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Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XVII 1931 Heft 1"

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XVII. BAND 


I93t 


HEFT 1 


Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 

Offizielles Organ cler Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Herausgegeben von 

Sigm. Freud 

Unter Mitwirkung von 

Girindrashekhar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones Y. K. Yabe 

Kalkutta New York Wien London Tokio 

J. W. Kannabich G. Pardieminey J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin 

Moskau Paris Haag Basel 

redigiert von 

M. Eitingon, S. Ferenczi, Sandor Radö 


Berlin 


Budapest 


Berlin 


Eitingon ... Über neuere Methodenkritik an der 

Psychoanalyse 

Boehm.Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 

Fenichel . . . Spezialformen des Ödipuskomplexes 

Reich.Die charakterologisdie Überwindung 

des Ödipuskomplexes 
Psychoanalyse und Medizin in ihren 
Beziehungen zur Angstneurose 
Giftmord und Vergiftungswahn 
Ein Fall von sozialer Angst 
Psychogene Potenzstörungen 
Wandlungen der Traumsymbolik 


Christoffel 

Kielholz . . 
Hoffmann . 
Fessler . . . 
Hitschmann 


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INTERNATIONALE 
ZEITSCHRIFT FÜR 
PSYCHOANALYSE 

XVn. BAND 

1931 




a INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 





Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 

Offizielles Organ der 

Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 


Herausgegeben von 

Sigm. Freud 


Unter Mitwirkung von 


Girindrashekfiar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones 

Kalkutta New York Wien London 


J. W. Kannabidi 

Moskau 


G. Pardieminey J. H. W. van Ophuijsen 

Paris Haag 


Philipp Sarasin 
Basel 


Y. K. Yabe 

Tokio 


redigiert von 

M. Eitingon S. Ferenczi Sändor Radö 

Berlin Budapest Berlin 


XVII. Band 

1931 


Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

Wien 










ALLE RECHTE VORBEHALTEN 


Drude: Elbemühl, Wien, UL, Rüdengasse 11 












Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 

Herausgegeben von Sigm. Freud 
XVII. Band 1931 Heft 1 


Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 

(Einige Bemerkungen zur geistigen Lage der Gegenwart) 

Eröffnungsansprache auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 
in Dresden am 28. September 19s 0 

Von 

M. Eitingon 

Berlin 


Meine Damen und Herren! 

Da Sie in so freundlich großer Zahl unserer Einladung zur zweiten 
Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, die an alle tiefer 
an der Psychoanalyse Interessierten erging, gefolgt sind, darf ich annehmen, 
daß Ihnen das Allgemeine und Wesentliche an der Leistung Sigmund 
Freuds für die Medizin und darüber hinaus für die Kultur der Gegen¬ 
wart bekannt ist, und ich erlaube mir daher, in meinen kurzen ein¬ 
leitenden Worten nur die Frage .aufzuwerfen, woran es wohl liegen möge, 
daß das Charakter- und Wertbild der Psychoanalyse nun trotz des wirklich 
ungeheuren Interesses, das sie erregt hat und in wachsendem Maße auch 
weiter erregt, so außerordentlich noch in der Geschichte unserer Zeit zu 
schwanken scheint. Aber, möchte ich sofort fragen, schwankt denn dieses 
Bild der Psychoanalyse wirklich so sehr, oder ist nur der Teil unserer 
geistigen Welt so sehr bewegt, in den die Psychoanalyse ein getreten, in 
dem sie sich entwickelt hat, und an dessen eigener Entwicklung sie selbst 
repräsentativ und wirkend in so hervorragendstem Maße beteiligt ist? Ich 
glaube, daß letzteres die eigentliche Sachlage ist, und um das aufzuzeigen, 
müßte man das Bild der geistigen Lage der Gegenwart aufrollen, wenig¬ 
stens jener Provinzen, in denen der Mensch, die kreatürliche Person, seelisch 






6 


M. Eitingon 


leidet und geistig ringt, um die inneren Fesseln von Hemmung, Unver¬ 
mögen und Zwang umzuwandeln in jenes freier bewegliche Mehr, das zur 
Befriedigung und Leistung führt. 

Ich muß mir aber hier und jetzt natürlich versagen, diese geistige Lage 
Ihnen mit breitem Pinsel auszumalen, und muß mich begnügen, einige 
charakterisierende Streiflichter auf sie zu werfen, wofür mir die An¬ 
führung einiger Momente aus der Geschichte der Psychoanalyse der letzten 
zwanzig Jahre recht gute Gelegenheit geben dürfte. 


Ein seltsamer Zufall wollte es, daß wir, Referent und unser unverge߬ 
licher Kollege, Karl Abraham, vor genau 16 Jahren für die letzte Sep¬ 
temberwoche 1914 eine psychoanalytische Tagung nach Dresden einberufen 
wollten, den fünften Kongreß der damals noch jungen Internationalen 
Psychoanalytischen Vereinigung. Es kam anders. In jenen Septemberwochen 
waren die meisten Psychoanalytiker unter den Waffen. 

Vom Bau der psychoanalytischen Lehre war damals alles Wesentliche 
schon da; 18 bis 19 Jahre nach dem Erscheinen der „Studien über 
Hysterie“, 13 bis 14 Jahre nach dem der „Traumdeutung“, 8 bis 9 Jahre 
nach der Veröffentlichung der „Sexualtheorie“ und zur Zeit des Erschei¬ 
nens von „Totem und Tabu“ war die Psychoanalyse fast fertig da, so sehr 
in ihrer Ganzheit schon, nicht nur in ihrer Quintessenz fertig, die späteren 
Entwicklungen und die sie krönende Metapsychologie samt jenen Zinnen, 
von denen aus Freud solche Probleme, wie die Religion und die Kultur, 
als Ganzes betrachten konnte, als unerhört konsequente Folgerungen voll 
in sich enthaltend. So fertig war das Gebäude, so fertig und geschlossen 
und alles weitere an Entwicklungen in sich enthaltend war die Lehre 
schon damals, daß Freud, als in den letzten Jahren vor dem Kriege die 
zwei sozusagen einzig wirklich denkbaren Sezessionen in der Psychoanalyse, 
die von Adler und die von J u n g, eingetreten waren, die Auseinander¬ 
setzung mit beiden mit einem Satz beendete, den er auch heute nicht 
anders zu fassen brauchte, wenn eine weitere wesentliche Sezession nur 
irgendwie denkbar wäre, jenen Satz, der am Ende der im Jahre 1914 er¬ 
schienenen „Bemerkungen zur Geschichte der Psychoanalytischen Bewe¬ 
gung“ steht, — er könne nur „mit dem Wunsche schließen, daß das 
Schicksal allen eine bequeme Auffahrt bescheren möge, denen der Auf¬ 
enthalt in der Unterwelt der Psychoanalyse unbehaglich geworden ist. 
Den anderen möge es gestattet sein, ihre Arbeit in der Tiefe unbelästigt 
zu Ende zu führen“. 

Der Kreis der eigentlichen und vollen Anhänger Freuds war damals 
noch relativ klein, wenn auch über die meisten Länder des Kontinents 
verteilt, und sogar schon damals über Mitglieder in England und Nord- 




















Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 7 

Amerika verfügend. Die Reaktion der Außenwelt, besonders der unserer 
Fachgenossen, war aber noch so, daß ein sehr prominenter Psychiater sie 
auf Kongressen im Jahre 1910 und in ähnlicher Weise dann später im 
Jahre 1913 einfach als eine „psychische Epidemie unter den Ärzten“ 1 
bezeichnen konnte, die Anhänger als eine Sekte. Es sei keine Wissenschaft, 
sondern nur Erleuchtungssätze und Glaubensartikel, erzeugt bei den An¬ 
hängern durch die ungewöhnlich eindringliche Überzeugungskraft der 
Persönlichkeit Freuds — so viel gab man allerdings zu —, es wären 
keine therapeutischen Erfolge, häufig aber nur Schädigungen der Patienten, 
wie das bei solchen „Taumelbewegungen“ auch gar nicht anders sein könne. 
Der illustre Diagnostiker glaubte sich immun gegen die Ansteckungs¬ 
gefahr dieser Lehre, weil er ihr objektiv immer sehr ferne gestanden und 
sich nie auf die so verderbliche Prüfung der Behauptungen und Resultate 
eingelassen habe; übrigens sei die Epidemie, wie die von ihr ergriffene 
Sekte im Abnehmen, wenn nicht im Aussterben begriffen, und nur die 
Geschichte der Medizin würde die Hauptbereicherung davon tragen. Der 
voreilige Herr Nekrologist hat sicherlich selbst die Geschichte der Medizin 
mit dieser kuriosen Diagnose und Prognose in nachdenklich machender 
Weise wirklich bereichert. 

Ich muß gerade hier als Gegenstück eine andere Diagnose erwähnen, 
die genau 20 Jahre später, jetzt, vor einigen Wochen dieses Jahres, in 
Königsberg auf der vornehmsten wissenschaftlichen Tagung Deutschlands, 
dem Naturforscherkongreß, ebenfalls von einem Psychiater 2 gemacht 
worden ist. Freud hat kein Glück bei den Prominentesten unter den 
Psychiatern. Ich führe diese Äußerung hier an, weil sie wie ein 
phantastisch grotesker Anachronismus nur anmutet und vor 20 Jahren 
vielleicht noch verzeihlich gewesen wäre. Noch im Jahre 1930 findet also 
ein führender Lehrer der Psychiatrie in Deutschland, daß Freud, der 
die psychiatrische und psychologische Problematik, wie selbst die meisten 
Kritiker jetzt zugeben, in umstürzendster Weise verändert und in uner¬ 
hörtester Weise bereichert hat, in der Psychoanalyse etwas geschaffen habe, 
das weder eine Naturwissenschaft noch überhaupt irgend eine Wissen¬ 
schaft sei, auch keine Dichtung — diese würde der gemütstiefe Gegner 
Freuds anscheinend sogar in der Wissenschaft für fruchtbar halten. Das 
Pentagramm der Freud sehen Methodik macht diesem Kritiker so furcht¬ 
bar Pein, und er beruft sich auf eine Reihe von Gewährsmännern, 3 die 
sehr früh schon an dieser Methode der Psychoanalyse viel auszusetzen ge- 


1) Ho che: Medizinische Klinik, Nr. 26, 1910. 

2) Bumke. 

5) Kronfeld, v, Weizsäcker, Aller s. 








° M. Eitingon 

habt hätten. Er ist aber sehr unvorsichtig in der Wahl seiner kritischen 
Gewährsleute. Einer dieser genannten Kritiker hat inzwischen seine Stellung 
teilweise verändert, ein anderer steht dem Lager der Psychoanalyse sehr nahe, 
und ein dritter zieht aus dieser Methodenkritik der Psychoanalyse Konse¬ 
quenzen, von denen es uns unbekannt ist, ob sie der geschätzte und 
illustre Gegner Freuds selber akzeptieren würde. Aber nach diesem 
kleinen Satyrspiel der Geschichte unserer psychiatrischen Wissenschaft 
gehen wir wieder zu dem Moment zurück, wo der Krieg die Abhaltung 
unseres zu Dresden geplanten Kongresses verhindert hat. 

Das, Riesenereignis des Krieges hatte selbstverständlich alle analytische 
Arbeit unterbrochen, dennoch aber zeigte es sich, als nach seinem Ab- 
klingen die Analytiker sich wieder zusammenfanden, daß inzwischen die 
Ausbreitung unserer Ideen außerordentliche Fortschritte gemacht hat. Das 
ist wiederholt dargestellt worden. Eine Fülle von Zeichen sprach dafür; 
wir wollen einige herausgreifen. Nicht nur bei den jüngeren Psychiatern, 
im Gebiet der gesamten Medizin sah man auf einmal in rasch wach¬ 
sendem Maße deutlich den riesigen Einfluß des Freudschen Denkens 
und seiner Denkweise. Internisten, Gynäkologen und sogar Chirurgen sahen 
ihre so lang beschützten Gebiete psychologischen Gesichtspunkten und psycho¬ 
therapeutischen Überlegungen ausgesetzt. Gynäkologische Psychotherapien 
erschienen und in der neuesten Auflage eines solchen hohen Wahrzeichens 
der inneren Medizin, wie das von uns schon in unserer lugend geschätzte 
„Lehrbuch der inneren Medizin u von Mehring, ist die allgemeine Neu¬ 
rosenlehre eingedrungen, aus der Feder eines der Analyse nahe stehenden 
bedeutenden Neurologen, 1 welche die ganze Revolution des medizinischen 
Denkens, die von der Psychoanalyse erzeugt worden ist, deutlichst zeigt. 
Freud wird als Erzeuger dieses neuen ärztlichen Sehens und Denkens 
gefeiert, und sehr wesentliche Punkte der neurotischen Dynamik werden 
verständnisvollst dargestellt, und in aussichtsvollster Weise von analytisch 
vorgebildetem Plateau aus Ansatzpunkte zur Überwindung des Dualismus 
von Psyche und Soma gesucht. 

1922 erklärt ein Vertreter der jüngeren psychiatrischen Generation, der 
sich dann einige Jahre später im Verein mit einer Reihe von Fachgelehrten 
mit der „Krisis der Psychoanalyse“ und ihren Auswirkungen auf die Geistes¬ 
wissenschaften, die Naturwissenschaften und auf das Leben und Schaffen 
eingehendst auseinandergesetzt hat, 2 auf einer Wanderversammlung der 
südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte, an derselben Stelle, wo 
zwölf Jahre vorher der erwähnte Nekrologist seine Ansicht verkündet hatte. 


1) v. Weizsäcker. 

z'l Prinzhorn: Um die Persönlichkeit, S. 148. 


























Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 9 

daß „die Psychoanalyse nicht nur in der gesamten Medizin eine Mission 
hat, sondern daß sie wegen ihrer entschiedenen Richtung auf eine echte 
Psychologie der Person im vollen Sinne eine öffentliche Angelegenheit 
geworden sei“. 

Immer wachsenden und sich vertiefenden Einfluß nahmen die psycho¬ 
analytischen Ansichten und Erkenntnisse auf zahlreiche Gebiete der 
speziellen und angewandten Psychologie, wie auf die Kinder-, Völker- und 
Religionspsychologie. Die Sprachwissenschaft, die Literatur- und Kunst¬ 
geschichte wurden stark beeinflußt, die Ethnologie bekam reiche neue 
Impulse und Problemstellungen, ebenso die Soziologie. Was die Pädagogik 
ihr verdankt und neuerdings auch die Kriminalpsychologie, dürfte die 
Zusammensetzung der Zuhörerschaft unserer Tagung gut illustrieren. 
Das sind Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse, die ihre Anwendung 
auf die Therapie weit in den Schatten stellen könnten; ist doch viel mehr 
zu verhüten, als geheilt und gebessert werden kann. 

Ich werde mich heute absichtlich bei der Skizze von Äußerungen zur 
Psychoanalyse im wesentlichen auf solche von außerhalb unseres Kreises 
stehenden beschränken, auf Stimmen von Kritikern, die unter Einwänden 
den Wert der Analyse bejahen, oder bei manchmal hoher Wertschätzung 
ihr Bedingungen stellen, die sie nicht akzeptieren kann. Von den zuletzt 
erwähnten Jahren ab werden Versuche gemacht, die Psychoanalyse geistes¬ 
geschichtlich einzuordnen, 1 ihre Beziehungen zu den philosophischen und 
wissenschaftlichen Systemen der verschiedenen Zeiten aufzuzeigen, wobei 
sich, auch für diese Kritiker nicht überraschend, erweist, daß Zusammen¬ 
hänge mit sehr wesentlichen philosophischen und wissenschaftlichen 
Gedankengängen vorhanden sind. Man verwies auf die Ähnlichkeit zwischen 
dem Erosbegriff P 1 a t o s und dem der Libido der Psychoanalyse, die 
Beziehung zum leitenden Motiv des Denkens bei Sokrates und zu dessen 
Mäeutik, zu den Gedankengängen Epikurs und besonders der Stoa 
(Hedonismus und Sensualismus). Wesentliche Ähnlichkeiten zur Psycho¬ 
analyse klingen später in der Affektenlehre Spinozas an, wo auch der 
Verdrängungsbegriff zu finden ist, der deutlicher noch und fast dem 
Wortlaut nach dann bei Schopenhauer auftaucht, auch in seiner 
spezifisch pathogenen Bedeutung. Über die englischen Moralphilosophen 
(besonders auch Mandeville, der Autor der Bienenfabel) geht es dann 
zu den Aufklärungsphilosophen und Sensualisten in Frankreich und dem 
Deutschen Lichtenberg und über die deutschen Romantiker zu dem 
Arzt und Philosophen C. G. Carus. 


D Vgl. Prinzhorn: Krisis der Psychoanalyse, S. 15 u. ff. 







10 M. Eitingon 

Lassen wir selbst einmal einen solchen wohlwollenden Kritiker 1 die 
Attitüden schildern, welche die psychiatrisch-ärztliche Umwelt zur Psycho¬ 
analyse einnimmt, die Attitüde des Ignorierens, dann die des Bekämpfens 
aus objektiven, meist methodologischen Gründen, wobei man nur ganz 
vereinzeJt den ganzen Weg der Psychoanalyse in genügendem Ausmaß 
und mit genügender Sachkenntnis derselben verfolgt und nur allzu 
häufig statt methodologischer eine terminologische Kritik treibt. 

Andere wieder folgen, mit Interesse registrierend, der Arbeit der Psycho¬ 
analyse, in den eigenen Forschungsrichtungen dabei weiter verharrend, 
psychoanalytische Erfahrungsresultate, teilweise auch methodische Bestand¬ 
teile, mit diesen alten Forschungswegen und Inhalten vermischend, wieder 
andere, unter den Psychiatern besonders, folgen weiten Strecken der 
Psychoanalyse, ebensosehr als Forschungsrichtung wie als psycho¬ 
therapeutischer Methode oder einer praktischen Psychologie der Person. 
Von den opportunistischen Eklektikern verschiedenster Mischungsgrade 
und -arten können wir absehen. Vereinzelte in der Praxis stehende 
Neurologen von Rang sind nach langen Erfahrungen immer näher an die 
Psychoanalyse von der Observanz von uns Vereins-Psychoanalytikern 
herangekommen, versuchen aber noch „Tatsachen und Hypothesen“ 2 in 
der Psychoanalyse zu sondern, in einer teilweise ganz nützlichen, jedenfalls 
sehr skrupulösen Arbeit, und übersehen, daß gerade auch für die psycho¬ 
analytische Arbeit, die so viel Neuland entdeckt und exploriert hat, ein 
Wort des alten Pathologen Henle variiert werden muß, daß „der letzte Tag 
mancher Hypothese auch der Tag mancher letzten Beobachtung wäre“. 
Die wirkliche Würdigung psychoanalytischer Beobachtungen und ihrer 
Resultate, die ja im übrigen jetzt viel häufiger schon anzutreffen ist, hat auch 
unsere Denkmittel in ein günstigeres Licht gerückt. Der schon weiteren 
psychologischen Kreisen geläufig gewordene Schluß von dem Werk auf die 
Person sollte manche Kritiker davon abhalten, so leicht mit der Kritik der 
Freud sehen Denkweise zur Hand zu sein. Die Neigung, Resultate zu 
akzeptieren und die Methode anzuzweifeln, ist doch eine gar zu bequeme. Eine 
Leistung wie die von Freud, der man die Genialität nunmehr so leicht 
zubilligt, kann doch nicht mit so fragwürdigen Denkmitteln erreicht worden 
sein. Und man sollte uns schon das Recht bewilligen, müde zu sein, auf die 
so oft wiederholte Behauptung zu antworten, daß hier ein Riesenwurf 
einer genialen Intuition gelungen sei. Der bereits erwähnte Autor der 
„Krisis der Psychoanalyse“ 3 hat einmal sehr schön gesagt, daß das Niveau 

1) Prinzhorn: Um die Persönlichkeit, S. 148 bis 152. 

2) I. H. S chultz: Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psychiatrie, Bd. 126, 3. u. 4 . Heft. 

3) Prinzhorn: Um die Persönlichiteit, S. 148. 





























Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 11 

der Persönlichkeit die Qualität und den Wert psychologischer Erkenntnis 
bestimme, und nicht umgekehrt. Freud ist einmal auch von einem der 
ihm Nahestehenden als ein „Stoffdenker“ bezeichnet worden, wobei er 
allerdings in Parallele mit Goethe gesetzt worden ist. 1 Aber der Stoff¬ 
denker Freud hat ganze Kontinente von Erkenntnissen in Bewegung 
gesetzt. Er mag dabei wohl auch geglaubt haben, „er habe es richtig 
gemacht, denn er habe nie zu viel über das Denken gedacht“. Referent 
glaubt, daß Freud mit Recht den Goethe-Preis erhalten hat, und hier 
möchte ich, um Ihre Zeit nicht ungebührlich in Anspruch zu nehmen, 
auf eine Art von Methodenkritik kurz eingehen, die ich für besonders 
charakteristisch für das halte, was ich eingangs in meinen Ausführungen 
als geistige Lage unserer Zeit bezeichnet habe. Wir haben gesehen, in 
was für geistesgeschichtliche Zusammenhänge die Psychoanalyse mit mehr 
oder weniger Recht, jedenfalls in interessanter Weise, gebracht worden ist. 
Man hat der Psychoanalyse auch einige unmittelbarere Ahnen gegeben über 
Freud hinaus. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich hier noch 
einmal darauf hinweisen, mit welchem Recht man Genies der Psychologie, 
wie Dostoj ewski und Nietzsche, als Vorläufer der Psychoanalyse 
bezeichnet hat. Einige interessante Denker unter den Philosophen und 
Ärzten unter unseren Zeitgenossen haben neuerdings einen dritten zu der 
Galerie der Vorläufer Freuds hinzufügen wollen, was einige Tendenzen, 
die am Werk sind, besonders scharf beleuchtet. 

Zuvor aber eine Feststellung allgemeineren Charakters. Hatte man 
früher Freud vorgeworfen, daß er nicht wissenschaftlich sei, das hieß 
damals nicht naturwissenschaftlich, ohne zu berücksichtigen, daß er für ein 
neues Gebiet sich eben auch besonders möglichst adäquat wirksame 
Begriffe schaffen mußte, selbst um den Preis, daß sie zunächst teilweise 
metaphorisch waren, so lautet jetzt der Vorwurf anders, daß er nur 
naturwissenschaftlich denke, und wieder vergißt man etwas, daß Freud, 
wie am Anfang so auch jetzt, nichts anderes als wissenschaftlicher Psycho¬ 
loge bleiben will, Psychologe allerdings, wie es dem von ihm neu abge¬ 
steckten psychischen Gelände gemäß ist; von den geisteswissenschaftlich 
orientierten Seiten her kommt die neue Methodenkritik der Psychoanalyse. 
In einer Diskussion über die „Philosophischen Grenzfragen der Medizin“, 2 
in der Bemühung, den neuen Begriff der Medizin zu fassen, in dem welt¬ 
anschauliche Perspektiven eine vielleicht zu große Rolle spielen, wird im 


1) Wittels: Goethe u. Freud. Psychoanalytische Bewegung, II. J., Heft 5. 

2) Des Institutes für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, Verlag 
G. Thieme, Leipzig, 1930. 











12 M. Eitingon 

Vorübergehen der Psychoanalyse immer wieder der Vorwurf gemacht, 1 daß 
sie sich sehr „ungedanklich, sehr positivistisch und streng naturwissen¬ 
schaftlich gebärde“. Wir sind nach einer Zeit der Großblüte des psycho¬ 
logischen Interesses und psychologischer Forschung anscheinend auf dem 
Wege zu philosophischen Anthropologien, wie wir sie in den ersten Jahr¬ 
zehnten des 19. Jahrhunderts gehabt haben, und schon gibt es eine 
medizinische Anthropologie, 2 die sehr gedankenreich und philosophisch ist. 

In dem Pantheon dieser neuen philosophischen Medizin, das bereits in 
sympathischer Weise dabei skizziert ist, sind auch schon die Figuren der 
Wegweiser und Führer aufgestellt, und zwar sind es die Internisten Kraus 
und Krehl, auch der Chirurg Bier, und als der eigentliche Weg¬ 
bereiter Sigmund Freud. Kein Psychiater neben ihm! Mit der neuen 
Medizin werde auch eine neue Psychologie aufkommen, die sich ebenfalls 
von der Biologie zum Personalismus werde entwickeln müssen in einer 
Art von dialektischer Aufhebung, indem „durch eine Biologie des Indi¬ 
viduums hindurch eine Wissenschaft von der Person aufgerichtet werden 
würde“. 

Freud, der in dieses Pantheon also bereits aufgenommen ist, muß sich 
aber einige Zurechtweisungen gefallen lassen, ähnlich wie es in der 
erwähnten Diskussion über die „Philosophischen Grenzfragen der Medizin“ 
geschehen ist. Wenn man die von ihm gefundenen Tatsachen und aufge¬ 
wiesenen Zusammenhänge ebenso wie die von ihm postulierten Mechanis¬ 
men akzeptiert, wirft man ihm doch zugleich vor, daß das Positivismus, 
Psychologismus, Naturalismus sei. Wir aber antworten: Was soll die Psycho¬ 
analyse als Psychologie, der so vieles gelungen, anderes sein, besonders da 
sie ihr eigentliches Werk noch lange nicht als beendet bezeichnen kann? 
Sagt doch Freud noch in einer seiner letzten Schriften mit der ihm 
eigenen fordernden Strenge und Aufrichtigkeit gegen sich selbst bezüglich 
des letzten Motivs der Neurose z. B.: daß nach jahrzehntelangen ana¬ 
lytischen Bemühungen sich dies Problem vor uns erhebe, unangetastet, wie 
zu Anfang. 3 

Vom Standpunkt einer systematischen Charakterologie, die mehr oder 
weniger von L. Klages beeinflußt oder ganz nach dessen „Geist als 
Widersacher der Seele“ orientiert ist, wird der Psychoanalyse vorgeworfen, 
daß für sie Fragen, wie die Wert Verwirklichung z. B., keine Probleme 
seien, worauf allerdings von analytischer Seite auch schon geantwortet 

1) A. a. O. S. 25. 

2) O. Schwarz: Medizinische Anthropologie 1929, S. 359—63, und a. a. O. S. 
145 — 57 - 

3) S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst, S. 100. 


















Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 13 

worden ist, daß es noch verfrüht sei, eine Charakterologie aufzubauen, 
und daß wir nur zu einer „Charakterätiologie“ 1 Beiträge liefern können. 

In einem sehr feinen kleinen Buche über die „Wandlungen in der 
Auffassung und Deutung des Traumes von den Griechen bis zur Gegen¬ 
wart“, aus der Feder eines philosophisch sehr gebildeten Psychiaters, der 
zu unseren Kreisen gehört, kann man nach der Mahnung, positive Wissen¬ 
schaft nicht mehr mit positivistischer Weltanschauung zu verwechseln, 
folgendes lesen: „Eine Gesamtanschauung aus den Einzelperspektiven oder 
Aspekten (i. e. der Wissenschaft) vermag nur die Philosophie zu geben, 
und zwar in der Form der philosophischen Metaphysik. Gerade jeder neue 
Eroberungszug der positiven Wissenschaft in ein ihr bis dahin verschlos¬ 
senes Gebiet fordert gebieterisch eine Vertiefung oder Ergänzung ihrer 
Resultate durch die metaphysische Spekulation. Zwar werden wir nicht 
eine Metaphysik des Traumes fordern, das hieße unsere Auffassung zu 
pedantisch verstehen, aber wenn irgendwo, so treibt es uns hier, eine 
Metaphysik des Geistes zu postulieren und zu ahnen, und wohin muß 
das anders führen als zur Idee von Gott.“ 2 Daß es von da aus nicht mehr 
weit ist zu der Forderung des Primates religiöser Zielsetzungen im psycho¬ 
therapeutischen Tun des Arztes, ist ersichtlich. Eine fundamentale Wissen¬ 
schaft ist bereits postuliert und Umrissen, eine „christliche Psychologie“, 
welche den Biologismus Freuds überwinden soll, dieses böse Hindernis 
auf dem Wege zum „eigentlich wesenhaften Verständnis des Menschen . 3 
Der Arzt, der diese fundamentale Psychologie der Psychoanalyse gegenüber¬ 
stellt, ist unter den Gewährsmännern jenes Gegners Freuds auf der 
Königsberger Naturforschertagung zu finden, 4 und zur „Aufhebung und 
gleichsam Selbstwiderlegung des Psychoanalytischen“ soll eben der oben 
erwähnte dritte Ahnherr in der Galerie der Psychoanalyse eingeführt werden, 
der Däne Kierkegaard, ein faszinierend leidenschaftlich religiös ringen¬ 
der Geist und wirklich abgründiger Psychologe. Lassen Sie mich aus der 
Diskussion über diesen Philosophen, der, wie ich oben sagte, auf die besten 
philosophischen Kopfe im jetzigen Deutschland eine außerordentliche An¬ 
ziehungskraft und Wirkung ausübt, etwas zitieren, was diese Tendenz 
charakterisiert und für uns ein gewisses Nebeninteresse noch hat, da sie 
auch die Individualpsychologie mitbetrifft. „Von hier aus wird man ein 

1) H. Hart mann: Die Grundlagen der Psychoanalyse, 1927, S. 152. 

2) L. Binswanger, Verlag J. Springer, 1928, a. a. O. S. 109/10. 

5) R. Allers: Sigm. Freud und seine Lehre. Rhein.-Main. Volkszeitung v. 28. VIII. 
1 93 °* 

4) R. Allers: Das Wesen der sittlichen Person. Wesen und Erziehung des 
Charakters, 1929; ferner: Sigm. Freud und seine Lehre. Rhein.-Main. Volkszeitung, 
Frankfurt am Main v. 28. VIII. 1950. 









*4 M Eitingon 

Doppeltes sagen können, einmal, daß eine Individualpsychologie, die sich 
dem Religiösen versperrt oder es nur als Symbol für Gemeinschaft und 
Werte nimmt, der größeren Gewalt der Psychoanalyse erliegen muß, zumal 
wenn sie in einer reinen Abwehrstellung verharrt, d. h. die Existenz des 
Triebes wegleugnet in eine reine Form geistiger Selbstbehauptung. Es 
trägt sich dann im Schicksal der Theorie das bekannte Schicksal des Lebens 
aus: daß zwischen Eros und Agape, zwischen Trieb und Religion ein 
Entweder-Oder besteht, das die Mittelstandpunkte entweder zerfetzt oder 
karikiert, aber ebenso gilt das andere, insofern Individualpsychologie ihren 
„finalen Standpunkt so versteht, daß er den ehrlichen, wenn auch lang¬ 
samen Weg in den „finis ultimus* bedeutet, den Weg der Erklärung vom 
Geist her als zuletzt Erklärung vom geistigen Gott her, in dem Maße ist 
Individualpsychologie der heutige Wiederansatz dessen, was wir „christ¬ 
liche Psychologie“ nannten. Eine solche „radikal christliche Psychologie“ 
faßt jede Neurose als so oder so religiös bedingt, alle neurotischen Er¬ 
scheinungen als in der Tiefe religiöse Konflikte, deren Verkleidung das 
Krankheitsbild des Neurotikers ist.“ Ich entnehme dieses Zitat dem sehr auf¬ 
schlußreichen Ruche von E. Przywara, „Das Geheimnis Kierkegaards“. 1 
Nietzsches „Ist das noch deutsch?“ aus seinem „Contra Wagner“ fällt 
uns ein. Ist das noch Psychologie? fragen wir. 

Die Erwähnung der Individualpsychologie erinnert uns daran, wie viel 
an außer- und unpsychologischen, meist soziologischen Begriffen in die 
Psychotherapie und Psychologie hereingebracht worden ist; ähnliche Ver¬ 
suchungen treten auch an klarer analytisch Orientierte in Psychotherapie 
und Psychologie heran. 

Freud aber ist mit dem ihm eigenen radikalen wissenschaftlichen Monismus 
und der ihm eigenen Treue zu dem einmal eingeschlagenen Wege (alle 
seine geistige Elastizität und die Entwicklungseiner Gedanken während des 
Schaffens am Gedankenbau der Analyse berechtigen keineswegs, von einer 
Wende in seinen Gedanken zu sprechen, die mit der „Metapsychologie“, 
besonders dem „Ich und dem Es“, etwa eingetreten wäre), mit der ihm 
also eigenen Treue zu dem einmal eingeschlagenen Weg ist Freud in 
der Gesamtkonzeption der Psychoanalyse, sei es Wissenschaft oder Therapie, 
gegen alle ungerufenen und zu frühen Einmengungen von soziologischen 
Kategorien, Klassenkampfideologien, von Wertaxiomatik und religiös¬ 
theologischen Problemstellungen, auch gegen jene ihm vorgehaltene „Mensch¬ 
heitsproblematik“, 2 die das Maschen werk der Psychologie zu sprengen droht 


1) Przywara, a. a. O. S. 44. 

2) Edgar Michaelis: Die Menschheitsproblematik der Freudschen Psychoanalyse. 













































Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 15 

und zu schwer ist für das Gerüst, das wir noch nicht abtragen dürfen 
von dem noch unfertigen Bau unserer Wissenschaft. Freuds ganze 
erschütternde Selbstbescheidung und bewunderungswürdige Furchtlosigkeit 
spricht sich darin aus. Zwei Aussprüche von ihm fallen uns ein, wie der, daß 
es eine Illusion wäre, zu glauben, daß wir anderswoher Erkenntnisse be¬ 
kommen könnten, die uns die Wissenschaft nicht gibt, 1 und jenes andere, einem 
nicht aus dem Ohr schwindende Wort: „Wenn der Wanderer in der 
Dunkelheit singt, verleugnet er wohl seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum 
um nichts heller.“ 2 Nicht schöner aber glauben wir am Schluß das geistige 
Wesen Freuds wiedergeben zu können, als mit den den meisten von 
Ihnen wohl bekannten Worten aus der Urkunde, mit der der Goethe-Preis 
am 28. August dieses Jahres an Freud verliehen worden ist: 

„In streng naturwissenschaftlicher Methode, zugleich in kühner Deutung 
der von den Dichtern geprägten Gleichnisse hat Sigmund Freud einen 
Zugang zu den Triebkräften der Seele gebahnt und dadurch die Möglich¬ 
keit geschaffen. Entstehen und Aufbau der Kulturformen zu erkennen, 
manche Ihrer Krankheiten zu heilen. Die Psychoanalyse hat nicht nur die 
ärztliche Wissenschaft, sondern auch die Vorstellungswelt der Künstler und 
Seelsorger, der Geschichtsschreiber und Erzieher aufgewühlt und bereichert. 
Über die Gefahren der Selbstzergliederung und über alle Unterschiede 
geistiger Richtungen hinweg liefert Sigmund Freud die Grundlage einer 
erneuten Zusammenarbeit der Wissenschaften und eines besseren gegen¬ 
seitigen Verständnisses der Völker. Der durch die Freudsche Forschungs¬ 
weise geförderte mephistophelische Zug zum schonungslosen Zerreißen 
aller Schleier erscheint als ein unzertrennlicher Begleiter der faustischen 
Unersättlichkeit und Ehrfurcht vor den im Unbewußten schlummernden 
bildnerisch-schöpferischen Gewalten. Der große Gelehrte, Schriftsteller und 
Kämpfer Sigmund Freud hat durch die umwälzende Wirkung seines Werkes 
wie kaum ein anderer Lebender den Zeitgeist mitbestimmt.“ 


1) S. Freud: Zukunft einer Illusion. (Ges. Sehr., Bd. XI., 466.) 

2) S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst. (Ges. Sehr., Bd. XI., 33.) 















Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 1 

Vortrag auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 
in Dresden , am 28. September 1930 

Von 

Felix Boeh m 

Berlin 

Im Mittelpunkt der Entdeckungen, welche wir der psychoanalytischen 
Forschung verdanken, steht die Erkenntnis, daß jedes kleine Kind sexuelle 
Regungen kennt und ein Stadium inzestuöser Bindung an den anders¬ 
geschlechtlichen Elternteil durchmacht und daß die mit diesen inzestuösen 
Wünschen verknüpften Vorstellungen für die Dauer des Lebens im 
Unbewußten fortbestehen. Die Vertretung dieser Erkenntnisse ist sicher die 
Hauptursache für die Feindseligkeit, auf welche die Psychoanalyse anfänglich 
in der Kulturwelt gestoßen ist. Den Reaktionen des Individuums auf diese 
Wünsche der frühen Kindheit schreiben wir einen großen Einfluß auf 
seine Charakterbildung zu und leiten viele seiner Interessen und sein 
Verhalten im Leben in vielen Beziehungen von der Verarbeitung dieser 
unbewußten Wünsche ab. Wir sind davon überzeugt, daß jeder Mann in 
seinem Unbewußten lebenslang den Wunsch nach einer Vereinigung mit 
seiner Mutter nährt und die unbewußte Tendenz hat, alle Rivalen bei 
seiner Mutter, seine Brüder und insbesondere seinen Vater, zu schädigen 
und durch den Tod zu beseitigen. Wir entdecken in den von uns durch- 

1) Vergleiche folgende Arbeiten: Rank: Völkerpsychol. Parallelen zu den infant. 
Sexualtheorien. Zentralbl. f. Psychoan. II., J. 1912, S. 572 u. 425. Ders.: Das Inzest¬ 
motiv in Dichtung und Sage. Leipzig u. Wien, Franz Deuticke, 1912. Malinowski: 
Mutterrechtl. Familie u. Ödipuskomplex, Imago, X. Bd., 1924, S. 228. Ders.: Das 
Geschlechtsleben der Wilden. Leipzig u. Zürich, Grethlem & Co. 1930. R e i t z e n- 
stein: Der Kausalzusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr u. Empfängnis in 
Glaube u. Brauch der Natur- u. Kulturvölker. Zeitschrift f. Ethnologie, 41. Jahrg., 
1909, Heft V, S. 644. Lublinski: Eine myth. Urschicht vor dem Mythos. Archiv 
f. Relig.-Wissensch., vereint m. d. Beiträgen z. Relig.-Gemeinschaft in Stockholm. 
Treubner, Leipzig-Berlin 1923/24, 22. Bd., Heft 1/2. Diesen Arbeiten sind einzelne 
Sätze und Absätze, z. T. unverändert, entnommen, ohne daß die Autoren jedesmal 
besonders zitiert worden sind. Hier linden sich auch die genauen Quellenangaben. 






























1 


Zur Geschichte des Ödipuskomplexes YJ 

geführten psychoanalytischen Behandlungen die entsprechenden Wünsche 
bei der Frau und wenden in beiden Fallen den Terminus „Ödipuskomplex“ 
als zusammenfassende Bezeichnung für diese unbewußten Wünsche an. 
Das Wissen von diesen unbewußten Wünschen ist einer der Eckpfeiler 
der psychoanalytischen Lehre. 

Um die Bezeichnung „Ödipuskomplex“ verständlich zu machen, erzähle 
ich kurz die bekannte griechische Sage vom Ödipus nach der Fassung der 
Odyssee: Ödipus war der Sohn der Epikaste, welche er, ohne daß beide 
um ihr verwandtschaftliches Verhältnis wußten, heiratete, nachdem er 
seinen Vater erschlagen hatte. Als Epikaste den Sachverhalt erfuhr, tötete 
sie sich durch Erhängen, während Ödipus, von den Erinnyen gepeinigt, 
in Theben weiterherrschte, schwere Leiden erduldend. Diese Sage ist von 
einer Reihe griechischer Dramatiker um- und ausgebildet worden, von 
denen uns zwölf bekannt sind, so Äschylus, Sophokles, Euripides, Xenokles, 
Achaios u. a. Nach der Fassung der attischen Tragiker lautet sie folgender- 
maßen: Laios, dem König von Theben, und seiner Frau Jokaste wird 
geweissagt, daß der aus dieser Ehe entsprießende Sohn seinen Vater ermorden 
würde. Die Eltern lassen den Sohn mit durchstochenen Füßen durch einen 
Sklaven aussetzen; er wird zum König von Korinth gebracht und hier 
erzogen. Als er das Orakel nach seiner Herkunft befragt, antwortet ihm 
dasselbe, daß er seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten werde. 
Daraufhin Korinth verlassend, begegnet er auf dem Wege nach Theben 
in einem Engpaß seinem wirklichen Vater und erschlägt diesen im Streit; 
befreit darauf Theben von der Sphinx, erhält dafür den Thron mit der 
Hand der Witwe des Königs und zeugt mit ihr in glücklicher Ehe vier 
Kinder. Beim Ausbruch einer Pest in Theben verspricht das Orakel 
Befreiung, wenn der Urheber des Fluches entfernt werde. Der Seher 
Teiresias enthüllt das Geheimnis; Jokaste erhängt sich, Ödipus sticht sich 
beide Augen aus; wird vertrieben und nach langem Umherirren auf 
geheimnisvolle Weise von der Erde entrückt. Später wurde er heroisiert 
und seine Gebeine galten als Schutz gegen feindliche Einfälle. 

Dieser dramatische Stoff ist bis in die letzte Zeit hinein ununterbrochen 
immer wieder von Schriftstellern aufgegriffen und in mannigfachster Form 
bearbeitet worden. Ich erwähne Seneca und Julius Cäsar bei den 
Römern; es dürfte wohl bemerkenswert sein, daß Julius Cäsar sich erinnerte, 
in einem Traum mit seiner Mutter verkehrt zu haben. — Voltaires 
erstes Theaterstück, das er im Alter von 19 Jahren verfaßte, war der 
Ödipus; während Corneille kurze Zeit nach dem Tode seines Vaters 
einen „OEdipe verfaßte; zwanzig Jahre später erschien der Ödipus der 
englischen Dramatiker Dry den und Lee; des weiteren haben den Stoff 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII—1 2 









18 


Felix Boehm 


bearbeitet die Franzosen La Motte, La Tournelle, Robert G a r n i e r, 
Chenier; außerdem der Engländer Whitehead und von den Deutschen 
Hans Sachs („Jokaste“); Schiller hat das Thema der inzestuösen Liebe 
des Sohnes zur Mutter im „Don Carlos“ dargestellt. Auch von Hölderlin 
stammt eine Nachdichtung des Sophokleischen König Ödipus; dieser Dichter 
zeigt im Leben den Typus der Sohnes-Mutterliebe, indem er sich immer 
in Frauen anderer Männer verliebt. Unter deutschen Schriftstellern hat 
ferner Le s sing mit 19 Jahren das Thema in „Giangir, oder der 
verschmähte Thron“ variiert; mit am deutlichsten zeigt uns Hugo von 
Hofmannsthal den Inzest zwischen Mutter und Sohn in seinem Werk 
„Ödipus und die Sphinx“. 

Es kann wohl kaum jemand daran zweifeln, daß ein Stoff, welcher 
seit mehr als zweitausend Jahren immer wieder von Schriftstellern zu 
bewältigen versucht worden ist, ein Problem von höchster Bedeutung 
enthält; besonders wenn wir hören, daß der griechische Ödipus zahllose 
Übersetzungen durch Autoren der verschiedensten Völker und Zeiten 
erfahren hat. Wir glauben, daß sich in den einzelnen Bearbeitungen das 
individuelle seelische Erleben der einzelnen Künstler widerspiegelt. Wir 
ersehen das am besten aus einem Vergleich der Tagebücher Hebbels 
mit seinen dramatischen Entwürfen. Noch im Elternhause lebend, unter¬ 
nahm er mit 19 Jahren seinen ersten dramatischen Versuch mit dem 
Titel „Der Vatermord“: Fernando will sich seiner Spielschulden wegen 
erschießen, als ihm Graf Arendel in den Arm fällt und ihn rettet. Er 
hält ihn aber in seiner Sinnes Verwirrung für den Teufel und schießt ihn 
nieder. Da erscheint seine besorgte Mutter und enthüllt ihm, daß der 
Getötete sein Vater sei. 

Fernando : „Es ist ja nicht mein Vater, es ist ja mein Henker, der 
mich im Mutterleibe gebrandmarkt hat, ehe denn ich geworden war — 
es ist ja nicht mein Vater, es ist der Verführer meiner Mutter“ — 

Die Mutter ( Isabelle ) aber stürzt sich auf den Leichnam, verzweifelnd 
rufend: 

„Mensch — Sohn — Fernando, ich bitte dich, beschwöre dich, gib 
mir wieder, den ich so herzlich geliebt.“ 

Mit 21 Jahren trägt Hebbel in sein Tagebuch ein: „Ich träumte 
mich neulich ganz und gar in meine ängstliche Kindheit zurück, es war 
nichts zu essen da, und ich zitterte vor meinem Vater wie einst.“ 

Mit 25 Jahren verzeichnet er in seinem Tagebuch einen Traum: „Ich 
kann den Gedanken nicht los werden, daß ich bald sterben werde; im 
Traum sah ich über Nacht meinen längst verstorbenen Vater, den ich fast 
hoch nie im Traum sah.“ Zehn Tage später schreibt er: „Wie war nicht 































Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 19 

meine Kindheit finster und öde! Mein Vater haßte mich eigentlich, auch 
ich konnte ihn nicht lieben. 

Zahlreiche Gedanken, die Hebbel zur gelegentlichen Ausarbeitung 
in sein Tagebuch eintrug, handeln vom Haß gegen den Vater, z. ß.: „Ein 
schwächlicher Sohn, der seinen Vater zum Duell fordert, weil er vor der 
Ehe zuviel von seinem, des Sohnes, Eigentum vergeudet hat, d. h. weil 
er die Säfte, aus denen der Sohn werden sollte, verschwendet hat, ehe er 
ihn zeugte. “ 

Mit 53 Jahren notiert er folgenden Ausspruch: „Bei den ersten Menschen 
gab es keine Blutschande.“ 

Die Äußerungen Hebbels im Zusammenhang mit seinen dramatischen 
Entwürfen lassen wohl den Schluß zu, daß Hebbels Haß gegen seinen 
Vater auf eine ihm unbewußt gebliebene sexuelle Rivalität mit ihm 
zurückzu führen ist. 

Sollte der Haß des Sohnes gegen den Vater, von dem wir täglich 
immer wieder durch Zeitungsnotizen und Bühnenwerke, z. B. Hasenclevers 
„Der Sohn“, Kenntnis erhalten, allgemein auf die sexuelle Rivalität mit 
ihm zurückzuführen sein, so könnte er dort nicht auftreten, wo es keine 
sexuelle Rivalität zwischen Vater und Sohn gibt. In der Tat finden wir 
Beispiele dafür: Von den Persern berichtet uns Herodot: 1 „Vor seinem 
fünften Jahre aber kommt ein Knabe seinem Vater nicht vor die Augen, 
sondern hält sich bei den Weibern auf“, d. h. gerade in den unserer Auf¬ 
fassung nach für die spätere psychosexuelle Einstellung entscheidenden 
Jahren. Schiller-Tietz 2 berichtet: Es steht auch ganz außer Zweifel, 
daß bei den alten Persern keinerlei Verbote in bezug auf blutsverwandte 
Ehen bestanden. Nicht allein Brüder und Schwestern heirateten bei ihnen 
untereinander, selbst Vater und Tochter, Mutter und Sohn; ja, für besondere 
geistliche Ämter wurden geradezu Personen verlangt, die aus solchen Ver¬ 
bindungen hervorgegangen waren. Daß bei den Persern der Sohn nach 
dem Tode des Vaters die Mutter habe ehelichen können und daß dies ins¬ 
besondere bei den Magiern der Fall gewesen sei, erwähnen außer Arno- 
bius 3 noch Herodot 4 und verschiedene andere Historiker des Alter¬ 
tums. 5 An anderer Stelle 6 hebt Herodot besonders hervor, daß bei den 

1) I, c. 136. 

2) Folgen, Bedeutung und Wesen der Blutsverwandtschaft im Tier- und Pflanzen¬ 
leben. 2. Aufl. Berlin 1892, S. 8. 

3) Adv. gentes 1. 8. 

4 ) 5 . 13 * 

5 ) Diogenes Laertius prooem. 6; Plutarch: Artaxerxes c. 26; Ctesias: 
Pers. Ecl. 47; Agathias 2, 23; Heracl: Cum. fragm. 7 ed. Müller. 

6) I, c. 137. 









20 Felix Boehm 

Persern niemals einer seinen Vater umgebracht habe, sondern wenn je 
etwas dergleichen vorgefallen sei, so hätte es sich jedesmal bei genauer 
Untersuchung erwiesen, daß die Tat von untergeschobenen Kindern oder 
Bastarden ausgeführt worden war. Wir glauben, uns den Zusammenhang 
so erklären zu dürfen, daß die weitgehende sexuelle Freiheit des persischen 
Sohnes in den Beziehungen zu seiner Mutter seine infantile Haßeinstellung 
gegen den Vater ihrer erotischen Affektquellen beraubte. 

Es dürfte erlaubt sein, die Frage aufzuwerfen, ob dieser Zusammenhang 
verallgemeinert werden darf. D. h. ob allgemein dort, wo sich keine Eifer¬ 
sucht gegen den Vater herausbildet, auch keine Todeswünsche gegen ihn 
entstehen. Ich glaube, daß das so ist; — aber darüber später mehr. 

Wenden wir uns vorläufig zu unserm Ausgangspunkt zurück, zu dem 
Vorstellungskreise der alten Griechen. Ich sagte, das Ödipusdrama begegnete 
uns zum erstenmal in der Odyssee. Das ist nur z. T. richtig, denn Eifer¬ 
sucht und Haß des Sohnes gegen den Vater äußern sich nicht bloß in 
Todeswünschen gegen ihn, sondern auch in dem Wunsche, ihn als Rivalen 
durch Entmannung unschädlich zu machen; und mit einer Entmannung 
eines Vaters durch den Sohn beginnt die griechische Schöpfungsgeschichte: 
Gäa, die Erde, erzeugt aus sich selbst, „ohne die freundliche Liebe“ 1 als 
ihren Erstgeborenen, den Uranos, den Himmel; dieser zeugt mit seiner 
Mutter die Titanen, die Kyklopen und drei hundertarmige Riesen. Uranos 
aber haßt alle seine Söhne und verbirgt sie sofort nach der Geburt in der 
Erde. Gäa hingegen rächt sich mit Hilfe eines Sohnes, des jüngsten Titanen, 
Kronos; sie gibt ihm eine gewaltige Sichel in die Hand; als Uranos her¬ 
beikommt, um Gäa von neuem zu umarmen, packt ihn Kronos aus seinem 
Versteck und schneidet seinem Vater jählings das Zeugungsglied ab und 
wirft es ins Meer: aus dem von dem Glied verursachten Schaum entsteht 
Aphrodite. Die Erde empfängt die herabfallenden Blutstropfen und gebiert 
davon die Eiinnyen, die Giganten und melischen Nymphen. — Kronos 
gelangt auf den Thron, heiratet seine Schwester Rhea und herrscht während 
des goldenen Zeitalters der Griechen, bis er von seinem Sohne Zeus 
gestürzt wird. — Unseres Erachtens sind die Ödipuswünsche des Sohnes 
unzertrennbar mit Entmannungstendenzen gegen den Vater verbunden. 
Aber noch mehr können wir aus dem Schöpfungsmythos der Griechen 
lernen. Wir sehen hier den Inzest: Uranos zeugt mit seiner Mutter Kinder; 
wir bemerken aber auch, daß der Mythos der Griechen schon die Zeugung 
mit Hilfe des männlichen Gliedes kennt. Aber ist das auffallend? Sollte das 
nicht ein allgemeines Wissen seit Urbeginn der Menschheit sein? Ich komme 


1) Hesiod, Theog. v. 152. 





























Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 21 

bald auf diese Frage zurück. Einschalten möchte ich jedoch, daß wir erst 
durch die Forschungen des 1685 verstorbenen niederländischen Natur¬ 
forschers Swamerdam erfahren haben, daß zur Befruchtung der Kontakt 
von Ei und Samen nötig ist, und erst seit du Barry, 1850, wissen, daß 
die Fäden in das Ei eindringen müssen! Wir sehen jedenfalls im griechi¬ 
schen Mythos, daß der sexuelle Akt nicht unbedingt zur Zeugung not¬ 
wendig ist: Gäa gebiert ihren Sohn ohne vorausgegangenen Liebesakt, und 
die herabgefallenen Blutstropfen erzeugen auch Lebewesen. 

Vielleicht lohnt es sich, noch etwas bei den griechischen Mythen zu 
verweilen. Dem Inzest begegnen wir gleich darauf: Kronos erzeugt mit 
seiner Schwester Rhea eine Reihe von Söhnen, insbesondere Zeus. Zeus 
verschlingt seine älteste Gemahlin Melis, die Klugheit, weil er fürchtet, 
sie werde einen Sohn gebären, der ihm die mühsam errungene Welt¬ 
herrschaft wieder eni reißen werde, und gebiert nun aus seinem Haupte 
die Göttin der Weisheit, Pallas Athene. Trotzdem in den Mythen 
der Griechen die Zeugung von Kindern durch eine sexuelle Vereinigung 
bekannt ist, werden noch andere gleichberechtigte Möglichkeiten der Ent¬ 
stehung von Lebewesen ohne vorausgegangene geschlechtliche Vereinigung 
zugelassen. 

Auch in der Theogonie der Ägypter finden wir eine ähnliche Vor¬ 
stellung; in ägyptischen Texten heißt es vom Gott Ra: 1 „Es dachte der 
Gott in seinem Herzen andere Wesen zu machen, und er begattete sich 
selbst, und dann spie er aus, und was er ausspie, waren der Gott Schu und 
die Göttin Tefnet. In andern ägyptischen Göttersagen hingegen entstehen 
Kinder durch einen Sexualakt in einer Ehe von Göttern. Auch der Inzest 
kommt hier vor: Der Gott Amon heißt der Gemahl seiner Mutter Neith. Die¬ 
selbe Verquickung von Empfängnis ohne vorausgegangenen Sexualakt und 
Inzest finden wir in einer in dem indischen Archipel heimischen Sage: „Lu- 
minatu wird durch den Wind geschwängert und vermählt sich dann mit dem 
auf diese Weise geborenen Sohn. In einer Weltelternmythe aus Jorub 
(Afrika) finden wir den Inzest und eine infantile Geburtstheorie (durch 
Öffnen des Leibes der Mutter): Sohn und Tochter des Weltelternpaares 
heiraten einander und bekommen einen Sohn, der sich in seine Mutter 
verliebt. Da sie sich weigert seiner Leidenschaft zu willfahren, verfolgt und 
vergewaltigt er sie. Sie springt gleich darauf wieder auf die Füße und 
rennt jammernd von dannen. Der Sohn verfolgt sie, um sie zu beschwich¬ 
tigen, und als er sie endlich fast erreicht hat, stürzt sie rittlings zu 
zu Boden; ihr Körper beginnt zu schwellen, zwei Wasserströme quillen 


l'l Ermann, Die ägyptische Religion, S. 28. 











22 


Felix Boehm 


aus ihren Brüsten und der Körper zerberstet. Ihrem zerklüfteten Leib 
entspringen 15 Götter.“ 

Wir sehen hier einen weit über die alte Welt verbreiteten Mythenkreis, 
welcher dadurch charakterisiert ist, daß er verschiedene gemeinsame Ele¬ 
mente enthält: Das häufige Vorkommen des Inzestes und die Entstehung 
von Kindern durch einen Sexualakt sowohl als auch durch andere Zeu- 
gungs- und Gebärmöglichkeiten, wie sie Kinder in sogenannten kind¬ 
lichen Sexualtheorien ausbilden. Daß das Kind im Leibe der Mutter 
wächst, wird von den meisten Kindern mehr oder weniger erraten, besonders 
wenn sie die Möglichkeit haben, eine Schwangerschaft der Mutter zu beobach¬ 
ten; deshalb wird das Märchen vom Storch nie ganz gläubig aufgenommen. 
Aber wie kommt das Kind in den Leib der Mutter hinein und wie gelangt es 
hinaus? Das sind Fragen, welche das Kind nicht allein lösen kann; weshalb es 
in verschiedenen Phantasien nach einer Beantwortung dieser Frage sucht. Z. B. 
gelangt das Kind durch das Essen von bestimmten Dingen in den Körper, 
oder es entsteht durch Küsse. Zur Welt kommen die Kinder aus dem sich 
öffnenden Nabel oder aus dem Bauch, welcher aufgeschnitten werden 
muß oder zerplatzt. Die häufigste Theorie der Geburt ist die durch den 
After, weswegen Kinder in einem gewissen Aller allgemein glauben, daß 
Männer ebenso wie Frauen Kinder zur Welt bringen können. An diesen 
Theorien halten die Kinder sehr zähe fest und sträuben sich später gegen 
die Annahme des wahren Sachverhaltes von Zeugung und Geburt. Über¬ 
reste dieser infantilen Sexualtheorien dokumentieren sich später in ver¬ 
schiedenen neurotischen Symptomen. 

Wie können wir uns in den Mythen das gleichberechtigte Neben¬ 
einander der Entstehung von Lebewesen durch eine sexuelle Vereinigung 
und durch die verschiedensten anderen Möglichkeiten, wie sie Kinder in 
kindlichen Sexualtheorien ausbilden, erklären? Anerkannt ist heute in 
der Naturgeschichte der Satz: Die Ontogenesis (Ontogenie) oder die 
Entwicklung des Individuums ist eine kurze und schnelle, durch die Ge¬ 
setze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der Phylo- 
genesis (Phylogenie) oder der Entwicklung des zugehörigen Stammes, d. h. 
der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden. 
Und Goethe sagt: „Wenn auch die Welt im Ganzen fortschreitet, die 
Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum 
die Epochen der Weltkultur durchmachen.“ Nun wissen wir aus den von 
uns durchgeführten psychoanalytischen Behandlungen, daß Kinder wohl 
schon über den Befruchtungsvorgang orientiert sein können, aber, sich in 
ihrem neuerworbenen Wissen noch nicht sicher fühlend, doch noch an 
den früheren kindlichen Sexualtheorien festhalten. Wollten wir diese 












































Parallele ml. de» Griechen und ander» al.en Völkern durchführen, .0 
n™ wir »» dem Schluß koninre», daß das Wirren ve» der Entrtehnng 
“ » Leb.we.en durch Zeugung bei ihnen x. Zf. der Bildung ihr« Mythen 
„och kein .her, durchau. gefertigte. Geirtergnt re.» konnte, Ta.r.chhch 
wird un. berichtet, daß den Grieche» di« Entrt.hung durch Befruchtung 

bei vielen Tierarten und den Pflanzen fremd war. 

Da es aber eine frühe Epoche in der Entwicklung unserer Kinder 
rribt in der sie an alle möglichen Entstehungsarten von Lebewesen denken, 
aber noch nicht an den Sexualakt, so müßte sich bei genauerer Nach¬ 
forschung eine frühere mythologische Schicht finden lassen, in welcher 
Menschen ohne jeden Sexualakt entstehen. Und die ist uns tatsächlich 


In einem Mythos der nordamerikanischen Indianer heißt es: 1 Yiman- 
tuwinayi (eine Art Schöpfer oder Kulturheros) verrichtet seine Notdurft 
und sagt zu seinem Kot: „Werde ein Yurok.“ Der Yurok ging mit ihm, 
sie überholten Frauen, sagten ihnen, daß sie nichts zu essen hätten, und 
erhielten .Nahrung. So aßen sie allen Vorrat der Frauen weg. Er schuf 
in der gleichen Weise den Karok, Yurok, Shasta, Mad River, Southfork, 
New River und Redwood. — Im weiteren Verlauf der Erzählung fuhrt 
Yimantuwinayi wieder seinen Kot ab und schafft daraus einen Hund. 

In Boas’ Indianischen Sagen von der Nordwestküste Amerikas (S. 172) 
lesen wir: Omeatl wollte Speck für sich haben und ersann eine List. Er 
verwandelte sich in eine alte, einäugige Frau. Diese verrichtete ihre 
Notdurft und sprach zu ihren Exkrementen: „Ich gehe jetzt in das Dorf, 
rufet gleich: Hu, Hu.“ Dann humpelte sie fort. Als sie ins Dorf kam, 
rief sie laut: „Feinde kommen, Feinde, Feinde. Sie werden uns alle 
töten.“ Dann hörte man den Ruf „Hu, Hu“ wie von vielen Menschen, 
und alle fürchteten sich und liefen davon. 

Weiter heißt es bei Boas in demselben Werk (S. 159): Mink ver¬ 
richtet am Ufer seine Notdurft und verwandelt seine Exkremente in einen 
jungen Mann. Er befahl ihm, allen Leuten zu sagen, er sei Hostamites 
Kind, und Mink habe ihn geraubt. Um zu versuchen, ob jener ihn ver¬ 
standen habe, fragte er: „Wer bist du?“ Jener antwortete: „Ich bin aus 
Minks Exkrementen gemacht.“ 

In diesen drei Erzählungen entstehen Lebewesen aus menschlichem 
Kot, ohne daß vorher irgendeine Befruchtung nötig gewesen wäre. Ebenso 
können Lebewesen aus Urin entstehen, z. B.: 2 Silberfuchs, dem es endlich 


1) Goddard, Hupa Myths C. P. B. I. 123 f. 

2) Saphir Dixon Yana Texts. S. 67. C. P. D. IX. 










^Felix ßoehm 

gelungen war, Coyote zu töten, sucht alle Orte, an denen Coyote uriniert 
hat, auf und kratzt sie aus. Eine Stelle aber übersah er, und aus dieser 
entstand Coyote von neuem und erschien wieder. In einem andern Mythos 
hören wir von der Kraft des Speichels : 1 „Meine Großmutter“, sagt der 
aus dem Kampf allein Zurückgekehrte in der Nacht, „es ist möglich, daß 
ich morgen nicht zurückkomme. Wenn etwas passiert, wird der Bogen, 
der Köcher, und was mit ihm hängt, herunterfallen. Du wirst dann wissen, 
daß mich jemand getötet hat. Aber ein Kind wird aus dem Speichel ent¬ 
stehen, den ich zu Häupten des Bettes gelassen habe, ein kleiner Knabe 
wird aus der Erde hervorkommen.“ In der Mitte der vierten Nacht hört 
sie Geschrei vom Boden nahe Tsawandis Kamshus Schlafstelle: Ein Neu¬ 
geborenes schrie, rollte sich und strampelte wehklagend. Die alte Frau 
ging zu der Stelle, woher das Geschrei kam, und fand das Neugeborene 
mit Schmutz, Schlamm und Asche bedeckt . . . „Ich glaube nicht, daß 
jemand das Kind ins Haus brachte“, sagte die alte Frau zu sich selbst. 
„Tsawandi Kamshus sagte, daß ein Kind aus seinem Speichel entstehen 
würde. Es kann sein, daß es sein Geist ist, der zurückgekommen ist und 
wieder ein Kind wurde.“ 

Dieselbe Kraft kann, wie wir das aus dem griechischen Schöpfungs- 
mythos wissen, das Blut haben; ebenso Tränen, Schnupfen und das Sekret 
der Vagina. 

Z. B. ein Märchen in der Sammlung von Boas 2 lautet: Die Tochter 
wird von einem Waldgeist geraubt; ihre zehn Brüder, die sie befreien 
wollen, werden von ihm getötet. Die Mutter weint Tag und Nacht, ihre 
Tränen und ihr Schnupfen flössen auf die Erde. Eines Tages bemerkte sie, 
daß sich die Masse zu bewegen anfing und menschliche Gestalt annahm. 
Sie wickelte das kleine Wesen in Zederbast, es wurde ein Kind, sie nannte 
den Knaben Anthine. 

Wie kommen diese Körperausscheidungen des Menschen zu dieser Kraft? 
Als der primitive Mensch anfing, sich Gedanken über die Toten zu machen, 
kam ihm die Frage: „Was fehlt diesem Körper, dessen Wesen sich plötz¬ 
lich so geändert hat?“ „Exkremente, Urin und Speichel und wahrscheinlich 
auch Blut.“ Diese Dinge enthielten für sein Gefühl das Lebendige. Zu¬ 
erst besaßen alle Dinge, die aus dem Körper kamen, nur die Eigen¬ 
schaften des Lebendigen, sie konnten seine Gestalt annehmen, es bestand 
aber kein Unterschied unter ihnen, sie scheinen in diesen Fähigkeiten 
alle gleichwertig gewesen zu sein. In der folgerichtigen Weiterentwicklung 


1) Curtius, Creation Myths. P. 300. 

2) Boas S. 117. 

































































Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 25 

des primitiven Gedankens erhielten sie später die Fähigkeit, auch neues 
Leben zu geben. 

In dieser Urschicht der Mythologie gibt es noch keine Götter; in der 
Fortentwicklung der Mythologie beginnen Geister und Dämonen eine 
Rolle zu spielen; wirkliche Götter treten erst in einem viel späteren 
Mythenkreise auf; aber auch in dieser weiter fortgeschrittenen Schicht 
der Mythologie wird zuerst der Glaube an die Entstehung von neuen 
Lebewesen ganz ohne Befruchtung durchaus festgehalten, z. B. in der 
Vorstellung vom Kinderreich, wie es uns in den mexikanischen und ger¬ 
manischen Überlieferungen entgegentritt. Dieses Märchenland galt als Ur¬ 
heimat der Menschen und wird durch einen gebrochenen Baum, aus 
dessen Wunde Blut fließt, veranschaulicht. Sein Name kommt von temo = 
„herabkommen“, also = Haus des Herabkommens, des Geborenwerdens; 
und die Herabkommenden sind eben die Kinder. Und weil diese Seelen 
bei vielen Völkern aus Bäumen hervorgehend gedacht werden, so reprä¬ 
sentiert der gebrochene, der „ausfließende“ Baum das ganze Paradies, das 
ursprünglich ein großer Waldbestand war. Daher kommen auch die andern 
Namen, die dieses Wunderland führt, nämlich, „Ort, wo die Kinder ge¬ 
macht werden“ (tlacapil-cachiualoya), oder „Ort, wo die Blumen stehen“ 
(Xochitcalpan). Hier lebten denn auch, wie bei den Germanen, die Seelen 
der Verstorbenen, insbesondere der Krieger, die als Schmuckvögel, Kolibris, 
Schmetterlinge auftreten. Aus diesem Reich kommen auch die Götter. 
So heißt es in einem Gesänge des mexikanischen Maisgottes: 

„Geboren ist der Maisgott 
In dem Hause des Herabkommens, 

Aus dem Orte, wo die Bäume stehen. 

Geboren ist der Maisgott 

Aus dem Orte des Regens und Nebels. 

Wo die Kinder der Menschen gemacht werden, 

Aus dem Orte, wo man die Edelsteine fischt.“ 

Es ist nun sehr interessant zu sehen, wie sich in diese ursprünglichen 
Mythen, in denen neue Wesen ohne vorausgegangene Befruchtung aus 
Körperausscheidungen entstehen oder aus dem Paradies herabkommen, 
ganz langsam der Befruchtungsgedanke hineinschleicht, aber zuerst ganz 
ohne daß die Geschlechtsorgane in Funktion treten; wobei wir schon 
deutlich eine fortgeschrittene Stufe jenes Ringens der Menschen, in das 
Geheimnis der Zeugung einzudringen, sehen. 

Eine Sage des Kicevolkes in Guatamala erzählt : 1 „Man setzte den Kopf 


U P ohorilles, Das Popol Wuh 29—30 









26 Felix Boehm 

des getöteten Hun hun aphu zwischen Baumzweige am Anfang des Weges. 
Der Baum trug von da ab Früchte. Eine Jungfrau hört dies, geht das 
Wunder betrachten und staunt über die Früchte. Da spricht der Toten¬ 
kopf, der zwischen den Baumzweigen ist: „Nur Totenschädel sind diese 
runden Dinge unter den Zweigen des Baumes. Willst du sie?“ „Ich will 
sie“, antwortet die Jungfrau. „Gut, strecke das Ende deiner rechten Hand 
aus.“ Die Jungfrau tut es, und der Totenschädel läßt seinen Speichel auf 
die Hand fallen, der schnell verschwindet. Die Jungfrau aber wird schwanger 
und gebiert nach neun Monaten Zwillinge. 

Ein anderes Beispiel: 1 Zwischen zwei mythischen Gegenspielern wird 
die Frage erörtert, ob sie ewig leben oder sterben sollen. So beschlossen 
Noak’aua und Masmasala’miq zu sterben und dann als Kinder wieder ge¬ 
boren zu werden. Sie stiegen zum Himmel hinauf und verwandelten sich 
in Blutströpfchen, die der Wind zur Erde herabwehte. Im Schlafe atmeten 
Frauen diese ein, und infolgedessen gebaren alle Kinder. So kamen Noak’aua 
und Masmasala’miq wieder zu Erde zurück. 

Wir haben schon gehört, wie Zeus sich selber befruchtete, ehe er die 
Pallas Athene aus seinem Kopf gebar, und daß Ra sich selbst begattete, 
ehe er durch Ausspucken den Gott Schu und die Göttin Tefnet zur Welt 
brachte. Doch gehören diese Beispiele durchweg einem jüngeren Mythen¬ 
kreis an und nicht mehr zur Urschicht der Mythologie; die Urschicht 
der Mythologie kennt keine Befruchtung und auch keine Götter. Diese 
Entwicklung in der Mythologie entspricht durchaus der Entwicklung des Vor¬ 
stellungskreises des Kindes unserer Kulturwelt. Auch unsere Kinder glauben 
in den ersten Lebensjahren, in denen der Vater als Erzeuger und als ge¬ 
fürchtete Autorität unbekannt ist, durch den Akt der Defäkation Kinder 
zur Welt bringen zu können. In unseren Träumen offenbart sich gele¬ 
gentlich, wie Abraham 2 uns gezeigt hat, die schöpferische Kraft von 
Kot und Urin. 

Da sich alle frühen Entwicklungsstadien unserer Kinder in Gebräuchen 
und Anschauungen von heute lebenden Primitiven wiederfinden, müßte 
man den Nachweis erbringen können, daß heute noch bei einzelnen 
Stämmen von Primitiven keine Kenntnis von der Bedeutung des Koitus 
für die Fortpflanzung des Menschen zu finden ist. Und das ist nicht schwer. 
Fast ganz allgemein herrscht bei den Völkern, bei denen die soziale 
Institution existiert, welche Bachofen „Mutterrecht“ genannt hat und 
welche von Ethnologen jetzt treffender „Onkelrecht“ genannt wird, eine 

1) Boas, S. 214. 

2) Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge in Traum und Neurose; 
IZfPsA, VI, 1920, S. 64. 






























































Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 


27 


vollständige Unkenntnis über den Zusammenhang zwischen sexueller Ver¬ 
einigung und Empfängnis. Das Mutterrecht herrscht heute noch im größten 
Teil" von Zentralafrika, einem Teil Ostafrikas und in Teilen von Austra¬ 
lien allerdings auch noch dort, wo der eben erwähnte Zusammenhang 
schon bekannt ist. In der mutterrechtlichen Familie hat der Onkel, d. h. 
der Bruder der Mutter, die Rechte, Pflichten und die Autorität, welche bei 
uns der Vater in der Familie hat; er hat auch für seine Schwestern zu 
sorgen, und sein Hab und Gut geht bei seinem Tode nicht auf seine 
eigenen Kinder über, — denn da er nicht befruchten kann, hat er keine, 
— sondern auf die Kinder seiner Schwester, welche mit ihm aus dem 
Leib der gemeinsamen Mutter geboren worden ist. Die Person, welche 
wir Vater nennen, ist bei diesen Stämmen nur der Geliebte der Frau, 
mit der er zusammenlebt, und der Spielgenosse und Freund der Kinder 
dieser Frau, welche, ich betone es nochmals, ganz ohne sein Zutun zur 
Welt gekommen sind. — Am gründlichsten studiert und am ausführlichsten 
beschrieben sind diese Verhältnisse von Bronislaw Malinowski in seinem 
soeben in ’ deutscher Sprache erschienenen Werk „Das Geschlechtsleben 
der Wilden in Nordwest-Melanesien“. Hören wir, wie die Melanesier in 
Neu-Guinea sich die Befruchtung vorstellen: Nach dem Tode wandert der 
Geist nach Tuma, der Insel der Toten. Hier führt er ein ewiges Leben 
und kann sich ständig verjüngen. Wenn er der ständigen Verjüngung 
müde wird, so möchte er wieder auf die Erde; dann springt er im Alter 
zuiück und wird ein kleines, noch ungeborenes Kind, welches auf dem 
Wasser umhertreibt, sich ev. durch Schreien bemerkbar macht. Diese ver¬ 
jüngten Geister, diese kleinen präinkarnierten Kinder oder Geisterbabys 
sind die einzige Quelle, aus der die Menschheit ihre neuen Vorräte an 
Leben bezieht. Ein noch ungeborenes Kind findet seinen Weg zurück zu 
den Trobriand-Inseln in Neu-Guinea und in den Schoß irgendeiner Frau, 
die jedoch demselben Clan oder Unterclan angehört, wie das Geisterkind 
selbst. Jedes auf dieser Welt geborene Kind ist zuerst in Tuma durch 
die Verwandlung eines Geistes ins Dasein getreten, und der einzige Grund 
und die wirkliche Ursache jeder Geburt ist in der Tätigkeit der Geister 
zu suchen. Das Geisterkind kann nur durch die Vermittlung eines andern, 
älteren Geistes in die Mutter gelangen. Dieser nimmt es, legt es auf den 
Kopf der Mutter, in das Haar derselben; sie bekommt Kopfweh, erbricht 
und hat Schmerzen im Leib; Blut strömt aus ihrem Körper in den Kopf, 
und auf dem Blutstrom rutscht das Kind allmählich nach unten, bis es 
sich im Schoß festsetzt. Das Blut hilft den Körper des Kindes aufbauen, 
es ernährt ihn; aus diesem Grunde versiegt bei einer Schwangeren der 
Monatsfluß. Jetzt ist sie wirklich schwanger und sagt: „Schon hat es 









28 


Felix Boehm 


(das Kind) mich gefunden; schon haben sie (d. h. die Geister) mir das 
Kind gebracht.“ Häufig kommt es vor, daß eine Frau ihrem Manne er¬ 
zählt, welcher Geist ihr das Kind gebracht hat, und die Überlieferung 
bewahrt dann die Geschichte von diesem Geisterpaten. — Nach einer andern 
Version kann das auf dem Wasser umhertreibende Geisterkind auch per 
vaginam oder durch die Haut des Leibes der Mutter hineinschlüpfen, 
während sie badet, wobei ein Geist eines mutterseitigen Verwandten der 
Frau im Traume erscheint. Diese Vorstellung deckt sich mit dem Wissen, 
daß eine Jungfrau nicht konzipieren kann, nämlich, weil ihre Vagina noch 
nicht geöffnet ist. — Der Gedanke an eine Konzeption durch eine sexuelle 
Vereinigung ist so fernliegend, daß ein Trobriander, der längere Zeit von 
zu Hause fern war, hocherfreut ist, wenn ihm seine Frau in der Zwischen¬ 
zeit ein oder zwei Kinder geboren hat, und dieselben freudig bewegt als 
seine eigenen „in seine Arme nimmt“. Dies ist seine soziale Aufgabe, 
er muß das Kind beschützen, für dasselbe sorgen, mit ihm spielen. 

Wenn ein Trobriander zu einem Mädchen Beziehungen hat und sie 
konzipiert, so verstößt er es, weil es unschicklich für ein unverheiratetes 
Mädchen ist, ein Kind zu bekommen, aber nicht etwa, weil er auf die 
Idee käme, seine Geliebte könnte von ihm oder einem anderen Manne 
konzipiert haben. Würde er annehmen, das Mädchen könnte von ihm 
empfangen haben, so würde er es wahrscheinlich voller Freuden heiraten. 
— Das Sperma spielt im Verkehr nur dieselbe Rolle, wie das Sekret der 
Frau, es dient dazu, die Lust zu erhöhen. — Verhütungsmittel irgend¬ 
welcher Art sind unbekannt, wie auch die leiseste Vorstellung, daß es 
so etwas geben könnte. 

Dieses Unwissen prägt sich im ganzen Verhalten des Südseeinsulaners 
aus: für ihn sind seine Haustiere, d. h. seine Schweine, die wertvollsten 
und höchstgeschätzten Mitglieder des Haushaltes. Und wenn seine echte, 
ernsthafte Überzeugung an irgendeiner Stelle klar hervortritt, dann in der 
Sorge um das Wohlergehen und die Qualität seiner Haustiere. Auf 
besonders gute, starke und gesunde Schweine, auf Rasseschweine, sind 
sie besonders erpicht und unterscheiden das geschätzte, zahme Dorfschwein 
vom verachteten Buschschwein. Ein Trobriander gibt zehn seiner eigenen 
Dorfschweine für ein eingeführtes hochgezüchtetes europäisches. Und doch 
lassen sie ihre zahmen weiblichen Schweine ruhig am Saume des Dorfes 
und im Busch herumschweifen, wo sie sich ungehindert mit den 
männlichen Buschschweinen paaren können; andrerseits kastrieren sie alle 
männlichen Schweine im Dorfe, um die Qualität des Fleisches zu erhöhen, 
ohne zu wissen, daß eine Befruchtung zur Fortpflanzung notwendig ist. 
So stammt natürlich die ganze Nachkommenschaft in Wahrheit von den 












































wilden Ebern im Busch, wodurch die Rasse natürlich immer wieder ver- 
1 lechtert wird* — doch von diesem Zusammenhang haben die Ein¬ 
geborenen nicht die geringste Ahnung. . . ... 

Die völlige Unkenntnis von der Bedeutung der Kohabitation für die 
Konzeption zeigt sich auch bei den australischen Siämmen, bei welchen 
die sogenannte „Mikaoperation“, die Subzision des Penis, üblich ist. Da 
nämlich die Harnröhre an der Unterseite ausgeschlitzt wird, erfolgt beim 
Koitus die Ejakulation außerhalb der Vagina, so daß eine Befruchtung nur 
in seltenen Fällen eintritt. Man wollte darin eine Art von Malthusianis¬ 
mus erblicken, daß man nämlich eine zu große Kinderzahl zu beschränken 
wünsche und so gewußt haben müsse, daß die Ejakulation die Ursache 
der Schwangerschaft sei. Ganz abgesehen davon, daß Naturvölker eine 
Beschränkung der Kinderzahl meist nicht wünschen, haben die Forschungs¬ 
resultate von Klaatsch dieses Geheimnis gelüftet. Die Mikaoperation 
dient nämlich einer Art von Homosexualität, wie Klaatsch von einigen 
Missionaren bei den Niol-Niol an der Nordwestküste Australiens erfuhr. 
Der Mann mit dem subinzisierten Penis ist nämlich dem noch nicht 
operierten Knaben gegenüber das Weib, und dieser verrichtet in die 
künstliche Öffnung den Koitus. Dr. Roth teilt in einem vom 18. De¬ 
zember 1906 an Klaatsch datierten Brief mit, daß bei den Boulia (in 
Queensland) die operierten Leute „Besitzer der Vulva“ heißen. Da nun 
die erwachsenen Männer der passive Teil sind, so darf man annehmen, 
daß die Operation mehr dem Zwecke einer Art Wollust dient und weniger 
der Abhilfe des Frauenmangels für die jungen Leute. Durch diese 
Entdeckung wird die Operation aber zu einem der besten Beweise für 
unsere Ansicht. Die Australier, bei denen zumeist wirklicher Frauenmangel 
herrscht und denen Kinder sehr erwünscht sind, lassen die Ejakulation 
des Vergnügens halber verderben, weil sie eben nicht wissen, daß sie die 
Befruchtung des Weibes verursacht. 

Es kann die Frage auftauchen, ob man bei den Südseeinsulanern ein 
unbewußtes Wissen um die, wie uns nach einer vieltausendjährigen Kultur¬ 
entwicklung vielleicht scheint, selbstverständlichsten Dinge des Geschlechts¬ 
lebens voraussetzen darf. Es kann aber nach Malinowskis mehr¬ 
jährigen eingehenden Forschungen keinem Zweifel unterliegen, daß wir es 
hier nicht mit einer Verdrängung von etwas einmal Gewußtem zu tun 
haben. Allerdings sieht man deutlich die Tendenz, sich dieses Wissen der 
Europäer nicht aneignen zu wollen, da dasselbe ihr ganzes soziales Gefüge 
umstoßen würde, — und der Primitive ist im allgemeinen sehr konser¬ 
vativ. Gegen die Argumente der Europäer, insbesondere der Missionare, 
welche ihnen ihre Dogmen von Gottvater und Gottsohn aufzwingen 







30 


Felix Boehm 


wollen, welche in einer vaterlosen Gesellschaft sinnlos sind, — haben 
sie eine Reihe gewichtiger Gegenargumente anzuführen; z. B. daß der 
ungezwungene Geschlechtsverkehr von früher Kindheit an zwischen Knaben 
und Mädchen gepflogen wird, und trotzdem (aus uns noch undurch¬ 
sichtigen Gründen) sehr selten uneheliche Kinder zur Welt kommen; daß 
es sehr viele verheiratete Frauen gibt, welche jahrelang Verkehr haben 
und doch nie konzipieren; daß es Frauen gibt, die mit einem weißen 
Händler nach dem andern leben, ohne je Kinder zu bekommen, usw. 

Daß die Notwendigkeit der vorhergegangenen Eröffnung der Vagina für 
eine Konzeption durchaus bekannt ist, aber nicht der Verkehr, geht auch 
aus den Mythen der Melanesier hervor, und in den IVlythcn zeigt sich ja unserer 
Auffassung nach die innerste Überzeugung eines Volkes am unverhohlensten. 
So erzählt eine Sage von der Insel Vakuta, wie die Urahnin eines Unter- 
Clans ihren Leib dem fallenden Regen darbot und so mechanisch ihre 
Jungfräulichkeit verlor. In der wichtigsten Trobriandischen Mythe lebt 
eine Frau namens Mitigis oder Bolutukwa, die Mutter des sagenhaften 
Helden Tudava, ganz allein in einer Grotte am Meeresufer. Eines Tages 
liegt sie in ihrem Felsgemach unter einem tropfenden Stalaktiten und 
schläft ein. Die Wassertropfen durchbohren ihre Vagina und rauben ihr 
so die Jungfräulichkeit. In anderen Sagen vom Ursprung der Menschen 
wird nicht erwähnt, auf welche Weise das Hymen durchbohrt wurde, 
doch oft wird ausdrücklich festgestellt, daß die Ahnin ohne Mann war 
(und deshalb keinen Geschlechtsverkehr haben konnte). 

Nehmen wir ein anderes Gebiet der Mythenbildung — die sagenhaften 
Berichte von jetzt noch bestehenden Ländern weit im Norden —, so 
stoßen wir auf das Wunderland Kaytalugi, das ausschließlich von geschlechts¬ 
tollen Frauen bevölkert ist. So brutal und schamlos sind sie, daß ihre 
Exzesse jeden Mann töten, den ein seltener Zufall an ihre Küsten führt. 
Selbst ihre eigenen männlichen Kinder erreichen nie das Alter der Reife, 
denn sie werden vorher durch geschlechtlichen Mißbrauch langsam zu 
Tode gequält. Doch diese Frauen sind sehr fruchtbar und gebären viele 
Kinder, männliche und weibliche. 

Und wie gestaltet sich nun das Verhältnis zwischen Vater und Sohn 
in dieser vaterlosen Gesellschaft? Vergegenwärtigen wir uns die Stellung 
des Vaters und Ernährers in unserer Gesellschaft, insbesondere in sozial 
etwas niedriger stehenden Schichten, besonders vor der Einführung der 
gesetzlichen Gütertrennung zwischen Mann und Frau. Vom Vater, dem 
Hausherrn, seiner Laune, seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, hing das 
körperliche und seelische Wohl und Wehe von Frau und Kindern ab; 
auf ihn, seine Stimmungen, begründeten und unbegründeten Bedürfnisse 





















































Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 


31 


mußte die Familie Rücksicht nehmen. Er konnte die Glieder seiner 
Familie nach Belieben gut stellen oder unterjochen, auch verstoßen oder 
ihnen nach Gutdünken beliebige Teile seines Besitzstandes vererben. Frau 
und Kinder hatten sich um sein Wohlwollen zu bemühen, für sein Wohl 
befinden und seine gute Laune zu sorgen und ihn als Autorität, Besitzer 
und Erwerber aller weltlichen Dinge zu respektieren. Außerhalb der Familie, 
in der Schule, im Geschäft, bei der frühzeitigen manuellen Arbeit, zu der 
das Bauernkind oft angehalten wird, ist es der Vater persönlich oder seine 
Autorität indirekt oder sein Stellvertreter, der die Gewalt ausübt; in den 
höheren Gesellschaftsklassen findet in dieser Periode der höchst bedeutsame 
Prozeß statt, durch den sich der Begriff der Vaterautorität und des Vater¬ 
ideals bewußt bildet. Das Kind beginnt nun zu verstehen, was es früher 
gefühlt und erraten hat, nämlich die festgefügte Autorität des Vaters als 
Familienoberhaupt und seine ökonomische Bedeutung. Die Vorstellung von 
seiner idealen Unfehlbarkeit, Klugheit, Gerechtigkeit und Macht wird 
gewöhnlich in verschiedenen Abstufungen und auf verschiedene Art dem 
Kinde von der Mutter oder Pflegerin bei der religiösen oder moralischen 
Erziehung eingeimpft. Nun ist die Rolle eines Ideals niemals leicht, und 
sie in der Intimität des täglichen Lebens festzuhalten, ist, besonders für 
jemand, dessen schlechte Laune und Schrullen nicht durch Disziplin 
unterdrückt werden, tatsächlich eine schwere Aufgabe. So beginnt das 
Vaterideal, kaum gebildet, auch schon der Zerstörung anheimzufallen. Das 
Kind fühlt anfänglich nur ein unbestimmtes Mißbehagen bei der üblen 
Laune oder Schwäche seines Vaters, Angst vor seinem Zorn, ein dumpfes 
Gefühl von Ungerechtigkeit und vielleicht eine gewisse Scham bei einem 
wirklich schlimmen Ausbruch des Vaters. Bald ist die typische Vater¬ 
einstellung fertig, voll von gegensätzlichen Affekten, eine Mischung von 
Ehrfuicht, Verachtung, Liebe und Abneigung, Zärtlichkeit und Furcht. 

Ganz anders in der vaterlosen Gesellschaft. Das Verhalten der Frau 
ihrem Gatten gegenüber ist durchaus nicht unterwürfig. Sie hat ihren 
eigenen Besitz und eine eigene private und öffentliche Einflußsphäre. Ob¬ 
gleich die Frau bei ihrer Verheiratung in das Dorf des Mannes zieht, hat 
nicht er im wesentlichen für ihr leibliches Wohlergehen zu sorgen, sondern 
ihr Bruder, welcher ihr gegenüber aber infolge eines strengen Tabus 
zwischen Bruder und Schwester keine Autorität besitzt. Der Mann spielt 
im Hause seiner Frau, um mit unseren Begriffen zu reden, nur die Rolle 
eines gerne gesehenen und respektierten Freundes oder Gastes, der sich 
liebevoll und kameradschaftlich der Kinder seiner Freundin annimmt. Es 
kommt nicht vor, daß die Kinder ihre Mutter durch den Vater ein¬ 
geschüchtert und unterdrückt sehen. Er spielt nur so lange eine Rolle, 







32 


Felix Boehm 


als die Kinder eines älteren Gespielen bedürfen. In den Beziehungen der 
Sohne zum Freunde der Mutter lassen sich keine Ansätze der uns bekannten 
Ambivalenz finden und auch umgekehrt nicht. Die Mutter darf den Sohn 
so viele Jahre stillen, als es ihr beliebt, entwöhnt ihn nur ganz allmäh¬ 
lich, sie darf ihre Zärtlichkeit auf ihn überströmen lassen, bis er die 
Familiengemeinschaft verläßt und ungefähr in dem Alter, in welchem bei 
uns die Kinder in die Schule kommen, mit seinen Gespielen und 
Gespielinnen weit außerhalb des Dorfes umherzustreifen beginnt. 

Alle Kinder dürfen sich nach Gutdünken genital betätigen, ohne je auf 
ein Verbot zu stoßen; sogenannte „Unanständigkeiten“, wie sie von unseren 
Kindern heimlich betrieben werden, z. B. anale Spielereien, gegenseitiger 
Exhibitionismus usw., kommen nicht vor. Der Vater bleibt auch in dieser 
Periode wie früher ein Freund der Kinder, der ihnen hilft und sie lehrt, 
was ihnen zusagt und soweit es ihnen zusagt. Allerdings nimmt das 
nteresse der Kinder für ihn zu dieser Zeit ab und sie bevorzugen im 
allgemeinen ihre kleinen Kameraden. Aber immer ist auch jetzt der Freund 
der Mutter ihr hilfreicher Ratgeber, halb Spielgefährte, halb Beschützer. 

Erst spater tritt in das Leben des Knaben das Prinzip der Stammes- 
vorsc riften und der Autorität, der Unterwerfung unter einen Zwang und 
unter das Verbot gewisser wünschenswerter Dinge. Aber diese Vorschriften 
und dieser Zwang werden durch eine ganz andere Person als durch den 
Vater verkörpert, nämlich durch den in einem anderen Dorfe lebenden 
und zu einem anderen Clan gehörigen Bruder der Mutter, das männliche 
Familienoberhaupt der matriarchalen Gesellschaft. Er ist es, der die Potestas 
tatsächlich ausübt und ausgiebigen Gebrauch davon macht. Er unterweist 
die Knaben in den Geschicklichkeiten und Tugenden der Männer, pflanzt 
in sie die Ideale des Clans und lehrt sie die Tugenden der Ahnen ver¬ 
ehren; er wird respektiert und gefürchtet; er ist das Ideal des heran- 
wachsenden Jüngling, und er wird später einmal beerbt. Ihm gegenüber 
entwickelt sich die für unsere Kulturkreise typische Sohnes-Vater-Ambi¬ 
valenz; an Stelle des uns bekannten Vaterkomplexes entwickelt sich ein 
ausgesprochener Onkelkomplex. 

Sowohl im sozialen Leben als auch im Folklore unserer Primitiven 
äußern sich ihre spezifischen Verdrängungen in einer Art, die nicht mi߬ 
verstanden werden kann. Wann immer die Leidenschaften, - die für 
gewöhnlich durch strenge Tabus, Bräuche und gesetzliche Strafen in 
überlieferten Grenzen gehalten werden, - in Verbrechen, Perversionen 
oder Verirrungen oder auch einem jener dramatischen Vorfälle durch¬ 
brechen, die von Zeit zu Zeit das Leben einer primitiven Gemeinschaft 
erschüttern, dann enthüllen diese Leidenschaften den Haß gegen den 










































































Zur Gesdiidite des Ödipuskomplexes 33 

Bruder der Mutter oder Inzestwünsche gegen die Schwester, die, wie 
bereits gesagt, strengstens tabu ist. Auch das Folklore dieser Melanesier 
spiegelt den matrilinearen Komplex wider. Die Prüfung von Mythos, 
Märchen und Legende zeigt uns, daß der verdrängte Haß gegen den 
Mutterbruder, der für gewöhnlich durch konventionelle Ehrfurcht und 
Gemeinschaftsgefühl verborgen bleibt, in diesen Erzählungen, die nach 
dem Muster von Tagträumen aufgebaut und von unterdrückten Wünschen 
diktiert werden, seinen Durchbruch findet. — Dem Onkelkomplex wird 
aus Gründen der seelischen Hygiene bei manchen Primitiven dadurch 
Rechnung getragen, daß dem Neffen einmal im Jahr gestattet wird, die 
Pflanzungen des Onkels gründlichst zu zerstören. 

Der ursprüngliche Glaube an eine übernatürliche Befruchtung hat sich 
bis heute bei vielen Völkern, denen der Vorgang der Konzeption längst 
bekannt ist, in zahlreichen Gebräuchen erhalten. Am deutlichsten sehen 
wir dies in der Institution der „Keuschheitsnächte“, deren ursprünglicher 
Zweck war, durch Fasten die Gottheit zur Befruchtung des Weibes zu 
veranlassen, besonders durch geschlechtliche Enthaltsamkeit. Durch Fasten 
und eine Reihe von Gerätschaften und damit verbundene Riten sucht 
man die Fruchtbarkeitsdämonen, resp. verschiedene Gottheiten, zu bestimmen, 
ihren Teil bei der Befruchtung des Weibes zu tun und schädliche Einflüsse 
fernzuhalten. Die befruchtenden Geräte, die man während dieser Zeit 
zwischen oder über dem Paare aufstellte, wurden dann auch nur im Sinne 
dieser Entwicklung festgehalten, sie wurden zu Symbolen der Trennung. 
W ir unterscheiden zwei Arten von Befruchtungsnächten, entsprechend der 
Auffassung, die man von dem Aufenthalt der befruchtenden Dämonen 
hatte: solche, bei denen sich das Brautpaar zu seiner Schlafstelle begibt 
und ein befruchtendes Gerät aufstellt oder doch eine Befruchtung von 
außen abwartet, und solche, bei denen das Brautpaar nicht seine Lager¬ 
stätte besteigen darf, sondern an Plätzen schlafen muß, an denen man 
auch sonst die Hausdämonen oder Felddämonen für gegenwärtig hält, z. B. 
beim Feuerherd, im Keller, im Stall (bei der Dungstätte), in Wald und 
Feld. Bei den Esten findet vor der Hochzeit zwischen den jungen 
Leuten der weitestgehende Geschlechtsverkehr statt. 1 Auf der von Esten 
bevölkerten Insel M o o n treten die Mädchen gleich nach der Konfirmation 
in freien geschlechtlichen Verkehr; je mehr Liebhaber ein Mädchen hat, 
desto größer ist der Stolz seiner Mutter und desto größere Ehren genießt 
es; von einer geschlechtlichen Enthaltsamkeit im Dienste einer Moral kann 
hier also keine Rede sein; nach der Hochzeit aber spielen die Nächte der 


1) Nach einer Mitteilung von Reitzenstein aus dem Jahre 1909. 
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII—1 


3 











34 


Felix Boehm 


Enthaltsamkeit eine große Rolle. In einigen Gegenden des von Esten 
bewohnten Dörptschen Kreises dürfen die jungen Ehegatten überhaupt erst 
im gemeinsamen Bett schlafen, wenn die junge Frau das erste Kind 
geboren hat; bis dahin schlafen sie im Winter im Stall und im Sommer 
auf dem Heuboden. In alter Zeit wurden bei den Esten die jungen Ehe¬ 
gatten in einen „Ehesack“ gesteckt und im Stall auf den Misthaufen zum 
Schlafen gelegt. Wir sehen hier deutlich, wie sich noch heute, auch in 
unserem Kulturkreise, der Glaube an die Befruchtung durch die Dämonen 
aus wirkt. Wo dieser Glaube noch größere Bedeutung hat, wird nach der 
Hochzeit vollständige geschlechtliche Enthaltsamkeit gefordert. Bei dem 
australischenEuahlag i-Stamm schläft der Bräutigam einen Monat lang 
auf der einen, die Braut auf der andern Seite des Feuers. Bei den Indern ist 
es Sitte, daß das Brautpaar drei Nächte von der Hochzeit an, auf dem 
Boden liegend, Keuschheit bewahren, die Hochzeitsfeuer unterhalten und 
dabei ungesalzene Speisen genießen muß. InNeu-Pommern muß die 
Braut vor der Hochzeit ein mehrmonatiges Einsiedlerleben führen. Bei den 
Mexikanern hat das Brautpaar ein viermonatiges Fasten zu beobachten und 
sich dabei des Verkehrs zu enthalten. In China bestehen diese Nächte 
besonders ausgeprägt in der Provinz Kwangtung; die Braut geht hier nach 
Beendigung der Hochzeitsfeier für drei Jahre zu ihren Eltern zurück und 
darf während dieser Zeit wohl die Schwiegereltern, aber nicht den Bräuti¬ 
gam besuchen. Auch in zahlreichen Gegenden Deutschlands besteht noch 
heute die Einrichtung der sogenannten Keuschheitsnächte nach der Hochzeit. 

Wir haben gesehen, welche überragende Bedeutung für die Gestaltung 
der Beziehungen zwischen Vater und Sohn die Kenntnis bzw. Unkenntnis 
von den Zusammenhang zwischen Kohabitation und Konzeption hat. Hat 
Goethe recht, wenn er sagt: „Wenn auch die Welt im Ganzen fort¬ 
schreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und als 
Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen“, so muß sich die 
Epoche dieser Unkenntnis ohne Ödipuskomplex auch in der individuellen 
Entwicklung unserer Kinder zeigen. Ich glaube, unsere Analysen lehren 
uns immer wieder, wie die Entwicklung eines Kindes wesentlich durch 
die Geburt eines Geschwisters beeinflußt wird. Wir wissen, daß hierbei 
die Eifersucht der älteren Geschwister auf die nachgeborenen sehr stark 
zutage tritt und nie ganz überwunden wird. Vielleicht haben wir in 
unseren Analysen nicht immer genügend beachtet, daß unsere Kinder bei 
dieser Gelegenheit zu ahnen beginnen, daß Vater und Mutter etwas können, 
was sie nicht vermögen, nämlich zusammen Kinder zeugen. Ich möchte 
fast glauben, daß die Eifersucht unserer Kinder auf den gleichgeschlecht¬ 
lichen Elternteil nicht so sehr auf die lustbetonte sexuelle Vereinigung, 































































Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 35 

als auf die Fähigkeit, Kinder zu zeugen und zur Welt zu bringen, zurück¬ 
zuführen ist. . 

Der Wunsch des Sohnes, mit seiner Mutter Zärtlichkeiten auszutauschen, 

ist in Analysen leichter zu finden, als der tiefer verdrängte und sicher 
mit stärkeren Schuldgefühlen beladene Wunsch, mit der Mutter ein Kind 
zu zeugen. Ähnlich scheinen mir die Verhältnisse bei der Achter zu 
liegen. Sehen wir uns daraufhin eine uns allen w allbekannte 
Krankengeschichte, nämlich die „Analyse der Phobie eines fünfjährigen 
Knaben“, von Freud 1 an. Der „kleine Hans“ ist in seinen ersten Lebens¬ 
jahren ein natürliches, munteres und aufgewecktes Kind, bei welchem 
sich die kindliche Sexualität und das Interesse für die sexuellen als auch 
für die exkrementalen Vorgänge in typischer Weise zeigen; ebenso seine 
Verliebtheit in seine Mutter und seine Gespielinnen. Er liebt seinen Vater 
ganz eindeutig. Ein gegen seine kindlichen sexuellen Spielereien gerichteter 
Einschüchterungsversuch der Mutter zeitigt zuerst keinerlei Folgen. Wir sehen, 
welche Bedeutung für die Entstehung der Verdrängungsarbeit des „kleinen 
Hans“ die Geburt seiner Schwester hat. Freud sagt: 2 „Die größte Bedeutung 
für die psychosexuelle Entwicklung unseres Knaben hat die Geburt einer 
kleinen Schwester gehabt, als er dreieinhalb Jahre alt war. Dieses Ereignis 
hat seine Beziehungen zu den Eltern verschärft, seinem Denken unlösbare 
Aufgaben gestellt, und das Zuschauen bei der Kinderpflege hat dann die 
Krinnerungsspuren seiner eigenen frühesten Lusterlebnisse wiederbelebt. 
Auch dieser Einfluß ist ein typischer; in einer unerwartet großen Anzahl 
von Lebens- und Krankengeschichten muß man dieses Aufflammen der 
sexuellen Lust und der sexuellen Wißbegierde, das an die Geburt des 
nächsten Kindes anknüpft, zum Ausgangspunkte nehmen.“ Wir erfahren, 
daß das Kind den Vorgang der Schwangerschaft richtig erraten und zahl¬ 
reiche Phantasien an diesen Vorgang geknüpft hat. „Man merkt es deut¬ 
lich“, sagt Freud an anderer Stelle, 3 „wie das Glück in der Phantasie 
noch durch die Unsicherheit über die Rolle des Vaters und die Zweifel 
an der Beherrschung des Kinderkriegens gestört wird.“ Und: 4 „Hans hatte 
erfahren, wie gut er es bei Abwesenheit des Vaters haben könnte, und 
der Wunsch, den Vater zu beseitigen, war nur gerechtfertigt. Nun erhielt 
diese Feindseligkeit eine Verstärkung. Der Vater hatte ihm die Lüge vom 
Storch erzählt und es ihm damit unmöglich gemacht, ihn in diesen 
Dingen um Aufklärung zu bitten. Er hinderte ihn nicht nur, bei der 


1) Freud: Ges Sehr., Bd. VIII, S. 12 7 . 

2) A. a. O., S. 214. 

3) A. a. O., S, 235. 

4) A. a. O., S. 251. 


3 " 










36 


Felix Boehm: Zur Gesdbidite des Ödipuskomplexes 


Mutter im Bette zu sein, sondern vorenthielt ihm auch das Wissen, nach 
dem er strebte. 66 

Die Krankengeschichte lehrt uns, daß Hans trotz allen Grübelns die 
Frage der Rolle des Vaters bei der Entstehung seiner kleinen Schwester 
nicht hat lösen können. — Und wie verhält sich nun der aufgeklärte, 
analytisch geschulte Vater in diesem Punkt? Er vorenthält Hans dieses 
Wissen unerbittlich und führt die Analyse in dieser Richtung nicht zu 
Ende. Vielleicht mußte Hans gerade aus diesem Grunde die ganze, nicht 
vollendete Analyse verdrängen. Hans’ Vater ist der typische Vater der 
patriarchalen Gesellschaft, welcher seine Potestas so ausübt, daß er das 
Wissen, das ihm allein zukommt, seinem Sohne konsequent vorenthält, 
trotzdem er sich aufrichtig bemüht, Hans von allen seinen Zweifeln und 
Grübeleien zu befreien. 

Wenn auch das Kind unserer Kulturkreise sich die Kenntnisse über 
die einzelnen Vorgänge im Sexualleben seiner Eltern nur langsam er¬ 
wirbt und der Ödipuskomplex sich erst allmählich im Laufe der ersten 
Lebensjahre herausbildet, so lehren uns unsere Analysen doch, daß der¬ 
selbe auf Grund einer vieltausendjährigen Entwicklung ein Erbgut unserer 
Welt geworden zu sein scheint; denn auch in den Fällen, in denen 
Patienten ihren Vater oder ihre Mutter nie gekannt haben, zeigt uns eine 
Analyse immer wieder, daß sich in ihrem Unbewußten der typische 
Ödipuskomplex doch aufdecken läßt. 



































































Spezialformen des Ödipuskomplexes 

Vortrag auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden , am 

28. September 1930 

Von 

Otto F e n i c h e 1 

Berlin 

„Ödipuskomplex“ nennt Freud das Gemenge von Strebungen, Gefühlen 
und unbewußten Vorstellungen, die gruppiert sind um die Wünsche nach 
sexuellem Besitz des gegen- und Beseitigung des gleichgeschlechtlichen 
Elternteils. Wenn wir vom „vollständigen Ödipuskomplex“ sprechen, so 
meinen wir, daß neben dieser Haltung auch die entgegengesetzte eine 
Rolle spielt, also Wünsche nach sexuellem Besitz des gleich- und nach 
Beseitigung des gegengeschlechtlichen Elternteils. Wer die grundlegende 
Bedeutung des Ödipuskomplexes anerkennt, sei es, weil er sie an sich 
selbst oder an anderen entdeckt hat, sei es, weil er sie den Psycho¬ 
analytikern glaubt, aber nicht tiefer in der Psychoanalyse bewandert ist, 
dem drängen sich zwei Probleme, richtiger Scheinprobleme, auf: 

Erstens wird er sagen: „Daß dieser Ödipuskomplex der ,Kernkomplex 
der Neurose 4 sein soll, habe ich jetzt verstanden. Wer unbewußt nur 
seine Mutter liebt, sieht in jeder Frau die Mutter und muß deshalb seine 
Sexualität verdrängen; die aus der Verdrängung wiederkehrende Sexualität 
ist dann die Neurose. Wer unbewußt seinen Vater töten will, sieht in 
jeder Tat einen Vatermord und muß deshalb seine Unternehmungslust 
hemmen; die wiederkehrende Unternehmungslust ist dann die Neurose. 
V\ ie soll ich das aber damit in Einklang bringen, daß jetzt der Ödipus¬ 
komplex normal sein soll, so selbstverständlich zu jedem Organismus 
gehörig, wie etwa die Nase?“ 

Zweitens: „Es war eben die Psychoanalyse, die, im Gegensatz zur 
schematisierenden Medizin, die Einzigartigkeit und Einmaligkeit jedes per¬ 
sönlichen Schicksals proklamierte, die Ursachen der Neurosen seien ver¬ 
gessene Erlebnisse, Traumen, die dieser eine Mensch eben einmal historisch 
erlebt habe. Die Aufgabe, diese persönlichen historischen Fakten wieder- 







38 


Otto Fenichel 


zufinden, rechtfertige die lange Dauer der Psychoanalyse. Das haben wir 
glücklich begriffen. Nun heißt es: Der Ödipuskomplex ist der Kernkomplex 
der Neurosen. Alle Neurotiker leiden im Grunde an der gleichartigen 
unbewußten Konstellation, die wir schon von vornherein kennen. Warum 
sollte man dann nicht dem Patienten, sobald er nur soweit gebracht ist, 
zu hören und verstehen zu können, diese seine unbewußte Konstellation 
mitteilen? Wozu die historische Forschung in der Psychoanalyse ?“ 

Ich nannte beide Fragen „Scheinprobleme“. Sie sind leicht zu lösen; 
und doch soll die vorliegende Untersuchung nur diese selbstverständliche 
Lösung kommentieren. 

Zur ersten Frage: Der Ödipuskomplex ist gar nicht in dem Sinne 
normal wie die Nase, sondern etwa wie die Thymusdrüse, d. h., er ist 
normal zu einer bestimmten Zeit, abnorm, wenn er sich über die Zeit 
hinaus unverändert erhält. Im Alter von zirka vier bis sechs Jahren hat 
ihn jeder Mensch; später scheint er beim Normalen zu verschwinden. Die 
Neurose als das Leiden am Ödipuskomplex erscheint so als eine Ent¬ 
wicklungshemmung, als ein Persistieren eines frühen Entwicklungs¬ 
stadiums. Denn der erwachsene Neurotiker hat noch seinen 
Ödipuskomplex. Er weiß zwar nichts davon, aber der Komplex läßt 
sich dennoch als wirksam nachweisen, welchen Sachverhalt wir meinen, 
wenn wir sagen, er sei „unbewußt“. — Das kann aber doch auch nicht so 
ganz stimmen. Wir wissen doch, wird man einwenden, daß nach Freud 
auch die Analyse etwa der Werke der Dichter oder der Träume der 
Gesunden auch bei diesen Nichtneurotikern den Ödipuskomplex noch in 
erwachsenem Alter als wirksam nachweist. Das letztere Moment, muß 
man sagen, wäre an sich kein Einwand, denn der Traum ist regressiv, 
belebt alte Kindheitseinstellungen wieder, die deshalb am Tage nicht vor¬ 
handen zu sein brauchen. Dennoch müssen wir zugeben: es stimmt nicht 
ganz, auch der normale Erwachsene hat einen Ödipuskomplex. Aber 
quantitativ liegt bei ihm die Sache anders als beim Neurotiker. Freud 
hat als für die Entwicklung im Psychischen charakteristisch beschrieben, 
daß die alten Entwicklungsstadien beim Fortschreiten zu den höheren 
niemals völlig verschwinden, sondern in einem gewissen Ausmaß neben 
den alten noch vorhanden und dadurch unter Umständen wieder auf¬ 
frischbar bleiben. Er vergleicht eine solche Entwicklung mit einer vor¬ 
rückenden Armee, die bei ihrem Vorrücken an allen passierten Plätzen 
Besatzungstruppen zurückläßt. Wenn dann ein Rückzug notwendig wird, 
so zieht sich das Gros der Armee an die Stelle zurück, wo beim Vor¬ 
marsch die stärksten Besatzungen geblieben waren. Wenn die zurück- 
gelassenen Besatzungstruppen zahlreich waren, so wird dadurch der Vortrupp 


















































































schwach und leichter zum Rückzug gezwungen. — Der Normale hat an 
der Stelle „Ödipuskomplex“ zwar auch Besatzungen zurückgelassen, aber 
das Gros der Armee, die ganze Persönlichkeit, ist im Vormarsch; allerdings 
bei sehr widrigen Verhältnissen kann auch er zurückweichen und 
dadurch zum Neurotiker werden. Der neurotisch Disponierte, an den wir 
dachten, wenn wir bisher „Neurotiker“ sagten, hat fast alle seine Kräfte 
an der Stelle „Ödipuskomplex“ gelassen. Nur wenig ist weiter vorgestoßen; 
schon bei geringen Schwierigkeiten muß er zurück und seinen Ödipus¬ 
komplex wiederbeleben. — So ist die neurotische Disposition 
nicht gekennzeichnet durch Vorhandensein des Ödipuskomplexes, sondern 
durch das Mißlingen seiner Überwindung. Das Interesse der allgemeinen 
Ätiologie verschiebt sich von dem Vorhandensein des Ödipuskomplexes auf 
die Bedingungen seiner Überwindung. 

Der Ödipuskomplex hat eine komplizierte Vor- und Nachgeschichte, die 
ich nur schematisch mitteilen will, soweit wir sie für das Folgende 
brauchen werden. In ihm treffen sich zwei Entwicklungslinien des Kindes, 
die beide wieder an jeder Stelle Störungen erfahren haben können. 
a) Die Entwicklung der körperlichen Leitzonen, von denen die Trieb¬ 
ansprüche ausgehen, also die libidinöse Entwicklung, die durch die Schlag 
worte orale — anale — phallische Entwicklungsstufe der Libido charak¬ 
terisiert ist; der eigentliche Ödipuskomplex gehört der phallischen Periode 
an, bereitet sich aber früher vor, so daß er auch mehr oder weniger 
orale und anale Elemente enthält, b) Die Entwicklung der Objektbezie¬ 
hungen, des Verhaltens zu äußeren Objekten, also die libidinöse Entwicklung, 
die durch die Schlagworte Narzißmus, d. h. Objektlosigkeit archaisch¬ 
ambivalente Objektbeziehungen, nämlich die Idee, die Objekte zu fressen 
(Totaleinverleibung) oder ihnen etwas abzubeißen (Partialeinverleibung) — 
endlich Liebe und Haß charakterisiert ist; der eigentliche Ödipuskomplex 
gehört der Liebes- und Haßperiode an, aber er bereitet sich früher vor, so daß 
er auch mehr oder weniger „Einverleibungs“-Elemente enthält. Seine Über¬ 
windung, notwendig gemacht durch die Überzeugung des Kindes, daß seine 
Befriedigung eine große Gefahr mit sich brächte, geschieht durch die kom¬ 
plizierten Mechanismen, die wir als „Über-Ich-Bildung“ zusammenfassen, 
dadurch, daß das Kind es lernt, sich mit den Forderungen der Eltern zu iden¬ 
tifizieren. Das gelingt den späteren Neurotikern nur mangelhaft. Wir wollen 
uns die Sache leicht machen, indem wir von dieser Mangelhaftigkeit heute 
nur eine Seite betrachten. Die Identifizierung mit den Eltern, die den 
Ödipuskomplex überwindet, ist nämlich ein entscheidender Schritt in der 
Charakterbildung des Menschen und das Studium der Defekte dieses 
Prozesses, das komplizierte und heute im Mittelpunkt des wissenschaftlichen 






40 Otto Fenidiel 

Interesses stehende Probleme bietet, wollen wir beiseite lassen. Statt dessen 
wollen wir uns mit dem beim Neurotiker in größerem Ausmaße 
Testierenden libidinÖsen Ödipuskomplex befassen, der ja 
die Möglichkeit der späteren Regression bildet. Wir sagten, die Auffassung, 
die Befriedigung bringe eine Gefahr mit sich, sei die Ursache des Unter¬ 
ganges des Ödipuskomplexes. Die unbewußt so sehr gefürchtete, als mit 
der Triebbefriedigung verbunden gedachte Gefahr ist der Verlust der Liebe 
der Eltern und — merkwürdigerweise — die körperliche genitale Be¬ 
schädigung, die „Kastration 1 . Die Angst vor Liebes Verlust und Kastration 
ist es, die sich den Trieben entgegenstellt. Sowohl eine besondere Stärke 
oder ein besonders frühzeitiges Auftreten dieser Ängste als auch eine 
besondere Stärke oder ein frühzeitiges Auftreten des von ihnen betroffenen 
Triebwunsches bedingen eine besondere Stärke oder Vorzeitigkeit der Abwehr, 
und was auf besonders intensive Weise oder frühzeitig abgewehrt worden 
ist, kann offenbar später nicht mehr durch Identifizierung erledigt werden, 
was sein unverändertes Fortbestehen im Unbewußten bedingt. 

Damit erscheint das erste der beiden „Scheinprobleme u erledigt. Dafür 
ist aber das zweite um so problematischer geworden. Unsere ganzen Aus¬ 
führungen zeigen ja, daß die Psychoanalyse heute schon zu wissen meint, 
woran jeder Neurotiker krankt. Es gibt eine allgemeine Neurosen¬ 
lehre, die sagt: Neurotisch erkrankt, wer vor den Enttäuschungen des 
Lebens auf den Ödipuskomplex regrediert und ihn abwehrt. Das kann 
nur der, bei dem sich im Unbewußten aus der Kindheit ein Stück des 
Ödipuskomplexes im Grunde unverändert erhalten hat. Dies wiederum 
ereignet sich nur bei dem, der mit besonderer Intensität oder besonders 
frühzeitig den gegengeschlechtlichen Elternteil liebte, den gleichgeschlecht¬ 
lichen haßte, der aber Angst bekam, wenn er das täte, würde er allein 
gelassen oder sein Genitale blutig beschädigt werden. Ja noch mehr: Es 
gibt auch eine spezielle Neurosenlehre, die etwa hinzufügt: War 
die prägenitale Entwicklung fehlerlos, so setzte gegen den Ödipuskomplex 
eine Verdrängung ein; es entwickelt sich später eine Hysterie. Hat das 


1) Die Angst vor genitaler Beschädigung äußert sich im Seelenleben des Knaben 
fast ausschließlich als Angst vor dem Verlust des lustspendenden Penis, die Testikel 
spielen eine erstaunlich geringe Rolle. Diesem Sachverhalt trägt der psychoanalytische 
Sprachgebrauch Rechnung, wenn er — abweichend von der biologischen Kon¬ 
vention, die unter Kastration die Entfernung der Keimdrüsen versteht — diesen 
Terminus in psychologischem Sinne in erster Linie auf die Beeinträchtigung 
oder Zerstörung des männlichen Gliedes bezieht. - Beim Mädchen äußert sich der 
„Kastrationskomplex“ in dem auf das andere Geschlecht gerichteten „Penisneid“, 
der mit der Phantasie verbunden ist, eines ähnlichen eigenen Organs (durch Kastra¬ 
tion) verlustig geworden zu sein. 






























































Kind aber durch Konstitution oder Erleben frühe prägenitale Fixierungs- 
'H’nkte so wehrt es den frühzeitigen oder intensiven Ödipuskomplex ab, 
indem es wieder auf diese zurückgreift; wehrt er dann die dadurch hoch¬ 
kommenden anal-sadistischen Wünsche auf verschiedene Weisen weiter ab 
und setzen sie sich dennoch durch, so entsteht eine Zwangsneurose usw. 
Wir können alpo nur nach der Diagnose schon ungefähr Voraussagen, 
welche typischen Erlebnisse der Patient als Kind gehabt haben muß. Wenn 
all diese ätiologisch bedeutsamen Erlebnisse typisch sind, warum dann 
die lange und schwierige Arbeit an den atypischen, einmaligen, 
traumatischen, persönlich-historischen Dingen? 

Die Antwort ist gewiß banal, aber sie kann nicht genug betont werden. 
Diese typischen Erlebnisse kennen wir ja nur formal, nicht inhaltlich. 
„Ödipuskomplex“ oder „Kastrationsangst sind Worte. Die durch sie 
repräsentierten psychischen Realitäten sind unendlich mannigfaltig. Die 
analytische Neurosenlehre ist der Rahmen, der durch tausenderlei Erschei¬ 
nungsformen ausgefüllt sein kann. Was ist „Liebe“, „Haß , „Angst ? Es 
sind Affekte, die an hundert Einzelerinnerungen haften, deren 
jede einmalig ist. Wenn ein Mensch sagt, „ich liebe eine Frau , so wissen 
wir über sein Seelenleben noch sehr wenig. Und die Liebe der Kinder 
ist nicht einförmiger als die der Erwachsenen. Man kann es mit den 
Begriffen der Vererbungslehre vergleichen: Die Entwicklung von Ödipus¬ 
komplex und Kastrationsangst ist durch determinierende Faktoren 
gegeben; sie kommt bestimmt. Aber wie sie kommt, also das reali¬ 
sierende Moment hängt davon ab, was der Mensch tatsächlich an 
Einzelschicksalen erlebt hat und wie er darauf reagiert, was wieder ab¬ 
hängt von seiner Konstitution und sämtlichen jeweils noch früheren Er¬ 
lebnissen. Das ist wichtig zu betonen. An der historischen Arbeit 
der Psychoanalyse und den dadurch bedingten Schwie¬ 
rigkeiten hat sich nichts geändert. Wieviel von der alten 
Traumalehre noch wahr ist, hat erst unlängst wieder mit sehr viel Recht 
Ferenczi 1 betont, im Gegensatz zu anderen Autoren, die fälschlich die 
immer wiederkehrenden Phantasien der Kinder von oralen, analen, geni¬ 
talen Befriedigungen und Ängsten, von Kastration und Ödipuskomplex 
für wichtiger hielten als das reale Leben. Es macht nicht nur den größten 
Unterschied aus, wie die Mutter beschaffen ist, die ein kleiner Junge liebt, 
sondern auch, was sich ein kleiner Junge unter „Liebe“ vorstellt, und 
wie sich eine solche Liebe in sein Seelenganzes einfügt, ist von Indi¬ 
viduum zu Individuum verschieden. Da ist jeder Fall einmalig. 


1) Ferenczi: Relaxationsprinzip und Neokatharsis, IZfPsA , XVI, 1950. 









42 


Otto Fenichel 


Warum der Ödipuskomplex einmal praktisch überwunden wird, ein 
anderesmal nicht, kann man nicht prinzipiell beantworten. Aber in ein¬ 
zelnen Fällen kann man verstehen, daß bestimmte Erlebnisse oder Erleb¬ 
nisse, auf die eine bestimmte Konstitution reagierte, Ödipuskomplex und 
Kastrationsangst frühzeitig weckten oder besonders in die Höhe trieben. 
Und die vergleichende Analyse vieler Einzelpersonen läßt die verschiedene 
Gestaltung des Ödipuskomplexes je nach dem Erleben, so jeweils einmalig 
sie ist, doch bis zu einem gewissen Grade typisieren. Es gibt relativ 
typische Antworten auf relativ typische Erlebnisse, die Spezialformen 
des Ödipuskomplexes bedingen. 

Das leuchtet sofort ein für die Arten der Überwindung des 
Ödipuskomplexes. Wenn diese durch Identifizierung geschieht, so 
wird das dabei entstehende Über-Ich so mannigfaltig sein wie Erziehungs¬ 
einflüsse mannigfaltig sein können und dazu paßt die reale Mannigfaltigkeit 
menschlicher Charaktere. Aber darüber wollten wir ja nicht reden, nicht 
über das Bewußte oder dem Bewußtsein näherstehende Ich, sondern über 
das uns paradoxerweise viel besser bekannte Unbewußte. Aber es gilt auch 
für den unbewußten Ödipuskomplex und die ihn bedrohende Kastrations¬ 
angst selbst. 

Halten wir uns nicht lange auf; Beispiele sollen zeigen, was mit dieser 
Mannigfaltigkeit gemeint ist. 

Jeder Mensch, sagten wir, hat die Angst, am Genitale blutig beschädigt 
zu werden. Jeder hat sie anders. Nicht nur die sekundären Angstformen, 
die, durch Verschiebung entstanden, die tiefer verdrängte Genitalangst er¬ 
setzen sollen, hängen von speziellen Kindheitserlebnissen ab: Das Kind 
nach der eindrucksvollen Mandeloperation verschiebt seine Angst auf den 
Hals, ein Kind, das gegen seinen Willen gezwungen wurde, dem Köpfen 
einer Taube beizuwohnen, behält für sein Leben eine Angst vor dem 
Geköpft werden als Ersatz der Kastrationsvorstellung; bewußte oder un¬ 
bewußte Ängste vor Beschädigung des Auges deuten auf besondere Erleb¬ 
nisse des sexuellen Schautriebes, die Lokalisation der Angst auf den Daumen 
auf beim Lutschen erworbene Ängste. Auch die Art, wie das Genitale als 
gefährdet gedacht wird, ist eine sehr verschiedene. Die genitalste Form 
der männlichen Kastration ist die, der Vater werde als Strafe für die auf 
die Mutter bezüglichen phallischen Wünsche das Glied abschneiden. Es 
gibt' eine schon etwas mit femininen Tendenzen kombinierte Spezialform, 
die gerade im Penis des Vaters die drohende Waffe sieht. Das Glied kann 
— je nach den Umständen — sozusagen männlich, d. h. durch einen ein¬ 
dringenden spitzen Gegengstand, oder weiblich durch ein klappendes 
Instrument bedroht gedacht sein, je nachdem, vor welchem Elternteil der 



































































































. , mehr fürchtet, und was für Vorstellungen über den Geschlechts¬ 
verkehr durch seine Erlebnisse in ihm entstanden sind. Wer oral fixiert 
* wird die Angst haben, das Glied werde ihm abgebissen, und wird 
di • Tendenz entwickeln, es auch seinerseits anderen Personen abzubeißen 

was zu sonderbaren Mischbildungen der Angst vor dem Gefressen¬ 
werden mit der vor dem Kastriertwerden führen kann, etwa zu der 
\ndst. im Körperinneren einer Frau des Gliedes beraubt zu werden, 
wie* sie uns das Märchen von Zwerg Nase vorführt, der in ein das 
Körperinnere symbolisierendes Zauberschloß gerät und es mit langer Nase, 
dem überkompensierenden Ersatz für die Vorstellung „ohne Nase , 
verläßt. 

Aber man findet die Kastrationsangst oft auch in ganz grotesken, mit¬ 
unter lebensgestaltenden Formen, die nur durch einmaliges Erleben zu 
erklären sind. Ein stark oraler Patient, dem die sexuelle Befriedigung 
unbewußt gleich Fressen war, und der außerdem in die feminine Linie 
geraten war und den Vater zu seinem Hauptobjekt gemacht hatte, hatte 
von einem „Krebs“ gehört, der die Mutter bedrohte, später auch von 
Bakterien. Nach Entdeckung der Penislosigkeit des Weibes hatte er folgende 
merkwürdige Leitphantasie gebildet: Die Ödipuswünsche hatten die Form 
angenommen, den Penis des Vaters oder das, was aus ihm herauskommt, 
aulzuessen. Die abwehrende Kastrationsangst hieß: Aber die so gefressenen 
klein* n Tiere werden, wenn sie sich in mir zu Kindern auswachsen, bei 
der Niederkunft von innen her den Penis wegfressen. Beim Mädchen 
ist di r Angstinhalt verschieden, je nach den Sexualtheorien, die sich nach 
Konstitution und Erleben gebildet haben. Wer am Glauben festhielt, einen 
Penis zu besitzen, er sei etwa nur klein und werde noch wachsen, hat 
die richtige Abschneideangst wie ein Junge. Wer meint, ein versteckter 
Penis sei im Innern verborgen, hat Operationsangst (und Operationssehn¬ 
sucht, damit der Penis herauskomme), wer sich weiblich einstellt, aber 
z. B. den Penis eines erwachsenen Mannes sieht, erschrickt vor der Größen¬ 
differenz und fürchtet, zerrissen und zerspalten zu werden. Man begreift, 
daß diesen Spezialformen für Neurose und Leben wichtige Bedeutung 
zukommt. 

Nicht anders als mit den Vorstellungen der Angst ist es mit denen 
des Liebens und Tötens. Die genitale Liebe setzt sich aus sehr vielen 
Komponenten zusammen und die relative Betonung dieser Komponenten 
kann eine sehr verschiedene sein. Außerdem kann der Genitalwunsch 
auch mehr oder weniger stark prägenital gefärbt sein (von besonderer 
Bedeutung ist der stark oral unterbaute sadistische Ödipuskomplex mancher 
N eurosenformen). 






44 


Otto Fenidiel 


Und der Tod kann auch auf jede nur erdenkliche Art gedacht sein, 
ja sogar selbst zu einer sadistischen Liebe sexualisiert sein und so gleich- 
zeitig dem verkehrten Ödipuskomplex Ausdruck verleihen. 

Was für Erlebnisse sind dafür verantwortlich, welche Spezialformen 
ein Ödipuskomplex annimmt? Alle. Es gibt keine Wahrnehmung, die 
nicht sofort in Triebzusammenhänge einträte. Alles, was das Kind 
zur Zeit des Ödipuskomplexes, aber auch alles, was es jemals früher 
erlebte, ist von Einfluß, das frühere Erlebnis hauptsächlich in dem 
Sinn, daß durch seine ev. pathologische Gestaltung die Bildung des 
Ödipuskomplexes selbst schon von vornherein pathologisch, nämlich 
zu stark prägenital gefärbt werden kann. Ja, in frühesten Entwicklungs¬ 
stadien schwer gestörte Kinder bringen überhaupt keinen Ödipuskomplex 
zustande und bleiben zeitlebens in ihren Objektbeziehungen „präödipal“ 
gebunden. Allerdings sind das keine Neurosen mehr, sondern schwerste 
psychoseähnliche Charakterverbildungen und Entwicklungsanomalien. 

Was für Erlebnisse kommen als besonders wichtige in Betracht? 
a) Einmalig traumatische, b) chronische Einflüsse. 

Auf jene hat die Psychoanalyse immer besonderes Gewicht gelegt. Sie 
geben häufig die zureichende Ursache dafür ab, warum Ödipuskomplex 
oder Kastrationsangst so stark oder so früh wirksam geworden sind, daß 
der Ödipuskomplex nicht normal überwunden werden konnte. Was wirkt 
traumatisch? Besondere Befriedigungen, besondere Versagungen oder 
Erlebnisse, die beides enthalten, besonders, wenn sie plötzlich und uner¬ 
wartet eintreten. Da wir von dem genitalen Ödipuskomplex reden, denken 
wir zuerst an das genitale Moment. Verführte Kinder werden 
besonders genitalisiert, können die normale Zielhemmung ihrer Triebe 
nicht durchführen und müssen sie deshalb verdrängen; sie erleben aber 
natürlich auch eine besondere Intensivierung ihrer Ängste. Überhaupt 
alles, was Angst macht, besonders genitale Angst, kommt als „Trauma“ 
in Betracht. So alle Drohungen und im Sinne von Drohungen wirkenden 
Realerlebnisse, wie Unfälle, Verletzungen, Todesfälle, die den Kastrations¬ 
glauben zu bestärken scheinen, oder der p 1 ö t z 1 i c h e Anblick des Genitales 
eines Erwachsenen, und zwar ist sowohl der Anblick des männlichen 
als auch des weiblichen Genitale geeignet, eine solche Steigerung der 
Kastrationsangst zu bewirken. Und eine besonders gesteigerte Kastrations¬ 
angst bewirkt Verdrängungen und somit Störungen in der Überwindung 
des Ödipuskomplexes. Erlebnisse auf „zielgehemmtem“ Gebiete können 
durch Verschiebung ebenso wirken wie genitale. Besonders wichtig 
in diesem Sinne sind Überreste aus prägenitaler Zeit, wie wir sagen 
„Fixierungen“, gesetzt durch besondere Erlebnisse während der oralen 

























































































der inale „ Entwicklungsphase der Libido, besonders bei der Entwöhnung 

, der Reinlichkeitserziehung. Solche Erlebnisse müssen übrigens nicht 
l bsI (ira i P oder anale Inhalte haben, sondern nur zu dieser Zeit vorfallen. 
, ür den Ödipuskomplex besonders wichtig ist alles, was das Kind über 
die Sexualität der Eltern erfährt oder sich kombiniert, wieder besonders, 
wenn e S überraschend erfahren wird. Oft handelt es sich um Kombinationen 
von wirklichen Erlebnissen und fälschlicher Perzeption. Hierher gehört 
z R. das ganze Gebiet der sadistischen S ex u a 1 a u f f a s s u n g. 
Das Wichtigste auf diesem Gebiete ist die sogenannte Ur szene, die 
Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs. Ein solches Erlebnis setzt 
gleichzeitig höchste Sexualerregung — je nach dem Alter des Kindes sehr 
verschiedenen Inhaltes — und die Überzeugung von der Gefährlichkeit 
i!» r Sexualbefriedigung, sei es durch das sadistische Mißverständnis, sei es 
durch den Anblick des „kastrierten“ weiblichen Genitales; Inhalt, Grad 
und Zeitpunkt der Wirkung eines solchen Erlebnisses variieren natürlich 
seinen Details entsprechend; was das Kind wahrnimmt, was es erraten 
kann, und in welche seelischen Zusammenhänge Wahrgenommenes und Er¬ 
ratenes eingeordnet wird, ob Verarbeitung und Einordnung gleich erfolgen oder 
spater, all das ist von individuellen Faktoren abhängig. Sicher färbt eine Urszene 
den Ödipuskomplex, aber je nach den Umständen in verschiedener Weise, 
immer aber mit einer besonderen Koppelung der Begriffe „Sexual- 
befrii-digung“ und „Gefahr“, was die Verdrängungsneigung steigern muß. — 
Eine wirkliche Urszene kann psychisch äquivalent vertreten werden durch 
Koitusbeobachtungen an Tieren, durch den Anblick von Genitalien 
Erwachsener oder auch von Tieren, insbesondere, wenn andere objektiv 
harmlose Szenen die Übertragung solcher Erlebnisse auf die Eltern 
erleichtern. Freud hat darauf hingewiesen, daß die Idee von der 
Belauschung zu den „Urphantasien“ gehört, und wo sie nicht erlebt wird, 
durch Phantasien ersetzt wird; dennoch bleibt der Eindruck, daß das 
wirkliche Erleben ganz anders im Sinne eines Traumas wirkt als eine 
Phantasie. — Das zweitwichtigste Moment ist die Geburt jüngerer Geschwister, 
nicht nur im Sinne einer traumatischen Störung der Ödipusbefriedigung 
(weil sich die Eltern um das Kind nicht mehr so kümmern können wie 
zuvor), sondern auch im Sinne einer Erhöhung der Sexualangst infolge 
von Wahrnehmungen oder Spekulationen über den Geburstsakt und als ein 
Vorgang, der die Neigung, selbst zu den prägenitalen Freuden der Säuglings¬ 
zeit zu regredieren, erhöht. 

Chronisches Erleben: Wie ein Kind auf seine Eltern reagiert, und was 
es von ihnen will, hängt davon ab, wer und wie diese Eltern sind, und 
wie sie sich zu dem Kinde benehmen. Eine ungewöhnliche Reaktion wird 





46 


Otto Fenichel 


dort eintreten, wo die Eltern ungewöhnlich sind oder sich ungewöhnlich 
benehmen. Daß es wirklich so ist, zeigt schon die grobe Familienanamnese 
der Neurotiker. Neurotische Eltern haben wieder neurotische Kinder. Und 
der Ödipuskomplex der Kinder spiegelt den der Eltern wider. Denn der 
Ödipuskomplex der Kinder wird auch von der korrespondierenden Ein¬ 
stellung der Eltern provoziert: Der Vater liebt die Tochter und die Mutter 
den Sohn. Diese unbewußte sexuelle Bindung an die Kinder wird in allen 
den Fällen besonders groß, wo die wirkliche Sexualbefriedigung der Eltern 
aus äußeren oder inneren Gründen (z. B. durch ihre eigenen Neurosen) 
zu wünschen übrig läßt; sie wird dann für die Kinder verhängnisvoll, die 
einen entsprechenden zu starken Ödipuskomplex entwickeln müssen. 

Der ideale Ödipuskomplex verlangt ein Verhältnis zu dritt. Einzige 
Kinder haben auch typischerweise einen besonders starken Ödipuskomplex, 
weil niemand anderer da ist, auf den sie ihre Gefühle von den Eltern 
übertragen könnten. „Spezialformen“ entstehen, wenn zu viele oder wenn 
zu wenige Personen vorhanden sind. Als vom Ödipuskomplex als überflüssig 
empfundene Menschen kommen bei der heutigen Familienerziehung haupt¬ 
sächlich die Geschwister in Betracht. Sie sind vor allem Gegenstand 
der Eifersucht und können, je nach individuellen Umständen, den im 
Ödipuskomplex enthaltenen gegen einen Eltern teil gerichteten Haß ver¬ 
stärken oder auch durch Ablenkung schwächen. Aber auch als Objekt der 
Liebe und somit als Gegenstand ihrer Übertragung kommen die Geschwister 
in Betracht, besonders ältere und solche, die nur um ein Jahr oder weniger 
jünger sind, so daß die Welt ohne sie gar nicht gekannt wurde. Bei mehreren 
älteren Geschwistern gibt es oft „Doubletten des Ödipuskomplexes“, an 
denen sich Analoges abspielt wie an den Eltern, was unter Umständen 
entlastend wirkt, unter anderen aber auch neue Konfliktmöglichkeiten 
bringt. Jüngere Geschwister, die zumeist vorwiegend als Konkurrenten 
empfunden werden, können unter Umständen, besonders wenn die Alters¬ 
differenz eine große ist, auch als eigene Kinder gedacht werden und so je 
nach der sonstigen Lagerung des Ödipuskomplexes diesen besonders auf¬ 
stacheln oder auch durch seine vermeintliche Befriedigung abschwächen. 
Das Gegenstück, der Ödipuskomplex, für den zu wenig Menschen da sind, 
entwickelt sich bei Kindern, die ohne Eltern oder nur mit Vater oder 
Mutter aufwachsen. Auf die nicht in Familien aufgewachsenen Kinder 
kommen wir später zu sprechen. Hier wollen wir die Fälle berücksichtigen, 
bei denen ein Elternteil frühzeitig verstorben oder aus der Familie aus¬ 
geschieden ist. Da macht es natürlich den größten Unterschied, ob das 
Kind den fehlenden Elternteil noch gekannt hat oder nicht, ob Stiefeltern 
vorhanden sind oder nicht, wann solche in die Familie kommen, und wie 



















































































































- . benehmen. Immer aber, auch dort, wo die Kinder den fehlenden 
Khernteil t:ar nicht gekannt haben, wissen sie doch davon, daß es ihn 
' a i e1 b daß andere Kinder anders, nämlich mit Vater und Mutter, 
aufwachsen.' Sie neigen deshalb dazu, sich als „Ausnahmen“ zu empfinden, 
denen das Schicksal besondere Entschädigungen schuldet, was selbst wieder 
Zll Verstärkung des Ödipuskomplexes beitragen kann. Allgemein kann 

man sagen: Wenn der gleichgeschlechtliche Elternteil verstorben ist, so 
v. i! ! das als Erfüllung des Ödipuswunsches perzipiert und weckt deshalb 
besonders starke Schuldgefühle. Wenn der andere Elternteil starb, so führt 
unbefriedigt bleibende Ödipussehnsucht zur phantastischen Idealisierung 
des Verstorbenen und zur Erhöhung der Sehnsucht. Das Übrige hängt 
. wann und wie dieser Tod dem Kinde bemerkbar wurde. Besonders 
verhängnisvoll scheint mir da zweierlei zu sein. Erstens eine besonders 
intensive und fast unlösliche Bindung der Vorstellungen „Sexualität" und 
v Tod", da beide durch die gemeinsame Sphäre „Geheimnis der Erwachsenen“ 
miteinander verbunden sind. Die Folge ist eine Verstärkung des Masochismus, 
indem, wenn Sexualbefriedigung als mit dem Sterben verbunden gedacht 
ist, das Sterben eben Sehnsuchtsziel wird; oder die Erweckung der inten- 
5 ivsteil Sexualangst, da ja die unbewußte Überzeugung herrscht, man 
müsse an der Befriedigung sterben, und eine verhängnisvolle Verdrängung 
(Vr Sexualität als Folge dieser Angst. Zweitens aber pflegt der Mensch in 
cirr I rauer uni einen Verstorbenen in einem gewissen Ausmaße zur oralen 
Organisationsstuie der Libido zu regredieren, sich mit dem Verstorbenen 


wie ils Tmst über seinen Verlust zu identifizieren. Geschieht dies nun in 
frühem Alter, so müssen sich daraus für den Ödipuskomplex und das 
ganze Leben bedeutungsvolle Fixierungen entwickeln. So erwirbt das Kind 
auf diese Weise mit einer oralen Fixierung auch die Neigung, allen seinen 
späteren Objektbeziehungen, also auch seinem Ödipuskomplex, ein gut Stück 
Identifizierung beizumengen. — So weigerte sich z. B. eine Patientin, die 
seit Jahren glücklich mit einem Manne zusammenlebte, zu heiraten, ohne 
daß sie einen Grund dafür angeben konnte. Die Analyse ergab, daß für 
sie „Heiraten“ „Kinder bekommen“ bedeutete, und daß sie von einer 
unbewußten Angst vor Schwangerschaft und Niederkunft erfüllt war. Die 
Mutter war im fünften Lebensjahr der Patientin gestorben; diese hatte 
damals die Phantasie entwickelt, der Tod sei in Zusammenhang mit 
Sexualität oder Geburt eingetreten, und erwartete nun als Strafe für die 
Ödipusbefriedigung, die sie mit dem Tode der Mutter erlebt hatte, in 
gleicher Weise zugrundegehen zu müssen wie diese. — Etwas ganz 
Ähnliches war an einem männlichen Patienten zu beobachten, der aus 
Kastrationsangst frühzeitig in die weibliche Linie geflohen war. Nach dem 









48 


Otto Fenichel 


Tode der Mutter entwickelte er die intensivste Kastrations- und Todesangt, 
die später in hypochondrischen Vorstellungen manifest wurde. Der unbe¬ 
wußte Inhalt der Hypochondrie war: Ich muß ebenso sterben wie die 
Mutter, weil ich mich an ihre Stelle gesetzt habe. Ich muß sterben, wenn 
der Vater mich nach meinen Wünschen schwängern würde wie die Mutter. 
Hier ergab die Analyse besonders deutlich die intensive Verdichtung des 
Sexualgeheimnisses mit dem Geheimnis des Todes, die die Kastrationsangst 
besonders färbte, indem sie zu einer Angst vor dem „Weg-sein“ und somit 
zu einer unbewußten Gleichsetzung von allem, was verschwinden kann, 
von Leiche, Kot und Penis führte. — Dazu kommt, daß in dem Elterntod 
eine besondere Erfüllung des Ödipuskomplexes gegeben wird — direkt 
beim Tod des gehaßten, indirekt durch Idealisierung beim Tod des geliebten 
Elternteiles, was Intensität und Abwehr (Schuldgefühl) des Ödipuskomplexes 
erhöht. So erzählte eine Patientin, die ebenfalls mit fünf Jahren die 
Mutter verloren hatte, daß sie, sonst ein stilles und zur Depression neigendes 
Kind einen Sommer lang wirklich glücklich gewesen sei. Erst die Analyse 
konnte ihr zu ihrer Überraschung zeigen, daß es der Sommer war, der 
dem Tode der Mutter unmittelbar folgte, und in dem das Kind seine 
Wünsche für erfüllt und sich selbst als die Nachfolgerin der Mutter an¬ 
gesehen hatte. Solchen Erwartungen mußte die Enttäuschung folgen, die 
Wahrnehmung, daß die Erwachsenen, besonders der Vater, sie doch auch 
weiterhin nur als Kind behandelten. Die Reaktion wieder auf diese Ent¬ 
täuschung mußte eine oral-sadistische werden, da gerade diese Reaktionsart 
ebenfalls durch den Tod der Mutter aktiviert worden war. — Fehlt bei 
einem Jungen der Vater (oder ist er von geringem Einfluß in der Familie), 
so wird er leicht homosexuell oder sonst feminin. Das hängt davon ab, 
daß er sich mit demjenigen Elternteil mehr identifiziert, von dem die 
wesentlichen Versagungen ausgehen. Eine Patientin, die den Vater nie 
gekannt hatte, benahm sich allen M^ännern gegenüber nur sadistisch im 
Sinne des extremen „Rachetypus“ des weiblichen Kastrationskomplexes. Ihr 
durch keine Wirklichkeit korrigierter phantastischer Ödipuskomplex ließ sie 
erstens alle Männer hassen, weil keiner der Vater war, der durch seinen Tod 
gottgleich geworden war, aber zweitens darüber hinaus: die Unerfüllbarkeit 
der einen Hälfte des Ödipuskomplexes ließ die andere um so grotesker 
anwachsen Sie haßte unbewußt wild die Mutter, weil sie selbst den Vater 
genossen, ihn aber dann hatte sterben lassen, ihn so der Tochter ebenso 
wie den Penis vorenthaltend; und auch diesen intensivsten und der Mutter 
geltenden Haß hatte sie auf die Männer übertragen. — Eine schwer 
deprimierte und allgemein gehemmte Patientin hatte folgende Vorgeschichte: 
Die Eltern hatten sich, als sie erst ein Jahr alt war, geschieden, und sie hatte 





























































































j n v itcr nie wieder gesehen. Das Kind entwickelte nun folgende Ödipus- 
|j antasie . Mu der Mutter hat es der Vater nicht ausgehalten, sie war 
iner nicht wert, aber mich wird er eines Tages holen kommen. Er kam 
nichl . Ein ungeheurer reaktiver Haß entstand, den die Patientin in ihrer 
Depression gegen sich selbst wandte, mit der unbewußten Rationalisierung: 
lch bin eben auch nichts wert, seiner auch nicht würdig, deshalb kommt 
cr _ Man kann sich leicht vorstellen, daß Konflikte zwischen den 

El tern , ihre zeitweilige oder dauernde Trennung ähnlich wirken müssen wie 
Fod. Wenn die Kinder selbst Gegenstand des Streites der Eltern 
werden, *o daß jeder Eltemteil um sie wirbt, so erwerben sie dabei leicht 
eine besondere Intensivierung des vollständigen Ödipuskomplexes und eine 
Fixierung im infantilen narzißtischen Stadium, die sie zu dem Glauben 
i.i'irt. die ganze Welt werde ebenso um sie werben wie die Eltern, was 
dann zu Enttäuschungen führt, die bei solcher Lebenserwartung nicht 
aushleiben können. 

Wir sagten, eine ungewöhnliche Reaktion trete ein, wenn die Eltern 
ungewöhnlich seien oder sich ungewöhnlich benehmen. Unter „ungewöhnlich 
benehmen* ist immer wieder Verwöhnung, Versagung oder beides zu ver- 
stehcn. Verwöhnung und Versagung ergänzen sich insofern, als ja gerade 
die verwöhnten Kinder die sonst leicht zu ertragenden notwendigen Ver¬ 
sagungen hei ihrem Eintritt auch traumatisch empfinden müssen. Dabei 
kommen am wenigsten absichtliche Erziehungsmaßnahmen in Betracht, am 
meisten dis unwillkürliche, alltägliche reale Benehmen der Eltern. Als 
besonders wichtig sei zweierlei herausgehoben: Erstens das Verhältnis der 
Eltern zur Geschlechtsrolle des Kindes. Manche Mutter z. B. wünscht sich 
nur einen Sohn und läßt das die Tochter fühlen u. dgl. Zweitens 
das Verhalten der Eltern zueinander, aus dem ja das Kind seine Auffassung 
von Sexualität speist. Man denke an schlechte Ehen und ihre Einwirkung 
auf die kindliche Triebweit. 

Die gesamte „Sittlichkeit* des Elternhauses wirkt so auf die Gestaltung 
des Ödipuskomplexes ein; wie weit das Kind seine Triebe als gestattet 
oder als verhängnisvoll „schlimm* empfindet, hängt nicht nur davon ab, 
ob, wann und wie ihm z. B. die Onanie verboten worden ist, sondern viel¬ 
mehr von Art und Stärke der im Elternhause herrschenden allgemeinen 
Sexualmoral, die die Eltern — wissentlich oder unwissentlich, prinzipiell 
oder gelegentlich — aber im Grunde unaufhörlich durch ihre Äußerungen 
und Handlungen dokumentieren. Die so suggerierte Auffassung „Triebe 
sind schlimm wirkt dem chronischen Onanieverbot gleich — und das 
bedeutet, da ja die kindliche Onanie die Exekutive des Ödipuskomplexes 
ist, eine Intensivierung der Neigung, den Ödipuskomplex zu verdrängen. 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 


4 








50 Otto Fenichel 

Die wichtigste Kombination von Verwöhnung und Versagung, die sehr 
häufig vorkommt, ist die Steigerung der Erregung der Kinder durch 
Überzärtlichkeit der Eltern bei gleichzeitiger Behinderung der Befriedigung, 
d. h. der organisationsgemäßen Abfuhr dieser Erregung durch Verbote. 
Wir erwähnten, daß dabei der korrespondierende unbewußte Ödipuskomplex 
der Eltern das ausschlaggebende Moment ist. Oft genug äußern „im Scherz“ 
Mütter zu ihren Söhnen, Väter zu ihren Töchtern, daß sie ihre Heirat 
nicht wünschen, um stets bei ihnen bleiben zu können u. dgl. Die 
extremsten Formen von „Ödipuskomplex der Eltern“ findet man manchmal 
in der Anamnese von Psychosen. — Entsprechendes gilt nicht nur für das 
genitale Gebiet. Wir besprachen, daß der Ödipuskomplex prägenital vor¬ 
gebildet ist, daß die Art, wie Entwöhnung und Reinlichkeitserziehung 
durchgeführt worden ist, ihre Spuren hinterlassen hat, und die Form des 
Ödipuskomplexes von vornherein bei seiner Bildung mitbestimmt. Ich habe 
versucht, einige Beiträge zu diesem Kapitel, das analytisch schwer zu 
eruieren ist, weil von dem in der Analyse auftauchenden Material von 
Mischbildungen von Ödipuskomplex und prägenitalen Regungen erst all 
das, was durch regressive Entstellung hineingekommen ist, ausgeschaltet 
werden muß, in einer kleinen Arbeit „Zur prägenitalen Vorgeschichte 
des Ödipuskomplexes“ zusammenzufassen . 1 Von besonderer Wichtigkeit für 
Klinik und Charakterologie scheint mir dabei die „oral-sadistische“ Form 
des Ödipuskomplexes, die die Befriedigung vom gegengeschlechtlichen 
Elternteil in einer Weise fordert, die etwa so charakterisiert werden kann: 
„Du mußt es mir geben, sonst nehme ich es mir mit Gewalt,“ wobei 
dieses „es“ in verschiedenen Schichten des Unbewußten Verschiedenes 
bedeutet: Befriedigung, Kind, Penis, Kot und Milch. Ob eine solche Form 
des Ödipuskomplexes sich entwickelt, hängt ab von den Erlebnissen der 
Reinlichkeits- und Säuglingserziehung. Ich konnte dort ausführlich von 
einem Manne berichten, der anderthalb Jahre lang die höchste orale Ver¬ 
wöhnung genossen hatte, der dann eine ganz plötzliche völlige Versagung 
folgte. Das Resultat war ein negativer Ödipuskomplex von sadistischem 
Forderungscharakter. Der Patient lebte ohne Beruf als leidenschaftlicher 
Lotteriespieler, unbewußt beherrscht nur von der einzigen an den Vater 
gerichteten Idee: Du mußt mir dein ganzes Geld geben. — Ein Mädchen, 
das wegen einer Mastitis der Mutter traumatisch abgesetzt werden mußte, 
später von der Mutter mit viel libidinöser Beteiligung zur Reinlichkeit 
erzogen worden war, erkrankte mit sechs Jahren an einer Darmerkrankung. 
Sie reagierte darauf mit der Phantasie, die Mutter hätte sie krank gemacht, 


1) IZfPsA, XVII, 1930. 











































































































ihr e*“ dm Kot (den Penis), weggenommen. Später im Ödipuskomplex setzte 
ic J-ese Phantasie dahin fort, der Vater müsse es ihr wiedergeben, welche un- 
bewll0le Forderung sie beim asketischen Charakter des Vaters, der das Ideal 
rS stbeh rrschung über alles stellte, mit einer wilden Leidenschaft ver¬ 
trat. die sich z. B. zeitweise in einer Art Pseudonymphomanie rußerte. 

\b r auch in weniger grober Form spiegelt sich regeli säßig der 
Charakter der Ellern im Ödipuskomplex der Kinder wieder. Ein einfaches 
i >iel: Ein Vater, der alle Frauen verachtet und der das auch wieder¬ 
holt' ludert, sieht sehr auf „Anständigkeit“ und verlangt Verdrängung 
jeder analen Regung;, er zieht der Patientin ihre ältere Schwester merklich 
v , r . Die Patientin stand also als Kind vor folgenden Aufgaben: Sie wollte 
,;,. n \ it,. r lieben, mußte dabei aber den Penis (als den Geschlechtsunter- 
s ,hi,-d. (irr die I rauenVerachtung bewirkte) ausschalten, die konstitutionell 
m hr hohe Analerotik ebenso ausschalten, der Schwester etwas antun und 
V aters Strenge und Verachtung ertragen. Sie wurde eine Masochistin, 
dir das Geschlagen- und Verachtet werden, unbewußt natürlich — dem 
Ödipuskomplex entsprechend — von seiten des Vaters, zu ihrem Sexual¬ 
ziel machte. Damit war gerade die die Liebe des Vaters gefährdende Ver- 
achtung zur Lieferbedingung geworden, der anstößige Penis durch die 
schlagende Hand, der anstößige Anus durch das geschlagene Gesäß ersetzt 
worden, aber auch der der Schwester geltende Haß wurde miterledigt, 
(1. nn die phantasierten Prügel galten in letzter Schichte ihr und waren 
nur egen das Ich gewendet worden. — Manche Menschen fallen 

dadurc h auf, daß ihre Liebesbeziehungen immer den merkwürdigen 
t harakier einer „sozialen Angst“ vor dem Liebesobjekt annehmen. Sie 
wollen von ihren Objekten in erster Linie beurteilt werden, Verzeihung 
und unter Umständen auch Kritik, Verurteilung und Bestrafung erhalten. 
Es stellt sich dann bei der Analyse heraus, daß diese merkwürdige 
narzißtische Art zu lieben am Ödipuskomplex erworben wurde, der seiner¬ 
seits diese pathologische Form dem pathologischen Benehmen der Eltern 
verdankt, nämlich einer Erziehung, die einerseits besonders streng war und 
das Kind an die immer wieder in den Vordergrund gerückte Sphäre von 
Schuld, Strafe und Verzeihung fixierte, gleichzeitig alle direkten Trieb- 
äußerungen verbot, so daß dem geknebelten Trieb gar nichts anderes 
übrig blieb, als die einzig freigelassene Sphäre zu besetzen; die aber 
andrerseits durch Inkonsequenzen das Kind dazu brachte, nicht selbständig 
zu beurteilen, was brav sei oder schlimm, sondern das von den jeweiligen 
Objekten eben als Sexualbefriedigung entscheiden zu lassen. — Als letztes 
hierhergehöriges Beispiel sei ein sehr banaler, aber um so einleuchtenderer 
lall zitiert: Der Vater eines Patienten mit sehr intensiver Vaterbindung 


4 * 








52 Otto Fenichel 

telegraphierte eines Tages über mehr als 400 km dem vierzigjährigen Sohn 
nachdem dieser eine Angina durchgemacht hatte: „Angesichts des un 
sicheren Wetters heute nicht ausgehen“. 

Es wird aufgefallen sein, daß wir über den wohl wichtigsten Punk 
der Realität des kindlichen Erlebens in der heutigen Welt in seiner RolL 
für die spezielle Gestaltung des Ödipuskomplexes noch gar nicht gesprochei 
haben, nämlich über die soziale Stellung der Eltern. Da 
müssen wir jetzt nachholen. Die Analyse der häufigsten Phantasien de: 
Kinder über die soziale Stellung zeigt, daß sie im Unbewußten sozia 
niedrig gleich triebhaft, sozial hoch gleich gehemmt oder sublimiert setzen 
Das hat unlängst erst wieder Helene Deutsch in der Analyse des söge 
nannten Familienromans deutlich gezeigt. 1 Wenn ein der Abstammung 
nach sozial Hochgestellter sich zu niedrigen Schichten besonders hingezoger 
fühlt, so weist die Analyse dann meist — unter dem Mechanismus de: 
Idealisierung: ich helfe, ich bin nicht so ungerecht wie der Vater, icl 
sublimiere Sexualität zu Menschenliebe — eine Tendenz zum rein Trieb 
haften nach, etwa wie in der Tendenz zur Dirne im Gegensatz zur hoher 
Geliebten. Aber alle solchen Überlegungen über diese oder ähnliche unbe 
wußte Äquivalente der Klassenzugehörigkeit, wie sie die Analyse aufdeckt 
sagen ja gar nichts aus über unsere Frage, nämlich über die Abhängigkef 
des realen Ödipuskomplexes von der realen sozialen Stellung. Uns handeli 
es sich ja nicht um die unbewußten Phantasien über das Soziale 
sondern über die R ealitätseinflüsse des Sozialen. Solche treffer. 
das Kind unausgesetzt und müssen daher ebenso sehr wie Charaktereigen¬ 
schaften der Eltern für die Gestaltung des Ödipuskomplexes von Bedeutung 
werden. Daß sie es werden, hat Freud schon in seinem berühmter 
Beispiel „Zur ebenen Erde und im ersten Stock“ in den „Vorlesungen 
zur Einführung in die Psychoanalyse“ gezeigt. 2 Man braucht nur an das 
Kapitel Wohnungsnot zu denken, etwa an seine Beziehung zu dem Thema 
„Urszene“, um die Bedeutung dieses Momentes sofort zu erkennen, 
Bernfeld hat aufgezeigt, wie bestimmte seelische Entwicklungen nui 
unter den einer bestimmten sozialen Schichte gegebenen Bedingungen 
möglich sind, indem z. B. die Möglichkeit, Depressionen, bzw. Gefahren 
des Liebesverlustes durch einfaches Davonlaufen zu entgehen, nur an be¬ 
stimmtem „sozialen Ort“ gegeben ist. 3 Und trotz alledem muß man 


1) H. Deutsch, Zur Genese des Familienromans, I. Z. f. PsA. XVI, 1950. 

2) Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., 
Bd. VII, S. 365 . 

3) Bernfeld, Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung 
und Pädagogik, Imago XV, 1929. 











































































































. daß dieser bedeutungsvolle Umstand der sozialen Stellung der 

rT* die Ödipuskomplex« »ach analytischer 

Erfahrung geringer ist als man erwarten konnte. Koran liegt das. leg 
d' aj vielleicht daran, daß bisher das Material der Psychoanalytiker sozia 
, . . . . g war? Oder nicht vielmehr daran, daß in der heutigen Gesellschal 
proletarischen Haushalt ebenso die bürgerliche Moral und bürgerliche 
Kr Ziehungsprinzipien herrschen wie im bürgerlichen? Wir meinen, daß wegen 
indes über die Beziehung von Erziehung und Triebentwicklung 
die jene beherrschende bürgerliche Moral - in der heutigen Gesell- 
ichts .uisgesagt werden kann, auch dann nicht, wenn man seine 
-.gen an ausschließlich proletarischen Objekten vornimmt. 

loges gilt von der Frage nachdem Ödipuskomplex der Kinder, 
, In Familien aufwachsen. Denn alle diese Kinder leben nicht 
wirklich ohne Familieneinfluß. Sie erfahren früher oder später, daß es die 
,11 der Familie gibt und worin sie besteht, daß andere Kinder 
Vater und Mutter haben und sie die zurückgesetzten Ausnahmen sind. Sie 


haben ebenfalls ihren Ödipuskomplex, d. h. nicht nur triebhafte Bindungen 
Liebe und Haß an ihre Erzieherpersonen und an alle Erwachsenen, 
mit denen sie in Berührung kommen, sondern auch Phantasien von Vater 
und Mutter, die dem Ödipuskomplex anderer Kinder sehr ähnlich sind, 
nur durch ihren phantastischen Charakter speziell geformt. Ihr Ödipus¬ 
komplex ist charakterisiert durch die Diskrepanz zwischen Phantasie und 
Realität, wenn auch natürlich ihre Phantasieprodukte von realen Erfahrungen 
gespeist sind. Soweit sie Objekt der Analyse geworden sind, kann man von 
ihnen aussagen* daß für sie das gleiche in doppeltem Sinne gilt, was wir 
den Rindern sagten, die einen Elternteil nicht gekannt haben. Wachsen 
sie nicht an einer Stelle, z. B. in einer Gemeinschaft auf, die doch noch 
fest« 1 Bindungen erlaubt, sondern wechseln sie ihren Aufenthaltsort und 
sind jedes Jahr anderen Menschen und anderen Einflüssen ausgesetzt, so 
spiegelt sich das nicht nur in ihrer widerspruchsvollen Charakterbildung 
— Verwahrloste mit Über-Ich-Abweichungen haben immer diese Anamnese 
—, worüber zu sprechen zu weit führen würde, sondern sie haben auch 
das Lieben und Hassen nie recht erlernt, ihr Ödipuskomplex ist Phantasie und 
die Wirklichkeit ist eine infantil-narzißtische Form der Objektbeziehungen, 
regiert durch Identifizierungen mit ihren Konflikten und sozialen Ängsten 
an Stelle von Liebe und Haß. — In einer ständigen Gemeinschaft dagegen 
gibt es ja immer irgend welche Figuren, die eine Vater- oder Mutterrolle 


spielen, aber freilich werden auch da die Differenzen gegenüber der Er¬ 
ziehung durch den wirklichen Vater und die wirkliche Mutter sich im 
Ödipuskomplex spiegeln. 







54 


Otto Fenidiel: Spezialformen des Ödipuskomplexes 


So ist kein Zweifel, daß die Spezialformen vom Erleben abhanden. Wie 
aber ist es mit dem Rahmen? Ist der Ödipuskomplex selbst, die Tatsache 
von Liebe und Eifersuchtshaß gegenüber den Eltern, eine biologische 
Gegebenheit, wie ein Organ, wie die Nase resp. die Thymusdrüse eine 
biologische Gegebenheit ist? Oder ist am Ende nicht auch er ein Produkt 
des Erlebens, der Institution der Familienerziehung, und wandelbar? — So 
gestellt, t it das im Grunde eine dumme Frage; denn wenn wir an die 
Deszendenzlehre glauben, muß er wandelbar sein, weil ja dann auch die 
Nase wie alle Eigenschaften der Arten wandelbar ist. Allerdings ist, vom 
Standpunkt der Deszendenztheorie gesehen, nicht das Erleben des Einzel¬ 
individuums, sondern das phylogenetische Erleben ausschlaggebend. Viele 
Züge des Ödipuskomplexes, vor allem seine Verbundenheit mit archaischer 
Denkweise und mit der Vorstellung der Kastration, sprechen dafür, daß 
auch der Ödipuskomplex seine phylogenetisch verankerte Grundlage hat. 
Freud nimmt an, daß er erworben wurde, als die ganze Menschheit 
die gesellschaftliche Horden Struktur, den Vorläufer der Familie, hatte. Man 
kann seine diesbezüglichen Annahmen mitmachen, ohne in der Frage 
Stellung zu nehmen, ob man diese patriarchalische Horde als erste oder 
schon als spätere Organisationsform der Menschheit gelten lassen will. — 
Jedenfalls ist die Annahme einer solchen phylogenetischen Wurzel des 
Ödipuskomplexes kein Widerspruch gegen die durch die Erfahrungs¬ 
tatsachen seiner Spezialformen uns aufgedrängte, im Grunde selbstver¬ 
ständliche Ansicht, daß auch der Ödipuskomplex selbst sich ändern muß, 
wenn die Institution der Familie schwindet oder sich ändert. Ohne er¬ 
ziehende Eltern gibt es zwar Liebe und Haß der Kinder den sie um¬ 
gebenden Erwachsenen gegenüber und daraus sich ergebende Konflikte, — 
aber Ödipuskomplex können wir diese Erscheinung nur solange nennen, 
als sie mit der Elternphantasie einhergeht und die durch die Familie auf¬ 
gezwungene Kuppelung von Liebe und Eifersuchtshaß zeigt. Daß ein 
anderes Milieu andere Reaktionen bedingt und alle Lebenserscheinungen 
immer im Flusse sind, folgt mit Selbstverständlichkeit aus der Lehre 
Darwins. Freilich wird man nicht annehmen dürfen, daß solche Verände¬ 
rungen allzu rasch vor sich gehen. 
















































































































Dir diarakterologische Überwindung des Ödipus¬ 
komplexes 

y orlrag au f der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden, 
am 28. September 1930 

Von 

Wilhelin Reich 

Berlin 

Di, psychoanalytische Forschung ist in der Lage, zur Charakterlehre 
Uätilich neue Gesichtspunkte und von diesen Gesichtspunkten her, 
neue Ergebnisse zu liefern; dazu ist sie durch drei Eigenschaften befähigt: 

c!.m li ihre Lehre von den unbewußten Mechanismen, 

durch ihre historische Betrachtungsweise, und 

durch die Erfassung der Dynamik und Oekonomik des psychischen Ge- 
schehens. 

Indem sie von den Erscheinungen zu deren Wesen und Entwicklung 
vordringt und die Prozesse der „Tiefenpersönlichkeit“ im Querschnitt und 
MChnltt erfaßt, legt sie automatisch den Weg frei zum Ideal der 
« h irakterforschung, zu einer „Genetischen Typenlehre“, die uns nicht 
nur das naturwissenschaftliche Verständnis menschlicher Reaktionsweisen, 
sondern auch deren spezifische Entwicklungsgeschichte nahebringen könnte. 
Das Verdienst allein, die Charakterforschung aus dem Bereich der so¬ 
genannten Geisteswissenschaft im Sinne von K 1 a g e s in das der natur¬ 
wissenschaftlichen Psychologie herüberzutragen, wäre nicht zu unterschätzen. 

Die klinische Erforschung dieses Gebietes ist aber nicht einfach, und es 
bedarf zunächst einer Klärung des zu untersuchenden Tatbestandes. 

I 

Die Psychoanalyse hat ja von vornherein bei der Untersuchung des Charak¬ 
ters ihrem Wesen entsprechende neue Wege eingeschlagen. Freuds 1 
erste Entdeckung, daß sich bestimmte Charaktereigenschaften historisch 


1) Freud: Charakter und Analerotik, Ges. Sehr., Bd. V. 






56 Wilhelm Reich 


als durch Einflüsse der Umwelt hervorgerufene Abwandlungen und Fort¬ 
setzungen primitiver Triebrichtungen erklären lassen, daß etwa Geiz, Pe¬ 
danterie und Ordnungssinn Abkömmlinge analerotischer Triebkräfte sind, 
war hier bahnbrechend. Später haben insbesondere Jones 1 und Abraham 2 
die Charakterologie durch Zurückführung von Charakterzügen auf ihre 
infantil-triebhafte Grundlage (z. ß. Neid-Ehrgeiz —Harnerotik) um grund¬ 
sätzliche Funde bereichert. Bei diesen ersten Versuchen handelte es sich 
um die Erklärung der Triebgrundlage einzelner typischer Charakter- 
züge. Die Problematik aber, die sich aus den Anforderungen des therapeu¬ 
tischen Alltags ergibt, reicht weiter. Wir sind vor die Alternative gestellt, 
den Charakter als Gesamtformation sowohl allgemein als 
auch in seinen typologischen Abwandlungen historisch und dynamisch¬ 
ökonomisch zu verstehen oder aber auf die Beeinflussung einer nicht ge¬ 
ringen Anzahl von Fällen zu verzichten, bei denen es gerade auf die Be- 
seitigung ihrer charakter-neurotischen Reaktionsbasis ankommt. 

Von der klinischen Tatsache ausgehend, daß sich der Charakter des 
Kranken in seiner Grundeigenschaft als typische Reaktionsweise in den 
Dienst des Widerstandes gegen die Aufdeckung des Unbewußten stellt 
(Charakterwiderstand), konnte ich in früheren Arbeiten 3 nach- 
weisen, daß diese Funktion des Charakters in der Behandlung seine Ge¬ 
nese widerspiegelt: Die Anlässe, die die typische Reaktion eines Menschen 
im gewöhnlichen Leben und in der Behandlung in Gang setzen, sind die 
gleichen, die seinerzeit die Charakterbildung bedingten, die einmal her¬ 
gestellte Reaktionsweise aufrecht erhielten und festigten und sie sozusagen 
zu einem automatischen Mechanismus gestalteten. 

Bei dieser Problemstellung kommt es also nicht auf den Inhalt und 
die Eigenart dieses oder jenes Charakterzuges an, sondern auf die sinn¬ 
volle Arbeitsweise und die Genese der typischen Reaktionsweise überhaupt. 
Während wir bisher hauptsächlich die Inhalte des Erlebens und die neu¬ 
rotischen Symptome und Charakterzüge verstehen und genetisch erklären 
konnten, gelangen wir jetzt auch zur Klärung des formalen Problems, 
der Art und Weise, in der erlebt wird und neurotische Symptome 
produziert werden. Ich meine, wir gehen in der Annahme nicht fehl, daß 
wir das Verständnis dessen anbahnen, was man den Grundzug einer 
Persönlichkeit nennen möchte. 


1) Jones: Über analerotische Charakterzüge. IZfPsA, V, 1919. 

2) Abraham: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung Int PsA-Ver- 
lag, 1924. 

5) „Über Charakteranalyse“ (1928.), „Der neurotische und der genitale Charakter“ 
v 1 9 2 9 )» »Kindliche Phobie und Charakterbildung“ (1950), alle i. d. IZfPsA. 


[ 





























































































































Man fpric h, im Populären von harten und weichen, stolzen und sich 

... irigenden. kühlen und warmen, vornehmen und heißblütigen Menschen. 

Die p hoana |yse dieser verschiedenen Charaktere kann nachweisen, daß 
slfh pur um verschiedene Formen der Panzerung des Ichs gegen 
,)„• Gefahren der Außenwelt und die verdrängten Triebansprüche des 
Kj handelt. Hinter der übermäßigen Höflichkeit des einen wirkt historisch 
\ ngst als hinter der schroffen und gelegentlich brutalen 
Heaktionsweise des anderen. Verschiedene Schicksale nur haben bedingt, 
daß der eine seine Angst in dieser, der andere in jener Form erledigt 
oder zu erledigen versucht. Wenn die psychoanalytische Klinik von passiv- 
feinininen. paranoid aggressiven, zwangsneurotischen, hysterischen, genital- 
narzißtischen und anderen Charakteren spricht, so hat sie durch diese 
Namengebung in etwas grober Schematik differenzielle Reaktionstypen er- 
• a £ Ks kommt tber jetzt darauf an, sowohl das Gemeinsame der Tät¬ 
ige iir Iharakterbildung“ zu erfassen, als auch über die grundsätzlichen 
Bedingungen etwas auszusagen, die zu einer so typischen Differenzierung 


führen. 

\\ ir stellen uns für diese Arbeit die Aufgabe, das Gemeinsame an der 
Herstellung d* s (Charakters darzustellen und einige bekannte Differen- 
zierungsmei hanismen als Beispiele anzuführen. 


ii 

Ms nächstes haben wir die Frage zu behandeln, was die Charakter¬ 
bildung veranlaßt und in Gang setzt. Dazu ist es notwendig, an einige 
Kigensch.iften jeder charakterologischen Reaktion zu erinnern, die ich an 
anderer Stelle ausführlich dargestellt habe. Der Charakter besteht in einer 
chronischen Veränderung des Ichs, die man als Verhärtung be¬ 
schreiben möchte. Sie ist die eigentliche Grundlage für das Chronisch- 
w erden der für die Persönlichkeit charakteristischen Reaktionsweise. Ihr 
Si n ist der des Schutzes des Ichs vor äußeren und inneren Gefahren. 
\N chronisch gewordene Schutzformation verdient sie die Bezeichnung 
„Panzerung 1 *. Sie bedeutet klarerweise eine Einschränkung der psychischen 
Beweglichkeit der Gesamtperson. Diese Einschränkung ist gemildert durch 
nichtcharakterologische, also atypische Beziehungen zur Außenwelt, die wie 
freigebliebene Kommunikationen in einem sonst geschlossenen System an- 
tmio n. Es sind „Lucken“ im „Panzer“, durch die die libidinösen und 
sonstigen Interessen je nach der Situation gleich Pseudopodien ausgeschickt 
und wieder eingezogen werden. Der Panzer selbst ist aber beweglich zu 
denken. Seme Reaktionsweise verläuft durchweg nach dem Lust-Unlust- 
Prtnzip. In unlustvollen Situationen nimmt die Panzerung zu, in lust- 










58 Wilhelm Reich 

vollen lockert sie sich. Der Grad der charakterologischen Beweglichkej 
die Fähigkeit, sich einer Situation entsprechend der Außenwelt zu öffne 
oder sich gegen sie abzuschließen, macht den Unterschied zwischen realität 
tüchtiger und neurotischer Charakterstruktur aus. Als Prototyp eini 
pathologisch starren Panzerung imponieren etwa der affektgesperrte Zwang 
Charakter und die schizophrenen Autismen, die in der Richtung zur kati 
tonen Starre liegen. 

Der charakterologische Panzer ist entstanden als chronisches Ergehn 
des Aufeinanderprallens von Triebansprüchen und versagender Außenwe 
und bezieht aus den aktuellen Konflikten zwischen Trieb und Außenwe 
seine Kraft und seine fortdauernde Daseinsberechtigung. Er ist der Au 
druck und die Summe jener Einwirkungen der Außenwelt auf das Triel 
Ich, die durch Häufung und qualitative Gleichartigkeit ein historisch! 
Ganzes bildeten. Das wird sofort klar, wenn wir an bekannte Charakte: 
typen denken, wie etwa „der Bürger“, „der Beamte“, „der Proletarier' 
„der Fleischhauer“ usw. Die Stätte, an der er sich bildet, ist das Icl 
gerade jener Teil der Persönlichkeit, der an der Grenze zwischen de] 
bio-physiologisch Triebhaften und der Außenwelt liegt. Wir bezeichne 
ihn daher auch als den Charakter des Ichs. 

Im Beginne seiner definitiven Formierung finden wir in de 
Analysen regelmäßig den Konflikt zwischen den genitalen Inzestwünsche 
und der realen Versagung der Befriedigung dieser Ansprüche. D i 
Charakterbildung setzt ein als eine bestimmte Fori 
der Überwindung des Ödipuskomplexes. Die Bedingungei 
die gerade zu dieser Art der Erledigung führen, sind besondere, ebe 
charakterspezifische. (Diese Bedingungen gelten unter den heute herrschende 
gesellschaftlichen Umständen, denen die kindliche Sexualität unterlieg 
Mit der Änderung dieser Umstände werden sich auch die Bedingunge 
der Charakterbildung und mit ihnen die Charakterstrukturen verändern 
Denn es gibt auch andere, freilich nicht so wesentliche und die gesaml 
zukünftige Persönlichkeit bestimmende Erledigungsarten, etwa die einfach 
Verdrängung oder die Bildung einer infantilen Neurose. Betrachten wi 
das Gemeinsame an diesen Bedingungen, so finden wir überaus intensiv 
genitale Wünsche und ein noch verhältnismäßig schwaches Ich, welche 
aus Angst vor Strafe sich zunächst durch Verdrängungen schützt. Die Vei 
drängung führt zu einer Stauung der Antriebe und diese wieder bedrof 
die einfache Verdrängung mit einem Durchbruch des verdrängten Triebe: 
Das hat eine Veränderung des Ichs, etwa Herausbildung von Haltunge; 
ängstlicher Vermeidung zur Folge, die sich mit dem Ausdruck Scheu zu 
sammenfassen lassen. Das ist noch nicht charakterologisch, bloß der erst 






































































































Du* durakiercnuyt^^ 




Kat lber für die Charakterbildung bereits bedeutsame Folgen. 
t^Zh^oAer eine ihr verwandte Haltung des Ichs bedeutet zwar auf 
I),e Scheu Einschränkung des Ichs, auf der anderen aber eine 

Schutz vor Situationen, die Gefahren 


der einen Seite eine 

sie bietet einen^J 

WtMB und das Verdrängte provozieren 


etwa die 

ht hinreicht, die Bewältigung des Triebes zu leisten; im Gegen- 


Es zeigt sich aber, daß diese erste Veränderung des Ichs,^ 


t MW W— —T « 4 _. T j. , 

tei | ( ie Führt leicht zur Angstentwicklung und wird immer die Ha ungs- 
hen Phobie. Um die Verdrängung aufrechtzu erhalten, ist 
eln , weitere Veränderung des Ichs notwendig: Die Verdrängungen 
müssen festgekittet werden, das Ich muß sich verhärten, die 
Abwehr muß einen chronisch wirkenden, automatischen Charakter 
bekommen l nd da die parallel entwickelte kindliche Angst eine stete 
Bedrohung .irr Verdrängungen darstellt, da doch in der Angst das Ver- 
drangte sich äußert, da ferner die Angst selbst das Ich zu schwachen 
dro ht, muß auch gegen die Angst eine schützende Formation gebildet 
11,, treibende Motiv aller dieser Maßnahmen, die nun das Ich 
ergreift, ist letzten Hildes bewußte oder unbewußte Angst vor Strafe, die 
, durch das heute übliche reale Verhalten der Eltern und Erzieher täg- 
li, h neu angefacht wird. So ergibt sich das scheinbare Paradoxon, daß das 
Rind aus Angst auch die Angst zu erledigen trachtet. 

Die libido'ökonomisch notwendige Verhärtung des Ichs erfolgt im 
wesentlichen auf der Grundlage dreier Vorgänge: 

Es identifiziert sich mit der versagenden Realität in Gestalt der ver- 
tagenden Hauptperson. 

Es wendet die Aggression, die es gegen die versagende Person mobili¬ 
sierte und die selbst Angst erzeugte, gegen sich selbst. 

Ks bildet reaktive Haltungen gegen die genitalen Strebungen, indem 
es deren Energie dem Es entnimmt und nun in seinem eigenen Interesse 
verwendet. 

Der erste Vorgang erfüllt die Panzerung mit sinnvollen Inhalten. (Die 
Affektsperre eines Zwangskranken hatte den Sinn: „Ich muß mich be- 
herrschen, wie mein Vater mir immer gepredigt hat,“ aber auch: „Ich 
muß meine Lust retten und mich gegen den Vater abstumpfen.“) 

Der zweite Vorgang bindet vielleicht das wesentlichste Stück aggressiver 
Energie, sperrt einen Teil der Motorik und schafft dadurch das hemmende 
Element des Charakters. 

Der dritte Vorgang entzieht den verdrängten libidinösen Antrieben 
gewisse Quantitäten an Libido, so daß ihre Durchschlagskraft vermindert 
wird. Diese Veränderung wird später nicht nur aufgehoben, sondern über- 







6o Wilhelm Reidh 

boten durch die Steigerung der verbliebenen Energiebesetzungen in folg 
der Einschränkung der Motorik und ßefriedigbarkeit. 

Die Panzerung des Ichs erfolgt also anläßlich der Strafangst, au 
energetische Kosten des Es und mit den Inhalten der Verbote und Vo] 
bilder der Erziehungspersonen. Nur so löst die Charakterbildung ihi 
ökonomische Aufgabe, den Druck des Verdrängten zu mildern und das Ic 
darüber hinaus zu stärken. Aber der ganze Prozeß hat auch eine Kehrseite 
Hatte diese Panzerung nach innen Erfolg, vorläufig wenigstens, so bedeute 
sie gleichzeitig eine mehr oder minder weitgehende Absperrung sowoh 
gegen Triebreize von außen als auch gegen weitere Einflüsse der Erziehung 
Das braucht außer in groben Fällen von Trotzentwicklung eine äußei 
liehe Fügsamkeit nicht auszuschließen. Es darf auch nicht übersehe: 
werden, daß oberflächliche Fügsamkeit, wie etwa beim passiv-feminine: 
Charakter, sich mit härtester innerer Resistenz verbinden kann. An diese 
Stelle ist der Ort hervorzuheben, daß die Panzerung in dem einen Fall 
an der Oberfläche der Persönlichkeit, in dem anderen in der Tiefe erfolgi 
Bei tiefliegender Panzerung ist die äußere augenfällige Erscheinung de 
Persönlichkeit nicht ihr wirklicher, sondern ihr scheinbarer Ausdruck. Al 
Beispiel für Panzerung an der Oberfläche führe ich den affektgesperrte] 
Zwangscharakter und den paranoid-aggressiven Charakter, als Beispiel fü 
tiefe Panzerung den hysterischen Charakter an. Die Tiefe der Panzerunj 
hängt von hier nicht näher zu erörternden Bedingungen der Regressioi 
und Fixierung ab und gehört als Detailfrage zum Problem der Charakter 
diff erenzierung. 

UI 

Ist die charakterologische Panzerung auf der einen Seite Folge un< 
bestimmte Erledigungs a r t des kindlichen Libidokonfliktes, so wird sii 
unter den Bedingungen, denen die Charakterbildung in unseren Kultur 
kreisen unterliegt, in der Mehrzahl der Fälle Grundlage späterer neu 
rotischer Konflikte und Symptomneurosen; sie wird zur Charakter 
neurotischen Reaktionsbasis. An anderer Stelle 1 wurde di< 
Exacerbation der neurotischen Reaktionsbasis zur Symptomneurose eingehenc 
ausgeführt. Ich beschränke mich daher auf eine kurze Zusammenfassung 

Voraussetzung einer späteren neurotischen Erkrankung ist eine charak 
terologische Persönlichkeitsstruktur, die die Herstellung eines sexualökono 
mischen Haushalts nicht zuläßt. Die Grundbedingung der Erkrankung is 
also nicht der Ödipuskomplex an sich, sondern die Art und Weise, in de] 


1) Reich: „Der genitale und der neurotische Charakter.“ IZfPsA, XV, 1929, 





















































































































von 


Die iiigraKtvroiu^ia^^- 


. , , wurde Da aber diese Erledigung selbst von der Art des 
" ", jLfl.kte. weitgehend bestimmt ist (Intensität der Strafangst, Wette 

' T • •bhefriedigung gezogenen Grenzen, Charakter der Eltern usw.), 

. im Letzten die Entwicklung des Ichs des Kleinkindes bis zur 

L * de n Weg z ür n ««. ^ r 

sexuellen Haushalt all Grundlage der sozialen und sexuellen Potenz 

ie cbaraktemeurotische Reaktionsbasis ist dadurch gekennzeichnet, daß 
, .it ging und das Ich in einer Weise erstarren ließ daß es zu 
einem geordneten Sexualleben und Sexualerleben spater nicht kommen 
kann Das bedingt, daß die unbewußten Triebkräfte keine energetische 
Entlastung erfahret! und daß die sexuelle Stauung nicht nur permanent 
sondern sich ständig steigert. Als nächste Folge davon beobachten 

wir , sl , le /«nähme der charakterologischen Reaktionsbildungen gegen 

dH- sexuellen Ansprüche, die sich in Anlehnung an aktuelle Konflikte in 
Wichtigen l.ebenssituationen heranbilden. Wie im Kreislauf erhöht sich 
dadurch die Stauung, die zu neuerlichen Reaktionsbildungen ganz in der 
An des phobischen Vorbauens führt. Die Stauung wächst aber immer rascher 
j, ,r.e Panzerung zunimmt, bis schließlich die Reaktionsbildung der 
psyt Spannung nicht mehr adaequat ist. Und nun setzt der Durch- 

brut h der v< rdrängten Sexualwünsche ein, die sofort durch Sympiombildung 
abgewehrt werden 'Bildung einer Phobie oder eines Äquivalents). 

In diesem neurotischen Prozeß überschichten und durchsetzen einander 
die verschiedenen Abwehrpositionen des Ichs; wir finden dann im Quer¬ 
schnitt der Persönlichkeit charakterologische Reaktionen nebeneinander, 
JungcgMchichtlich zeitlich verschiedenen Perioden angehören. 
In der Phase des schließlichen Zusammenbruchs des Ichs gleicht der 
(Querschnitt der Persönlichkeit einem Landstrich nach einem vulkanischen 
Ausbruch, der Gesteinsmassen verschiedener geologischer Schichten durch- 
einanderlegte. Aber in diesem Durcheinander sind bald der führende Sinn 
und der kardinale Mechanismus aller charakterologischen Reaktionen heraus- 
zufinden, die, einmal festgestellt und verstanden, auf dem kürzesten Wege 
zum zentralen infantilen Konflikt führen. 


IV 

Welche differenzierenden Bedingungen für die Herstellung der gesunden 
und der pathologischen Panzerung sind heute schon erkennbar? Unsere 
Untersuchung der Charakterbildung bleibt sterile Theorie, so lange wir 
diese Frage nicht einigermaßen konkret beantworten und dadurch der 
Pädagogik Anhaltspunkte liefern können. Die Konsequenzen, die daraus 











62 


Wilhelm Reich 


folgen, versetzen allerdings den Pädagogen, der gesunde Menschen aufzieher 
will, in unserer heutigen Sexualordnung in nicht geringe Verlegenheit 
Zunächst muß noch einmal hervorgehoben werden, daß die Charakter 
bildung nicht von der bloßen Tatsache, daß Trieb und Versagung auf 
einanderstoßen, abhängt, sondern von der Art, wie dies geschieht, zu 
welchem Zeitpunkte die charakterbildenden Konflikte eingreifen und ar 
welchen Trieben. 

Versuchen wir es, uns in der Fülle der Bedingungen zur ersten Orien¬ 
tierung ein Schema zu schaffen. Wir überblicken dann folgende prinzipielle 
Möglichkeiten. Das Resultat der Charakterbildung hängt ab: 

Vom Zeitpunkt, in dem die Versagung den Trieb trifft; 

von der Häufung und Intensität der Versagungen; 

von den Trieben, die die zentrale Versagung erfahren; 

von dem Verhältnis zwischen Gewährenlassen und Versagung; 

vom Geschlecht der hauptsächlich versagenden Person; 

von den Widersprüchen in den Versagungen selbst. 

Da das Ziel einer künftigen Prophylaxe der Neurosen nur sein kann, 
Charaktere zu schaffen, die einerseits dem Ich gegen Außen und Innen 
genügend Halt geben, andererseits aber auch die für die seelische Ökonomie 
notwendige sexuelle und soziale Bewegungsfreiheit lassen, müssen wir uns 
zunächst darüber klar werden, was jede Versagung einer Triebbefriedigung 
des Kindes im Prinzip zur Folge hat. 

Jede Versagung von der Art der heutigen Erziehungsmaßnahmen bedingt 
eine Rückziehung der Libido ins Ich, mithin eine Verstärkung des sekun¬ 
dären Narzißmus; das bedeutet bereits eine charakterologische Wandlung 
des Ichs im Sinne einer Erhöhung der narzißtischen Sensibilität, die etwa 
als Scheu und erhöhte Angstbereitschaft zum Ausdruck kommt. Wurde 
die versagende Person — was gewöhnlich der Fall ist — geliebt, so ent¬ 
wickelt sich zuerst eine ambivalente Einstellung zu ihr, die dann in eine 
Identifizierung ausläuft: Das Kind nimmt neben der Versagung auch 
bestimmte Charakterzüge dieser Person in sich auf, und zwar gerade die¬ 
jenigen, die gegen den eigenen Trieb gerichtet sind. Das Endergebnis für 
den Trieb ist dann im wesentlichen seine Verdrängung. 

Die charakterologische Wirkung der Versagung ist aber ver¬ 
schieden nach dem Zeitpunkt, in dem sie den Trieb trifft. Im Beginne 
Triebentfaltung hat sie zur Folge, daß die Verdrängung zu gut gelingt; 
der Sieg ist zwar vollständig, aber der Trieb steht nun weder der Sublimie¬ 
rung zur Verfügung noch der bewußten Triebbefriedigung. Die zu frühe 
Verdrängung etwa der analen Erotik schädigt die Entwicklung der analen 
Sublimierungen und bereitet schwere anale Reaktionsbildungen vor. 













































































































rharak.eroIo.nsch bedeutsamer ist, daß durch die Ausschaltung der Triebe 
< r fü *e der Person eine Schädigung der Gesamtaktivität gesetzt 
Zt 'lL sieht man zum Beispiel bei Kindern, bei denen die Aggression 

und die motorische Lust zu früh gehemmt wurden. 

\ut dem Höhepunkt seiner Entwicklung kann ein Trieb kaum me r 
L r mz zur Verdrängung gebracht werden. Hier kann eine Versagung nur 
mehr einen unlösbaren Konflikt stiften zwischen Verbot und Drang: Trifft 
eine jähe und ungewohnte Versagung den Trieb auf der Hohe seiner 
Entfaltung, so ist der Boden für die Entwicklung einer triebhaften Per¬ 
sönlichkeit gelegt 1 . Das Kind nimmt dann das Verbot nicht voll auf, 
produziert aber trotzdem starke Schuldgefühle, die ihrerseits wieder das 
triebhaite Handeln zum Zwangsimpuls verstärken: Daher begegnen wir 
hei triebhaften Psychopathen einer ungefügten Charakterstruktur, die um 
g efähr das gerade Gegenteil von dem Postulat der genügenden Panzerung 
g.'gen Außen und Innen darstellt. Es ist für den Triebhaften charak¬ 
teristisch. daß nicht die Reaktionsbildung gegen den Trieb, sondern der 
Trieb selbst (vorwiegend sadistische Impulse) in den Dienst der Abwehr 
von imaginären Gefahrsituationen, auch Triebgefahren, eingestellt ist. Da 
infolge* der zerrütteten Genitalstruktur der Libidohaushalt desolat ist, steigert 
die Sexualstauiing die Angst und mit ihr die charakterologischen Reaktionen 


gelegentlich zu Exzessen jeder Art. 

Das Gegenteil des triebhaften ist der triebgehemmte Charakter, der als 
Typus den hysterischen, zwangsneurotischen und depressiven Charakter 
umfaßt. >d wie der triebhafte Charakter sich in seiner Entwicklung kenn- 
zeit hnet durch den Gegensatz von vollentfaltetem Trieb und jäher Ver¬ 
sagung auf seinem Höhepunkte, so der triebgehemmte Charakter durch 
eine Häufung der Versagungen und sonstigen triebeinschränkenden Er¬ 
ziehungsmaßnahmen vom Anfang bis zum Abschluß der Triebentwicklung. 
Dr m entspricht die charakterologische Panzerung: Sie neigt zur Starre, 
beengt beträchtlich die psychische Bewegungsfreiheit des Individuums, 
bildet die Reaktionsbasis für depressive Zustände und Zwangssymptome 
(gehemmte Aggression), macht aber, und das ist ihr soziologischer Sinn, 
den Menschen zu einem braven, im Kern kritiklosen Untertanen. 

l ; iir die Art des späteren Sexuallebens am bedeutsamsten ist das 
Geschlecht und der Charakter der Haupterziehungs¬ 
person. 

W ir reduzieren die sehr komplizierte Einflußnahme der Gesellschaft auf 
das Kind auf den Tatbestand, daß es in einer aus Familien aufgebauten 


i) Vgl. Reich: „Der triebhafte Charakter“, Int. PsA. Verlag 1925. 











64 


Wilhelm Reich 


Erziehungsorganisation im wesentlichen der Vater und die Mutter sind, d 
als Hauptvollzugsorgane des gesellschaftlichen Einflusses einwirken. Durc 
die meist unbewußt sexuelle Einstellung der Eltern zu ihren Kinder 
fügt es sich, daß der Vater die Tochter, die Mutter den Sohn mehr liel 
und weniger ablehnt, daher auch weniger einschränkt und erzieht. Dj 
Sexualbeziehung allein bestimmt also in den meisten Fällen, daß de 
gleichgeschlechtliche Elternteil zur Haupterziehungsperson wird. Mit de 
Einschränkung, daß in den ersten Lebensjahren des Kindes und bei de 
Masse der werktätigen Bevölkerung sich dieses Verhältnis zugunsten de 
Mutter als Erziehungsperson verschiebt, kann man sagen, daß die gleicl 
geschlechtliche Identifizierung führend ist, die Tochter also ein mütte] 
liches, der Sohn ein väterliches Ich und Über-Ich entwickelt. Es komm 
aber durch eine besondere Konstellation der Familie oder des Charaktei 
der Eltern auch sehr häufig zu Abweichungen. Wir erwähnen einige typisch 
Grundlagen von Fehlidentifizierungen. 

Betrachten wir zunächst die Verhältnisse beim Knaben. Unter gewöhn 
liehen Umständen, wenn er nämlich den einfachen Ödipuskomplex enl 
wickelt hat, wenn die Mutter ihn mehr liebte und ihm weniger versagt 
als der Vater, wird er sich mit diesem identifizieren und so — voraus 
gesetzt, daß der Vater selbst ein aktiv-männliches Wesen hatte — sich b 
der Richtung männlicher Aktivität entfalten. War hingegen die Mutte 
eine strenge, „männliche Persönlichkeit, gingen von ihr die wesentlichstei 
Versagungen aus, so wird sich der Knabe vorwiegend mit ihr identifizierei 
und je nach der erogenen Stufe, auf der die mütterliche Hauptversagun* 
ihn traf, eine Mutteridentifizierung auf phallischer ode: 
auf analer Basis entwickeln. Auf der Grundlage der phallischei 
Mutteridentifizierung pflegt sich ein phallisch-narzißtischer Charakter zi 
entwickeln, dessen Narzißmus und Sadismus sich besonders gegen Frauer 
richten (Rache an der strengen Mutter). Diese Haltung ist die charaktero 
logische Abwehr der tief verdrängten ursprünglichen Liebe zur Mutter, 
die neben ihrem versagenden Einfluß und der Identifizierung mit ihi 
nicht bestehen bleiben konnte, vielmehr in eine Enttäuschung auslief, 
Genauer: Sie verwandelte sich in die charakterologische Haltung, aus dei 
sie aber jederzeit wieder durch Analyse gelöst werden kann. 

Bei der Mutteridentifizierung auf analer Basis ist der Charaktei 
passiv und feminin geworden, aber nicht Männern, sondern Frauen gegen¬ 
über; solche Charaktere bilden oft die Basis der masochistischen Perversion 
mit der Phantasie der strengen Frau. Diese Charakterformation dient 
meist der Abwehr phallischer Wünsche, die in der Kindheit kurze Zeit 
zwar, aber intensiv der Mutter gegolten hatten. Es besteht Kastrationsangst 













































































or der Matter, die die anale Identifizierung mit ihr unterstützt. Die 
Bisis dieser Charakterformation ist spezifisch die Analität. 

, lieg t dem passiven und femininen Charakter des Mannes eine 
Identifizierung mit der Mutter zugrunde. Aber während beim oben 
beschriebenen Typus, da die Mutter die versagende Erziehungsperson war, 
iic auc h das Objekt der Angst ist, dem diese Haltung gilt, gibt es eine 
Form des passiv-femininen Charakters, die durch übergroße Strenge des 
Vaters zustande kam. Das geschah in der Weise, daß der Knabe von 
der männlich-phallischen Linie aus Angst vor Realisierung seiner genitalen 
Wunsche auf die weiblich-anale zurückwich, sich hier mit seiner Mutter 
•rte und zu seinem Vater, später zu allen Autoritäten, passiv und 
weiblich einstellte. Übertriebene Höflichkeit und Zuvorkommenheit, Weich- 
igung zur Hinterlist kennzeichnen diesen Typus, der mit seiner 
aktiven männlichen Strebungen abwehrt, in erster Linie 
seinen verdrängten Haß gegen den Vater. Neben seinem de facto weib- 
lich passiven Wesen (Mutteridentifizierung im Ich) hat er sich aber in 
seinem Ichideal mit seinem Vater identifiziert (Vateridentifizierung im 
Über-Ich und Ichideal), ohne diese Identifizierung wegen des Mangels 
einer phallischen Position je realisieren zu können. Er wird immer weib- 
Üch sein und männlich sein wollen. Ein schweres Minderwertigkeits- 
gef ihl, das sich aus dieser Spannung zwischen weiblichem Ich und 
männlichem Ichideal ergibt, wird seinem Wesen stets den Stempel des 
Gedrückten, manchmal Geduckten aufprägen. Die regelmässig vorhandene 
&( hwere Potenzstörung gibt dem ganzen eine rationale Berechtigung. 

Vergleichen wir diesen Typus mit dem der phallischen Mutteridentifi- 
zierung, <<> sehen wir, daß der phallisch-narzißtische Charakter ein Minder¬ 
wertigkeitsgefühl erfolgreich ab wehrt, so daß es sich nur dem geübten 
Auge verrät, der passiv-feminine Charakter dagegen sein Minderwertig¬ 
keitsgefühl offen ausprägt. Der Unterschied liegt in der erogenen Grund¬ 
struktur: Die phallische Libido befähigt eben zur kompletten Kompensation 
aller Hütungen, die dem männlichen Ichideal nicht entsprechen, während 
die anale Libido als Zentrum der Sexualstruktur beim Manne eine solche 
Kompensation unmöglich macht. 

1 ür das Mädchen gilt umgekehrt, daß ein wenig versagender Vater 
eh» r zur Herstellung eines femininen Charakters beitragen wird als ein 
strenger, brutaler. Serien von klinischen Vergleichen lehren, daß das 
Mädchen auf den brutalen Vater typisch mit der Ausbildung eines männlich- 
harten Charakters reagiert. Der stets bereitliegende Penisneid wird aktiviert 
und gestaltet sich unter charakterologischer Veränderung des Ichs zum 
Männlichkeitskomplex. In diesem Falle dient das männlich-aggressive 

Int; Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 5 







66 


Wilhelm Reich 


harte Wesen der Abpanzerung gegen die kindlich-feminine Einstellung 
zum Vater, die wegen seiner Lieblosigkeit oder Härte verdrängt werden 
mußte. War hingegen der Vater milde und liebevoll, so konnte das kleine 
Mädchen ihre Objektliebe zum großen Teile — mit Ausschluß der sinn¬ 
lichen Komponente — beibehalten und sogar entwickeln; sie war nicht 
genötigt, sich mit dem Vater zu identifizieren. Auch sie hat zwar gewöhn¬ 
lich einen Penisneid acquiriert; er blieb aber, da die Versagungen auf 
heterosexuellem Gebiet relativ gering waren, charakterologisch unwirksam. 
Wir sehen also, man sagt nichts aus, wenn man behauptet, diese oder 
jene Frau hätte einen Penisneid. Auf seine charakterologische und sympto¬ 
matische Wirkung kommt es an. Entscheidend ist bei diesem Typus, daß 
im Ich eine mütterliche Identifizierung zustande kam; sie prägt sich in 
Charaktereigenschaften aus, die als weiblich bezeichnet werden. 

Die Aufrechterhaltung dieser Charakterstruktur ist an die Bedingung 
gebunden, daß sich in der Pubertät sehr bald der vaginale Primat als 
dauernde Grundlage der Femininität hinzugesellt. Schwere Enttäuschungen 
am Vater oder an Vatervorbildern in diesem Alter können eine Regression 
zum Penisneid bedingen, die in der Kindheit ausgebliebene männliche 
Identifizierung anregen, den schlummernden Penisneid aktivieren und so 
erst spät zu einer Wandlung des Charakters führen. Das sehen wir so oft 
bei Mädchen, die ihre heterosexuellen Wünsche aus moralischen Gründen 
(Identifizierung mit der kleinbürgerlich moralischen Mutter) verdrängen 
und Enttäuschungen an Männern provozieren. In der Mehrzahl der Fälle 
neigen solche weibliche Charaktere zur Entwicklung eines hysterischen 
Wesens. Wir sehen dann ein immerwährendes Vordringen der Genitalität 
zum Objekt (Koketterie) und Zurückschrecken, unter Entwicklung genitaler 
Angst, wenn es ernst zu werden droht (hysterische Genitalangst). Der 
hysterische Charakter bei der Frau ist der Schutz gegen die eigenen 
genitalen Wünsche und die männliche Aggression des Objekts. 

Wir begegnen in unseren Analysen dem Sonderfall, daß strenge, harte 
Mütter Töchter großziehen, die charakterologisch weder männlich noch 
weiblich, sondern kindlich bleiben oder wieder werden. Die Mutter bot 
dem Kinde zu wenig Liebe, der Ambivalenzkonflikt gegen die Mutter 
über wog beträchtlich zugunsten des Hasses, vor dessen Gefahren sich das 
Kind auf die orale Stufe der sexuellen Entwicklung zurückzog. Es haßt 
die Mutter auf genitaler Stufe, verdrängt den Haß und verwandelt ihn, 
nachdem es sich oral eingestellt hat, in reaktive Liebe und eine lähmende 
Abhängigkeit von der Mutter. Solche Frauen entwickeln ein eigenartig 
klebriges Verhalten älteren oder verheirateten Frauen gegenüber, 
hängen an ihnen in masochistischer Weise, neigen zur passiven Homo- 







































































Die charakter oiogische Überwindung des Ödipuskomplexes _67 

Sexualität (im Falle von Perversionsbildung: Cunmlmgus), lassen sich von 
Vieren Frauen betreuen, entwickeln nur geringes Interesse für Männer 
und S ind in ihrem gesamten Dasein von „Säuglingsallüren" beherrscht. 
Diese charakterologische Haltung ist ebenso wie jede andere eine Panzerung 
reiien verdrängte Wünsche und Reizschutz gegen die Außenwelt: Hier 
(heilt der Charakter der oralen Abwehr intensiver Haßtendenzen gegen 
die Mutter, hinter denen in der Tiefe oft nur sehr schwer die eben¬ 
falls abgewehrte normale feminine Einstellung zum Manne aufzufinden ist. 

V 

Wir hatten bisher nur die Tatsache im Auge, daß das Geschlecht der 
versagenden Erziehungsperson für die Gestaltung des Charakters wesentlich 
ist, und berührten dabei ihren Charakter nur insofern, als wir von 
„strenger“ und „milder" Einflußnahme sprachen. Die Charakterbildung 
des Kindes hängt aber auch in anderer entscheidender Hinsicht vom Wesen 
der Eltern ab, das seinerseits wieder von allgemeinen und besonderen 
gesellschaftlichen Einflüssen bestimmt ist. Vieles von dem, was man in der 
offiziellen Psychiatrie, die sich über diese Tatbestände keine Rechenschaft 
zu geben vermag, als vererbt ansieht, erweist sich bei genügend tiefer 
\nalyse als Ergebnis frühzeitiger konfliktuöser Identifizierungen. 

Wir leugnen nicht, daß Reaktionsweisen hereditär angelegt sind. Hat 
doch sc hon das Neugeborene seinen „Charakter". Aber wir meinen, daß 
chiaggebenden Einfluß das Milieu hat. Es bestimmt darüber, ob 
eine vorhandene Anlage entwickelt, verstärkt oder gar nicht zur Entfaltung 
zugelassen wird. Den stärksten Einwand gegen die Anschauung vom 
Angeborensein des Charakters bilden wohl jene Fälle, bei denen die Analyse 
nachweist, daß sie bis zu einem bestimmten Alter gewisse Reaktionsweisen 
hatten, von diesem Alter ab aber sich charakterologisch vollständig anders 
entwickelten, etwa zuerst leicht erregbar und heiter, später depressiv, oder 
zuerst zornig-motorisch waren, dann still und gehemmt wurden. Es ist aber 
wahrscheinlich, daß ein gewisser Grundton der Persönlichkeit angelegt und 
kaum veränderbar ist. Die Überbetonung der hereditären Faktoren beruht 
zweifellos auf einer unbewußten Scheu vor den Konsequenzen, die sich für 
eine Kritik der Erziehung ergeben, wenn man ihre Einflüsse richtig einschätzt. 

Diese Streitfrage wird erst dann endgültig entschieden sein, wenn sich 
eine maßgebende offizielle Stelle dazu entschließen wird, ein Massen¬ 
experiment zu machen, etwa 100 Kinder von psychopathischen Eltern 
gleich nach der Geburt zu isolieren, einem gleichmäßigen Erziehungs¬ 
milieu auszusetzen und die Ergebnisse später mit dem von 100 anderen, 
im psychopathischen Milieu verbliebenen Kindern zu vergleichen. 


5* 














68 


Wilhelm Reich 


VI 

Überblicken wir noch einmal kurz die bisher entworfenen Skizzen von 
Charaktergrundstrukturen, so sehen wir, daß sie alle das gemeinsame 
haben, durch die Konflikte des Ödipuskomplexes angeregt zu werden, sie 
in besonderer Form zu erledigen und gleichzeitig für die Zukunft zu 
bewahren. Wenn Freud seinerzeit feststellte, daß der Ödipuskomplex an 
der Kastrationsangst zugrunde geht, so können wir fortsetzend sagen: Er 
geht zwar unter, ersteht aber neu in anderer Form, er transformiert sich 
in charakterologische Reaktionen, die teils seine Hauptzüge in verstellter 
Weise fortführen, teils aber Reaktionsbildungen gegen seine Grundelemente 
darstellen. 

Wir dürfen weiter zusammenfassend sagen, daß der neurotische Charakter 
nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seiner Form ganz wie das 
Symptom kompromißartig aufgebaut ist. Er enthält den infantilen Trieb' 
anspruch und die Abwehr, die der gleichen oder verschiedenen Entwicklungs¬ 
stufen angehören; der infantile Kernkonflikt besteht fort, transformiert in 
formal in Erscheinung tretenden Haltungen, in chronisch gewordenen 
automatischen Reaktionsweisen. 

Durch diese Einblicknahme in ein Stück menschlicher Entwicklung 
werden wir befähigt, eine Frage zu beantworten, die Freud seinerzeit 
aufgeworfen hat: In welcher Form ist das Verdrängte erhalten, als doppelte 
Niederschrift, als Erinnerungsspur oder anders? Wir können jetzt mit aller 
Vorsicht schließen, daß jene Teile des infantilen Erlebens, die nicht 
charakterologisch verarbeitet wurden, als affektbesetzte Erinnerungsspuren, 
die aber das Schicksal der charakterologischen Transformierung erfuhren, 
als aktuelle Reaktionsweise erhalten bleiben. So dunkel dieser Vorgang 
auch noch sein mag: An diesem „Als-Funktion-Fortbestehen“ kann kein 
Zweifel sein, denn es gelingt uns in der analytischen Therapie, solche 
charakterologische Funktionen wieder in ihre Urbestandteile aufzulösen. 
Es handelt sich nicht um eine Hebung von Versunkenem, wie etwa bei 
der hysterischen Amnesie, sondern um einen Prozeß, der etwa der Wieder¬ 
herstellung eines chemischen Stoffes aus einer Verbindung zu vergleichen 
wäre. Wir verstehen jetzt auch besser, warum es uns in manchen schweren 
Fällen von Charakterneurose nicht gelingt, den Ödipuskonflikt zu heben, 
wenn wir nur die Inhalte analysieren; das liegt daran, daß er in der 
Gegenwart gar nicht mehr existiert, sondern nur durch analytische Zer¬ 
setzung der formalen Reaktionsweisen gewonnen werden kann. Das 
erweitert natürlich unsere therapeutischen Möglichkeiten. 

Das zuletzt Gesagte gilt nur für den neurotischen Charakter. Nur bei 











































































































1 m trifft zu daß der Ödipuskomplex in der beschriebenen Formfort- 
ü u, Der Idealtypus des Gesunden, der genitale Charakter, unterscheidet 
h' vom neurotischen eben dadurch, daß der Ödipuskonflikt nicht » 
charakterolcnsche Funktionen umgesetzt, sondern durch En er gi eentzug 
eri-digt wurde. Ist nämlich der Hauptanteil der Libido teils in 
Sublimierungen (statt in Reaktionsbildungen), teils in genitalen Einstellungen 
lum Objekt (statt in prägenitalen und sadistischen) untergebracht un 
befriedig«, ist also das psychische Interesse in der Hauptsache der Realität 
und rationalen Gegenständen zugewendet, so fehlt der Anlaß zur Heraus 
bildung oder zur Erhaltung der starren chronischen Formen der Reaktion¬ 
äre ' W ie wir sie bei neurotischen Charakteren sehen. Der genitale 
Charakter ist daher in seiner Reaktionsweise beweglich, kann sich gegen 
die Außenwelt, wenn nötig, ebenso abpanzern wie er in anderen Lebens¬ 
lagen sich ihr vollkommen öffnen kann. 1 

Diese idealtypische Abgrenzung, die sich auf Sonderung der spezifisch 
pathogenen von den spezifisch realitätstüchtigen seelischen Dynamismen 
stützt, ist weit entfernt davon, eine theoretische Spielerei zu sein. Sie 
geschieht vielmehr mit der bewußten Zielsetzung, auf dieser Grundlage 
zu einer Theorie der seelischen Ökonomie zu gelangen, die der 
^ogik praktische Ziele setzen kann. Es kann natürlich nur Sache der 
Gesellschaft sein, die praktische Auswertung einer solchen Theorie vom 
seelischen Energiehaushalt zu ermöglichen und zu fördern oder abzulehnen. 
Die heutige Gesellschaft mit ihrer sexualablehnenden Moral und ihrer 
wirtschaftlichen Insuffizienz, der Masse ihrer Mitglieder auch nur das 
I xisieii/niiniimim zu sichern, ist von der Kenntnisnahme solcher Möglich 
Seiten ebenso weit entfernt wie von der Möglichkeit praktischer Anwendung. 
Das wird sofort klar, wenn wir vorgreifend mitteilen, daß sowohl die 


Ehernbindung und die Onaniebekämpfung in der kindlichen Frühzeit wie 
die Askeseforderung für die Pubertät und die Einzwängung der sexuellen 
Interessen in die (heute soziologisch berechtigte) Eheinstitution so ziemlich 
das Gegenteil von den Bedingungen darstellen, die zur Herstellung und 
Durchführung eines sexualökonomischen seelischen Haushalts notwendig 
•ind. Die herrschende Sexualordnung schafft mit Notwendigkeit die 
charakterologische Grundlage der Neurosen; die sexuelle und seelische 
Ökonomie schließt die heutige, mit allen Mitteln verteidigte Moral aus. 
Das ist eine der unerbittlichen sozialen Konsequenzen der psychoanalytischen 
Neurosenforschung. 


1) Vgl. hierzu; Reich. Der genitale und der neurotische Charakter. IZfPsA, 
XV., 1929. 









70 


Wilhelm Reich 


VII 

In der individuellen psychoanalytischen Therapie leistet die Berück¬ 
sichtigung der Widerstände, die vom Charakter ausgehen (Charakter¬ 
widerstände), nicht zu unterschätzende Dienste bei der Beseitigung der 
neurotischen Reaktionsbasis. Unsere Therapie wirkt über die kausale 
Symptomanalyse hinaus und leistet als Charakteranalyse das, was man in 
der Psychotherapie etwas anspruchsvoll die „Behandlung der Gesamt¬ 
persönlichkeit“ nennt; sie unterscheidet sich von der übrigen Psychotherapie 
aber wesentlich dadurch, daß sie die Gesamtpersönlichkeit weder erzieherisch 
noch sonst irgendwie synthetisch, sondern lediglich durch Störung des 
charakterneurotischen Gleichgewichts und Deutung der sinnvollen Arbeits¬ 
weise des charakterologischen Panzers verändert. Dabei entscheiden schließlich 
die natürlichen Antriebe zur genitalen Lust und sozialen Betätigung, die 
durch die Charakterneurose nur an der Entfaltung behindert waren. Der 
technische Vorgang besteht darin, daß man, nachdem ein Teil der charaktero¬ 
logischen Reaktion verstanden wurde, diese dem Patienten isoliert vorführt 
und ständig objektiviert. Da nämlich der Kranke wohl für seine neu¬ 
rotischen Symptome, nicht aber für seine neurotische Reaktionsweise 
krankheitseinsichtig ist, muß ihrer Analyse die Objektivierung vorangehen, 
die den Kranken befähigt, sich zu seinem neurotischen Charakterzug ebenso 
einzustellen wie zu seinem subjektiv quälenden Symptom. Die Charakter¬ 
analyse, welche wesentlich in dieser Isolierung, Objektivierung und Deutung 
des Charakters besteht, erfolgt nicht am Ende der Analyse, sozusagen als 
ihre Vollendung, auch nicht nebenbei bei solchen Fällen, bei denen eine 
besonders ausgeprägte Charakterneurose besteht, sondern sie ist in jedem 
Falle indiziert aus folgenden Gründen: Erstens gibt es keine Neurose, die 
sich nicht auf einem neurotischen Charakter aufbaute; die Unterscheidung 
von Symptomneurosen und Charakterneurosen trifft daher nicht zu; man 
kann nur Charakterneurosen mit neurotischen Symptomen und ohne solche 
unterscheiden. Zweitens behindert der charakterologische Panzer, solange 
er unangetastet bleibt, die therapeutische Wirksamkeit unserer analytischen 
Deutungen; es ist mehr als eine Analogie, wenn wir sagen, daß die 
Deutungen am Charakter abprallen und verpuffen, wenn wir nicht diesen 
selbst auflockern und uns so einen Zugang zu den von ihm geschützten 
und abgewehrten Strebungen schaffen. Drittens ging aus unseren Aus¬ 
führungen hervor, daß die wesentlichsten kindlichen Konfliktsituationen in 
charakterologische Reaktionen transformiert wurden und daher ohne Analyse 
der Haltungen nicht faßbar sind. Und schließlich erleichtern wir uns 
durch die systematische Charakteranalyse den direkten Zugang zum 
zentralen infantilen Konflikt. 






































































































Die diarakteroiogiscnc 


Das bedeutet keine Neuerung der Technik, sondern nur ihre Erweiterung 
in einer bestimmten Richtung, ohne daß dadurch irgendetwas vom Alten 
überflüssig würde. Bezüglich der Detailfragen muß ich auf meine Arbeit 
I ber Charakteranalyse“ verweisen. 

' Die individuelle Therapie kann aber mit Rücksicht auf die Masse der 
Neurosen nicht das erstrebenswerte Ziel der praktischen Psychoanalyse 
bleiben. Es gilt, sich über die Kriterien einer wirksamen Prophylaxe der 
Neurosen und darüber klar zu werden, wie man die Herstellung er 
charakterneurotischen Reaktionsbasis verhindern kann. Das sei weiteren 
Untersuchungen Vorbehalten. Aber wir müssen schon jetzt feststellen, a 
unsere Erziehung auf dem Kopf steht und durch die psychoanalytische 
Erforschung der seelischen Ökonomie theoretisch auf die Beine gestellt 
werden muß. Erst dann wird die Gesellschaft, insofern sie sich dazu die 
nötige Bewegungsfreiheit verschafft, ihre praktischen Folgerungen für die 
Erziehung ableiten können. 











Psychoanalyse und Medizin in ihren Beziehungen 

zur Angstneurose 

Vortrag auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden, 

am 29. September 1930 

Von 

H. Christoffel 

Basel 

Ein Blick m die jüngste psychoanalytische Literatur zeigt, was schon 
lange klar, daß die Beziehungen der Psychoanalyse zur Medizin auch 
gegenwärtig nicht sehr im Vordergründe stehen. Metapsychologische, 
religionswissenschaftliche, ethnologische, soziologische und biographische 
Probleme beanspruchen zurzeit das Hauptinteresse der Analytiker. Die 
von Freud (in seiner „Selbstdarstellung“) etwas ironisch charakterisierte 
analytische „Penetration pacifique“ der Medizin ist offenbar nicht soweit 
gediehen, daß sich fruchtbare Anknüpfungspunkte zwischen den beiden 
Forschungsgebieten ergäben. — Dennoch vereinen sich in uns gewisse 
analytisch-medizinische Interessen, da der ärztliche Analytiker mit 
medizinischen Problemen vielfach in eine Berührung kommt, die es 
angezeigt erscheinen läßt, an einem Ausschnitt aus der psychoanalytischen 
Neurosenlehre auf sie einzugehen. 

Ich wähle dazu das Krankheitsbild der Angstneurose; gehört sie 
doch zu denjenigen Störungen, deren weitere Erforschung nach Freud 1 
der Analyse „keine Angriffspunkte“ bietet und „Aufgabe der biologisch¬ 
medizinischen Forschung“ sein soll. Diese 1917 zum Ausdruck gebrachte 
Resignation Freuds hat aber offenbar nicht völlig recht behalten. 
Wenigstens das Problem der Angst finden wir von Freud bis zu seiner 
letzten Schrift verfolgt 2 und in wichtigen Wandlungen begriffen; und in 
dem 1926 erschienenen Buche von Freu d über „Hemmung, Symptom 

1) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. VII 

24. Vorlesung. ’ 

2) Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Int. PsA. Verlag 1930. 



































































































"" Psvdioandlyse u nd Medizin in ihren Beziehungen zur Angstneurose 73 

und Angst“ 1 erfährt die Angstneurose selbst eingehende Würdigung. So 
wäre doch von ihm selbst im Laufe der 13 Jahre wesentlich Neues zum 
Thema beigestellt worden, nachdem er erstmals vor 35 Jahren die 
{•>< n < iitiiiung dargetan hat, „von der Neurasthenie einen bestimmten 
Sympt omenkomplex als Angstneurose abzutrennen“ 2 (1895). Die erhoffte 
biologisch-medizinische Erforschung der Angstneurose aber steht noch aus, 
lrotz der starken Entwicklung besonders der Endokrinologie. 

Wenn uns Freud erzählt, seit vielen Jahren keine Gelegenheit mehr 
gebäht zu haben, in seiner Praxis Aktual-, resp. Angstneurosen zu studieren, 3 
so berührt er damit einen Punkt, der in gewissem Maße für die analytische 
Praxis überhaupt gilt: die Patienten des Analytikers rekrutieren sich in 
erster Linie aus Psycho-, erst in zweiter aus Aktualneurotikern. Daß aber 
außerdem im Verlaufe von Psychoneurosen und während deren Analyse 
akiuaIneurotische Momente hervortreten können, bedarf vielleicht der 
besonderen Hervorhebung. 

Ich setze die Ätiologie der Angstneurose als Endotoxikose, speziell 
bewirkt durch frustrane sexuelle Erregung, also durch aktuelle, nicht 
historische Bedingungen, als bekannt voraus und rekapituliere die 
Sv m [> t o in a t o 1 o g i e nach Freuds Darstellung von 1895: „Allgemeine 
Reizbarkeit“, insbesondereGehörsüberempfindlichkeit; „ängstliche Erwartung, 
die Auswahl ih r Vorstellungen beherrschend“, Angstanfälle mit „der nahe- 
liegenden Deutung des Schlagtreffens, des drohenden Wahnsinns“. Mit 
dem Angstempfinden oft einhergehend Störungen der Atem-, Zirkulation-, 
Drüsen- und Darnitätigkeit. Insbesondere klagt der Patient über Herzkrampf, 
Palpitaiionen, Atemnot, Schweißausbrüche. Harndrang, Diarrhöen; in der 
Darstellung des Kranken tritt das Angstgefühl häufig hinter den körper- 
hohen Sensationen zurück oder wird fast unkenntlich als Schlecht werden. 
Unbehagen usw. bezeichnet: larvierte Angstzustände, Angstäquivalente. 
— Als Formen körperlicher Angstentäuißerung erwähnt Freud die Pseudo¬ 
angina pectoris als diagnostisch besonders heikles Gebiet. Ich greife ferner 
aus seinen Beschreibungen die Schweißausbrüche vom Charakter des Nacht¬ 
schweißes heraus, das Zittern, Taumelgefühl und gelegentliche Ohnmächten 
Aber schon diese unvollständige Aufzählung genügt, es verständlich scheinen 
zu lassen, daß der Angstneurotiker in erster Linie den körperlichen Arzt 
aufsucht. 


1) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI. 

2) Freud: Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten 
Symptomenkomplex als Angstneurose abzutrennen, Ges. Sehr., Bd. I. 

3 ) „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, Ges, Sehr., Bd. VII, und 
„Selbstdarstellung“. Ges. Sehr., Bd. XI. 















n 


74 H. Christoffel 

Freud hat gelegentlich die Frage zur Diskussion gestellt, was zu 
geschehen habe „gegen das Übermaß von neurotischem Elend, das es in 
der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben braucht“. 1 Unterscheiden wir 
Vorbeugung und Behandlung, so wird die erstere großenteils Sache der 
Erzieher sein. Aber ein gewiß auch nicht unwesentlicher Teil der 
Neurosenprophylaxe liegt bei den Ärzten und besteht in der richtigen 
Erfassung der Aktualneurosen, als deren Hauptver- 
treterin die Angstneurose zu gelten hat. Ist doch das angst¬ 
neurotische Symptom häufig Kern und Vorstufe des psychoneurotischen 
und spielt nach einem Bilde von Freud „die Rolle jenes Sandkorns, 
welches das Muscheltier mit den Schichten von Perlmuttersubstanz 
umhüllt.“ 2 

So ist es einesteils die Neurosenprophylaxe durch den Somatologen, 
andernteils dessen Zusammenarbeit mit dem Analytiker, was 
mir Anlaß gibt, dem Problem der Angstneurose näher zu treten. In den 
Lehrbüchern der Medizin wie sogar in Arbeiten, welche sich speziell mit 
psychophysischen Grenzfragen befassen, läßt sich so gut wie nichts über 
die Angstneurose entdecken. Wenn andernteils Freud in seiner „Laien¬ 
analyse“ schreibt: „Die übergroße Anzahl der Neurosen, die uns“ — d. h. die 
Analytiker — „in Anspruch nehmen, sind zum Glück psychogener Natur 
und pathologisch unverdächtig“, 3 so bleibt dem beizufügen, daß nicht bloß 
in der Vorgeschichte der Psychoneurosen und vor Beginn einer Analyse, 
sondern auch in deren Verlauf es gerade angstneurotische Symptome sein 
können, die mit ihren sicht- und meßbaren körperlichen Äußerungen 
„pathologisch verdächtig“ sein können; und es darf auch nochmals auf 
die Freud sehe Äußerung von 1895 über die angstneurotischen Störungen 
der Herztätigkeit verwiesen werden: „Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch 
heikles Gebiet.“ Bedenken wir ferner das keineswegs seltene Zusammen¬ 
wirken ernsthaft organischer Erkrankung mit Neurose und erinnern uns 
des von Freud besonders hervorgehobenen gelegentlichen unglücklichen 
Ausgangs analytisch angegangener Psychoneurosen in körperliche Krankheit, 
so springt die Wichtigkeit genauer Kenntnis der Angstneurose besonders 
in die Augen. 

Verweilen wir einen Moment bei den meiner Erfahrung nach besonders 
häufigen Herzsymptomen der Angstneurose, so sei vorläufig konstatiert, 
daß in der älteren internistischen Literatur mehr über neurotische Herz¬ 
störungen, Pseudoangina pectoris usw. vermerkt ist als in der neuen. So 

1) Freud: Wege der psychoanalytischen Therapie, Ges. Sehr., Bd. VI. 

2) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. VII. 

3) Freud: Die Frage der Laienanalyse, Ges. Sehr., Bd. XI, S, 375. 














































































































1 J, ■ B der Prager Internist Rudolf S c h m i dt in seiner „Neurogen- 
, „motorischen Theorie der Angina pectoris“ 1 vermuten, daß ihm das 
Krankheitsbild der Angstneurose völlig unbekannt ist; und dementsprechend 
vermißt man in seiner Schilderung gutartiger Formen der Angina pectoris 
diagnostisch wesentliche Punkte. — Wie schwierig der Ausschluß eines 
Herzgefäßleidens sein kann, zeigte mir der viele Wochen andauernde 
angstneurotische Zustand einer in häuslicher Pflege befindlichen Paraphrenen. 
£jj ese -q jährige Kranke wies vor und nach ihrer Psychose normalen Befund 
des Zirkulationssystems auf (Herz ohne Besonderheiten, Puls regelmäßig 
-6 bis 80, brachialer arterieller Maximalblutdruck 130 mm Quecksilber), war 
durchaus rüstig, ging auf die Jagd. Zur Zeit des angstneurotischen Zustandes 
jedoch wies sie im Bette einen auf 100 bis 104 beschleunigten Puls und 
bei normaler Herzgröße einen auf 180 mm erhöhten Maximalblutdruck 
auf; weiterhin konstatierte der herzspezialistische Konsiliarius unreinen 
I Ton über der Herzspitze; über linkem Ventrikel leises, über Aorta lautes 
systolisches Geräusch, letzteres ohne Fortleitung in Brustaorta und Hals¬ 
gefäße, so daß doch die Anomalien als rein muskulär-vasomotorisch bedingt 
angesehen wurden und man auf irgendwelche Herz- oder Gefäßmittel —- 
u ie der weitere Verlauf zeigte, mit völligem Recht — verzichtete. — Die 
obere Grenze der Pulsbeschleunigung pflegt 130 Schläge pro Minute, die 
Blutdruckerhöhung 150 mm Quecksilber nicht zu überschreiten. Ich 
erinnere mich nicht, bei Patienten vor der Pubertät auf den Symptomen- 
komplex gestoßen zu sein, der in seiner subjektiven Symptomatologie als 
Herzbeklemmung, krampfartiger Schmerz der Herzgegend, bald mehr 
sterna], bald mehr gegen die Mamille und den Rippenbogen lokalisiert, 
Krampfschmerz von eher längerer Dauer der beiderseitigen Okzipital- und 
der linken Halsgegend sowie am häufigsten des linken Armes dargestellt 
wird. Nicht selten fällt das lebhafte Spiel der Vasomotoren der Haut 
auf. Pollakurie ist eine außerordentlich häufige Begleiterscheinung. — 
Differ entialdiagnostisch scheint mir ein Moment viel zu wenig 
berücksichtigt: die subjektive und objektive Besserung 

bis Behebung des herzneurotischen Symptomenkomplexes 
durch Bewegung und körperliche Anstrengung! Oft hat 
der Angstkranke selber die Erfahrung gemacht, daß rasches Gehen, Lauf¬ 
schritt und Steigen ihn erleichterten, die Beklemmung weichen, den Puls 
ruhiger werden ließen. So ein kräftiger Patient, Ende der Zwanziger, 
der an einem Sommerferienmorgen eine herzneurotische Attacke bekam; 
trotz seiner Beklemmungen wagte er, eine geplante Hochtour anzutreten; 


1) Münchner medizinische Wochenschrift 1930, 34/35. 












1 


76 H. Christoffel 

nach drei viertelstündigem mühsamem Schneestampfen wichen Druck und 
Mattigkeit und er erreichte und behielt seine übliche Leistungsfähigkeit. 
Weitere genau und über lange Zeiträume kontrollierte Fälle meiner 
psychiatrischen und Konsiliarpraxis könnte ich viele schildern. Dazu ist 
hier nicht der Ort. Aber das sei nochmals betont: Während bei einem 
organisch kranken Zirkulationsapparat die Anstrengung leicht zur Über¬ 
anstrengung wird, ergibt sich beim Angstneurotiker die gegenteilige 
Erfahrung. Es ist gelegentlich nützlich, für seinen Zustand den Ausdruck 
„Krankschonung“ zu gebrauchen und in klaren Gegensatz zur oft fälschlich 
beschuldigten Überanstrengung zu stellen. Es besteht also aller Anlaß, 
den Patienten zu muskulärer Aktivität anzuhalten und ihn 
die Probe aufs Exempel machen zu lassen. Die Frage, inwiefern die 
muskuläre Betätigung eine adäquate Entlastung des Kranken sei, wird 
später noch zu erörtern sein. 

Frustran-sexuelle Erregung liegt ja nach den frühen Formulierungen 
Freuds der Angstneurose zugrunde; und unausgesprochen, wenn auch 
aus dem Zusammenhänge klar, meint „sexuell“ in diesem Falle die unter 
dem Primat der Genitalität zusammengefaßte Sexualität. Bleiben wir nun 
gerade bei der frus trän-genitalen Erregung, so ist hier einiger 
Dinge zu gedenken, die wohl jeder Analytiker des Öftern von seinen 
Patienten gehört haben mag, die aber meiner Kenntnis nach im psycho¬ 
analytischen Schrifttum sich nicht vermerkt finden. Und obwohl diese 
stunden-, seltener tagelang anhaltenden speziell in den beidseitigen Leisten 
und Hypogastrien lokalisierten Schmerzen da und dort zerstreut in der 
medizinischen Literatur kurz gewürdigt werden, scheint doch ihre Sym- 
tomatologie keineswegs ärztliches Gemeingut, so daß, wo dem Furor opera- 
tivus bei Arzt und Patient nicht ein Studium diagnosticum die Wage hält, 
diese direkt an den Genitalien sich abspielenden Erscheinungen zu aller¬ 
hand Mißgriffen Anlaß geben. Ihnen allen werden aus der Vorgeschichte 
Ihrer Analysanden Fälle bekannt sein, wo ein „Pfaffenstich“, ein „Bräu¬ 
tigamsschmerz“, wie der Volksmund diese Affektionen tauft, einen Blinddarm 
hat opfern lassen, nicht zu reden von den verschiedenen gynäkologischen 
Manipulationen. — Die Erscheinungen am männlichen Genitalapparat 
pflegen in der Venerologie unter den nicht infektiösen „Entzündungen“ 
abgehandelt zu werden. So findet sich erstmals 1901 von Porosz eine 
Epididymitis sympathica beschrieben; 1 1907 bestreitet Wälsch, daß es 
sich dabei um etwas anders als eine bloße Kongestion durch frustrane 
Genitalreizung handle, behält aber in seiner Umetikettierung den auf 


1) Monatshefte f. prakt. Dermatologie 53, 1901, S. 9—17 


































































r~TT weisenden Ausdruck bei: „Epididymius erotica Wälsch“. 1911 
v , M Oppenheim den diesen Schmerz- und Schweilungserscheinungen 
zugrunde liegenden Vorgang zu ergründen* Dieser soll in vom Samen- 
L;,I aus bewirkter Hypersekretion in Samenh äschen und Samenleiter 
bestehen, wobei zugleich durch Antiperistaltik dieser Gebilde das Sekret 
rückwärts in den Schwanz des Nebenhodens geschleudert werde. Dieser 
Mechanismus scheint allgemein von den Venerologen ]etzt anerkannt. 
Weiteres Stichwort: Epididymitis erotica sive antiperistaltica Oppenheim. 
Charakteristisch für diese Zustände ist ihr plötzliches Auftreten und ihr 
allmähliches Verschwinden gewöhnlich im Laufe von Stunden; doch können 
>„• bei fortgesetzter frustraner Reizung auch tagelang dauern. Ob übrigens 
diese und andere Erscheinungen der frustranen Erregung immer bei völlig 
normaler Temperatur verlaufen, möchte ich offen lassen. Marcuse m 
seinem Handwörterbuch der Sexualwissenschaft (Artikel: „Abstinenz ) 
äußert sich dahin, daß die „genitalen Stauungen und Reizerscheinungen“ ... 
„libidinöse Ausflüsse bei Mann und Weib, vorübergehende Anschwellun¬ 
gen . . . und Schmerzhaftigkeiten der äußern und innern Geschlechtsorgane“ 
bewirken. J. Jadassohn* läßt die Schwellungen beim Manne bis auf die 
Hoden sich erstrecken und meint: „Eine Verwechslung mit Hydrocele, 
\aric .le und Hernien kann wohl nur bei ungenügender Untersuchung 


Vorkommen“ (S. 57). — Die Veränderungen bei der Frau pflegen bloß 
als a .Jlgir“ , Ovaralgia erotica benannt zu werden. Zu diagnostischen Irr- 
tümern beim weiblichen Geschlecht scheinen besonders die, um mit Mar 
cuse zu sprechen, „libidinösen Ausflüsse“ Anlaß zu geben, da sie oft 
ni<!it ohne weiteres als solche zu erkennen, sondern von einem entzünd- 
|il Fluor, wenigstens für den Praktiker, nicht zu unterscheiden sind. 
I im' (’icißigjährigeAngstneurotika beispielsweise leidet an derart reichlichem, 
die kem, gelblichen Ausfluß, daß sie dauernd nicht ohne Binden existieren 
kann. Und diese enorme Sekretion verschwindet von einem Tage auf den 
andern mit der Aufnahme normaler sexueller Beziehungen, nachdem 
gynäkologische Behandlung wegen angeblichem „Gebärmutterkatarrh“, 
„Gebärmutterknickung“ völlig erfolglos geblieben; nebenbei bemerkt war 
auch bei dieser Patientin einige Jahre, bevor ich sie kennen lernte, der 
Blinddarm entfernt worden. Die Menstruation, vorher über zehn Tage sich 
hinziehend, wickelte sich bei dieser Frau nach dem Verschwinden des 


1) III. Kongreß d. deutschen Gesellsch. f. Urologie 1911. Ref. Chrzelitzer, 
Derinatolog. Wochenschrift 55, 1912, 1799/1800. 

2) Siehe z. B, Buschke u. Langer: Lehrbuch der Gonorrhoe, Berlin, Springer 
1926. S. 260. 

5) 4. Aufl. v. Lessers Lehrbuch der Haut- u. Geschlechtskrankheiten, Berlin, 
Springer 1927. 













78 H. Christoffel 

Fluors innert vier Tagen ab. — Ich kann diese Dinge nur flüchtig be¬ 
rühren. Wichtig scheint mir vorerst bloß, die Aufmerksamkeit beim Studium 
und bei der Behandlung der Angstneurose auf die direkten genitalen Ano¬ 
malien zu lenken. Und ich erlaube mir nochmals zu betonen, daß meiner 
Ansicht nach die richtige und rechtzeitige Erfassung des angstneurotischen 
Symptomenkomplexes durch praktischen Arzt, Gynäkologen, Internisten usw. 
dem Patienten mannigfache Um- und Irrwege und des öftern wohl auch 
den Weg zum Analytiker sparen kann. 

Aber wie steht es denn mit der analytischen Therapie der Angst¬ 
neurose? Erinnern wir uns nochmals des Satzes von Freud: „Die Pro¬ 
bleme der Aktualneurosen . . . bieten der Psychoanalyse keine Angriffspunkte; 
sie kann nur wenig für deren Aufklärung leisten.“ In scheinbar völligem 
Widerspruch zu dieser Äußerung wage ich zu behaupten, daß die Behand¬ 
lung einer Angstneurose sehr oft zu den einfachsten und dankbarsten Auf¬ 
gaben der Praxis gehört. Zu meiner Freude sehe ich mich in dieser Er¬ 
fahrung keineswegs allein. Boehm war kürzlich so freundlich, mir Gleiches 
aus seinem und dem Erfahrungskreis der Berliner Analytiker mitzuteilen. 1 
Hat Freud in seiner Frühzeit Enttäuschungen erlebt, als er das Tabu 
der Sexualität zu erschüttern wagte, und erzählt er uns, wie er in den 
neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts „diesen Untersuchungen seine 
Beliebtheit bei den Kranken zum Opfer gebracht“ hat, und sie ihm nicht 
selten weggelaufen sind, so macht es uns heute die analytische Technik, 
wie sie sich durch die Freud sehe Erkenntnis der Übertragungsmomente, 
des Widerstands usw. entwickelt hat, leicht, manche Angstneusose mit Er¬ 
folg anzugehen. Es verdient also Beachtung, daß der pessimistische Aus¬ 
spruch Freuds sich auf Erfahrungen bezieht, die vor einer wichtigen 
Wendung der analytischen Therapie liegen. Nicht immer ist es wenig, 
was diese bei einer Angstneurose zu leisten hat. Aber dort, wo wir es 
wirklich mit einer unkomplizierten Angstneurose zu tun haben, pflegt das 
Wenige der analytischen Aufwendungen praktisch eben viel zu sein. 

Nun noch einige Bemerkungen zum Angstproblem. Sie erinnern 
sich, wie ich anläßlich des herzneurotischen Symptomenkomplexes von 
„Krankschonung“ sprach und die Frage anschnitt, inwiefern bei einem 
durch frustrane sexuelle Erregung ausgelösten Zustand eine bloße Muskel¬ 
aktion, die offensichtlich erleichternd wirkt, als adäquates Mittel angesprochen 
werden könne. Adäquat scheint doch auf den ersten Blick bloß eine Rege¬ 
lung der genitalen Beziehungen! — Wo Freud inseinen „Vorlesungen“ 
die Angstneurose als Endotoxikose, als Selbstvergiftung durch 

1) Meng hat sich ähnlich ausgesprochen („Angstneurose und Sexualleben“, 
Deutsche Ärztezeitung 1929, Nr. 176). 






















































Sexualstoffe darstellt, nimmt er „Anlaß, der erogenen Zonen und der Be- 
hau tung zu gedenken, daß die Sexualerregung in den verschiedensten 
Organen entstehen kann“. Als eines dieser Organe oder Organsysteme kann 
die Muskulatur in Betracht kommen. Sie erinnern sich auch deren Rolle, 
wie sie im Oppen h eimsehen Terminus Epididymitis erotica sive anti- 
p t ristaltica sich ausdrückt. Ein Teil der g e s a m t s ex u e 11 e n 
Erregung dürfte muskulär sein und auf muskulärem 
\V ege seine Abfuhr finden können. Als Teilerscheinung der 
entbundenen und unterdrückten sexuellen Erregung hätten wir eine auto¬ 
matische Betätigung der Muskulatur, eine Verkrampfung bemerkt, die an 
Hohlorganen im Sinne einer Verengung und an den Genitalien einer rück¬ 
läufigen Beförderung des Hohlorganinhaltes, einer Antiperistaltik, wirkt. 
Der Ausdruck Angst = Enge deckt sich sehr gut mit dieser Beobachtung. Die 
Richtung nach außen, der alloplastische Vorgang, würde der Abfuhr der 
entbundenen Energien und damit einer Behebung der Beklemmung, der 
Angst, dienen können. — Ich habe es vorerst vermieden, von „Muskel¬ 
erotik“ zu sprechen, und möchte das auch jetzt bloß tun unter gleichzeitiger 
Erinnerung der wahrscheinlichen Legierung des Eros mit den Aggressions¬ 
trieben in dem, was wir „Muskelerotik“ heißen. Wir haben es ja nach 
Freud kaum je mit einfachen Triebregungen zu tun; und für den 
Aggressionstrieb trifft bekanntlich die Formulierung zu, daß er „durch Ver¬ 
mittlung eines besonderen Organs auf die Außenwelt abzuleiten“ sei, eben 
die Muskulatur. 1 —Was die Unterdrückung der Triebregung bei der Angst¬ 
neurose anbetrifft, so hätten wir es wohl mit einem relativ einfachen Vor¬ 
gänge zu tun, nicht mit einer Verdrängung im Sinne des Nachdrängens; 
statt Unterdrückung dürfte deshalb auch der Ausdruck Urverdrängung statt¬ 
haft sein. Und wenn nun Freud in seiner Trieblehre neuestens das 
Schuldgefühl nicht aus verdrängter Erotik, sondern bloß aus verdrängter 
Aggression hervorgehen läßt, 2 so darf diese Annahme auch für das Pro¬ 
blem der Angst beigezogen und die Vermutung ausgesprochen werden, daß, 
was in der Verdrängung Schuldgefühl, in der einfachen Form der bloßen 
Unterdrückung oder der Urverdrängung Angst bewirkt Ich neige also dazu, 
im Aggressionstriebe, respektive seiner Unterdrückung, eine Komponente 
des Angstzustandes zu erblicken. Führt die aggressive Regung zu keinem 
Effekt, sondern erliegt sieder Urverdrängung, so wendet sie sich gegen 
das Individuum selbst und erzeugt einen Affekt, den Affekt der 
Angst. Eine solche Annahme hilft uns auch Vorkommnisse wie das 

1) Freud: Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI, Kap. IV, über die „beiden 
Triebarten“. 

2 ) »Das Unbehagen in der Kultur.“ 











80 


H. Christoffel 


Folgende verstehen. Ein Alpinist in mittlerem Lebensalter von ausgezeich¬ 
neter Leistungsfähigkeit erzählt mir, anläßlich geschäftlichen Ärgers schwere 
und andauernde Herzbeklemmungen bekommen zu haben; er habe sich 
vorerst gesträubt, einen Arzt zu konsultieren, hingegen habe er eine Ab¬ 
machung mit Freunden zu Skifahrten im Jungfraugebiet absagen wollen, 
aber nicht mehr können. So habe er sich eben trotzdem aufs Jungfraujoch 
begeben; und von der ersten Tour an habe er sich wieder völlig in Ord¬ 
nung gefühlt. Anstrengende sportliche Leistungen der nächsten Monate und 
eine vertrauensärztliche Untersuchung nach mehr als einem Jahr bestätigten, 
daß er völlig in Ordnung war. In der Annahme der angstneurotischen 
Auslösung der Herzsymptome forschte ich nach deren Momenten und er¬ 
fuhr, daß seit vier Jahren vor dem Zustand wie auch nachher Coitus 
interruptus stattfand. Dieser an sich genügte aber offenbar nicht, die Herz¬ 
beklemmungen auszulösen, sondern es bedurfte dazu noch des Ärgers, also 
unterdrückter aggressiver Regungen; und wie die beruflichen Mißhellig¬ 
keiten wieder wegfielen, war die Art der sexuellen Betätigung allein nicht 
mehr imstande, das Angstsymptom zu erzeugen. — Anläßlich des „Un¬ 
behagens in der Kultur , dessen Auslösung Freud gegenwärtig haupt¬ 
sächlich der unterdrückten Aggression zuschreibt, mag rückblickend ein 
Satz aus seiner Angstneurosenarbeit von 1895 zitiert werden, der lautet: „Das 
Angstgefühl tritt häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als . . . Unbe¬ 
hagen. Zu diesem Unbehagen als rudimentärer Form einer Angstneurose eine 
kleine Illustration: Ich habe des öftern Gelegenheit, bei sportsgewohnten 
Kollegen wie bei mir selbst, dann, wenn strenge Berufsarbeit tage- und 
wochenlang ans Konsultationszimmer fesselt, ein Symptom geschildert zu 
bekommen und zu verspüren, das ich als paradoxe Müdigkeit be¬ 
zeichnen möchte. Ich füge bei, daß völlig normale Vita sexualis diesen 
Zustand nicht verhindern konnte, hingegen ein paar Stunden Sport ihn 
für Tage bis Wochen prompt beseitigten. Erinnern wir uns auch in diesem 
Zusammenhänge, daß der Ausdruck „nervös“, in seiner ältern Form „nervös“, 
nicht reizbar, schwach, sondern im Gegenteil sehnig, straff bedeutete, — 
in einer Chronik, wenn ich nicht irre, aus dem 18. Jahrhundert, fand 
ich die Bewohner eines Alpentales als „nervös“ bezeichnet, — so haben 
wir noch einen weitern Hinweis auf die muskuläre Komponente der Angst. 
Nur kurz möchte ich in diesem Zusammenhänge des sogenannten „Stall¬ 
muts“ von Rassepferden gedenken, d. h. des Zustandes, der bei zu langem 
Stehen entsteht und mit Mut oft gar nichts, mit Scheu sehr viel zu tun 
hat. Nebenbei bemerkt, habe ich bei diesen Angstzuständen nie einen 
Unterschied zwischen Wallach und unkastriertem Pferde beobachten können. 
Schwerste Angstzustände kann man auch bei bewegungsgehinderten, d. h. 































































; i eben eines Haushundes führen müssenden Jagdhunden, den Irish- 
rn beobachten. Auf der Jagd mutig und verhalten, werden sie, wenn 
sit . , . v natürliche Betätigung entbehren müssen, außerordentlich schusselig, 
/• n sich gelegentlich, in der Angst auffahrend, ein Auge blind; und 
das OKuisch eines ratternden Tramwagens genügt, sie momentweise ge- 
I . nit zu Boden stürzen zu lassen. — Sie erinnern sich, daß die Gehörs- 
ülu icmpfindlichkeit in der grundlegenden Angstneurosearbeit Freuds 
vo-i 1895 hervorgehoben worden ist; es heißt dort bei den Ausfuhrungen 
ü r die allgemeine Reizbarkeit des Angstneurotikers: „Einer besonderen 
He rvorhebung wert finde ich den Ausdruck dieser gesteigerten Reizbarkeit 
durch eine Gehörshyperästhesie, eine Überempfindlichkeit gegen 
Gei an sehe, welches Symptom sicherlich durch die mitgeborene innige 
!',< 71t liung zwischen Gehörseindrücken und Erschrecken zu erklären ist. 

I)it*se Gehörshyperästhesie kann uns aber auch nebst sonstigen Momenten 
An! ß geben, Beziehungen der A n g s t n e u r o s e zu anders bedingten 
A izuständen zu suchen, nämlich zur Schreckneurose und zum 

t( , isch bedingten Schock. Gerade was den letzteren anbetrifft, so 
gäbt* er uns die Möglichkeit, den e n d ot o xi s c h e n Zustand der Angst- 
n< uruse mit einer Exotoxikose zu vergleichen. Wenn wir es bei den 
inr , rlicli wie äußerlich bedingten Zustandsbildern in ihrer ausgesprochenen 
t rn mit lähmender Angst zu tun haben, so darf bei dieser Lähmung 
riirirnige der quergestreiften Muskulatur vor derjenigen der glatten, oder 
di« ige der „willkürlich“ vor derjenigen der unwillkürlich innervierten 
M ul.itur, hervorgehohen werden. Der Schreck- oder Angstgelähmte 
verliert die Herrschaft nicht nur über seine Glieder, sondern auch über 
•eine, ji teilweise einer willkürlichen Innervation unterstellten, Sphinkteren; 
Stuhl und Urin werden entleert, ein Vorgang, der aber die gleichzeitige 
Kontraktion glatter Muskeln in der Wand von Darm und Blase voraussetzt. — 
Hier ist auch der Ort, der Beziehungen zwischen Pavor nocturnus und 
Enuresis nocturna andeutungsweise zu gedenken; ihre Verwandtschaft 
untereinander ist für den Analytiker eine Selbstverständlichkeit. Im ganzen 
wird aber die Tatsache nicht berücksichtigt, daß die medizinische Behaup¬ 
tung eines Nässens im Tiefschlafe auch der Physiologie völlig widerspricht. 
Schon in den allerersten Lebenstagen, und hier vielleicht am allerbesten, 
laßt sich feststellen, daß der Säugling im Schlafe kontinent ist. Nimmt 
man ihn im Momente seines Erwachens rasch aus den Windeln, so sind 
diese trocken. Und der Harnstrahl entleert sich erst, wie das Kleine ganz 
erwacht. Es läßt sich genau beobachten, wie der Vorgang der Harnentleerung 
mit dem Springen der schlafverengten Pupillen parallel geht. Doch das 
nur nebenbei und nun rasch noch zu den Beziehungen zwischen Endo- 
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 


6 











82 


H. Christoffel 


und Exotoxikose: Wenn Oppenheim für die frustrangenitale Reizung 
eine rückläufig wirkende Verkrampfung, eine Antiperistaltik, wahrscheinlich 
gemacht hat, so erlaubt das Erblassen in Schreck und Todesangst eine 
ähnliche Auffassung, nämlich die einer Kontraktion der Hautgefäße mit 
Verschiebung des Blutes in das Innere des Körpers. Fr. Wirz 1 hat kürzlich 
den Salvarsankollaps mit seinen Krampf-, Lähmungs- und Angstzuständen 
beschrieben und für den Tod im Salvarsanschock folgenden Sektionsbefund 
als typisch in Erinnerung gerufen: „Herz und periphere Gefäße sind 
nahezu ohne Inhalt, sie sind anscheinend leer gelaufen, wie nach einem 
Verblutungstode. Die ganze Blutmenge stockt im Splanchnikusgebiet. Alle 
Venen dort sind strotzend gefüllt, auf dem Peritoneum sieht man kapillare 
Blutpunkte, im kleinen Becken steht rötlich verfärbtes Serum.“ — Die Ver¬ 
folgung des muskulären Momentes der Angst führt, wie Sie sehen, zu einer 
Fülle von Problemen, die ihrer weiteren Bearbeitung erst harren. Aber 
eines dieser habe ich noch gar nicht berührt, trotzdem es bereits in der 
ersten Arbeit Freuds zu finden ist. Ich begnüge mich, kurz zu erwähnen, 
daß Freud von „einer Art Konversion“ der Angstneurose auf „rheumati¬ 
sche Muskeln“ spricht und schreibt: „Eine ganze Anzahl sogenannter 
Rheumatiker, die übrigens auch als solche nachweisbar sind, leidet eigent¬ 
lich an — Angstneurose.“ B. Brun hat später in Kombination neuro¬ 
logischer mit psychologischer Untersuchung die Freudsche Behauptung 
bestätigt. 2 

Noch ein Blick zurück auf die genitale Komponente der 
Angst. Ich erwähnte, daß beim Fluor frustran erregter Frauen die Unter¬ 
scheidung gegenüber entzündlicher Sekretion Schwierigkeiten zu bereiten 
scheine. Erinnern wir uns nun der Charakteristika extragenital verschobener 
Libidobesetzungen, der sogenannten „Genitalisierungen“, wie sie bei der 
Konversionshysterie zu beobachten sind, erinnern wir uns ferner der aus 
der alten Medizin stammenden Vierwortbeschreibung der Entzündung: 
Bubor, tumor, calor, dolor, so zeigt sich eine gewisse Analogie 
zwischen genitalen und entzündlichen Vorgängen. Wie bei der Entzündung, 
so werden bei der Genitalisierung graduelle Unterschiede zu berücksichtigen 
sein. Ist als Erfolg einer leichteren Libidobesetzung eher eine Hypertrophie 
des libidobesetzten Organes zu erwarten, so bei der überstarken eher 
Destruktion und Atrophie. Marcuse schreibt (loc. cit.) mit anderen 
Autoren der fortgesetzten frustran-genitalen Reizung lokale „Rückbildungen“ 
und „regelrechte Entzündungen“ mit „nachweisbaren Schrumpfungen“ zu. 

1) Münchner Medizin. Wochenschrift 1930, S. 1225. 

2) „Beiträge z. Klinik und Pathogenese der Lumbago.“ Schw. Arch. f. Neur. u. Psych., 
Bd. VII, H. 1. 





























































_ Abgesehen vom quantitativen Moment der Libidobesetzung, dürfte aber 
auch ihre Kombination mit anderen Reizen, z. B. bakterieller Art, zu 

^TumSrih einige Worte zur O n t o gen e s e d e r A n g s t. Ich 
darf die Auffassung als bekannt voraussetzen, daß die Angst ontogenetisch 
beim Geburtsvorgange erworben wird, aber auch phylogenetisch bereits 
verankert ist. Wie bei der Angstneurose, so spielt bei der Geburtsangs 
die Intoxikation eine Rolle. „Die Innervationen des ursprünglichen Angst¬ 
zustandes“ — schreibt Freud— „waren . . . wahrscheinlich sinnvoll und 
zweckmäßig. So hat wahrscheinlich während der Geburt die Richtung der 
Innervation auf die Atmungsorgane die Tätigkeit der Lungen vorbereitet, 
die Beschleunigung des Herzschlages gegen die Vergiftung des Blutes 
arbeiten wollen.“ 1 Wir hätten also sowohl bei der Angstneurose wie beim 
Zustande des durch die Geburt rapid in seinen Lebensbedingungen ver¬ 
änderten, von der Nabelschnur- zur Lungenarterialisierung umgestellten 
Lebewesens biochemische Momente als wesentliches Agens zu betrachten. 
Aber wenn der Chemismus der beiden Fälle ein verschiedener ist, so sind 
es desgleichen die faßbaren Wirkungen. Allerdings mag an die Anekdote, 
die Freud in seinen Vorlesungen von der Hebammen Schülerin erzählt, 2 3 
erinnert werden. Sie antwortete bekanntlich auf die Frage, was es bedeute, 
wt nn das Kind unter der Geburt Darminhalt entleere, daß das Kind 
.. \ngst habe“. „Eine gewisse Angstbereitschaft des Säuglings , meint auch 
Freud selber, „ist unverkennbar.“ Sie ist aber, wie er weiter aus- 
fiihrt, „nicht etwa unmittelbar nach der Geburt am stärksten, um dann 
langsam abzunehmen, sondern tritt erst später mit dem Fortschritt der 
seelischen Entwicklung hervor “.3 — Verrät also ein Angstneurotiker seinen 
Zustand mehr oder weniger als solchen, so kann von einem Neugeborenen 
kaum behauptet werden, daß es ängstlich, wohl aber, daß es grämlich 
aussieht. Gram, Schmerz sind die frühest erkennbaren mimischen Äuße¬ 
rungen, deutliche Angst prägt sich nach physiognomischen Feststellungen* 
von denen ich hier diejenigen H. Krukenbergs benütze, erst später 
aus. Immerhin möchte ich aus eigener Beobachtung beifügen, daß schreck¬ 
haftes Zusammenzucken auf Licht- und Schallreiz bereits in den ersten 
Lebenstagen vorkommt. Krukenberg schreibt: „Das Schmerzgefühl ist 
beim Neugeborenen schon deutlich entwickelt“; er „gibt sein Mißbehagen . . . 
durch Schreien und Schließen der Augen kund“; dazu „gesellt sich sehr 


1) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI, Kap. VIII. 

2) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. VII. 
25. Vorlesung. 

3) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI. 


6* 












84 H. Christoffel: Psychoanalyse und Medizin in ihren Beziehungen zur Angstneurose 

bald . . . auch das Runzeln der Stirn . . . etwa in der 18. Woche . . . Herab¬ 
ziehen der Mundwinkel, das besonders vor dem Schreien beobachtet wird*, 1 
Angst Krukenberg gebraucht diesen Ausdruck hier nicht, sondern spricht 
von Furcht als dem nach seiner Verwendung der Termini schwächeren 
Grade zeige sich dagegen erst gegen Ende des ersten Lebensjahres und 
bekunde sich „durch Schreiweinen und Zittern*. Dies ist aber das Alter, 
in dem der Säugling normalerweise nicht nur frei sitzen (fünfter bis 
siebenter Lebensmonat), sondern bereits frei stehen (zehnter Monat) und 
vielleicht schon gehen kann (zwölfter bis fünfzehnter Monat). 2 Der 
deutliche Ausdruck der Angst dürfte also an eine gewisse Entwicklung der 
Motorik gebunden sein, die beim Neugeborenen noch vermißt wird. Damit 
hätte ich nochmals das muskuläre Moment am Angstzustande berührt und 
damit in den Zusammenhängen zwischen Ur- und aktualneurotischer Angst 
die Aufmerksamkeit besonders auf die zweite prägenitale Organisationsstufe 
zu richten mir erlaubt. 

Es ist Zeit, daß ich abbreche. Zwar konnte ich nirgends Ausführungen 
geben, sondern mußte mich mit Skizzieren begnügen. Von der Angstneurose 
ausgehend, versuchte ich zu zeigen, wie stark eigentlich die Arbeitsgebiete 
des Arztes und des Analytikers ineinandergreifen. Freud hat einmal 
geschrieben, man müsse verhüten, daß die Psychoanalyse in irgend einem 
Lehrbuche der Psychiatrie im Kapitel Psychotherapie abgelagert werde. 
Es zeigt sich, je länger, desto mehr, daß die Analyse als Therapie ausschlie߬ 
lich in die Hand des Analytikers gehört. Aber die Analyse ist ja nicht nur 
Therapie, sondern auch Forschungsmethode. Ihre diagnostische Seite ist 
die für den Somatologen und dessen Zusammenarbeit mit dem Analytiker 
wesentliche, wie auch diesem das Organische keine terra incognita sein 
kann. 

Es handelt sich darum, daß unsere beiderseitigen Fragestellungen konform 
sind. Nicht in erster Linie die Ergebnisse der experimentellen Biologie, 
sondern oft sehr einfache und vom praktischen Arzt zu erhebende Tat¬ 
sachen können die Analyse befruchten, wie diese dazu angetan ist, ein Arztsein 
zu ermöglichen und, um mit Liek zu sprechen, das bloße Medizinertum 
verschwinden zu lassen. In solcher Zusammenarbeit erblicke ich die wahre 
penetration pacifique . 


1) Krukenberg: Der Gesichtsausdruck des Menschen, Stuttgart, Enke 1925. 

2) Angaben aus Seifert-Müller: Taschenbuch der medizinisch-klinischen 
Diagnostik, Wiesbaden, Bergmann. 

































































Giftmord und Vergiftungswahn 

Vortrag in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse am iy September l^o 

Von 

A. Kielholz 

Königsfelden 

Wir Anstaltsärzte sind immer wieder erstaunt darüber, wie häufig von 
Angehörigen von Kranken die Frage erwogen und das Ansinnen an uns 
gestellt wird, ob es nicht möglich wäre, einen armen bemitleidenswerten 
Patienten mit einem „Pülverli“ sanft zu erlösen, mit anderen Worten, wie 
wenig verdrängt die Beseitigungswünsche gegenüber unbequemen Familien¬ 
gliedern sind, und wie rasch man bereit wäre, uns Ärzte zu Komplizen 
und Erfüllern solcher Wünsche anzustellen. Ebensooft begegnet man dem 
Bestreben, den Kranken mit unsinnigen Haufen von Süßigkeiten und 
anderen Eßwaren zu beschenken, mit denen er sich zum mindesten jedes¬ 
mal den Magen verdirbt, und man geht wohl nicht fehl, wenn man darin 
eine mangelhaft gelungene Kompensation jener Beseitigungstendenzen mit¬ 
tels einer oralen Gabe erblickt. 

W r ohl noch häufiger als diese Neigungen bei den Angehörigen, können 
wir bei unseren Kranken die Angst beobachten, vergiftet zu werden, sei 
es von ihren Leuten, sei es von Fremden, sei es von Pflegern oder Ärzten. 
Entsprechende Sinnestäuschungen und Wahnideen und damit im Zusammen¬ 
hang stehende Schutz- und Abwehrhandlungen, wie Nahrungsverweigerung, 
Ausspucken oder Fort werfen des Essens, begegnen uns täglich auf unseren 
Visiten. 

Der Giftmörder verwirklicht das, wozu uns jene Angehörigen gelegent¬ 
lich anstiften möchten. Sehen wir zu, ob aus dem Versuch, das Verbrechen 
und die wahnhafte Angst davor einander gegenüber zu stellen, sich irgend 
eine Einsicht gewinnen läßt in dunkle Gebiete des menschlichen Zusammen¬ 
lebens. 

Ein 27 jähriger, durch Alkoholismus und Geisteskrankheit schwer 
belasteter, debiler Schlosser, Walter H., suchte seinen Vater, einen rohen 
Schnapstrinker, der ihn als siebenjährigen Knaben wegen Bettnässens mehr- 









86 


A. Kieiholz 


mals mit einem Seil auf einer Bank festgebunden und mit einem Leder¬ 
riemen so ausgepeitscht hatte, daß er nicht mehr sitzen und gehen konnte, 
mit Lötwasser, das er ihm fingerhutvoll in die Suppe goß, zu quälen, 
damit er krank werde und langsam zugrunde gehe. Seine fünf Geschwister 
hatten mit der geschiedenen Mutter das Vaterhaus verlassen; er allein war, 
nachdem er auswärts als Fabrikarbeiter einige Ersparnisse gemacht hatte, 
zurückgekehrt, hatte das Hauswesen übernommen und dem Vater das Haus¬ 
recht eingeräumt, gegen das Versprechen, mitzuhelfen in der Landwirtschaft. 
Als es nicht gehalten wurde und der Vater sich das Hausrecht auch nicht 
abkaufen lassen wollte, wurde er deprimiert, stand deswegen vorübergehend 
in ärztlicher Behandlung, hatte Suizidgedanken, vernachlässigte die Arbeit 
immer mehr und geriet in Schulden. Er hatte viel Streit mit dem Vater. 
Sie taten sich zu leid, was sie nur konnten. Jeder kochte für sich. Er klagte 
oft, er könne unter solchen Umständen nicht heiraten. Eine Frau wäre zur 
Führung des Haushaltes sehr nötig gewesen. Ein Verhältnis wurde auch 
wieder aufgelöst. Als er einmal etwas mehr als nur einen Fingerhut voll 
Lötwasser in des Vaters Suppe schüttete, verspürte dieser den Geschmack 
der konzentrierten Chlorzinklösung und die Sache wurde entdeckt. Vor dem 
Richter motivierte er sein Vorgehen damit, daß der Vater ihn schlecht 
behandelt, beständig geplagt, verfolgt, verleumdet, verdächtigt, geschlagen 
und beschimpft habe, als Hurenbub, faulen Hund, Dieb, Verrückten, der 
sich hängen solle. Er gehe gern ins Zuchthaus, nur um aus diesem Haus 
herauszukommen. Er bekam unter Zubilligung mildernder Umstände zwei 
Jahre und zehn Monate. 

Drei Fragen drängen sich auf: Warum kehrt der Mann als einziger von 
seinen Geschwistern nach Hause zurück und übernimmt es samt dem trunk¬ 
süchtigen Vater, warum greift der Schlosser statt zu einer Waffe zum Gift, 
und warum verwendet er als solches LÖtwasser, das ihn verraten muß? 

Er ist eben durch unsichtbare Bande an die Stätte und an den Peiniger 
gefesselt, der ihn durch seine unmenschlichen Züchtigungen für sein Bett¬ 
nässen zum Masochisten machte, und muß daher solche Peinigungen immer 
wieder aufsuchen. Als Masochist kann er auch nicht zur aktiven Waffe 
greifen. Die Tat muß ihn verraten, damit er mit der Strafe wiederum 
seine Quallust befriedigen kann. Und schließlich liegt in der Wahl des 
Giftes ein blutiger Hohn, den jeder versteht, der weiß, daß man das 
unmäßige Trinken bei uns auch als „Löten“ bezeichnet. 

Die beiden Schwestern F., Susanne 55 jährig und Lisette 43 jährig, 
wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, weil sie ihren ältesten 
58 jährigen Bruder mit Eierkuchen, der Phosphor, und mit Tee, der Kupfer¬ 
vitriol enthielt, vergiftet hatten. Jener, ein händelsüchtiger Psychopath, war 


































































einige Tage vorher aus dem Gefängnis heimgekommen, hatte sie beschimp 
und"des Kindsmords beschuldigt — Susanne stand im Verdacht des sexuellen 
Umgangs mit einem Neffen - hatte erklärt, er arbeite jetzt gar nicht 
„ehr. und sich geweigert, eine Stelle außer dem Hause anzunehmen. 
Susanne kam nach irriger Strafhaft wegen Paranoia nach Komgsfelden, 
wo sie fünf Jahre später starb. Sie erklärte hier, sie würde ihren Bruder 
h, ute noch wegputzen. Sie hätte drei Jahre lang gegen ihn gekämpft, er 
Jei indessen immer bösartiger und frecher geworden, habe öfters unflätig 
auf die verstorbene Mutter als Hure geschimpft, die ihm im Traum er¬ 
schienen sei. Niemand habe ihnen gegen den Narren und Tierquäler ge¬ 
holfen. Er habe ihr tot besser gefallen als lebendig, und sei als Leiche 
g ,„,z verklärt gewesen. Zum Totschlägen hätten sie Schwestern doch zu 
wenig Kräfte gehabt. Sie hätten nur aus Notwehr gehandelt. Auch hier war 
der Vater ein bösartiger Trinker, der im Rausche alles zerschlug, die Schuhe 
auszog und Geschirr damit zertrümmerte, und der Frau und Kinder oft mi߬ 
handelte, wie später der Bruder. Sie verweigerte in den letzten Jahren des 
Anstaltsaufenthaltes zeitweise die Nahrung: Der Bundesrat habe ihr tele¬ 
phoniert, sie solle das hiesige Saufressen nicht nehmen. Lisette wurde nach 
20 Jahren Zuchthaus begnadigt, führte daheim zuerst eigenen Haushalt, 
kam dann ins Armenhaus und mit 78 Jahren ebenfalls wegen Paranoia nach 
Königsfelden. Sie wollte nicht mit den anderen Insassen zusammen essen 
und behauptete, man habe ihr Haus und Vermögen gestohlen. Die Schwer- 
hürige erzählte von ihrer Untat gleichgültig und ohne Reue. Der Bruder 
habe einen leeren Kopf, aber guten Appetit gehabt. Dem Vater, der an 
Wassersucht litt, habe ein Arzt mit einem Messer in den Bauch gestochen, 
so daß er in zwei Stunden gestorben sei. Nach seinem Tod mußten sie 
zwei ledigen Schwestern das heimatliche Haus allein mit ihrem Verdienst 
aus der Fabrik aufrecht erhalten, damit die schwache Mutter nicht in Not 
und Elend auf die Straße hinausgestoßen wurde. Sie ließen das verlotterte 
Heimwesen neu aufbauen, soviel es nottat. Vom Bruder hatten sie das 
ganze Jahr nichts als Schaden. Mit ihm hätte sich die ganze Gemeinde 
verbündet, um sie umzubringen. So mußten sie zur Selbsthilfe greifen. 
Den Weltkrieg bezeichnete sie als gerechten Lohn für ihre Verfolgung. 

Die beiden Täterinnen identifizierten sich somit ganz mit der schwachen, 
mißhandelten Mutter und beseitigten den ältesten Bruder so prompt, wie 
der Arzt das nach ihrer Auffassung mit dem verhaßten Vater getan hatte, 
wie lästiges und schädliches Ungeziefer oder Mehltau, mit Rattengift und 
Vitriol, indem sie seine Gefräßigkeit mit Omelette und süßem Tee köderten. 
So wurde das mühsam erworbene und aufrecht erhaltene Elternhaus von 
einem unerwünschten Parasiten befreit, damit Susanne ungestört ihrem 









88 


A. Kielholz 


inzestuösen Umgang weiter darin frönen könne. Sie wurde auch von 
Lisette als Anstifterin zur Tat bezeichnet. Lisette behauptete auch, die 
Heimatsgemeinde habe sie mit einem verwitweten Schwager verkuppeln 
wollen. 

Die 57 jährige Hausfrau Hedwig H., Mutter von zwei kleinen Kindern, 
mit einem ungeliebten, 20 Jahre älteren Witwer verheiratet, streute ihrer 
schwangeren Mieterin wiederholt Arsenik in Milch und Mehl, angeblich 
um ihr nur ein wenig Bauchgrimmen zu verursachen, doch genügend, 
daß die Vergiftete zwei Monate später an perniziöser Anämie starb. Sie 
hatte vorher dem Mieter Geld offeriert, wenn er seine schwangere Frau 
kaput mache, behauptete, diese sei eine Hure, habe ihr eigenes Kind 
erwürgen wollen und ihrem, der Mörderin, Mann nachgestellt. Die Mieterin 
hatte diesem erzählt, daß seine Frau ihm Löcher in den Veloschlauch 
gestochen. Der Zorn über diese Schwätzereien veranlaßte die Vergiftung. 
Frau Hedwig gab an, sie selber habe ein stecknadelkopfgroßes Stück Gift 
vorher versucht, ohne Beschwerden davon zu bekommen. Sie wisse, daß 
man solches regelmäßig nehme, um hübsch zu bleiben. Das habe sie in 
der Fabrik gehört, wo sie schon als Schulkind arbeiten mußte und jeweilen 
in einer Kiste versteckt wurde, wenn der Inspektor kam. Als Konfirmandin 
fiel sie nachts auf eine Lampe, mit der sie unters Bett zu leuchten pflegte. 
Sie sei an der Verletzung fast verblutet. Bei ihren beiden Geburten 
brauchte sie jeweils ärztliche Hilfe und fiel durch ihr ungebärdiges selt¬ 
sames Wesen auf; sie äußerte dabei Verfolgungsideen. Sie hatte dreimal 
versucht, sich im nahen See zu ertränken. In der Ehe kam es zu Uneinig¬ 
keiten, da der Mann nach ihrer Meinung die Kinder zu wenig strafte un d 
die verhaßten Mieter nicht aus dem Hause entfernte. Er durfte nie in den 
Keller und auf den Estrich und mußte die Schuhe ausziehen, wenn er in 
die Stube wollte, um nichts zu beschmutzen. In der Untersuchungshaft 
verweigerte sie vier Tage lang die Nahrung und befürchtete, die jungen 
Mitgefangenen nebenan könnten sie verführen, wenn die Türe nicht gut 
verschlossen wäre. In Königsfelden träumte ihr einmal, sie habe sich selbst 
mit einem großen Messer zerschnitten. Sie bestellte einen Koffer, um 
damit zur Patin nach Amerika zu reisen, wo ein Bruder ihres Vaters, ein 
Brandstifter, verschollen war. Unser Gutachten lautete auf Schwachsinn 
und Unzurechnungsfähigkeit. 

Auch in diesem Falle ist die Tendenz, das Haus, das sie in über¬ 
triebener Weise reinzuhalten versucht, von unerwünschten und verhaßten 
Mitbewohnern zu befreien, augenscheinlich. Die Schwangerschaft der 
Mieterin erinnert sie an die eigenen beschwerlichen Graviditäten, wo sie 
inmal dem eigenen Leben durch Ertränken ein Ende machen wollte, 



























und vielleicht auch an die Schwangerschaften der Mutter - sie hat zwei 
jüngere Brüder —, die sie wohl mit eifersüchtigen Regungen beobachtet 

haben mochte. 

Wulffen hat in einer 1917 erschienenen prägnanten Monographie 
übe, die Psychologie des Giftmordes 1 den wichtigen Zusammenhang von 
kriminellen und sexuellen Strebungen an den kurzen Biographien der 
berüchtigten Vergifter und vor allem Vergifterinnen nachgewiesen, der 
auch in unserer bescheidenen Kasuistik deutlich hervortritt. 

Walter H. versucht seinen Vater zu beseitigen, nachdem er seine 
1 leiratspläne durch dessen skandalöses Verhalten vereitelt sieht. Susanne F. 
verleitet ihre Schwester zur Vergiftung des Bruders, der ihr inzestuöses 
Verhältnis zum Neffen durchschaut hat und ihr vorhält. Frau Hedwig H. 
will mit Gift die schwangere Mieterin aus dem Hause schaffen, weil diese 
angeblich ihrem Manne nachgestellt hat. 

Bei Walter H. ging dem Delikt eine Depression mit Suizidgedanken 
voraus, die beiden Schwestern F. wurden in der Strafhaft paranoid. 
Hedwig H. versuchte sich dreimal zu ertränken, verweigerte zeitweise die 
Nahrung und äußerte Verfolgungsideen. 

Es liegt somit nahe, bei Paranoiden mit ausgesprochenem Vergiftungs¬ 
wahn nach weiteren und vielleicht deutlicher durchschaubaren Zusammen- 
hängen zu fahnden. 

Die jetzt 44 jährige Luise K. hat mit 5 Jahren ihre beiden Eltern ver¬ 
loren an Lungentuberkulose und ist mit 8 Jahren von einem 16 jährigen 
Pflegebruder mehrmals auf dem Abort sexuell mißbraucht, dann als 
Hotel Sekretärin vom Manne einer Freundin und von einem Hotelangestell¬ 
ten überrumpelt worden. Mit 38 Jahren versuchte sie sich in einem 
öffentlichen Abort mit Veronaltabletten zu vergiften. In ein Sanatorium 
verbracht, äußerte sie Vergiftungswahn und mußte wegen Nahrungsver¬ 
weigerung mit der Sonde ernährt werden. Die Stimme Gottes verbot ihr 
zu essen. Nachdem sie sich einmal zum Milchtrinken hatte bestimmen 
lassen, spürte sie furchtbare Leibschmerzen, und hatte das Gefühl, der 
Magen werde auseinandergesprengt. Dann bekam sie Riesenhunger, sie 
wurde dick und fett und erklärte nun erregt, sie sei Mutter und habe 
ein Kind; die Stimmen sagen ihr, sie werde ein totes Kind gebären, 
Zwillinge bekommen. Sie sei guter Hoffnung von zwei Pfarrherren, denen 
sie die früheren sexuellen Erlebnisse gebeichtet habe. Sie verfertigte sich 
ein Kinderbettchen und pflegte darin ein fingiertes Kind. Dann verweigerte 
sie wieder das Essen, sie wolle sterben, damit sie keinem andern mehr 

1) Urania-Bücherei, 6. Band. Verlag des Volksbildungshauses Wiener Urania, 
Wien 1917. 















90 _A. Kielholz 

im Wege stehe. Man wolle ihr mit der Milch das Kind im Leibe vergiften. 
Die Speisen haben den Geruch von Muttermilch. Es habe auch schon 
geheißen, die Frucht sei durch das Essen in ihren Leib gekommen. Häufig 
roch sie auch Menstrualblut im Essen. Sie schimpfte dann wieder über 
sexuelle Nachstellungen durch die Anstaltsärzte, die sie nachts bestialisch 
mißbrauchten. 

An den Vergiftungswahn schließt sich hier deutlich die Schwanger- 
schaftsphantasie an. Der Fall bestätigt die Auffassung von Freu d, 1 
was den Paraphreniker zur Klage oder zum Verdacht, daß er ver¬ 
giftet werde, veranlasse, sei der ins Ubw verdrängte Wunsch nach 
Schwängerung, resp. die Abwehr der erkrankten Person gegen denselben. 
Bemerkenswert ist auch, daß die Kranke die giftigen Eigenschaften in 
erster Linie menschlichen und speziell weiblichen Se- und Exkreten zu¬ 
schreibt: der Muttermilch und dem Menstrualblut, und daß ihr Wahn 
offenbar auf jene bekannte infantile Theorie von der Zeugung durch das 
Essen zurückgeht. 

Auch bei dem jetzt 44 jährigen Paranoiden Moritz S. begann der Wahn 
sich darin zu äußern, daß er überall verdorbene Milch witterte. Die Ver¬ 
giftungsversuche seien dadurch veranlaßt worden, daß ihn sein Vorgesetzter 
zwingen wollte, dessen schwangere Mätresse zu heiraten. Vom Bett eines 
Mitpatienten aus ergossen sich häufig ganze Gasgarben über seine Bett¬ 
mitte, wodurch er betäubt wurde und dann sexuelle Gasträume bekam. 
Er suchte sich dadurch davor zu schützen, daß er die Bettücher über den 
Kopf zog, und lag dann beim Erwachen jeweils steif wie ein Leichnam 
oder zusammengezogen wie ein Embryo im Mutterleib — das sind seine 
eigenen Worte in seinem Bette. Einmal sah er in einer nächtlichen 
Vision eine Schlange, die sich ihm in einem Oval auf den Unterleib legte, 
dann wieder einen Frauenkopf, der ihm einen Giftkuß auf die Lippen 
drückte; einmal eine Frau, die ihm den Rücken zukehrte, neidisch ihr 
Gesäß schüttelte, worauf er mit dem Kopf auf ihren Schoß fiel. Einmal 
sieht er im Gifttraum auf der Laube des Vaterhauses seine einzige Schwester 
nackt, nur mit einem Kinderschlüttli bekleidet, vor sich liegen und will 
sich bücken, um ihre Geschlechtsöffnung zu küssen. In einem Brief, in 
dem er eine Assistenzärztin um ihre Hand zur Befreiung aus ganz unwür¬ 
diger Umklammerung bittet, bezeichnet er sich als verkrachten Heirats¬ 
kandidaten, der unfähig sei zur Ehe. 

Hier sehen wir den Giftwahn mit inzestuösen Regungen gegen die 
einzige Schwester und mit der unverkennbaren Tendenz verknüpft, in 


1) S. Freud, Das Interesse an der PsA., Ges. Schriften, Bd. IV. 

















































die vor allen feindlichen Angriffen schützende Position des Embryos zu- 
rUl l K )l^. m n 3 8 jährige Schlosser Karl R. erkrankte vor 12 Jahren im An- 

, chIuß an eine «ngückliche Liebschaft. Er glaubte sich von einer Bekannten 

der ('„-liebten, die von seinen Anträgen nichts wissen wollte, mit Opium 
Kaffee vergiftet. Die Pulver des Arztes, die er für seine Aufregung 
erhi el t . beschädigten ihm angeblich die Augen. Er behauptete, seine An¬ 
gehörigen vergönnten ihm das Essen, glaubte auch in der Anstalt vergiftet 
ZU werden. Die letzte Aufnahme in Königsfelden erfolgte, weil er auf 
einer Bank 10.000 Fr. erheben wollte und dafür zwei Schlösser ver¬ 
pfändete, und weil er Heiratsinserate als Fabrikbesitzer erließ. Diesmal 
verweigerte er die Nahrung, bis Sondenfütterung erfolgte. Anläßlich einer 
Entweichung erklärte er, die Signalemente urinierten ihm m die Suppe. 
Es seien das kleine Tiere, die an seiner Lunge und an seinem Herzen 
fressen, ihm Hirn und Magen koitieren. Ein kleiner, stecknadelkopfgroßer 
Abkömmling eines Wärters steckt in ihm, schneidet ihm mit ganz kleinem 
Rasiermesser Herz und Lungen ab und beschädigt auch seine Eioden. Man 
hat ihm Mäusekot in seinen Körper hineingetan, es sei davon hinten her¬ 
aus abgegangen, aber hinten und vorn wieder in seinen Körper hmein- 
g( kommen. Alle Wärter der Anstalt koitieren in seiner Brust. Käfer haben 
ihm das ganze Herz zerfressen. 

Auch bei diesem Kranken sind die Giftstoffe menschliche und tierische 
Exkrete, die ihm mit der Nahrung oder per anum beigebracht werden und 
durch welche in ihm, wie in einer Schwängern, lebende Wesen entstehen, 
die zudem das zerstörende Werk seiner Verfolger, die ihn damit vergiftet 
und geschwängert haben, an seinen Eingeweiden fortsetzen. Das erinnert 
uns daran, daß Kinder, welche die Urszene belauschen, darin vorwiegend 
einen sadistischen Akt des Vaters gegen die Mutter erblicken. Während 
Moritz S. seine inzestuösen Giftträume ins Vaterhaus zurückverlegt, wird 
Karl R. in seinen Größenphantasien Schloßherr und Fabrikbesitzer und sucht 
dazu eine passende Frau. Da ihm das mißlingt, wandelt er sich selbst in einen 
Hermaphroditen, in dessen Innern sich sadistische Liebesszenen abspielen. 

Zusammenfassend möchte ich vorläufig als Ergebnis meiner Kasuistik 
die Sätze aufstellen: 

Die Psychologie des Giftmordes und die des Vergiftungswahnes stehen 
in engem Zusammenhang und ergänzen sich gegenseitig. Inzest und 
Schwängerung spielen darin eine wichtige Rolle. Letzten Endes ist es der 
Mutterleib, um dessen alleinigen Besitz gekämpft wird, und dessen Se- und 
Exkrete sind die magischen Stoffe, von welchen die Gaben und Gifte zur 
Beseitigung unerwünschter Nebenbuhler abgeleitet werden. Im Giftwahn 














92 


A. Kielholz 


wird dieser Kampf in die eigene Person introjiziert. Der Giftmörder 
projiziert ihn auf das, was wir als symbolische Darstellung des Mutter¬ 
leibes auffassen, d. h. das elterliche Haus und Besitztum. 1 

Daß uns unsere Erfahrungen und Einsichten bei Süchtigen, speziell 
bei Alkoholikern, recht nahe zu dem heute behandelten Thema heran¬ 
führen, ist nicht verwunderlich und zeigt sich ja schon bei den kurz 
referierten Fällen. Der Vater vom Walter H. wie derjenige der Schwestern 
Susanne und Lisette F. waren brutale, rohe Trinker, die den Nachkommen 
ihren durch das Rauschgift enthemmten Sado-Masochismus einimpften. 
Moritz S. und Karl R. haben selber zeitweise dem Alkohol gefrönt. 
Wenn die beiden Schwestern F. zusammen beschließen, den lästigen 
Bruder durch ein süßes und vergiftetes Getränk zu beseitigen, so erinnert 
uns das daran, wie die meisten Süchtigen das ausgesprochene Bestreben 
zeigen, Proselyten für ihr Rauschgift zu werben, in Gesellschaft Freude 
haben, Neulinge sinnlos betrunken zu machen und sich an der Bewußt¬ 
losigkeit der wie Leichen Daliegenden zu weiden. Die Tiefenpsychologie 
erweist als häufiges Motiv der Trunksucht die Sehnsucht nach einem 
Nirvana, nach jenem Zustand des Embryos im Mutterleib, wie ihn 
Moritz S. als Folge der Giftwirkung expressis verbis geschildert hat. Wenn 
der chronische Alkoholismus zur ausgesprochenen Psychose führt, treten 
analoge Wahnbildungen auf, wie bei unsern Giftwahnsinnigen. 

Die 37 jährige Frau Marie S. hatte vor ihrer dritten Internierung in 
Königsfelden wegen drohendem Del. trem., wobei sie mit Suizid und Tötung 
ihrer Kinder gedroht hatte, vermutet, die Leute hätten ihr heimlich etwas 
eingegeben, um sie zu Schlechtigkeiten zu verführen. Das sei schon in 
der Pension im Welschland geschehen. Da habe man es absichtlich 
so eingerichtet, daß nachts Buben und Mädchen Zusammenkommen 
sollten. Es gebe geheime Gesellschaften, wo Männer miteinander geschlecht¬ 
lich verkehren, und gleiche, wo Frauen das tun. Man habe ihr etwas ins 
Trinken getan, um sie an einen solchen Ort hinzuführen in eine solche 
Weibergesellschaft. Sie denke bei den Mäusen, Hühnern und Katzen 
(die sie im Delirium halluzinierte), da sei etwas gegangen mit ihr. 
Letzte Woche habe sie in einer Nacht das Gefühl gehabt, wie wenn ein 
Hahn mit seinen Federn oder eine Katze an ihren Geschlechtsteilen wären 
und sie geschlechtlich brauchen wollten. Sie glaube, eine Kratzwunde an 
ihrem Arm käme von einem solchen Tier her. Sie dürfe vor Scham 
niemanden mehr anschauen. 


i) Vergl. auch E. Weiß: Der Vergiftungswahn im Lichte der Introjektions- und 
Pro)ektionsVorgänge. Int. Z. f. PsA., Bd. XII, 1926, S. 466, wo sich auch weitere 
psa. Literatur verzeichnet findet. 










































I),r Zusammenhang von Vergiftungswahn und sodomistischer Schwän¬ 
gerungsphantasie ist hier unverkennbar. 

I) r 68 jährige, ledige Johann A„ der infolge langjähriger Trunksucht 
an Korsakow leidet, behauptet, er habe in einem Gehörgang ein Engelein 
und ein Teufelchen, die sich begatten und Kinderchen gezeugt haben, 
deren Stimmen er beständig hört. Er sah sie als Fäden hineinkommen. 

Bei diesem Kranken sind die Szenen, die Karl R. in Brust und 
Abdomen lokalisiert, nach oben verschoben. 

Friedrich R., 57 Jahre alt, beschuldigte infolge alkoholischer Eifersucht 
seine beiden erwachsenen Söhne des Umgangs mit ihrer Mutter. Seine 
Internierung in Königsfelden wurde veranlaßt, weil er durch Zeichnungen 
öffentliches Ärgernis erregte, die er an der Hausmauer gegen die Straße 
befestigte, um aller Welt seinen vermeintlichen Eheskandal zu verkünden. 
Auf einem dieser Bilder hatte er seine Frau nackt in der Stellung einer 
Danae gezeichnet, bereit, die beiden in priapischer Gestalt herbeieilenden 
Söhne zu empfangen. Unter ihr in einem Sarg aber liegt er selber als 
Sterbender und in seinen Mund fließt als tödliches Gift das Scheidensekiet 


der brünstigen Frau. 

Die grausige Phantasie des eifersüchtigen Potators entspricht somit 
völlig dem Ergebnis unserer Untersuchung. 

Auch die Psychologie des Selbstmords liefert uns vielfach Parallelen 
und Beiträge. Wir wissen aus der PsA. der Depressionen, daß diese und 
die durch sie bedingten Antriebe zum Suizid nichts anderes darstellen, 
als eine Nachinnenwendung des Aggressions- und Destruktionstriebes, eine 
Selbstbestrafung für Beseitigungs- und Vernichtungswünsche gegen andere 
Personen, meist nächste Angehörige. 

In meinem Vortrag über den Urheber der mentalen Hygiene, Clifford 
Wittigham Beers, 1 versuchte ich dessen depressive Psychose mit ernst¬ 
haften Selbstmordversuchen zu deuten als Reaktion auf den Tod eines 
altern Bruders, den er unbewußt herbeigewünscht hatte. Hinter seinem 
Vergiftungswahn waren kannibalistische Phantasien verborgen, er weigerte 
sich, seine Mutter zu küssen, und den Sprung aus dem Fenster, der ihn 
zum Tode führen sollte, hatte er in dem Momente unternommen, als sie 
im Begriffe stand, ihm Süßigkeiten zu holen. 

Wie die Wahl des Giftes durch charakteristische Momente konstelliert 
wird, zeigt folgende Beobachtung: Der 24 jährige Sohn eines Trinkers, ein 
haltloser Psychopath mit Neigung zu Alkoholexzessen, wurde deswegen 


1) A. Kielholz: Geistige Gesundheitspflege. Von ihrem Begründer und ihrer 
Geschichte. Kranken- und Irrenpflege, 9. J., 1930, S. 101. 












94 A. Kielholz 


interniert, weil er sich mit Strychnin zu vergiften versucht hatte. Er gab 
als Motiv dieser Tat an, er habe geglaubt, seine Braut sei schwanger, und 
sich dann daran erinnert, daß eine schwangere Haushälterin in dem Dorfe, 
wo er früher lebte, mit Strychnin vergiftet worden sei. 

Von einem bernischen Schwurgericht wurden vor vier Jahren ein Arzt und 
dessen Geliebte wegen Abtreibung und Giftmords, begangen an der Frau des 
Arztes, zu je zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Nun ist durch den Anwalt 
der Verurteilten ein Revisionsbegehren 1 gestellt worden, das sich hauptsächlich 
an Hand der Tagebücher der Verstorbenen auf den Standpunkt stellt, es habe 
sich um den Selbstmord einer chronischen Arsenikesserin gehandelt, die in 
der Depression, ^ welche zur kritischen Zeit einsetzte, in der Aufregung zu 
viel von ihrem gewohnten Arsen erwischte. Das psychologische Gutachten 
eines Psychiaters soll nun abklären, wie weit dieser Standpunkt begründet 
erscheint. 

Das reich dokumentierte und kurzweilige Werk L e w i n s über die Rolle 
der Gifte in der Weltgeschichte 2 enthält interessantes Material zur Bestätigung 
unserer Auffassungen. 

Wir hören da beispielsweise, daß sich König Ladislaus von Neapel und 
Ungarn nach den Chronisten im Jahr 1414 den Tod durch Gift geholt habe, 
das in die Geschlechtsteile seiner zugleich mit ihm gestorbenen Geliebten, 
einer Arzttochter, getan worden war. Nach einer andren Version habe ihm 
diese auf Wunsch ihres von den Florentinern bestochenen Vaters eine mit 
Akonit bereitete Salbe gleichsam als Liebeszauber in seine Geschlechtsteile 
eingerieben. 3 4 Der gleiche König soll als jung schon einmal vergiftet und 
damals durch die Kunst der Ärzte, die ihn öfters in das Innere eines frisch 
getöteten Maulesels einlegen ließen, gerettet worden sein. Die nämliche 
Methode der Entgiftung, das Einwickeln in eine blutwarme Tierhaut, wurde 
auch bei Caesar Borgia angewendet.« Wir dürfen sie wohl als symbolischen 
Versuch, die Situation eines Embryos und damit einer Neugeburt zu schaffen, 
auffassen. Den gleichen Sinn hat unzweifelhaft auch eine im Mittelalter 
vielfach geübte Behandlung von Vergifteten, die ebenfalls die Situation 
des Menschen beim Austritt aus dem Mutterleib nachzubilden sucht, nämlich 
die, den Vergifteten verkehrt aufzuhängen, um das Gift durch Mund, Nase, 
ja sogar aus den Augen auslaufen zu lassen. So verwendete man diese 
Methode bei Albrecht dem I., dem Sohn Rudolfs, der später in Königsfelden 
erschlagen und begraben wurde. Erhalte 1292 Adolf von Nassau als Kaiser 

1) Fritz Roth, Der Giftmordprozeß Riedel-Guala. Verl. Orell Füßli, Zürich 1929. 

2) L. Lewin, Die Gifte in der Weltgeschichte. Verl. Springer, Berlin 1020. 

5) A. a. O. S. 520. s 

4) A. a. O. S. 490. 







































nprkannt und ihm die Reichskleinodien ausgeliefert. Zu dieser Resignation 
* ranlaßte ihn vielleicht eine schwere Krankheit, die in alten Chroniken 
als 1 Folge einer Vergiftung geschildert wird und als deren Urheber man 
L Erzbischof von Salzburg bezeichnete. Mit diesem hatte der Kaiser Streit 
L Salzwerkes halben, so sein Gemahl die Kaiserin Elisabeth aufgebaut hatte 
bei Gmund. Und da der Bischof dem Kaiser nichts mit Waffen und Volk 
anhaben konnte, versuchte er sein Heil mit Gift oder Vergebung, dingte 
durch große Gaben einen unter des Kaisers Dienern, der ihm in Speis und 
Trank soviel starkes Gift brachte, daß er todkrank ward. Aber die Ärzte 
erhielten ihn. Sie banden seine Beine oben an, daß sein Haupt unten auf 
der Erde stand, und taten ihm ein künstlich bereitetes Instrument in den 
Mund und Hals, daß er sich immerdar erbrechen und das Gift ausspeien 
mußte, und von dem Instrument Odem in sich zog, daß er nicht erstickte. 
Also ist ihm in dieser künstlichen Erbrechung das Gift zum Munde, Nase und 
Augen aus dem Leibe kommen, daß er wieder gesund geworden, aber doch 
ein Auge darüber verloren hat. Das hatte er dem geistlichen Vater zu danken, 
der hatte es vom Papste gelernt, Gift für Arzenei, Tod für Leben zu geben, 
das zu Rom gar eine gemeine Kunst ist. Nach einer anderen Darstellung 
wurden ihm bei Tische in Wien am 11. November 1295 vergiftete Birnen von 
einem seiner Sekretäre, der von den Gegnern mit 300 Mark bestochen war, 
beigebracht. Das Gift wurde jedoch durch die Ärzte aus einem Auge heraus¬ 
gebracht. In einer Chronik aus dem Ende des 14. Jahrhunderts wird sogar 
berichtet, daß ihm die Ärzte ein Auge ausgestochen hätten, um dem Gift 
so einen Ausgang zu verschaffen. 1 Das erinnert uns an die Behauptung des 
paranoiden Karl R., daß ihm die Pulver des Arztes, die er für seine durch 
die Vergiftung verursachte Aufregung erhielt, die Augen beschädigt hätten. 
Auch von Kaiser Heinrich VII. ist überliefert, daß man ihn habe auf¬ 
hängen wollen, um das Gift durch seine Augen herauszubringen, 2 3 ebenso 


von einem Bischof Johann. 

Der Glaube, daß Menstrualblut giftig sei, den unsere paranoide Luise K. 
äußert, war nach Lewin weit verbreitet. 4 Solches wurde sogar in Geschosse 
eingeführt, wie auch das Sekret von giftigen Kröten oder Öl, in dem man 
Spinnen ertränkt hatte. 5 Zum Schluß dieses historischen Exkurses sei noch 
auf die sog. Giftjungfrauen Kaiser Friedrichs II. hingewiesen. Dieser be¬ 
rühmte Staufe habe nach den Chroniken schöne Mädchen täglich und 


1) A. a. O. S. 49. 

2) A. a. O. S. 465. 

3) A. a. O. S. 271. 

4) A. a. O. S. 155. 

5) A. a. O. S. 73. 











96 A. Kielholz 


dauernd Gift nehmen lassen. Ärzte hatte er zur Überwachung derselben 
angestellt, um, falls sich einmal eine vergiftet hätte, sie zu behandeln. Die 
Überlebenden hätten sich schließlich an die Gifte so gewöhnt, als gehörten 
sie zu ihrer Nahrung. Falls nun irgend ein Fürst oder ein vornehmer 
Mann, der dem Kaiser zu nahe getreten war, und den er aus bestimmten 
Gründen nicht hatte töten mögen, sich wieder mit ihm versöhnte, so gab 
er ihm eine der giftgewöhnten Jungfrauen als Gattin. Alsbald nach deren 
Umarmung wurde der Betreffende unheilbar vergiftet und starb. So rächte 
sich der Kaiser an seinen Feinden. 1 

Welcher Psychoanalytiker denkt bei dieser Erzählung nicht an Freuds 
Ausführungen über das Tabu der Virginität, wo u. a. Anzengrubers Komö¬ 
die: Das Jungferngift, und der Ausspruch von Hebbels Judith zitiert wird: 
„Meine Schönheit ist die einer Tollkirsche, ihr Genuß bringt Wahnsinn und 
Tod.“ 2 

Damit wären wir im Gebiet der schönen Literatur angelangt, und Sie 
müssen mir gestatten, noch kurz auf einige mehr oder weniger bekannte 
Dichtungen einzugehen, die zu unserm Thema einen Beitrag liefern 
können. 

In Shakespeares Dramen spielen die Gifte eine große Rolle. Die Köni¬ 
gin im Cymbelin ist eine geradezu vollendete Schilderung des Typus der 
privilegierten Giftmischerin. 3 Nach dem Bericht des Arztes Cornelius stirbt 
sie im Wahnsinn und bekennt sterbend, daß sie ihren Gatten nie geliebt, 
nur aus Machtgier geehelicht, ihn verabscheut, ihre Stieftochter, die sie 
scheinbar in falscher Zärtlichkeit auf den Händen trug, vergiften wollte, 
ebenso den König, den sie als Sterbenden pflegen und veranlassen wollte, 
ihren Sohn zum Erben der Krone zu machen. Sie verzweifelte, daß sie das 
alles nicht ausführen konnte, und wurde deswegen wahnsinnig. Hier soll 
also im Dreieckverhältnis Vater-Mutter-Sohn der erste zugunsten des letztem 
aufgeopfert werden. 

Rene Laforgue* hat uns kürzlich sehr einleuchtend gezeigt, wie sich 
bei Rousseau wie ein Leitmotiv dies Dreieckverhältnis durch das Leben 
des Dichters windet als Abfolge des Konfliktes der Kindheit, wie deswegen 
Madame de Warens zur Mama wurde, und deren Kammerdiener und 
Geliebter Claude Anet für ihn eine Vaterrolle übernehmen mußte. 
In Ergänzung der Ausführungen dieses Autors sei darauf hingewiesen, 
daß uns die Bekenntnisse des Philosophen auch von einem Vergiftungs- 

1) A. a. O S. 225. 

2) Sammlung kl. Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folffe S 2 a8 

5) Wulffen a. a. O. S. 35. * ’ 4 ' 

4) Imago, XVI, 1930, S. 245. 













































ve rsuch Claude Anets mit Opium berichten nach einer Streitigkeit mit 
F>au de Warens. Das Verhalten der Mama bei diesem Auftritt will 
Rousseau erst die Augen geöffnet haben über die enge Verbindung, die 
zwischen den beiden bestand. Wir dürfen vermuten, daß es die Eifersucht 
gegenüber dem jungen Rivalen war, die den Kammerdiener zum Selbstmord 
trit b. 1 2 Ebenfalls ein Dreieckverhältnis, wenn auch anderer Konstellation, 
li e g t der Tragödie zugrunde, die Alfred Döblin an Hand der Akten 
Klar und objektiv unter dem Titel: „Die beiden Freundinnen und ihr 
Giftmord“ 3 dargestellt hat. Die an ihren Vater fixierte, infantile und 
frigide Tischlersfrau Elli Link vergiftet ihren Mann, der in Reaktion auf 
ihre Frigidität zum brutalen Trinker geworden ist, nachdem sie sich vor 
seiner Roheit in ein homosexuelles Verhältnis zu Margarete Bende geflüchtet 
hat. Von dieser läßt sie sich zum Verbrechen aufstiften. Lassen sie mich 
aus dem Drama nur ein charakteristisches Detail 'hervorheben: Es war 
kein bloßes Wort, wenn Link seiner Frau in der wilden Verschlingung 
sagte, er müsse ihren Kot haben, er müsse ihn essen, verschlucken. Das 
kam in der Trunkenheit vor, aber auch ohne Alkohol. 3 An Stelle der 
analen Gabe, nach der die Perversion des Trinkers verlangte reicht ihm 
die Frau später „Gift für zweibeinige Ratten“. 4 Mit dichterischem Scharf¬ 
sinn hat John Knittel in seinem Roman „Therese Etienne“ 5 6 einen 
Giftmord als Auswirkung der Ödipussituation geschildert. Trotzdem der 
Sohn dabei nur Mitwisser der Tat ist, welche die von ihm geliebte Stief¬ 
mutter an ihrem Gatten begeht, ist sein Schuldgefühl so groß, daß er 
sich als Täter dem Gerichte stellt. 

Von der Rebellion des unbotmäßigen Sohnes gegen den Vater leitet 
Jakob Böhme sogar die Entstehung des Giftes überhaupt ab. Er schreibt 
in der Aurora: G 

„Wie nun der Naturgeist so königlich gebildet war, daß sein Geist 
in seiner Form und Bildung in ihm aufstieg und von Gott gar schön 
und lieblich empfangen ward, da sollte er nun augenblicklich seinen 
Gehorsam und Lauf anfangen und sollte in Gott wallen als ein lieber 
Sohn in des Vaters Hause, und das tat er nicht. 

Sondern als sein Licht in ihm geboren war in seinem Herzen, da erhob 

1) J. J. Rousseaus Bekenntnisse. Herausgegeben von O. Fischer, München. Verl. 
M. Mörike, 1912, S 158. 

2) Verlag die Schmiede, Berlin 1924. 

5) A. a. O., S. 48. 

4) A. a. O., S. 58. 

5) Orell Füßli, Verlag, Zürich. 

6) Herausgegeben u. eingel. von Jos. Grabisch, Verlag R. Piper & Co., München, 
x 9 l 2i S 55 . 

Int. ZeiKchr. f. Psychoanalyse, XVII/i 


7 
















98 A. Kielholz: Giftmord und Vergiftungswahn 

er sich in seinem Leibe wider das Naturrecht und fing gleich eine höhere, 
prächtigere Qualifizierung an als Gott selber. 

Davon ist das erste Gift entstanden, worin wir arme 
Menschen nun in dieser Welt zu kauen haben, und wodurch der bittere, 
giftige Tod ins Fleisch gekommen ist.“ 

Wir könnten somit nunmehr unsere frühere Zusammenfassung dahin 
modifizieren oder ergänzen: 

Die Se- und Exkrete des Mutterleibes sind deshalb so gefährlich und 
giftig, weil ihre Erwerbung und ihr Besitz einem Inzest gleichkommt, 
der mit Kastration und Tod geahndet wird. 

Der Zürcher Strafrechtslehrer Prof. Hafter hat sich kürzlich in einer 
Kritik der ps. Bemühungen um die Kriminalistik recht mißbilligend 
über die wilden Phantasien der PsA. ausgesprochen. 1 Wir zweifeln keinen 
Augenblick daran, daß er auch unsere Schlußsätze zu diesen wilden 
Phantasien rechnen würde. Das darf uns aber nicht hindern, auch weiter¬ 
hin mit solchen Hypothesen und Konstruktionen zu operieren, ohne die 
nun einmal bei aller Anerkennung ihrer Vorläufigkeit und Fragwürdig¬ 
keit ein Fortschreiten der Erkenntnis kaum denkbar ist. 


1) E. Hafter: PsA. und Strafrecht. Schweiz. Zeitschr. für Strafrecht, 44. J., 
1950, S. 1. 



























Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 

Vortrag in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft am 4. November 1930 

Von 

Jakob Hoffmann 

Berlin 

I) Zustandsbild und Probleme 

Der Patient, der uns beschäftigen wird, ist ein neunundzwanzigjähriger 
Architekt, der wegen Berufshemmung in die Behandlung kam. Er ist nicht 
imstande, sein Studium zu vollenden, obgleich er bereits im 22. Semester 
steht. Regulär studierte er eigentlich nur vier Semester und bestand das 
Vorexamen nach Ablauf der üblichen Frist. Dann wurden seine Hemmun¬ 
gen so stark, daß sie ihn im Studium fast vollkommen lahmlegten und 
ihn insbesondere daran hinderten, gewisse Übungen, die als Vorbedingung 
für sein Schlußexamen erforderlich wären, mitzumachen. Besonders wichtig 
wäre eine Anzahl von Entwürfen, die er in einem gemeinsamen Zeichen¬ 
saal anzufertigen hätte. Aber eine unüberwindliche Angst macht es ihm 
unmöglich, diesen Saal zu betreten. Seit etwa zwei Jahren ist er überhaupt 
nicht mehr dort gewesen, früher auch nur höchst selten, ohne jemals eine 
Arbeit fertigstellen zu können. „Wenn ich in den Zeichensaal ginge“, 
pflegte er immer wieder zu sagen, „so würden mich Aalle nwesenden, 
Studenten und Assistenten, in feindseliger Weise beobachten. Man würde 
sagen: ,Das ist ja ein uralter Sack, was will denn der hier?’ und ich 
würde keine Erklärung geben können. Oder man würde mich fragen 
,Wie lange studieren Sie schon, wie kommt denn das?’ und ich wüßte 
nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich könnte nichts arbeiten und 
meine Minderwertigkeit und Berufsunfähigkeit würde in der beschämend¬ 
sten Weise bloßgestellt werden. Alle würden sie mich verachten und für 
einen ganz und gar Gescheiterten halten.“ Dabei ist der Patient ein 
intelligenter, scharf denkender Kopf, anscheinend von recht guter Begabung 
für sein Gebiet und im Besitz gründlicher Kenntnisse. Aber es ist voll¬ 
kommen zwecklos, auf die Absonderlichkeit seiner Befürchtungen und auf 


7* 










100 


Jakob Hoffmann 


die Irrealität seiner Unzulänglichkeitsgefühle hinzuweisen. Er nimmt solche 
Äußerungen mit größtem Mißtrauen auf und empfindet sie als „pia fr aus *'. 

Ebenso wie in seinem Studium, ist der Patient ganz allgemein vor den 
Personen seiner Umgebung von einer übermäßigen Angst beherrscht. Diese 
Angst bestimmt sein ganzes Verhalten so vollkommen, daß er gar nicht 
imstande ist, sein Tun und Lassen auf Grund eigener Anschauungen zu 
bewerten. Für ihn ist das Urteil der anderen das Gesetz, das seine Hand' 
lungsweise und seine Selbsteinschätzung vorschreibt. Darauf aufmerksam 
gemacht, erscheint es ihm ganz unfaßbar, wie man einen anderen Maßstab 
haben, wie man sich selber Ziele und Ideale setzen könne. Er vernimmt 
wohl eine innere Stimme, aber sie spricht zu ihm nur: „Man kann von 
dir verlangen, daß du dies oder jenes tust oder nicht tust.“ Wie er 
selbst versichert, würde er sich sofort ganz wohl fühlen, wenn seine Eltern 
und Freunde keine Anforderungen mehr an ihn stellen könnten. Er fürchtet 
sich gar nicht so sehr vor den Schrecken einer gescheiterten Existenz, seine 
große Angst ist vielmehr: „Wie entsetzlich, wenn es herauskommt, 
wie ich lebe!“ Darum meidet er sorgsam nicht nur den Zeichensaal, son¬ 
dern auch jede andere Örtlichkeit oder Situation, in der Lehrer oder 
Kollegen ihn beobachten oder irgendwelche unliebsamen Fragen an ihn 
richten könnten, auch wenn diese Möglichkeit noch so gering ist. So ist 
ihm das Belegen von Vorlesungen, das Einholen irgendeiner Auskunft 
u. dgl. eine qualvolle Aufgabe, der oft tagelang Angstausbrüche voraus¬ 
gehen. Begegnungen mit Bekannten geht er peinlichst aus dem Wege, 
Auf der Straße geht er immer im Eilschritt, damit ihn keiner überholen 
kann. Im Sommer geht er auf der Sonnenseite, im Winter auf der Schatten¬ 
seite. Auf Wegen, die mit Bäumen bepflanzt sind, hält er sich nahe an 
dem Straßendamm. Kurz, er ist immer da zu finden, wo die Aussicht auf 
eine Begegnung möglichst klein ist. Seine Angst kann aber noch groteskere 
Formen annehmen. So geht er z. B. in weitem Bogen um die Auslage eines 
Photographen herum, weil ihn dort ein Bild an einen Dozenten erinnert, 
dem er vor Zeiten eine Übungsarbeit nicht abgeliefert hat. Weil ein 
Student, von dem er ausgefragt zu werden fürchtet, „Kräher“ heißt, ist 
ihm jede vorüberfliegende Krähe eine Peinlichkeit. Im Zeichensaal ist die 
Gefahr, beobachtet und ausgefragt zu werden, am größten, darum hat er 
auch dort die stärkste Angst. „Solange ich nicht in den Zeichensaal gehe,“ 
denkt er sich, „bin ich sicher.“ 

Ganz ähnlich benimmt sich der Patient im Sexualleben, das auf einer 
primitiven Stufe steht. Er beschränkt sich auf häufige Onanie und dazu 
seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr auf fast ebenso häufigen Verkehr 
mit Prostituierten. Er möchte wohl gern ein Verhältnis mit einem „anstän- 













































en “ Mädchen haben, aber auch hier kaum aus innerer Sehnsucht 
sondern weil es die anderen so machen und sich damit rühmen. 
Er^möchte auch davon erzählen können, um als ein rechter Kerl zu gelten. 
Auch hier leitet ihn gewissermaßen die Einstellung: „Man kann es von 
dir verlangen, daß du ein ,besseres 4 Verhältnis hast.“ Natürlich ist der 
Dirnenverkehr und ganz besonders die Onanie in seinen Augen etwas 
Minderwertiges, aber doch nur, weil er auch darin den Wertungen seiner 
Umwelt folgt. Seine Hauptsorge ist wieder, es könne herauskommen, und 
bis vor kurzer Zeit hat es ihn ständig beunruhigt, daß man ihm die Onanie 
ansähe. Seine gesamte sexuelle Betätigung betrachtet er also als etwas 
Verbotenes, weil er sich der allgemeinen Meinung seiner Umwelt beugt. 
Er hat sich nicht so weit mit dem Verbot identifiziert, das Verworfene zu 
unterlassen. Er folgt vielmehr seinem Triebe, und seine Ängste und Schuld¬ 
gefühle gelten in der Hauptsache nur der Entdeckung und ihren Folgen. 

Wie überall, verkörpert sich auch bei unserem Patienten die Umwelt 
im letzten Grunde in seinen Eltern und vor allem im Vater. Manifest ist 
das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ein positives, Der Vater sorgt sich 
um ihn und unterstützt ihn materiell in jeder Weise, der Sohn wiederum 
verehrt den Vater und hat vor seiner Tüchtigkeit große Hochachtung. Und 
doch ist es seine Hauptsorge, der Vater könne erfahren, wie es um ihn 
stehe. So gern er daher auch mit ihm Zusammensein möchte, so sehr 
fürchtet er doch jede Begegnung, und die Ferienreise in die Heimat wird 
ihm schon im voraus durch den Gedanken vergällt: „Der Alte wird wieder 
bohren“, d. h. peinliche Fragen stellen. Als dem Patienten einmal die 
Möglichkeit angedeutet wurde, seinem Vater reinen Wein einzuschenken, 
war er wie erstarrt. „Wie der Analytiker bloß auf einen solchen Gedanken 
kommen könne!“ Tatsächlich stellte es sich immer klarer heraus, daß 

auch die Analyse für ihn hauptsächlich den Zweck hatte, seinem Vater 

den Tatbestand möglichst lange zu verheimlichen; außerdem sollte sie als 
Entschuldigung vor der Umwelt dienen. 

Ich habe soweit nur das Wichtigste erwähnt. Aber es ist fast 
erschütternd zu sehen, wie beinahe jede Lebensbetätigung in Mitleiden¬ 
schaft gezogen wird, wie das ganze Leben des Patienten ein ständiges Hin¬ 
schielen auf die andern ist, eine ständige Angst, den vermeintlichen Anfor¬ 
derungen seiner Umwelt nicht gerecht zu werden. Selbst wenn er sich 

Vorwürfe macht, hat man den Eindruck, daß nur so etwas wie ein Zwang 

vorliegt, schuldbewußte Grübeleien anzustellen. Er gibt auch offen zu, er 
müsse sich Vorwürfe machen, aus Angst, daß man ihn sonst nicht für 
einen anständigen Menschen halten würde. Die Umwelt verlange es 
eben, daß man ein Gewissen habe. 







102 


Jakob Hoffmann 


Die bisherige Schilderung zeigt uns einen schwer neurotischen Menschen. 
Fast jede Lebensfreude ist ihm versagt, in seiner Berufsarbeit ist er stark 
gehemmt. Die Versagungen und Hemmungen werden ihm nicht von seinen 
Mitmenschen oder durch widrige materielle Verhältnisse aufgezwungen; 
in dieser Hinsicht steht er eher günstig da. Er ist selbst die Quelle aller 
seiner Nöte und Beschwerden. Einzelne Züge in seinem Verhalten sind ja 
nichts Seltenes und finden sich oft genug bei durchschnittlich Gesunden. 
Aber im Leben des Patienten nehmen die Ängste einen so breiten Raum 
ein, sie haben sein Denken, Fühlen und Gebaren so vollkommen durch¬ 
setzt, daß die in solcher Weise aufgezehrte Persönlichkeit im ganzen ein 
Bild sui generis darbietet, das nur schwer verständlich ist und uns eine 
Reihe von Problemen aufgibt. Insbesondere drängen sich uns drei Haupt¬ 
fragen auf: 

Einmal: Warum ist es bei unserem Patienten zur Bildung so ungewöhnlich 
heftiger Ängste gekommen? 

Sodann: Wie erklärt sich die eigenartige Einstellung des Patienten der 
Außenwelt gegenüber? Warum ist er ängstlich bestrebt, sein Verhalten 
den Anschauungen und Forderungen seiner Mitmenschen anzupassen und 
auf eigene Urteile und Ziele fast völlig zu verzichten ? 

Endlich: Wie ist der Patient dazu gekommen, den meisten sozialen 
Situationen in so merkwürdiger Weise auszuweichen, so daß er sich immer 
mehr von seiner Umwelt und den natürlichen Lebensäußerungen, wie wir 
sie bei einem jungen Manne erwarten, isoliert? 

Die Analyse soll uns helfen, diese Probleme aufzuhellen. Wie immer, 
erwarten wir von ihr zunächst eine genetische Auskunft. Sie soll uns vor 
allem zeigen, wie die seelische Struktur des Patienten durch sein indi¬ 
viduelles Erleben von frühester Kindheit an geformt wurde und wie sich 
dadurch das Wechselspiel zwischen den Instanzen seiner zerklüfteten 
Persönlichkeit und der Außenwelt in einer Weise gestalten konnte um 
sein Schicksal in so abnorme Bahnen zu lenken. 


II) Befunde der Analyse 

Unser Patient stammt aus einem Städtchen des alten Österreichs. Er 
war das einzige Kind, und dieser Umstand hat sicherlich viel zu seiner 
unglücklichen Entwicklung beigetragen. In einer größeren Geschwisterschar 
hätten die Einflüsse der Umgebung sich nie so einseitig auswirken können. 
Schon seine Geburt vollzog sich unter widrigen Umständen. Es war eine 
schwere Zangengeburt; man hatte daran gedacht, die Frucht zu töten, und 
bei der Entbindung erlitt er starke Quetschungen, besonders im Gesicht. — 







































































Seinen Vater, der eine gehobene Stellung in einem geschäftlichen Unter¬ 
nehmen einnimmt, schildert der Patient als einen Autodidakten von guter 
Bildung und vielseitigen Kenntnissen, seiner Frau gegenüber ziemlich 
nachgiebig, aber trotzdem das anerkannte Oberhaupt der Familie. Im 
L e ben des Patienten spielte zunächst die Mutter die Hauptrolle. Sie ist 
eine von den Frauen, die, ohne ein festes System zu befolgen, nicht 
genug an ihren Kindern herumerziehen können, wozu sie bei ihrem 
einzigen Kind reichlich Gelegenheit hatte. Für ihre Charakterisierung ist 
bedeutsam, daß sie, wie sie selber erzählte, während ihrer ganzen Kindheit 
unter der Bevorzugung eines älteren Bruders stark gelitten hatte. Dieses 
Moment ist für unseren Patienten schicksalhaft geworden. Die Frau hat, 
wie wir sehen werden, ihr Kind mit diesem Bruder identifiziert und 
unbewußt eine verspätete Rache für ihre eigene frühere Zurücksetzung 
genommen. Die Wiederholungstendenz läßt sie dabei sogar dieselben in 
ihrer Kindheit gehörten Worte gebrauchen. „Wie komme ich zu einem so 
häßlichen Kinde?“ hatte ihre Mutter von ihr gesagt. Das gleiche bekommt 
der Sohn von ihr zu hören, ohne daß ihr die Wiederholung bewußt wird. 
Im übrigen nimmt sie die Erziehungsaufgabe durchaus ernst. Bis ins 
kleinste schreibt sie dem Kinde vor, was es tun und was es nicht tun 
dürfe; eine freie Wahl wird ihm fast nie gelassen. 

Im gegenwärtigen Verhalten des Patienten fällt neben seiner Ängstlich¬ 
keit seine übergroße Passivität und der scheinbare Mangel jeder Aggression 
am meisten auf; ähnlich ist auch sein früheres Leben charakterisiert. Und 
doch macht er weder in seinem Äußeren noch in seinem allgemeinen 
Benehmen einen femininen Eindruck. Da ist es bedeutsam, daß wir aus 
seinen ersten Jahren Erlebnisse haben, die als Zeugen für eine damals 
noch ungebrochene Persönlichkeit gelten können. Sie stammen aus seinem 
zweiten und dritten Lebensjahre, Es ist, als habe er bis zu dieser Zeit 
immer heftig, wenn auch vergeblich, gegen einen äußeren Zwang an¬ 
gekämpft und versucht, seinen eigenen Willen geltend zu machen. „Das 
paßt mir nicht I u habe er unter starkem Widerstande ausgerufen, als er zum 
ersten Male Hosen anziehen soll. Weiterhin erinnert er sich direkt, wie 
er sich häufig gegen kalte Abreibungen durch die Mutter heftig gesträubt 
habe, so daß er von einem Dienstmädchen gehalten werden mußte. Die 
Mutter erzählte ihm auch später, wie er in diesen Jahren überhaupt sehr 
trotzig gewesen sei. Hier haben wir Reste seiner später so stark beein¬ 
trächtigten Aktivität. Durch welche harten Kämpfe gegen die Umwelt diese 
schon sehr bald verkümmert wurde, konnte die Analyse bis jetzt nicht 
feststellen; die Verdrängung hat diese peinlichsten Erinnerungen der 
ersten Jahre mit dichter Amnesie verhüllt. Die Einschüchterungen und 













*°4 Jakob Hoffmann 


Kränkungen seiner phallischen Männlichkeit in der folgenden Ödipuszeit 
konnte dagegen die Analyse — wie wir bald sehen werden — um so 
schärfer erfassen. Zwei Deckerinnerungen scheinen jedenfalls auf die 
frühkindliche Onanie und den ersten Entwöhnungskampf hinzu weisen. 
In der einen sieht der Patient sich lange, vielleicht ängstlich, nach einem 
großen Schornstein um. In der anderen wird er als etwa Dreijähriger von 
seinem Kindermädchen in einem Sportwagen auf der Straße gefahren. Er 
sucht ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er auf eine sich 
öffnende weiße Bahnschranke zeigt und ausruft: „O Gott, da geht sie schon 
wieder auf!“ Das Mädchen weist ihn zurecht: „,0 Gott 4 soll man nicht 
sagen!“ Der Ausruf „O Gott“ bedeutete für ihn, daß sich etwas Schlimmes 
ereignet. Er hatte ihn früher bei einem Brande ausrufen hören, als eine 
Fabrik (Schornstein!) einstürzte. Der Schornstein und die sich aufrichtende 
und wieder senkende Bahnschranke dürften das Kind an Erektion und 
Onanieversuchung gemahnt haben, aber zugleich — wie der Ausruf „O Gott“ 
zeigt auch an ihre ängstliche Abwehr, möglicherweise als Erfolg früherer 
Züchtigungen oder Drohungen. Wenn das zutrifft, so dürfte zur späteren 
Einschränkung seiner phallischen Männlichkeit schon hier der Grund gelegt 
worden sein. Sehr drastisch muß auch die Erziehung zur Reinlichkeit ge¬ 
wesen sein. Ein Traum, den er in die Analyse bringt, frischt eine frühe 
Erinnerung auf, die dann durch die Mutter bestätigt wird. Sie zeigt ihn 
als etwa Dreijährigen, der sein Bett verunreinigt hat, und dem von der 
Mutter angedroht wird, mit dem schmutzigen Laken auf dem Marktplatz 
bloßgestellt zu werden. Weinend habe er gebeten, man solle ihn lieber 
schlagen. Man sieht bereits seine große Angst vor Bloßstellung; überdies 
bereitet sich hier etwas vor, was später von großer Bedeutung werden sollte. 
Es wird ihm gezeigt, daß man durch Zwang zu einer Triebbefriedigung ge¬ 
langen kann, und so bietet sich ihm die Möglichkeit zur Erotisierung der 
Strafe, wie es in einem allerdings viel krasseren Falle Alexander 
geschildert hat. 1 

Die Strenge der Erziehung trifft das Kind um so härter, als es ein starkes 
Bedürfnis nach Zärtlichkeit und liebevoller Anteilnahme hat. Als Drei- bis 
Vierjähriger verschluckt er einen eisernen Haken, beachtet aber kaum die 
Schmerzen, sondern ist froh, daß man herbeieilt und sich um ihn kümmert. 
In die gleiche Richtung weisen seine damaligen Spiele. Tiere aus weichem 
Stoff sind seine Lieblinge, zu denen er nicht zärtlich genug sein kann. 
Noch als Zwölfjähriger geht er mit einem Teddybären ins Bett. Auch bei 
dem erwähnten Bahnschrankenerlebnis erinnert er sich deutlich des 


1) Alexander, Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit, S. 189. 























































Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 105 


Wunsches, man möge sich um ihn kümmern. Aber schon mit dieser Be- 
ebenheit verknüpft er die Erinnerung, daß man seine Sehnsucht nach 
Liebe mit einer Zurechtweisung beantwortet hat. Dies ist aufschlußreich 
dafür, wie sich in seinem subjektiven Erleben die frühe Kindheit 
darstellt 1 Er empfindet sie als eine Ketie von Enttäuschungen. Sein Wunsch 
nach Zärtlichkeit wird nie befriedigt, sondern von der Umwelt, vor allem 
der Mutter, schroff zurückgewiesen und das Kind zudem häufig verspottet 
und auch körperlich gezüchtigt. Erinnern wir uns an die neurotische 
Erziehungstendenz der Mutter, die an ihrem Sohne ihren Bruderkomplex 
auslebt. Dabei verrät sich die Frau ganz offen. „Ich werde dir das Ver¬ 
zogenwerden schon austreiben“, fährt sie ihn an, wenn er beim Großvater 
gewesen ist, dem einzigen Orte, wo er sich wirklich unbefangen fühlt. 
Oft flüchtet er, nachdem ihn die Mutter geschlagen hat, in seine Spiel¬ 
ecke und weint. Dann zerrt sie ihn heraus und schreit ihn an, oder sie 
lacht ihn aus und ruft das Dienstmädchen herbei, ihn mitauszulachen. Am 
quallvollsten empfindet er es jedoch, daß das Verhalten der Mutter durch¬ 
aus widerspruchsvoll ist, und sie dem Knaben häufig Vorwürfe für etwas 
macht, was sie selber angeordnet hat. So muß er, um nur ein Beispiel zu 
nennen, sehr wider seinen Willen jeden Morgen ein Ei essen, um später 
zu hören zu bekommen, er werde dadurch viel zu sehr verwöhnt und führe 
ein Leben wie ein Baron. Solche Inkonsequenzen muß er fast täglich über 


sich ergehen lassen und weiß bald gar nicht mehr, wie er sich benehmen 
solle, um die Mutter zufriedenzustellen. — Alle diese Versagungen und Ein¬ 
schüchterungen konnten nur den Erfolg haben, daß der Knabe sich schon 
damals teilweise von der Mutter ab wendet und sich mehr dem Vater zu¬ 
neigt, an den er aus dieser Zeit nur freundliche Erinnerungen bewahrt 
hat. Während der Woche bekommt er ihn zwar kaum zu Gesicht, doch 
darf er am Sonntag Morgen zu ihm ins Bett gehen und dort herumtoben. 
Trotzdem sind auch seine Vorstellungen vom Vater durchaus nicht angst¬ 
frei. Die Mutter stellt es immer so dar, als ob auch der Vater mit ihm 
unzufrieden sei und ihre Vorhaltungen und Bestrafungen durchaus billige. 
So erschien dem Kind der Vater als die höhere strafende Instanz, die 
eigentlich noch gefährlicher war als die Mutter, an deren häufige Zwangs¬ 
maßnahmen es sich gewöhnt hat. 

Trotz aller Härten und Lieblosigkeiten, denen der Knabe in der frühen 
Kindheit ausgesetzt ist, treten grobe manifeste Entwicklungsstörungen 


1) Diese ganze Darstellung kann natürlich auf das objektive Verhalten der 
Mutter kein Licht werfen. Das ist auch hier unwesentlich, weil wir es nur mit der 
psychischen Realität zu tun haben. Auf objektiv ungewöhnliches Benehmen der 
Mutter deutet allerdings ihre neurotische Einstellung hin. 
















Jakob Hoffmann 


106 


zunächst nicht auf. Er bleibt zwar ein verängstigtes Kind, aber in den 
entscheidenden Jahren der eigentlichen Ödipuszeit — dem vierten bis 
fünften Lebensjahr — finden wir doch sichere Hinweise, daß er die 
phallische Stufe, wenn auch nur vorübergehend, erreicht hat. Mit seinen 
Kameraden treibt er wiederholt Penis- und Urinierspie^e. Einmal geht er 
danach zur Mutter, zeigt auf seinen Penis und versucht, mit ihr über 
seinen „Herrn Ziller“, wie sie das Glied nannten, zu scherzen. Aber ge. 
rade da begegnet ihm etwas, woran er sich auch heute noch als eine der 
schmerzlichsten Erfahrungen seines Lebens erinnert. Ganz gegen ihre 
Gewohnheit bestraft ihn die Mutter diesmal nicht selber, sondern liefert 
ihn dem Vater aus, und nun muß es der Knabe erleben, daß dieser wirk¬ 
lich der strenge Mann ist, als den ihn die Mutter immer hingestellt hat. 
Er wird zum ersten Male vom Vater selbst empfindlich gezüchtigt, und 
dasselbe wiederholt sich, als dieser den Knaben auf der Siraße bei 
Urinierspielen mit Freunden ertappt. Wir sehen so, daß in dieser kritischen 
Zeit der Abgewöhnungskampf gegen die Onanie wieder mit besonderer 
Härle geführt worden ist, wobei entscheidend ins Gewicht fällt, daß die 
Einschüchterung diesmal vom Vater ausgeht. Es seien noch einige andere 
Erlebnisse aus diesen Jahren genannt, die die allgemeine Verängstigung 
des Knaben zeigen und offenbar auch traumatisch im Sinne von Kastra¬ 
tionsdrohungen gewirkt haben. Man erzählt ihm von der Lügenbrücke, 
und das Kind erschrickt heftig über einen toten schwarzen Vogel, den es 
zufällig neben einer Brücke im Graben liegen sieht. Noch nach Jahren 
betet er, der schwarze Vogel solle ihm nicht im Traum erscheinen. Dies 
vertieft das Verständnis für die zuvor erwähnte heutige Angst vor Krähen. 
Der Weihnachtsmann schreckt ihn mit einem unheimlichen Rutenbündel 
und seiner merkwürdigen Kapuze, die anscheinend auch phallische Be¬ 
deutung hat. Seither fürchtet sich das Kind noch lange vor allen Menschen, 
die eine ähnliche Kopfbedeckung tragen. Mit einem Kameraden phantasiert 
er von einer Nachbarsfrau, daß sie Kinder in die „Hölle“ zu ihrem Manne 
schleppe, der dann mit einer Heugabel auf ihren Köpfen herumhacke. Die 
Vorstellung, daß die andern auf ihm „herumhacken“, beherrscht ihn heute 
noch und bricht zuweilen in Träumen durch, zumal seine Mutter oft eine 
ähnliche Wendung gebrauchte. Endlich ist noch ein wichtiges reales 
Kastrationserlebnis aus dieser Zeit zu berichten: Er geht mit der Mutter, 
sieht den Vater von weitem und will auf ihn zulaufen. Dabei fällt er 
aufs Steinpflaster und schlägt sich ein Loch in den Kopf, das vom Arzt 
vernäht weiden muß. Als er vom Arzt weggeht, ereilt ihn das weitere 
Mißgeschick, daß er sich den Pünger an der Tür klemmt, was er als 
schlimmer als den eigentlichen Unfall empfindet. Anscheinend hat diese 

















































Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 


107 


Fehlhandlung die Bedeutung einer kastrativen Selbstbestrafung für verpönte 
feindselige Absichten. Als eine Reaktion auf solche aggressiven Regungen 
ind auch seine Ängste zu deuten, wenn die Eltern ausgehen und ihn 
allem lassen. Er befürchtet dann, sie könnten durch ein Verkehrsunglück 
tötet werden. Bezeichnenderweise hat er als Erwachsener wirklich an 
Selbstkastration gedacht, um seiner sexuellen Triebhaftigkeit, die er für 
übermäßig hält, Herr zu werden, und in Selbstmordphantasien, die 
zuweilen auftauchen, legt er sich aut eine Schiene und läßt sich von 
einem Eisenbahnzug den Kopf abtrennen. Auch diese Phantasien zeigen 
aber wieder ein Doppelgesicht: Bestrafung und masochistische Trieb¬ 


befriedigung. 

Unser Patient befindet sich so beim Ausgang des Ödipuskonfliktes in 
einer eigenartigen seelischen Verfassung, wobei vor allem ein Moment 
augenfällig ist: Beide Eltern erscheinen ihm als feindselige, mit Kastration 
drohende Gewalten, was am klarsten in der obigen Phantasie über die 
Nachbarsleute zum Ausdruck kommt: die Frau schleppt das Kind zum 
Manne, der auf seinem Kopfe herumhackt. Offensichtlich stellt dies eine 
S> nthese der beiden realen Begebenheiten dar, wie ihn die Mutter dem Vater 
übergibt, der den Knaben, ganz gegen seine Erwartung, körperlich züchtigt, 
und wie er später, als er zum Vater eilen will, sich ein Loch in den 
Kopf schlägt. Unter dem Druck dieser und ähnlicher Erlebnisse wird die 
Kastrationsargst außerordentlich verstärkt, und es setzt sich bei ihm die 
Vorstellung fest, die ihn auch heute noch vollkommen beherrscht: „Die 
gesamte Umwelt ist mir feindlich gesinnt“, oder, wie er es auch häufig 
ausdrückt: „Man will mir übel.“ Entscheidend ist nun, wie der Patient 
auf diese Eindrücke reagiert. Denkbar wäre es, daß er mit offener Rebellion 
und starkem Trotz antwortet. Aber dieser Ausweg ist ihm durch seine 
übermächtige Kastrationsangst versperrt. Um so mehr muß man sich fragen, 
was aus seinen aggressiven Tendenzen geworden ist, wie er damals seine 
sadistischen Triebregungen untergebracht hat. Diese mußten ja bei der 
strengen lieblosen Erziehung besonders heftig aufbegehren. Tatsächlich 
erinnert sich der Patient daß er starke Haßgefühle gehegt hat, besonders 
der Mutter gegenüber, die er oft als Feindin betrachtete und die er um 
nichts bitten konnte. Aber auch dem Vater grollte er wiederholt, so, wenn 
dieser ihm auf gemeinsamen Spaziergängen mit barschen Worten das Reden 
veibot. Wir haben auch gesehen, wie er in seinen Ängsten um die Eltern 
seine eigenen Todeswünsche gegen diese verrät, und ähnlich haben wir 
seine Überzeugung von der allgemeinen Feindseligkeit der Umwelt auch 
teilweise als eine Projektion seiner eigenen Haßgefühle einzuschätzen. 
Überhaupt hat die Kastrationsangst den Erfolg gehabt, daß der Patient seinen 











108 


Jakob Hoffmann 


Sadismus gegen sich selber richtet und daß er immer mehr in eine 
masochistische, passive Haltung hineingedrängt wird. 

So konnte der Ausgang der Ödipusphase kaum zweifelhaft sein. Eine 
irgendwie normale Erledigung im Sinne des Aufgebens der inzestuösen 
Objekte, der Identifizierung und Sublimierung ist dem Knaben unmöglich 
gewesen; ebensowenig kommt es zu einer Fixierung eines genital fun¬ 
dierten Charakters. Die außergewöhnliche Kastrationsangst bewirkt vielmehr, 
daß er die genitale Entwicklungslinie größtenteils verläßt und auf die 
anale sado-masochistische Stufe regrediert. Die Disposition zur Analerotik 
hat die Mutter durch ihre rigorose Reinlichkeitserziehung gefördert. Zahl¬ 
reiche Erinnerungen des Knaben aus dem fünften und sechsten Lebens¬ 
jahre beschäftigen sich mit ausgesprochen analerotischen Neigungen. Davon 
ist besonders eine bemerkenswert, in der auch wiederum sein Wunsch nach 
Vergewaltigung, seine Tendenz, die Strafe zu erotisieren, zum Ausdruck 
kommt. Er besucht eine Tante in der Großstadt, die ihn warnt, mit 
fremden Leuten zu gehen, weil sie den Kindern die Augen ausstechen, 
um sie zum Betteln tauglich zu machen. Der Onkel stellt dies dahin 
richtig, daß sie mit den Kindern „Schweinereien“ treiben. Dem Knaben 
aber ist der Gedanke, zu solchen Dingen gezwungen zu werden, durch¬ 
aus nicht unsympathisch, und die Begriffe „Schweinereien — unanständig 

Kotspielen“ gehören für ihn schon damals zusammen. 

Den Höhepunkt erreicht diese ganze Entwicklung in einer Phantasie, 
die anscheinend um diese Zeit begonnen wurde. Der Knabe spann sie 
immer weiter aus, und die Beschäftigung damit war viele Jahre lang für 
ihn mit großer Lust verbunden Sie läßt abermals die Verschmelzung 
von infantilen Wünschen und früheren realen Erlebnissen deutlich erkennen. 
Die Hauptmomente darin sind: Der Knabe wird von Räubern entführt 
und in einem Raum eingesperrt, wo man ihn zwingt, in dem dort 
angehäuften Kote herumzuwühlen . Dabei hat er eine charakteristische 
ärmliche Kleidung an: Gestrickte graue Wollstrümpfe, ebensolche Wollstutzen 
an den Armen, eine Frauenhose, die später durch eine Manchesterhose aus 
Wollsamt ersetzt wird. Statt der Jacke hat er einen Sack, an den Füßen 
Holzpantoffeln . Als Bett dient ihm zuerst eine Holzpritsche , dann ein mit 
Stroh gefüllter Sack . Die Analyse zeigte, daß „Sacktragen“ eine Strafe 
bedeutete; die Mutter hatte es ihm angedroht, wenn er sich schmutzig 
machte. Die Hose deutet auf ein „unanständiges“ Lied und die Strümpfe 
auf den Vater, der im Wohnzimmer, wenn er kalte Füße hatte, seine 
Wollstrümpfe wechselte. Auch das habe die Mutter als unanständig 
bezeichnet. Diese Phantasie zeigt zunächst mit größter Deutlichkeit, wie 
der Patient die früher nur vereinzelten Tendenzen inzwischen zum System 











































Lntwiddungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 


109 


, .Er erotisiert die Strafen, die ihm die Umwelt auferlegt. 

ausgebilaex na 1. ^ . . . , 

den Strafandrohungen der Mutter schöpft er eine masochistische, 
analerotische Lust. Gleichzeitig entlastet er sein Schuldgefühl, denn die 
Triebbefriedigung schließt ja die Bestrafung ein, und außerdem wird er 
dazu gezwungen, wobei die Räuber, von denen Strafe und Zwang aus- 
hen die kontrollierenden Eltern vertreten. Die Phantasie zeigt ferner 
von neuem seine vollkommene Passivität, läßt aber auch fetischistische 
Tendenzen erkennen, die zum Teil heute noch fortbestehen. Schon als 
Kind erregt bei ihm die Vorstellung von den Wollstrümpfen und dem 
Strohsack ein starkes Lustgefühl mit nachfolgendem Harndrang. Zu Anfang 
der Pubertätszeit bilden sie einen Bestandteil seiner Onaniephantasien, 
und für den Erwachsenen sind Sirümpfe als Kleidungsstück an seinen 
Liebesobjekten ein unwiderstehlicher Anreiz, wenn sie auch nie von so 
ausschließlicher Bedeutung werden, daß man von einer eigentlichen Per¬ 
version sprechen kann. Sie verraten so auch homosexuelle Neigungen, 
die ursprünglich dem Vater gegolten haben. 

Mit dieser intensiven Phantasietätigkeit analmasochistischen Inhalts sind 
die ersten Jahre der Latenzperiode erfüllt, so daß der Knabe zu keiner 
zweckmäßigen Sublimierung seiner prägenitalen Triebe gelangen kann. 
Zudem finden seine Neigungen in häufigen urethralen und analen Spielen 
mit Kameraden auch reale Befriedigung, und als ein älterer Schüler, 
den er als Autorität anerkennt, ihm befiehlt, den Anus zu zeigen, sieht 
er es von neuem bestätigt, daß man aus bedingungslosem Gehorsam gegen 
die Umwelt Lustgewinn ziehen kann. Schüchterne Sublimierungsversuche 
werden wieder von der Mutter im Keime erstickt. Als sie eine Phantasie¬ 
zeichnung von ihm in einem Schulhefte entdeckt, tadelt sie ihn streng 
wegen dieser „schmierigen Schweinereien“ und bestraft ihn mit Ohrfeigen. 
Seine Handschrift ist schon früher in der Schule und zu Hause als 
Schmieren gebrandmarkt worden. Nun wird auch das Zeichnen mit einem 
Verbot belegt, wie zur Vorbereitung seiner späteren ZeichensaaTÄngste. 

Inzwischen ist er in ein Gymnasium eingetreten, und die Folgen 
der Einschüchterung und seiner Neigung zu phantastischen Träumereien 
machen sich in erschwerender Weise bemerkbar. Der Zwang von seiten 
der Mutter läßt auch in keiner Weise nach Zu allem übrigen überwacht 
sie seine Schularbeiten, hört ihn ab und kritisiert seine Leistungen stark. 
Kein Wunder, daß er scheu wird und sich von seinen Mitschülern 
absondert, weil er sich ihnen gegenüber minderwertig fühlt. Die heutige 
Tendenz zum sozialen Ausweichen macht sich schon damals deutlich 
bemerkbar. Ebenfalls ist auch schon die Furcht vorhanden, man könnte 
an ihn irgendwelche Fragen stellen und so seine Minderwertigkeit ent- 











lto 


Jakob Hofimann 



decken, oder er selbst konnte diese durch eigene Fragen verraten 
Einen tieferen Grund für seine Unzulänglichkeitsgefühle deckt eine 
Erinnerung aus dieser Zeit auf: Die Mitschüler messen die Länge ihres 
Penis mit dem Lineal, er wagt aber nicht mitzumachen, aus Angst, sein 
Glied könne zu klein sein. In seiner damaligen gedrückten Lage bringt 
ihm der öftere Ferienaufenthalt bei Freunden in einem kleinen Nachbarort B 
eine Erleichterung Im Gegensatz zu seinen Eltern legen diese Leute ihren 
Kindern kaum nennenswerte Schwierigkeiten in den Weg. Der Patrent ver¬ 
weilt noch heute mit Vorliebe bei diesen Erinnerungen, mit denen er bezeich¬ 
nenderweise den Einfall verknüpft: „In E. ist alles erlaubt.“ Erst nach 
längerer analytischer Arbeit wurde ihm bewußt, wogegen sich dies als Spitze 
gerichtet hat, und daß der Nachsatz lauten sollte: „Bei mir zu Hause 
ist alles verboten.“ Es ist bezeichnend für ihn, daß er schon in jungen 
Jahren die völlige Lahmlegung seines eigenen Willens als berechtigte 
Maßregel seiner Umwelt anerkannt hat, daß sein heutiges Lebensaxiom: 
„Man kann das von mir verlangen“, schon so früh fixiert gewesen ist. 
Wenn er dagegen keinen Widerspruch erhebt, so verrät er nur abermals, 
wie diese Unterwürfigkeit seinen passiv-masochistischen Tendenzen entgegen¬ 
gekommen ist. 

Die Pubertätsperiode, so wichtig auch ihre Einflüsse gewesen sind, konnte 
keine grundlegenden Veränderungen herbeiführen. Eigentlich ist hier nur 
logisch fortgesetzt und besiegelt worden, was in der ersten Sexualperiode 
der Ödipusphase vorbereitet worden war. Die einmal begonnene Entwicklung 
konnte nicht mehr aufgehalten werden. In dieser Zeit beginnt die bewußte 
Onanie, die von Anfang an mit manifesten homosexuellen Betätigungen 
verknüpft gewesen ist. Der Patient ist dazu, wie kaum erwähnt zu werden 
braucht, von seinen Mitschülern und Kameraden verführt worden, unter 
denen ein schon seit dem siebenten Jahre vertrauier Freund E. eine große 
Rolle spielt. In dem Freundschaftsverhältnis ist E. seit jeher der aktive 
und tyrannische Partner gewesen; er ist stolz auf seinen gioßen Penis und 
setzt den seines Freundes zu dessen großem Ärger und Scham mit verächt¬ 
lichen Ausdrücken herab. Es kommt zu häufigen homosexuellen Handlungen, 
wobei unser Patient sich immer passiv verhält, auch immer unten liegt. 
Meistens handelt es sich um mutuelle Onanie, verschiedene Male versucht 
der Freund aber auch einen coitus in anurn. Der Patient gibt selbst zu, 
daß es ihm angenehm gewesen ist, von E. zwangsweise masturbiert zu 
werden, zumal wenn dieser die bewußten gestrickten Strümpfe anhatte. In 
ähnlicher Weise ist er auch von einer Reihe anderer Mitschüler angegriffen 
und teils zwangsweise masturbiert, teils direkt homosexuell vergewaltigt 
worden. 


J 





























































— fcntwiddungsgesdiichte eines Falles von sozialer Angst 111 

Wir können deutlich sehen, wie sich in solchen Situationen die Geschichte 
frühen Kindheit gleichsam wiederholt, wenn auch modifiziert und 
auf einem anderen Niveau. Damals gehen die Vergewaltigungen haupt- 
ächlich von Frauen aus, heute vom gleichen Geschlecht. Damals bewirkt 
das aggressive Vorgehen der Umwelt eine anale, masochistische Einstellung. 
Diese finden wir in der Pubertät wieder; sie ist ja für die charakteristische 
Gestaltung dieser Periode verantwortlich. Andererseits tragen wiederum die 
Pubertätserlebnisse dazu bei, die angebahnte Einstellung zu verstärken und 
eine weitere Brechung der Männlichkeit herbeizuführen. Dazu kommt noch, 
daß er in stärkerem Maße als früher unter den Hänseleien von Mitschülern 
zu leiden hat, so daß er sich bald als der Prügelknabe der Klasse vorkommt 
und den größten Teil seiner Schulgenossen als Feinde betrachtet. Diese 
Einstellung stammt ebenfalls aus der Kindheit, und wir sehen, daß er sie 
restlos auch auf sein heutiges Leben und auf die Beziehungen zur Mehr¬ 
zahl seiner Mitmenschen übertragen hat. Weiterhin ist es besonders wichtig, 
daß die Pubertätserlebnisse ganz dazu angetan sind, die seit seiner frühen 
Kindheit immer wieder gemachte Erfahrung, daß Gehorsam gegen die 
Außenwelt Lust bringen kann, im vollsten Maße zu bestätigen. Dadurch, 
daß er sich den Vergewaltigungen seiner Kameraden fügt, erzielt er die 
ersehnte Triebbefriedigung, und zwar nicht nur in der Phantasie, sondern ganz 
real. Eine geheime Bedeutung seines Lebensgrundsatzes: „Man kann das von 
mir verlangen“, wird so völlig klar. Er bringt damit seine unbewußte 
libidinöse Sehnsucht nach Vergewaltigung zum Ausdruck Sein Wunsch, 
die Befriedigung seiner Triebe, die der Angstvolle nicht aktiv anzustreben 
wagt, möge ihm durch Zwang zuteil werden, kommt wiederum am deut¬ 
lichsten in einem längeren Tagtraum zum Ausdruck: Räuber emführen ihn 
und mißbrauchen ihn zwangsweise, sie zu masturbieren . Sie Locken auch 
Mädchen aus gutem Hause in ihre Burg, wo man sie erst freundlich emp¬ 
fängt und in ein Bad führt. Während sie sich aber dort befinden, nimmt 
man ihnen die Kleider fort und eröffnet ihnen zynisch, daß sie sich ganz in 
der Gewalt der Räuber befänden und sich ihnen zu fügen hätten . Die Mädchen 
müssen sich dann belasten und verprügeln lassen , sich schließlich auch zum 
Koitus her geben, während man ihn (den Patienten) zwingt , sich teils als 
Zuschauer, teils aktiv zu beteiligen. —Dieser Tagtraum zeigt abermals, wie die 
Pubertät die Gedanken und Wünsche der Nach-Ödipuszeit wieder aufnimmt, 
denn wir haben es hier eigentlich nur mit einer Erneuerung der zuvor be¬ 
richteten Kindeiphantasien auf einem der Pubertätszeit angepaßten Niveau zu 
tun. Die Phantasie offenbart ferner die passiv-masochistische Stufe des Trieb¬ 
lebens und deckt den Wunsch nach Triebbefriedigung ohne eigene Verant¬ 
wortlichkeit, der ihn zur Erotisierung der Strafe veranlaßt, aufs klarste auf. 










Jakob Hoffmann 


112 


Die weiteren Lebensschicksale des Patienten sind bald erzählt. In der 
Prima muß er seine Schulzeit für längere Zeit unterbrechen, weil er zur 
Kriegsausbildung eingezogen wird. Dtr militärische Drill trägt dazu bei, 
seine passive Einstellung zu verstärken. Er leidet zwar unter der harten 
Disziplin, fühlt sich aber andererseits ganz wohl, denn hier ist ja das 
Prinzip, daß man alles von ihm verlangen kann, restlos erfüllt. — Mit neun¬ 
zehn Jahren, nach dem Abitur, tritt nun die Frage der Berufswahl an ihn 
heran. Der Wunsch der Mutter ist, er solle Lehrer werden. Hier greift 
aber der Vater ein. der dem Sohn völlig freie Wahl gelassen wissen will. 
Es ist vielleicht das erstemal in seinem Leben, und natürlich kann er 
damit nicht viel anfangen. Schließlich entscheidet er sich für den Architekten¬ 
beruf, indem er sich dabei von alten Kinderneigungen und Phantasien 
leiten läßt. Er hat schon immer davon geträumt, in seiner Heimatstadt 
prächtige Bauten aufzuführen und sich damit Ruhm und die Bewunderung 
seiner Landsleute zu erwerben. Man durchschaut leicht, daß die Heimat¬ 
stadt ein Mutterersatz ist. Was er immer so schmerzlich vermißt hat, Liebe 
und Anerkennung, möchte er so erzwingen. — Was geschieht? Der Patient 
verläßt zum erstenmal für längere Zeit die Heimat und siedelt nach einer 
Universitätsstadt über, wo er nun endlich die Freiheit in vollen Zügen 
hätte genießen können. Aber gerade das kann er nicht. Statt dessen erfaßt 
ihn ein heftiges Heimweh. Er sehnt sich nach dem Elternhaus und nach 
dessen ihm zur angenehmen Gewohnheit gewordenen Ketten. Zu den 
Kommilitonen und seiner sonstigen Umgebung findet er kein richtiges 
Verhältnis, Ebensowenig vermag er Beziehungen zum andern Geschlecht 
anzuknüpfen. Einige wenige Versuche mit Mädchen seines Standes, wobei 
die Frau stets die aktive, verführende Rolle spielt, verlaufen im Sande. 
Mit einem Dienstmädchen komrm es einmal zu einem mißglückten Koitus. 
Schon damals kann er seine sexuellen Bedürfnisse nur durch häufige 
Onanie und Verkehr mit Prostituierten, bei denen er gut potent ist, 
befriedigen. Er entspricht hierin dem Befund von F. B o e h m, 1 „wonach 
homosexuelle Neigungen und Polygamie Zusammengehen, weil der homo¬ 
sexuelle Mann mit Hilfe einer polygamen Frau mit einem anderen Manne 
verkehrt, letzten Endes mit Hilfe der Mutter mit dem Vater“. Zweimal 
wechselt er noch den Ort seines Studiums, aber die Angst vor dem Zeichen¬ 
saal und anderen Gelegenheiten, bei denen er sich beobachtet glaubt, ist 
schon fast von Anfang an, wenngleich in geringerem Maße, vorhanden 
gewesen, bis die Entwicklung den verhängnisvollen Lauf nimmt, den wir 
zuvor geschildert haben. 


1) B o ehm, Beiträge zur Psychologie der Homosexualität. IZfPsA , VI, 1920, S. 3ig. 



























































Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 


113 


Verweilen wir noch etwas bei seiner Angst vor dem Zeichensaal, die 
die stärkste Hemmung seines Berufslebens bildet. Wir verstehen jetzt, daß 
Zeichnen für ihn zunächst keine harmlose Verrichtung ist. Zeichnen 
ist Schmieren. Es gemahnt ihn zu stark an die alten unsublimieiten 
Äußerungen seiner Analerotik. Es ist daher mit Verboten belegt, und die 
Angst ist zum Teil die alte Kinderangst, die eine rücksichtslose Reinlich¬ 
keitserziehung bei ihm besonders stark ausgeprägt hatte. In dem früher 
erwähnten Traum wird die Zeichensaalsituation auch geradezu mit seiner 
Lage als kleines Kind verglichen, als er sein Bettchen beschmutzte. Der 
Zufall muß es noch fügen, daß er ganz im Anfang seines Studiums vor 
einer seiner Zeichnungen zwei ihm unbekannte Studenten sieht, die diese 
als ungenau und schmierig kritisieren. Auch heute noch ist die Scheu vor 
unsauberem Zeichnen mit eines der Motive, die ihn den Zeichensaal 
meiden lassen. Der Patient behauptet, er verwische die Zeichnungen, weil 
er zumeist feuchte Hände habe. Die feuchten Hände führt er selbst auf 
seine häufige Onanie zurück, und damit kommen wir zu dem zweiten 
Motiv der Zeichensaalangst. Zeichnen bedeutet ihm im Unbewußten nicht 
nur Kotschmieren, sondern auch Onanieren. Die verknüpfende Idee ist für ihn, 
daß beides verunreinigt: Kotschmieren ist eine Beschmutzung, Onanieren 
eine Selbstbefleckung. Wenn also der Patient immer wieder klagt: „Im 
Zeichensaal kommt meine Minderwertigkeit heraus“, so meint er eigentlich, 
daß jene beiden verpönten Beschäftigungen herauskommen, und die Angst 
gilt ihrer Bestrafung. Das bezeugen auch seine Einfälle und Träume, in 
denen stets von neuem der Gedanke zur Darstellung gelangt: „Dort — 
im Zeichensaal — beißen sie mich , dort fallen sie über mich her. u Nach 
allem hat der Patient also nicht so unrecht, wenn er der Onanie eine 
große Schuld an der Verkümmerung seines Lebens zuschreibt. Wenn er 
aber seine Furcht in die Worte kleidet: „Die andern werden über mich 
herfallen . so veriät er damit einen weiteren wichtigen Grund seiner 
Scheu vor dem Zeichensaal, nämlich die Angst vor homosexueller Verge¬ 
waltigung, die er im tiefsten Grunde, wie wir so häufig gesehen haben, 
doch gerade begehrt. Noch heute haben viele Träume bald seine Angst 
vor homosexueller Befriedigung zum Inhalt, bald sein Verlangen danach. 
Seine ambivalente Einstellung kommt auch in dem Wunsche zum Aus¬ 
druck, man solle ihn zwingen, nach dem Zeichensaal zu gehen Die 
Phantasie, von Soldaten dahin abgeführt zu werden, hat. abgesehen von 
der Absurdität, nichts Unsympathisches für ihn. „Dann sähen die andern 
dort, daß er nicht freiwillig da wäre, und er trüge keine Verantwortung.“ 
Wir erkennen wieder das Schema der kindlichen Räuberphantasien. — 
Schließlich sei noch ein sekundäres Motiv erwähnt, das eine große Rolle 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 8 







Jakob Hoffmann 


114 


spielen dürfte. Durch das Meiden des Zeichensaales rächt er sich an seinen 
Eltern, weil er damit ihre auf ihn gesetzten Hoffnungen scheitern läßt. 
Er kann so mit dieser Trotzhandlung einem Teil seiner gegen die Eltern 
gerichteten feindseligen Gefühle Genüge tun, zumal der Aggression gegen 
seinen Vater, den er im Grunde immer mehr gefürchtet hat als die Mutter. 
Die Befriedigung seines Rachebedürfnisses wird ihm freilich wieder nur 
dadurch ermöglicht, daß sie eine Selbstbestrafung einschließt. 


III) Folgerungen aus den Befunden 

Kehren wir zu unserem Ausgangspunkte zurück und überblicken wir, 
was die Analyse zur Aufklärung unseres Falles beitragen konnte. Wir haben 
drei Hauptprobleme herausgestellt, von denen das erste sich mit der Frage 
beschäftigt, warum unser Patient so zahlreichen und ungewöhnlich heftigen 
Ängsten unterworfen ist. Hier müssen wir zuerst die konstitutionelle Ver¬ 
anlagung berücksichtigen, die wir aber, wie häufig, nur als unbekannte 
Größe in Rechnung stellen können. Vielleicht sind in der Erbanlage pri¬ 
märe Momente vorhanden gewesen, die zu einer besonders ängstlichen 
Einstellung disponierten, und vielleicht mögen die erschwerenden Umstände 
bei der Geburt zu einer solchen Disposition beigetragen und etwas wie 
einen „emotionellen Infantilismus“ verursacht haben, von dem Ferenczi 
spricht. 1 Wir wissen es nicht. Eine eigentliche Aufklärung können wir 
nur aus den Lebensschicksalen des Patienten gewinnen. Auch hier finden 
wir keine schweren traumatischen Erlebnisse. Aber bei dem diffusen 
Charakter der Neurose würden wir auch eher eine ähnlich diffuse Ätiologie 
erwarten, und dafür ist immerhin erhebliches Material vorhanden. Wir 
haben die besonders strenge und lieblose Erziehung verfolgen können, die 
fortgesetzten Einschüchterungen und auch körperlichen Züchtigungen. Von 
allerfrühester Kindheit an hat der Knabe immer wieder die Erfahrung 
machen müssen, daß jeder Versuch eigenen triebhaften Wollens sich an 
einer ehernen Mauer bricht und unnachsichtig bestraft wird. Die ständige 
Akkumulierung solcher Erfahrungen konnte nicht umhin, eine große 
Ängstlichkeit zu verursachen. Man mag hier fragen: Muß das die Folge 
sein? Ist es nicht denkbar, daß der stete Druck Gegendruck erzeugt und 
ein besonders gestählter Charakter geschaffen wird? Sicherlich ließen sich 
viele Beispiele bringen, wo dies scheinbar der Fall gewesen ist. Jedoch 
wird in solchen Fällen der äußere Druck erst in einer späteren Lebens- 

1) Ferenczi, Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb. lZfPsA, XV, 1929» 
S. 149 ff. 







































































Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 


H5 


eriode begonnen haben, während bei unserem Patienten alles darauf hin¬ 
deutet daß der Zwang, man möchte sagen, schon vom Tage der Geburt 
an eingesetzt hat. Das kleine Kind ist aber viel zu schwach und hilflos, 
um sich zu wehren. Es stehen ihm fast keine Mittel zum Kampfe zur 
Verfügung, und es ist darum auch nur wenig auf Widerstand eingestellt. 
Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich der Umgebung anzupassen, 
da es sie sich doch nicht gefügig machen kann. In unserem Falle, wo 
die Umwelt von ihrer Überlegenheit von Anfang an rücksichtslosen 
Gebrauch gemacht hat, hat sich daher nur ein schwaches Ich entwickeln 
können, das jeder Situation, die irgendwie gefährlich werden könnte, mit 
hoher Angstbereitschaft begegnet. Dürfen wir so annehmen, daß die große 
Ängstlichkeit des Patienten eine Folge der frühkindlichen Behandlung 
gewesen ist, so haben wir andererseits gesehen, daß die Ängste der Gegen¬ 
wart zum größten Teil nur die Ablösung und folgerichtige Entwicklung 
seiner Kinderängste sind. 

Wie ist nun die eigentümliche Einstellung des Patienten der Außenwelt 
gegenüber zu erklären? Wie ist es gekommen, daß er für sein Verhalten 
das Urteil und die Vorschriften seiner Umgebung zur Richtschnur nimmt, 
daß er eigene Maßstäbe nicht kennt? Auch hierfür werden die Erlebnisse 
der ersten Jahre verantwortlich zu machen sein. Bei der unnachsichtigen 
Behandlung des Patienten durch seine Mutter ist das Ungewöhnliche nicht 
so sehr die große Härte, als das Widerspruchsvolle und Inkon¬ 
sequente im Verhalten der Frau, das zum großen Teil in ihrer neu¬ 
rotischen Einstellung seine Erklärung findet. Wir möchte gerade auf dieses 
Moment besonderen Nachdruck legen und glauben, daß es in hohem Maße 
die pathologische Entwicklung beeinflußt hat, weil es in folgenschwerer 
Weise auf die Charakterentwicklung einwirken mußte. Für diese ist ja die 
Ödipusphase ausschlaggebend; denn die Art und Weise, wie man deren 
Konflikte erledigt, macht sich bei der Gestaltung des Über-Ichs entscheidend 
geltend. Bekanntlich ist ein wichtiges Motiv zur Bildung eines Über-Ichs 
die Notwendigkeit, die Ödipussituation zu bewältigen. Das Ich, das um 
diese Zeit noch zu schwach ist, um mit der Realität fertig zu werden, 
stärkt sich durch die Schaffung einer H-ilfsinstanz, indem es das Haupt¬ 
hindernis für seine Ödipuswünsche, in der Regel die Eltern, als Über-Ich 
in sich aufrichtet. Daraus erwachsen dem Ich zunächst große Vorteile. Es 
hat jetzt eine innere Aufsicht geschaffen, die es unausgesetzt beobachtet 
und im Sinne der Anforderungen der Außenwelt zu leiten versucht. Sofern 
sich das Ich der Stimme seines Über-Ichs unterwirft, wird so Konflikten 
mit der Außenwelt vorgebeugt und die Auseinandersetzung mit der Realität 
bedeutend erleichtert. „Ihr braucht mich nicht mehr zu strafen“, kann 

8* 


L 








Jakob Hoffmann 


116 


das Kind sagen, „ich tue es schon von selber.“ 1 Überlegen wir, wie sich 
diese Vorgänge bei unserem Patienten abgespielt haben mögen. Wir haben 
gezeigt, eine wie heftige Kastrationsangst sich bei ihm unter dem Druck 
der Erziehung entwickelt, daß er beide Eltern als Kastratoren fürchtet 
und schon früh von der Vorstellung beherrscht wird, die ganze Umwelt 
sei ihm feindlich gesinnt. „Aber nicht nur feindlich ist die Umwelt“, 
muß der Knabe denken, „es gibt auch kaum ein Mittel, das Übelwollen 
von mir abzuwenden, denn wie ich mich auch verhalte, immer werde ich 
bestraft. Auch wenn ich das befolge, was die Mutter selbst angeordnet hat, 
nie bin ich sicher, daß mir nicht dasselbe später als Unrecht vorgeworfen 
wird“. Der Patient verweilt in seinen Einfällen sehr häufig bei diesem 
Gedanken und betont, wie gerade die neurotische Inkonsequenz der Mutter 
ihn gepeinigt habe und ihm so vollkommen unfaßbar erschienen ist. Wie 
vermag der Knabe dieser Situation zu begegnen ? Trotz oder offene Empö¬ 
rung hat, wie wir gesehen haben, bei der Stärke der Kastrationsangst 
nicht in Frage kommen können. Für ihn bleibt unter den geschilderten 
Umständen nur ein Ausweg, um wenigstens einigermaßen vor Verfol¬ 
gungen geschützt zu sein. Er muß auf jede eigene Willensäußerung und 
Selbständigkeit verzichten und mit peinlicher Sorge darauf bedacht sein, 
sich in jedem einzelnen Augenblick nur so zu verhalten, wie es seine 
Umgebung gerade von ihm verlangt. Dies hat sich der Patient, wie ihm 
heute selbst bewußt wird, schon sehr früh auch wirklich zur Lebensregel 
gemacht und an ihr seither ängstlich festgehalten. Sie ist der Schlüssel 
zu seinem Lebenslauf. Sie hat ihm auch eine gewisse Identifizierung im 
Über-Ich mit der Mutter ermöglicht, deren ständige Mahnungen: „Tch 
habe dir doch schon immer gesagt 1 und „Ich kann von dir verlangen“ 
auf diese Weise verinnerlicht worden sind. Zur Bildung eines Über-Ichs 
mit eigenen Ichidealen oder irgendwie eindeutiger Zielrichtung hat es 
nicht kommen können. Dadurch wäre der Konflikt mit der Außenwelt ver¬ 
schärft statt gemildert worden. Zudem ist dem Knaben eine entsprechende 
Identifizierungsmöglichkeit versperrt gewesen, denn die ganze Entwicklung 
drängte hauptsächlich nach Identifizierung mit der widerspruchsvollen 
Mutter, und dagegen hat die natürlich auch versuchte und zum Teil voll¬ 
zogene Vateridentifizierung nicht aufkommen können. Unter diesen Um¬ 
ständen wird die Forderung: „Tue und lasse, was man dir jeweils 
befiehlt das Postulat seines Über-Ichs und nimmt dann den uns bekannten 
Wortlaut an: „Man kann von dir verlangen, daß du dieses oder jenes 
tust oder nicht tust.“ 


1) Vergl. Radö, Das Problem der Melancholie. iZfPsA , XIII, 1927, S. 451. 


















































Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 117 

Freilich hätte die äußere Notwendigkeit allein nicht ausgereicht, um 
eine derartige Haltung auf die Dauer zu fixieren, wenn der Patient nicht 
die Möglichkeit gefunden hätte, mit dieser Einstellung gleichzeitig seinem 
Triebleben Genüge zu tun, wenn sie ihm nicht immer wieder Erfüllungen 
seiner masochistischen Neigungen ermöglicht hätte. Man muß dies aber 
auch umgekehrt formulieren. Durch die schwierige äußere Konstellation 
wird der Patient dazu gedrängt, sich eine den Verhältnissen adäquate 
Trieb befriedigung auszusuchen. Es bleibt ihm zu diesem Zweck gar nichts 
anderes übrig als die Erotisiemng der Strafe und damit die Sexualisierung 
der ganzen Über-Ich-Funktion. „Ich muß der Umwelt gehorchen“, sagt 
sich der Patient, „ich kann ihren Strafen nicht entgehen. Nun gut, dann 
muß dies auch die Art meiner Triebbefriedigung werden.“ 

Sein Masochismus braucht also nicht als primär vorausgesetzt zu werden. 
Vielmehr finden wir, wie so oft, auch hier, daß zunächst äußere Umstände 
eine besondere Haltung erzwingen und dadurch gewissen Trieben des 
Menschen Vorschub leisten, daß diese aber dann die Herrschaft an sich 
reißen und die weitere Entwicklung in ihre Bahnen lenken. Läge hier 
wirklich ein Fall von ursprünglich passiv-masochistischer Veranlagung vor. 
so wären die immer wieder auftretenden Ängste des Patienten schwer 
verständlich. Diese ergeben sich im tiefsten Grunde gerade aus dem Kon¬ 
flikt zwischen seiner Männlichkeit und seinen femininen Tendenzen. Es 
sind die typischen Ängste vor der Kastration, die ihm droht, ob er nun 
seinen maskulinen oder seinen femininen Strebungen nachgeben will. Ein 
ursprünglich vorzugsweise feminin eingestellter Mensch hätte sich trotz 
dieser Gefahr irgendwie mit der Realität abgefunden und wäre wahrschein¬ 
lich manifest passiv-homosexuell geworden. Das ist unser Patient aber 
nicht, trotz aller unbewußten homosexuellen Neigungen. Er hat sich sogar 
ein Stückchen, wenn auch stark verkümmerter, männlicher Genitalität ge¬ 
rettet, vielleicht weil er, worauf manches hindeutet, die Frühonanie nie¬ 
mals ganz aufgegeben hat. Auf den meisten andern Gebieten, besonders 
auf dem sozialen, hat er freilich nachgegeben und sich* fast völlig auf eine 
passive Rolle zurückgezogen. — Wir haben es hier auch wohl kaum, trotz 
mancher Ähnlichkeiten, mit einem moralischen Masochisten zu tun, denn 
dieser sucht das Leiden auf, während der Patient sich davon fernhält. Ein 
moralischer Masochist würde z. B. wahrscheinlich in den Zeichensaal hinein¬ 
gehen, dort große psychische Qualen erdulden und diese nach seiner Art 
genießen. Der moralische Masochist, sagt Freud, „hält immer seine Wange 
hin, wo er Aussicht hat. einen Schlag zu bekommen .“ 1 Man denke etwa 


1) Freud, Das ökonomische Problem des Masochismus, Ges. Sehr., Bd. V, S. 381. 


L 












SSBBn 




118 Jakob Hoffmann 

an Dostojewskijsche Charaktere. Der Patient tut etwas Derartiges nie. Solche 
Situationen meidet er ängstlich. 

Von einem werienden Standpunkt aus könnte man versucht sein, einen 
Menschen wie unseren Patienten, der sein Verhalten durchgängig nach den 
Anforderungen der Umwelt orientieren will, als übersozial einzuschätzen, 
sieht aber bald, daß wir es hier mit einer Karikatur davon zu tun haben. 
Unser Patient tut ja praktisch überhaupt nichts, sondern sein ganzes Ge¬ 
baren zielt darauf ab, sich von der Außenwelt abzuschließen und jeder 
Konkurrenz und Leistung zu entziehen. Damit sind wir bei unserer dritten 
Fra^e angelangt. Warum weicht der Patient der Umwelt aus? Warum 
leistet er ihr nicht vielmehr wirklich in jedem einzelnen Falle Gehorsam? 
Er würde damit restlos dem Geheiß seines Über-Ichs folgen und relativ 
angstfrei bleiben. Nun, er kann dies nicht, und zwar aus verschiedenen 
Gründen. Er kann nicht den Zeichensaal betreten, zum großen Teil aus 
Triebabwehr. Der Konkurrenzkampf mit Männern, der zum normalen Berufs¬ 
leben nötig ist, sowie die berufliche Tätigkeit selbst ist bei ihm, wie wir 
gesehen haben, so sexualisiert, daß erabwehren muß. Andererseits kann er 
nicht von der Onanie und dem Prostituiertenverkehr lassen, weil sich seine 
Sexualansprüche nicht vollkommen unterdrücken lassen und sich oft genug 
durchsetzen. Im Gegensatz zum Ich ist das Es des Patienten nicht schwäch¬ 
lich. Seine sexuellen Bedürfnisse erscheinen ihm selber sogar als übermäßig. 
Er klagt darüber in der Analyse fast täglich und spricht nie anders als von 
seinen sexuellen „Exzessen“. Tatsächlich ist es nichts Seltenes, daß er an 
einem Tage zwei Prostituierte aufsucht und außerdem noch onaniert. Länger 
als drei Tage kann er überhaupt nicht enthaltsam sein. Darin braucht man 
freilich dem Urteil des Patienten nicht zu folgen. Nicht wegen überstarker 
Sexualität kommt es zu den häufigen sexuellen Betätigungen, sondern weil 
er die ihm adäquate Form nicht gefunden hat und darum stets unbefriedigt 
bleibt. Er leidet, wie es Reich formuliert hat, an Herabsetzung der orga¬ 
stischen Potenz. 1 Nicht so manifest sind seine sadistischen Strebungen, bei 
denen die Kastrationsangst eine besonders intensive Verdrängungsarbeit 
geleistet hat. Aber wir haben zeigen können, mit welcher Stärke sich sein 
Sadismus indirekt in seiner Haltung sowohl seinen Eltern wie der sonstigen 
Umgebung gegenüber Geltung verschafft. In den letzten Monaten haben 
diese Strebungen auch häufig direkt durchzubrechen versucht. Er verspürt 
dann den Drang, mit allen Menschen, mit denen er in Berührung kommt, 
Händel anzufangen. Bei dieser Triebanlage hat es nicht ausbleiben können, 
daß das Leben unseres Patienten von beständigen Konflikten zwischen 


1) Reich, Die Funktion des Orgasmus, S. 51. 


































































m Ent Wicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst_119 

leinen Es- Forderungen und seinem Streben, den Wünschen der Umwelt 
erecht zu werden, erfüllt gewesen ist. Das Es erzwingt allen Verboten 
fum Trotz häufig die Möglichkeit, sich auszuleben. Das schwache Ich aber, 
das von dauernder Kastrationsangst geschreckt ist, kann den Knoten nicht 
zerhauen, sondern weicht dem Kampfe aus und schützt sich vor der 
gefürchteten Rache der Umwelt, indem es jeder Begegnung mit ihr sorg¬ 
fältig aus dem Wege geht. Demnach wird auch das Verhalten des Aus- 
wei chens und Meide ns des Patienten aus der Ökonomie seiner 
seelischen Struktur verständlich, aus dem Kräftespiel zwischen einer starken 
Außenwelt, einem schwachen Ich, einem relativ starken Es und einem 
eigenartigen Über-Ich. 

Auf die Entwicklung des Patienten hat anscheinend noch ein Moment 
erschwerend eingewirkt, auf das schon anfangs hingewiesen wurde, die 
Tatsache, daß er das einzige Kind gewesen ist. Ist dieser Umstand schon 
an und für sich bedeutungsvoll, so mußte er in unserem Falle zusammen 
mit der übrigen außergewöhnlichen Konstellation tiefgreifende Folgen 
haben. Wir müssen zunächst daran denken, daß der äußere Druck, der 
ror allem von der Mutter ausgegangen ist, besonders schwer lasten mußte, 
da er als Ziel immer wieder nur unseren Patienten gehabt hat und sich 
nicht auf mehrere Geschwister verteilen konnte. Dem gleichen Umstand 
ist es auch nicht wenig zuzuschreiben, daß dieser Druck so lange 
angedauert hat, zum Teil heute noch fortbesteht, und daß die damit 
verbundene Einschüchterung einen so hohen Grad erreicht hat. 

Weiterhin hat diese Sonderstellung die soziale Einstellung des Patienten 
sicherlich wesentlich beeinflußt. Die Vorstufe für das soziale Zusammen¬ 
leben ist ja, wie Freud gezeigt hat, 1 die Kinderstube, und es ist 
einleuchtend, daß bei einem einzigen Kinde ganz andere, und zwar 
im allgemeinen schwierigere Bedingungen für seine spätere soziale Ent¬ 
wicklung gegeben sind als bei einer Anzahl von Geschwistern. Diese 
Schwierigkeiten werden unter günstigen Verhältnissen oft ausgeglichen, 
hier aber mußten sie, wiederum als Folge der frühzeitigen Einschüchterung, 
besonders groß werden. In seinem Bestreben, sich der Außenwelt anzu¬ 
passen, muß unser Patient in früher Kindheit Verhaltungsweisen erwerben, 
wie sie seiner schwierigen Situation als einzigem Kinde, dessen Bewegungs¬ 
freiheit ungemein beeinträchtigt wird, angemessen sind. Diese Mechanismen 
kann er dann nicht umhin im späteren sozialen Leben zwangsläufig zu 
wiederholen, und es ist dann nicht verwunderlich, wenn sein Verhalten 
dazu führt, ihn in dieselbe Situation wieder hineinzutreiben, aus der diese 


1) Freud, Massenpsychologie und Ichanalyse, Ges. Sehr. Bd. VI, S. 5 20 / 3 21, 











Jakob Hoffmann 


120 


Mechanismen entsprungen sind, nämlich in die Situation des Einzelnen 
und Isolierten der von den anderen verfolgt wird. Das macht es wieder 
von einem neuen Gesichtspunkte aus verständlich, warum er seine Mit¬ 
schüler und später seine Kommilitonen als Feinde betrachiet. Offenbar 
ist dafür eine, wenn auch geringe, reale Berechtigung vorhanden, denn 
er muß ja selber zu dieser Feindseligkeit beitragen, weil ihm der Weg 
vorgezeichnet ist. Dazu kommt aber noch, daß das einzige Kind ohnedies 
eine solche Tendenz ins soziale Leben leicht mitbringen wird, weil es nur 
wenig Gelegenheit hat, vorher ein positives Gemeinschaftsgefühl zu erwerben. 
Dieses bildet sich nach Freud (a. a. O.) „zuerst in der mehrzähligen 
Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, und zwar als 
Reaktion auf den anfänglichen Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere 
aufnimmt“. Ein einziges Kind wird zu einer positiven sozialen Bindung 
häufig erst später und schwerer gelangen können, wird vielmehr dazu 
neigen, wenigstens anfänglich im Genossen derselben Gemeinschaft den 
verhaßten Rivalen zu erblicken, wie dies auch bei unserem Patienten 
in auffälliger Weise der Fall ist. 

Im allgemeinen ist bemerkenswert, daß es dem Patienten gelungen ist, 
einen großen Teil seiner Ängste ähnlich wie bei einer Phobie auf eine 
äußere Situation zu verschieben, deren Vermeidung ihm eine erhebliche 
Angstersparnis sichert. Vielleicht möchte man diesen Fall klinisch unter 
die Phobie einreihen, aber dazu steht die Zeichensaalangst doch nicht 
genug im Mittelpunkt der Krankheit. Der Patient vermeidet ja überhaupt 
jede Situation, wo er sich besonders beobachtet glaubt, und wo man 
an ihn Fragen stellen könnte. In seiner Tendenz, auszuweichen und 
sich dadurch immer mehr zu isolieren, hat er Ähnlichkeit mit vielen 
Zwangsneurotikern, wie überhaupt sein Charakter eine lange Reihe zwangs¬ 
neurotischer Züge aufweist, so z B : Grübelsucht; pedantische Umständlich¬ 
keit und Weitschweifigkeit in seinen Einfällen; tägliche zwangsartige 
körperliche Übungen, mit denen er Phantasien magischen Inhalts verbindet, 
und ähnliches mehr. Sehr stark wird man an paranoides Verhalten erinnert, 
worauf noch zurückzukommen sein wird. Streng genommen paßt der 
Fall in keine der üblichen Gruppierungen. Phänomenologisch ist er am 
meisten durch die übermäßige Angst vor der Außenwelt charakterisiert, 
durch das, was Freud schon in „Zur Einführung des Narzißmus “ 1 und 
zuletzt besonders in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur “ 2 als 
soziale Angst bezeichnet hat, die man am reinsten beim kleinen 


1) Freud, Ges. Sehr., Bd. VI, S. 186. 

2) Int. PsA. Verlag, 1929, S. 102. 





























































Entwiddungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 


121 


Kinde beobachten kann. Für das Kind ist anfänglich dasjenige „das Böse“, 
wofür es Liebesverlust und Bestrafung erwarten muß. Diese Gefahr droht 
ihm von der übermächtigen Außenwelt, wird aber erst wirklich, wenn 
die böse Handlung oder die Absicht von der Autorität entdeckt ist. Solange 
dies noch nicht der Fall ist, besteht Angst vor der Entdeckung und den 
daraus entstehenden Folgen, was als Schuldgefühl empfunden wird. Wir 
finden die Angst vor der äußeren Auiorität und der Entdeckung mehr 
oder weniger bei jedem Menschen. Im Seelenleben unseres Patienten spielt 
sie aber eine überragende Rolle, und darum möchte ich seine Neurose 
als einen Fall von sozialer Angst kennzeichnen. 


IV) Theoretische Bemerkungen 

Die soziale Angst hängt also irgendwie mit der Über-Ich-Bildung 
zusammen, und man würde zunächst an eine Entwicklungsstörung denken. 
Diese könnte dadurch erfolgt sein, daß der Kranke entweder auf einer 
Vorstufe stehengeblieben ist oder daß eine Rückentwicklung stattgefunden 
hat. In beiden Fällen wäre kein eigentliches Über-Ich vorhanden. Es 
macht nun keineswegs den Eindruck, als ob etwas Derartiges bei unserem 
Patienten vorläge, vielmehr hat er, wie oben ausgeführt, durchaus ein 
Über-Ich gebildet, und zwar ein sehr strenges. Freilich ist es kein 
harmonisches Über-Ich, das auf Grund einer völligen Identifizierung mit 
gewissen positiven und negativen Forderungen zustande gekommen wäre. 
Menschen mit einer solchen wirklich vollzogenen Identifizierung — mit 
einem, wie es Freud nennt, unpersönlichen Über-Ich — sind in ihrem 
Verhalten autonom. Ihr Tun und Lassen wird von ihrem eigenen 
Gesetz diktiert, wenn auch natürlich genetisch diese Gesetze aus der 
Umwelt stammen. Einen großen Gegensatz dazu bilden Menschen, für die 
zwar die Erfüllung von Anforderungen auch imperativ ist, die sich aber 
nicht damit identifiziert haben, sondern es nur aus Zwang tun, aus Furcht 
vor Strafe oder Liebesverlust. In beiden Fällen akzeptiert das Ich ein Gesetz, 
und es gibt eine innere Stimme, so daß man in beiden Fällen von der 
Existenz eines Über-Ichs sprechen kann Aber im ersten Falle spricht die 
innere Stimme: „Verhalte dich immer so, wie d u es für richtig hältst, und 
zwar, weil d u es so und nicht anders für richtig hältst.“ Dagegen heißt es im 
zweiten Falle: „Du mußt dich jeweils ganz so verhalten, wie es die U m- 
weit von dir verlangt, und zwar nur, weil sie es verlangt.“ Ist im ersten 
Falle das Über-Ich autonom, so kann man im zweiten von einem 










Jakob Hoffmann 


122 

heteronomen Über-Ich sprechen. Beide Typen kommen mit ihren 
Trieben in Konflikt und verhalten sich dann nicht überichgerecht; aber 
die Reaktionen sehen verschieden aus. Beim autonomen Über-Ich stellt 
sich ein heftiges, eigentlich nie zu beschwichtigendes Schuldgefühl ein, 
es sei denn durch schwere Bußen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Ver¬ 
schuldung der Umwelt bekannt wird oder nicht. Verfällt der Konflikt der 
Verdrängung, so entsteht ein unbewußtes Strafbedürfnis. Anders beim 
heteronomen Über-Ich. Auch hier wird sich ein Schuldgefühl einstellen, 
weil man sich in strafbarer Weise verhalten hat. Da sich aber das Ich 
mit der eigentlichen Forderung nicht identifiziert hat, wird das Schuld¬ 
gefühl von sekundärer Natur sein. Primär aber wird die Angst vor der 
Entdeckung und der dann von der Umwelt zu gewärtigenden Bestrafung 
werden. 

Unser Patient gehört im wesentlichen zum zweiten Typ, und da¬ 
rum kann ihm auch sein Ausweichen und Meiden sozialer Situationen 
einen Vorteil bringen. Wie bei einer Phobie, insbesondere bei einer kind¬ 
lichen Tierphobie vermag er durch einfache Ausschaltung aus der Wahr¬ 
nehmung den Gefahren zu entgehen, weil er diese in die Außenwelt ver¬ 
legen kann, ein Weg, der bei einem autonomen Über-Ich nicht offen steht. 
Zum Teil ist eben das heteronome Über-Ich doch infantil geblieben und 
wird wie bei unserem Patienten infantile Haltungen fixieren. Es ähnelt 
in gewisser Weise dem unfertigen Über-Ich des Kindes, von dem 
Anna Freud spricht. 1 Auch dieses ist in hohem Maße noch von der 
Außenwelt abhängig und verändert sich, wenn die Personen der Umwelt 
sich ändern. — Noch ein dritter Typ läßt sich denken, bei dem überhaupt 
kein Über-Ich vorhanden wäre. In einem solchen Falle würde sich das 
Individuum ganz triebhaft benehmen, etwa wie ein Säugling, und sich nur 
durch aktuelle äußere Gewalt in Schranken halten lassen. Von irgend¬ 
welchem Schuldgefühl könnte hier noch keine Rede sein. In allen drei 
Fällen handelt es sich um extreme Typen, wie sie in der Wirklichkeit 
nicht Vorkommen und auch kaum lebensfähig wären. Was wir finden, 
sind immer nur Mischungen, bei denen bald der eine, bald der andere 
Typ vorherrscht. 

Wir haben auf die Ähnlichkeit hingewiesen, die unser Fall mit einem 
paranoiden Wahn aufweist. Eine wirkliche Paranoia liegt allerdings keines¬ 
falls vor, da der Patient bei seinen Verfolgungsideen sich doch einiger¬ 
maßen innerhalb der Grenzen der Realität hält. Immerhin könnte man 


1) Anna Freud, Einführung’ in die Technik der Kinderanalyse, Int. Ps.-A. Ver¬ 
lag, S. 68/6 9 . 























































Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 123 

von gewißen paranoiden Ansätzen reden, und tatsächlich erweist unsere 
Analyse dafür einen entsprechenden Aufbau, kann uns aber über die 
Struktur dieser Krankheit noch ergänzende Aufschlüsse geben. Im Falle 
gchreber kommt Freud zu der uns heute geläufigen Feststellung: 1 

der paranoische Charakter liegt darin, daß zur Abwehr einer homo¬ 
sexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn von solcher 
Art reagiert wird.“ Bei der Paranoia des Mannes ist die Wunschphantasie, 
den andern Mann zu lieben, und dieser Wunsch verwandelt sich durch 
Abwehr und Projektion in die Folgerung: „Ich liebe ihn ja nicht — 
ich hasse ihn ja — weil er mich verfolgt.“ Die Abwehr homo¬ 
sexueller Strebungen haben wir bei unserm Patienten deutlich beobachten 
können; bildet sie doch ein Haupthindernis für das Betreten des Zeichen¬ 
saales, weil dort die homosexuelle Verfolgung lauert. Freilich ist diese 
Abwehr, wie wir gesehen haben, bei unserem Falle nicht das einzige 
Motiv, aber sicherlich ein wesentliches und eines, das unser theoretisches 
Interesse verdient. — Die aus dem Falle Schreber klinisch gewonnene Er¬ 
kenntnis, daß der Verfolgungswahn der Abwehr homosexueller Wunsch¬ 
regungen dienen soll, erfährt bei Freud in „Zur Einführung des 
Narzißmus“ 2 eine theoretische Erweiterung, indem hier der Beobachtungs- 
wahn, welcher in der Symptomatologie der paranoiden Erkrankungen so 
deutlich hervortritt, in Zusammenhang mit der zensorischen Instanz des 
Gewissens gebracht wird. Es heißt hier: „Die Institution des Gewissens 
war im Grunde eine Verkörperung zunächst der elterlichen Kritik, in 
weiterer Folge der Kritik der Ges eil schaft, ein Vorgang, wie er sich bei 
der Entstehung einer Verdrängungsneigung aus einem zuerst äußerlichen 
Verbot oder Hindernis wiederholt. Die Stimmen sowie die unbestimmt 
gelassene Menge werden nun beim Beobachtungswahn von der Krankheit 
zum Vorschein gebracht, damit die Entwicklungsgeschichte des Gewissens 
regressiv reproduziert.“ Hier wird also schon darauf hingewiesen, daß bei 
der Paranoia eine Beziehung zwischen den Verfolgern und dem Über-Ich 
vorhanden ist, die z. B. auch darin offenbar wird, daß die verfolgenden 
Stimmen häufig die Verfehlungen vorwerfen. Jedoch wird bei Freud 
nicht im einzelnen gezeigt, wie und warum eine solche Beziehung hergestellt 
wird. In unserem Falle hat nun die Analyse der Kindheit die allmähliche 
Verarbeitung der Über-Ich-Sphäre für den Zweck einer passiv-homosexuellen 
Befriedigung sowie die dazu treibenden Kräfte mit aller Deutlichkeit auf¬ 
weisen können. Wir haben gesehen, wie der Gedanke, bestraft zu werden, 


1) Freud, Ges. Sehr.. Bd. VIII, S. 4io und 414. 

2) Freud, Ges. Sehr., Bd. VI, S. 179/180. 













124 


Jakob Hoffmann: 


Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 



und damit der ganze Bereich des Über-Ichs unter dem Druck der äußeren 
Verhältnisse von früher Jugend an immer mehr sexualisiert wird, so daß 
schließlich die Idee: „die Männer werden über mich herfallen“ nicht nur 
Strafbedeutung für den Patienten hat. sondern auch gleichzeitig sein unbe¬ 
wußtes Sexualziel geworden ist, das in der Neurose abgewehrt wird. 



































































KASUISTISCHE BEITRÄGE 


Psychogene Potenzstörungen nach urologischen 

Operationen 

Aus der Psychiatrisch-neurologischen Klinik der Universität in Wien 
Vorstand Prof. Dr. Otto Pötzl 

Von 

Ladislaus F e s s 1 e r 

Wien 

Unter den mannigfaltigen Beschwerden, die nach Operationen zur Beob¬ 
achtung kommen, sind auch psychische Veränderungen beschrieben worden. 
Diese psychischen Veränderungen und ihre Beziehungen zu den chirurgischen 
Eingriffen sind schon wiederholt Gegenstand eingehender Untersuchungen 
gewesen. So haben Pilcz 1902 und Kleist 1916 über postoperative 
Psychosen sehr ausführlich berichtet. 

Auch über die Beziehungen von Verletzungen zu psychischen Erkrankungen 
liegen Untersuchungen vor; es sei nur an die Arbeiten von Ferenczi, 
Hartmann und Schilder erinnert. 

Potenzstörungen, die im Anschluß an Operationen auftreten, kommen relativ 
selten zur Beobachtung. Als Potenzstörung ist natürlich nicht bloß die 
Impotentia coeundi bezeichnet, sondern auch das Mißverhältnis zwischen 
Libido und Potenz, namentlich in der Art, daß trotz starker Libido Impotenz 
besteht. Für gewöhnlich hält ja das Wiedererwachen der Potenz und der 
Libido nach Operationen gleichen Schritt. Bei „sinnlichen Naturen“ mag es 
zuweilen Vorkommen, daß sich die Libido früher einstellt als die Potenz. 
In der überwiegenden Mehrzahl dieser Fälle wird das sexuelle Versagen auf 
die allgemeine Prostration zurückzuführen sein, und mit gebessertem Allgemein¬ 
befinden verschwinden meist diese Potenzstörungen. Eine genaue Grenze, 
wie weit in solchen Fällen das sexuelle Unvermögen psychisch mitbedingt 
ist, läßt sich kaum ziehen. 

Nach urologischen Operationen finden wir in dieser Beziehung andere 
Verhältnisse vor, weil es im Anschluß an diese Operationen wesentlich 
häufiger zu Potenzstörungen kommt als nach sonstigen. Geht man dieser merk¬ 
würdigen Tatsache nach, so findet man, daß sich die Potenzstörungen, die 
nach urologischen Operationen auftreten, leicht in zwei Gruppen teilen lassen. 







126 


Ladislaus Leisler 


Die erste Gruppe bilden jene Fälle, deren postoperative Impotenz organisch 
zu erklären ist, respektive bei welchen organische Faktoren (anatomische Ver¬ 
änderungen) für das Zustandekommen der Impotenz weitgehend mitverant¬ 
wortlich sind. Diese, also organisch bedingten Potenzstörungen scheiden aus 
unserer Betrachtung aus. 

Die zweite Gruppe bilden jene Fälle, in welchen sich keinerlei organische 
Erklärung für die Potenzstörung finden läßt. Nur von diesen soll im folgenden 
die Rede sein. 

Zunächst sei festgehalten, daß es im Anschluß an urologische Operationen 
resp. im Anschluß an Operationen am Urogenitalapparat, unvergleichlich 
häufiger zu psychisch bedingten Potenzstörungen kommt als nach anderen 
Operationen. Es entsteht somit die Frage, wodurch sich dieser Sachverhalt 
erklären läßt. 

Eine einfache Überlegung zeigt, daß mehrere Faktoren da sein müssen, die 
mit der postoperativen Entstehung der Impotenz in engster Beziehung stehen. 
Erstens einmal die Operation an sich, weil ja die Impotenz vor der Operation 
nicht bestanden hat. 

Wir wissen schon seit langem, daß die Psychoanalyse jede Operation als 
ein Erlebnis auffaßt, das zum Kastrationskomplex gehört. Der Kastrations¬ 
komplex umfaßt all die vielfältigen Phänomene, die sich aus der Angst vor 
der Kastration (Kastrationsangst) ergeben, und darüber hinaus auch jede Er¬ 
scheinung, die eine Gefährdung der körperlichen Integrität darstellt. Vom 
Wesen dieser Kastrationsangst führt Freud aus: „Wenn der Knabe den 
Vater als mächtigen Rivalen bei der Mutter empfindet, seiner aggressiven 
Neigungen gegen ihn und seiner sexuellen Absichten auf die Mutter inne 
wird, hat er ein Recht dazu, sich vor ihm zu fürchten, und die Angst vor 
seiner Strafe kann durch phylogenetische Verstärkung sich als Kastrations¬ 
angst äußern.“ 

Die Kastrationsangst ist also nach der Anschauung Freuds eine hereditär 
fixierte Beaktionsweise des Knaben auf seine inzestuösen Phantasien in der 
Ödipuszeit, in welcher er den Vater bei der Mutter als Rivalin bekämpft 
und deshalb des Vaters Strafe namentlich an jenem Organ (Penis) fürchtet, 
das für sein Rivaiitätsverhältnis von besonderer Bedeutung ist. Die Bedeutung 
des Kastrationskomplexes, seire Beziehungen zu körperlichen Eingriffen der 
verschiedensten Art und namentlich die Beziehungen des Kastrationskomplexes 
zu den Potenzstörungen sind eindeutig festgestellt und in der psychoanalytischen 
Literatur eingehend gewürdigt. So schreibt H. Hartmann in seinem Buche 
„Die Grundlagen der Psychoanalyse“: „Das Mitanklingen des Kastrations¬ 
komplexes bei schweren körperlichen Beschädigungen oder Verletzungen zeigt 
sich beim Erwachsenen sehr deutlich in der Psychologie postoperativer 
Psychosen. “ 

Sadger meint in seinem Buche „Die Lehre von den Geschlechts ver- 
irrungen“, daß vom Kastrationsstück des Ödipuskomplexes in jedem Menschen 
eine frei flottierende Angst bestehe, „die gleich dem Schatten des Achill nur 
darauf wartet, Blut zu trinken, um lebendig zu werden“. 

Aus zahlreichen Analysen ist es bekannt, daß in jedem Falle von Impotenz 
das Problem der Kastration eine überragende Rolle spielt. Sadger, ein 
Autor, der sich mit der Frage der Kastration sehr eingehend beschäftigt hat, 

































































Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen 


127 


rieht die Meinung aus, daß zum Zustandekommen der Impotenz unbedingt 
auch die Kastrationsangst gehöre. Er schreibt: „Diese (Kastrationsangst) ist 
fl nd bleibt das beste Mittel, den Mann von seinem Seelischen her unvermögend 
machen, und erweist sich auch praktisch als die stärkste Wurzel des 
ZU en Defektes.“ Derselbe Autor berichtet aus der Analyse eines seiner Fälle 
folgende wörtliche Angabe des Kranken: „Noch eines sei angeführt: Jede 
Operation mutet mich an wie ein schwerer Eingriff in den Organismus, der 
sich nie wieder so herstellen kann. Mindestens die benachbarten Organe 
zeigen immer eine gewisse Verkürzung. Es findet ja stets eine Zusammen- 
ziehuno- statt. Ich habe den Gedanken: Die Stelle kann nie wieder so her¬ 
gestellt werden wie früher. Auch das spricht dafür, daß ich in jeder Operation 
eine Kastration sehe.“ 

Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Es ist also durchaus keine 
bloße Vermutung, sondern eine gewonnene Erfahrung, daß Operationen als 
irgendwie zur Kastration gehörig empfunden werden. Die genaue Darlegung, 
warum das so ist, gehört nicht mehr zum eigentlichen Thema der vor¬ 
liegenden Untersuchung. 

So evident die hier angeführten Beziehungen der operativen Eingriffe zur 
Kastrationsangst und in weiterer Folge zu den Potenzstörungen auch sein 
mö ff en, sind sie eine ungenügende Begründung für unsere Beobachtung, daß 
Potenzstörungen nach urologischen Operationen häufiger auftreten. Wir sagten 
ja eingangs, daß Potenzstörungen nach Operationen relativ selten zur Beob¬ 
achtung kommen und dann meist hinreichend durch den herabgesetzten 
Gesamtzustand des Individuums erklärt sind. Es muß also von besonderer, 
sozusagen von spezifischer Bedeutung für das postoperative Auftreten der 
Impotenz sein, daß die Operation eine urologische war. 

Das heißt weiter ausgeführt, daß die urologische Operation mit irgend¬ 
welchen, ganz charakteristischen Manipulationen verbunden sein muß, die 
das gehäufte Auftreten solcher postoperativer Potenzstörungen erklärlich machen. 

Somit muß unsere Untersuchung zunächst die Frage aufwerfen, wodurch 
sich denn die urologischen Operationen von anderen Operationen wesentlich 
unterscheiden und ob diese eventuellen Unterschiede die Verschiedenheit der 
beobachteten postoperativen Wirkung erklären können. 

Für diesen Fall müßte es sich zeigen, daß die typisch urologischen Mani¬ 
pulationen im Erleben des Patienten eine sehr bedeutsame Rolle spielen. 

Zunächst die Frage nach den markanten Unterschieden, die zwischen 
urologischen Operationen und anderen bestehen. Jeder urologischen Operation 
gehen fast immer mehrere, mitunter sehr unangenehme Manipulationen am 
Genitale voraus, Maßnahmen, die bei nichturologischen Operationen nur ganz 
ausnahmsweise vorgenommen werden. Diese Maßnahmen sind: Katheterismus, 
Zystoskopie und häufig auch Ureterenkatheterismus. Die hier aufgezählten 
Eingriffe imponieren dem Patienten sehr oft schon selbst als Operation. Die 
Situation, in die der Patient gebracht wird, rechtfertigt auch in einem 
sehr hohen Ausmaße diese seine Stellungnahme. Die erwähnten Eingriffe 
werden dem Patienten ebenso wie Operationen „angekündigt“, d. h. meist 
nicht sofort vorgenommen, und ihre besondere Wichtigkeit wird vom Arzt 
mehrmals betont. Der Patient muß also auf sie „vorbereitet“ werden. 

Der Eingriff selbst hat auch vielerlei Ähnlichkeiten mit einer Operation. 









128 


Ladislaus Fessler 


i. Es ist ein gewisses Gefahrmoment vorhanden. 2. Die körperliche Lage de 
Patienten bei der Ausführung des Eingriffes ist der bei einer Operation ein! 
genommenen sehr ähnlich. 3. Die Manipulation nimmt eine gewisse Zeit in 
Anspruch. 4. Vom erhobenen Befund werden die weiteren oft sehr gewich- 
tigen Entscheidungen abhängig gemacht. 

Es soll später noch erörtert werden, welche enorme Bedeutung der Patient 
diesen Voruntersuchungen beimißt. Dazu kommt, daß diese Eingriffe meist 
wiederholt vor der Operation ausgeführt werden und jeder einzelne erfoWt 
durch den Penis, das Exekutionsorgan der Potenz. Bedenkt man aber noch 
daß die überwiegende Mehrzahl der urologisch operierten Patienten den 
gleichen unangenehmen Prozeduren oft noch für viele Wochen auch nach 
der Operation ausgesetzt sind, dann ist es leicht einzusehen, daß die für eine 
urologische Operation charakteristischen Manipulationen für den Patienten 
eine sehr große Bedeutung gewinnen. 

Mi halte die Annahme für durchaus gerechtfertigt, daß so häufige Eingriffe 
äm üemtale, selbst wenn sie ganz schmerzlos sind, einen Kastrationskomplex 
mobilisieren, quasi virulent machen können, der gelinderen Erschütterungen 
wie z. B. denen einer Operation ohne solche Prozeduren, standgehalten hätte! 

hadger berichtet aus der Analyse einer Impotenz: „Als eine der ihn 
beherrschendsten Vorstellungen erwies sich der Kastrationskomplex.“ Dieser 
Patient berichtet wörtlich: „Schon das bloße Wort .schneiden* oder operieren 
hat bei mir stets eine große Furcht ausgelöst. Ganz besonders gräßlich er¬ 
scheint mir jede Operation in der Harnröhre, ja selbst das Katheterisieren “ 
Einer mündlichen Mitteilung des Herrn Dr. Sadger verdanke ich die 
enntnis, daß dieser Patient nie einer Operation unterzogen, ja nicht einmal 
katheterisiert wurde. So zeigt diese Tatsache ganz deutlich, daß schon die 
bloße Vorstellung von Manipulationen am Genitale besonders leicht den 
Charakter des Schrecklichen annimmt. 

Im folgenden sei das Wesentliche aus den Krankengeschichten meiner drei 
hierher gehörigen Fälle mitgeteilt. 1 

Fall F. G., 31 Jahre, ledig. 


Vater gesund, Mutter an Tuberkulose gestorben. Patient erlitt im Krieg eine 
Granatverletzung am Rücken, das Geschoßstück wurde operativ entfernt. 1025 wurde 
Patient wegen einer Otitis media am rechten Ohr einer Radikaloperation unterzogen. 
Mit .7 Jahren Gonorrhoe. Anschließend daran eine beiderseitige Nebenhodenent- 
zun ung. 1923 Cystitis, auf Behandlung gebessert, nachher zeitweise Pollakisurie. 
Harn trüb, Schmerzen bei der Miktion, Gewichtsverlust. 4. VII. 1928 Zystoskopie. 
Befund: Rechtes Ureterenostium klaffend, starr, von Ödem und Knötchen umgeben leer 
gehend. Linkes Ostium o. B. Katheter-Harn: Koch-Bazillen nachweisbar. Prostata: 
Derber Knoten ,m rechten Lappen. , 4 . VII. ,928 Operation. Exstirpation der rechten 
tuberkulösen N.ere. Patient wiid am 11. VIII. 1928 entlassen. Ein Teil der Wumte 
heilt per secundam und vernarbt erst nach mehrmonatiger Behandlung. 

, Zuweisung der Fälle, die sämtlich aus dem Krankenmaterial der uro- 

log.schenAbte.lung der Allg. Poliklinik (Vorstand Prof. Rubritius) stammen, und für 

der o^: r en SS r t g , der g ' SC . hen Befunde s P re <*e ich Herrn Dr. Fuchs, Assistent 

der obigen Abteilung, meinen besten Dank aus. 































































129 


"" Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen 

Nach Beendigung der ambulatorischen Behandlung suchte mich auf Veran- 
] ssung des Urologen der Patient mit der Klage auf, daß er seit der Operation 
llständig impotent sei* Während er noch bis zur Operation mit seiner Freundin 
standslos und genußreich verkehren konnte, sei ihm seit seiner Operation trotz 
deler Bemühungen kein Koitus gelungen. Wenn er allein ist, werde er oft von 
Erektionen geplagt und empfinde auch ein starkes Verlangen nach Sexualverkehr. 
Kaum ist er aber mit der Frau allein und die Möglichkeit eines Verkehres gegeben, 
verschwindet zunächst die Erektion; darüber werde er so unglücklich und mißmutig, 
daß er auch bald das Verlangen verliert. Patient ist verlobt. In seinen sexuellen 
Beziehungen zur Braut sei es schon in der letzten Zeit vor der Operation zu Ver¬ 
sagern gekommen. Seine Nierenerkrankung habe ihn sehr deprimiert; er habe das 
Gefühl einer dauernden Schädigung nicht los werden können und hatte oft den Ein¬ 
druck, er sei durch diese Erkrankung sexuell minderwertig geworden. 

Das Gefühl der sexuellen Minderwertigkeit habe er aber zunächst nur bei seiner 
Braut gespürt. Er sei ihrer eigentlich überdrüssig, wiewohl er sie noch ganz gern 
habe. Nur aus Korrektheit löse er nicht seine Beziehungen zu ihr. Er habe sich mit 
ihr seinerzeit ganz unbedachterweise in Beziehungen eingelassen, sich noch unbe¬ 
dachterer Weise mit ihr verlobt und jetzt könne er sie nicht verlassen. Trotz alledem 
hätte ihn sein vereinzeltes sexuelles Versagen nicht so hart getroffen, weil er eben 
auch eine Freundin hatte, mit der er noch bis zur Operation durchaus befriedigenden 
Sexualverkehr hatte. Dieses Verhältnis wurde für ihn namentlich in der Zeit vor der 
Operation von größter Wichtigkeit, weil er durch den klaglosen Verkehr mit der 
Freundin den Beweis hatte, daß er „ja doch potent“ sei. 

Im Laufe der Behandlung konnte folgendes ermittelt werden: Patient ist das 
einzige Kind gewesen. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter. Er kann sich 
nur erinnern, daß sie ständig krank war, daß er im Haushalt viel arbeiten mußte 
und daß in seinem Elternhaus sehr dürftige Verhältnisse herrschten. Seine Mutter 
hat Patient sehr gerne gehabt. Da er trotz seiner Jugend einen Großteil der häus¬ 
lichen Arbeiten verrichten mußte, wurde er manchesmal unwillig und dann bekam 
er von der Mutter Vorwürfe zu hören. Sie nahm es ihm übel, daß er in solchen 
Momenten gegen sie lieblos geworden sei, und warnte ihn immer: Es werde ihm 
einmal noch sehr leid tun, daß er so unfreundlich war. 

Der Vater des Patienten lebt- Er ist ein verschlossener Mensch, der den Patienten 
wohl gern gehabt hat, doch ihm nie seine Liebe zeigte. Der Patient hat zu seinem 
Vater niemals besondere Beziehungen gehabt; an Angst vor dem Vater könne er sich 
nicht erinnern, der Vater sei ihm eher gleichgültig gewesen. Nach dem Tode der 
Mutter kam Patient zu einem verheirateten Onkel, der zwei Kinder hatte. Dort ging 
es ihm im großen und ganzen gut, doch habe er viel Herzleid mitmachen müssen. 
„Mir fehlte die Mutterliebe. Ich sah, wie die Kinder des Onkels von ihren Eltern 
geherzt und verwohnt wurden, ich fühlte sehr deutlich den Mangel einer Elternliebe.“ 
Mit zehn Jahren kam Patient wieder zu seinem Vater, der sich unterdessen eine 
Witwe, die bereits eine große Tochter hatte, als Lebensgefährtin genommen hat. 
Damals gab es häufig Streit wegen Bevorzugung der Kinder durch den eigenen 
Elternteil. Patient erzählt wiederholt, daß er sich als Kind sehr vereinsamt fühlte 
und auch sehr verschlossen war. Als er vierzehn Jahre alt war, heiratete sein Vater 
eine andere Witwe, die vier Kinder in den gemeinsamen Haushalt mitbrachte, in 
welchem auch Patient nunmehr leben mußte. In dieser Zeit ging es ihm auch ganz 
gut, wenngleich es gelegentlich zu kleinen Streitigkeiten kam. Aus dieser Zeit erinnert 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 


9 











130 


Ladislaus Fessler 


sich Patient, daß er und einer seiner Stiefbrüder mit dem Vater des Patienten in 
sehr heftigen Streit gerieten, der fast in Tätlichkeiten ausartete. Damals habe Patient 
sehr zurückgezogen gelebt und sich niemandem anvertraut. Vor Mädchen hatte er 
eine ziemliche Scheu und fürchtete sich vor jederlei Annäherung. 

Patient hat viel onaniert. Er machte sich deshalb große Vorwürfe, hatte nach 
dem Onanieren das Gefühl einer Selbsterniedrigung und war außerdem überzeugt, 
sich durch die Onanie auch körperlich schwer zu schädigen, so daß sich die Ge¬ 
wissensbisse über sein Laster bald ins Maßlose steigerten. Als er zirka 23 Jahre alt 
war, mußte er mit seinem älteren Stiefbruder in einem Zimmer schlafen und wurde 
so wiederholt unfreiwilliger Zeuge der häufigen Masturbationen seines Schlafkame¬ 
raden. Die Erinnerung an diese Begebenheit ist ihm sehr unangenehm, wobei er 
aber nicht den Grund angeben kann. 

Vor dem ersten Sexualverkehr — an das Alter kann er sich nicht mehr erinnern __ 

hat Patient „ein sehr unsicheres Gefühl gehabt; es sei eigentlich eine direkte Angst 
gewesen, weil sich die dazu in Aussicht genommene Partnerin — die jetzige Braut —• 
ziemlich lange gegen den Geschlechtsverkehr sträubte“. 

Um diese Angst zu bekämpfen, resp. um sich die Sicherheit des Gelingens zu 
verschaffen, ging er vorher ganz gegen seine Absicht zu einer Prostituierten. 

Bei sexueller Erregung habe er „viele sadistische Züge gezeigt“, Zwicken, Beißen 
und Schlagen seien fast die unfehlbaren Begleiterscheinungen seiner sexuellen Er¬ 
regung gewesen. 

Jetzt fühle er sich „fast in allen Dingen sehr imsicher“. Patient berichtet, daß 
er „früher“ zwar nie ein Feigling war, aber schon immer ziemlich unentschlossen 
und sich auf eine mehr „passive Haltung“ zurückzog. 

Nach der Nierenoperation bemächtigte sich seiner höchste Verzweiflung. Es kam 
eine Ängstlichkeit über ihn, die er früher gar nie kannte; er habe „Angst vor dem, 
was sein wird“. Dies sei ihm um so rätselhafter, als ja die Nierenoperation für ihn 
nicht die erste Operation war. Als er noch viel jünger war, mußte er sich einer 
Radikaloperation wegen Mittelohrentzündung unterziehen und er wußte damals sehr 
wohl, daß diese Operation äußerst gefährlich werden kann. Die Nierenoperation sei 
doch lange nicht so gefährlich gewesen, und wiewohl er sich diese Tatsache oft und 
oft vergegenwärtigte, hat die Nierenoperation doch so unvergleichlich mehr auf ihn 
gewirkt. „Alles, was mit der Nierenoperation in Zusammenhang stehe, sei. ihm als 
fürchterliches Erlebnis in Erinnerung. Das Katheterisieren und die zystoskopischen 
Untersuchungen sind ihm, ehrlich gesagt, noch viel schauerlicher im Gedächtnis als 
die ganze wirkliche Operation. Er ist so oft diesen Prozeduren unterzogen worden, 
und hat dabei immer das Gefühl gehabt, in einem solchen Grade wehrlos zu sein, 
wie er es bis dahin noch nie war.“ Es sei ihm auch schon einige Male der Magen 
ausgehebert worden, aber das sei ihm „seelisch lange nicht so nahe gegangen wie 
das Katheterisiertwerden, geschweige denn wie die Zystoskopie“. 

Die Impotenz, unter der er jetzt, nach der Operation, zu leiden habe, sei sicher 
das größte Unglück, das ihn bisher getroffen hat. Jetzt müsse er auch so oft an 
seine Onanie denken; er habe wieder, ganz wie früher einmal, das Gefühl, als ob 
ihn die Onanie sehr folgenschwer geschädigt hätte. Trotzdem onaniere er auch heute 
noch, um sich davon zu überzeugen, daß er auch potent sein kann. Wenn es ihm 
auch eine große Freude bereite, bei der Onanie seine Potenz zu bewundern, bewirke 
sie doch immer schwere Selbstvorwürfe. Für die Ärzte, die ihn vor der Operation 
untersuchten und dann operierten, empfindet er eine sehr große Verehrung. 
























































Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen 


131 


Aiis dieser, nur auszugsweise mitgeteilten Krankheitsgeschichte sei her¬ 
vorgehoben, daß Patient einige Jahre vor seiner Nierenoperation zwei 
n rationen anderer Art durchzumachen hatte (Granatverletzung am Rücken 
und Radikaloperation wegen Otitis media) und daß sich nach keiner dieser 
O erationen irgendwelche Potenzstörungen eingestellt haben. Für diesen Fall 
kann es mithin als erwiesen gelten, daß unter den chirurgischen Eingriffen 
. n an den Harnorganen für die Entstehung der postoperativen Potenz¬ 
störung eine besondere Bedeutung zukommt. 

Fall A. F., 22 Jahre alt, ledig, Mediziner. 

Familienanamnese o. B. Potus und venerische Affektion negiert. Im November 1927 
bemerkt Patient bei der Miktion, daß der Harnstrahl plötzlich unterbrochen ist und 
daß er die Blase erst nach einiger Zeit vollständig entleeren kann. Es bestanden 
keine Schmerzen, der Harn war leicht getrübt. Im April 1928 wurde Patient zum 
erstenmal auf der Klinik Hochenegg zystokopiert, wobei folgender Befund erhoben 
wurde: „Divertikelöffnung nahe dem linken Ureter. Rechts zwei Ureteröffnungen. 
Die Zystographie zeigt ein über Ei großes, links hinter der Blase liegendes Divertikel.“ 
Zum Zwecke einer exakten Funktionsprüfung beider Nieren wurde Patient in der 
Folgezeit zweimal auf der urologischen Abteilung der Allg. Poliklinik zystoskopiert. 
Am 31. Mai 1928 Operation. Äthernarkose. Mediane Laparatomie. Exstirpation eines 
hühnereigroßen Blasendivertikels. Nach der Operation Dauerkatheter. Bis zum n. VI, 
glatter Verlauf, dann Schüttelfrost, Temperatur 38*8, Diagnose: Pyelitis dextra. Durch 
mehrere Tage Dauerkatheter. 24. VI. 1928 Zystoskopie. 26. VI. 1928 wird Patient 
mit klarem Harn ohne Beschwerden entlassen. Vom 12. VII. bis 18. VII. neuerliche 
Aufnahme. Während dieser Zeit ist der Harn wieder trübe. Am 22. VIII. 1928 tritt 
eine akute linksseitige mehrmals rezidivierende Epididymitis auf, die unter konser¬ 
vativer Behandlung im Laufe einiger Wochen abklingt. Seither urologisch voll¬ 
kommene Heihuig. 

Im Frühjahr 1929 sucht mich dieser Patient, ebenfalls auf Veranlassung des ihn 
behandelnden Urologen, mit folgenden Beschwerden auf: Er leidet an einem völligen 
Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Er hätte dringend für nahe bevorstehende 
Prüfungen zu lernen und müsse sich immer wieder dabei ertappen, daß er zwar 
über den Büchern sitze, wohl auch hineinschaue, aber mit seinen Gedanken „weiß 
Gott wo“ sei. 

Es beschäftige sich immer mit seinen „letzten Stunden“; vor seinem Tode habe 
er eine unsagbare Angst. In diesen ängstlichen Zuständen denke er nicht an eine 
bestimmte Todesart, vielmehr an das Sterben überhaupt, wodurch er regelmäßig in 
furchtbaren Schrecken gerate. Er sehe die ganze Situation seiner Sterbestunde, fürchte 
sich vor dem Todeskampf und erkenne verzweifelt die schließliche Aussichtslosigkeit 
aller gegen den Tod gerichteten Bemühungen. Er müsse dabei sehr viel an seine 
Eltern denken. So müsse er sich immer die Lage vorstellen, wie es ohne ihn im 
Eltemhause sein wird. 

Eines Abends habe er auf dem Heimweg die Gestalt eines verstorbenen Freundes 
zu sehen geglaubt; im Augenblick, da er die Gestalt sah, sei es ihm gar nicht bewußt 
gewesen, daß der betreffende Freund schon tot ist. Dieses Erlebnis habe ihn sehr 
beunruhigt. Er wisse, daß Sinnestäuschungen bei der Schizophrenie Vorkommen. Sein 
unablässiges Denken an den eigenen Tod werde manchesmal von Gedanken abgelöst, 
die sich mit den Sterbestunden ihm nahestehender Personen beschäftigen. Er empfinde 

9 * 


L 









132 


Ladislaus Fessler 


großes Mitleid mit den Qualen, die diese Menschen ausstehen müßten. Wenn er zu 
arbeiten Habe, schlafe er ein oder hänge den geschilderten Meditationen nach. 

Er habe schon mehrere wichtige Prüfungstermine des ersten Rigorosums versäumt. 
Mit einer Kollegin, die Patient schon seit einigen Jahren kennt, habe er in der 
letzten Zeit im gemeinsamen Haushalt gelebt. „Jetzt sei er außerdem noch impotent.“ 
Es komme zu keiner Erektion, wiewohl seine Libido groß sei und er seine Partnerin 
— die erwähnte Kollegin — sehr liebe. Versuche, mit anderen Frauen zu verkehren, 
seien ebenfalls erfolglos gewesen. Deshalb sei er ganz verzweifelt, und es packt ihn 
ein Grauen vor der Gelegenheit zu koitieren. Mit seiner Potenzstörung trat auch 
oft „das Gefühl auf, daß sein ganzer Körper absterbe, gliederweise verfaule, so als 
ob ein Arm oder ein Bein abfallen würde“. 

Seine mißlungenen Koitusversuche führen ihn über die Vorstellung des glieder¬ 
weisen Verfaulens zu den imabwendbaren Todesgedanken und machen ihn vollkommen 
ratlos. Er habe bemerkt, daß er auch heute vor dem Verkehr die gefürchteten 
Todesgedanken bekomme, dann natürlich beim Koitus versage und durch all das 
schließlich des Lebens überdrüssig geworden sei. 

Während der Behandlung konnte folgendes ermittelt werden: Patient hat nur 
einen jüngeren Bruder, stammt aus einer Kaufmannsfamilie. Er lebt mit seinen 
Eltern in ziemlich gedrückten materiellen Verhältnissen. Ehe er Medizin studierte, 
war er Techniker, hatte für diesen Beruf viel mehr Neigung, glaubte aber aus 
äußeren Gründen seinen Beruf wechseln zu müssen (konfessionelle Zwistigkeiten 
mit seinen Kollegen). 

Mit seinen Eltern vertrage er sich ganz gut, besonders herzlich sei sein jetziges 
Verhältnis zu ihnen nicht, wofür Patient die großen materiellen Sorgen verantwort¬ 
lich macht. 

Aus der Kindheit des Patienten sei hervorgehoben, daß seine erste Erinnerung 
onanistische Akte sind, die er im Alter von drei Jahren vollführte. Er weiß ganz genau, 
daß er mit drei Jahren an seinem Genitale manipulierte. Er erinnert sich auch, daß 
er während der Manipulationen und auch nachher Veränderungen an diesem Organ 
beobachten konnte. Zu diesen Manipulationen sei es das erstemal gekommen, als er 
auf dem Topf saß. Er will sich deutlich daran erinnern, damals auch Erektionen 
gehabt zu haben. Um diese Zeit herum war Patient sehr schamhaft und sehr ungehalten, 
wenn er von jemandem nackt gesehen wurde. Einmal wurde er von seiner Mutter 
überrascht, als er gerade mit seinem Genitale spielte. Die Mutter gebärdete sich 
bei dieser Entdeckung sehr verzweifelt, schlug den Patienten und sagte, „es sei ein 
großes Unglück, wenn man damit spiele. Wenn er es noch einmal tun werde, wird man 
einen Spagat daran knüpfen und ihn so durch alle Gassen führen“. Diese Spielereien 
bereiteten aber dem Patienten sehr großes Vergnügen und er verschaffte sich durch 
sie eine ganz eigenartige Erregung, die er nur als Lust bezeichnen kann. Seine 
Manipulationen setzte er fort, war aber seither sehr darauf bedacht, von seiner 
Mutter nicht mehr erwischt zu werden. 

Er erinnert sich sehr gut, daß ihm das Kitzelgefühl, das er sich durch das 
Hantieren mit dem Genitale verschaffte, sehr gut gefiel und daß bei diesem ange¬ 
nehmen Gefühl sein Penis viel größer und härter wurde. „Die Erektion betrachtete 
ich als ein nur mir bekanntes Geheimnis, und ich hatte große Angst, jemals in 
Gegenwart meiner Mutter eine Erektion zu bekommen. Je vertrauter mir diese 
Manipulationen wurden, um so größer wurde mein Schamgefühl. Ich erinnere mich 
ganz deutlich, daß ich mich vor der Mutter besonders stark schämte.“ 

















































































• fünf Jahren entdeckte Patient an seinem Vater die ersten grauen Haare; bei 

^Entdeckung wurde Patient sehr ängstlich und fragte den Vater, ob er deshalb 
bflld werde sterben müssen. 

SC In der Volksschule ging ich während der Pausen nie mit meinen Kameraden 
’ ” eren sondern wartete immer, bis ich allein war. Ich wollte nicht, daß ein 
^Iitschüler mein Glied sehe; ich schämte mich auch, das Genitale eines Kollegen 

anZ ßei der engen physiologischen Verknüpfung und dem gedanklichen Assoziiertsein 
r Sexualfunktion und der Harnentleerung fand ich es erklärlich, daß beim Patienten 
J* Hemm ung, wie sich bald herausstellte, auch bei der Miktion in Erscheinung trat. 
Er ist unfähig, im Beisein einer zweiten Person den Harn zu entleeren. Solange er 
öffentlichen Anstandsort allem ist, uriniert er regelmäßig in starkem Bogen; in 
dem Moment, wo noch jemand eintritt, wird die Miktion wie ab ge schnitten, er 
wird unfähig, auch nur einen Tropfen herauszupressen. 

Patient bringt noch folgende bemerkenswerte Erinnerung: Mit vier Jahren habe er 
aus Spielerei seinen Penis in eine Bierflasche gesteckt, konnte ihn aber dann nicht 
mehr aus der Flasche herausbringen. Während er gerade damit beschäftigt war, 
sein Glied aus dieser unangenehmen und — wie ihm deutlich erinnerlich schmerz¬ 
haften Lage zu befreien, wurde er von seiner Mutter überrascht. Es gab wieder 
eine große Szene, die Mutter war abermals ganz verzweifelt und sagte, es sei ein 
ganz furchtbares Unglück geschehen. Patient bekam wieder Prügel und seine Angst 
vor dem Erwischtwerden steigerte sich ganz gewaltig. Seither war Patient noch viel 
mehr auf der Hut, bei seinen onanistischen Handlungen gesehen zu werden. 

Bis zu seinem zehnten Lebensjahr hatte Patient „eine schwache Blase“. Er sei 
wohl kein ausgesprochener Bettnässer gewesen, doch habe er den Harn nie vollständig 
halten können, „es hat fast immer getröpfelt“, in der Nacht sei er bei geringstem 
Harndrang erwacht, untertags habe er den Harndrang häufig übersehen und sei oft 
erst durch das Tröpfeln aufmerksam geworden.2 

Während seines sechsten und siebenten Lebensjahres habe er wiederholt von 
seiner Mutter gehört, daß beim Onanieren das Rückenmark verloren gehe; an die 
unmittelbare Wirkung dieser Mitteilung kann er sich nicht mehr erinnern, er wisse 
nur, „das habe ihm die Freude daran verdorben und er fürchtete sich“. 

Seinen ersten Orgasmus erlebte er in einer der unteren Klassen des Gymnasiums, 
und zwar im unmittelbaren Anschluß an eine große unterdrückte Wut. Patient kaufte 
nämlich während der Pause von einem älteren Kollegen ein Lehrbuch und erfuhr 
knapp vor Beginn der nächsten Unterrichtsstunde, daß dieses Buch für ihn unver¬ 
wendbar sei. Kaum daß er das erfahren hatte, geriet er in eine sehr große Erregung, 
aber schon läutete es und der Lehrer betrat das Klassenzimmer. Als die Schüler 
aufsprangen, sei er ganz besonders stramm gestanden, „ich hatte alle Muskel krampf¬ 
haft angespannt“, und schon spürte er, fast plötzlich, ein rhythmisches Lustgefühl. 
Als er sich wieder setzte, merkte er, daß er eine Ejakulation gehabt hatte. 

Zu dieser Begebenheit fällt dem Patienten ein, daß Wut und Zorn in seiner 


1) Vgl. Ferenczi, „Analytische Deutung und Behandlung der psychosexueilen 
Impotenz beim Manne“. Psych. Neur. Wochenschrift X., 1908. 

2) Hier sei gleich bemerkt, daß diese Inkontinenzbeschwerden sehr leicht bereits 
auf jene organischen Veränderungen in der Blase bezogen werden können, die später 
zur Bildung des Blasendivertikels geführt haben. 











134 


Ladislaus Fessler 


Sexualität eine große Rolle spielen. Er müsse gestehen, daß für ihn das Zufügen 
von Schmerzen, einerlei, ob es körperliche oder seelische sind, erotisierende Wirkung 
haben. Die zornige Erregung einer Frau mache ihn sinnlich, ja sie bedinge eigentlich 
seine richtige sexuelle Genußbereitschaft. So oft er in die Lage komme, eine Frau 
zu quälen, bekomme er fast ausnahmslos eine starke Erektion. Bei seinem Sexual¬ 
verkehr spielen Schlagen, Beißen und Zwicken eine sehr wesentliche Rolle. 

Die urologische Operation war die erste Operation, der sich Patient unterziehen 
mußte. Bis zur Operation hatte er nie Potenzstörungen. Ungefähr drei Wochen 
nach seiner Entlassung unternahm er den ersten Koitusversuch, der auch glückte- 
das Ejakulat bei diesem ersten Koitus war aber blutig, worüber Patient sehr erschrak. 

Patient mußte noch vier Wochen nach der Operation mit Dauerkatheter liegen. 
Nach acht Tagen Dauerkatheter bekam Patient nachts häufig Erektionen. Es kam auch 
zu Pollutionen, die zunächst mit vollem Orgasmus verbunden waren, dabei aber sehr 
schmerzhaft empfunden wurden, so daß Patient Sedativa gebrauchen mußte. Die 
Pollutionen hörten erst auf, als der Dauerkatheter endgültig entfernt werden konnte. 
Patient betont, daß er sich nach der Operation in seinem ganzen Charakter ver¬ 
ändert fühlte. 

Während ihm früher „Angst kaum je zum Bewußtsein kam, sei er nach der 
Operation ausgesprochen ängstlich geworden“. Sein sicheres Auftreten habe sehr 
gelitten. Frauen gegenüber sei er scheu geworden, was früher nie der Fall war. Auf 
dem linken Auge besteht ein angeborener Strabismus. Während er seinem Schielen 
früher gar keine Bedeutung beigemessen hat, kam ihm dieser Defekt jetzt sehr 
deutlich zum Bewußtsein und wurde von ihm sehr störend empfunden. Ungefähr 
fünf Monate nach der urologischen Operation mußte sich Patient einer Tonsillektomie 
unterziehen. 

Patient hat diese beiden Operationen oft verglichen und kam immer wieder zu 
dem Ergebnis, „daß ihm die ganze Tonsillektomie wesentlich sympathischer war als 
eine bloße Zystoskopie. Die Tonsillektomie war wohl sehr schmerzhaft und die Vor¬ 
bereitung dazu war sehr ekelhaft und quälend, aber trotzdem habe ich diesen Eingriff 
lange nicht so unangenehm, ja ich möchte sagen nicht so bedeutungsvoll, so ein¬ 
schneidend empfunden wie eine Zystoskopie. Selbst das Katheterisiertwerden war 
mir furchtbarer als die ganze Tonsillektomie“. 

Für unsere Betrachtung seien folgende Momente festgehalten: 

Die Potenzstörung trat hier nach einer urologischen Operation auf. Wenn 
auch in diesem Falle — zum Unterschied von früher beschriebenen — eine 
Gegenüberstellung von postoperativen Beschwerden nach urologischen und 
nichturologischen Operationen nicht möglich ist, weil die urologische Operation 
bei diesem Patienten eben die erste war, kann trotzdem das Auftreten der 
postoperativen Potenzstörung auf die urologische Eigenart des chirurgischen 
Eingriffes bezogen werden. Wir haben ja gehört, daß dieser Patient innerhalb 
sechs Wochen vor der Operation dreimal zystoskopiert und einmal auch einem 
Ureterenkatheterismus unterzogen wurde. Aber auch die Nachbehandlung war 
in diesem Falle eine für das Genitale — wenn ich so sagen darf — trauma- 
tisierende, denn sie bestand in Dauerkatheter und nochmaliger Zystoskopie. 

Fall F. D. f 28 Jahre, Elektromechaniker, verheiratet. 

1912 Radikaloperation wegen Otitis media. Juli 1920 wurde wegen Tuberkulose 
dreimal Pneumothorax angelegt. Februar 1929 fieberhafte Angina, dann Wohlbefinden. 





























































r. g Juli 1929 Fieber, Schmerzen in der Blasengegend, Pollakisurie. Venerische 
Aktion negiert. Lungenbefund. Allgemeine Poliklinik, Abteilung Hofrat Manaberg: 
A C wahrscheinlich ausgeheilte Phthise der Lunge. Urologischer Befund: Prostata in 
A infiltriert, seitlich von der Beckenwand nicht vollkommen abgrenzbar. Rechter 
T° t0 en stark prominent und druckempfindlich, doch zeigt er noch keine Fluktuation. 
Kathetensmus: Kein Restharn. Therapie: Kalter Arzberger, Belladonna-Suppositorien, 
Aolan- Temperatur sinkt ab. Zunahme der Schmerzen. 1. August 1929 Fluktuation im 
rechten Prostatalappen. Sofortige Operation in Äthernarkose. Perineale Freilegung 
der Prostata. Inzision eines Abzesses im rechten Lappen. Im Eiter: Staphylokokken; 

stoperative Rektumfistel, die sich bis zum 25. August vollkommen schließt. Patient 
wird dann in ambulatorische Behandlung entlassen. Aus der Rektumfistel gehen noch 
eine Zeitlang Gase ab; die Fistel schließt sich dann vollständig. 

Oktober 1929 beginnen die Potenzstörungen und Patient wird wegen derselben 
an mich gewiesen. Seit der Operation fühle er sich verändert. Am deutlichsten komme 
ihm diese Veränderung in seinem Verhalten Frauen gegenüber zum Ausdruck. Während 
er früher für Frauen sehr lebhaftes Interesse hatte, mache sich jetzt bei ihm eine 
generelle Gleichgültigkeit geltend. Über diese Veränderung sei er sehr erstaunt, 
zumal er sich keine Erklärung dafür geben kann. Wenn er auch nicht vollkommen 
impotent ist, könne er doch nicht sagen, daß er sein Sexualleben als intakt empfinde. 
Der Sexualverkehr bereite ihm Schwierigkeiten und er empfinde ihn meist nur als 
eheliche Pflicht. Deshalb sei er sexuell sehr zurückhaltend, wodurch oft häusliche 
Szenen herauf beschworen werden. Er habe sich allmählich auch davon überzeugen 
müssen, daß die Erektionsfähigkeit seines Gliedes sehr nachgelassen hat. Es dauere 
sehr lange, bis die Erektion zustande kommt, und auch dann sei sie nur selten so 
kräftig, daß ein Koitus mühelos erfolgen kann. Die Häufigkeit des Sexual Verkehrs 
habe sehr gelitten, er verkehre jetzt monatlich kaum einmal. Der Koitus befriedige 
ihn eigentlich sehr wenig, und trotzdem leide er darunter, daß seine Potenz so stark 
nachgelassen hat. Während sein früheres Interesse für Frauen zunächst sexuell gerichtet 
war, seien seine jetzigen Beziehungen mehr auf den „geistigen Kontakt“ bedacht. 
Patient sagt, er habe jetzt zu den Frauen eine „mehr mütterliche als sexuelle 
Beziehung“. 

Er ist verheiratet und seiner Frau untreu, aber lange nicht in dem Maße, als es 
seiner Einstellung zu ihr entspräche. Diese relative Scheu vor anderen Frauen habe 
er, weil er sich „auswärts nicht blamieren will“. 

Bis zur Operation war er „übermäßig potent“. Wohl hielt seine sexuelle Spann¬ 
kraft nie besonders lange an, aber sie kehrte sehr bald wieder. Seinen jetzigen 
sexuellen Zustand müsse er als Impotenz bezeichnen, denn „das Geringste könne ihn 
so stören, daß jeder Koitus versuch vollkommen aussichtslos wird“. 

Mit der Abschwächung seiner Potenz seien ihm noch eine Reihe anderer Ver¬ 
änderungen aufgefallen. So sei er von einer ihm bis dahin völlig fremden Grübel¬ 
sucht befallen worden. Er möchte z. B. gerne ergründen, warum er seiner Frau so 
kühl gegenüberstehe. Er müsse staunen, daß er wegen seines Verhaltens gegen seine 
Frau keinerlei Gewissensbisse empfinde, wiewohl er sich darüber klar sei, daß sein 
Benehmen nicht das richtige ist. Er interessiere sich für medizinische Probleme, 
besonders für hygienische Fragen, wobei er sich bemühe, namentlich über Entstehung 
und Verhütung von Krankheiten möglichst viel zu erfahren. Patient bezeichnet sich 
als Hypochonder, er sei „überaus empfindlich geworden“. Während er sich früher 
um Krankheiten gar nicht kümmerte, mache er sich jetzt „über jeden Schmarrn“ 








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Ladislaus Fessler 


quälende Sorgen. Im allgemeinen sei er mißmutig, verstimmt, finde an seiner Arbeit 
keine Freude, und wenn er sich schon zu irgendeiner außerberuflichen Tätigkeit 
aufschwingen könne, sei es die Lektüre populär-wissenschaftlicher Schriften oder 
irgendwelche häusliche Bastlerei. 

Auch verschiedene Mängel seiner Persönlichkeit seien ihm nach der Operation 
mehr bewußt geworden und auch darüber müsse er fast unaufhörlich nachdenken. 
Früher habe er alle möglichen Interessen gehabt, betrieb Lektüre, suchte Theater 
und andere Vergnügungen auf und kümmerte sich um politische Fragen. Jetzt sei 
er einsilbig, sehr leicht reizbar, dabei aber gleichgültig und teilnahmslos. Sein Ge¬ 
dächtnis habe stark nachgelassen, wie er überhaupt bemerken mußte, daß seine 
gesamte geistige Leistungsfähigkeit rapid im Abnehmen sei. Er sei meist schwer 
deprimiert, habe die feste Überzeugung „es stimme etwas nicht mehr, er könne nicht 
sagen was, aber seit der Operation sei er gänzlich verändert“. 

In der Behandlung ergab sich folgendes: 

Seine ersten Erinnerungen sind die Schreckensgeschichten, die man ihm im Alter 
von vier bis fünf Jahren erzählte. Er hörte viel von Zigeunern und Juden. Beide 
hätten es auf die Christenkinder abgesehen. Namentlich die Juden töten Christen¬ 
kinder, um mit dem frischen christlichen Blut die jüdischen Kinder zu taufen. Über¬ 
haupt habe er zu Hause viele Schauergeschichten gehört, deren Inhalt aber immer 
irgend eine religiöse Färbung hatten. 

Mit fünfeinhalb Jahren habe er häufig mit Mädchen gespielt. Das Spiel bestand 
im „Abgreifen“. Bei diesem Spiel konnte er bemerken, daß die Mädchen kein Glied 
haben. Patient sei über diese Entdeckung zwar nicht erschrocken, habe sich vielmehr 
darüber gewundert, ohne sich aber weitere Gedanken zu machen. 

Dagegen erinnert er sich sehr deutlich, daß ihn an den Mädchen allmählich das 
Fehlen des Gliedes zu interessieren begann. Einmal wurde er bei einem dieser 
Spiele von seiner Mutter überrascht. Damals drohte sie ihm: Sein Glied werde ihm 
abfallen, wenn er mit diesen Schweinereien nicht für immer aufhöre. Auch diese 
Drohung hat angeblich auf den Patienten keinen besonderen Eindruck gemacht. 
Trotzdem erinnert er sich sehr genau, daß er von dieser Zeit an eine große Furcht 
hatte, abermals von seiner Mutter erwischt zu werden, weil er Prügel bekommen 
würde. 

Mit sechs Jahren verlor er seinen Vater. Die Erziehung des Patienten sei eine 
sehr religiöse gewesen. Seine Mutter habe ihm oft mit dem Krampus gedroht und 
auch sonst wurde ihm viel von überirdischen Erscheinungen erzählt, die alle 
gegebenenfalls fürchterlich strafen. Die religiöse Erziehung sei bei ihm vornehmlich 
so gehandhabt worden, daß man ihm Angst einjagte, und er wisse genau, daß er 
noch bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr sehr stark unter diesem Eindruck gestanden 
sei. Mit sieben und acht Jahren spielte er mit Mädchen „Vater und Mutter“. Bei 
diesem Spiel sei es wiederholt zum früher erwähnten Abgreifen und zum gegen¬ 
seitigen Zeigen der Genitalien gekommen. Damals habe er bereits gewußt, daß 
Vater und Mutter miteinander bestimmt „etwas Ähnliches machen“. Aus dem achten 
oder neunten Lebensjahr stammt folgende Erinnerung: Patient kam in die Küche 
und wollte weiter in das Zimmer gehen, denn er glaubte, er werde dort den heiligen 
Nikolo in vollem Ornate sehen. Dann bekam er plötzlich eine riesige Angst und 
traute sich nicht weiter. An mehr könne sich Patient nicht erinnern. 

Mit sechzehn Jahren begann Patient zu onanieren. Schon damals machte er 
sich darüber große Vorwürfe. Ungefähr um diese Zeit hörte er einen populären 






























































Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen 137 

Vortrag über die Schäden der Onanie. Durch die Onanie leide das Gehirn des 
Menschen und die Säfte des Rückenmarks gehen verloren. Aus diesem Grund bezog 
Patient alle seine Erkrankungen auf die Onanie und machte sich unendliche Vorwürfe, 
daß er sich so l e i c htfertig zugrunde gerichtet hätte. Noch mit neunzehn Jahren 
hielt Patient an dieser Meinung fest. In diesem Alter hatte er eine Gelenksentzündung 
und einen beiderseitigen Spitzenprozeß durchzumachen. Diese beiden Erkrankungen 
betrachtete er als die Folgen seiner Onanie, wobei er noch von dem Gedanken 
gequält wurde, diese Folgen seien irreparabel. 

Patient wurde durch einen seiner Freunde zur Masturbation verleitet. Dieser 
Freund war Jude. Als nun dieser Freund zufällig auch eine Gelenksentzündung 
bekam, mußte Patient sehr oft an seine Mutter denken, die ihm doch immer gesagt 
hat, er solle die Juden meiden, denn von ihnen käme alles Schlechte. Daß er und 
sein Verführer an der gleichen Krankheit erkrankten, gab ihm zu denken. Seine 
ganze Jugend sei unter dem Zeichen ständiger Furcht und fortwährender Er¬ 
mahnungen gestanden. 

Von allen Erkrankungen, die Patient bisher durchzumachen hatte, sei der 
Prostataabzeß die weitaus unangenehmste gewesen. Früher sei ihm das Kranksein nie 
so zum Bewußtsein gekommen. „Mit der kranken Lunge konnte ich atmen und 
trotz des kranken Ohres konnte ich hören, aber jetzt war das alles anders. Ich hatte 
ja kein wirkliches Verlangen nach Sexualverkehr, aber es wurde mir so klar, daß 
ich mir ein sexuelles Verlangen gar nicht hätte leisten können. Die Krankheit war 
ja nicht besonders gefährlich, aber ich fühlte mich durch sie wie erschlagen.“ 
Wiewohl man ihm sagte, daß sein Genitale vollkommen gesund sei, machte es auf 
ihn einen sehr tiefen Eindruck, daß durch die Erkrankung eines anderen Organs 
sein Penis so arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wiewohl er wußte und es von 
den Ärzten immer wieder hörte, daß sein Genitale ganz gesund sei, konnte er das 
Gefühl vollkommener Verzagtheit nicht los werden. 

Namentlich wenn er sich mit dem Dauerkatheter im Bette sah, überkam ihn 
eine sehr wehmütige Stimmung. „Es war an einer Stelle meines Körpers, die mir 
bisher nie irgendwelche Sorge bereitete, ein ganzer Apparat angemacht.“ Er konnte 
sich auch nicht erklären, daß ihm seinerzeit „ein Einstich zwischen die Rippen 
(Pneumothorax) lange nicht so berührte wie jetzt das Katheterisieren“. Es machte 
auf ihn fast den Eindruck, „daß man lungenkrank viel unverschuldeter werde als 
da unten. Das ist so wie eine Strafe“. Es sei ihm oft eingefallen, solche Gedanken 
seien wohl ein Unsinn, aber „andererseits stehe es doch fest, daß man mit der 
Lunge nicht sündigen könne“. 

Auch bei diesem Fall kann besonders darauf hingewiesen werden, daß die 
Potenzstörungen nach einer urologischen Operation aufgetreten sind, während die 
früher durchgemachten Operationen keine derartigen Folgeerscheinungen hatten. 1 

Es würde sicher zu weit führen, die dem Kastrationskomplex zugehörigen 
Motive, wie sie die mitgeteilten Krankengeschichten zeigen, im einzelnen 

1) Guisy berichtet über verschiedene psychische Störungen, die nach Prosta¬ 
tektomien aufgetreten sind. Seine Fälle haben aber für unsere Untersuchung kein 
besonderes Interesse, weil sie zum Teil senile Individuen betreffen und zum andern 
Teil der innersekretorischen Komponente in der Funktion der Prostata eine große 
Bedeutung zuschreiben. Die innersekretorische Bedeutung der Prostata ist aber heute 
noch zu wenig faßbar, um auf sie vom klinischen Gesichtspunkt näher einzugehen. 














138 


Ladislaus Fessler 


darzulegen. Überdies ist der Kastrationskomplex in allen drei Fällen so 
deutlich, daß ein näheres Eingehen darauf ruhig unterbleiben kann, und dies 
umso mehr, als ja nicht sein Vorhandensein dargelegt werden soll, sondern 
nur die ihn aktivierende Wirkung jener Maßnahmen, die urologischen 
Operationen vorangehen, respektive diesen Operationen folgen. 

Dagegen scheinen mir noch folgende Momente besonderer Erwähnung wert. 

Es entspricht einer allgemeinen ärztlichen Erfahrung, daß der Patient kaum 
jemals seinem Arzt vollkommen neutral gegenüb ersteht. Die Beziehung des 
Patienten zum Arzt ist fast ausnahmslos nach irgend einer Seite affektbetont 
so daß sie entweder eine freundliche oder ablehnende genannt werden muß- 
vgl. die Übertragung im Sinne der Psychoanalyse. Die psychoanalytische 
Erfahrung hat aber gezeigt, daß der Patient nahezu regelmäßig zum männlichen 
Arzt das gleiche Verhältnis findet, das er zu seinem Vater hatte. Auf diese 
Weise bekommt der Arzt für den Patienten eine vaterähnliche Bedeutung • 
der Arzt wird für den Patienten zum Ersatz der Vaterimago. Im Kastrations¬ 
komplex ist die Angst vor der Kastration wesensmäßig auf den Vater 
konzentriert und es ist ohneweiters klar, daß sich Kastrationsangst auch in 
bezug auf die Vater-Ersatzfigur einstellen kann. Diese Übertragung der 
Kastrationsangst auf den rezenten Vertreter der Vaterimago erscheint um so 
evidenter, als ja in den beschriebenen Fällen der zur Vaterfigur erhobene 
Arzt mit dem Genitale des Patienten sehr oft und in einer für den Patienten 
sehr eindrucksvollen Weise in Berührung kam. 

Im allgemeinen läßt sich zwischen medizinischen Eingriffen und ihren 
psychischen Auswirkungen zwanglos die Relation hersteilen, daß die durch 
den Eingriff verursachte Unlust für den Erlebniswert des Eingriftes von 
außerordentlicher Wichtigkeit ist. 

Gemessen an der überragenden Bedeutung, die in unseren Fällen den 
urologischen Untersuchungsmethoden (Katheterismus, Zystoskopie, Ureteren- 
katheterismus) zukommt, wäre anzunehmen, daß die erwähnten Maßnahmen 
ganz besonders schmerzhaft sein müssen. Dies ist aber gar nicht der Fall, 
denn die genannten Eingriffe sind bei sachgemäßer Durchführung schmerzfrei. 

Es ist demnach nicht der erlittene Schmerz, sondern das in die Unter¬ 
suchung und Behandlung miteinbezogene Organ, welches für das Versagen 
dieses Organes also für die Impotenz — verantwortlich zu machen ist. 
Mögen auch bis zu einem gewissen Grade die individuellen Schwankungen 
der Schmerzempfindlichkeit bei den verschiedenen Patienten beachtenswert 
sein, ich glaube, daß dies keinesfalls das Entscheidende sein kann. Hat doch 
keiner der Patienten so sehr die Schmerzhaftigkeit des Eingriffes beklagt als 
vielmehr darunter gelitten, daß dieser Eingriff dort vorgenommen wurde, 
wo der Patient ein Manipulieren seit jeher als etwas Folgenschweres 
gewertet hat. 

In den meisten urologischen Fällen ist entweder das Genitale selbst 
erkrankt oder das erkrankte Organ ist nur durch das Genitale wichtigen 
Maßnahmen zugänglich. Jedenfalls ist es exponiert, d. h. quälenden Prozeduren 
ausgesetzt. Für das Erlebnis der Kastration ist es ja belanglos, daß z. B. bei 
einer Nierentuberkulose das Genitale im engeren Sinne intakt ist. Für das 
Erlebnis gilt der Untersuchungsweg zur kranken Niere fast mehr als diese 
selbst, weil ja dabei das Genitale in einer dem Kranken viel augenschein- 





















































*■ Psychogene Potenzstörungen nadi urologischen Operationen 139 

, en 'W'eise zum Gegenstand ärztlicher Manipulation wird als das eigentlich 
k ankte Organ. Natürlich ist der Umstand von fundamentaler Bedeutung, 
*fß r die erwähnten Manipulationen gerade jenes Organ betreffen, welches die 

hste Libidobesetzung hat. So wird dem Patienten schon rein äußerlich 
offenbar, daß sein Genitale mit der Krankheit auf das engste verknüpft ist. 

Daß ^nach Operationen am Genitale und in seiner Nachbarschaft psychische 
Impotenz nicht selten auftritt, hat Hitschmann betont. In seiner Arbeit 
Phimose und Neurose“ berichtet er, nach Phimose-Operationen psychische 
Impotenz beobachtet zu haben. 

Auch Oswald Schwarz faßt seine diesbezüglichen Erfahrungen dahin 
zusammen, daß eine durchgemachte genitale Erkrankung bei psychogenen 
Potenzstörungen die Produktion des Symptoms wesentlich erleichtert. 

Über die Bedeutung erkrankter Organe für die neurotische Symptom¬ 
bildung äußert sich Ferenczi: „Es stellt sich heraus, daß in sehr vielen 
Fällen die von der Außenwelt zurückgezogene Libido nicht dem ganzen Ich, 
sondern hauptsächlich dem erkrankten oder beschädigten Organe zugewendet 
wird und an der verletzten oder erkrankten Stelle Symptome hervorruft, die 
man auf eine lokale Libidosteigerung beziehen muß.“ In dieser Arbeit führt 
Ferenczi folgendes Beispiel an: „Ein Magenkranker, dessen ganzesinteresse 
von der Verdauung in Anspruch genommen war, tat den charakteristischen 
Ausspruch: ,daß ihm die ganze Welt schlecht schmeckt, es schien, als sei 
auch seine ganze Libido um den Magen zentriert. Vielleicht gelingt es 
einmal, die spezifischen Charakter Veränderungen bei organisch Kranken als 
Reaktionsbildungen des Ich auf solche Verschiebungen der Libido zurück¬ 
zuführen. “ 

In diesem Sinne handelt es sich bei Potenzstörungen nach urologischen 
Operationen, streng genommen, gewiß nicht immer um direkt erkrankte, 
wohl aber um exquisit „beschädigte“, resp. „verletzte“ Organe, zumindest 
aber um solche, die vom Patienten gefühlsmäßig sehr stark in die Sphäre 
einer Beschädigung oder Verletzung einbezogen werden. 

An dieser Einsicht kann wohl die Annahme zur Sicherheit werden, daß 
für das Auftreten von Potenzstörungen nach urologischen Operationen in 
erster Linie die endourethralen und endovesikalen Untersuchungs- und 
Behandlungsmethoden wirksam sind, die vor der Operation und in der Nach¬ 
behandlung Anwendung finden. 


Literatur 

Ferenczi: Analytische Deutung und Behandlung der psychosexuellen Impotenz 
beim Manne. Psych. Neur. Wchschft. X, 1908. 

— Hysterie und Pathoneurosen. Int. Psychoanal. Verlag 1919. 

— Versuch einer Genitaltheorie. Int. Psychoanal. Verlag 1924. 

Freud: Hemmung, Symptom und Angst. Int. Psychoanal. Verlag 1926. (Ges. Sehr., 
Bd. XI.) 

Guisy: Fernkomplikationen bei transvesikalen und perinealen Prostatektomien. 
Prä- und postoperative Geistesstörungen. Zeitschft. f. Urologie, Jahrgang 1912 
Band 6. 









140 Ladislaus Fe ssler: Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen 


Heinz Hartmann: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Verlag Georg Thieme in 27 
Zur Frage der Selbstblendung. Jahrbuch f. Psychiatrie u. Neurologie, Band 
Heft 2/3. 

Ein weiterer Beitrag zur Selbstblendungsfrage. Jahrbuch f. Psychiatrie u. NeuroWi» 
Band 44, Heft 1. g ' 

Hartmann u. Schilder: Zur Psychologie Schädelverletzter. Archiv f. Psychiatrie 
und Nervenkrankheiten, Band 75, Heft 2/3. 

Hitschmann: Phimose und Neurose. Zeitschrift f. Psychotherapie, Oktober 1950. 
K. Kleist: Postoperative Psychosen. Monographien aus dem Gesamtgebiete der 
Neurologie und Psychiatrie, Heft 11. 

Pilcz: Postoperative Psychosen. Wr. klin. Wochenschft. 1902, Nr. 36. 

J. Sa dg er: Über den Kastrationskomplex. Fortschritte der Medizin, kk. Jahrffan» 
Nr. 30 und Nr. 31. 00 8 

Neue Studien zur Kastration. Vortrag, gehalten auf dem V. Internationalen 
Kongreß für Psychoanalyse in Budapest. 

— Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen auf psychoanalytischer Grundlage 
Verlag Franz Deuticke 1921. 6 

Schilder: Über eine Psychose nach Staroperation. IZfPsA , VIII, 1922. 


Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt 

der Behandlung 

Von 

Eduard H i tschmann 

Wien 

Es ist nun ein Menschenalter her, daß Freuds Traumdeutung das Ver- 
ständnis der Träume gebracht hat, aber im allgemeinen beschäftigt sich kaum 
jemand mit der Traumwissenschaft. Nur wir Analytiker sind Traumkenner 
und Traumdeuter. Nicht die bravouröse Deutung eines einzelnen Traumes ist 
unsere Sache, sondern wir haben es mit Serien von Träumen eines Individuums 
zu tun, was unsere Sicherheit in der Deutung noch wesentlich erhöht. 

Das geringe Interesse der Menge an der Traumdeutung erklärt sich aus 
dem asozialen Charakter des Traumes, seinem normalen Vergessenwerden, 
seinem Verrat des verleugneten Triebhaften, seinem Versagen in prophetischer 
Hinsicht u. a. m. 

Ist die Traumsymbolik für den Analytiker ein selbstverständliches Verlä߬ 
liches Mittel zur Deutung geworden, so bringt der Laie der Anwendung der 
viel umfangreicheren Wissenschaft von der Symbolik auf den Traum einen 
nur hier mit solcher Respektlosigkeit möglichen VViderstand entgegen. 

Es mag daher ein unterstützender Beweis für die Symbolik nicht unwill¬ 
kommen sein. Details des Traumsymbols können nämlich im Laufe der 
Behandlung eines Neurotikers sich entsprechend seinem inneren Erleben ver¬ 
ändern. Der Eindruck dieser Abhängigkeit vom Erleben gibt dem Symbol 
einen erhöhten Wirklichkeitscharakter, Fleisch und Blut, Plausibilität von 
überzeugendem Grade. 
















































Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt der Behandlung 141 


Vergleichen wir z. B. die folgenden zwei Zahnträume einer wegen Frigi¬ 
dität behandelten Patientin, den ersteren aus dem Anfang der Kur, den 
weiten nahe der Heilung geträumten, so finden wir im ersten Traum den 
Männlichkeitswunsch und -stolz noch ganz in Blüte ausgedrückt. 

Erster Traum: Ich und Tante und noch jemand betrachten meine 
Zähne mit Spiegeln. Der Mund ist viel größer, meine Zähne sind größer als 
lei einem Mann, mit vielen Goldplomben und einer Brüche. Ich bin stolz auf 
dieses Gebiß , das ich von allen Seiten sehe. 

j m Traum der späteren Phase ist die Kastration, die Aufgabe der Männ¬ 
lichkeit und der Penis-Symbole als halluzinatorische, noch ambivalente Wunsch- 
erfüllung dargestellt. 

Zweiter Traum: Ich bin beim Zahnarzt wegen Plombieren. Er zog 
aber vier bis fünf untere Zähne. Ich bin erschreckt, wehre mich, sehe auf. 
Es ist der Analytiker. 

Ein dritter Traum, allerdings mit anderer Symbolik, soll uns die Patientin 
im Übergangs Stadium zeigen, in der Mitte der Behandlung. 

Dritter Traum: Ich hatte neue Schuhe an, sie schlossen sich, wurden 
immer größer, ich schenkte sie dem bösen Bruder. Ich traf die Verkäuferin 
und beschimpfte sie wegen des Größerwerdens. Dann aber war nur der linke 
Schuh der großwerdende. 

Es sei nun von den Variationen der Stiegenträume einer gleichfalls vaginal 
anästhetischen Patientin berichtet. 

Vierter Traum: Ich mußte über eine enge, oben schmäler werdende 
Wendeltreppe hinaufgehen, hatte Angst und Schwindel. Oben war ein ganz 
enges Stück, über das ich hinüber mußte; mein Kind war voraus, fiel nieder, 
blieb mit seinem Kleidchen hängen, ich rettete es. 

Am darauffolgenden Tag träumte die Patientin den folgenden Traum 
(Leiter statt Stiege). 

Fünfter Traum: Der Pelz meines Mannes hing im Vorzimmer, hatte 
aber ganz zerfetzte Ränder. Ich stieg auf einer nach oben enger werdenden 
Leiter mit Angst und Schwindel hinauf, um aus dem Aufsatzkasten etwas 
herauszunehmen; dies sollte zeigen, wie der Pelz meines Mannes hätte repariert 
werden sollen. Ich dachte: Jetzt kann mein Arzt doch nicht sagen, daß die 
Leiter etwas Sexuelles bedeute. Ich erwachte amüsiert lachend. 

Nun lasse ich zwei weitere Träume folgen, welche mehrere Wochen 
nachher geträumt sind. Ich verzichte auf jede weitere Deutung und bringe 
sie nur als Beispiel der Veränderung von Details am Symbol. 

Sechster Traum (Bruchstück): Mein Mann wollte, daß ich auf die 
Galerie des Festsaales hinaufgehen solle, die Stiege war breit, aber oben die 
Türe verschlossen. Ich mußte zurück und wollte nun über eine Wendeltreppe, 
die nach oben schmäler wurde, hinauf Ich zweifelte erst, ob es gelingen 
werde, kam aber dann *■erfolgreich hinauf Mein Mann kam nach ... es war 
festlich und schön und heiter. 

Siebenter Traum (fünf Tage nach dem vorigen geträumt): Es war 
auf der Straße, ich glaube in Tunis. Ich flüchtete mit meinem Kinde ängst¬ 
lich vor schwarzen Arabern in schwarzen Mänteln, die uns verfolgten. Dann 
fuhr ich mit der Wiener Elektrischen zu einem alten Haus in die Burggasse; 
und so schrecklich und finster ich die hohe Stiege erwartete, so schön war sie 












142 E. Hitsdimann: Wandlungen derTraumsymbolik beim Fortschritt der Behandlung 

zu meiner Überraschung, und ich hatte im Hause keine Angst mehr . Di e 
Stiege -war warm, hell, sc/zorc geputzt und festlich . redete mir zu, es 

werde alles gut gehen, und ich kam gut hinauf 

Dieser Traum entsprach einem wesentlich vollkommeneren Genuß am 
Koitus und der Wahrnehmung eines Orgasmus als Abschluß. Der Traum 
mit dem Koitus-Symbol der Stiege ist als ein aus Identifizierung mit 
dem Mann entspringender anzusehen, denn er verbindet sich ja mit der 
Symbolik der verschlossenen Türe und dem Eindringen in ein Haus. Diese 
Fehlidentifizierung mit dem beim Koitus aktiv tätigen Mann entspringt dem 
Penisneid und Männlichkeitskomplex der frigiden Frau. 

Nach dem gewandelten Symbol der Zähne und der Stiege sei noch 
erinnert an einen Wandel am Symbol des Schmuckkästchens, den 
ich im Jahre 1911 im Zentralblatt für Psychoanalyse beschrieben habe. 
(„Ein Fall von Symbolik für Ungläubige.“) Eine Dame, die schon einmal 
dem Hausarzt einen Traum von ihrem „Schmuckkästchen“ erzählt hatte, verriet 
ihm die plastische Operation, die sie sich ohne sein Vorwissen zur Verengerung 
ihrer Scheide hatte machen lassen, durch Bericht über einen neuerlichen 
Traum, in dem sie dem Arzt das „Schmuckkästchen ihrer Kindheit“ vorwies. 































REFERATE 


Aus den Grenzgebieten 

Murray, C. D., Ph. D.: Psychogenic Factors in the 
Etiology of Ulcer ative Co litis and Bloody Diarrhea. 
Am. J. Med. Sei. Vol. CLXXX., No. 2. Philadelphia. IQ30- 

Verfasserin berichtet über Untersuchungen, die zur Aufhellung des Grenz¬ 
gebietes zwischen Psyche und Soma beizutragen berufen sind. Untersuchungen 
dieser Art bilden einen Teil des Programmes der „Constitution Clinic“. Sie 
wurden an an ulzeröser Colitis Erkrankten vorgenommen und ergaben engste 
Beziehungen zwischen psychischen Konflikten der Patienten und ihrem Leiden. 
Diese Beziehungen ließen sich teils aus der Vergangenheit der Patienten 
rekonstruieren: aus Koinzidenzien in Lebensgeschichte und Krankengeschichte; 
teils aus dem zeitlichen Zusammenfällen des aktuellen Krankheitsausbruches 
mit einem psychischen Konflikt der Patienten. 

Die der Mitteilung zugrunde liegenden Untersuchungen an zwölf Colitis- 
Kranken ergaben die Feststellungen, daß A n g s t ein wesentliches ätiologisches 
Moment bei ulzeröser Colitis sei, und daß die Infantilität des Gefühls¬ 
lebens bei diesen Kranken ausnahmslos vorhanden war, entsprechend der 
infantilen Art, mit Diarrhöe auf Angst zu reagieren. Verfasserin erwähnt, 
daß Draper and Mc. Graw schon den Charaktertypus des an Magengeschwüren 
und Colitis Leidenden fest umschrieben haben, sie aber die von ihnen be¬ 
schriebenen infantilen Züge nur bei Colitis gefunden habe, während ihrer 
Erfahrung nach Magengeschwüre mit einer größeren Reife des Gefühlslebens 
einherzugehen pflegen. Als Bestätigung ersterer Behauptung wird die Lebens¬ 
geschichte der untersuchten sieben Männer und fünf Frauen angeführt, deren 
Gefühlsbindung an die Eltern klar zutage trat. So waren „einige dieser 
Männer nicht mehr als dreißig Tage ihres ganzen Lebens von der Mutter 
entfernt. Keiner war verheiratet** und bei dem größeren Teil von ihnen fiel 
der Anfang ihrer Colitis mit dem Konflikt zwischen ihrer Mutterbindung und 
dem Wunsch, sich zu verheiraten, zusammen — psychische Wiederholung 
ihrer Geburt (!). Von diesen Patienten hatten fünf von sieben nachgewiesener- 
weise Geschwüre in der Darmwand, blutiger Stuhl war bei allen ständig 
vorhanden 4 . Die fünf Frauen wiesen letzteres Symptom ebenfalls auf, Ge¬ 
schwüre in der Darmwand waren bei zweien festgestellt worden. Die Ehe- 






144 


Referate 


geschiehten ergaben: bei 1) Verheiratung mit einem Manne gleichen Alter 
der ständig im Elternhaus der Frau lebte. Bei 2) Verheiratung mit eine ’ 
Manne doppelten Alters. Bei dem Versuch, sich von diesem Vaterersatz Iq^ 
zumachen, brach die Colitis aus. 3) war insgeheim verheiratet. Am Hochzeits 
tag bemerkte sie zum erstenmal lange Schleimfäden in ihrem Stuhl. Als nach 
zwei Monaten der Tod des Vaters sie ins Elternhaus zurückbrachte und sie 
der Mutter ihre Ehe weiter verheimlichte, bemerkte sie nach der Rückkehr 
an ihren ständigen Aufenthaltsort Blut und Eiter in ihrem Stuhl. Zu der Zeit 
tauchte auch der Verdacht einer Gravidität auf. Als sie nach dreitägigem 
Spitalsaufenthalt beschloß, die Mutter von ihrer Verheiratung in Kenntnis 8 zu 
setzen, hörte ihre Diarrhöe auf. Bei 4), die verlobt war, verhinderte Colitis 
im Dienste ubzv Tendenzen die Heirat. 5) war dem Ehethema gegenüber 
derart unzugänglich, daß sich keinerlei Feststellung bei ihr machen ließ! 

Bemerkenswert ist, welch ernste Erkrankungsformen in Erscheinung 
treten können, bei zeitlichem Zusammentreffen psychischer Konflikte mit dem 
Beginn der Krankheitssymptome, besonders bei Vorhandensein eines oder 
mehrerer der folgenden Umstände: „1) Wenn der seelische Konflikt tief ver¬ 
ankert, chronisch oder nicht leicht zu beheben ist. 2) Wenn eine spezifische 
Infektion vorliegt (wobei der ungünstige seelische Zustand dem Überhand¬ 
nehmen der Infektionen Vorschub leisten kann). Und, obwohl schwer zu 
bestimmen, müssen wir hinzufügen, wenn 3) das Individuum durch Disposition 
irgendwelcher Art, sei es Vererbung, frühe Angewöhnung, allgemeiner körper¬ 
licher oder nervöser Habitus usw., zu Darmbeschwerden neigt.“ Obzwar keine 
regelrechte Psychoanalyse bei Spitalspfleglingen durchführbar ist, suchte Ver¬ 
fasserin immerhin durch eingehende psychologische Untersuchung der Lebens¬ 
geschichte und der psychischen Lebenseinstellung der Patienten Gelegenheit 
zu psychotherapeutischer Hilfeleistung. 

Da in keinem der Fälle eine regelrechte Analyse durchgeführt wurde, 
konnte bedauerlicherweise weder die Genese der Angst, die den Zuständen 
zugrunde lag, noch auch ihr Zusammenhang mit den auf der Oberfläche 
angetroffenen Eheproblemen näher ergründet werden. 

Kata Levy (Budapest) 

Anschütz, Dr. Georg: Das Farbe-Ton-Problem im 
psychischen Gesamtbereich. Deutsche Psychologie, V., 5 . 
Carl Marhold, Verlagsbuchhandlung, IQ2Q. 

Die Studie zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil erhalten wir eine knappe, 
objektiv gehaltene Zusammenfassung über das Synästhesieproblem. Es wird das 
Nichtmitwirken des bewußten Denkens, die Analogie von synoptischen Er¬ 
scheinungen und Traumbildern hervorgehoben, auch auf die in einigen Fällen 
mögliche analytische Deutung hingewiesen und besonders die vielseitigen 
Arten mit ihren einander widersprechenden Eigenschaften aufgezählt. Der 
zweite Teil gibt die Darstellung eines einzigen Falles, ausführlich für den 
Systematiker der Symptome, allerknappest für die analytische Erfassung. Es 
soll die auftauchende Frage unerörtert gelassen werden, inwieweit die Per¬ 
sönlichkeit des Darstellers R. pathologisch ist. Mit dem Hinweis auf den 










































Referate 


145 


U £ zum Mystischen wäre für die Erklärung noch nichts gewonnen. Viel¬ 
leicht mehr, wenn man die infantile Geschichte von einer Riesenschlange, 
die vor seinen Augen erschossen wurde, weiter verfolgen könnte. Es heißt 
auch in dem Protokoll eines Versuches, es kommen Ringe, wie eine Schlange. 
Und die Abbildungen sind voll von ringartigen, dann von züngelnden Ge¬ 
bilden auch Schlangenlinien treffen sich an. Ellipsen gehen in der Ent¬ 
fernung auseinander und „stellen so Schweife dar“. Klinisch wichtig ist es, 
daß die Sichtgebilde im Falle R. jederzeit „erdrückt“ werden können, und 
da wirft sich die Frage auf, ob denn unterdrückte Synopsie und Depersonali¬ 
sation nicht organisch zusammen gehören, wie ich es auf Grund von beob¬ 
achteten Fällen vermute. Hermann (Budapest) 

Hoesslin, J. K.: Die Abstufungen der Individualität. 
Beihefte zu den Annalen der Philosophie und philosophischer 
Kritik. H. IO. Felix Meiner, Leipzig, 1929. 

Zweck des Buches ist, das Schöpferische im Menschen in Analogie mit 
dem Schöpferischen in der Natur zu erklären. Als Erklärungsgrundlage gilt 
der transzendentale Urgrund des Naturganzen, dessen Auszweigung im Menschen 
als Ich-Metaphysisches angenommen wird. Regressive Eröffnungen dieser Ich- 
Tiefe ergeben das Schöpferische. Inmitten dieser Abstraktionen kann der Leser 
Hinweise auf Freuds Psychologie finden, so in der Lehre von den 
„ Wunscherfüll ungsvorgaukelungen“ im Aufbau der peripheren Charaktere. 
Und auch außerhalb dieser Hinweise bemerken wir Psychoanalytisches, so in 
der Behauptung von der Übertragung von den Zielen auf die sie bedingenden 
Mittel, in der Rollenzuweisung für die Liebe, für den „ereinheitlichenden 
Prozeß. Natürlich könnte auch umgekehrt auf die Lehre vom Es diejenige 
vom Ich-Metaphysischen befruchtend wirken, wäre die letztere nicht durch 
und durch philosophische Abstraktion. Schön ist die Durchführung der Tendenz, 
alle seelische Umwandlung dem ganzen Ich und nicht einem Ich-Mosaik zu¬ 
zuschreiben. Hermann (Budapest) 


Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur 

Mauz, Friedrich (Marburg): Die Prognostik der endogenen 
Psychosen. Thieme, Leipzig, IQ 3 °- 121 S. 

Es handelt sich um den Versuch, die K r e t s c h m e r sehe Lehre in syste¬ 
matischer Weise für die Prognostik der Schizophrenie und des manisch- 
depressiven Irreseins fruchtbar zu machen. Der Fragestellung entsprechend 
rückt dabei der konstitutionelle Gesichtspunkt in den Vordergrund, ohne daß 
jedoch das reaktive Moment völlig vernachlässigt wäre. Das Buch ist Ergeb¬ 
nis weiter und eingehender persönlicher Erfahrung und besonnen in seinen 
Schlußfolgerungen. Es wird für jeden, der an dem behandelten Fragenkreis 
interessiert ist, notwendig sein, sich mit der Arbeit auseinanderzusetzen. 

Das zugrundegelegte Material umfaßt etwa 1500 Psychosen, 1050 Fälle mit der 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 10 










146 


Referate 


Diagnose Schizophrenie, 420 Fälle mit der Diagnose manisch-depressives Irre- 
sein. Als wesentliches Kennzeichen der schizophrenen Prozeßhaftigkeit gilt 
dem Yerf. das Erlebnis des Bedrohtseins des Ich und seiner Einheitlichkeit 
das Erlebnis des Individualitätszerfalls, des Verändertseins, des fehlenden Akti¬ 
vitätsbewußtseins. Die entsprechenden Einzelsymptome sind: Gedankenentzug 
gemachte Gedanken, Beeinflussungsgefühl u. ä. Verf. spricht vom „organischen“ 
Charakter dieser Symptome. Je heller und besonnener solche Symptome auf- 
treten, um so sicherer sind sie „prozeßorganisch“ — ein Gesichtspunkt, den 
wir auch bei Bleuler finden. Im Verlauf des Prozesses unterscheidet Verf. 
zwei Formen: die Katastrophe und den Schub. Die erstere Form ist relativ 
selten; ihr Erkrankungsalter liegt um das zwanzigste Jahr herum. Die pyk- 
nische Körperbauform fehlt unter den schizophrenen Katastrophen gänzlich. 
Übrigens tritt diese Art des Verlaufs bei den „schizokaren“ Fällen (d. h. solchen 
die im Kern der Persönlichkeit schizophren „zerfallen“) fast ausschließlich bei 
Kranken einer höheren Bildungsschicht auf. Eine ihrer Voraussetzungen auf 
dem Gebiete der Persönlichkeitsgrundlagen scheint also ein gewisses Maß von 
seelischer Differenzierung zu sein. Im übrigen entspricht die prämorbide Per¬ 
sönlichkeit dieser Fälle der „hyperästhetisch-autistischen Kerngruppe des 
Schizoids 4 (in der Bezeichnung von Kretschmer). In der prämorbiden 
Persönlichkeit der katatonen Formen des Katastrophen Verlaufs überwiegen Ein¬ 
seitigkeit und Starrheit, fehlende Konziliantheit, innere Reizbarkeit; bei den 
hebephrenen Formen findet sich ein deutliches „Vorwiegen des Triebhaften“. 
Diese drei Gruppen der katastrophalen Verlaufsformen lassen sich auch nach 
ihrem Körperbau differenzieren: der schizokaren entsprechen schlanke lepto¬ 
some und extrem asthenische Formen, der katatonen athletische und kräftig 
leptosome, der hebephrenen dysplastische. Der schizophrene Schub kann — im 
Gegensatz zur Katastrophe — auch bei pyknischen Konstitutionen auftreten. 
Bei den schubweisen Verläufen stehen das paranoide und das paraphrene 
Syndrom im Vordergrund. Man darf bei diesen Fällen, wenn sie einmal einen 
Schub durchgemacht haben, nicht jedes weitere Manifestwerden schizophrener 
Symptomatik als prozeßbedingt ansehen; hier ist ein Punkt, an welchem auch 
der Autor das Wirksamwerden psychisch-reaktiver Momente gelten läßt. Für 
die Prognose der paranoiden Erkrankungen, für ihre Heilbarkeit oder Unheil¬ 
barkeit, ist die Intensität des Prozesses von relativ geringer Bedeutung; Tem¬ 
perament, Triebleben, Milieu spielen hier eine entscheidende Rolle. Unter 
dem Material des Autors finden sich 14 Fälle, die nach Art einer „Reaktion“ 
begonnen haben; nur vier sind in Heilung übergegangen. Als wichtigste 
Erlebnisreize — sowohl bei den geheilten wie bei den ungeheilten Fällen — 
kommen nach M. religiöse und sexuelle Erlebnisse in Betracht. Die Prognose 
der reaktiv beginnenden (und ebenso auch der „ausgelösten“ und der „ver¬ 
ständlichen“) Schizophrenien ist nicht günstiger als die der „rein endogenen“ 
Formen. Praktisch wichtig ist auch die rechtzeitige Erkennung etwaiger psycho¬ 
gener Momente in der Verursachung schizophrener Schübe; hier kann psycho¬ 
therapeutisches Eingreifen die Prognose günstiger gestalten. Psychogene Schübe 
können, nach Verf., sein: Flucht in die Krankheit oder Komplexreaktion. Als 
die wesentlichsten Komplexgruppen führt der Autor da drei psychische Gebilde 
an, die eine Nebeneinanderordnung in einer Ebene wohl kaum vertragen, 
nämlich: Vaterkomplex, Angstkomplex und Insuffizienzkomplex. In der Über- 












































Referate 


147 


eit zwischen aktuellem Prozeß und relativ stabilem schizophrenem 
® Defekt“ können ebenfalls Außenwelteinflüsse von maßgebender Bedeutung 
werden. — Im Rahmen des manisch-depressiven Irreseins ist Verlauf und 
Ausgang der periodischen Depressionen, ihr Auftreten oder Ausbleiben nicht 
lediglich endogen bedingt. Der Arzt kann hier Einfluß auf die Verlaufspro¬ 
gnose nehmen. Auch bei den Manisch-Depressiven erweist sich die progno¬ 
stische Bedeutung des Körperbautypus, u. zw. ist der Konstitutionstypus ent¬ 
scheidend für die Frage, ob eine tiefere Form der Destruktion der Per¬ 
sönlichkeit eintreten wird. Psychosen mit echtem pyknischem Körperbau 
verlaufen sowohl im schizophrenen, wie im mechanisch-depressiven Formenkreis 
vorwiegend günstig. Im prämorbiden Persönlichkeitsbild der Manisch-Depres¬ 
siven sind hyperthyme und depressive Psychopathien relativ selten; dagegen 
findet sich eine Häufung „gesunder unauffälliger zyklothymer Menschen“. 
Prognostisch wichtig ist auch die „Tiefe“ der Endogenität, dann aber auch 
körperliche Momente (die Disposition der Pykniker zu Arteriosklerose, Rheuma¬ 
tismus, Diabetes, Gicht ist bekannt). Der Psychotherapie läßt M. bei den 
Manisch-Depressiven nur wenig Raum — wesentlich scheint sie ihm nur im 
Zeitpunkt des Abklingens der Depressionen zu sein. Er meint, daß länger 
bestehende endogene Depressionen nicht selten „durch eine Psychogenie der 
seelischen Oberschichten“ kompliziert werden, die psychotherapeutisch ab¬ 
gebaut werden kann. Wichtig scheint auch die Beobachtung, daß ein völlig 
abartiger Körperbau oder besondere körperliche Dispositionen prognostisch 
schwerer wiegen, als geringe heterogene Wesenszüge. — Die Welt, aus der 
dies Büchlein kommt, ist eine andere als die der Analyse; aber es ist keine 
der Analyse feindliche Welt. Es kann auch für den Analytiker fruchtbar sein, 
seine (ganz anders gewonnenen und strukturierten) Erfahrungen an den Tat¬ 
sachen und Überlegungen zu messen, die der Autor ihm vorlegt — und 
umgekehrt! H. Hartmann (Wien) 


Carp, E. A. D. E.: Über den Anteil der psychoanalytischen 
Auffassungen an der Kenntnis der involutiven und 
präsenilen Geistesstörungen. Psychiatr. en Neurol. 
Bladen, 33» 5* Oktober 1929- 

■ 

Eine dankenswerte Zusammenstellung über ein unseres Wissens von der 
Psychoanalyse direkt kaum noch in Angriff genommenes Thema. Da die in 
Frage stehenden Psychosen meist unter dem Bilde der Angst, der melancho¬ 
lischen Depression oder der paranoiden Wahnbildung verlaufen, wird dabei 
hauptsächlich das psychoanalytische Wissen über die Mechanismen dieser 
drei Syndrome sowie die libidotheoretische Bedeutung des Klimakteriums 
und des Rückbildungsalters überhaupt auseinandergesetzt. Die Darstellung 
bleibt theoretisch, auf Krankengeschichten wird kaum Bezug genommen. 
Aber auch diese theoretische Darstellung leidet darunter, daß neben den 
Auffassungen von Freud, Abraham, Ferenczi und anderen Psycho¬ 
analytikern auch die „Annullierung“ von St ekel, die etwas anderes sein 
soll als die „Verdrängung“, herängezogen wird; auch werden verschieden¬ 
artige Auffassungen von differentem Niveau vielfach systemlos nebeneinander 
gesetzt. Dennoch muß es als Verdienst des Autors gewertet werden, die 

IO* 










148 


Referate 


psychoanalytische Aufmerksamkeit auf das interessante und (aus begreiflichen 
Gründen) allzu vernachlässigte Gebiet der Involutionspsychosen gelenkt zu 
haben. F enichel (Berlin) 

Steinach, E.: Ein Reizstoff des Zentra I org ans und 
die zentrale Funktion. Medizinische Klinik Nr. 33 » I92Q. 

Steinach berichtet über neuartige Versuche, die er unter teilweiser 
Mitwirkung von H. Kun ausgeführt hat. 

Im Jahre 1910 hatte Steinach einwandfrei nachgewiesen, daß es bei 
verschiedenen Tieren gelingt, durch Keimdrüsentransplantation eine weitgehende 
Veränderung der sekundären Geschlechtsmerkmale und auch des sexuellen 
Verhaltens der Tiere zu erreichen. Kastrierte Frösche wurden durch die 
Transplantation von Hodensubstanz eines brünstigen Männchens derartig be¬ 
einflußt, daß sie sich hinsichtlich des Umklammerungsreflexes wie normale 
brünstige Männchen verhielten. Das gleiche Resultat konnte auch erzielt werden, 
wenn man den Tieren Injektionen von Gehirn-, respektive Rückenmarksubstanz 
verabreichte. 

Auch die neuen Versuche wurden zum größten Teil an Fröschen aus¬ 
geführt. Steinach behandelte die Tiere in der Weise vor, daß er ihnen 
Hirnpreßsaft oder Hirnextrakt in den Rückenlymphsack injizierte. Die 
Kontrolliere wurden zum Teil unbehandelt gelassen, zum Teil wurde ihnen 
das gleiche Quantum indifferenter Lösungen injiziert. 

St. untersuchte nach dieser Vorbehandlung die Reflexerregbarkeit der Tiere 
und zwar nach vorangehender Dekaptivierung. Er prüfte den sogenannten 
Wischreflex. Bringt man die Pfote eines dekaptivierten Frosches in eine ver¬ 
dünnte Essigsäurelösung, so zieht er die Pfote reflektorisch zurück. St. prüfte 
den Grad der Reflex er regbarkeit in der Weise, daß er sich eine Verdünnungs¬ 
skala von Essigsäurelösungen herstellte und untersuchte, bei welcher Ver¬ 
dünnung noch eine reflektorische Bewegung der Pfote auftrat. St. konnte be¬ 
obachten, daß die mit Hirnpreßsaft oder Hirnextrakt vorbehandelten Tiere 
eine größere Reflexerregbarkeit auf wiesen als die Kontrolliere. Als Ausgangs¬ 
material wurde Hirnsubstanz verschiedener Tiere verwendet und es zeigte 
sich, daß alle versuchten Hirngattungen eine Reflexerregbarkeitserhöhung her- 
vorrufen, daß also die Wirkung nicht artspezifisch ist. 

Eine weitere Versuchsanordnung wurde in der Weise angestellt, daß 
St. untersuchte, wie viele Fliegen in einer bestimmten Zeit von unvorbe- 
handelten Fröschen geschnappt werden, und wie viele von den mit oben er¬ 
wähnten Substanzen vorbehandelten. Es scheint auch da eine erhöhte Reflex¬ 
tätigkeit durch die Injektionen hervorgerufen zu werden. Jedoch sind die 
Resultate da nicht so eindeutig wie bei der Prüfung des Wischreflexes. 

Am wichtigsten für uns sind die Schlußfolgerungen, die St. aus seinen 
Versuchen zieht. Er stellt die Vermutung auf, daß geistige Unterentwicklung, 
Krankheiten des Zentralnervensystems und psychische Anomalien auf einen 
Mangel oder einer Mangelhaftigkeit eines von ihm als „Reizstoff“ bezeichneten 
Agen$ beruhen könnten. In allen solchen Fällen schlägt er vor, therapeutische 
Versuche zu machen, die darin bestehen sollen, den Patienten den „R 3izstoff 
in Form von aus Zentralorgan hergestelltem Material zu injizieren. 








































































Referate 


149 


Als vor Jahren die Steinachschen Hoden-, resp. Ovarientransplantations- 
ebnisse mitgeteilt wurden, aus denen hervorging, daß man durch diesen 
riff die sekundären Geschlechtsmerkmale und auch das psychosexuelle 
Verhalten der Tiere zu maskulinisieren, respektive zu femininisieren im- 
tande ist, hegte man die berechtigt erscheinende Hoffnung, daß man da mit 
einem Schlage die Therapie der Homosexualität gefunden hätte. Es stellte 
sich dies aber nachträglich als großer Irrtum heraus. Die Frage der Homo¬ 
sexualität konnte von ihrer psychischen Seite her Aufklärung und vielfach 
auch Heilung finden, die Heilungen von der organischen Seite schlugen 
fehl Es ist ja auch da sehr wahrscheinlich, daß zu den psychischen Erlebnis¬ 
faktoren noch irgendwelche körperlicher Art hinzukommen, aber offenbar 
liegen die Dinge da viel komplizierter, als man ursprünglich vermutete. 

Aus diesen Erfahrungen heraus erscheint uns bei den neuerlichen Er¬ 
gebnissen und den aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen schwerste Skepsis 
geboten, besonders wenn man bedenkt, daß hier alles noch viel komplizierter 
liegt als bei der Frage der Homosexualität. Unsere Skepsis bezieht sich vor 
allem auf die von St. erwähnte Möglichkeit der Therapie psychischer Anomalien 
durch Injektion von „Reizstoff“. 

Unabhängig von St. wurden an der Bi er sehen Klinik therapeutische 
Versuche mit einem aus Hirnsubstanz und Strychnin hergestellten Präparat 
gemacht, und zwar an Fällen von Tabes, Paralyse und multipler Sklerose. 
Die Ergebnisse lauten günstig; aber wenn man bedenkt, wie intensive Remissionen 
bei diesen Erkrankungen auch ohne Therapie auftreten, so muß man sich 
auch da zunächst skeptisch abwartend verhalten. 

Haberlandt in Innsbruck konnte die Versuchsergebnisse Steinachs an 
Fröschen bestätigen. H. L a m p 1 (Berlin') 


Künkel, Fritz: Arbeit am Charakter. Friedrich Bahn, Schwerin 
i. Mecklenburg. 

Wie alle Individualpsychologen, grenzt sich Künkel offen von der kausalen, 
naturwissenschaftlichen Psychologie ab. Er steht auf dem Boden einer teleo¬ 
logischen, von religiösen Vorstellungen stark durchsetzten Weltanschauung, was 
sich schon darin ausdrückt, daß er jedem Kapitel eine „Regel an fügt, im 
wesentlichen moralische Vorschriften für das praktische Handeln, die er aus 
seinen psychologischen Erkenntnissen ableiten zu können glaubt. 

Der Autor gliedert sein Buch in vier Abschnitte. Im ersten setzt er die 
Grundbegriffe der individualpsychologischen Charakterologie auseinander, die 
drei anderen beschäftigen sich mit Erziehung, Selbsterziehung und Heilung. 
Der Charakter wird nach der individualpsychologischen Auffassung rein final 
durch das „Leitbild“ bestimmt, d. h. durch das Festhalten an irgend einer 
narzißtisch betonten Zielvorstellung, wie etwa, „ein Mussolini sein u. dgi. 
„Das Ziel der Charakterforschung läßt sich demnach formulieren als die Fest¬ 
stellung des im Menschen wirksamen Leitbildes, und das Ziel der Charakter¬ 
beeinflussung stellt sich nunmehr dar als die Veränderung derjenigen Leitbilder, 
die sich als unbrauchbar erweisen“ (S. 23). Das „Leitbild ist immer etwas 
Einheitliches, auch wenn Ambivalenz der hervorstechendste Zug eines Menschen 











150 


Referate 


sein sollte. Ein ambivalenter Mensch habe eben das Leitbild: ich will auf 
nichts verzichten. Es ist evident, wie die finale Betrachtungsweise das Ver¬ 
ständnis der psychischen Dynamik völlig unmöglich macht. 

Ebenso flach und unbefriedigend — ganz abgesehen von dem moralisieren¬ 
den Schwulst, der die Lektüre des Buches sehr erschwert — ist, was der 
Autor über Erziehung und Charakterbildung zu sagen hat. Besonders bezeich¬ 
nend für die Art individualpsychologischer Gedankengänge ist das Kapitel über 
die Geschlechtsreife, wo wörtlich zu lesen steht: „Die geschlechtlichen Fragen 
sind bei Kindern zu neunzig Prozent nicht geschlechtlicher, sondern kämpfe¬ 
rischer Natur. Das Kind ist auf irgend eine Weise in Gegensatz zu den 
Erwachsenen gekommen und es benutzt im Kampf um seine Selbstbehauptung 
alle Waffen, die sich als geeignet erweisen, und da ergibt es sich bald, daß 
die wirksamsten Waffen dem sexuellen Gebiet entstammen“ (S. 65). Also: 
Onanie, sexuelle Neugierde und alle anderen Äußerungen des kindlichen —- 
übrigens auch des erwachsenen — Sexuallebens sind nicht Auswirkungen von 
Trieben, die im Körperlichen wurzeln, sondern sie sind nur Äußerungen des 
Machttriebes. ^ „Den Geschlechtstrieb gibt es nämlich nur in der Phantasie 
der ,Mutlosen und onaniert wird nur aus Minderwertigkeitsgefühl“ (S. 68 
S. 69). Mit dieser Auffassung der Sexualität spricht sich die Individualpsycho- 
logie selbst das Recht ab, wissenschaftlich ernst genommen zu werden. 

Die individualpsychologische Therapie besteht im wesentlichen in einer 
Auflockerung des narzißtischen Überbaus der Persönlichkeit. Auch der Analytiker 
muß in den meisten Fällen diesen Überbau zerstören, um seine Patienten 
überhaupt analysefähig zu machen. Während aber für den Analytiker dann 
erst die wirkliche Arbeit beginnt — nämlich die Behebung von Verdrän¬ 
gungen und die Befreiung der Libido —, fügt der Individualpsychologe noch 
ein wenig Moral und Ermutigung hinzu und ist befriedigt. 

Bei der Lektüre individualpsychologischer Werke nimmt es immer wunder, 
daß derartige Banalitäten eine solche Popularität genießen können, aber an¬ 
scheinend verdankt die Individualpsychologie ihre Popularität gerade ihrer 
Banalität. . . _ . 

Anme Reich (Wien) 


Aus der psychoanalytischen Literatur. 

Medical Review of Reviews, 412, März 1930, „Psycho- 
pathology Number“, herausgegeben von D. Feigenbaum. 

Die Redaktion der bekannten amerikanischen medizinischen Zeitschrift hat 
von Feigenbaum eine Sondernummer zusammenstellen lassen, um ihre 
Leser über psychoanalytische Themen zu informieren. Ein Vorwort von 
Freud betont, daß ein solches Unternehmen bei den oberflächlichen Vor¬ 
stellungen, die die meisten amerikanischen Ärzte über Psychoanalyse haben, 
sehr begrüßenswert ist, und wünscht ihm Erfolg. — Feigenbaum stellte 
den mitwirkenden Analytikern zwei Themen zur Diskussion: Neurasthenie 
und Charakteranalyse. Während das zweite Thema in jeder Beziehung sehr 
geeignet erscheint, bleiben Zweifel, ob die Erforschung der Aktualneurosen 




















































Referate 


151 


eits so weit abgeschlossen ist, daß sie einem analytisch ungebildeten Leser- 
k'se klar vermittelt werden kann, und insbesondere, ob dieses Thema gerade 
r61 ee ignetste ist, um in die psychoanalytische Gedankenwelt einzuführen. 
^Tatsächlich merkt man schon nach der Lektüre einer neutralen historischen 
Einleitung von Bunker, die als Verdienst Freuds preist, daß er als erster 
aus dem verschwommenen „Neurasthenie“begriff Beards eine nosologische 
Einheit herausgearbeitet hat, daß sich die Autoren über deren Wesen noch 
keineswegs einig sind. So hebt Wechsler, einig mit Freud in der Be¬ 
tonung des somatischen Charakters der Neurasthenie, die ganzen Freudschen 
Einsichten in die Ätiologie der Aktualneurosen wieder auf, wenn er — ganz 
w ie man es vor Freud tat — das konstitutionell-hereditäre Moment in den 
Vordergrund schiebt, ohne zu sagen, was wir uns konkret unter einem 
solchen Moment vorzustellen haben, und wenn er dann die Ähnlichkeit des 
Symptomenbildes mit dem, das bei Erkrankungen der Nebennieren entsteht, 
hervorhebt. Das entgegengesetzte Extrem vertritt Brill; er will den Lesern 
die gewiß berechtigte Warnung zukommen lassen, bei psychisch unklaren Neu¬ 
rosenbildern nicht eilfertig „Neurasthenie“ zu diagnostizieren, weil sie sich meist 
doch als verkappte Hysterien, Zwangsneurosen oder Psychosen entpuppen; 
er geht aber darin so weit, die Existenz libidinös-somatischer Krankheiten 
überhaupt zu bezweifeln. — Federn untersucht das bisher kaum beachtete 
Gebiet des „neurasthenischen Kerns hysterischer Symptome“. Als „somatisches 
Entgegenkommen“, das die Lokalisation konversionshysterischer Symptome 
mitdeterminiere, komme neben eigentlich somatischer Veränderung eines Organs 
— und häufiger als diese — eine organlibidinöse Veränderung und dadurch 
bedingte neurasthenische Sensationen in Betracht. Es komme dann häufig 
vor, daß die Psychoanalyse den „Überbau" des konversionshysterischen 
Symptoms zum Schwinden bringe, so daß dann der darunterliegende neur¬ 
asthenische „Kern“ manifest werde. Besonders häufig sei das bei hysterischen 
Schwangerschaftssymptomen und bei solchen Symptomen, die mehr den Ab¬ 
wehrkräften als den sich gegen sie durchsetzenden infantilen Trieben Ausdruck 
geben. — Fenichel versucht als notwendige Einleitung zu jedem Studium 
aktualneurotischer Probleme eine systematische Darstellung der „Hypothese 
der Organlibido“. Leider wird ihr Verständnis durch einige Übersetzungsfehler 
erschwert. Es mag noch angehen, wenn „Orgasmus mit ,,organism über¬ 

setzt erscheint, da der Leser wohl das Richtige erraten wird; völlig verwirrt 
muß der Leser aber werden, wenn gerade dort, wo der Gegensatz zwischen 
Organ und Organrepräsentanz auseinandergesetzt wird, an Stelle von „Organ 
,, organrepresentation 1 steht. — Schilder, dessen Beitrag sich merkwürdiger¬ 
weise in die zweite Hälfte des Buches, mitten unter die Charakterarbeiten 
verirrt hat, gibt eine besonders diesen Aufsatz ergänzende Zusammenstellung 
der psychoanalytischen Ansichten über Neurasthenie und Hypochondrie mit 
besonderer Hervorhebung der Rolle des „Körperschemas und des sadistischen 
und „ Kastrations“gehalts der hypochondrischen Symptome. Dagegen sind die 
Ansichten Schilders über die Rolle der „Arbeit in der Ätiologie der 
Neurasthenie nicht sehr klar. Es erscheint uns fraglich, ob gerade der „Ge¬ 
schäftsmann von 40“ zur Neurasthenie prädestiniert sei; Schilder meint, 
derselbe hätte in seiner Arbeit so viel (sadistische) Libido investiert, daß 
dadurch früher oder später das Sexualleben (die Potenz) gestört werden müsse; 









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Referate 


die Sehnsucht, sich vom Geschäftsleben wieder mehr dem Liebesieben zuzu¬ 
wenden, sei dann der Anlaß der Neurasthenie. 

Die Arbeiten zur Charakterfrage werden von einem sehr lesenswerten 
zusammenfassenden Artikel von Hedwig S c h a x e 1 eingeleitet, der den gegen¬ 
wärtigen Stand der psychoanalytischen Charakterforschung skizziert: Er legt 
die Erkenntnisse über Libido- und Ichentwicklung dar und verbreitet sich 
hauptsächlich über die Über-Ich-Bildung und ihre Schwierigkeiten sowie über 
die Beziehung der prägenitalen Organisationsstufen zum Charakter. — Von 
den Einzeldarstellungen bestimmter Charakterfehlentwicklungen scheint uns 
die von L e w i n über den Zwangscharakter die gelungenste, sowohl deskriptiv 
als auch genetisch. Wichtig sind die Hinweise, daß solche symptomfreie 
Zwangsneurosen häufig in der Kindheit doch kleine echte Zwangsneurosen 
durchgemacht haben, und auf die Erleichterungen, die unsere heutige Kultur 
gerade einer Neigung zur Regression auf die anal-sadistische Stufe bietet. 
Leider bleibt, was über die Differentialätiologie von Zwangsneurose und 
symptomfreiem Zwangscharakter gesagt wird, rein deskriptiv; hier sind noch 
wichtige Fragen für künftige Forschung offen. — Im Gegensatz dazu erscheint 
die Arbeit über den „hysterischen Charakter“ von Wittels oberflächlich 
und unbefriedigend. Sie wird am besten durch kurze Zitate charakterisiert: 
„Meine Beobachtungen, die ich bald publizieren werde, haben mich zu dem 
Schluß geführt, daß die Entwicklungslinie vom Kind über das Weib zum 
Mann geht und über ihn zum desexualisierten, intelligenten Schöpfer, dem 
zivilisierten^ Menschen. Der Fixierungspunkt der Hysterie liegt zwischen Kind 
und Weib. Der Hysterie fehle das männliche schöpferische Prinzip; sie 
bringe Phantasie und Wirklichkeit durcheinander. „Aber der Hysteriker nimmt 
Leben, Tod und Selbstmord nicht ernst.“ — Lorand beschreibt als 
„reaktive Charaktere“ Menschen, die genau das Gegenteil von dem wurden, 
was ihre Triebe oder urspüngliche Idealbildungen von ihnen verlangten. Sie 
sind beherrscht von Reaktionsbildungen, immer in Gefahr, doch ins Gegen¬ 
teil umzuschlagen. Ein Fall wurde in jeder Beziehung das Gegenteil vom 
Vater, dem er unbewußt nachstreben wollte, ein weichlich-femininer Mensch 
erwies sich als von unbewußten rücksichtslos-draufgängerischen Phantasien 
und Idealen beherrscht. — Jones hebt als eine Charaktereigenart den 
„Angstcharakter hervor. Nicht jeder ängstliche Mensch soll mit dieser Be¬ 
zeichnung gemeint sein, sondern nur einer, bei dem „Angsterscheinungen und 
Reaktionen gegen dieselben eingebaut sind in die Struktur der Gesamtpersön- 
lichkeit“. Über die Angst überhaupt setzt Jones seine bereits an anderem 
Orte publizierten, verschiedentlich von Freud abweichenden Ansichten aus¬ 
einander: Er glaubt nicht an die Existenz einer „traumatischen Angst“, die 
sich automatisch in geburtsanaloger Situation einstellt, sondern will auch in 
ihr eine Art „Signalangst , d. h. eine Abwehrmaßnahme gegen eine Gefahr 
sehen, — und zwar gegen die größte Gefahr, gegen die „Aphanisis“. Während 
dieser Teil der Jonesschen Ausführungen nicht sehr einleuchtet, ist es 
wieder überzeugend, daß auch die Angst selbst wieder zu einer 
Gefahr werden kann, die sekundäre Abwehrmaßnahmen erfordert, was am 
Beispiel der verschiedenen Möglichkeiten der Schichtung von Angst, Haß und 
Schuldgefühl gezeigt wird. — Alexander setzt seine dem deutschen 
Leser schon bekannten Ansichten über die nosologische Einheit „neurotischer 

















































Referate 


153 


Charakter“ und ihre Unterkategorie „krimineller neurotischer Charakter“ 
useinander, gibt dafür Beispiele und zeigt die praktische, besonders forensische 
Bedeutung einer besseren psychopathologischen Erfassung der hierher gehörigen 
_ Healy anerkennt die Bedeutung der Psychoanalyse für das Ver¬ 
ständnis der Kriminalität, warnt aber vor jeder Einseitigkeit, z. B. vor der 
Meinung, jeder Verbrecher sei ein solcher aus Schuldgefühl. Es gäbe unendlich 
viele Typen und gerade erst die Psychoanalyse ermögliche uns die Einsicht 
in die reale Mannigfaltigkeit, die auch an einigen mit psychoanalytischem 
Blick gesehenen Fällen demonstriert wird. — Ein Schlußbeitrag von Feigen¬ 
baum gibt die Geschichte zweier „paranoider Verbrecher , d. h. von 
Menschen, die unanalytisch einfach als „Psychopathen“ bezeichnet worden 
wären deren Verwandtschaft mit der Paranoia aber nicht nur der Nachweis 
paranoider Mechanismen (Projektion), sondern auch der Nachweis der für die 
paranoiden Krankheiten charakteristischen unbewußten Inhalte (Narzißmus 
und Kampf gegen latente Homosexualität) beweist. Es sind Menschen, die 
unter widrigen Umständen an einer paranoiden Psychose erkranken könnten, 
oder solche, die sich die Psychose eben durch ihre Kriminalität ersparen. 

Das Büchlein ist gewiß für den Psychoanalytiker interessant, für den 
psychoanalytisch Unorientierten ein Ansporn, sich eingehender mit der Psycho¬ 
analyse zu befassen. Ein Ersatz solchen Befassens kann und will es nicht sein. 

F e n i c h e 1 (Berlin) 

Meng, Heinrich: Angstneurose undSexualleben. Deutsche 
Ärzte-Zeitung. LV., 176, September IQ2Q. 

Nach einer ausführlichen Darstellung der Freud sehen Ansichten über 
Aktualneurosen im allgemeinen und über Angstneurose im speziellen werden 
die wichtigsten kritischen Einwände gegen diese Ansichten besprochen und 
widerlegt und schließlich dargetan, welche Bedeutung das diesbezügliche Wissen 
für den Praktiker hat. Der Autor berichtet dabei über Erfolge durch einfache 
hygienische und medikamentöse Maßnahmen und betont, daß beim Aus¬ 
bleiben des therapeutischen Erfolges entweder eine übersehene organische 
Krankheit oder eine Psychoneurose vorliege, die psychoanalytischer Behandlung 
bedürfe. F e n i c h e 1 (Berlin) 

Feigenbaum, Dorian: An Introduction to the Study of 
Psychoanalytic Diagnosis. Structure of a Gase of Gamo- 
phobia. PsA, Review XVII, Juli 193°- 

„Gamophobie“ nennt Feigenbaum die phobische Vermeidung der Ehe. Es 
handelt sich um eine verheiratete Patientin, die im eigenen Haushalt solche 
Angstzustände bekam, daß sie vorzog, bei ihrer Mutter zu wohnen. Die 
wesentliche unbewußte Grundlage dieser Neurose war in einer frühzeitigen 
Verführung gelegen, die die Abwehr des Ödipuskomplexes in Form einer 
Identifizierung mit dem Vater und einer Hinwendung zur Homosexualität 
(zur Liebe zur Mutter) bewirkt hatte. — Dieser Fall wird nun dazu benutzt, 










154 


Referate 


um an Hand des genauen Berichtes der ersten sieben Analysenstunden 
zeigen, wie weit der Analytiker aus dem Benehmen des Patienten in den 
ersten Stunden die unbewußten Inhalte (Fixierungspunkte) und Mechanismen 
zu durchschauen vermag, um eine „psychoanalytische Diagnose“, d. h. die 
Erkenntnis eben der prävalenten Fixierungen und Mechanismen, zu stellen 
Es mag an den Schwierigkeiten liegen, die ersten allgemeinen Eindrücke 
die man in der Analyse vom Patienten bekommt, in so knapper Form 
genügend wiederzugeben, wenn die wahrscheinlich richtigen Konklusionen 
des Autors den Leser durchaus nicht immer überzeugen können. 

F e n i c h e 1 (Berlin) 


Roellenbleck, Ewald: Das psychoanalytische Schrift¬ 
tum. Hefte f. ßüctereiwesen, XIV., 3—5. 

In der Zeitschrift der „Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Bücherei¬ 
wesen berät Roellenbleck die Leiter von Volksbibliotheken über die 
psychoanalytische Literatur. Seine ausgezeichneten Ausführungen, die nicht 
nur von einer genauen Kenntnis und einem tiefen Verständnis der gesamten 
Literatur zeugen, sondern auch von einem genauen Durchdenken der Fragen 
nach relativer Bedeutung und Verständlichkeit der einzelnen psychoanalytischen 
Bücher, soweit sie für volkstümliche Bibliotheken in Betracht kommen, 
sind ergänzt durch „Bücherliste und Anschaffungsschema“. — Wenn wir 
hören, daß die Herausgeberin der Zeitschrift eine der wesentlichsten Organi¬ 
sationen zur Förderung des außerschulmäßigen Bildungswesens ist, und daß 
Leserkreis sich nicht auf Deutschland beschränkt, sondern sich in allen 
deutschsprachigen Ländern findet, werden wir erst die höchst dankenswerte 
Arbeit Roellenblecks entsprechend würdigen. F e n i c h e 1 (Berlin) 


Oberndorf, C. P.: Technical Procedure in the Ana- 
lytic Treatment of Children. Int. Journal of PsA., XI, I. 

Die Arbeit beschreibt einen technischen Kunstgriff, um störrische und 
unzugängliche Kinder für die analytische oder analytisch-pädagogische Arbeit 
zu gewinnen. Die Fürsorgerin Julia Goldman, die Oberndorf als 
Erfinderin des Kunstgriffes nennt, pflegt bei der Behandlung unzugänglicher 
Asozialer die Situation zwischen Kind und Erzieher gleichsam umzukehren, 
indem sie sich schwach und hilfsbedürftig, z. B. krank, stellt, also nicht mehr 
helfende Mutter, sondern hilfsbedürftiges Kind spielt. Daraufhin benimmt sich 
das Kind als Mutter, projiziert in die kindspielende Erzieherin seine eigenen 
Tendenzen und verrät sich, indem es die eigenen Motive der Erzieherin 
zuschiebt. Später stellte sich heraus, daß zur Erreichung solchen Erfolges 
nicht nötig sei, sich krank zu stellen; es genügt, zu sagen, man sei müde, sich 
passiv auf ein Sofa zu legen und alles übrige der Initiative des Kindes zu 
überlassen. Ähnliche kleine Kunstgriffe sind in Kinderanalysen sicher schon 
wiederholt angewendet worden und es ist ein Verdienst Oberndorfs, sie 
ausdrücklich als solche beschrieben zu haben. Fenichel (Berlin) 






















































Referate 


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Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften 

Zweite Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in 
Dresden vom TJ. bis 2Q. September 1930. 

Die Absicht der Dresdner Tagung, die Errungenschaften unserer Wissen¬ 
schaft vor einem Publikum von psychoanalytischen Laien darzulegen, ist 
vollauf gelungen. Das ist in erster Linie dem Vorsitzenden und dem Sekretär 
der Tagung — Max Eitingon und Felix Boehm — zu verdanken, die 
ein Programm zusammenbrachten, das wissenschaftlich keine Konzessionen 
machte und das doch in dieser würdigen Form ein lernbereites Publikum 
vom Anfang bis Ende fesselte und überzeugte. 

In diesem Sinne begrüßte Eitingon (Berlin) die Teilnehmer: immer 
wieder tauche der Vorwurf der Einseitigkeit gegen Freud und seine Schüler 
auf* aber der Forderung an die Psychoanalyse nach Neuorientierung, die 
heute in erster Linie aus der geisteswissenschaftlichen Atmosphäre des an den 
Hochschulen Mode gewordenen psychologisch-medizinischen Betriebs stamme, 
halte unsere Wissenschaft mit ruhigem Gewissen ihre seit Anbeginn konsequent 
eingehaltene Methodik entgegen, die von jeher beherrscht sei vom Grund¬ 
gedanken einer Gesamtschau der Person. Wir haben bisher keine Ursache 
gehabt, jenen Vorschlägen nachzukommen. Dagegen vermögen wir festzustellen, 
daß die übrige Wissenschaft sich immer mehr den psychoanalytischen Grund¬ 
anschauungen nähert. 

13 wissenschaftliche und 4 populäre Vorträge entwarfen ein reiches, wenn 
auch nicht lückenloses Bild vom Stande der psychoanalytischen Wissenschaft. 

Der erste Vormittag war der theoretischen Grundlegung Vorbehalten. 
Seine Aufgabe, den Hörern die Bedeutung des Ödipuskomplexes darzulegen, 
löste er vollkommen. Besonders eindrucksvoll war der Auftakt durch den 
Vortrag von Felix Boehm (Berlin), „Zur Geschichte des Ödipuskomplexes“, 
der diesen so oft mißverstandenen seelischen Inhalt aus einem reichen und 
neuen Zusammenhang heraus entwickelte. Er wies seine Vorstufen in der 
Ethnologie und Mythologie nach und ließ den Ödipuskomplex, wie ihn die 
griechische Ödipussage darstellt, auf diesem Hintergrund als den für unsere 
Kultur gültigen Sonderfall erscheinen. 

Otto Fenichel (Berlin) greift an dieser Stelle das Thema auf. Sein 
Vortrag „Spezialformen des Ödipuskomplexes“ prüft diesen auf seine indivi¬ 
duellen entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen hin und arbeitet die ihm 
zugrunde liegenden spezifischen Triebschicksale übersichtlich heraus. 

Wilhelm Reich (Wien) schließt daran seinen Vortrag über „Psychoanalyse 
und Charakterbildung“. Klar, schematisch (zu schematisch vielleicht) leitet 
er die Entstehung des „ Charakterpanzers " aus dem Konflikt zwischen Sexual¬ 
trieb und Außenwelt her, der im Untergang des Ödipuskomplexes seinen 
Gipfel und Abschluß findet, und zeigt den graduellen, nicht prinzipiellen 
Unterschied von neurotischem und nicht neurotischem Charakter auf. 

Der Vormittag des nächsten Tages ist zum größten Teil der medizinischen 
Psychoanalyse gewidmet. Ein einleitendes Referat von Sändor R a d ö („ Die 
psychoanalytische Therapie und das Publikum“) behandelt die merkwürdige 











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Referate 




Tatsache, wie sehr selbst Gebildete (wenn nicht auch Ärzte) noch dazu 
neigen, die Leistungsfähigkeit der analytischen Therapie nach dem „Alles 
oder-Nichts“-Gesetz des infantilen Narzißmus zu bewerten: man holt sich 
durch Übersteigerung der Ansprüche die unvermeidbare Enttäuschung Un( j 
zieht sich schließlich auf eine trotzige Ablehnung zurück. Nur geduldige 
Aufklärungsarbeit könne unseren Bemühungen jenen Respekt verschaffen, den 
das Publikum der Körpermedizin heute schon entgegenbringt, bereit, ihre 
Grenzen anzuerkennen und auf ihren allmählichen Fortschritt zu vertrauen 
Der junge analytische Therapeut aber müsse davor gewarnt werden, die 
Allmachtserwartung seiner Klienten in dieser oder jener Form mitzumachen 

Die Ausführungen von Jenö Härnik (Berlin), „Therapie der Homo¬ 
sexualität“, enthalten Wichtiges und Neues über die Indikation und zeigen eine 
elastisch angewandte Technik an zwei Fällen mit praktischen Heilresultaten 

Ernst -Simmel (Tegel) begründet in einem Vortrag über die „Süchte“ 
die Wichtigkeit der Charakterumstimmung des Süchtigen, die dazu führe, daß 
die Tendenz zum „Lustselbstmord“ aufgegeben werde. Er begründet seine 
therapeutischen Überlegungen mit problemreichen theoretischen Gedankengängen. 

Hans Christoffel (Basel) stellt in seinem Vortrag „Psychoanalyse und 
Medizin das fesselnde Problem der aktualneurotischen Symptomatik in den 
weiten Zusammenhang der Wechselbeziehung von Psyche und Organismus. 
Seine Ausführungen über die Funktion der unwillkürlichen, beziehungsweise 
der willkürlichen Muskulatur als Träger, beziehungsweise Abfuhrorgan 
libidinöser Spannungen versprechen die Basis weiterer fruchtbarer wissen¬ 
schaftlicher Erhebungen zu werden. 

Die Beziehung zur Biologie knüpfte der Vortrag von Michael Bälint 
(Budapest) „Über einige psychosexueile Parallelen zum biogenetischen Grund¬ 
gesetz . Es handelte sich um den Versuch, die Fortpflanzungsweise niederer 
Organismen mit den Stadien der frühkindlichen Libidopositionen in Parallele 
zu setzen. Trotz gut gewählter Beispiele blieb der Eindruck, daß man auf 
diesem Wege niemals über Analogien von fragwürdigem Wert hinaus gelangen 
könne. Derartige Untersuchungen können der Tatsache nicht gerecht werden, 
daß die beiden in Vergleich gesetzten Erfahrungsgebiete durch inkommen¬ 
surable Methoden der Erkenntnis zugänglich sind. 

Einen grundsätzlichen Vorstoß ins Gebiet der Soziologie machte Erich 
Fromm (Heidelberg), dessen Vortrag „Anwendung der Pyschoanalyse auf 
die Soziologie" eine methodologische Klärung und Umgrenzung der psycho¬ 
logischen Aufgabe in der Soziologie darstellte. 

Der Vortrag von Karl Landauer (Frankfurt a. M.) „Das Individuum 
und seine Gemeinschaften“ stellte einen spekulativen Beitrag zur Frage der 
Hordenbildung dar, die er als Gegensatz zur patriarchalischen Sippe aufgefaßt 
wissen will. 

Hugo Staub (Berlin) betont in seinem Vortrag „Psychoanalyse und Straf¬ 
recht“ den hohen Wert, den die Psychoanalyse für das Verständnis des Ver¬ 
brechers hat. Denn nicht das Verbrechen, der Verbrecher als Individuum hat 
den modern eingestellten Strafrechtler zu interessieren. 

Die Gedankengänge von Carl Mülle r-B raunschweig (Berlin) über 
„Psychoanalyse und Weltanschauung“ stützen sich darauf, daß die Psycho¬ 
analyse durch ihre Erforschung des Unbewußten die Menschen von der Hybris 

































































Hegemonie des Bewußtseins und der Willensfunktion befreie. Damit 
elner , no twendig den Boden für eine neue Wertlehre vor. 

6 t Schnei der (Stuttgart) weist in seinem Vortrag „Begriffsbildung 
Pchoanalyse und Psychologie“ an Hand der wissenschaftlichen Namen- 
^bunen die fundamentale Lebendigkeit der Psychoanalyse gegenüber der 
Schulpsychologie nach. 

Die Reihe der öffentlichen Vorträge wurde eingeleitet durch Heinrich 
Mens (Frankfurt): „Seelische Hygiene auf psychoanalytischer Grundlage.“ 
Auf einen Überblick über die Errungenschaften der Psychoanalyse baute er 
Richtlinien für eine moderne psychische Hygiene auf. 

Ihm folgte der Vortrag von Karen Horney (Berlin) „Das Mißtrauen 
wischen den Geschlechtern“, der inhaltlich und rhetorisch eine hervor- 
Z a <rende Leistung war: Zwischen Mann und Frau besteht ein letzten Endes 
biologischer und darum jenseits der Werturteile stehender Konflikt. Wo er 
nicht im letzten Grunde erkannt wird, werden die Tatbestände verfälscht. 
Das gilt auch für die Bildung jener wissenschaftlichen Theorien, die sich mit 
dem Problem des Geschlechtsunterschiedes befassen. 

Der zweite öffentliche Abend begann mit dem hinreißenden Vortrag von 
August Aichhorn (Wien) „Aus der Erziehungspraxis des Fürsorgeerziehers“. 
Aichhorn brachte auch in diesen Ausführungen wieder die Leistung zu¬ 
stande, die lebendige Wirklichkeit unmittelbar in der ganzen erschütternden 
und zwingenden Einfachheit erscheinen zu lassen, in der sie gesunder 
Menschenverstand sieht. Die wissenschaftlichen Hintergründe, nirgends hervor¬ 
gehoben, gaben doch dem Gesagten jenen Gehalt, der auch leichtem Erzählen 

unversehens Gewicht verleiht. K 

Der Vortrag von Georg Groddeck (Baden-Baden) „Der Struwwelpeter 
gab sich auf den ersten Blick als ziellose Freude am Deuten. Aber seine bei¬ 
nahe absichtlich jede psychologische Übersicht vermeidende, ganz auf intuitive 
Kombination der Sexualsymbole abgestellte Art schien mehr darauf angelegt, 
das Publikum zum Protest zu bringen als es zu überzeugen. Oft eröffneten 
sich zwar unversehens unerhört weite Zusammenhänge. Sie konnten aber, in 
dieser Form vorgebracht, wohl das Herz eines psychoanalytisch Gebildeten 
erfreuen, dem psychoanalytischen Laien mußten sie grotesk erscheinen. Es 
war unvermeidlich, daß der Vortrag durch seine formale Eigenart das Pu¬ 
blikum vor den Kopf stieß und die Aufmerksamkeit jener Presse auf sich 
zog, die sich keine „Gelegenheit“ entgehen läßt, die Psychoanalyse zu 
verhöhnen. B a 11 y (Berlin) 









KORRESPONDENZBLATT 

DER 

INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN 

VEREINIGUNG 


Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud 


Dr. Hanns Sachs 50 Jahre 

Wir Analytiker haben gewiß viele der Mängel, die Menschenwesen anhaften 
können; unsere Mängel rühren nicht zum kleinsten Teil daher, daß wir einem 
Gruppengebilde angehören, das unter besonders schwierigen soziologischen 
Bedingungen sich entwickelt hat und seither unter noch nicht ganz veränderten 
Bedingungen weiter existiert. Dieser Umstände, wie auch einiger anderer in 
dieser Richtung gehender Dinge, uns durchaus bewußt, müssen wir andererseits 
aber auch betonen, daß wir der Tugenden nicht ganz entbehren, darunter 
besonders der der Anerkennung und Dankbarkeit für ältere Brüder, die früher 
auf dem Kampffeld aufgetaucht sind, und von denen wir zu kämpfen und 
vor allem zu wissen gelernt haben. 

Ich möchte jetzt auf einen kurz hinweisen, der seit zehn Jahren der Lehrer 
von vielen unter uns Berlinern gewesen ist, der aber auch weit über Berlin 
hinaus bekannt und geschätzt ist in der Internationalen Psychoanalytischen 
Vereinigung. Es ist Dr. Hanns Sachs, der vor einigen Tagen 50 Jahre alt 
geworden ist. Ich möchte ihm im Namen der Deutschen Psychoanalytischen 
Gesellschaft und im Namen unserer Internationalen Psychoanalytischen Ver¬ 
einigung Glück wünschen, und wir werden ihm da hoffentlich etwas wünschen, 
wozu der Kluge und Skeptische viel Talent hat. Er hat überhaupt viel Talent, 
unser Hanns Sachs. Aber bei dieser Gelegenheit wollen wir ihm vor allem 
auch danken für das, was er für uns hier getan hat und für unsere Arbeit 
mit uns, und da haben wir Berliner gerade ihm für sehr vieles zu danken. 

Hanns Sachs ist am 10. Jänner 1881 geboren; er hat das Gymnasium 
besucht. Er soll ein brillanter Schüler gewesen sein. 

































































Korrespondenzblatt 


159 


Sehr charakteristisch ist Sachs’ Verhalten zur Arbeit: er, zu dessen ber¬ 
atendsten Eigenschaften es wohl gehört, daß er nicht müssen mag und 
Tl edessen auch nicht den Arbeitszwang mag, ist einer der stärksten Arbeiter 
111 ° g uns un d macht das so leicht und mühelos, als ob er nichts lieber täte, 
un . in unseren Berliner Lehrveranstaltungen übernimmt er vielseitigst, worum 
^an ihn recht bittet, es unformal, lässig-elegant und mit großem didaktischem 

Geschick ausfuhrend. 

Sachs beendet 1899 das Gymnasium, studiert Jus, wird 1904 Dr. jur. und 
k k Hof- und Gerichtsadvokat, taucht 1909 in der Wiener Psychoanalytischen 
Vereinigung auf, kommt 1910 bereits in den Vorstand derselben. 1930 sehen 
-wir ihn dann wieder in einem Gruppenvorstand, dafür aber an hervorragender 
Stelle in unserem eigenen Berliner. 

1918 erleidet Sachs einen körperlich gesundheitlichen Zusammenbruch 
gerade während des V. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in 
Budapest. Die unter uns, die dort gewesen sind, wissen, daß er während der 
Kongreß Verhandlungen schwer darniederlag an den Folgen einer Lungenblutung. 
Er übersiedelt in die Schweiz, nach Davos, wo er zum Glück sich recht rasch 
erholt, lebt dann in Basel und Zürich, wo er mit großem Erfolg zur analytischen 
Behandlungs- und Lehrtätigkeit übergeht. In dieser letzteren Eigenschaft riefen 
wir ihn nach Berlin Ende 1920. Diese fruchtbare und verantwortungsvolle 
Tätigkeit Sachs’ hat das Gesicht der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 
mitbestimmt und erstreckt sich auch weit über die Grenzen Berlins hinaus. 

Werfen wir rasch einen Blick auf Sachsens wissenschaftlich-literarische 
Betätigung. Ohne zu denen zu gehören, die besonders viel schreiben, hatte 
Sachs immer etwas Wesentliches zu sagen, meist Anregendes, oft Bleibendes. 
1910 erschienen seine „Soldatenlieder von Kipling“, bald darauf, gemeinsam 
mit Rank, „Über die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften“ 
in der Loewenfeldschen „Sammlung der Grenzfragen“. Ab 1921 die „Elemente 
der Psychoanalyse“, dann die „Ars amandi psychoanalytica“, dann die 
„Gemeinsamen Tagträume", „Bubi, die Lebensgeschichte des Caligula“, 
die, Sachsens große Vorliebe für die Kaiserepoche der römischen Geschichte 
zeigend, seine stupende Kenntnis des Materials verrät und die ganze Grazie 
seines Schreibens. Eine Eisenbahnfahrt Wien—Berlin wird mir immer gern im 
Gedächtnis bleiben, auf welcher ich einen großen Teil des Manuskripts 
gelesen habe. Ein jüngst englisch erschienenes Büchlein von Sachs, „Does 
Capital Punishment exist“ ist mir noch nicht zugänglich gewesen. 

Sachs gehörte zu den Anregern der Gründung der „Imago und ist seit 
Beginn derselben einer ihrer Redakteure. Er hat eine große Reihe von 
Aufsätzen in unseren beiden Zeitschriften veröffentlicht, der wissenschaftlich 
hervorragendste von ihm ist wohl der „Zur Theorie der Perversionen ; 
höchst anregend sind seine Analysen literarischer Wbrke. Es ist so schön an 
ihm, daß er Shakespeare so gut kennt. Sehr groß ist die Zahl der von 
Sachs an verschiedensten Stellen in verschiedenst großer Öffentlichkeit gehaltenen 
Vorträge. Ein großer Freund der neuesten darstellenden Kunst, des Films, 
hat Sachs mit Abraham zusammen die „Geheimnisse der Seele viele, sehr 
viele Menschen sehen lassen. 

Und so wünschen wir denn Hanns Sachs noch gute lange Jahre au jardin 
d 1 Epicure, uns allen und unserer Sache zu Nutzen. Dr. M. Litingon 









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Korrespondenzblatt 



Mitteilungen des Zentral Vorstandes 



I) XII. Internationaler Psydioanalytisdier Kongreß 

Nach Beschluß des XL Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in 
Oxford soll der nächste Kongreß in der Schweiz stattfinden. Nach Beratung 
mit dem Vorstand der Schweizer Gruppe und im Einvernehmen mit den 
Zweigvereinigungen hat der Zentralvorstand Interlaken als Kongreßort 
gewählt und als Zeit den 7. bis 10. September, im Anschluß an die unmittelbar 
vorher in Bern stattfindende Tagung der Internationalen Neurologischen Gesell¬ 
schaft. Wir bitten die Mitglieder der einzelnen Gruppen der I. P. V, } Vor¬ 
tragsanmeldungen möglichst rechtzeitig, spätestens zum 1. April, an den Unter* 
zeichneten gelangen zu lassen, gleichzeitig mit einer konzisen Inhaltsangabe 
des zu haltenden Referates. Die weiteren Nachrichten über den Kongreß 
werden den Gruppen in Rundbriefen an die Vorstände derselben zugehen. 


II) Gründung einer japanischen Gruppe und ihre Aufnahme 

in die I. P. V. 

Im Frühjahr vergangenen Jahres hat sich in Tokio eine Psychoanalytische 
Vereinigung die Nippon Seishin-Bunteki Gakukai , Japanische Psycho¬ 

analytische Gesellschaft gebildet, als erster Niederschlag der Bemühungen 
einer um den Herrn Y. K. Y a b e zentrierten Gruppe von Menschen, welche 
eifrigst dem Studium der Psychoanalyse oblagen. Sie besteht aus Ärzten, 
Psychologen und Schriftstellern. Die Mitglieder sind folgende: 

A s a b a, Takeichi, Dr. med. ; 

Mawatari, Kazue, Dr. med.; 

Nagata, Hideo, Dramatiker; 

O t s u k i, Kenji, Graduierter der Waseda Universität; 

Tsuskima, Kwanji, Dr. med., Sekretär; 

Y a b e, Yae-Kichi, A. B., Präsident . 

Sie haben bereits eine Reihe von Werken Freuds ins Japanische übersetzt. 
Mit unermüdlichem Eifer werden Kurse veranstaltet, Gelegenheiten zur syste¬ 
matischen Erlernung der Psychoanalyse gegeben. Der Zentralvorstand hat die 
Gruppe auf Ansuchen ihres Vorsitzenden, Herrn Yabe — den bei seinem 
mehrmonatigen Aufenthalt in Europa im Frühjahr vergangenen Jahres kennen 
zu lernen die Londoner und Berliner Gruppe das große Vergnügen hatten — 
provisorisch aufgenommen; über ihre endgültige Aufnahme wird statutengemäß 
der nächste Kongreß entscheiden. 

Dr. M. Eitingon 
Zentralprasldent 











































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. 

' 








Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XVII, Heft I 


(Ausgegeben im Februar 1930 


Seite 


Max Kitingon: Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse.. 5 

Felix Boehm: Zur Geschichte des Ödipuskomplexes. . 16 

Otto Fenichel: Spezialformen des Ödipuskomplexes. 37 

Wilhelm Reich: Die charakterologische Überwindung des Ödipuskomplexes. 55 

H. Christoffel: Psychoanalyse und Medizin in ihren Beziehungen zur Angstneurose ... 72 

A. Kielholz: Giftmord und Vergiftungswahn •••••.. . 85 

Jakob Hoffmann: Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst ....... 99 

KASUISTISCHE BEITRÄGE 


Ladislaus Fessler: Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen .125 

Eduard Kitschmann: Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt der Bf Handlung . 140 

REFERATE 

Aus den Grenzgebieten: 

Murray: Psychogenic Factors in the Etiology of Ulcerative Colitis and Bloody Diarrhea 
{Levy) 143. — Anschütz: Das Farbe-Ton-Problem im psychischen Gesamtbereich 

(Hermann) 144. — Hoesslin: Die Abstufungen der Individualität (Hermann) 145. 

Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur: 

Mauz: Die Prognostik der endogenen Psychosen (Hartmann) 145. — Carp: Über den 
Anteil der psychoanalytischen Auffassungen an der Kenntnis der involutiven und präsenilen 
Geistesstörungen (Fenichel) 147. — Steinach: Ein Reizstoff des Zentralorgans und die 
zentrale Funktion (Latnpl) 148. — Künkel: Arbeit am Charakter (A. Reich) 149. 

Aus der psychoanalytischen Literatur: 

Medical Review of Reviews „Psychopathology Number“ (Fenichel) 150.— Meng: 
Angstneurose und Sexualleben (Fenichel) 153. — Feigenbaum: An Introduction to the 
Study of Psychoanalytic Diagnosis (Fenichel) 153. — Roellenbleck: Das psychoanaly¬ 
tische Schrifttum (Fenichel) 154. — Oberndorf: Technical Procedure in the Analytic 
Treatment of Children (Fenichel) 154. 

Tagung en wissenschaftlicher Gesellschaften: 

Zweite Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden vom 27. bis 
29. September 1930 (Bally) 155. 

KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG 

Dr. Hanns Sachs 50 Jahre (Eitingon) 158. — Mitteilungen des Zentralvorstands. I) XII. inter¬ 
nationaler Psychoanalytischer Kongreß 160. — II) Gründung einer japanischen Gruppe und ihre 
Aufnahme in die I. P. V. 160. 


Mit diesem Heft beginnt der Jahrgang 19)1 (XVII. Band) 

Abonnement 1931 (4 Hefte) Mark 28.- 


Alle diese Zeitschrift betreffenden redaktionellen Zuschriften und Sendungen bitte zu richten an 

Dr. Sandor Radö, Berlin-Grunewald, Ilmenauer Str. 2 

alle geschäftlichen Zuschriften und Sendungen an: 


Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, In der Börse. 


Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, I., Börsegasse 11. — Herausgeber: 

^ r ‘ ^* KrT V Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Adolf Josef Storfer, Wien, I., Börsegasse 11. — Druck: 
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Karl Wrba, Wien.)