dienstmädchen. War immer
gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Zweitschwangere im achten
Monat. Ein Knabe von vier Jahren ist gesund. Beide Graviditäten waren beschwerde¬
frei, In der ersten Schwangerschaft hatte sie Gelüste nach Hering. Sie wünschte sich
damals ein Mädchen, stand schlecht mit dem Vater des Kindes. Er hat sie bald nach
der Geburt verlassen. Der Vater des zweiten Kindes ist wütend über die eingetretene
Schwangerschaft. Sie freut sich trotz allem auf das Kind, will ein Mädchen haben.
Sie hat von Anfang an Gelüste nach Bananen. Infantile Sexualtheorien: Sie glaubte
an die „Schnittentbindung‘‘. Von Empfängnistheorien weiß sie nichts zu berichten.
Sie träumt viel — und zwar immer wieder — von Eiern, die auf den Boden rollen
und zerbrechen; von Läusen und Wanzen; von Kindern, die im Wasser liegen und
ertrinken, ohne daß sie sie retten kann.
Fall 10. Fräulein M. H. aus Mannheim, 24 Jahre alt, Verkäuferin. Stets gesund
gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Erstschwangere im neunten
Monat. Keinerlei Beschwerden in der Schwangerschaft. Von Anfang an „Heißhunger
auf Fleisch‘‘. Sie ißt es auch dann gierig, wenn sie soeben gesättigt von der Mahl¬
zeit kommt. Verhältnis zum Vater des Kindes angeblich freundlich. Sie wünscht sich
einen Buben, träumt oft davon, daß er schön laufen kann und um sie herumspielt.
Infantile Sexualtheorien; Glaubte als Kind an die Schnittentbindung. Über das „Wo¬
her“ hat sie sich angeblich keine Gedanken gemacht.
Fall XI. Frau E. L., 45 Jahre alt, verheiratet seit 2X Jahren, berichtet über ihre
erste und einzige Gravidität vor 20 Jahren folgendes (vergl. meinen Hinweis in der
Anleitung): Zu Beginn der Gravidität 24 Jahre alt, ein halbes Jahr verheiratet; bis¬
her immer gesund gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 16. Lebensjahr. Vom
über Sdiwangersdhaftsgelüste
109
zweiten bis fünften Monat morgendliches Erbrechen. Kein Ekel vor irgendwelchen
S eisen. Das Kind wurde von seiten der Frau lebhaft gewünscht, es sollte ein Knabe
sein Das Verhältnis zum Ehemann, der aus Bequemlichkeitsgründen die Abtreibung
wünschte, war nicht gut. Vom vierten Monat an bis zum Ende der Gravidität bestand
ein sehr heftiges Gelüst nach warmen Würstchen, die täglich in größerer Zahl ver¬
zehrt werden mußten, „es war wie ein Drang; gedacht habe ich dabei nur, daß ich
sie essen muß“. Infantile Sexualtheorien werden nicht erinnert.
Fall 12. Fräulein J. Z. aus Ludwigshafen, 21 Jahre alt, Zigarrenmacherin. War
immer gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Zweitschwangere im
neunten Monat. Die erste Gravidität verlief beschwerdefrei; das Kind, ein ein Jahr
altes Mädchen, ist gesund. Auch in der zweiten Gravidität keine Beschwerden. Ver¬
hältnis zum Vater des Kindes schlecht, er hat sie vor einigen Monaten verlassen und
heiratet eine andere. Sie hat Gelüst nach Rettich und Heringen (auch anderen Fischen).
Infantile Sexualtheorien: Schnittentbindung (als sie am Ende der ersten Gravidität
auf der Krankenkasse ihren Verbandkasten in Empfang nahm, fragte sie, ob auch
ein Messer darin sei). Glaubte lange an die Zeugung durch den Kuß.
Fall 15. Fräulein Ghr. H. aus Mannheim, 28 Jahre alt, Dienstmädchen. Immer
gesund gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Zweitschwangere
im achten Monat; erstes Kind ist gesund, zweijähriges Mädchen. Sie stand damals
gut mit dem Vater, mit dem sie seit einem halben Jahr entzweit ist; wünschte einen
Knaben. Sie hat in den beiden Graviditäten viel erbrochen bis zum fünften Monat,
hatte in der gleichen Zeit Appetit auf Saures (Salat, Gurke, Essig). Verhältnis zum
Vater ihres zweiten Kindes gut, sie wünscht einen Knaben. Infantile Sexualtheorien
werden nicht berichtet.
Fall 14. Fräulein E. Kl. aus Ludwigshafen, 25 Jahre alt, Dienstmädchen. Stets
gesund gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Erstschwangere
im achten Monat. Sie hatte zwei Monate lang Erbrechen; ißt gern Hering und
Rollmops. Ihr Verhältnis zum Vater des Kindes ist gut; sie ist relativ gleichgültig
gegenüber dem erwarteten Kinde. Ein Knabe wäre ihr lieber als ein Mädchen; sie
träumt zuweilen von dem Kinde, Neulich sah sie es tot vor sich (sie bringt das in
Verbindung mit ihrer Arbeit im Laboratorium, wo ihr die Embryonen in Spiritus
großen Eindruck gemacht haben). Infantile Sexualtheorien: Sie nahm die Schnitt¬
entbindung an; über das „Woher“ hat sie sich angeblich nie Gedanken gemacht.
Fall 15. Fräulein Fr. V. aus Landau, 17 Jahre alt, Fabriksarbeiterin. War stets
gesund, seit dem 15. Lebensjahr regelmäßig menstruiert. Erstschwangere im zehnten
Monat. Die Schwangerschaft verlief vollkommen beschwerdefrei; sie hat oft Appetit
auf Hering. Ihre ältere Schwester hatte das auch in der Gravidität. Sie hat eine
Abneigung gegen Orangen, die sie sonst gerne mochte. Das Verhältnis zum Vater
des Kindes ist gut. Geschlecht des Kindes ist ihr gleichgültig. Infantile Sexual¬
theorien V Sie glaubte an die Schnittentbindung. Ferner nahm sie an, man bekomme
Kinder nach dem Einnehmen eines Pulvers.
Fall 16. Fräulein L. G. aus Weißenheim, 20 Jahre alt, Dienstmädchen. Früher
immer gesund gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Erst¬
schwangere im neunten Monat. Anfangs Sodbrennen gehabt, sonst keine Beschwerden.
Sie steht gut zum Vater des Kindes. Er wünscht einen Knaben, ihr ist das Geschlecht
angeblich gleich. Sie träumt viel; anfangs sah sie oft tote Kinder in Blut und Wasser
schwimmen. Seit einigen Wochen träumt sie „freundlicher“. Sie sieht oft ein Mädchen
um sich herum spielen. Sie hat Gelüst nach Hering und anderen Fischen, die sie
früher nicht essen mochte, Wurst, die sie immer gern aß, ist ihr jetzt zuwider.
Infantile Sexualtheorien: Schnittentbindung. Eine scherzhafte Bemerkimg ihrer Mutter,
man bekomme durch Essen von Pellkartoffeln Kinder, hat ihr lange Zeit keine Ruhe
gelassen.
Fall 17. Fräulein M. G. aus Eberbach, 29 Jahre alt, Fabrikarbeiterin. Nie ernst-
110
Susciime Hupfer
lieh krank gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Viertschwanffere
™ neunten Monat. Drei Kinder leben bei ihren Eltern. Verhältnis zum Vater des
^ndes gut, sie wollen heiraten. In allen vier Graviditäten hat sie in den ersten
Monaten erbrochen. In der gleichen Zeit hatte sie zuweilen Appetit auf Gurken und
Hering. Infantile Sexualtheorien werden nicht erinnert.
Fall 18. Diesen Bericht verdanke ich der Schwester (Fall 10), die bei unserer
Besprechung spontan von dem „merkwürdigen« Verhalten erzählte, das ihre ältere
Schwester bei ihrer ein Jahr zurückliegenden Schwangerschaft gezeigt habe. E. H.
aus Mannheim, 25 Jahre alt. Früher immer gesund; in der Gravidität keine Be-
schwerden. Sie hatte von Anfang an heftigsten Ekel vor Eiern, die sie früher gern
a . El in der Suppe war ihr nicht widerlich, aber das ganze Ei mit der Schale
konnte sie nicht sehen. Noch jetzt, ein Jahr nach der Geburt, wird ihr schlecht
wenn sie nur Eierschalen sieht. Sie hatte während der ganzen Zeit ihrer Schwanger-
schaft starken Widerwillen gegen den Vater ihres Kindes, sie wollte ihn nicht sehen •
sie a erte selbst wiederholt ihr Befremden über diesen Gesinnungswechsel, für den
Me keine Begründung wußte. Sie wünschte einen Knahen. Nach der Geburt des
Kindes wurde die Einstellung zum Vater wieder freundlicher; sie wollen heiraten.
Fall 19. Fräulein F. D. aus Ludwigshafen, 20 Jahre alt, Dienstmädchen. War
immer gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Erstschwangere im
achten Monat. Zwei Monate erbrochen, sonst keine Beschwerden gehabt. Verhältnis
zum Vater des Kindes nicht gut; sie wünscht einen Knaben. Sie hat von Beginn der
Schwangerschaft an Ekel vor Eiern. Wenn sie nicht weiß oder nicht schmeckt, daß
Eier zu irgendeiner Speise verwendet worden sind, kann sie sie essen und bekommt
nachher keine Beschwerden, kein Erbrechen. Infantile Sexualtheorien werden nicht
erinnert.
Fall 20. Fräulein L. W. aus Mannheim, 24 Jahre alt, Dienstmädchen. Immer
psund gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr. Zweitschwangere
IvLn^ r n"*®" Gravidität aß sie gern Obst. Hatte vom ersten
Monat an heftigen Widerwillen gegen Eier und gegen Fleisch. Der Vater des Kindes
verlobte sich im fünften Monat mit einer anderen. Das Kind starb wenige Wochen
nach der Geburt 1« der zweiten Gravidität hat sie keinerlei Ekelgefühle gehabt,
keine Geluste_ Das Verhältnis zum Vater ihres gegenwärtig erwarteten Kindes isl
gut. Geschlecht des Kindes ist ihr gleichgültig. Infantile Sexualtheorien: Schnitt¬
entbindung. An Vermutungen über das „Woher“ kann sie sich nicht erinnern.
Fall 21. Fräulein B. D. aus Birkweiler, 20 Jahre alt, Dienstmädchen. War nie
Tennt M menstruiert seit dem 13. Lebensjahr. Erstschwangere im
r Verhältnis zum Vater des Kindes ist jetzt gut, war zu Beginn der
gereizt. Das Geschlecht des Kindes ist ihr gleichgültig. Sie hatte keine
Beschwerden m der Schwangerschaft, keine Gelüste. Heftigen Widerwillen gegen
Eier ; in der Suppe ißt sie sie wohl, aber sie „kann keine ganzen Eier sehen“ Sie
™ Schwangerschaft einmal versehentlich
werde^nl^ht anygXn!" Sexualtheorien
36 Jahre alt, Geschäftsreisende. Nie ernst-
heb krank gewesen, regelmäßig menstruiert seit ^dem 15. Lebensjahr. Zweit-
Gravidität keine Beschwerden, keine
Gelüste, ^m Ekel. Das Verhältnis zum Vater des ersten Kindes war gut- er ist
gefaUen. Das Kind, ein fünfzehnjähriger Junge, ist gesund. Jetzt hat sie^e’ine Be-
Sri ^ Aussicht auf das Kind. Der Vater, ein verheirateter Mann mit zwei
Kindern, ebensowenig. Geschlecht des Kindes ist ihr gleichgültig. Infantile Sexual-
eonen. le nahm die „Nabelgeburt“ an. Zeugungstheorien werden nicht erinnert.
über Sdiwangerschaftsgelüste
111
Fall 25. Fräulein L. Sch. aus Hockenheim, 51 Jahre alt, Fabrikarbeiterin. War
bisher immer gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Erst¬
schwangere im neunten Monat. Der Vater hat das Kind noch nicht anerkannt. Das
Verhältnis ist gespannt. Sie will ein Mädchen haben, hat es schon im Traum ge¬
sehen, es selber ähnlich. Keine Beschwerden, keine Gelüste, kein Ekel.
Infantile Sexualtheorien: Schnittentbindung. Vermutungen über das „Woher“ werden
nicht erinnert.
Fall 24. Fräulein L. K. aus Speyer, 25 Jahre alt, Dienstmädchen. Immer gesund
gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Zweitschwangere im
neunten Monat. Erste Gravidität verlief ohne Beschwerden; keine Gelüste, kein Ekel;
sie stand gut mit dem Vater (^der sie einige Monate nach der Geburt des Kindes,
eines jetzt vierjährigen Knaben, verließ), wünschte sich ein Mädchen. Mit dem
Vater des zweiten Kindes steht sie gut, sie will ein Mädchen haben. Sie hat keinerlei
Beschwerden gehabt, keinen Ekel, keine Gelüste. Seit einigen Wochen hat sie immer
starken Durst. Infantile Sexualtheorien werden nicht erinnert.
Fall 25 bis 54. Betrifft zehn ledige Erstschwangere im Alter von 18 bis 54 Jahren,
die bisher nie ernstlich krank waren. Sie stehen im siebenten bis neunten Monat
der Gravidität, haben keinerlei Beschwerden gehabt, keine Gelüste, keinen Ekel. Ich
berichte zusammenfasssend über sie, weil ihnen gemeinsam ein sehr schlechtes Ver¬
hältnis zum Vater ihres Kindes ist, der sich entweder weigert, das Kind anzuerkennen
oder durch Wegzug vom gemeinsamen Wohnort vorläufig unauffindbar ist. Alle diese
Schwangeren wünschen, daß das zu erwartende Kind ein Mädchen sei. Über infantile
Sexualtheorien konnten sie keine Angaben machen. Zwei waren Anhängerinnen der
Schnittentbindung gewesen, eine hatte sich für die Nabelgeburt entschieden.
Fall 55. Fräulein O. Schn, aus Mannheim, 25 Jahre alt, Dienstmädchen. War nie
ernstlich krank, regelmäßig menstruiert seit dem 13. Lebensjahr. Erstschwangere im
neunten Monat. Hatte keinerlei Beschwerden, keine Gelüste, keinen Ekel. Bis vor
kurzem hatte sie heftige Wut auf den Vater des Kindes, angeblich ohne Anlaß; sie
hätte ihn durchpeitschen mögen. Sie freut sich nicht auf das Kind, das Geschlecht
ist ihr gleichgültig. Vor kurzem träumte ihr, daß sie frisch entbunden im Bett liege,
ihr Kind wird in einen Sarg gelegt und weggefahren. In einem anderen Traum sah
sie einen Riesenstorch, sie dachte im Trairni, man kann den Kindern gut weiß
machen, daß sie ein so großer Storch bringt, das werden sie schon glauben. An
infantile Sexualtheorien erinnert sie sich angeblich nicht.
Fall 36. Fräulein E. O. aus Mannheim, 22 Jahre alt, Kontoristin. Immer gesund
gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 15. Lebensjahr, Erstschwangere im neunten
Monat. Im Beginn der Gravidität hatte sie „Anfälle“, die zum erstenmal auftraten,
als sie erfuhr, daß ihr Bräutigam verheiratet und Vater zweier Kinder sei. Im übrigen
verlief die Schwangerschaft ohne Störungen, bis auf gelegentliches Erbrechen in den
ersten zwei Monaten. Sie hat keinerlei Ekel, hat Gelüste auf süße Sachen. Sie
wünscht, ein Mädchen oder Zwillinge zu bekommen; ihr Jugendfreund, der sie jetzt
heiraten will, ist infolge einer Kriegsverletzung zeugungsunfähig. Infantile Sexual¬
theorien: Der Leib platzt bei der Geburt vom Nabel an nach unten zu auf. An
Zeugungstheorien erinnert sie sich nicht. Mit etwa 15 Jahren erfuhr sie den tatsäch¬
lichen Geburtsmechanismus. In den Träumen der letzten Zeit werden die kindlichen
Anschauungen wieder lebendig, das Kind wird durch den Nabel geboren, es schaut schon
mit dem Kopf heraus und spricht bereits. Ein andermal wird der Leib aufgeschnitten.
In ihren Anfällen und in Träumen sah sie oft eine Frau, die sie bös anschaut und
das eben geborene Kind nimmt (der Vater ihres Kindes schickte ihr zu Beginn der
Gravidität eine Spritze und eine Flasche Holzessig mit der Aufforderung zur
Abtreibung).
FaU 57. Fräulein A. E. aus Nußloch, 22 Jahre alt, Dienstmädchen. War nie ernst¬
lich krank, regelmäßig menstruiert seit dem 13. Lebensjahr. Erstschwangere im
1
^12 Susanne Hupfer
neunten Monat. Sie hat bis zum dritten Monat erbrochen. Kein Ekel. Vom zweiten '
Monat ab Gelüste auf Süßigkeiten, aus denen sie sich bisher wenig machte.
Verhältnis zum Vater des Kindes ist nicht gut. Sie mochte ein Mädchen haben
Infantile Sexualtheorien: Sie glaubte an die Nabelgeburt; Zeugungstheorien werden ^
nicht erinnert.
Pall 58. Fräulein E. S. aus Ziegelhausen, 19 Jahre alt, Dienstmädchen. Erst¬
schwangere im achten Monat. War immer gesund, regelmäßig menstruiert seit dem «
15. Lebensjahr. Sie hatte keine Beschwerden während der Schwangerschaft, keinen
Ekel; von Anfang an Gelüst nach Süßigkeiten, besonders nach Kuchen. Das Ver- '
hältnis zum Vater des Kindes ist gut, sie wollen bald heiraten. Sie wünscht sich ein
Mädchen, freut sich sehr auf das Kind. Infantile Sexualtheorien werden nicht ‘
erinnert.
Fall 59. Fräulein M. G. aus Emsmannsreuth, 29 Jahre alt, Dienstmädchen. War '
immer gesund, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Zweitschwangere i
im achten Monat. In der ersten Schwangerschaft keine Beschwerden, kein Ekel, ^
Gelüste auf Süßigkeiten. Jetzt kein Ekel, keine Gelüste. Verhältnis zum Vater des'
Kindes gut. Geschlecht des Kindes ist ihr gleichgültig. Infantile Sexualtheorien ’
werden nicht erinnert.
Fall 40. Fräulein W, K. ans Mannheim, 19 Jahre alt, Verkäuferin. Nie ernstlich
krank gewesen, regelmäßig menstruiert seit dem 14. Lebensjahr. Erstschwangere im •
neunten Monat. Hat sechs Wochen lang Erbrechen gehabt, seitdem keine Be- '
schwerden, kein Ekel. Vom zweiten Monat an Gelüste nach Schokolade, aus der sie •
sich sonst nicht viel machte. Verhältnis zum Vater des Kindes freundlich. Geschlecht 1
des Kindes ist ihr gleichgültig. Infantile Sexualtheorien werden nicht erinnert.
Eine Zusammenfassung ergibt; Zehn Schwangere haben Gelüste nach I
Früchten (Äpfeln, Bananen, Orangen), zehn nach Süßigkeiten (Schokolade, i
Kuchen), vier nach Hering, eine nach Rettich, eine nach Fleisch, eine nach
warmen Würstchen, eine nach stark gewürztem Tee, eine hat anfallsweise •
starken Durst. Drei Frauen geben an, keine Gelüste zu haben, nur ab und s
„Appetit auf Saures, eine spricht in ähnlicher W^eise von „Appetit auf j
Obst“, Widerwillen gegen Eier fand ich in vier Fällen, gegen Fleisch in J
zwei Fällen, gegen Fisch in einem Falle. Die Frage nach den infantilen
Sexualtheorien, über die im folgenden noch zu sprechen ist, ergab, daß elf j
Schwangere bis zur vollständigen Aufklärung an die „Schnittentbindung“
geglaubt hatten, drei an die „Nabelgeburt“, eine an eine Kombination (die I
Nabelöffnung wird durch einen Schnitt erweitert). Nur in drei Fällen erfuhr
ich die kindlichen Zeugungstheorien: Einmal Zeugung durch den Kuß, einmal
durch ein Pulver, das die Frau einnehmen muß, und ein Mädchen hatte ‘
lange Zeit an die Behauptung der Mutter geglaubt, man könne Kinder be¬
kommen durch Essen von Pellkartoffeln. Man kann einwenden, das sei keine
eigene Theorie, aber ich bin der Meinung, daß sie sich mit der Vermutung
des Kindes doch wenigstens vertragen haben muß, sonst hätte die Vorstellung
kaum jahrelang eine Rolle spielen gönnen. Zur Erzählung' von Träumen
waren die Schwangeren nur schwer zu bewegen, vielleicht aus der Be¬
sorgnis heraus, für abergläubisch gehalten zu werden. Dennoch bekam ich
zehn Träume berichtet, die ich mitgeteilt habe, weil ich sie im Zusammen¬
hang dieser Arbeit für wichtig halte. Sie handeln neunmal von Kindern,
darunter zweimal von solchen, die im Wasser liegen, dreimal von toten
Kindern, in drei Fällen laufen die Kinder schon herum. Eine Schwangere
über Sdiwangersdiaftsgeiüste
113
erlebt im Traum, daß sich die Geburt nach ihrer kindlichen Nabelschnitt-
Theorie vollzieht. Ein Traum handelt von Läusen, Wanzen und zu Boden
rollenden Eiern.
Ehe ich dazu übergehe, die einzelnen Gelüste näher zu betrachten, möchte
ich kurz über die Meinungen berichten, die sich bei primitiven und zivili¬
sierten Völkern über die Schwangerschaftsgelüste finden. Bartels und
ploß schreiben in ihren anthropologischen Studien, daß die Schwangeren
von altersher in dem Rufe stehen, zeitweilig von der „unüberwindlichen
Neigung“ befallen zu werden, bestimmte Dinge zu essen und zu trinken.
Einem solchen Gelüst darf man nach der Meinung des Volkes unter keinen
Umständen entgegentreten, weil sonst „sowohl die Mutter als auch das im
Werden begriffene Kind an Leib und Leben Schaden zu nehmen verhiöchte*.
Die alten Inder hatten die Auffassung, daß es sich bei den Gelüsten eigent¬
lich gar nicht um Wünsche der Frau, sondern um solche des Kindes handle.
So heißt es bei Schmidt über die Entwicklung der Frucht: „Im vierten
Monat geht die Teilung in alle Haupt- und Nebengliedmaßen ganz deutlich
erkennbar vor sich; und da der Fötus nun ein deutlich entwickeltes Herz
besitzt, ist auch die Substanz des VorstellungsVermögens deutlich vorhanden,
aus dem Grunde, weil es dort seinen Sitz hat. Daher zeigt der Fötus im
vierten Monat Verlangen nach Gegenständen der Sinne, und man nennt eine
solche Frau mit zwei Herzen ,mit Schwangerschaftsgelüsten behaftet*.“ Wie
schon erwähnt, müssen nach der Volksmeinung die Gelüste unbedingt be¬
friedigt werden. Grimm berichtet, daß nach den Weistümem die Schwangeren
ihre Gelüste nach Obst, Wildbret, Gemüse usw. nach Belieben befriedigen
durften, ohne strafbar zu werden, wenn sie diese Dinge stahlen. Im Schwarz¬
wald z. B. darf eine Schwangere ohne weiteres Früchte, nach denen es sie
gelüstet, aus einem fremden Garten nehmen, unter der Bedingung, daß sie sie
sofort verzehrt. Die altindischen Ärzte, ebenso wie die jüdischen Ärzte des
Talmud, forderten, daß die Gelüste unter allen Umständen befriedigt werden
müßten; die Juden durften sogar deshalb nötigenfalls den Versöhnungstag ent¬
weihen und die Speisegesetze unberücksichtigt lassen. Alle diese Zeugnisse
sprechen also eindeutig für die von Steiner (Heidelberg) vertretene
Ansicht, daß die Gelüste zwangsmäßig auftreten; dieser Zwang wurde auch
von jeher von dritter Seite respektiert. Es sieht nun hier so aus, als ob es
die Aufgabe des Zwanges wäre, die Ausführung von Handlungen zu sichern,
die sonst infolge mangelnder „vernünftiger“ Begründung oder sogar wegen
ihrer scheinbaren Sinnlosigkeit, ja Schädlichkeit, unterbleiben würden. Ich
möchte glauben, daß in Wirklichkeit den Gelüsten ein tiefer Sinn zugrunde
liegt, daß das Wissen darum aber in einer seelischen Schicht zu suchen ist,
zu der wir nicht ohne weiteres Zugang haben. Der Weg, der zum Ver¬
ständnis der scheinbar sinnlosen Begierden und Abneigungen führt, geht
meiner Meinung nach über die Betrachtung der primitiven und infantilen
Zeugungstheorien.
Bei der psychoanalytischen Erforschung des Unbewußten und des Kinder¬
seelenlebens konnte Freud feststellen, daß die meisten Kinder zu einer Zeit,
wo ihnen eine verständnisvolle Kenntnis der Sexualvorgänge noch fehlt, eine
Reihe typischer, immer wiederkehrender „Sexualtheo^’ien“ bilden. Wie
ü. Rank in den „Völkerpsychologischen Parallelen zu den infantilen Sexual¬
int, Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i
8
114
Susanne Hupfer
theorien ausführt, sind uns nun ganz ähnliche „Irrtümer“ auch aus der
Kindheit der Völker überliefert und kommen immer wieder beim Erwachsenen
dort zum Vorschein, „wo sich die im Unbewußten fortlebende primitive
Anschauungs- und Arbeitsweise der menschlichen Psyche erhalten hat“.
S. Krauß schreibt in seiner Arbeit „Folkloristisches von der Mutterschaft“
daß die Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Sexualverkehr und Emp¬
fängnis den Menschen erst relativ spät zum Bewußtsein kam und daß sich
die ältesten Vorstellungen der Menschheit in die Mythologie retteten. Nun
wissen wir, daß die häufigste Sexualtheorie der Primitiven wie der Kinder
diejenigen von der Befruchtung durch das Essen oder Trinken ist. Sie ist
besonders für das Märchen charakteristisch und wurde bereits 1908 von
Riklin im Sinne der Freudschen Verlegung von unten nach oben an
einigen Beispielen belegt. Der infantile Verlegungsprozeß, den man auch am
neurotischen Erwachsenen studieren kann, ist aber für den Primitiven unum¬
stößliche Wahrheit. So ist nach dem Glauben der Primitiven (zitiert nach
Krauß) eine Befruchtung möglich durch Genuß eines Apfels, einer Mango¬
frucht, eines Kürbiskernes, einer Traube, einer Bohne, durch Verschlucken
eines Fisches, durch den Kuß, durch Blut, Speichel, Schweiß, durch den
Regen, durch Lehm, Unrat usw.
Ich möchte nun unter Heranziehung der völkerkundlichen imd völker¬
psychologischen Daten die Bedeutung der mir von den Schwangeren ange¬
gebenen Gelüste und Ekelgefühle untersuchen. An erster Stelle stehen da
zahlenmäßig die Gelüste nach Obst, vor allem nach Äpfeln, Bananen und
Orangen. Dazu möchte ich folgende Geschichte berichten: „In Siam, im Lande
der Laos, lebte ein Aussätziger, der Liebesäpfel anpflanzte. An einem der
Bäume pflegte er täglich zu urinieren und die Samenteilchen imprägnierten
die Wurzel, so daß der Baum besonders große Früchte trug, weil in ihnen
das Prinzip des Lebens schwoll. Von diesen Äpfeln bekam die königliche
Prinzessin zu essen, wurde hiedurch schwanger und gebar nach zehn Monaten
einen Sohn (Bab). Den alten Juden waren ebenfalls die Dudaim (Liebes¬
äpfel) bekannt, die Rüben während der Weizenernte auf dem Felde fand und
seiner Mutter Lea brachte. (1. Mos. 50, 14 bis 25.) Diese streitet sich mit
der Schwester Rahel um die Frucht und in der Folge werden beide schwanger
und gebären jede einen Sohn. Um der jungen Frau einen reichen Kinder¬
segen zu sichern, befolgt man in Syrien folgende Gebräuche: Wenn die Braut
das Haus ihres Mannes betritt, befestigt sie über dem Eingang ein Stück
Sauerteig und zertritt auf der Schwelle einen Granatapfel (wobei die Samen¬
körner, nach O. Rank ein Spermasymbol, frei werden). Bei den lateinischen
Christen in Sidon muß die Braut ebenfalls über der Tür ihres neuen Heims
eine Handvoll Teig mit einem Granatapfel dem einst der lebenspendenden
Astarte heiligen Symbol der Fruchtbarkeit — anbringen. Nach den Solonischen
Gesetzen mußte die Braut mit ihrem Bräutigam einen Apfel verzehren. Die
Vermählung des Paris mit der Liebesgöttin Aphrodite wurde durch das be¬
kannte Apfelurteil eingeleitet. In einem kyprischen Märchen wird ein Mädchen
durch den Genuß eines Apfels schwanger, der auf einem aus dem Grabe
i^es Vaters sprossenden Baume wächst. In einem bosnischen Märchen erhält
ein kinderloser Mann von einem Pilger einen Apfel mit dem Rate, die Schale
seiner Hündin und seiner Stute zu geben, den Apfel aber mit seiner Frau
Uber Sdiwangersdiaftsgelüste
115
zu teilen. Die Teilung eines Apfels zwischen Braut und Bräutigam hat sich
als ßefruchtungssymbol auch in einem slawischen Hochzeitsbrauch erhalten.
Erinnert sei bei dieser Gelegenheit auch an den „Sündenfall“, das gemein¬
same Verzehren des Apfels durch Adam und Eva. In dem italienischen
Märchen von Mela und Bruccia ißt eine Königin einen Apfel, ihre Kammer¬
frau verzehrt die Schale. Nach neun Monaten bringen beide Knaben zur
'W'elt, die treue Freunde werden. Auch in der nordischen Völsungasaga
findet sich das Motiv des befruchtenden Apfels: Die lange Zeit kinderlose
Frau Rerirs wird schwanger durch den Genuß eines von Odin gesandten
Apfels. Ich glaube, diese kleine Auswahl von Beispielen aus Mythologie und
Völkerkunde reichthin zum Verständnis der Gelüste nach Äpfeln, überhaupt
nach Obst.
Ich will nun das vielumstrittene Herings- oder Fischgelüst betrachten. In
meiner Zusammenfassung habe ich unterschieden zwischen dem echten, zwfmgs-
mäßigen „Gelüst“ nach Hering und anderen Fischen, die nicht sauer zu sein
brauchen, und dem „Appetit“ auf saure Sachen, wie Gurke, Hering, Essig,
saurem Salat usw. Von den drei Frauen, die über diesen „Appetit“ berichteten,
gaben zwei spontan einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Brechen an,
meist sei der Appetit im Anschluß an den Brechakt rege geworden. Diese
Fälle lassen sich vielleicht erklären mit der Annahme E. Kehrers von einem
Säurebedürfnis des Körpers infolge der durch das starke Erbrechen bedingten
Herabsetzung der Azidität. Als echtes Gelüst möchte ich einen so erklärbaren
Appetit aber nicht bezeichnen. Die wirklichen Gelüste nach Hering (der nicht
sauer zu sein braucht) und anderen Fischen werden als Befruchtungsphantasien
unschwer erkannt aus folgendem ukrainischen Volksmittel gegen Unfruchtbar¬
keit; Man verschluckt (außer verschiedenen Tees usw.) kleine Fische, um
schwanger zu werden. Der Fisch ist, wie Rank betont, ein bekanntes
Fruchtbarkeits- und Phallussymbol. Das Gelüst nach warmen Würstchen, das
im Fall 11 berichtet wurde, entbehrt einer speziellen völkerkundlichen
Parallele, scheint aber doch recht deutlich erkennbaren Symbolcharakter zu
haben. Es sei hier ein von Wlislocki beschriebener Schlangenzauber der
Zigeunerinnen der Donauländer erwähnt; Wenn es einem unfruchtbaren Weib
gelingt, eine in der Oster- oder Pfingstwoche gefangene Schlange zu berühren,
so darf es auf eine Schwangerschaft hoffen.
Eine Frau (FaU 24) gab auf meine Frage nach Gelüsten zur Antwort, daß
sie „anfallsweise“ starken Durst habe, der ihr, da sie nie scharfe, durst¬
erregende Speisen esse, ganz unerklärlich sei. Man könnte hier vermuten,
daß der Wasserhaushalt der Schwangeren etwa durch Vermittlung der Hypo¬
physe gestört sei. Der sehr ausgeprägte Gelüstcharakter scheint mir aber eher
auf eine andere Erklärungsmöglichkeit hinzuweisen. Ich greife nochmals auf
Fall 11 (Gelüst nach warmen Würstchen) zurück. Das Charakteristische bei
den häufigen Würstchenmahlzeiten war die Hast, die „unheimliche Lust des
Verzehrens“, in der ein gewisser Sadismus zum Ausdruck kam. Die Frau gab
an, sie habe von den Würstchen überhaupt nichts geschmeckt, sondern sie
fast ganz verschlungen, eins nach dem andern, mit dem Gefühl, etwas Ver¬
botenes zu tun. Sie schämte sich hinterher ihres „Exzesses“ und wechselte
oft den Metzger, weil sie fürchtete, den Spott der Leute zu erregen. Ähnlich
waren die Empfindungen der Schwangeren in Fall 24, wenn sie ihrem Durst
8 *
116
Susanne Hupfer
frönte. Nun ist Wasser ein längst bekanntes Symbol der Befruchtung. Das
Trinken eines bestimmten Wassers gilt z. B. im Orient als fruchtbringendes
Mittel; so trinken die Levantinerinnen Jordanwasser, um die Unfruchtbarkeit
zu beheben. Bereits P 1 i n i u s erwähnt, daß die Ägypterinnen dem Nilwasser
befruchtende Kraft zuschreiben. Derselbe Brauch findet sich etwas modifiziert
bei den ungarischen Zigeunerinnen; Die unfruchtbare Frau trinkt Wasser, in
das ihr Mann hineingespuckt hat. Hier scheint dem Speichel auch eine be¬
deutsame Rolle zuzufallen. In der germanischen Mythologie findet man hierzu
eine interessante Parallele; Als die Äsen und Vanen miteinander Frieden
schlossen, spuckten sie gemeinsam in ein Gefäß und aus diesem Speichel
schufen sie den weisen Kvasir. Es ist nicht schwer zu erraten, was Speichel
bedeutet. Es ist ferner bekannt, daß junge Mädchen sich oft vor dem Kuß
fürchten, in der Annahme, man könne dadurch Kinder bekommen (vergl.
Fall 12). Auf die Gleichsetzung von Mund und Genitale weist Reit zen¬
stein hin (zitiert bei Rank).
Eine Frau berichtete mir auf die Frage nach infantilen Sexualtheorien,
daß sie als Kind geglaubt habe, man könne durch Einnehmen von Pulver
schwanger werden. Diese Theorie hat im Volksgebrauch ebenfalls manches
Gegenstück. Nach Krebel nehmen in manchen Gegenden Rußlands die
Bäuerinnen Salpeter ein gegen Unfruchtbarkeit. Es lassen sich aus der Ethno¬
graphie noch eine Reihe von Beispielen dafür anführen, daß gerade gepulverte
Stoffe gegessen werden müssen, daß es also auf eine große Zahl feinkorpus-
kulärer Elemente ankommt. Es hat fast den Anschein, als ob das Unbewußte
(_ Primitive) eine Ahnung davon hätte, daß im Ejakulat Myriaden
kleinster Lebewesen enthalten sind. Noch deutlicher kommt dieser Gedanke
zum Ausdruck in dem Ungeziefertraum (Fall 9). Läuse und Wanzen sind in
der Psychoanalyse altbekannte Spermasymbole. Richard Schmidt berichtet
über eine in diesem Zusammenhang recht interessante Gewohnheit der Tamil¬
frauen in Südindien und auf Ceylon, Erde von Termitenhaufen, in denen
Schlangen hausen (also sowohl Sperma- als auch Phallussymbole!), innerlich
als sicheres Befruchtungsmittel einzunehmen. Nach S e i t z sind Bäder in Flu߬
wasser, in dem Ameisen gesotten worden sind, ein wirksames Mittel zur Er¬
langung von Nachkommenschaft. Die Weiber in Kamtschatka, die gern Kinder
gebären wollen, essen Spinnen. Bei den wandernden Zigeunern Siebenbürgens
sammelt die Jungverheiratete die Fäden der Herbstspinne — den sogenannten
Altweibersommer — und verzehrt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, um
sich so ihrer Fruchtbarkeit zu versichern. In diese Gruppe gehört auch der
in Bosnien heimische Wurmzauber; Das imfruchtbare Weib muß am ersten
Sonntag nach dem Neumond aus einer Frucht der wilden Heckenrose drei
Würmer heraussuchen und essen. Wir sehen also, daß sowohl Wasser als
auch feinkörnige Stoffe und Ungeziefer befruchtend wirken, also als Sperma¬
symbole auftreten können. Das Wasser erscheint wegen seines Aggregat¬
zustandes dazu geeignet, das feinverteilte Pulver und das kleine Ungeziefer
weisen sozusagen auf die mikroskopische Beschaffenheit der befruchtenden
Flüssigkeit hin. Die im Flußwasser gesottenen Ameisen stellen die Synthese
dar. Auch die verschiedenen Tees — die „Pocula sterilium“ — gehören
hierher. So waren im 17. Jahrhundert Tränke aus .„Würznägelein** sehr
beliebt. In der Steiermark wird noch heute Spargelsamen mit Wein gegen
^ über Sdiwangersdiaftsgelüste 117
Unfruchtbarkeit verwendet. Die Slowakin trinkt Tee von Raute und Rosmarin.
Eine von mir untersuchte Schwangere (Fall 5) berichtete über ein Gelüst
nach stark gewürztem Tee.
Ich komme nun zu den Ekelgefühlen und pflichte der Auffassung
Steiners (Heidelberg) bei, daß es so aussieht, als ob „die Gelüste und
Ekelgefühle die polaren Enden einer und derselben psychischen Erscheinungs¬
reihe wären“. Auch ich bin der Ansicht, daß die von Steiner bei den Ekel¬
gefühlen fast immer gefundene „assoziative Verknüpfung“ sekundärer, also
nicht ursächlicher Art ist. Während aber Steiner eine somatobiologische
Genese annimmt, glaube ich an eine psychische Determinierung und hoffe,
in dieser Arbeit meine Meinung hinreichend begründet zu haben. Wie schon
erwähnt, fand ich Widerwillen gegen Eier, gegen Fisch und gegen Fleisch.
Die Beziehungen zwischen Fisch und Schwangerschaft habe ich schon be¬
sprochen bei den Gelüsten auf Fische, für den Widerwillen gilt dasselbe, nur
von seiten der Frau mit negativem Vorzeichen, mit Ablehnung, zu denken.
Nachholend möchte ich zum Fleischgelüst und zum Fleischekel auf die in
Westaustralien herrschende Meinung hinweisen, daß der Genuß von Känguruh¬
fleisch die Fruchtbarkeit der Frauen wesentlich steigere (Jung, zitiert bei
Floß u. Bartels). Es bleibt noch der Widerwille gegen Eier zu unter¬
suchen. Ich fühlte mich im ersten Augenblick versucht, an eine anaphylak¬
tische Erscheinung zu glauben. Es erschien mir immerhin denkbar, daß der
weibliche Organismus durch die Beherbergung körperfremden Eiweißes in der
Abbaufähigkeit artfremden Materials behindert sei, daß also der Ekel vor
Eiern eine Art Schutzmaßregel auf rein somatischer Grundlage sei. Aber
schon die nähere Befragung der Schwangeren sprach gegen diese Auffassung.
Es ergab sich, daß Eier in der Suppe vertragen und ganz gern genommen
wurden und daß sich der Ekel nur gegen das ganze, noch mit der Schale
versehene Ei richtete. Für diese Tatsache fand ich keine somatische Er¬
klärungsmöglichkeit, wohl aber ist bekannt, daß in den Osterbräuchen das
Ei die Fruchtbarkeit, das erwachende Leben versinnbildlicht. Ich könnte
aus Volksbrauch und Mythus eine große Anzhal von Beispielen für Eier¬
zauber bringen. Ich greife aus der Fülle der Angaben nur eine heraus: Bei
gewissen Zigeunern ist ein Fruchtbarkeitszauber gebräuchlich, der darin
besteht, daß der Gatte ein Ei nimmt, das er an beideii Enden geöffnet hat
und seiner Frau den Inhalt in den Mund bläst ein einwandfreier oraler
Befruchtungsakt.
Die Kenntnis des hier mitgeteilten Materials führte mich dazu, den Wider¬
willen gegen Eier, Fisch, Fleisch als Ausdruck einer Ablehnung der Schwanger¬
schaft aufzufassen. Diese Ablehnung kann bewußt sein (wio z. B. in den
Fällen 18 bis 22 zum Teil), aber sie muß es nicht, und ich möchte mich
durch meine Befunde keineswegs dazu verführen lassen, die eingestandene
Abneigung gegen den Vater des Kindes oder das Kind selbst oder gegen beide
als ätiologischen Faktor zu werten. Es gibt Fälle, in denen die Schwanger¬
schaft durchaus nicht gern ertragen wird, ohne daß Ekelgefühle auftreten, und
das Umgekehrte wird wohl ebensooft der Fall sein. Ebenso verhält es sich
meiner Ansicht nach mit den Gelüsten. Ich fasse sie — um den Schluß aus
meinen Darlegungen zu ziehen — analog dem Befruchtungszauber der Primi¬
tiven und den halb ernst genommenen und halb belächelten Volksbräuchen
Il8
Susanne Hupfer
auf als unbewußten Ausdruck einer Bejahung der Mutterschaft, als überaus
starke und eindrucksvolle Manifestation des Fortpflanzungswillens durch immer
wiederholte symbolische Vollziehung der Befruchtnng auf oralem Wege. Wie
kommen aber die schwangeren Frauen, die doch alle sehr gut wissen, wie
die Befmchtung erfolgt, dazu, ihrem unbewußten Verlangen in diesem
„Dialekt der Primitiven und der Kinder Ausdruck zu geben, zumal sie sich
in den meisten Fällen gar nicht mehr daran erinnern können, daß sie ihn
jemals gesprochen haben, oder, um ohne Bild zu reden: mit welchem Rechte
nehme ich an, daß den Gelüsten und Ekelgefühlen der Schwangeren die
infantile Anschauung von der oralen Empfängnis zugrunde liegt? In dieser
Arbeit, in der ich nur einen allgemeinen Orientierungspunkt zu finden bestrebt
war, stand mir als einzige Methode der Analogieschluß zu Gebote. Ich habe
mich bemüht, eine breite Basis zu schaffen, ehe ich mir erlaubte, das Fazit
zu ziehen. Daß infantile Sexualtheorien trotz des besseren Wissens in der
Schwangeren lebendig sind, beweist wohl der Traum im Falle 56: Das
Mädchen erlebt an sich die Geburt genau so, wie sie es sich als Kind ge¬
dacht hatte, obwohl sie als Hausschwangere der Universitätsklinik natürlich
über den wahren Hergang vollkommen unterrichtet ist. Wir sehen also, daß
der typische Kinder-„Irrtum“ bei den Erwachsenen wieder zum Vorschein
kommen kann, und schließen daraus, um nochmals O. Rank zu zitieren,
daß die „im Unbewußten fortlebende Anschauungs- und Arbeitsweise der
menschlichen Psyche" sich hier erhalten hat, wobei wohl der psychoanaly¬
tische Begriff der Verdrängung eine wichtige Rolle spielen dürfte. Warum
nun diese Frau Gelüste oder Abneigungen hat und jene nicht, warum diese
Frau nach Äpfeln und jene nach Fischen Verlangen trägt, warum diese
Wurst und jene Eier verabscheut, warum eine sich trotz guter äußerer Ver-
h^tnisse gegen die Schwangerschaft wehrt, jene trotz drohender Sorgen das
Kind ersehnt, warum die eine das Kind bewußt ablehnt und doch Gelüste
hat, warum eine andere sich ihrer ehrlichen Meinung nach auf das Kind
freut und doch schwerstes Erbrechen und starke Ekelgefühle hat, all das sind
Fragen, die wohl durch eine Analyse des betreffenden Falles geklärt werden
würden. Nicht oder wenig gesprochen wurde von dem Gelüst nach Kuchen.
Ich möchte hiebei hinweisen auf die erwähnten Beispiele, wo die Braut
Sauerteig über die Schwelle klebt. Kuchen und Gebäck bedeuten in Träumen
oft Kinder. In Analysen würde sich wohl auch die alte Gleichung Kind =
Penis = Kotsäule finden lassen. Bei dem Gelüst nach Schokolade könnte ich
andeuten, daß, wie oben zitiert, gewisse Primitive an Befruchtung durch
Lehm und Unrat glauben. All diese Dinge würden wahrscheinlich vom Psycho¬
analytiker verifiziert werden, sind es vielleicht bereits. Selbstverständlich
dürfte es sich dabei immer nur um „Zufallsbefunde“ im Rahmen einer aus
anderen Gründen vorgenommenen Analyse handeln, denn ein Schwangerschafts¬
gelüst oder ein Ekelgefühl allein wird im allgemeinen nicht Anlaß zu analy¬
tisch-therapeutischem Handeln bieten.
Ich bediente mich hier zur Lösung meiner Aufgabe lediglich des Analogie¬
schlusses, das bedeutet also, daß ich die von Freud gemachte Erfahrung
umkehrte, daß zwischen unserem Unbewußten einerseits und den Zauber¬
bräuchen der Primitiven sowie rezenten abergläubischen Volkssitten anderer¬
seits ein Parallelismus besteht.
Literatur
b H.: Geschlechtsleben und Mißgeburt in der asiatischen Mythologie. (Zeit-
^ ^ ’ Schrift für Ethnologie, Berlin 1906.)
X H • Psvcholoffie des Weibes in den Funktionen der Fortpflanxung.
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^Zeitschrift für Psychoanalyse, 1925.)
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Ges. Sehr., Bd. 5.)
HovorkaundKronfeld: Vergleichende Volksmedizin, 1909.
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Pathologie des Weibes [Halban-Seitz], 1925.)
K Oger er, H.: Generationsvorgänge und Neurosen. (Im Handbuch der Biologie
und Pathologie des Weibes.)
Krauß, Fr. S.: Folkloristisches von der Mutterschaft. (In Schreiber, Mutterschaft
Mogk^^ Germanische Mythologie. (Sammlung Göschen, zitiert bei Rank.)
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Novak, J.: Die Beziehungen des weiblichen Genitales zum Verdauungstrakt. (Im
Handbuch der Biologie und Pathologie des Weibes.)
Floß u. Bartels: Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Anthropologische
Studien, 1908. , . n n ixi. •
Rank, O.: Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien. 1919*
Reik,’Th.: Die Couvade. (In „Probleme der Religionspsychologie“.)
Schmidt, Rieh.: Liebe und Ehe im alten und modernen Indien. 1904.
Steiner, G.: Psychische Untersuchungen an Schwangeren. (Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten, 1922.)
V. Wlislocki, H.: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. 1891, (Zitiert
bei Ploß u. Bartels.)
Eine Übergamgsphase in der Genese der Phantasie:
Ein Kind wird gesdilagen
Von
William V. Silverberg
New York
In dem Beitrag „Ein Kind wird geschlagen“ beschreibt Freud drei
Phasen in der Genese dieser Phantasie: In der ersten und frühesten Phase
lautet die Phantasie: ein Kind wird vom Vater geschlagen; in der zweiten
Phase: ich werde vom Vater geschlagen; in der dritten einfach: ein Kind
wird geschlagen. Den ökonomischen Wert der ersten Phase sieht Freud
darin, daß das Kind in dieser Phantasie sich vor allen anderen Geschwistern
geliebt fühlt, da doch der Vater durch das Schlagen der Geschwister beweist,
daß er sie nicht liebt. Die F r e u d sehe Abhandlung untersucht die Phantasie,
wie sie beim Mädchen vorkommt; es wird aber von Freud angenommen,
daß bei dem Knaben die Mutter den Vater ersetze. Die zweite Phase ent-
120
William V. Sllverberg
steht durch das Motiv des Schuldgefühls wegen der Inzestwünsche und he
deutet gleichzeitig eine Bestrafung und eine Befriedigung derselben.
Die folgende Phantasie meines dreieinhalb}ährigen Sohnes John bietet
interessantes Material, das mit dem in „Ein Kind wird geschlagen“ hervor
gebrachten Problem sehr eng verknüpft ist. Meine Frau und ich saßen am
Tisch und John spielte im Zimmer herum. Wir wurden durch eine plötzliche
Heftigkeit seines Spielens auf ihn aufmerksam. Er führte einen dramatischen
Dialog auf, indem er abwechselnd mit verschiedener Stimme rief: „Ich habe
deinen BaUon nicht gern“ (sehr trotzig) und „Ich habe deinen Ballon sehr
gern (ziemlich mild).
Es folgte ein aufgeregtes Herumlaufen von einem Stuhle zum anderen
wobei er schrie: „Wo bist du. Kleiner?“' „Hier bist du. Kleiner!“ Er
schlug mit heftiger Begeisterung die Stühle, wo der „Kleine“ sein sollte.
Nachdem er ungefähr zehn Minuten in solcher Weise gespielt hatte, hob er
ein Tablettchen auf, das auf dem Nebentisch lag, trug es mit beiden Händen
dabei^scharf daraufblickend, und sagte: „Da bist du. Kleiner; jetzt hab’ ich
dich! So trug er den Kleinen bis zum Büfett. Auf der Vorderseite des Büfetts
befindet sich ein Medaillon, das einen Blumenkorb darstellen soll. Dem Jungen
aber stellte es das Maul eines Schweines dar. „Nun,“ sagte er, „werde ich
dich ins SchweinsmauP hineinstecken,“ und tat es auch. „Jetzt ist der Kleine
im Schweinsmaul und das Schwein hat es gern.“
Nach diesen Handlungen, deren besondere Heftigkeit ganz augenfällig war
war das Kind ermattet und lag auf dem Sofa, um sich auszuruhen. Wir
warteten einige Minuten, um zu sehen, ob Weiteres zum Vorschein kommen
wurde. Ganz offenbar war das Spiel zu Ende. Während des Spieles hatte John
ms gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es schien ihm nicht bewußt zu sein
daß wir im Zimmer waren. Als ich sah, daß seine Produktivität ein Ende
gefmden hatte, fragte ich: „Weshalb hast du den Kleinen geschlagen?“ —
„Weil er unartig war.“ — „Was machte er?“
Auf diese Weise befragt, fing er an, die Geschichte seiner Phantasie zu
erzählen. Nach Tisch schrieb ich sie sofort mit seinen eigenen Worten, wie
ich sie ins Gedächtnis zurückrufen konnte, nieder. Nachdem er die Geschichte
gedi^tet hatte, begann er mit dem größten Vergnügen, diese teilweise oder
zur Gänze zu wiederholen. Die Geschichte lautet:
„Es war ein kleiner Junge, der machte Pipi auf den Fußboden. Er war
unartig. Und er hatte meinen Ballon nicht gern, und ich hatte seinen Ballon
^hr gern. Darum sagte ich: ,Wo bist du. Kleiner?' und dann schlug ich ihn.
Dann stellte ich ihn auf einen Teller (später hieß es ,in einen Topf“) und
steckte ihn ins Schweinsmaul hinein, und das Schwein verschlang ihn. Und
das Schwein hatte es gern. Der kleine Junge hatte braunes Haar. Ich sah
keine anderen kleinen Jungen, die unartig waren; nur einen.“
Aus^dem Umstande des brqjinen Haares wurde die Identität des „kleinen
Jungen ganz durchsichtig. Sein ungefähr um zwei Jahre älterer Bruder hat
braunes Haar. Dies wird nicht selten in dem Familienkreis bemerkt md be¬
ll Auf englisch: „Little boy.'‘
2) Auf englisch: ^Pig^s mouth,^^
>
121
""Eine Obergangsphase in der Genese der Phantasie: Ein Kind wird geschlagen
rochen, da die Haarfarbe der beiden Kinder sehr auffallend verschieden
i^ Johns Haare sind hellblond. Er hat keine anderen Geschwister. Vielleicht
hat er deswegen so deutlich gesagt: „nur einen
Der Bruderhaß und der Wunsch, den Bruder wegzuschaffen, sind also die
Ursachen dieser Phantasie. Zwischen den beiden ist immer eine scharfe
Rivalität vorhanden.^ — Früher zeigte John eine bestimmt negative und ab¬
lehnende Einstellung mir gegenüber. In den letzten Monaten aber ist er mir
viel freundlicher gesinnt, manchmal sogar sehr liebevoll. Also muß der Bruder
jetzt die Wucht seiner Haßgefühle allein aushalten.
Aber wie können 'wir diese Schlagephantasie, die Vorstellung, den kränkenden
Bruder zu schlagen, in die drei Freud sehen Phasen einfügen? Die Ursache
ist offenbar genau so Geschwisterhaß, wie es Freud für die erste Phase
beschrieben hat. — Einen auffallenden Zug der hier geschilderten Phantasie
bilden gewisse Idealforderungen: l) Man soll nicht auf den Fußboden
urinieren; 2 ) Man soll gerecht sein („wenn ich seinen Ballon be'wundere,
soll er auch meinen gern haben“). Ganz deutlich zeigt John schon den Kern
der Über-Ich-Bildung und rationalisiert sein Vorgehen gegen den Bruder mit
der Phantasie, dieser sei schlimm gewesen, habe die Idealforderungen verletzt.
Woher stammen aber diese Vorschriften? Offenbar von den Eltern. Es ist
also logisch, daß er bei der Bestrafung des Bruders die Eltern ersetzt. Er
schlägt als Vater oder Mutter den Bruder. Das Bild ist also der ersten
Freud sehen Phase ganz ähnlich, in der der Vater das Kind schlägt; nur
stellt John selbst den schlagenden Vater (oder Mutter) dar. — Die zweite
Freud sehe Phase wird vom Schuldgefühl bedingt. — Der Ödipuskomplex
Johns ist zweifellos genügend verdrängt, um in der einfachen Weise der
ersten Freud sehen Phase nicht mehr ausgedrückt werden zu können. Er
muß das Geschlagenwerden des Bruders rationalisieren und tut dies mit
seinem angeblichen unartigen Benehmen. Er verwendet dabei seine eigene
Schuld (er selbst hat auf den Boden uriniert), um sie auf den Bruder zu
projizieren, und leugnet sie, indem er sie ja bestraft: Siehe, ich tue so etwas
nicht, ich schlage den, der es tut. Insofern er selbst die Untat begangen hat,
derentwegen geschlagen wird, ist diese Einstellung nicht weit von der zweiten
Freud sehen Phase, in der der Phantasierende selber von den Eltern ge¬
schlagen wird, entfernt.
Die Phantasie Johns berechtigt uns also anzunehmen, daß zwischen der
ersten und der zweiten Phase der Schlagephantasie eine Zwischenstufe, eine Über¬
gangsphase vorhanden sein kann, in der der Phantasierende selber den Bruder
(oder die Schwester) schlägt, aber mit der Begründung, daß der Bruder das
Schlagen, also die Bestrafung, ja verdient hat. Dieses Urteil der verdienten
Strafe stammt von dem eigenen Schuldgefühl, das aber noch nicht, wie in
der Freud sehen zweiten und dritten Phase, gegen sich selber, sondern
gegen den Bruder gerichtet ist.
Es lohnt sich vielleicht, zum Schluß darauf aufmerksam zu machen, daß
i) Der Inhalt der Phantasie selbst unterstreicht diese Rivalität sehr deutlich. Der
Ballon ist ein bekanntes Penissymbol. Er bewundert also den Penis des größeren
Bruders, dieser aber nicht den seinen. Diese Kränkung kommt einer Kastrations¬
drohung gleich, auf die er mit dem weiteren Spiel reagiert.
122 William Vi Silverberg: Zur Phantasie: Ein Kind wird geschlagen
die Phantasie reichlich überdeterminiert ist. Das Schwein vertritt die Mutter
die die Erfüllung der Inzestwünsche verhindert. Deshalb nennt er sie
„Schwein Den kleinen Jungen ins Maul des Schweines zu stecken, bedeutet
den Koitus. „Das Schwein hat’s gern,“ sagte er am Ende des Spieles. Durch
eine Identifizierung mit dem „Kleinen“ erfüllt er so symbolisch seinen Inzest-
wimsch und schiebt die Verantwortung auf die Mutter ab. Dies scheint das
Ziel des ganzen Spieles zu sein, da er darnach ermattet auf dem Sofa lag.
Durch das Spiel des Schlagens, des Bestrafens, hat er die Anforderungen des
Über-Ichs erfüllt, damit dieses sich zufrieden gibt — der Bestechlichkeit des
Über-Ichs im Al ex an d er sehen Sinne entsprechend — und dann den
Inzestwünschen freie Bahn läßt.
i
I
I
I
DISKUSSIONEN
I
Kritisdies über Mack Brunswicks „Nachtrag zu Freuds
,Geschichte einer infantilen Neurose*”
Von
J. Harnik
Berlin
Die Arbeit, zu der ich hier einige Randbemerkungen machen will/ ge¬
hört zweifellos zu den inhaltsreichsten und zugleich bemerkenswertesten unter
all den Publikationen, die von Schülern Freuds in den letzten Jahren ver¬
öffentlicht worden sind. Nicht nur, daß das Objekt der Untersuchung des
lebhaftesten Interesses aller Analytiker sicher sein kann, sondern es ist auch das
zutage Geförderte von größter praktischer Wichtigkeit und zugleich theoretisch
sehr aufschlußreich, zumindest überaus anregend. Eine durchwegs lebendige,
stellenweise plastische Darstellung erleichtert ungemein die Einfühlung in die
Vorgänge der Analyse, die Formulierung der theoretischen Ansichten und
Folgerungen der Verfasserin läßt an Präzision so gut wie nichts zu wünschen
übrig. Wenn nun von mir einige ihrer Resultate kritisch glossiert werden
sollen, so kann damit selbstverständlich nicht eine Zerpflückung der vorzüg¬
lichen Leistung bezweckt sein, ich beabsichtige bloß, im Sinne einer positiven
Kritik besonders auf eine Lücke im Verständnis aufmerksam zu machen, deren
Ausfüllung meiner Ansicht nach auf Grund des vorgebrachten Materials mög¬
lich ist und zu einigen Ergänzungen führen muß.
Kein Psychoanalytiker wird Mack Brunswick die Anerkennung für
den therapeutischen Mut verweigern, mit dem sie an ihre heikle und
schwierige Aufgabe heranging, oder für die außerordentliche Geschicklichkeit, j
die sie bei der Erledigung derselben entwickelte. Aber mir scheint, daß ihr
eine gewisse Hellhörigheit abging, wie sie den Erfolg ihrer Bemühungen in .
der Hand hatte, als der Zustand des Patienten sich zum Besseren wendete,
und nun zu beurteilen war, durch welche Vorgänge diese Wandlung zustande
kam. Sie bekennt sich denn auch freimütig in ihren epikritischen Reflexionen }
(S. 41) zu einer Unklarheit in der Frage des Mechanismus der Heilung: J
1) Diese Zeitschrift, Bd. XV (1929).
J
^24 Diskussionen
„Ich habe keine Erklärung für die entscheidende Veränderung, die im Patienten
nach dem Traum von den Heiligenbildern (S. 26) vor sich ging. Dem trotz
dieses Eingeständnisses noch hinzugefügten, aus ihrer ganzen Auffassung des
Krankheitsfalles folgenden Erklärungsversuch der Autorin, der an und für sich
wohl sicher richtig, aber rein theoretisch ist, setze ich jedoch eine konkrete
Annahme entgegen. Ich habe den Eindruck, daß die günstige Wendung in
der Analyse der Tatsache zuzuschreiben ist, daß im Gedächtnis des Patienten
bei der Deutung eines Traumes, in dem die gewissen Wölfe vorkamen, eine
neue, bis dahin unbekannte Kindheitserinnerung hochgestiegen ist.
wDie glänzenden Augen der Wölfe erinnern den Patienten daran, daß er
einige Zeit nach dem Traum, den er mit vier Jahren hatte, es nicht er¬
tragen konnte, aufmerksam angeschaut zu werden. Er geriet in Wut und
schrie: ,Warum starrst du mich so an?‘ Ein aufmerksamer Blick brachte ihm
damals sofort den Wolfstraum in Erinnerung“ (S. 25). Also lautet der neue,
meines Erachtens sehr wichtige Fund, Die Verfasserin benützt ihn dazu, um
in treffender Weise gegen Ranks bekannten Umdeutungsversuch zu pole¬
misieren, merkt aber nicht erstens die Neuheit der Entdeckung, zweitens ihre
weittragende Bedeutung.
Ad 1. Mack Brunswick betont an zwei Stellen ihrer Arbeit (S. 5
u. S. 38), daß in ihrer Analyse keinerlei neues infantiles Material hinzukam.
Das stimmt nicht. Die zitierte Erinnerung kommt in Freuds Kranken¬
geschichte nicht vor. Außerdem habe ich mir der Sicherheit halber von
Professor Freud die entsprechende Auskunft einholen lassen: Es wird uns
versichert, daß die Erinnerung in seiner Analyse nicht aufgetaucht ist, daß
ihm der Tatbestand überhaupt unbekannt war.
V Ad 2. Wenn ich gefragt würde, warum ich diesem vielleicht nebensäch-
* liehen Moment solche hervorragende Wichtigkeit beimesse, so würde ich mich
in erster Linie auf die tägliche Erfahrung in der Praxis berufen, daß das
Hochkommen neuer, belangvoller Erinnemngen immer eine Besserung nach
sich zu ziehen pflegt. Häufig auch dann, wenn die Erinnerung an und für
sich gar nicht eigentlich verdrängt, nicht für immer verschollen war, nur
etwa lange Zeit hindurch nicht ins Bewußtsein kam. Erst recht bei den'voll¬
ständig vergessenen Kindheitseindrücken, wir wir einen offenbar vor uns
haben. Vor einiger Zeit hat sich Freud über die Rolle der in der Analyse
vorgenommenen Rekonstruktionen im selben Sinne geäußert, „Laien¬
analyse (S. 62): „...die richtige Rekonstruktion solcher vergessenen
Kindererlebnisse hat immer einen großen therapeutischen Effekt ..." Anderer¬
seits wissen wir, und der starken Betonung dieses Gesichtspunktes seitens
Mack Brunswicks kann man vorbehalüos zustimmen, — daß das
therapeutisch Wesentliche nur getan ist, wenn dem Prozeß der Bewußt-
machung das Durcharbeiten des zutage geförderten Materials folgt, d. h.,
wenn es gelingt, die rekonstruierten oder erinnerten Kindheitskonflikte ’ in aus¬
giebige Kausalbeziehungen zu den Symptomen der Neurose zu bringen. Ich
muß es nun für sehr wahrscheinlich halten, daß der Patient ein Stück dieser
Arbeit in der analytischen Situation oder im Zusammenhang damit gewisser¬
maßen noch spontan geleistet hat und dadurch zu der erwähnten ersten
Erleichterung in seinem Zustand gelangt ist. Wenn ich das Resultat dieser
Nachprüfung vorwegnehmen darf, so kann ich mit einer Einschränkung die
Diskussionen
125
Formulierung der Autorin für zufriedenstellend erklären, „daß der Patient
^ießlich den Weg zur unbewußten Grundlage seines Verfolgungswahnes
doch gefunden hatte“ (S. 26), d. h. einen Weg zu einer der Ver¬
ursachungen, um meinen Vorbehalt gleich hinzuzufügen.
Also ich halte es für wahrscheinlich, daß dem Wolfsmann nach dem Auf¬
tauchen der neuen Erinnerung selbständig die Idee — eigentlich müßte man
a£en die Lösung — gekommen ist, daß sein kindlicher Ärger über das
^geschautwerden und seine jetzige angstvolle Verzweiflung darüber, was man
an seiner Nase sehen kann, ungefähr dasselbe sind. Einen indirekten
Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme sehe ich in folgendem: Da ich
bei dem Vortrag, den Mack Brunswick über den Fall in Berlin hielt,
nicht zugegen war, wandte ich mich alsbald nach Lektüre der erschienenen
Ausarbeitung an zwei Kollegen, deren verständnisvoller Aufmerksamkeit ich
sicher sein konnte. Ich wollte wissen, ob ihnen die überraschende Neuigkeit
auch aufgefallen ist. Beide reagierten in der kurzen Aussprache so, als ob es
selbstverständlich wäre, daß sich von hier aus eine Deutung des Nasen¬
symptoms, wie sie mir vorschwebt, ergibt. Übrigens kommt das Narben¬
motiv im Material des Traumes selbst, im Zusammenhang mit den Wölfen
und ihren glänzenden Augen, vor; die Nebeneinanderstellung der beiden
Themen wird von der Verfasserin, wenn auch in etwas anderem Sinne, be¬
sonders hervorgehoben (S. 24).
Eine weitere Erörterung der hier zu vermutenden Zusammenhänge drängt
sich da gebieterisch auf. Vorher noch ist mit dem Patienten die lange Vor¬
geschichte des Interesses für seine Nase in der Analyse durchgesprochen
worden. Eine tatsächliche Nasenaffektion war schon in seinem dreizehnten
Lebensjahr die Ursache einer Vereinsamung und Depression gewesen. Daß
hiebei die zur Pubertätsonanie gehörigen typischen Schuldgefühle am Werke
gewesen sein mußten, kann ja kaum zweifelhaft sein, allgemein bekannt ist
die ängstliche Erwartung, durch das Aussehen (Gesicht, Augen) verraten zu
werden. In der Jetztzeit hatte der Patient schon vor dem ersten Auftreten
der Nasensymptome zu onanieren begonnen; vor dem zweiten, viel schwereren
Anfall aber übte er bereits die Masturbation in Gegenwart von Prostituierten
aus, die er in ihre W^ohnung begleitete, ein Tun, durch welches vielleicht
der auf ihm lastende Gewissensdruck erst die zur vollen pathogenen W^irk-
samkeit notwendige ökonomische Übersetzung erfuhr. Ich weiß es nicht, aber
ich glaube annehmen zu können, daß er von der Sache bis zur Analyse
niemandem Mitteilung machte. Die Onanie hätte sich auch bei dem W^olfs-
mann als das Geheimnis par excellence gehalten, dessen Entdeckung be¬
fürchtet wird. Hinter der hypochondrischen Angst verbargen sich auch
hier, wie so häufig, die dem Bewußtsein entzogenen Schuldgefühle, bzw. das
zu ihnen gehörige Strafbedürfnis. Die von Mack Bruns wi ck gründlichst
analysierten Kastrationsideen vermitteln von hier aus leicht den Übergang zu
den korrespondierenden tieferen Schichten.
Die Linie obigen Deutungsvorschlags noch weiter rückwärts bis zur Zeit der
von Mack Brunswick entdeckten kindlichen Reaktion beim Angeschautwerden
zurückzuverfolgen, erschiene müßig, ja vermessen, wenn wir aus Freuds
Bericht nicht wüßten, daß die pathologischen Veränderungen, deren Kulmi¬
nation der Wolfstraum bedeutet, vom Onanieabgewöhnungskampf ihren Aus-
Diskussionen
gang genommen haben.^ Hierauf soll es uns aber nicht mehr ankommen, nicht
einmal auf ein überzeugtes Festhalten an der absoluten Richtigkeit gerade
unserer Betrachtungsweise, vielmehr noch ganz allgemein die Erwägung zur Dis¬
kussion gestellt werden, daß einige wesentliche Motivierungen im Aktual¬
konflikt mindestens in der Darstellung — vernachlässigt worden sind.
Insbesondere scheint mir das betreffs der Verheimlichung des Schmuckes
die ja überhaupt den Anfang der veränderten Einstellung zu Freud anzeigt..
Ein weiteres, genauer gesagt, ein früheres Geheimnis war das, von anderer
Bedeutung natürlich, aber von demselben nicht akzeptierten Schuldgefühl, von
derselben Furcht vor Entdeckung begleitet, wie die Onanie, und infolgedessen
wohl in irgendeiner unbewußten Verknüpfung mit der Letzteren. Oder ist es
undenkbar, daß im Unbewußten des Wolfsmannes der Gedanke sich gebüdet
hat, seine veränderte Nase verriete auch dieses sein Geheimnis.^ Bei der Zwangs¬
neurose z. B. gibt es bekanntlich solche imbewußte Beziehungen zwischen sonst aus¬
einandergerissenen, bewußtseinsfähipn Elementen, die psychoanalytische Deutung
hat die sinngemäße affektive Verbindung zwischen ihnen herzustellen.
Ich befürchte selbst, daß ich mit der Hineintragung eigener Kombinationen
in die Analyse eines fremden Falles schon längst hätte haltmachen müssen.
Daher beeile ich mich, einen anderweitigen Einwand zu Worte kommen zu
lassen, mit dem man mir schon sehr bald hat entgegnen wollen. Ist nämlich
die Tatsache des Auftauchens einer neuen Kindheitserinnerung in dieser
Analyse von mir ohne Zweifel richtig bemerkt worden, so kann davon keine
Rede sein, daß nach diesem Stück der Analyse die Besserung im Zustande
des Wolfsmannes sich unmittelbar eingestellt hätte. Im Gegenteil trat der
latente Verfolgungswahn des Patienten zu diesem Zeitpunkt in seiner vollen
Ausdehnung in die Erscheinung, die Remission begann, wie erwähnt, erst
mit dem Traum von den Heiligenbildern. In der Zwischenzeit verschlimmerte
si^ sopr der Patient immer mehr: „Er schien jetzt in einem Zustand zu
sein, mit dem weder er selbst noch auch die Analyse fertig werden konnte“
(S. 26). Wir hören auch, daß Mack Brunswick über den Umschwung
nicht nur tief erleichtert, sogar erstaunt war. Die Frage ist nur, ob der
ganze Hergang nicht aus einer zum Charakter unseres Patienten gehörigen
Verhdtungsweise zu erklären ist, die wir schon aus Freuds Behandlungs¬
geschichte kennen. Ich meine natürlich seine passag^re „negative Reaktion“:
«... Nach jeder einschneidenden Lösung versuchte er für eine kurze Weile
deren Wirkung durch eine Verschlechterung des gelösten Symptoms zu
negieren. (Ges. Sehr., Bd. VIII, S. 510.) Wie man sieht; Kleine Ursachen,
große Wirkungen, wie immer in gut geleiteten Analysen.
1) Eine der glänzendsten Deutungen der Verfasserin (S. 37) stellt übrigens gleich-
f^ls eine Beziehung zwischen der Gedankenwelt dieser Kindheitsperiode und den
Wahnvorstellungen her.
2) Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, daß in meiner siebenbürgischen Heimat
den Kindern gesagt worden ist, den Lügner erkenne man daran, daß seine Nase
(Nasenspitze) weich ist, wenn man daran tippt. Ich weiß nicht, oh es so etwas in
Rußland jemals gah. Doch führen noch andere, sicherlich weit verbreitete Glaubens-
satze aus der Kinderstube das Wissen oder Erraten von etwas Verheimlichtem auf
einen Körperteil zurück, z. B. wenn die Mutter dem verwunderten Kinde gegenüber
behauptet, der kleine Finger würde ihr alles verraten.
Diskussionen
127
Daß aber Mack Brunswick diese Analyse in fester Hand hatte, zeigt
d'e sichere Intuition, die ihr ermöglichte, sofort bei beginnender Wandlung
v^eder Kontakt mit dem Patienten zu haben, da, wie der vorhin erwähnte
Traum mit seiner guten Vorbedeutung kam“. Zur Deutung dieses Traumes,
ie Analytikerin „zerstöre ja jetzt gerade seine Christus-Phemtasie mit allem,
was für ihn damit verbunden ist“ (S. 26), wäre allerdings hinzuzufügen, daß
sie die Machtposition, die ihr vom Wolfsmann eingeräumt wurde, zum Teil
wohl dem Umstande verdanken kann, daß sie etwas Neues gefunden, was in
Freuds (erster) Analyse nicht vorkam. Wir erfahren von der Autorin, daß
er auf die Publikation seiner Krankheitsgeschichte sehr stolz war. Bei dieser
naiv-narzißtischen Einstellung muß ihm, wie mir scheint, die Neuentdeckung
außerordentlich imponiert und Freuds Autorität zugunsten seiner Ärztin —
die also auch dieses „Heiligenbild“ zerstörte — erschüttert haben. Doch
setzte sie mit dieser ihrer Rolle nur das fort, was die Ehefrau des Wolfs¬
mannes schon vorher begonnen hatte, als sie denselben überredete, über den
Besitz des Schmuckes Freud nichts zu erzählen; auf die Bedeutsamkeit dieser
Verheimlichung für die Pathogeneität des Aktualkonfliktes, habe ich bereits
oben hingewiesen. Außerdem habe ich selbst aus einigen Beobachtungen an den
in den Analysen vorkommenden flüchtigen paranoiden Symptomen den Eindruck
bekommen, daß die heterosexuelle Objektbeziehung auf diese Weise immer
hineinspielt in die paranoische Symptombildung, dciß sie bei der Unterdrückung
der homosexuellen Regungen behilflich ist. Im Sinne dieser Einsicht könnte z. B.
gewertet werden, daß der Wolfsmann gerade vor dem zweiten, um so viel
heftigeren Ausbruch der Nasensymptome so häufig zu Prostituierten ging.
Mit den letzten Andeutungen bin ich aber schon über das Ziel hinaus-
gekoramen, das ich mir gesetzt habe, zu den interessanten theoretischen Pro¬
blemen, zu denen diese lehrreiche Analyse hinführt. So ein Fall, wie ihn
Mack Brunswick zu bewältigen hatte, wäre ja an und für sich ein
Prüfstein für die letzten Entscheidungen in der psychoanalytischen Theorie
der Paranoia, die sich alle um die Beantwortung der einen so einfachen Frage
drehen werden: Was ist der Unterschied zwischen der paranoischen Abwehr
der unbewußten Homosexualität und den anderen Abwehrarten, die der Er¬
ledigung derselben Aufgabe dienen? Mack Brunswick macht nur einen
kleinen Schritt in dies dunkle Gebiet, indem sie die Problematik — von
einigen Streiflichtern abgesehen — mehr deskriptiv behandelt, aber es bleibt
ihr großes Verdienst, die Fragestellung mit aller Schärfe formuliert zu haben.
Noch andere bemühen sich jetzt überall, auf diesem noch weiten Arbeitsfeld
Neues zu finden. Richtunggebend werden für diese Forschung auch weiterhin
bleiben die von Freud aufgezeigten, in der Entstehung der Paranoia wirk¬
samen Mechanismen: die Regression der Libido auf eine ihrer primitiven
Entwicklungsphasen, auf der die Beziehung zum Objekt jedenfalls nicht im
genitalen Sinne (vermutlich nicht anders, denn oral) gefaßt sein kann; die für
die Paranoia charakteristische Projektion, die wohl kaum irgendeinem
normalen Vorgang der frühen Kindheitsentwicklung nachgebildet sein wird,
sondern nach ihrer ganzen Art einen pathologischen Prozeß zum Vorbild
haben muß; und hiermit eng verknüpft, die Herkunft des auf solche Weise
projizierten Hasses aus einer ursprünglichen Ambivalenz, die die totale
Verkehrung der Liebe in Feindschaft ermöglicht.
L
128
Diskussionen
n
Entgegnung auf Hämiks kritisdie Bemerkungen
Von
Ruth Mack Brunswick
Wien
Hdrniks Annahme, daß die Angst des Wolfsmannes vor dem »Angeschaut-
werden , die nach der Beobachtung des elterlichen Koitus auftrat, in der
Analyse bei Professor Freud nicht zutage trat, besteht zu Recht. Dennoch
kann ich mich mit Härniks Einschätzung der Bedeutung dieser Erinnerung
nicht einverstanden erklären. Sowohl der Patient, dessen Beobachtungsfähigkeit
besonders gut war, als auch ich betrachteten diese Erinnerung als bloße Er
gwzung zur großen Masse des Materieds, das um die Koitusbeobachtung zen¬
triert war. Das ganze Material der Koitusbeobachtung war bereits seit langem
bewußt vorhanden und nichts Neues kam jetzt im Zusammenhang mit der
obenerwähnten Erinnerung selbst oder ihrer Deutung zum Vorschein.
Härnik faßt dieses Symptom und auch das spätere Nasensymptom als Verrat
der Onanie auf, die, wie er meint, das Geheimnis par excellence dieses
Patienten war. Doch in Wirklichkeit machte der Wolfsmann weder aus seiner
Masturbation noch aus seiner Beziehung zu Prostituierten ein besonderes Ge¬
heimnis. Erstens war er ein Masochist und daher imstande, sein Schuldgefühl
durch seine passiven Phantasien zu neutralisieren; zweitens war er außer-
ordentlich narzißtisch und es fiel ihm schwer, sich irgendeiner Tat zu
schämen, der er fähig gewesen wäre.
Unsere Deutung seiner Angst vor dem „Angeschautwerden“ lautete unge¬
fähr so: Entsprechend seinem Wesen projizierte der Wolfsmann schon in
diesem frühen Alter auf die Personen seiner Umgebung den faszinierten Blick
mit dem er selbst den Koitus seiner Eltern beobachtet hatte. Durch einen
ähnlichen Projektionsmechanismus entwickelte er dann später seine Beziehungs¬
und Verfolgungsideen. Die Angst vor diesem Blick ist eine Verschiebung der
Angst, die aus der Koitusbeobachtung stammt. Während die Erinnerung dieser
speziellen Angst der Kinderzeit neu ist, sind sowohl ihre Mechanismen wie
ihre Beziehungen und Ursprünge alt.
Es sei daran erinnert, daß der Patient ein Voyeur und Exhibitionist in
hohem Grade war. (Beweisend dafür seine Onanie in Gegenwart von Prosti¬
tuierten.) Zweifellos geht diese Eigenschaft darauf zurück, daß er die pathogene
Urszene tatsächlich gesehen hatte.
Ich möchte noch erwähnen, daß mir zwei Fälle von Hysterie mit kleinen
Beziehungsideen bekannt sind, die direkt auf der Beobachtung der Urszene
und der Projektion dieser Beobachtung in die Außenwelt beruhen.
Noch ein Wort über die Beziehung des Patienten zu Prostituierten. Es ist
nicht ganz richtig, sie in diesem Fall und in diesem Zeitpunkt als hetero¬
sexuell aufzufassen. Als seine Symptome sich verstärkten, substituierte er dem
Koitus mit Prostituierten die Onanie in ihrer Gegenwart. Wenn wir uns vor
Augen halten, daß die Onanie des Kindes eine Kopie des Verkehrs der Eltern
ist, und ferner uns die Tatsache ins Gedächtnis rufen, daß dieser Patient sich
Diskussionen
129
m-sprünglich (obwohl unbewußt) mit der Mutter, später mit der Prostituierten
'dentifizierte (oder mit der Frau auf den obszönen Bildern, die er bisweilen
statt der Prostituierten verwendete), sehen wir, daß diese Onanie genau die
Urszene reproduzierte, wobei der Patient in Gestalt der Prostituierten als
Beobachter dabei ist.
Es ist selten möglich zu beweisen, daß eine gegebene Deutung eines
Symptoms nicht richtig ist. Man kann nur sagen, daß so eine Deutung,
wenn auch theoretisch möglich, für den bestimmten Fall, wie aus der ganzen
Analyse hervorgeht, nicht paßt. Die Erinnerung in diesem Fall war zu unbe¬
deutend, auch brachte sie kein weiteres Material. Mehr noch, die zunehmende
Verschlimmerung der Krankheit des Patienten zu dieser Zeit war viel zu
ernst, um als eine passagere negative Reaktion auf die Entdeckung neuen
Materials hin aufgefaßt zu werden. Wenn man den Fall vor sich hat, ist
es nicht schwer, eine wirkliche Verschlechterung von einer momentanen
negativen Phase zu unterscheiden. Ich glaube, daß der Patient jetzt seine
Angst vor dem „Angeschautwerden“ deshalb erinnerte, weil im Moment, wo
seine Passivität so gesteigert worden war, daß sie sich einen Ausweg in
paranoische Bahnen suchen mußte, die für diese Passivität pathogene Urszene
mit all ihren mannigfachen Folgen und Auswirkungen zur Erinnerung kam.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i
9
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
Beridite der Zweigvereinigungen
7\merican Psydioanalytic Association
Die 17. Jahresversammlung der American Psychoanalytic Association wurde
am 16. Mai 19^9 Atlanta, Georgia, abgehalten. Eine Sitzung wurde ge¬
meinsam mit der American Psychiatric Association mit folgendem Programm
abgehalten:
Dr. William White, Washington: Die Sprache der Psychosen; Dr. Adolph
Stern, New York: Die Rolle der Masturbation bei den Neurosen; Dr. A. A.
Brill, New York: Schizophrenie und Psychotherapie; Dr. Nolan Lewis,
Washington: Mechanismen in Fällen von langandauemder Schizophrenie.
In der Abendsitzung wurden die folgenden Vorträge gehalten: Dr. Mary
Isham, Cincinnati: Die Rolle der Erziehung bei Verwahrlosung und psycho-
neurotischen Konversionen; Dr. Ernest Hadley, Washington: Axillare Men¬
struation bei einem Manne; Dr. C. P. Oberndorf, New York: Homo¬
sexualität und Zoophilie; Dr. Nolan Lewis, W^ashington: Bemerkungen zum
Kastrationskomplex.
Die gemeinsame Sitzung war von einer großen Anzahl Psychiater besucht,
deren Interesse auf verschiedene Gebiete der Psychiatrie gerichtet war; die
Abendsitzung war schwach besucht, weil sie mit verschiedenen Spezial¬
konferenzen über Sozialpsychiatrie, klinische Psychiatrie, Beschäftigungstherapie,
Spitalsadministration usw. kollidierte.
In der Geschäftssitzung war nur ein sehr kleiner Bruchteil der Vereins¬
mitglieder anwesend, da der Wohnsitz der meisten Mitglieder von Atlanta zu
weit entfernt ist. Anwesend waren: Dr. White, Dr. Hadley und Dr. Lewis
Korrespondenzblatt
131
aus Washington; Dr. Brill, Dr. Stern und Dr. Oberndorf aus New York;
£)r Süllivan aus Baltimore; Dr. Isham aus Cincinnati \md Dr. Emerson aus
Boston.
Für das kommende Vereins]ahr wurden die folgenden Funktionäre gewählt:
Präsident: Dr. A. A. Brill, New York. Sekretär und Kassier: Dr. C. P.
Oberndorf, New York. Vorstandsmitglieder: Dr. W. A. White, E jr. Nolan
Lewis aus Washington, Dr. H. S. Sullivan aus Baltimore. Dr. Brill be¬
auftragte die Herren Brill, Oberndorf und Stern mit der Vertretung der
Vereinigung auf dem Internationalen Kongreß in Oxford.
Dr. C. P. Oberndorf,
Sekretär
British Psydio-Analytical Society
II. und in. Quartal 1929
17. April 192g. Mr. Money-Kyrle liest ein Referat über R6heims
Arbeit: „Nach dem Tode des Urvaters.“
1. Mai 1929. Mr. J. C, Flügel verliest die Novelle von Wells „The
Beautiful Suit“ und weist die darin enthaltene phallische und andere Sym¬
bolik nach.
Dr. Wilson berichtet aus einem Fall von Zwangsdenken während der
analytischen Behandlung.
15. Mai 1929. Frau Klein verliest eine kurze Arbeit über „Die Dar¬
stellung infantiler Angstsituationen in zwei literarischen Arbeiten“.
Dr. Ernest Jones referiert über seinen im April 1929 an der Sorbonne
gehaltenen Vortrag „Bemerkungen über die Eifersucht“. Er vergleicht die
extreme psychotische Form der Eifersucht mit der „normalen“ Eifersucht
und bespricht die mögliche Verwandtschaft der psychologischen Struktur beider
Formen. Nach ausführlicher Würdigung der neurotischen Eifersucht, des
Bindegliedes zwischen beiden Extremen, kommt er zu dem Schluß, daß die
Tendenz zur Eifersucht aus dem Versuch stammt, den Ödipuskonflikt durch
die sexuelle Inversion zu lösen.
6. Juni 1929. Eine Unterkommission des Unterrichtsausschusses verliest
seine Vorschläge für:
a) Die Ausbildung und Qualifikationen des Kinderanalytikers.
b) Die analytische Unterweisung von Pädagogen.
19. Juni 1929. Dr. H. Weber: „Der Begriff der Zielgehemmtheit.“
24. Juli 1929. Außer etwa 25 ordentlichen und außerordentlichen Mit¬
gliedern waren die folgenden Gäste anwesend: Fr. Dr. Katharine Jones,
Mrs. Agar, Dr. Brierley, Dr. Brill, Col. Berkeley Hill und Frau, Mrs. Bryan,
Dr. Coriat und Frau, Major Daly, Frau Deri, Dr. Eitingon, Dr. Ferenczi
und Frau, Frl. Anna Freud, Mrs. Flügel, Mrs. Glover, Mr. Herford, Mr. Isaacs,
Frl. Dr. Jakobson, Dr. Jekels, Dr. Laforgue und Frau, Dr. Pfeifer und Frau,
Mrs. Rigall, Dr. Sachs, Dr. Schmiedeberg, Dr. Steiner und Frau, Mrs. Stoddart,
Mr. Yates.
Dr. Glover übernahm den Vorsitz und führte aus, daß es Zweck der
Sitzung sei, der Vereinigung Gelegenheit zu geben, Dr. Jones für die mühe-
9 *
1
132
Korrespondenzblatt
volle Arbeit zu danken, die er als Mitglied des Psycho-Analysis Committee
der British Medical Association für die Psychoanalyse geleistet hatte. Dr. Glover
schilderte auch Dr. Jones’ sonstige unermüdliche Arbeit für die Psychoanalyse, im
besonderen in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der British Psycho-Analytical
Society.
Nach einigen Begrüß ungs Worten für Dr. Katherine Jones übergab
Dr. Glover Dr. Jones einen Präsidentenstuhl, einen goldenen Taschenbleistift
und einen goldenen Zigarrenabschneider mit Inschriften, Dr. Katherine Jones
eine chinesische Lackkassette, mit Schokolade gefüllt, als die Geschenke der
Vereinigung.
Dr. Jones führte in seinem Dank aus, daß ihm die von der Vereinigung
gefeierte Begebenheit einen wichtigen Markstein in den Beziehungen der
Psychoanalyse zur Medizin im besonderen und zur Außenwelt überhaupt zu
bedeuten scheine. Er hatte die Arbeit schweren Herzens übernommen und
gemeint, nicht mehr erreichen zu können als eine Herabsetzung des Schadens
der der Psychoanalyse aus einer so sinnlosen „Untersuchung“ erwachsen
könnte. Zu seiner eigenen Überraschung hatte der hartnäckig geführte Kampf
ein viel positiveres Ergebnis gebracht: Zum erstenmal hatte eine .offizielle
englische medizinische Körperschaft die Psychoanalyse als einen ernst zu
nehmenden Zweig der Wissenschaft anerkannt und ihre Unabhängigkeit von
der Medizin zugegeben, damit also auch ihre eigene Inkompetenz zur Ent¬
scheidung in Fragen der Psychoanalyse. Man darf hoffen, daß dieses Ergebnis
nicht ohne Wirkung auf die Entwicklung in anderen Ländern bleiben wird.
Das Komitee anerkannte auch die Unterscheidung zwischen Analytikern und
Pseudoanalytikern sowie die Qualifikationen, die durch die Mitgliedschaft der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gegeben sind. Dr. Jones sprach
ferner Dr. Glover für seine unermüdliche und tatkräftige Unterstützung bei
dieser Arbeit seinen Dank aus.
Nach Schluß der Sitzung folgte ein zwangloses Beisammensein mit Be¬
wirtung.
Verstorben: Dr. C. R. A. Thacker. Dr. Douglas Bryan,
Sekretär
Deutsdie Psydioanalytisdie Gesellsctaft
n. und III. Quartal 1929
16. April 1929. Vortrag Dr. Josine Müller: Der Widerstand aus mora¬
lischem Masochismus und seine Überwindung. — Diskussion: Härnik, Fenichel,
H. Lampl, Reik.
25. April 1929. Frl. Dr. Vowinkel (a. G.): Analytische Beiträge zur
Psychologie der Schizophrenie. — Diskussion: Fenichel, Bally (a. G.), Boehm,
Schalit, Krafft, MüUer-Braunschweig, Härnik, Frau Naef, Radö.
7. Mai 1929. Dr. Reik: Referat über Freuds Studie „Dostojewski und
die Vatertötung“. — Diskussion: Fenichel, Josine Müller, H. Lampl, Horney,
Alexander, Müller-Braunschweig, Radö.
14. Mai 1929. Klinischer Abend. Vortrag Frau Dr. L an tos: Bericht
über einen Fall von Zwangsneurose. — Diskussion: Fenichel, Herold (a. G.),
Horney, Jos. Müller, Härnik.
Korrespondenzblatt
133
Mai 1929. Vortrag Dr. Harnik: Aktive Technik in der Einleitung
^Behandlung bei einer narzißtischen Neurose. — Diskussion: Liebermann,
S^hultz-Hencke, Eitingon, Fenichel, Müller-Braunschweig, Radö.
^ In der Geschäftssitzung wird Frl. Dr. med. Eda Vowinkel (Psychiatrische
KV ik Charite, Berlin) zum außerordentlichen Mitglied gewählt.
Juni 1929. Vortrag Dr. Bally (a. G.): Beitrag zur Behandlung schizoider
Neurosen.
Diskussion: Harnik, Sachs, Alexander, Schultz-Hencke, Jos.
Müller, Rado.
15. Juni 1929. Vortrag Dr. Stein (a. G.): Störung einer Analyse durch
den Versuch der gleichzeitigen Behandlung des Ehegatten. — Diskussion:
Boehm, Simmel, Eitingon, Harnik, Horney.
25. Juni 1929. Vortrag Dr. R akne s (a. G.): Gesichtspunkte zur Religions¬
psychologie. — Diskussion: Fenichel, Bally, Müller-Braunschweig, Zilboorg
(a. G.), Simmel, Radö, Fromm, Horney, Eitingon.
17. September 1929. Bericht über den Oxforder Kongreß. Referenten
Dr. Fenichel und Dr. Spitz (a. G.): — Diskussion: Boehm, Radö,
Alexander, Schmiedeberg, Simmel.
In der Geschäftssitzung wird Dr. med. Gustav Bally (Berlin-Wilmersdorf,
Paulsborner Straße 87) zum außerordentlichen Mitglied gewählt.
28. September 1929. Vortrag Dr. Bernfeld: Das Milieu und seine
Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik. — Diskussion: Staub,
Sachs, Schultz-Hencke, Reik, Mme. Bonaparte (a. G.), Horney, Alexander,
Lantos, Schmiedeberg, Fenichel, Hdrnik, Radö.
Die Gesellschaft veranstaltete in ihrem Institut (Berlin W. 62, Wichmann-
straße 10) im Frühjahrsquartal (April—Juni) 1929 folgende Kurse:
1) Sdndor Radö: Einführung in die Psychoanalyse. II. Teil. (Allgemeine
Neurosenlehre.) 7 Stunden. (Hörerzahl: 57.)
2) Otto Fenichel: Spezielle Neurosenlehre. I. Teil. 7 Stunden. (Hörer¬
zahl: 26.)
5) Felix Boehm: Kasuistik aus der psa. Praxis. 5 Stunden, (Hörerzahl: 15.)
4) Jenö Harnik: Handhabung der Traumdeutung in der psa. Therapie.
7 Stunden. (Hörerzahl: 18.)
5) Theodor Reik: Seminar über Anwendung der Psychoanalyse auf Literatur
und Kunst. 7 Doppelstunden. (Hörerzahl: 20.)
6) Technisches Seminar: Leiter der Gruppen: Alexander, Boehm,
Horney, Radö und Sachs.
7) Eitingon u. a.: Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen).
8) Hanns Sachs: Trieblehre. III. Teil. 4 Stunden. (Hörerzahl: 20.)
9) Sandor Radö: Referatenabende. (Kolloquium über Neuerscheinungen der
PsA. und ihrer Grenzgebiete.) 5 Doppelstunden. (15 Teilnehmer.)
1 o) Siegfried Bernfeld: Psychoanalytische Besprechung praktisch-pädagogischer
Fragen. (Hörerzahl: 20.)
11) Arbeitsgemeinschaft für psa. Kinder- und Jugendpsychologie. (20 Teil¬
nehmer.) ,
Dr. Sandor Rado,
Schriftführer
Ü
(
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1
K
1'
L
^34 Korrespondenzblatt
Magyarorszägi Pszidioanalitikai Egyesület
II. und in. Quartal 1929
12. April 1929. Dr. S. Ferenczi: Selbstanalyse einer Zwangsneurose
Religiöse Zwangsideen und Selbstbefreiung von ihnen.
26. April 1929. Dr. S. Ferenczi: Das unwillkommene Kind und sein
Todestri-b. (Erschienen in dieser Zeitschr., Bd. XV.)
lo.^ Iai 1929. Dr. M. J. Eisler: Analyse einer Zwangsbefürchtung. __
Im dißj ‘ktischen Aufbau einer zur Grübelei neigenden Zwangsidee konnte
nachgewiesen werden, daß sie die unerledigte Ödipussituation klar wider¬
spiegelt.
51. Mai 1929. Dr. M. Balint: Psychosexuelle Parallelen zum biogene¬
tischen Grundgesetz.
21. Juni 1929. Dr. S. Pfeifer: Über einen Typus der neurotischen
Abwehr.
25. Juni 1929. C. D. Da ly (a. G.): Menstruation imd Kastrationskomplex.
— Individual- und kulturpsychologische Studien, mit besonderer Betonung
der ursprünglichen Erregungswirkung der Menstruation auf die Männer.
In den Monaten Mai—Juni wurden in Veranstaltung des Lehrinstitutes
zwei Kurse abgehalten; einer für fortgeschrittenere Ausbildungskandidaten
über „Das Ich und das Es von Dr. Hermann und einer für pädagogisch
orientierte Hörer von Frau A. Balint.
Dr. Imre Hermann,
Sekretär
Nederlandsdie Vereeniging voor Psychoanalyse
I.—III. Quartal 1929
5. Januar 1939. (Oegstgeest.) Geschäftliche Sitzung. Der Vorsitzende
Dr. J. E. G. van Emden wünscht nicht wiedergewählt zu werden. In den
Vorstand werden gewählt: Dr. J. H. W. van Ophuijsen (Präsident),
Dr. A. Endtz (Sekretär) und Dr. F. P. Müller (Kassier).
Danach^eine Vorführung des psychoanalytischen Films „La Coquille et le
Clergyman , Scenario von Arteaud, Cineaste Germaine Dulac, auf den Prof.
Dr. K. H. Bo um an durch eine Aufführung für seine Schüler aufmerksam
geniacht hatte. Für diese Vorführung vor vielen geladenen Gästen stellte
Prof. Dr. G. Jelgersma seinen Hörsaal zur Verfügung. Dr. van Ophuiisen
sprach einleitende Worte. ^
2. März 1929. (Leiden.) Dr. J. H. W. van Ophuijsen: Ein Fall von
Masochismus im Dämmerzustand.
n. Mai 1929. Frau Dr. C. M. Versteeg-Solleveld (a. G.); Aus
einer Hysterieanalyse. Versuch darzustellen, wie (1) die Vergewaltigung, welche
vom Vater ersehnt wird, (3) die weibliche Genitalität, welche der Mutter
gepnüber verteidigt werden soll, (5) die Kastration, welche ihre Rolle zu
spielen anfängt, nachdem das Mädchen durch Schuldgefühle und Liebes-
enttäuschungen ihrer Weiblichkeit entflohen ist, — die drei Faktoren sind,
welche großen Einfluß auf die sexuelle Entwicklung des Mädchens ausüben.
Korrespondenzblatt ^35
T) J H. W. van Ophuijsen: Aus der Analyse einer sado-masochistischen
Phantasie. Sprecher beweist an einem Fall, daß sadistische und masochistische
Strebungen nicht als komplementär aufgefaßt werden sollen. Ziel der sadi-
tischen Strebungen war Vernichtung des Objekts, ohne die Gefühle des
Objekts in Rechnung zu ziehen; Ziel der masochistischen Strebungen war das
ßJühl der Hörigkeit von einer Vaterfigur.
22. Juni 1929. (Haag.) Dr. S. Weyl; Bemerkungen über ein psycho¬
analytisch-juridisches Gutachten. Der Vortragende bespricht die Frage der
Schändlichkeit der von einem Erzieher an seinen weiblichen Zöglingen aus-
veübten sexuellen Handlungen. „ ,
^ Dr. M. Ratan (a. G.): Ein Fall von psychogener Sprachstörung. Sprecher
gibt die Analyse eines impotenten Tic-Kranken, bei welchem die Zunge
libidobesetzt war und phallische Bedeutung bekommen hatte.
Zu ordentlichen Mitgliedern wurden gewählt: Dr. Th. van Schelven,
55 Jan van Nassaustraat, Haag; Frau Dr. C. M. Versteeg-Solleveld,
* Javastraat, Haag. , t, „ j
Adressenänderung: Dr. S. W e y 1 wohnt jetzt 98 ’s Gravendijkwal, Rotterdam.
A. Endtz,
Sekretär
New York Psydio-Analytical Society
U. u. UL Quartal 1929
30. April 1929. a) Dr. L. E. Hinsie: „Die Anwendung psychoanaly¬
tischer Prinzipien auf die Behandlung früher Schizophrenien.“ — Der Vor¬
tragende berichtet aus der Analyse von zwei Fällen, in denen es möglich war,
die psychoanalytische Technik zur Behandlung einer beginnenden Schizo¬
phrenie in den Pubertätsjahren zu verwenden. Bei diesen Patienten sind die
notwendigen Voraussetzungen für die analytische Therapie vorhanden: der
Wunsch, behandelt zu werden, die Fähigkeit zur Übertragung und die Krank-
heitseinsicht. , . r
h) Dr. P. R. Lehrman: „Eindrücke aus einer Lehranalyse bei Proiessor
Freud.“ Ein Vergleich zwischen den Tendenzen und Ausgestaltungen der
Wiener, Berliner imd Pariser Zweigvereinigung. Ein zweimonatiger Aufenthalt
Prof. Freuds in Berlin im Herbst 1928 gab dem Vortragenden Gelegen¬
heit, die Arbeit am Berliner Psychoanalytischen Institut und die im psycho¬
analytischen Sanatorium Schloß Tegel geleistete Pionierarbeit aus der Nähe
mitanzusehen. Die Tätigkeit des Wiener Instituts im Winter 1928/29 war
eine Quelle von Anregungen, besonders bedeutsam durch die monatlichen
Zusammenkünfte im Hause Prof. Freuds und die von ihm beigetragenen
Diskussionsbemerkungen. Bericht über einen dieser Abende mit Äußerungen
Prof. Freuds über das komplizierte Problem der Lehranalyse und ihre Unter¬
schiede von der therapeutischen Analyse bezüglich Verfahren und Zielsetzung.
Schließlich brachte der Vortragende fünf Filme zur Vorführung, welche die
bedeutendsten Personen der psychoanalytischen Bewegung und vor allem
Prof. Freud und seine Familie zeigten-
136
Korrespondenzblatt
28. Mai 1929- a) Dr. Ruth Mack-Brunswick: „Analyse eines Eifer
suchtswahnes. (Erschienen in dieser Zeitschrift, Bd. XIV, 1928.) Der Vortraff
gab Anlaß zu einer lebhaften Diskussion.
b) Dr. Dorian Feigenbaum: „Der falsche Patient.“ Bericht über die
Analyse des Mannes einer Patientin mit Eifersuchtswahn; die Frau verweigert
die Behandlung und überläßt den Mann dem Analytiker. Der Mann erweist
sich als neurotischer Charakter von sado-masochistischem Typus mit De¬
pressionen und Wanderlust; in der Karriere kommt er trotz guter, intellek¬
tueller Fähigkeiten nicht vorwärts. Er ist an zwei ältere, tyrannische Schwestern
fnaert, seine Mutter ist kalt und herrschsüchtig, der Vater schwach und
selbstsüchtig. Vor der Ehe hatte er sporadische erotische Erlebnisse mit männ-
hchen Frauen (Schwestern). Die sadistische Anlage seiner Frau war so stark
daß sie ihm auffallen mußte. Während seiner Analyse wuchs ihr Widerstand
gegen die Behandlung, sie wurde eifersüchtig auf den Analytiker. Der Vor¬
tragende führte aus, daß der Fall den Nachweis des pathologischen Verhaltens
des paranoischen Ehepartners brachte; von hier aus ließ sich die Gefahr
erörtern, unter solchen Umständen dann den „wirklichen“ Patienten zu verlieren.
In der Geschäftssitzung wurden folgende associate members gewählt-
Dr. Rita Parker, Dr. Albert Slutsky.
Zu offiziellen Vertretern der Gruppe auf dem Internationalen Kongreß in
Oxford wurden bestimmt: Dr. A. A. Brill, Dr. C. P. Oberndorf, Dr. A. Stern.
Dr. Phüip R. Leh r m an,
Sekretär
Sciiweizerisciie GesellsAaft für Psydioancilyse
II. und in. Quartal 1929
20. AprU 1929. Wissenschaftliche Sitzung. Referat Zulliger: „PsA. und
Führerschaft in der Schule.“ (Erscheint in Imago, Bd. XVI, Heft 1.)
Diskussion: Furrer, Peter, Pfister, Sarasin, Steiner, Tobler, Witzig (a. G.).
4. Mai 1929. Wissenschaftliche Sitzung. Referat Tobler: „Das Werden
einsr neuen Schule und die psa. Erkenntnis/*
Ref. berichtet über das von ihm gegründete und geleitete Landerziehungs¬
heim, wo „Gestaltungsunteiricht“ betrieben wird unter der Organisation einer
Lebensgemeinschaft. Daran wird die Bedeutung und der Ablauf des Uhiv
aufgezeigt.
Diskussion: Behn-Eschenburg, Frau Behn-Eschenburg, Giltai (a. G.) Kiel-
holz, Pfister, Sarasin, Steiner. ^
Frau Dr. S. Morgenstern teilt ihren Übertritt in die Societd francaise de
Psychanalyse mit.
22. Mai 1929. Wissenschaftliche Sitzung.
I. Dr. Blum: „Geisteskrankheit und Gesellschaft.“
II. Dr. Behn-Eschenburg: „Psa. Bemerkungen zum Thema: Ursache
und Bekämpfung der Vorurteile gegen Psychiatrie und Irrenanstalten.“
Korrespondenzblatt
137
Die beiden Vorträge sollen am Schweizer Psychiatertag in Rheinau am
8. und 9. Juni abgehalten werden.
I. Ref. weist darauf hin, daß einst die Krankheiten, speziell die Geistes¬
krankheiten, als Besessenheit durch einen Dämon oder Gott gedacht wurden.
Der Priester und Medizinmann, der sie bekämpfte, war mit übersinnlichen
Kräften ausgestattet und damit selber auch in die Sphäre des Übersinnlichen
versetzt gedacht. Neben der völkerpsychologischen Parallele geht Ref. auf die
individuelle Seite der Frage ein und findet die Klärung durch die Analyse
des Gefühles des Unheimlichen nach Freud als Abkömmling animistischer
Seelentätigkeit und Wiederanklingens ursprünglich angstbesetzten, verdrängten
Materials. Damit die Gesellschaft ihre Vorurteile lasse, sei u. a. die tiefen¬
psychologische „Aufklärung“ notwendig, mit ihr werde der Gesellschaft auch
der Irre selbst verstehbar.
II. Den vorherrschenden Ansprüchen des Bw des Normalen treten im Irren
die durchgebrochenen Ansprüche des Uhw entgegen. Dieser Ansprüche kann
der Gesunde nur dann Herr werden, wenn er sie im Zaume hält, verdrängt.
Revanche ist deshalb das eigentliche Prinzip des Gesunden dem Irren gegen¬
über. Es äußern sich die gleichen Widerstände, die der Gesunde gegen die
Wiederkehr des eigenen Verdrängten mobil macht; diese treffen sowohl die
Kranken als alles, was mit ihnen zusammenhängt: die Irrenanstalten und die
Psychiater. Zur Bekämpfung der Vorurteile empfiehlt sich die Bloßlegung der
Gründe, aus denen diese Vorurteile als Rationalisierungen resultieren.
(Gekürztes Autoref. Blum und Behn-Eschenburg.)
Diskussion: Kielholz, Sarasin, Steiner, Frau Behn-Eschenburg, Blum, Furrer,
Pfenninger.
15. Juni 1929. Wissenschaftliche Sitzung.
I. Dr. Blum: „Kleine Mitteilungen zum Thema: Widerstand gegen die
Irren und Pflegeanstalten.“
Ref. weist an einzelnen Zügen oder Äußerungen des Widerstandes der
Gesellschaft gegenüber den Irren und Irrenanstalten die Thesen nach, die sich
aus den Referaten der vorhergegangenen Sitzung ergeben haben.
Diskussion: Steiner, Kielholz, Blatter, Behn-Eschenburg, Frau Behn-Eschen¬
burg, Sarasin, Zulliger.
II. Dr. Sarasin: „Kasuistisches Material über die infantile Genital¬
organisation. “
An schönem und durchsichtigem Erfahrungsmaterial werden die Aus¬
führungen Freuds über diesen Teil der infantilen Sexualität (Drei Ab¬
handlungen) belegt.
Diskussion: Blatter, Frau Behn-Eschenburg, Blum, Pfister, Steiner, alle in
mehreren Voten.
7. Juli 1929. Im geschäftlichen Teil der Sitzung wird beschlossen, daß
die Schweizer Delegation am Oxforder Kongreß die Resolution Eitingon
zu befürworten habe. (Betr. Ausbildung der Psychoanalytiker.)
Wegen des Oxforder Kongresses und der Ferien wird die nächste Sitzung
anf Ende September anberaumt. Es wird der Auftrag erteilt, den nächsten
Kongreß der I. P. V. in die Schweiz einzuladen.
Die U.-R. teilt mit, daß ein Zyklus von drei Vorträgen über PsA. in
138
Korrespondenzblatt
Basel vorbereitet werde. Nach einem als Einleitung gedachten Referat
(S ar a s i n) soll gesprochen werden über „PsA. und Medizin“ (Christoffel)
und „PsA. und Pädagogik“ (Zulliger).
Wissenschaftliche Sitzung. Referat Dr. Steiner: „Außerordentlich starkes
Agieren in der Analyse.“
Ref. zeigt an einem klinischen Fall das außerordentlich heftige Agieren
des Patienten, der aus dem Fenster des Ordinationszimmers springen wollte.
Er untersucht die Besonderheit dieses und ähnlicher Fälle, das Verhalten des
Analytikers und die Umwandlung der Motilität in Wortvorstellungen.
Diskussion: Sarasin, Zulliger, Behn-Eschenburg, Frau Behn-Eschenburg, Tohler.
21. September 1929. Wissenschaftliche Sitzung. Referat Dr. Sarasin:
„Einleitendes Referat“ zum Baseler Vortragszyklus.
Ref. umschreibt in seinem für ein weiteres Publikum berechneten Vortrag
auf eine einleuchtende Art und nach Gesichtspunkten, wie man sie bisher
bei sogenannten „populären“ Referaten noch nicht hörte, Wesen, Technik,
Bereich und Hauptbegriffe der Psychoanalyse.
Diskussion: Behn-Eschenburg, Blum, Pfister.
Vortragstätigkeit einzelner Mitglieder:
Pfr. Dr. Pfister hielt eine Vortragstournee über PsA. in Lettland. Er
organisierte am „Internationalen Kongreß für neue Erziehung“
in Helsingör (8. bis 22. August 1929) einen Kurs über das Thema:
PsA. und Erziehung, hielt dort sechs Vorträge. Im Rahmen dieses Kurses
sprachen neben Mitgliedern anderer psa. Gesellschaften unsere Mitglieder
Dr. Behn-Eschenburg, Frau Behn-Eschenburg, Tobler, Pfen-
ninger, Zulliger.
Hans Zulliger,
^ Sdiriftführer
Wiener Psydioanalytisdie Vereinigung
I. bis III. Quartal 1929
16. Januar 1929. Vortrag Dr. Otto Sperling (a. G.): Zur Psychologie
der Unfallsneurose. (Z. T. erschienen in dem Sammelband „Die Unfallsneu¬
rose ‘, Hippokrates-Verlag, 1929.)
Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Sadger.
50. Januar 1929. Vortrag Dr. Richard Sterba: Zur Dynamik der Be¬
wältigung des Übertragungswiderstandes. (Erschienen in Heft 4 von Bd. XV
dieser Zeitschr.)
Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Nunberg, Reich.
13. Februar 1929. Kleine Mitteilungen und Referate.
1. Dr. Wälder: Sexualsymbolik bei den Primitiven. Diskussion: Federn.
2. Dr. Hitschmann: Einschlafgewohnheiten. Diskussion: Frau Angel,
Frau Deutsch, Federn, Friedjung, Jokl, Reich, Sperling, Stengel, Sterba.
3. Dr. Sperling; Beitrag zur Frage des „funktionalen Phänomens“.
Disskussion: Federn, Hartmann.
Korrespondenzblatt
139
27. Februar 1929. Kleine Mitteilungen und Referate.
1 Dr. Hitschmann: Ein geborener Bildhauer. Diskussion: Federn, Kris,
Nunberg, Reich, Sterba, Storfer, Winterstein.
2. Dr. Federn: Ausgang der Hysterie. Diskussion: Frau Deutsch,
Eidelberg, Reich, Wälder.
15. März 1929. Kleine Mitteilungen und Referate.
1. Dr. Hitschmann: Referat von Bernhard Aschner, „Die Krise der
Medizin“. Konstitutionstherapie als Ausweg. Diskussion: Federn, Hartmann,
Storfer.
2. Dr. Wälder: Referat über Prinzhorn, Krisis der Psychoanalyse.
I. Besprechung der Arbeiten von A. A. Grünbaum: Die Erkenntnistheorie
und die Idee der Psychoanalyse, und V. v. Weizsäcker: Medizin, Klinik und
Psychoanalyse. Diskussion: Eidelberg, Federn, Hartmann, Kris.
5, April 1929. Kleine Mitteilungen und Referate.
Dr. Wälder: Referat über Prinzhorn, Krisis der Psychoanalyse,
n. Besprechung der Arbeiten von H. Prinzhom: Versuch einer geistes¬
geschichtlichen Einordnung der Psychoanalyse. H. Kunz: Psychologie der
psychoanalytischen Weltanschauung, imd K. Mittenzwey; Psychologie und
Psychoanalyse. Diskussion: Eidelberg, Federn, Frl. Freud, Kris, Sperling, Sterba,
Storfer.
24. April 1929. Diskussionsabend: Anwendung der Psychoanalyse bei
Psychosen. Einleitendes Referat: Prof. Dr. Schilder: Diskussion: Frl. Freud.
Frau Estelle Levy (a. G.), Reich.
8. Mai 1929. Fortsetzung der Diskussion: Psychoanalyse und Psychiatrie.
Diskussion: Eidelberg, Federn, Nunberg, Schilder.
25. Mai 1927. Kleine Mitteilungen und Referate.
Frau Dr. Annie Reich: Referat über Alexander-Staub: Der Verbrecher
und seine Richter. Diskussion: Federn, Hartmann, Reich, Prof. Pappenheim,
Wälder, Wittels.
5. Juni 1929. Kleine Mitteilungen und Referate.
Dr. Reich: Mechanismus eines Falles von Homosexualität. Diskussion:
Frau Deutsch, Frl. Freud, Nunberg.
19. Juni 1929. Vortrag Dr. Paul Federn: Das Frongesetz der Zwangs¬
neurose. Diskussion: Frau Deutsch, Eidelberg, Hartmann, Isakower, Jokl,
Nunberg, Reich, Schaxel.
*
Veranstaltungen des Lehraussdiusses der „Wiener Psydioanalytisdien Vereinigung"*
im Sommersemester 1929
Kurse:
Dr. P. Federn: Einführung in die Psychoanalyse. 10 stündig. (Hörerzahl 35.)
Prof. Dr. P. Schilder: Psychologische Grenzgebiete der Psychoanalyse.
5 stündig. (Hörerzahl 19.)
Dr. R. Wälder: Ausgewählte Probleme der Psychologie. 15 stündig.
(Hörerzähl 28.)
ii
i
1
140 Korrespondenzblatt
Pädagogik:
Dr. W. Ho ff er: Neurosenlehre, 5 stündig. (Hörerzahl 54,)
Seminare:
Seminar für psychoanalytische Therapie. (Am Ambulatorium der „Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung“.) Jeden zweiten Mittwoch. Leiter Dr. W.
Reich.
Seminar zur Technik der Kinderanalyse. Jeden Montag. Leiterin Anna Freud.
Dr. R. H. Jokl
Sdbriftführer
REFERATE
Aus den Grenzgebieten
Maylan, Charles E.: Freuds tragischer Komplex. Eine
Analyse der Psychoanalyse. München, Ernst Reinhardt,
1929.
Soweit der Leser diesem „eigenartigen“ Buche, wie es der Autor seihst
nennt (S. 5), einen wesentlichen Gedankengang entnehmen kann, lautet dieser
ungefähr folgendermaßen: Die Psychoanalyse sei eine wichtige methodologische
Entdeckung. Sie sei aber bis heute unzulänglich geblieben. Sie könnte und
sollte „den letzten Schritt zur Freiheit tun“ (S. 8), d. h., es fehlen ihr die
Wertsetzungen, „der verlorene Anschluß an ein geistiges Ganzheitsprinzip
(S. 15); sie sei nicht „in den höchsten Dienst“ „eingespannt“, „in den Dienst
am ewigen Leben des Menschen und nicht nur der niedersten Bedürfnisse
seiner Leidenschaften“ (S. 16). Diese unklare, aber nach Maylan vornehmste
Aufgabe habe sie aus Feigheit vor ihren eigenen Konsequenzen bisher nicht
erfüllt. Sie harre eines zukünftigen „Erlösers“, für den sich Maylan selbst
zu halten scheint. — Schuld daran aber sei die subjektive Unzulänglichkeit
ihres Schöpfers, die „Unerwachsenheit“ Freuds (S. 14). Diese soll durch
eine „Analyse^^ Freuds bewiesen werden. Diese „Analyse“, die der Autor
als „psychologische Ganzheitsschau“ (S. 15) durchführt, bringt ihm die Ent¬
deckung, daß Freud einen Ödipuskomplex habe. Aus Freuds unbewußter
Ambivalenz gegenüber seinem Vater folge, daß die Psychoanalyse ein Ha߬
gebilde, ein Rachewerk sei, bestimmt, die Herrschaft der jüdischen Rasse über
die anderen aufzurichten. Erst arische Philosophen, von der Art Nietzsches,
vor allem offenbar der Verfasser selbst, werden die Psychoanalyse von der
düsteren unbewußten Zielsetzung, die ihr innewohnt, befreien.
Eine einfache Überlegung zeigt, daß eine wissenschaftliche Kritik eines
solchen Gedankenganges im Grunde unmöglich ist. Denn die Psychoanalyse
ist einerseits Heilmethode, andererseits Naturwissenschaft, aber nichts sonst.
Ihre Fortbildung zu einer „Erlösung“ muß ihr als Mißbrauch erscheinen, der
Vorwurf, daß solche Fortbildung fehle, als Lob, daß sie ihrer Aufgabe nicht
untreu geworden ist. — Aus ihrer wissenschaftlichen Natur folgt aber auch,
daß das Kriterium über Richtigkeit oder Falschheit psychoanalytischer Befunde
wie bei jeder empirischen Wissenschaft von der Realitätsprüfung, d. h.
der Nachprüfung am Objekt, abgegeben wird; keineswegs aber folgte aus dem
Nachweis der subjektiven Beschränktheit eines Forschers die Unzulänglichkeit
142
Referate
der Forschungsmethode. (Und; Wie könnte sich denn eine solche Beschränkt¬
heit im objektiven Resultat wissenschaftlich schädlich bemerkbar machen?
Doch nur dadurch, daß der Forscher im „analytischen Skotom“ am Unbe¬
wußten seines Objektes nicht wahmehmen könnte, was er in der eigenen
Seele verdrängt. Als wesentlichen Skotomgrund bezeichnet Maylan aber
Freuds Ödipuskomplex. Man kann kaum behaupten, daß der Entdecker des
Unbewußten und des Ödipuskomplexes den Ödipuskomplex übersehen hätte.
Aber Maylan geht sogar so weit, zu meinen, daß die Entdeckung des
Ödipuskomplexes ein Indiz für den Ödipuskomplex und somit für die analy¬
tische Unzulänglichkeit Freuds sei! [S. 50 u. 52.])
Aber wie sieht denn nun diese angebliche Analyse Freuds aus? Welches
Material zieht Maylan hiefür heran und wie benutzt er es?
Freud hat der Öffentlichkeit nicht nur in seiner Autobiographie Material
über sein Leben mitgeteilt, sondern vor allem auch in der „Traumdeutung“
und der „Psychopathologie des Alltagslebens“ eigenes seelisches Material als
Beispiel herangezogen. Er wollte psychologische Entdeckungen methodischer
und inhaltlicher Natur demonstrieren, und es ist ein schönes Beispiel
der Hintansetzung persönlicher Interessen im Dienste der Wissenschaft, wenn
er, wo eigenes Material deutlicher sprach oder als das eines Gesunden ver¬
läßlicher erschien als das der Patienten, nicht davor zurückscheute, Dinge
aus dem eigenen Leben preiszugeben, die man sonst verborgen hält, — und
im Jahre 1900 noch viel mehr verborgen zu halten pflegte als heute, da die
Resultate der Psychoanalyse schon mehr bekannt sind. Aber natürlich auch
nur so weit, als die Notwendigkeit der Demonstration es erforderte. Die
„Traumdeutung“ enthält nicht „Bekenntnisse“ wie das Werk von Rousseau,
Freud hat nie behauptet, mit ihr der Öffentlichkeit ein aufrichtiges, voll¬
ständiges und lückenloses Bild der eigenen Person zu übermitteln. Könnte
man also vielleicht schon der Meinung sein, die Benutzung des von Freud
zur Exemplifizierung einer wissenschaftlichen Methode publizierte Material
zu einem anderen Zwecke sei an sich ein Mißbrauch, so ist jedenfalls die
von Maylan wiederholt geäußerte Meinung, Freud wisse über sich nicht
mehr als er der Öffentlichkeit mitteilte, er verdränge alles andere, ein
grobes Mißverständnis, wenn nicht eine Fälschung.
Es mutet unter solchen Umständen grotesk an, wenn Maylan in einer
schrankenlos erregten Sprache den Nachweis zu erbringen versucht, daß bei
Freud der unbewußte Haß gegen den Vater und die Angst vor ihm nicht nur
in den Träumen wirksam sind, wo er selbst davon spricht, sondern auch an
anderen, wo er nicht ausdrücklich es erwähnt. Wie naiv, zu glauben, Freud
selbst wisse das nicht und wolle es vor sich selbst verbergen (S. 91)!
Und wie verwegen, den Leser glauben machen zu wollen, daß man aus
der Tatsache, in welchem Umfang Freud bei den einzelnen Traumbeispielen
die Deutung mitteilt, auf die Tiefe seiner Selbstanalyse oder gar hinsicht¬
lich des Wahrheitsgehalts der Psychoanalyse irgendwelche Schlüsse ziehen
könne.
Bei solcher Zielsetzung und logischen Sauberkeit kann es dann nicht über¬
raschen, wenn Maylan in seiner Nachanalyse der Freud sehen Träume
wiederholt Mittel anwendet, die an die Methoden mancher Zeitungen er¬
innern, die im Titel das Gegenteil von dem sagen, was in der Nachricht
Referate
143
. enthalten ist, in der Hoffnung, der Leser werde sich mit dem Titel
ügen und auf die Lektüre des kleiner gedruckten Textes verzichten. Es
1 hnt diesen schweren Vorwurf mit einigen Beispielen zu belegen.
° Anläßlich eines Traumes, in dem Freud die schlafende Mutter sieht,
icht Freud von „dunklen sexuellen Gelüsten“, was Maylan auch zitiert
j j q) Trotzdem sagt er dann in seiner Zusammenfassung auf S. 111:
Besonders überrascht sofort das Fehlen jeder Andeutung des Ödipuskomplexes.“
1 - Beim Traum „Der Papst ist gestorben“, den Freud auf den Körperreiz
läutender Glocken zurückführt, um dann zu sagen: man sehe, „auf welchen
Wegen ein akzidentell gegebenes körperliches Bedürfnis mit den stärksten,
aber auch stärkst unterdrückten Regungen des Seelenlebens in Ver¬
bindung gebracht wird“ (was mag er wohl für „Regungen“ meinen?), zitiert
IVlaylan auch diese Stelle und bemerkt dann: „Aber der Regungen des
Seelenlebens geschieht keine Erwähnung“ (S. 99), d. h., Freud habe über¬
sehen, daß der Papst den Vater bedeute. — Freud übersetzt den
Traumtext „ein Auge zudrücken“ mit „d. h. Nachsicht üben“. Obwohl
Maylan wieder selbst zitiert, daß Freud später hiezu bemerkt, daß er
wisse, daß „diese Fassung ihren besonderen Sinn hat und in der Traum¬
deutung auf besondere Wege führt“, sagt er: „Leider ist Freud in seinen
eigenen Träumen so ,schamhaft und pietätvoll* vorgegangen, daß er das
Analysieren vergißt“, weil er schreibe „d. h. Nachsicht üben“, „ohne es auch
nur zu wagen, dem anderen Traumgedanken ... ins Auge zu sehen . . ., ob¬
gleich er wisse, daß „diese Fassung“ usw. (S. 99). Aber wenn er das weiß
und es schreibt, so hat er doch eben dem anderen Traumgedanken ins Auge
ffesehen! — Freud bemerkt wiederholt, daß er die Mitteilung einer
Traumanalyse irgendwo abbreche, weil das Folgende als Mitteilung für die
Öffentlichkeit nicht geeignet sei. Obgleich Maylan auch solche Bemerkungen
mehrmals wortgetreu und unmißverständlich zitiert, kommentiert er sie den¬
noch so, als hätte Freud aus Diskretions- oder Pietätgründen nicht die
Mitteilung der Analyse, sondern die Analyse abgebrochen, begehe also fort¬
während „Ungehorsam gegen die analytische Grundregel“ (S. 75). So bemerkt
er zum Satz, „man macht doch sich selbst aus vielem kein Geheimnis, was
man vor anderen als Geheimnis behandeln muß : „Das klingt uns ganz wie
das Bekenntnis zu einem blinden Fleck im Auge des Selbstanalytikers . . .
und zur Gewilltheit, ihn zu bewahren, heilig zu halten, tabu zu erklären“
(S. 70). Oder zur Bemerkung, er breche ab, „weil die persönlichen Opfer
zu groß sind, die es erfordern würde, das in der Analyse (selbstverständlich
gemeint: in der Mitteilung der Analyse) fehlende Stück des Traumes voll
aufzuklären“, heißt es: „Also wenn es peinlich wird, unterbricht Freud
seine Analyse?! Er meint: Nur vor der unkeuschen Öffentlichkeit. Ich be¬
haupte aber: Vor sich selbst und vor dem Geist“ (S. 22).
Solche Dinge bringen dem Leser schließlich das Verständnis dafür, was
sich hier abspielt: Nämlich eben die objektive Fälschung der Forschungs¬
resultate durch subjektive Voreingenommenheit des Forschers, die Maylan
fälschlich Freud vorwirft. Wir Analytiker wissen, wie demjenigen, der aus
affektiven Gründen etwas „beweisen“ will, nicht nur Gegenargumente ver¬
borgen bleiben, sondern wie er früher oder später beginnt, ohne sein Wissen
die Wahrheit in einer Weise zu verdrehen, daß das Resultat objektiv einer
^44 Referate
Fälschung gleicht. So sind folgende Dinge, die Maylan passieren, ein !
Schulbeispiel dafür, wie man Analyse nicht treiben darf, und was geschehen ^
kann, wenn man es an der nötigen Unvoreingenommenheit fehlen läßt.
Aus Freuds Redewendung, er habe einen Patienten, dessen Behandlung
fünf Jahre dauerte, „fünf Jahre auf die Heilung warten lassen“, schließt
Mayl an: „Der festgehaltene Rhythmus seines . . . Ödipuskomplexes könnte
ihm . . . während seiner Analysen schon unbemerkt manchen unliebsamen
Streich gespielt . . . haben“ (S. 125).
An anderen Stellen werden die Deutungen Mayl ans wild-phantastisch
so dort, wo er sich daran macht, die psychoanalytische Strukturtheorie zu '
psychoanalysieren. Er stellt die Behauptung auf, das Es sei die Mutter, das '
Über-Ich der Vater. Als Beweis zitiert er zunächst eine Redewendung von \
Freud, das Über-Ich „tauche tief ins Es ein“, und schreibt dann in seiner 3
Auslegung: „Denn während wohl der Vater bei ihr schlafen und tief in sie |
,eindringen‘ darf . . .“ (S. 145). („Eintauchen“ hätte nicht so gut gepaßt, \
aber wer wird es in einer „Deutung“, die sich auf ein Wort gründet, mit J
diesem Worte so genau nehmen?) — Dann argumentiert Mayl an weiter: -i
Das Buch heißt „Das Ich und das Es“, dem Inhalte nach verdiente es den ^
Titel: „Das Ich, das Es und das Über-Ich“. Warum hat wohl Freud das ‘l
Über-Ich im Titel weggelassen? Mayl an antwortet: Weil er den Vater ver- 1
drängen wollte. Dafür nennt auch Mayl an „Das Ich und das Es“ eine . '
„zum Teil wirklich unverstehbare kleine Schrift“ (S. 144). — Oder bei der |
Erörterung über „Todesangst“ werden die Beweise für die Fr eu dsehe Vater- ^
bindung darin gefunden, daß in seiner Autobiographie Bleuler, Hall, |
Putnam, James (Väter), Adler, Jung und Stekel (Söhne) bald hinter-’ !
einander genannt werden. (Siehe die Tabelle auf S, 158.)
Eine gröbere Falschzitierung als die Vertauschung von „eintauchen“ 1
und „eindringen“ leistet sich Mayl an, um aus seiner „Analyse“ Freuds, '
den er wiederholt „meinen Patienten“ nennt, seine antisemitischen
Konsequenzen ziehen zu können. Freud schreibt in seiner Arbeit
„Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie“, die Psycho¬
analyse möge „den Schrei nach jenen Veränderungen in unserer Kultur
verstärken helfen, in denen wir allein das Heil für die Nach¬
kommenden erblicken können“ (Ges. Sehr., Bd. VI, S. 57; Zbl, f. PsA.,
I? S. 9). Auf S. 195 Buches von Maylan aber lesen wir, Freud
wisse, was er wolle, „wenn er ,den Schrei nach jenen Veränderungen in
unserer Kultur verstärken helfen will, Jin denen wir allein das Heil
für unsere Nachkommen erblicken können'“ (Sperrungen von Maylan),
und er interpretiert, ganz wie ein politisches Hetzblatt, mit „unsere Nach¬
kommen“ (was Freud ja überhaupt nicht geschrieben hat) seien die Juden
gemeint (S. 195). — Vom verstorbenen Kollegen Walter Cohn schrieb
Sachs in einem Nachruf, es gab für ihn nur zwei Ziele: „Die Befreiung
des jüdischen Volkes und die Psychoanalyse“; Maylan zitiert das und setzt
fort: „die wir als ein Werkzeug im Dienste jenes ersten Gedankens finden,
denn Freud^^ selbst will den „Schrei nach jenen Veränderungen in der
Kultur usw.“ (S. 207).
Falsche Zitate von geringerer Bedeutung gibt es noch so viele, daß wir
nicht alle anführen können und hier ein einziges Beispiel genügen möge:
Referate
US
Es wird als Freuds Meinung ausgegeben, „daß das Es das Reservoir der
Sexualität allein sei“ und dazu eine Seitenangabe aus „Das Ich und das
Es“ (S- 15^)9 wenn man die betreffende Seite nachschlägt, so findet man,
daß dort ausdrücklich das Gegenteil steht, nämlich, daß die Besetzung des
Es aus beiden Triebarten gemischt sei.
Die tendenziöse Natur aller dieser und der vielen hier nicht in extenso
• besprochenen Irrtümer ergibt sich aus symptomatischen Fehlhandlungen wie der
Zitierung aus einem Buche Freuds „Zur Psychologie des Alltagslebens“
(S. 205) oder aus der Interpretation, der Streit um die Laienanalyse gehe in
Wahrheit darüber, ob die Psychoanalyse dem „jüdischen Arzte“ Vorbehalten
bleiben solle, oder ob man sie auch „dem arischen Philosophen in die Hand
geben“ dürfe (S. 195)*
Wir sind bei der sachlichen Widerlegung der May lauschen Ansichten
schon ganz ohne Absicht gelegentlich in eine moralische Bewertung seines
Werkes geraten. Man kann und braucht sich aber auch einer solchen Stellimg-
nahme nicht ganz zu enthalten, wenn man bedenkt, daß derselbe Mann, der
zu einem anderen Zweck gegebene Mitteilungen über das Privatleben eines
Menschen dazu benutzt, diesen Menschen ungebeten zu „analysieren“, als
Resultat solcher „Analyse“ die schwersten verdammenden Moralurteile gegen
diesen Menschen schleudert und somit die unsachlich-tendenziöse Natur seines
Eifers verrät. Er spricht von Freuds „vorgespiegeltem Anstandsgefühl“
(S. 19), wiederholt von seiner „Unaufrichtigkeit“ und „Feigheit“, von seiner
„Unreinheit des Herzens“ (S. 21), von seiner „menschlichen Gemeinheit“
(S. 75), davon, daß er es verstehe, „alles Hohe in die Gemeinheit seiner
Ursprünge mit schadenfrohem Blick zu ziehen“ (S. 159), und eines der vielen
ähnlichen Zusammenfassungen seines Urteils über Fr eu d lautet: „Utopistische
Verantwortungslosigkeit eines bolschewistischen Dämagogen wäre aber der
großsprecherisch ausgeworfene Köder ohne realisierte Einlösung des Ver¬
sprechens im Einsatz der eigenen Person“ (S. 212). Ganz abgesehen davon,
daß Freuds Bild und seine Unterschrift publiziert wurde, um Freuds
„schwermütige Bitterkeit“ als Folge seines unerledigten Vaterkomplexes daran
' zu demonstrieren (S. 49).
Maylan selbst hat von seinem Buche eine sehr hohe Meinung. Er sagt
von dem, der Freud seinen „Zwiespalt entreißen“ will, er komme „als ein
Begeisterter im besten Sinne, als im Fleischlichen eingeborener Sohn des
göttlichen Geistes und selber Göttlicher“ (S. 55), spricht davon, wie sehr die
„Klasse biologisch starker und feiner Philosophenanalytiker“ die Psychoanalyse
brauche, um „Pöbelmanieren wieder in die Grenze der . . . Ehrfurcht vor
dem Geist zurückzudrängen“ (S. 97) und kündigt, obwohl diese Klasse heute
noch nicht existiere, eine philosophisch-analytische Arbeit „Urmutter Kastratorin
des Mannes“ an (S. 212).
Wir beurteilen dagegen das ganze Maylan sehe Unternehmen lieber nach
dem Umstande, daß der Mann, der Freud vorwirft, seinen Ödipuskomplex
I nicht überwunden zu haben, seine Tat der „Überwindung des Ödipuskomplexes
in der Psychoanalyse“ symbolisch einem Vatermörd vergleicht (S. 8).
F e n i c h e 1 (Berlin)
i
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI/i
10
146
Referate
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Frostig, Jakob: Das schizophrene Denken. Phänomeno-
logisdie Studien zum Problem der widersinnigen Sätze. Georg
Thieme, Leipzig I929.
Wie der Untertitel anzeigt, beschränkt sich dieses Büchlein darauf, das
Aussprechen unsinniger Sätze und Wörter durch Schizophrene zu untersuchen.
Diese Untersuchung ist eine phänomenologische und eine „statische^^, d. h.
sie verzichtet von vornherein darauf, Fragen nach Genese und Motivation der
zugrunde liegenden Störungen zu stellen. Obwohl die Eigenart, Strenge und
Richtigkeit der grundlegenden Gedankengänge den mit phänomenologischen
Untersuchungen nicht vertrauten Leser sehr fesselt, muß doch das Ergebnis,
zu dem der Autor auf großen Umwegen gelangt, als sehr mager bezeichnet
werden, es („Störung der Aktualisierung kollektiver Strukturen“ usw.) scheint
fast eine bloße Übersetzung des Sachverhalts, „die Kranken sprechen
unsinnig“ in phänomenologische Nomenklatur. — Um verstehen zu können,
was der Kranke im Momente solcher „Störung der Aktualisierung“ erlebt,
werden normale Vorgänge zum Vergleich herangezogen, in denen ebenfalls
wort- und begriffsfem gefühlsbetont erlebt wird: Traum und Lyrik. Auch
ihnen werde man, wie dem schizophrenen Erleben, nur gerecht, wenn man
den „sachlichen Gehalt“, die „Erfüllung signalisierter Strukturen“ vernach¬
lässigt, das Gefühl, die „Sphäre“ wesentlich auf sich wirken läßt.
Frostig hätte sich nicht so sehr um den Nachweis zu bemühen brauchen,
daß die Traumarbeit, daß Verdichtung, Verschiebung, Symbolik phänomeno¬
logisch im Traumerleben nicht gegeben sind; das hat die Psychoanalyse nie
behauptet. Sie kam ja zu diesen Begriffen erst durch ihre prinzipiell andere
Denkweise, durch ihre dynamisch-genetische Forschung, die ihr erst zeigt,
daß sich im Träumer noch andere Dinge abspielen oder abspielten als die,
die er bewußt erlebt. Aber ebenso wie die Traumerzählung zwar nicht der
Traum ist, aber doch sein Abkömmling, und zwar der einzige, der uns
zur Verfügung steht, um an den uns unbekannten wirklichen Traum heran¬
zukommen, genau so sind die sinnlosen Wörter und Sätze zwar keine
„Signalisierung einer kollektiven Struktur“ mehr, aber doch Abkömm¬
linge des gesuchten Erlebens, der gesuchten „Sphäre“, und als solche doch
wohl sehr beachtenswert. Freilich, wir können nicht „erfüllen“ im gewöhn¬
lichen, im Verstandessinne, was uns da signalisiert wird, aber vielleicht wird,
da wir selbst doch ebenso ein Unbewußtes haben wie der Patient, die genaue
Beachtung der sinnlosen Äußerungen das einfühlende Erfassen eines latenten
Sinnes doch eher ermöglichen als Frostig annimmt (wenn es auch schwer
ist und seine Grenzen hat). Eine Geringschätzung der schizophrenen Wörter
schiene analog einer Geringschätzung des Wortlautes eines lyrischen Gedichtes
(wie sie Frostig allerdings ebenfalls für richtig zu halten scheint, da er
sein Lyrikbeispiel, ein kleines Goethegedicht, falsch zitiert). Man ver¬
gleiche etwa Frostigs kategorische Behauptung „Die^^W des Schizo¬
phrenen sind hart, wir bleiben seinen Sätzen, seineni angeblich freudigen
Pathos, seiner starrsteifen Leidensgrimasse fern, wir sind kühl und unlustvoll
gestimmt, wir geben ihnen nicht nach, wir fühlen uns nicht ein", mit der
Referate
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uiid Weise, wie etwa H o 1 ] ö s schizophrene Sinnlosigkeiten zitiert, ja,
Frostigs Bericht über den Patienten, der „in Judas steinsitzen“ muß,
zeigt, daß er selbst sich besser einfühlen kann als er zugibt. Soll ein Weg
zum Verständnis des schizophrenen Erlebens überhaupt auffindbar sein, so
muß auch das sinnloseste Wort als sein Abkömmling verstehbar werden.
Es ist gerne zuzugeben, daß wir von solchem Ziele noch sehr weit entfernt
sind. Fenichel (Berlin)
V. Weizsäcker: Über Rechtsneurosen. Nervenarzt, 2. Jg.,
H. IO.
Die Neurosen der Entschädigungs- und Versorgungsberechtigten sind nicht
nur ein Thema der Medizin. Sie sind soziale Krankheiten. Konflikte
zwischen Individuum und Behörden, Obrigkeit, Staat. Der Arzt, der vor¬
nehmlich als Gutachter mit diesen Neurosen sich zu beschäftigen hat, be¬
findet sich ihnen gegenüber in einer eigenartigen Lage, er soll hier nicht in
erster Reihe als Therapeut figurieren, sondern als ein Glied in der Kette
der Rechtssprechung.
W. vertritt den Standpunkt, daß die Rentenneurosen eben Neurosen, d. h.
Krankheiten sind. Freilich, meint er, sei der Kampf um die Rente nicht
so sehr Motiv, als vielmehr Stoff. Der Kern dieser Neurosen ist, nach ihm,
das Rechthabenwollen, das Hadern mit „Schicksal“, Obrigkeit. Er schlägt
für dieses Krankheitsbild den Namen „Rechtsneurose“ vor. Ist man einmal
zu der Überzeugung gekommen, daß die Rentenneurotiker eben kranke
Menschen sind, so kann der Arzt ihnen gegenüber keinesfalls auf die thera¬
peutische Einstellung verzichten. Die eigenartige Zwischenlage dieser Neu¬
rosen erfordert allerdings eine Verbindung zweier Aufgaben; die eine ist die
therapeutische, die andere die mehr juristische, die Begutachtung.
W. gibt ein Schema, wie die Therapie dieser Neurosen mit der Gutachter¬
tätigkeit zu verbinden wäre. In einer ersten Periode sollte der Neurotiker
nur als Kranker behandelt und die Übertragung hergestellt werden. Ist eine
tragfähige Übertragung gesichert, so kann man mit der Besprechung der
Rechtslage einsetzen. Der Arzt muß dann versuchen, den Kranken zu der
Anerkennung gewisser realitätsgerechter Forderungen zu bringen, ihm klar
zu machen, wie weit seine Forderungen berechtigt sind, wie weit nicht, ihm
zur Einsicht in den Aufbau seiner Neurose zu verhelfen. Ist eine gewisse
Bereitschaft zu einem Abschluß des Verfahrens erreicht, so muß unbedingt
auf endgültige Beendigung des Rechtsverfahrens gedrängt werden. Erst wenn
dieses gelingt, schwinden die Restsymptome, die von der Psychotherapie allein
nicht gelockert werden konnten.
Das Verdienst dieses Vorschlages von W. besteht darin, daß er die Ärzte
ermahnt, bei der Gutachtertätigkeit die therapeutischen Aufgaben nicht ganz
zu vergessen. (Berlin)
148
Referate
Aus der psychoanalytischen Literatur
Coriat, Isidor: The Oral Libido In Language Forma¬
tion among Primitive Tribes. Int. Journal of PsA. X, I.
Philologen und Psychoanalytiker haben erkannt, daß die Worte „Papa“
und „Mama“ ihre universale Verbreitung dem Umstand verdanken, daß M
und P, die Labiallaute, ihre Formung durch die Funktion der Saugemuskulatur
erhalten und deshalb als erste Konsonanten schon in der Säuglingszeit ge¬
sprochen werden können. — Nun stellt sich heraus, daß ein primitiver
Indianerstamm am oberen Amazonas nach Mac Govern, obwohl seine
sonstigen Sprachäußerungen in unserer Schrift gar nicht wiedergegeben werden
können, doch eibenfalls die Worte „Pa“ für Vater und „Ma“ oder „Na“ für
Mutter gebraucht, offenbar aus dem gleichen Grunde wie die Europäer.
Fenichel (Berlin)
Lorand, Alexander S.: Tbe Mantle Symbol. Int. Journal of
PsA., X, I.
Verschiedene Träume zeigten dem Autor eine weitere Determinierung des
Mantelsymbols: Der Mantel, besonders der Pelzmantel, repräsentiere zunächst
die männliche Körperbehaarung und auf diesem Umwege den Penis.
Fenichel (Berlin)
Potter, Grace: Freudian Concepts Aigong Early Ame¬
rican Indians. Int. Journal of PsA,, X, I.
Aus alten Missionärbriefen über die Ethnologie der Indianer wird erzählt,
daß indianische Medizinmänner häufig erklärten, daß Krankö an unbewußten
Wünschen leiden. Fenichel (Berlin)
Gl over, Edward: The „Screening” Function of Trauma¬
tic Memories. Int. Journal of PsA., X, I. \
Harmlose Kindheitserinnerungen verraten schon durch ihre Harmlosigkeit
ihren Charakter als „Deckerinnerungen“. Aber auch Erinnerungen an wirk¬
lich traumatische Ereignisse aus der Kinderzeit soll man nicht ohne weiteres
nur als Originalerlebnisse werten, — Bei einem Patienten depkte die Er¬
innerung, sich als kleines Kind einmal die Hand verbrannt zai haben, die in
seinem vierten Lebensjahr an ihm vorgenommene Zirkumzision, die gänzlich
vergessen war. Fenichel (Berlin)
Nunn, T. Percy: The Fatal N ame: An Epigram of Phi¬
lo d e m o s. Int. Journal of PsA., X, I.
Ein Dichter des ersten Jahrhunderts n. Chr. namens Philodemos erzählt
in einem Epigramm, daß er nur Frauen namens „Demo“ geliebt habe; er
hieße wohl nicht umsonst „Philodemos“, Fenichel (Berlin)
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XVI, Heft i
(Ausgegeben Anfang Februar 1930)
Seite
Emest Jones: Angst, Schuldgefühl und Haß •••••«•••••••••••• 5
Otto Fenichel: Zur Psychologie des Transvestitismus ... 21
Maxim. Steiner: Die Bedeutung der femininen Identifizierung für die männliche
Impotenz ...
Bertram D. Lewin: Kotschmieren, Menses und weibliches Über-Ich.. • • • 45
Melanie Klein: Die Bedeutung der Symbolbildung für die Ichentwicklung ...... 56
Thomas M. French: Beziehungen des Unbewußten zur Funktion der Bogengänge • • • 75
KASUISTISCHE BEITRÄGE
A. S. Lorand: Fetischismus in statu nascendi.. 87
Giza Röheim: Zur Deutung der Zwergsagen... . 95
Susanne Hupfer: Über Schwangerschaftsgelüste ..105
William K Silverherg: Eine Übergangsphase in der Genese der Phantasie:
Ein Kind wird geschlagen ... . 119
DISKUSSIONEN
I) J. Hdrnik: Kritisches über Mack Brunswicks „Nachtrag zu Freuds ,Geschichte
einer infantilen Neurose^“, 123. — H) Mack Brunswick: Entgegnung auf Hämiks
kritische Bemerkungen, 128.
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Berichte der Zweigvereinigungen: American Psychoanalytic Association 130. — British
Psycho-Analytical Society 131. — Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 132. —
Magyarorszägi Pszichoanalitikai Egyesület 134. — Nederlandsche Vereeniging voor Psycho¬
analyse 134. — New York Psycho-Analytical Society 135. — Schweizerische Gesellschaft
für Psychoanalyse 136. — Wiener Psychoanalytische Vereinigung 138.
REFERATE
Aus den Grenzgebieten:
Maylan, Freuds tragischer Komplex (Fenichel) 141.
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur:
Frostig, Das schizophrene Denken (Fenichel) 146. — Weizsäcker, Über Rechts¬
neurosen (Gero) 147.
Aus der jKsychoanalytischen Literatur:
Coriat, The Oral Libido In Language Formation among Primitive Tribes (Fenichel) 148.
— Lorand, The Mantle Symbol (Fenichel) 148. — P o 11 e r, Freudian Concepts Among
Early American Indians (Fenichel) 148. — G 1 o v e r, The „Screening“ Function of Traumatic
Memories (Fenichel) 148. — Nunn, The Fatal Name: An Epigramm of Philodemus
(Fenichel) i 48 .
Das nächste Heft (Heft 2) erscheint im Mai
Abonnement 1930 (4 Hefte) Mark 28.-
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Dr. Sändor Rado, Berlin-Grunewald, Ilmenauer Str. 2
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