XVII. BAND
I93t
HEFT 1
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ cler Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Girindrashekhar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones Y. K. Yabe
Kalkutta New York Wien London Tokio
J. W. Kannabich G. Pardieminey J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin
Moskau Paris Haag Basel
redigiert von
M. Eitingon, S. Ferenczi, Sandor Radö
Berlin
Budapest
Berlin
Eitingon ... Über neuere Methodenkritik an der
Psychoanalyse
Boehm.Zur Geschichte des Ödipuskomplexes
Fenichel . . . Spezialformen des Ödipuskomplexes
Reich.Die charakterologisdie Überwindung
des Ödipuskomplexes
Psychoanalyse und Medizin in ihren
Beziehungen zur Angstneurose
Giftmord und Vergiftungswahn
Ein Fall von sozialer Angst
Psychogene Potenzstörungen
Wandlungen der Traumsymbolik
Christoffel
Kielholz . .
Hoffmann .
Fessler . . .
Hitschmann
/
\r- y
A
INTERNATIONALE
ZEITSCHRIFT FÜR
PSYCHOANALYSE
XVn. BAND
1931
a INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Girindrashekfiar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones
Kalkutta New York Wien London
J. W. Kannabidi
Moskau
G. Pardieminey J. H. W. van Ophuijsen
Paris Haag
Philipp Sarasin
Basel
Y. K. Yabe
Tokio
redigiert von
M. Eitingon S. Ferenczi Sändor Radö
Berlin Budapest Berlin
XVII. Band
1931
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
Drude: Elbemühl, Wien, UL, Rüdengasse 11
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
XVII. Band 1931 Heft 1
Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse
(Einige Bemerkungen zur geistigen Lage der Gegenwart)
Eröffnungsansprache auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
in Dresden am 28. September 19s 0
Von
M. Eitingon
Berlin
Meine Damen und Herren!
Da Sie in so freundlich großer Zahl unserer Einladung zur zweiten
Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, die an alle tiefer
an der Psychoanalyse Interessierten erging, gefolgt sind, darf ich annehmen,
daß Ihnen das Allgemeine und Wesentliche an der Leistung Sigmund
Freuds für die Medizin und darüber hinaus für die Kultur der Gegen¬
wart bekannt ist, und ich erlaube mir daher, in meinen kurzen ein¬
leitenden Worten nur die Frage .aufzuwerfen, woran es wohl liegen möge,
daß das Charakter- und Wertbild der Psychoanalyse nun trotz des wirklich
ungeheuren Interesses, das sie erregt hat und in wachsendem Maße auch
weiter erregt, so außerordentlich noch in der Geschichte unserer Zeit zu
schwanken scheint. Aber, möchte ich sofort fragen, schwankt denn dieses
Bild der Psychoanalyse wirklich so sehr, oder ist nur der Teil unserer
geistigen Welt so sehr bewegt, in den die Psychoanalyse ein getreten, in
dem sie sich entwickelt hat, und an dessen eigener Entwicklung sie selbst
repräsentativ und wirkend in so hervorragendstem Maße beteiligt ist? Ich
glaube, daß letzteres die eigentliche Sachlage ist, und um das aufzuzeigen,
müßte man das Bild der geistigen Lage der Gegenwart aufrollen, wenig¬
stens jener Provinzen, in denen der Mensch, die kreatürliche Person, seelisch
6
M. Eitingon
leidet und geistig ringt, um die inneren Fesseln von Hemmung, Unver¬
mögen und Zwang umzuwandeln in jenes freier bewegliche Mehr, das zur
Befriedigung und Leistung führt.
Ich muß mir aber hier und jetzt natürlich versagen, diese geistige Lage
Ihnen mit breitem Pinsel auszumalen, und muß mich begnügen, einige
charakterisierende Streiflichter auf sie zu werfen, wofür mir die An¬
führung einiger Momente aus der Geschichte der Psychoanalyse der letzten
zwanzig Jahre recht gute Gelegenheit geben dürfte.
Ein seltsamer Zufall wollte es, daß wir, Referent und unser unverge߬
licher Kollege, Karl Abraham, vor genau 16 Jahren für die letzte Sep¬
temberwoche 1914 eine psychoanalytische Tagung nach Dresden einberufen
wollten, den fünften Kongreß der damals noch jungen Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung. Es kam anders. In jenen Septemberwochen
waren die meisten Psychoanalytiker unter den Waffen.
Vom Bau der psychoanalytischen Lehre war damals alles Wesentliche
schon da; 18 bis 19 Jahre nach dem Erscheinen der „Studien über
Hysterie“, 13 bis 14 Jahre nach dem der „Traumdeutung“, 8 bis 9 Jahre
nach der Veröffentlichung der „Sexualtheorie“ und zur Zeit des Erschei¬
nens von „Totem und Tabu“ war die Psychoanalyse fast fertig da, so sehr
in ihrer Ganzheit schon, nicht nur in ihrer Quintessenz fertig, die späteren
Entwicklungen und die sie krönende Metapsychologie samt jenen Zinnen,
von denen aus Freud solche Probleme, wie die Religion und die Kultur,
als Ganzes betrachten konnte, als unerhört konsequente Folgerungen voll
in sich enthaltend. So fertig war das Gebäude, so fertig und geschlossen
und alles weitere an Entwicklungen in sich enthaltend war die Lehre
schon damals, daß Freud, als in den letzten Jahren vor dem Kriege die
zwei sozusagen einzig wirklich denkbaren Sezessionen in der Psychoanalyse,
die von Adler und die von J u n g, eingetreten waren, die Auseinander¬
setzung mit beiden mit einem Satz beendete, den er auch heute nicht
anders zu fassen brauchte, wenn eine weitere wesentliche Sezession nur
irgendwie denkbar wäre, jenen Satz, der am Ende der im Jahre 1914 er¬
schienenen „Bemerkungen zur Geschichte der Psychoanalytischen Bewe¬
gung“ steht, — er könne nur „mit dem Wunsche schließen, daß das
Schicksal allen eine bequeme Auffahrt bescheren möge, denen der Auf¬
enthalt in der Unterwelt der Psychoanalyse unbehaglich geworden ist.
Den anderen möge es gestattet sein, ihre Arbeit in der Tiefe unbelästigt
zu Ende zu führen“.
Der Kreis der eigentlichen und vollen Anhänger Freuds war damals
noch relativ klein, wenn auch über die meisten Länder des Kontinents
verteilt, und sogar schon damals über Mitglieder in England und Nord-
Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 7
Amerika verfügend. Die Reaktion der Außenwelt, besonders der unserer
Fachgenossen, war aber noch so, daß ein sehr prominenter Psychiater sie
auf Kongressen im Jahre 1910 und in ähnlicher Weise dann später im
Jahre 1913 einfach als eine „psychische Epidemie unter den Ärzten“ 1
bezeichnen konnte, die Anhänger als eine Sekte. Es sei keine Wissenschaft,
sondern nur Erleuchtungssätze und Glaubensartikel, erzeugt bei den An¬
hängern durch die ungewöhnlich eindringliche Überzeugungskraft der
Persönlichkeit Freuds — so viel gab man allerdings zu —, es wären
keine therapeutischen Erfolge, häufig aber nur Schädigungen der Patienten,
wie das bei solchen „Taumelbewegungen“ auch gar nicht anders sein könne.
Der illustre Diagnostiker glaubte sich immun gegen die Ansteckungs¬
gefahr dieser Lehre, weil er ihr objektiv immer sehr ferne gestanden und
sich nie auf die so verderbliche Prüfung der Behauptungen und Resultate
eingelassen habe; übrigens sei die Epidemie, wie die von ihr ergriffene
Sekte im Abnehmen, wenn nicht im Aussterben begriffen, und nur die
Geschichte der Medizin würde die Hauptbereicherung davon tragen. Der
voreilige Herr Nekrologist hat sicherlich selbst die Geschichte der Medizin
mit dieser kuriosen Diagnose und Prognose in nachdenklich machender
Weise wirklich bereichert.
Ich muß gerade hier als Gegenstück eine andere Diagnose erwähnen,
die genau 20 Jahre später, jetzt, vor einigen Wochen dieses Jahres, in
Königsberg auf der vornehmsten wissenschaftlichen Tagung Deutschlands,
dem Naturforscherkongreß, ebenfalls von einem Psychiater 2 gemacht
worden ist. Freud hat kein Glück bei den Prominentesten unter den
Psychiatern. Ich führe diese Äußerung hier an, weil sie wie ein
phantastisch grotesker Anachronismus nur anmutet und vor 20 Jahren
vielleicht noch verzeihlich gewesen wäre. Noch im Jahre 1930 findet also
ein führender Lehrer der Psychiatrie in Deutschland, daß Freud, der
die psychiatrische und psychologische Problematik, wie selbst die meisten
Kritiker jetzt zugeben, in umstürzendster Weise verändert und in uner¬
hörtester Weise bereichert hat, in der Psychoanalyse etwas geschaffen habe,
das weder eine Naturwissenschaft noch überhaupt irgend eine Wissen¬
schaft sei, auch keine Dichtung — diese würde der gemütstiefe Gegner
Freuds anscheinend sogar in der Wissenschaft für fruchtbar halten. Das
Pentagramm der Freud sehen Methodik macht diesem Kritiker so furcht¬
bar Pein, und er beruft sich auf eine Reihe von Gewährsmännern, 3 die
sehr früh schon an dieser Methode der Psychoanalyse viel auszusetzen ge-
1) Ho che: Medizinische Klinik, Nr. 26, 1910.
2) Bumke.
5) Kronfeld, v, Weizsäcker, Aller s.
° M. Eitingon
habt hätten. Er ist aber sehr unvorsichtig in der Wahl seiner kritischen
Gewährsleute. Einer dieser genannten Kritiker hat inzwischen seine Stellung
teilweise verändert, ein anderer steht dem Lager der Psychoanalyse sehr nahe,
und ein dritter zieht aus dieser Methodenkritik der Psychoanalyse Konse¬
quenzen, von denen es uns unbekannt ist, ob sie der geschätzte und
illustre Gegner Freuds selber akzeptieren würde. Aber nach diesem
kleinen Satyrspiel der Geschichte unserer psychiatrischen Wissenschaft
gehen wir wieder zu dem Moment zurück, wo der Krieg die Abhaltung
unseres zu Dresden geplanten Kongresses verhindert hat.
Das, Riesenereignis des Krieges hatte selbstverständlich alle analytische
Arbeit unterbrochen, dennoch aber zeigte es sich, als nach seinem Ab-
klingen die Analytiker sich wieder zusammenfanden, daß inzwischen die
Ausbreitung unserer Ideen außerordentliche Fortschritte gemacht hat. Das
ist wiederholt dargestellt worden. Eine Fülle von Zeichen sprach dafür;
wir wollen einige herausgreifen. Nicht nur bei den jüngeren Psychiatern,
im Gebiet der gesamten Medizin sah man auf einmal in rasch wach¬
sendem Maße deutlich den riesigen Einfluß des Freudschen Denkens
und seiner Denkweise. Internisten, Gynäkologen und sogar Chirurgen sahen
ihre so lang beschützten Gebiete psychologischen Gesichtspunkten und psycho¬
therapeutischen Überlegungen ausgesetzt. Gynäkologische Psychotherapien
erschienen und in der neuesten Auflage eines solchen hohen Wahrzeichens
der inneren Medizin, wie das von uns schon in unserer lugend geschätzte
„Lehrbuch der inneren Medizin u von Mehring, ist die allgemeine Neu¬
rosenlehre eingedrungen, aus der Feder eines der Analyse nahe stehenden
bedeutenden Neurologen, 1 welche die ganze Revolution des medizinischen
Denkens, die von der Psychoanalyse erzeugt worden ist, deutlichst zeigt.
Freud wird als Erzeuger dieses neuen ärztlichen Sehens und Denkens
gefeiert, und sehr wesentliche Punkte der neurotischen Dynamik werden
verständnisvollst dargestellt, und in aussichtsvollster Weise von analytisch
vorgebildetem Plateau aus Ansatzpunkte zur Überwindung des Dualismus
von Psyche und Soma gesucht.
1922 erklärt ein Vertreter der jüngeren psychiatrischen Generation, der
sich dann einige Jahre später im Verein mit einer Reihe von Fachgelehrten
mit der „Krisis der Psychoanalyse“ und ihren Auswirkungen auf die Geistes¬
wissenschaften, die Naturwissenschaften und auf das Leben und Schaffen
eingehendst auseinandergesetzt hat, 2 auf einer Wanderversammlung der
südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte, an derselben Stelle, wo
zwölf Jahre vorher der erwähnte Nekrologist seine Ansicht verkündet hatte.
1) v. Weizsäcker.
z'l Prinzhorn: Um die Persönlichkeit, S. 148.
Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 9
daß „die Psychoanalyse nicht nur in der gesamten Medizin eine Mission
hat, sondern daß sie wegen ihrer entschiedenen Richtung auf eine echte
Psychologie der Person im vollen Sinne eine öffentliche Angelegenheit
geworden sei“.
Immer wachsenden und sich vertiefenden Einfluß nahmen die psycho¬
analytischen Ansichten und Erkenntnisse auf zahlreiche Gebiete der
speziellen und angewandten Psychologie, wie auf die Kinder-, Völker- und
Religionspsychologie. Die Sprachwissenschaft, die Literatur- und Kunst¬
geschichte wurden stark beeinflußt, die Ethnologie bekam reiche neue
Impulse und Problemstellungen, ebenso die Soziologie. Was die Pädagogik
ihr verdankt und neuerdings auch die Kriminalpsychologie, dürfte die
Zusammensetzung der Zuhörerschaft unserer Tagung gut illustrieren.
Das sind Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse, die ihre Anwendung
auf die Therapie weit in den Schatten stellen könnten; ist doch viel mehr
zu verhüten, als geheilt und gebessert werden kann.
Ich werde mich heute absichtlich bei der Skizze von Äußerungen zur
Psychoanalyse im wesentlichen auf solche von außerhalb unseres Kreises
stehenden beschränken, auf Stimmen von Kritikern, die unter Einwänden
den Wert der Analyse bejahen, oder bei manchmal hoher Wertschätzung
ihr Bedingungen stellen, die sie nicht akzeptieren kann. Von den zuletzt
erwähnten Jahren ab werden Versuche gemacht, die Psychoanalyse geistes¬
geschichtlich einzuordnen, 1 ihre Beziehungen zu den philosophischen und
wissenschaftlichen Systemen der verschiedenen Zeiten aufzuzeigen, wobei
sich, auch für diese Kritiker nicht überraschend, erweist, daß Zusammen¬
hänge mit sehr wesentlichen philosophischen und wissenschaftlichen
Gedankengängen vorhanden sind. Man verwies auf die Ähnlichkeit zwischen
dem Erosbegriff P 1 a t o s und dem der Libido der Psychoanalyse, die
Beziehung zum leitenden Motiv des Denkens bei Sokrates und zu dessen
Mäeutik, zu den Gedankengängen Epikurs und besonders der Stoa
(Hedonismus und Sensualismus). Wesentliche Ähnlichkeiten zur Psycho¬
analyse klingen später in der Affektenlehre Spinozas an, wo auch der
Verdrängungsbegriff zu finden ist, der deutlicher noch und fast dem
Wortlaut nach dann bei Schopenhauer auftaucht, auch in seiner
spezifisch pathogenen Bedeutung. Über die englischen Moralphilosophen
(besonders auch Mandeville, der Autor der Bienenfabel) geht es dann
zu den Aufklärungsphilosophen und Sensualisten in Frankreich und dem
Deutschen Lichtenberg und über die deutschen Romantiker zu dem
Arzt und Philosophen C. G. Carus.
D Vgl. Prinzhorn: Krisis der Psychoanalyse, S. 15 u. ff.
10 M. Eitingon
Lassen wir selbst einmal einen solchen wohlwollenden Kritiker 1 die
Attitüden schildern, welche die psychiatrisch-ärztliche Umwelt zur Psycho¬
analyse einnimmt, die Attitüde des Ignorierens, dann die des Bekämpfens
aus objektiven, meist methodologischen Gründen, wobei man nur ganz
vereinzeJt den ganzen Weg der Psychoanalyse in genügendem Ausmaß
und mit genügender Sachkenntnis derselben verfolgt und nur allzu
häufig statt methodologischer eine terminologische Kritik treibt.
Andere wieder folgen, mit Interesse registrierend, der Arbeit der Psycho¬
analyse, in den eigenen Forschungsrichtungen dabei weiter verharrend,
psychoanalytische Erfahrungsresultate, teilweise auch methodische Bestand¬
teile, mit diesen alten Forschungswegen und Inhalten vermischend, wieder
andere, unter den Psychiatern besonders, folgen weiten Strecken der
Psychoanalyse, ebensosehr als Forschungsrichtung wie als psycho¬
therapeutischer Methode oder einer praktischen Psychologie der Person.
Von den opportunistischen Eklektikern verschiedenster Mischungsgrade
und -arten können wir absehen. Vereinzelte in der Praxis stehende
Neurologen von Rang sind nach langen Erfahrungen immer näher an die
Psychoanalyse von der Observanz von uns Vereins-Psychoanalytikern
herangekommen, versuchen aber noch „Tatsachen und Hypothesen“ 2 in
der Psychoanalyse zu sondern, in einer teilweise ganz nützlichen, jedenfalls
sehr skrupulösen Arbeit, und übersehen, daß gerade auch für die psycho¬
analytische Arbeit, die so viel Neuland entdeckt und exploriert hat, ein
Wort des alten Pathologen Henle variiert werden muß, daß „der letzte Tag
mancher Hypothese auch der Tag mancher letzten Beobachtung wäre“.
Die wirkliche Würdigung psychoanalytischer Beobachtungen und ihrer
Resultate, die ja im übrigen jetzt viel häufiger schon anzutreffen ist, hat auch
unsere Denkmittel in ein günstigeres Licht gerückt. Der schon weiteren
psychologischen Kreisen geläufig gewordene Schluß von dem Werk auf die
Person sollte manche Kritiker davon abhalten, so leicht mit der Kritik der
Freud sehen Denkweise zur Hand zu sein. Die Neigung, Resultate zu
akzeptieren und die Methode anzuzweifeln, ist doch eine gar zu bequeme. Eine
Leistung wie die von Freud, der man die Genialität nunmehr so leicht
zubilligt, kann doch nicht mit so fragwürdigen Denkmitteln erreicht worden
sein. Und man sollte uns schon das Recht bewilligen, müde zu sein, auf die
so oft wiederholte Behauptung zu antworten, daß hier ein Riesenwurf
einer genialen Intuition gelungen sei. Der bereits erwähnte Autor der
„Krisis der Psychoanalyse“ 3 hat einmal sehr schön gesagt, daß das Niveau
1) Prinzhorn: Um die Persönlichkeit, S. 148 bis 152.
2) I. H. S chultz: Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psychiatrie, Bd. 126, 3. u. 4 . Heft.
3) Prinzhorn: Um die Persönlichiteit, S. 148.
Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 11
der Persönlichkeit die Qualität und den Wert psychologischer Erkenntnis
bestimme, und nicht umgekehrt. Freud ist einmal auch von einem der
ihm Nahestehenden als ein „Stoffdenker“ bezeichnet worden, wobei er
allerdings in Parallele mit Goethe gesetzt worden ist. 1 Aber der Stoff¬
denker Freud hat ganze Kontinente von Erkenntnissen in Bewegung
gesetzt. Er mag dabei wohl auch geglaubt haben, „er habe es richtig
gemacht, denn er habe nie zu viel über das Denken gedacht“. Referent
glaubt, daß Freud mit Recht den Goethe-Preis erhalten hat, und hier
möchte ich, um Ihre Zeit nicht ungebührlich in Anspruch zu nehmen,
auf eine Art von Methodenkritik kurz eingehen, die ich für besonders
charakteristisch für das halte, was ich eingangs in meinen Ausführungen
als geistige Lage unserer Zeit bezeichnet habe. Wir haben gesehen, in
was für geistesgeschichtliche Zusammenhänge die Psychoanalyse mit mehr
oder weniger Recht, jedenfalls in interessanter Weise, gebracht worden ist.
Man hat der Psychoanalyse auch einige unmittelbarere Ahnen gegeben über
Freud hinaus. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich hier noch
einmal darauf hinweisen, mit welchem Recht man Genies der Psychologie,
wie Dostoj ewski und Nietzsche, als Vorläufer der Psychoanalyse
bezeichnet hat. Einige interessante Denker unter den Philosophen und
Ärzten unter unseren Zeitgenossen haben neuerdings einen dritten zu der
Galerie der Vorläufer Freuds hinzufügen wollen, was einige Tendenzen,
die am Werk sind, besonders scharf beleuchtet.
Zuvor aber eine Feststellung allgemeineren Charakters. Hatte man
früher Freud vorgeworfen, daß er nicht wissenschaftlich sei, das hieß
damals nicht naturwissenschaftlich, ohne zu berücksichtigen, daß er für ein
neues Gebiet sich eben auch besonders möglichst adäquat wirksame
Begriffe schaffen mußte, selbst um den Preis, daß sie zunächst teilweise
metaphorisch waren, so lautet jetzt der Vorwurf anders, daß er nur
naturwissenschaftlich denke, und wieder vergißt man etwas, daß Freud,
wie am Anfang so auch jetzt, nichts anderes als wissenschaftlicher Psycho¬
loge bleiben will, Psychologe allerdings, wie es dem von ihm neu abge¬
steckten psychischen Gelände gemäß ist; von den geisteswissenschaftlich
orientierten Seiten her kommt die neue Methodenkritik der Psychoanalyse.
In einer Diskussion über die „Philosophischen Grenzfragen der Medizin“, 2
in der Bemühung, den neuen Begriff der Medizin zu fassen, in dem welt¬
anschauliche Perspektiven eine vielleicht zu große Rolle spielen, wird im
1) Wittels: Goethe u. Freud. Psychoanalytische Bewegung, II. J., Heft 5.
2) Des Institutes für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, Verlag
G. Thieme, Leipzig, 1930.
12 M. Eitingon
Vorübergehen der Psychoanalyse immer wieder der Vorwurf gemacht, 1 daß
sie sich sehr „ungedanklich, sehr positivistisch und streng naturwissen¬
schaftlich gebärde“. Wir sind nach einer Zeit der Großblüte des psycho¬
logischen Interesses und psychologischer Forschung anscheinend auf dem
Wege zu philosophischen Anthropologien, wie wir sie in den ersten Jahr¬
zehnten des 19. Jahrhunderts gehabt haben, und schon gibt es eine
medizinische Anthropologie, 2 die sehr gedankenreich und philosophisch ist.
In dem Pantheon dieser neuen philosophischen Medizin, das bereits in
sympathischer Weise dabei skizziert ist, sind auch schon die Figuren der
Wegweiser und Führer aufgestellt, und zwar sind es die Internisten Kraus
und Krehl, auch der Chirurg Bier, und als der eigentliche Weg¬
bereiter Sigmund Freud. Kein Psychiater neben ihm! Mit der neuen
Medizin werde auch eine neue Psychologie aufkommen, die sich ebenfalls
von der Biologie zum Personalismus werde entwickeln müssen in einer
Art von dialektischer Aufhebung, indem „durch eine Biologie des Indi¬
viduums hindurch eine Wissenschaft von der Person aufgerichtet werden
würde“.
Freud, der in dieses Pantheon also bereits aufgenommen ist, muß sich
aber einige Zurechtweisungen gefallen lassen, ähnlich wie es in der
erwähnten Diskussion über die „Philosophischen Grenzfragen der Medizin“
geschehen ist. Wenn man die von ihm gefundenen Tatsachen und aufge¬
wiesenen Zusammenhänge ebenso wie die von ihm postulierten Mechanis¬
men akzeptiert, wirft man ihm doch zugleich vor, daß das Positivismus,
Psychologismus, Naturalismus sei. Wir aber antworten: Was soll die Psycho¬
analyse als Psychologie, der so vieles gelungen, anderes sein, besonders da
sie ihr eigentliches Werk noch lange nicht als beendet bezeichnen kann?
Sagt doch Freud noch in einer seiner letzten Schriften mit der ihm
eigenen fordernden Strenge und Aufrichtigkeit gegen sich selbst bezüglich
des letzten Motivs der Neurose z. B.: daß nach jahrzehntelangen ana¬
lytischen Bemühungen sich dies Problem vor uns erhebe, unangetastet, wie
zu Anfang. 3
Vom Standpunkt einer systematischen Charakterologie, die mehr oder
weniger von L. Klages beeinflußt oder ganz nach dessen „Geist als
Widersacher der Seele“ orientiert ist, wird der Psychoanalyse vorgeworfen,
daß für sie Fragen, wie die Wert Verwirklichung z. B., keine Probleme
seien, worauf allerdings von analytischer Seite auch schon geantwortet
1) A. a. O. S. 25.
2) O. Schwarz: Medizinische Anthropologie 1929, S. 359—63, und a. a. O. S.
145 — 57 -
3) S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst, S. 100.
Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 13
worden ist, daß es noch verfrüht sei, eine Charakterologie aufzubauen,
und daß wir nur zu einer „Charakterätiologie“ 1 Beiträge liefern können.
In einem sehr feinen kleinen Buche über die „Wandlungen in der
Auffassung und Deutung des Traumes von den Griechen bis zur Gegen¬
wart“, aus der Feder eines philosophisch sehr gebildeten Psychiaters, der
zu unseren Kreisen gehört, kann man nach der Mahnung, positive Wissen¬
schaft nicht mehr mit positivistischer Weltanschauung zu verwechseln,
folgendes lesen: „Eine Gesamtanschauung aus den Einzelperspektiven oder
Aspekten (i. e. der Wissenschaft) vermag nur die Philosophie zu geben,
und zwar in der Form der philosophischen Metaphysik. Gerade jeder neue
Eroberungszug der positiven Wissenschaft in ein ihr bis dahin verschlos¬
senes Gebiet fordert gebieterisch eine Vertiefung oder Ergänzung ihrer
Resultate durch die metaphysische Spekulation. Zwar werden wir nicht
eine Metaphysik des Traumes fordern, das hieße unsere Auffassung zu
pedantisch verstehen, aber wenn irgendwo, so treibt es uns hier, eine
Metaphysik des Geistes zu postulieren und zu ahnen, und wohin muß
das anders führen als zur Idee von Gott.“ 2 Daß es von da aus nicht mehr
weit ist zu der Forderung des Primates religiöser Zielsetzungen im psycho¬
therapeutischen Tun des Arztes, ist ersichtlich. Eine fundamentale Wissen¬
schaft ist bereits postuliert und Umrissen, eine „christliche Psychologie“,
welche den Biologismus Freuds überwinden soll, dieses böse Hindernis
auf dem Wege zum „eigentlich wesenhaften Verständnis des Menschen . 3
Der Arzt, der diese fundamentale Psychologie der Psychoanalyse gegenüber¬
stellt, ist unter den Gewährsmännern jenes Gegners Freuds auf der
Königsberger Naturforschertagung zu finden, 4 und zur „Aufhebung und
gleichsam Selbstwiderlegung des Psychoanalytischen“ soll eben der oben
erwähnte dritte Ahnherr in der Galerie der Psychoanalyse eingeführt werden,
der Däne Kierkegaard, ein faszinierend leidenschaftlich religiös ringen¬
der Geist und wirklich abgründiger Psychologe. Lassen Sie mich aus der
Diskussion über diesen Philosophen, der, wie ich oben sagte, auf die besten
philosophischen Kopfe im jetzigen Deutschland eine außerordentliche An¬
ziehungskraft und Wirkung ausübt, etwas zitieren, was diese Tendenz
charakterisiert und für uns ein gewisses Nebeninteresse noch hat, da sie
auch die Individualpsychologie mitbetrifft. „Von hier aus wird man ein
1) H. Hart mann: Die Grundlagen der Psychoanalyse, 1927, S. 152.
2) L. Binswanger, Verlag J. Springer, 1928, a. a. O. S. 109/10.
5) R. Allers: Sigm. Freud und seine Lehre. Rhein.-Main. Volkszeitung v. 28. VIII.
1 93 °*
4) R. Allers: Das Wesen der sittlichen Person. Wesen und Erziehung des
Charakters, 1929; ferner: Sigm. Freud und seine Lehre. Rhein.-Main. Volkszeitung,
Frankfurt am Main v. 28. VIII. 1950.
*4 M Eitingon
Doppeltes sagen können, einmal, daß eine Individualpsychologie, die sich
dem Religiösen versperrt oder es nur als Symbol für Gemeinschaft und
Werte nimmt, der größeren Gewalt der Psychoanalyse erliegen muß, zumal
wenn sie in einer reinen Abwehrstellung verharrt, d. h. die Existenz des
Triebes wegleugnet in eine reine Form geistiger Selbstbehauptung. Es
trägt sich dann im Schicksal der Theorie das bekannte Schicksal des Lebens
aus: daß zwischen Eros und Agape, zwischen Trieb und Religion ein
Entweder-Oder besteht, das die Mittelstandpunkte entweder zerfetzt oder
karikiert, aber ebenso gilt das andere, insofern Individualpsychologie ihren
„finalen Standpunkt so versteht, daß er den ehrlichen, wenn auch lang¬
samen Weg in den „finis ultimus* bedeutet, den Weg der Erklärung vom
Geist her als zuletzt Erklärung vom geistigen Gott her, in dem Maße ist
Individualpsychologie der heutige Wiederansatz dessen, was wir „christ¬
liche Psychologie“ nannten. Eine solche „radikal christliche Psychologie“
faßt jede Neurose als so oder so religiös bedingt, alle neurotischen Er¬
scheinungen als in der Tiefe religiöse Konflikte, deren Verkleidung das
Krankheitsbild des Neurotikers ist.“ Ich entnehme dieses Zitat dem sehr auf¬
schlußreichen Ruche von E. Przywara, „Das Geheimnis Kierkegaards“. 1
Nietzsches „Ist das noch deutsch?“ aus seinem „Contra Wagner“ fällt
uns ein. Ist das noch Psychologie? fragen wir.
Die Erwähnung der Individualpsychologie erinnert uns daran, wie viel
an außer- und unpsychologischen, meist soziologischen Begriffen in die
Psychotherapie und Psychologie hereingebracht worden ist; ähnliche Ver¬
suchungen treten auch an klarer analytisch Orientierte in Psychotherapie
und Psychologie heran.
Freud aber ist mit dem ihm eigenen radikalen wissenschaftlichen Monismus
und der ihm eigenen Treue zu dem einmal eingeschlagenen Wege (alle
seine geistige Elastizität und die Entwicklungseiner Gedanken während des
Schaffens am Gedankenbau der Analyse berechtigen keineswegs, von einer
Wende in seinen Gedanken zu sprechen, die mit der „Metapsychologie“,
besonders dem „Ich und dem Es“, etwa eingetreten wäre), mit der ihm
also eigenen Treue zu dem einmal eingeschlagenen Weg ist Freud in
der Gesamtkonzeption der Psychoanalyse, sei es Wissenschaft oder Therapie,
gegen alle ungerufenen und zu frühen Einmengungen von soziologischen
Kategorien, Klassenkampfideologien, von Wertaxiomatik und religiös¬
theologischen Problemstellungen, auch gegen jene ihm vorgehaltene „Mensch¬
heitsproblematik“, 2 die das Maschen werk der Psychologie zu sprengen droht
1) Przywara, a. a. O. S. 44.
2) Edgar Michaelis: Die Menschheitsproblematik der Freudschen Psychoanalyse.
Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse 15
und zu schwer ist für das Gerüst, das wir noch nicht abtragen dürfen
von dem noch unfertigen Bau unserer Wissenschaft. Freuds ganze
erschütternde Selbstbescheidung und bewunderungswürdige Furchtlosigkeit
spricht sich darin aus. Zwei Aussprüche von ihm fallen uns ein, wie der, daß
es eine Illusion wäre, zu glauben, daß wir anderswoher Erkenntnisse be¬
kommen könnten, die uns die Wissenschaft nicht gibt, 1 und jenes andere, einem
nicht aus dem Ohr schwindende Wort: „Wenn der Wanderer in der
Dunkelheit singt, verleugnet er wohl seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum
um nichts heller.“ 2 Nicht schöner aber glauben wir am Schluß das geistige
Wesen Freuds wiedergeben zu können, als mit den den meisten von
Ihnen wohl bekannten Worten aus der Urkunde, mit der der Goethe-Preis
am 28. August dieses Jahres an Freud verliehen worden ist:
„In streng naturwissenschaftlicher Methode, zugleich in kühner Deutung
der von den Dichtern geprägten Gleichnisse hat Sigmund Freud einen
Zugang zu den Triebkräften der Seele gebahnt und dadurch die Möglich¬
keit geschaffen. Entstehen und Aufbau der Kulturformen zu erkennen,
manche Ihrer Krankheiten zu heilen. Die Psychoanalyse hat nicht nur die
ärztliche Wissenschaft, sondern auch die Vorstellungswelt der Künstler und
Seelsorger, der Geschichtsschreiber und Erzieher aufgewühlt und bereichert.
Über die Gefahren der Selbstzergliederung und über alle Unterschiede
geistiger Richtungen hinweg liefert Sigmund Freud die Grundlage einer
erneuten Zusammenarbeit der Wissenschaften und eines besseren gegen¬
seitigen Verständnisses der Völker. Der durch die Freudsche Forschungs¬
weise geförderte mephistophelische Zug zum schonungslosen Zerreißen
aller Schleier erscheint als ein unzertrennlicher Begleiter der faustischen
Unersättlichkeit und Ehrfurcht vor den im Unbewußten schlummernden
bildnerisch-schöpferischen Gewalten. Der große Gelehrte, Schriftsteller und
Kämpfer Sigmund Freud hat durch die umwälzende Wirkung seines Werkes
wie kaum ein anderer Lebender den Zeitgeist mitbestimmt.“
1) S. Freud: Zukunft einer Illusion. (Ges. Sehr., Bd. XI., 466.)
2) S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst. (Ges. Sehr., Bd. XI., 33.)
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 1
Vortrag auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
in Dresden , am 28. September 1930
Von
Felix Boeh m
Berlin
Im Mittelpunkt der Entdeckungen, welche wir der psychoanalytischen
Forschung verdanken, steht die Erkenntnis, daß jedes kleine Kind sexuelle
Regungen kennt und ein Stadium inzestuöser Bindung an den anders¬
geschlechtlichen Elternteil durchmacht und daß die mit diesen inzestuösen
Wünschen verknüpften Vorstellungen für die Dauer des Lebens im
Unbewußten fortbestehen. Die Vertretung dieser Erkenntnisse ist sicher die
Hauptursache für die Feindseligkeit, auf welche die Psychoanalyse anfänglich
in der Kulturwelt gestoßen ist. Den Reaktionen des Individuums auf diese
Wünsche der frühen Kindheit schreiben wir einen großen Einfluß auf
seine Charakterbildung zu und leiten viele seiner Interessen und sein
Verhalten im Leben in vielen Beziehungen von der Verarbeitung dieser
unbewußten Wünsche ab. Wir sind davon überzeugt, daß jeder Mann in
seinem Unbewußten lebenslang den Wunsch nach einer Vereinigung mit
seiner Mutter nährt und die unbewußte Tendenz hat, alle Rivalen bei
seiner Mutter, seine Brüder und insbesondere seinen Vater, zu schädigen
und durch den Tod zu beseitigen. Wir entdecken in den von uns durch-
1) Vergleiche folgende Arbeiten: Rank: Völkerpsychol. Parallelen zu den infant.
Sexualtheorien. Zentralbl. f. Psychoan. II., J. 1912, S. 572 u. 425. Ders.: Das Inzest¬
motiv in Dichtung und Sage. Leipzig u. Wien, Franz Deuticke, 1912. Malinowski:
Mutterrechtl. Familie u. Ödipuskomplex, Imago, X. Bd., 1924, S. 228. Ders.: Das
Geschlechtsleben der Wilden. Leipzig u. Zürich, Grethlem & Co. 1930. R e i t z e n-
stein: Der Kausalzusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr u. Empfängnis in
Glaube u. Brauch der Natur- u. Kulturvölker. Zeitschrift f. Ethnologie, 41. Jahrg.,
1909, Heft V, S. 644. Lublinski: Eine myth. Urschicht vor dem Mythos. Archiv
f. Relig.-Wissensch., vereint m. d. Beiträgen z. Relig.-Gemeinschaft in Stockholm.
Treubner, Leipzig-Berlin 1923/24, 22. Bd., Heft 1/2. Diesen Arbeiten sind einzelne
Sätze und Absätze, z. T. unverändert, entnommen, ohne daß die Autoren jedesmal
besonders zitiert worden sind. Hier linden sich auch die genauen Quellenangaben.
1
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes YJ
geführten psychoanalytischen Behandlungen die entsprechenden Wünsche
bei der Frau und wenden in beiden Fallen den Terminus „Ödipuskomplex“
als zusammenfassende Bezeichnung für diese unbewußten Wünsche an.
Das Wissen von diesen unbewußten Wünschen ist einer der Eckpfeiler
der psychoanalytischen Lehre.
Um die Bezeichnung „Ödipuskomplex“ verständlich zu machen, erzähle
ich kurz die bekannte griechische Sage vom Ödipus nach der Fassung der
Odyssee: Ödipus war der Sohn der Epikaste, welche er, ohne daß beide
um ihr verwandtschaftliches Verhältnis wußten, heiratete, nachdem er
seinen Vater erschlagen hatte. Als Epikaste den Sachverhalt erfuhr, tötete
sie sich durch Erhängen, während Ödipus, von den Erinnyen gepeinigt,
in Theben weiterherrschte, schwere Leiden erduldend. Diese Sage ist von
einer Reihe griechischer Dramatiker um- und ausgebildet worden, von
denen uns zwölf bekannt sind, so Äschylus, Sophokles, Euripides, Xenokles,
Achaios u. a. Nach der Fassung der attischen Tragiker lautet sie folgender-
maßen: Laios, dem König von Theben, und seiner Frau Jokaste wird
geweissagt, daß der aus dieser Ehe entsprießende Sohn seinen Vater ermorden
würde. Die Eltern lassen den Sohn mit durchstochenen Füßen durch einen
Sklaven aussetzen; er wird zum König von Korinth gebracht und hier
erzogen. Als er das Orakel nach seiner Herkunft befragt, antwortet ihm
dasselbe, daß er seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten werde.
Daraufhin Korinth verlassend, begegnet er auf dem Wege nach Theben
in einem Engpaß seinem wirklichen Vater und erschlägt diesen im Streit;
befreit darauf Theben von der Sphinx, erhält dafür den Thron mit der
Hand der Witwe des Königs und zeugt mit ihr in glücklicher Ehe vier
Kinder. Beim Ausbruch einer Pest in Theben verspricht das Orakel
Befreiung, wenn der Urheber des Fluches entfernt werde. Der Seher
Teiresias enthüllt das Geheimnis; Jokaste erhängt sich, Ödipus sticht sich
beide Augen aus; wird vertrieben und nach langem Umherirren auf
geheimnisvolle Weise von der Erde entrückt. Später wurde er heroisiert
und seine Gebeine galten als Schutz gegen feindliche Einfälle.
Dieser dramatische Stoff ist bis in die letzte Zeit hinein ununterbrochen
immer wieder von Schriftstellern aufgegriffen und in mannigfachster Form
bearbeitet worden. Ich erwähne Seneca und Julius Cäsar bei den
Römern; es dürfte wohl bemerkenswert sein, daß Julius Cäsar sich erinnerte,
in einem Traum mit seiner Mutter verkehrt zu haben. — Voltaires
erstes Theaterstück, das er im Alter von 19 Jahren verfaßte, war der
Ödipus; während Corneille kurze Zeit nach dem Tode seines Vaters
einen „OEdipe verfaßte; zwanzig Jahre später erschien der Ödipus der
englischen Dramatiker Dry den und Lee; des weiteren haben den Stoff
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII—1 2
18
Felix Boehm
bearbeitet die Franzosen La Motte, La Tournelle, Robert G a r n i e r,
Chenier; außerdem der Engländer Whitehead und von den Deutschen
Hans Sachs („Jokaste“); Schiller hat das Thema der inzestuösen Liebe
des Sohnes zur Mutter im „Don Carlos“ dargestellt. Auch von Hölderlin
stammt eine Nachdichtung des Sophokleischen König Ödipus; dieser Dichter
zeigt im Leben den Typus der Sohnes-Mutterliebe, indem er sich immer
in Frauen anderer Männer verliebt. Unter deutschen Schriftstellern hat
ferner Le s sing mit 19 Jahren das Thema in „Giangir, oder der
verschmähte Thron“ variiert; mit am deutlichsten zeigt uns Hugo von
Hofmannsthal den Inzest zwischen Mutter und Sohn in seinem Werk
„Ödipus und die Sphinx“.
Es kann wohl kaum jemand daran zweifeln, daß ein Stoff, welcher
seit mehr als zweitausend Jahren immer wieder von Schriftstellern zu
bewältigen versucht worden ist, ein Problem von höchster Bedeutung
enthält; besonders wenn wir hören, daß der griechische Ödipus zahllose
Übersetzungen durch Autoren der verschiedensten Völker und Zeiten
erfahren hat. Wir glauben, daß sich in den einzelnen Bearbeitungen das
individuelle seelische Erleben der einzelnen Künstler widerspiegelt. Wir
ersehen das am besten aus einem Vergleich der Tagebücher Hebbels
mit seinen dramatischen Entwürfen. Noch im Elternhause lebend, unter¬
nahm er mit 19 Jahren seinen ersten dramatischen Versuch mit dem
Titel „Der Vatermord“: Fernando will sich seiner Spielschulden wegen
erschießen, als ihm Graf Arendel in den Arm fällt und ihn rettet. Er
hält ihn aber in seiner Sinnes Verwirrung für den Teufel und schießt ihn
nieder. Da erscheint seine besorgte Mutter und enthüllt ihm, daß der
Getötete sein Vater sei.
Fernando : „Es ist ja nicht mein Vater, es ist ja mein Henker, der
mich im Mutterleibe gebrandmarkt hat, ehe denn ich geworden war —
es ist ja nicht mein Vater, es ist der Verführer meiner Mutter“ —
Die Mutter ( Isabelle ) aber stürzt sich auf den Leichnam, verzweifelnd
rufend:
„Mensch — Sohn — Fernando, ich bitte dich, beschwöre dich, gib
mir wieder, den ich so herzlich geliebt.“
Mit 21 Jahren trägt Hebbel in sein Tagebuch ein: „Ich träumte
mich neulich ganz und gar in meine ängstliche Kindheit zurück, es war
nichts zu essen da, und ich zitterte vor meinem Vater wie einst.“
Mit 25 Jahren verzeichnet er in seinem Tagebuch einen Traum: „Ich
kann den Gedanken nicht los werden, daß ich bald sterben werde; im
Traum sah ich über Nacht meinen längst verstorbenen Vater, den ich fast
hoch nie im Traum sah.“ Zehn Tage später schreibt er: „Wie war nicht
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 19
meine Kindheit finster und öde! Mein Vater haßte mich eigentlich, auch
ich konnte ihn nicht lieben.
Zahlreiche Gedanken, die Hebbel zur gelegentlichen Ausarbeitung
in sein Tagebuch eintrug, handeln vom Haß gegen den Vater, z. ß.: „Ein
schwächlicher Sohn, der seinen Vater zum Duell fordert, weil er vor der
Ehe zuviel von seinem, des Sohnes, Eigentum vergeudet hat, d. h. weil
er die Säfte, aus denen der Sohn werden sollte, verschwendet hat, ehe er
ihn zeugte. “
Mit 53 Jahren notiert er folgenden Ausspruch: „Bei den ersten Menschen
gab es keine Blutschande.“
Die Äußerungen Hebbels im Zusammenhang mit seinen dramatischen
Entwürfen lassen wohl den Schluß zu, daß Hebbels Haß gegen seinen
Vater auf eine ihm unbewußt gebliebene sexuelle Rivalität mit ihm
zurückzu führen ist.
Sollte der Haß des Sohnes gegen den Vater, von dem wir täglich
immer wieder durch Zeitungsnotizen und Bühnenwerke, z. B. Hasenclevers
„Der Sohn“, Kenntnis erhalten, allgemein auf die sexuelle Rivalität mit
ihm zurückzuführen sein, so könnte er dort nicht auftreten, wo es keine
sexuelle Rivalität zwischen Vater und Sohn gibt. In der Tat finden wir
Beispiele dafür: Von den Persern berichtet uns Herodot: 1 „Vor seinem
fünften Jahre aber kommt ein Knabe seinem Vater nicht vor die Augen,
sondern hält sich bei den Weibern auf“, d. h. gerade in den unserer Auf¬
fassung nach für die spätere psychosexuelle Einstellung entscheidenden
Jahren. Schiller-Tietz 2 berichtet: Es steht auch ganz außer Zweifel,
daß bei den alten Persern keinerlei Verbote in bezug auf blutsverwandte
Ehen bestanden. Nicht allein Brüder und Schwestern heirateten bei ihnen
untereinander, selbst Vater und Tochter, Mutter und Sohn; ja, für besondere
geistliche Ämter wurden geradezu Personen verlangt, die aus solchen Ver¬
bindungen hervorgegangen waren. Daß bei den Persern der Sohn nach
dem Tode des Vaters die Mutter habe ehelichen können und daß dies ins¬
besondere bei den Magiern der Fall gewesen sei, erwähnen außer Arno-
bius 3 noch Herodot 4 und verschiedene andere Historiker des Alter¬
tums. 5 An anderer Stelle 6 hebt Herodot besonders hervor, daß bei den
1) I, c. 136.
2) Folgen, Bedeutung und Wesen der Blutsverwandtschaft im Tier- und Pflanzen¬
leben. 2. Aufl. Berlin 1892, S. 8.
3) Adv. gentes 1. 8.
4 ) 5 . 13 *
5 ) Diogenes Laertius prooem. 6; Plutarch: Artaxerxes c. 26; Ctesias:
Pers. Ecl. 47; Agathias 2, 23; Heracl: Cum. fragm. 7 ed. Müller.
6) I, c. 137.
20 Felix Boehm
Persern niemals einer seinen Vater umgebracht habe, sondern wenn je
etwas dergleichen vorgefallen sei, so hätte es sich jedesmal bei genauer
Untersuchung erwiesen, daß die Tat von untergeschobenen Kindern oder
Bastarden ausgeführt worden war. Wir glauben, uns den Zusammenhang
so erklären zu dürfen, daß die weitgehende sexuelle Freiheit des persischen
Sohnes in den Beziehungen zu seiner Mutter seine infantile Haßeinstellung
gegen den Vater ihrer erotischen Affektquellen beraubte.
Es dürfte erlaubt sein, die Frage aufzuwerfen, ob dieser Zusammenhang
verallgemeinert werden darf. D. h. ob allgemein dort, wo sich keine Eifer¬
sucht gegen den Vater herausbildet, auch keine Todeswünsche gegen ihn
entstehen. Ich glaube, daß das so ist; — aber darüber später mehr.
Wenden wir uns vorläufig zu unserm Ausgangspunkt zurück, zu dem
Vorstellungskreise der alten Griechen. Ich sagte, das Ödipusdrama begegnete
uns zum erstenmal in der Odyssee. Das ist nur z. T. richtig, denn Eifer¬
sucht und Haß des Sohnes gegen den Vater äußern sich nicht bloß in
Todeswünschen gegen ihn, sondern auch in dem Wunsche, ihn als Rivalen
durch Entmannung unschädlich zu machen; und mit einer Entmannung
eines Vaters durch den Sohn beginnt die griechische Schöpfungsgeschichte:
Gäa, die Erde, erzeugt aus sich selbst, „ohne die freundliche Liebe“ 1 als
ihren Erstgeborenen, den Uranos, den Himmel; dieser zeugt mit seiner
Mutter die Titanen, die Kyklopen und drei hundertarmige Riesen. Uranos
aber haßt alle seine Söhne und verbirgt sie sofort nach der Geburt in der
Erde. Gäa hingegen rächt sich mit Hilfe eines Sohnes, des jüngsten Titanen,
Kronos; sie gibt ihm eine gewaltige Sichel in die Hand; als Uranos her¬
beikommt, um Gäa von neuem zu umarmen, packt ihn Kronos aus seinem
Versteck und schneidet seinem Vater jählings das Zeugungsglied ab und
wirft es ins Meer: aus dem von dem Glied verursachten Schaum entsteht
Aphrodite. Die Erde empfängt die herabfallenden Blutstropfen und gebiert
davon die Eiinnyen, die Giganten und melischen Nymphen. — Kronos
gelangt auf den Thron, heiratet seine Schwester Rhea und herrscht während
des goldenen Zeitalters der Griechen, bis er von seinem Sohne Zeus
gestürzt wird. — Unseres Erachtens sind die Ödipuswünsche des Sohnes
unzertrennbar mit Entmannungstendenzen gegen den Vater verbunden.
Aber noch mehr können wir aus dem Schöpfungsmythos der Griechen
lernen. Wir sehen hier den Inzest: Uranos zeugt mit seiner Mutter Kinder;
wir bemerken aber auch, daß der Mythos der Griechen schon die Zeugung
mit Hilfe des männlichen Gliedes kennt. Aber ist das auffallend? Sollte das
nicht ein allgemeines Wissen seit Urbeginn der Menschheit sein? Ich komme
1) Hesiod, Theog. v. 152.
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 21
bald auf diese Frage zurück. Einschalten möchte ich jedoch, daß wir erst
durch die Forschungen des 1685 verstorbenen niederländischen Natur¬
forschers Swamerdam erfahren haben, daß zur Befruchtung der Kontakt
von Ei und Samen nötig ist, und erst seit du Barry, 1850, wissen, daß
die Fäden in das Ei eindringen müssen! Wir sehen jedenfalls im griechi¬
schen Mythos, daß der sexuelle Akt nicht unbedingt zur Zeugung not¬
wendig ist: Gäa gebiert ihren Sohn ohne vorausgegangenen Liebesakt, und
die herabgefallenen Blutstropfen erzeugen auch Lebewesen.
Vielleicht lohnt es sich, noch etwas bei den griechischen Mythen zu
verweilen. Dem Inzest begegnen wir gleich darauf: Kronos erzeugt mit
seiner Schwester Rhea eine Reihe von Söhnen, insbesondere Zeus. Zeus
verschlingt seine älteste Gemahlin Melis, die Klugheit, weil er fürchtet,
sie werde einen Sohn gebären, der ihm die mühsam errungene Welt¬
herrschaft wieder eni reißen werde, und gebiert nun aus seinem Haupte
die Göttin der Weisheit, Pallas Athene. Trotzdem in den Mythen
der Griechen die Zeugung von Kindern durch eine sexuelle Vereinigung
bekannt ist, werden noch andere gleichberechtigte Möglichkeiten der Ent¬
stehung von Lebewesen ohne vorausgegangene geschlechtliche Vereinigung
zugelassen.
Auch in der Theogonie der Ägypter finden wir eine ähnliche Vor¬
stellung; in ägyptischen Texten heißt es vom Gott Ra: 1 „Es dachte der
Gott in seinem Herzen andere Wesen zu machen, und er begattete sich
selbst, und dann spie er aus, und was er ausspie, waren der Gott Schu und
die Göttin Tefnet. In andern ägyptischen Göttersagen hingegen entstehen
Kinder durch einen Sexualakt in einer Ehe von Göttern. Auch der Inzest
kommt hier vor: Der Gott Amon heißt der Gemahl seiner Mutter Neith. Die¬
selbe Verquickung von Empfängnis ohne vorausgegangenen Sexualakt und
Inzest finden wir in einer in dem indischen Archipel heimischen Sage: „Lu-
minatu wird durch den Wind geschwängert und vermählt sich dann mit dem
auf diese Weise geborenen Sohn. In einer Weltelternmythe aus Jorub
(Afrika) finden wir den Inzest und eine infantile Geburtstheorie (durch
Öffnen des Leibes der Mutter): Sohn und Tochter des Weltelternpaares
heiraten einander und bekommen einen Sohn, der sich in seine Mutter
verliebt. Da sie sich weigert seiner Leidenschaft zu willfahren, verfolgt und
vergewaltigt er sie. Sie springt gleich darauf wieder auf die Füße und
rennt jammernd von dannen. Der Sohn verfolgt sie, um sie zu beschwich¬
tigen, und als er sie endlich fast erreicht hat, stürzt sie rittlings zu
zu Boden; ihr Körper beginnt zu schwellen, zwei Wasserströme quillen
l'l Ermann, Die ägyptische Religion, S. 28.
22
Felix Boehm
aus ihren Brüsten und der Körper zerberstet. Ihrem zerklüfteten Leib
entspringen 15 Götter.“
Wir sehen hier einen weit über die alte Welt verbreiteten Mythenkreis,
welcher dadurch charakterisiert ist, daß er verschiedene gemeinsame Ele¬
mente enthält: Das häufige Vorkommen des Inzestes und die Entstehung
von Kindern durch einen Sexualakt sowohl als auch durch andere Zeu-
gungs- und Gebärmöglichkeiten, wie sie Kinder in sogenannten kind¬
lichen Sexualtheorien ausbilden. Daß das Kind im Leibe der Mutter
wächst, wird von den meisten Kindern mehr oder weniger erraten, besonders
wenn sie die Möglichkeit haben, eine Schwangerschaft der Mutter zu beobach¬
ten; deshalb wird das Märchen vom Storch nie ganz gläubig aufgenommen.
Aber wie kommt das Kind in den Leib der Mutter hinein und wie gelangt es
hinaus? Das sind Fragen, welche das Kind nicht allein lösen kann; weshalb es
in verschiedenen Phantasien nach einer Beantwortung dieser Frage sucht. Z. B.
gelangt das Kind durch das Essen von bestimmten Dingen in den Körper,
oder es entsteht durch Küsse. Zur Welt kommen die Kinder aus dem sich
öffnenden Nabel oder aus dem Bauch, welcher aufgeschnitten werden
muß oder zerplatzt. Die häufigste Theorie der Geburt ist die durch den
After, weswegen Kinder in einem gewissen Aller allgemein glauben, daß
Männer ebenso wie Frauen Kinder zur Welt bringen können. An diesen
Theorien halten die Kinder sehr zähe fest und sträuben sich später gegen
die Annahme des wahren Sachverhaltes von Zeugung und Geburt. Über¬
reste dieser infantilen Sexualtheorien dokumentieren sich später in ver¬
schiedenen neurotischen Symptomen.
Wie können wir uns in den Mythen das gleichberechtigte Neben¬
einander der Entstehung von Lebewesen durch eine sexuelle Vereinigung
und durch die verschiedensten anderen Möglichkeiten, wie sie Kinder in
kindlichen Sexualtheorien ausbilden, erklären? Anerkannt ist heute in
der Naturgeschichte der Satz: Die Ontogenesis (Ontogenie) oder die
Entwicklung des Individuums ist eine kurze und schnelle, durch die Ge¬
setze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der Phylo-
genesis (Phylogenie) oder der Entwicklung des zugehörigen Stammes, d. h.
der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden.
Und Goethe sagt: „Wenn auch die Welt im Ganzen fortschreitet, die
Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum
die Epochen der Weltkultur durchmachen.“ Nun wissen wir aus den von
uns durchgeführten psychoanalytischen Behandlungen, daß Kinder wohl
schon über den Befruchtungsvorgang orientiert sein können, aber, sich in
ihrem neuerworbenen Wissen noch nicht sicher fühlend, doch noch an
den früheren kindlichen Sexualtheorien festhalten. Wollten wir diese
Parallele ml. de» Griechen und ander» al.en Völkern durchführen, .0
n™ wir »» dem Schluß koninre», daß das Wirren ve» der Entrtehnng
“ » Leb.we.en durch Zeugung bei ihnen x. Zf. der Bildung ihr« Mythen
„och kein .her, durchau. gefertigte. Geirtergnt re.» konnte, Ta.r.chhch
wird un. berichtet, daß den Grieche» di« Entrt.hung durch Befruchtung
bei vielen Tierarten und den Pflanzen fremd war.
Da es aber eine frühe Epoche in der Entwicklung unserer Kinder
rribt in der sie an alle möglichen Entstehungsarten von Lebewesen denken,
aber noch nicht an den Sexualakt, so müßte sich bei genauerer Nach¬
forschung eine frühere mythologische Schicht finden lassen, in welcher
Menschen ohne jeden Sexualakt entstehen. Und die ist uns tatsächlich
In einem Mythos der nordamerikanischen Indianer heißt es: 1 Yiman-
tuwinayi (eine Art Schöpfer oder Kulturheros) verrichtet seine Notdurft
und sagt zu seinem Kot: „Werde ein Yurok.“ Der Yurok ging mit ihm,
sie überholten Frauen, sagten ihnen, daß sie nichts zu essen hätten, und
erhielten .Nahrung. So aßen sie allen Vorrat der Frauen weg. Er schuf
in der gleichen Weise den Karok, Yurok, Shasta, Mad River, Southfork,
New River und Redwood. — Im weiteren Verlauf der Erzählung fuhrt
Yimantuwinayi wieder seinen Kot ab und schafft daraus einen Hund.
In Boas’ Indianischen Sagen von der Nordwestküste Amerikas (S. 172)
lesen wir: Omeatl wollte Speck für sich haben und ersann eine List. Er
verwandelte sich in eine alte, einäugige Frau. Diese verrichtete ihre
Notdurft und sprach zu ihren Exkrementen: „Ich gehe jetzt in das Dorf,
rufet gleich: Hu, Hu.“ Dann humpelte sie fort. Als sie ins Dorf kam,
rief sie laut: „Feinde kommen, Feinde, Feinde. Sie werden uns alle
töten.“ Dann hörte man den Ruf „Hu, Hu“ wie von vielen Menschen,
und alle fürchteten sich und liefen davon.
Weiter heißt es bei Boas in demselben Werk (S. 159): Mink ver¬
richtet am Ufer seine Notdurft und verwandelt seine Exkremente in einen
jungen Mann. Er befahl ihm, allen Leuten zu sagen, er sei Hostamites
Kind, und Mink habe ihn geraubt. Um zu versuchen, ob jener ihn ver¬
standen habe, fragte er: „Wer bist du?“ Jener antwortete: „Ich bin aus
Minks Exkrementen gemacht.“
In diesen drei Erzählungen entstehen Lebewesen aus menschlichem
Kot, ohne daß vorher irgendeine Befruchtung nötig gewesen wäre. Ebenso
können Lebewesen aus Urin entstehen, z. B.: 2 Silberfuchs, dem es endlich
1) Goddard, Hupa Myths C. P. B. I. 123 f.
2) Saphir Dixon Yana Texts. S. 67. C. P. D. IX.
^Felix ßoehm
gelungen war, Coyote zu töten, sucht alle Orte, an denen Coyote uriniert
hat, auf und kratzt sie aus. Eine Stelle aber übersah er, und aus dieser
entstand Coyote von neuem und erschien wieder. In einem andern Mythos
hören wir von der Kraft des Speichels : 1 „Meine Großmutter“, sagt der
aus dem Kampf allein Zurückgekehrte in der Nacht, „es ist möglich, daß
ich morgen nicht zurückkomme. Wenn etwas passiert, wird der Bogen,
der Köcher, und was mit ihm hängt, herunterfallen. Du wirst dann wissen,
daß mich jemand getötet hat. Aber ein Kind wird aus dem Speichel ent¬
stehen, den ich zu Häupten des Bettes gelassen habe, ein kleiner Knabe
wird aus der Erde hervorkommen.“ In der Mitte der vierten Nacht hört
sie Geschrei vom Boden nahe Tsawandis Kamshus Schlafstelle: Ein Neu¬
geborenes schrie, rollte sich und strampelte wehklagend. Die alte Frau
ging zu der Stelle, woher das Geschrei kam, und fand das Neugeborene
mit Schmutz, Schlamm und Asche bedeckt . . . „Ich glaube nicht, daß
jemand das Kind ins Haus brachte“, sagte die alte Frau zu sich selbst.
„Tsawandi Kamshus sagte, daß ein Kind aus seinem Speichel entstehen
würde. Es kann sein, daß es sein Geist ist, der zurückgekommen ist und
wieder ein Kind wurde.“
Dieselbe Kraft kann, wie wir das aus dem griechischen Schöpfungs-
mythos wissen, das Blut haben; ebenso Tränen, Schnupfen und das Sekret
der Vagina.
Z. B. ein Märchen in der Sammlung von Boas 2 lautet: Die Tochter
wird von einem Waldgeist geraubt; ihre zehn Brüder, die sie befreien
wollen, werden von ihm getötet. Die Mutter weint Tag und Nacht, ihre
Tränen und ihr Schnupfen flössen auf die Erde. Eines Tages bemerkte sie,
daß sich die Masse zu bewegen anfing und menschliche Gestalt annahm.
Sie wickelte das kleine Wesen in Zederbast, es wurde ein Kind, sie nannte
den Knaben Anthine.
Wie kommen diese Körperausscheidungen des Menschen zu dieser Kraft?
Als der primitive Mensch anfing, sich Gedanken über die Toten zu machen,
kam ihm die Frage: „Was fehlt diesem Körper, dessen Wesen sich plötz¬
lich so geändert hat?“ „Exkremente, Urin und Speichel und wahrscheinlich
auch Blut.“ Diese Dinge enthielten für sein Gefühl das Lebendige. Zu¬
erst besaßen alle Dinge, die aus dem Körper kamen, nur die Eigen¬
schaften des Lebendigen, sie konnten seine Gestalt annehmen, es bestand
aber kein Unterschied unter ihnen, sie scheinen in diesen Fähigkeiten
alle gleichwertig gewesen zu sein. In der folgerichtigen Weiterentwicklung
1) Curtius, Creation Myths. P. 300.
2) Boas S. 117.
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 25
des primitiven Gedankens erhielten sie später die Fähigkeit, auch neues
Leben zu geben.
In dieser Urschicht der Mythologie gibt es noch keine Götter; in der
Fortentwicklung der Mythologie beginnen Geister und Dämonen eine
Rolle zu spielen; wirkliche Götter treten erst in einem viel späteren
Mythenkreise auf; aber auch in dieser weiter fortgeschrittenen Schicht
der Mythologie wird zuerst der Glaube an die Entstehung von neuen
Lebewesen ganz ohne Befruchtung durchaus festgehalten, z. B. in der
Vorstellung vom Kinderreich, wie es uns in den mexikanischen und ger¬
manischen Überlieferungen entgegentritt. Dieses Märchenland galt als Ur¬
heimat der Menschen und wird durch einen gebrochenen Baum, aus
dessen Wunde Blut fließt, veranschaulicht. Sein Name kommt von temo =
„herabkommen“, also = Haus des Herabkommens, des Geborenwerdens;
und die Herabkommenden sind eben die Kinder. Und weil diese Seelen
bei vielen Völkern aus Bäumen hervorgehend gedacht werden, so reprä¬
sentiert der gebrochene, der „ausfließende“ Baum das ganze Paradies, das
ursprünglich ein großer Waldbestand war. Daher kommen auch die andern
Namen, die dieses Wunderland führt, nämlich, „Ort, wo die Kinder ge¬
macht werden“ (tlacapil-cachiualoya), oder „Ort, wo die Blumen stehen“
(Xochitcalpan). Hier lebten denn auch, wie bei den Germanen, die Seelen
der Verstorbenen, insbesondere der Krieger, die als Schmuckvögel, Kolibris,
Schmetterlinge auftreten. Aus diesem Reich kommen auch die Götter.
So heißt es in einem Gesänge des mexikanischen Maisgottes:
„Geboren ist der Maisgott
In dem Hause des Herabkommens,
Aus dem Orte, wo die Bäume stehen.
Geboren ist der Maisgott
Aus dem Orte des Regens und Nebels.
Wo die Kinder der Menschen gemacht werden,
Aus dem Orte, wo man die Edelsteine fischt.“
Es ist nun sehr interessant zu sehen, wie sich in diese ursprünglichen
Mythen, in denen neue Wesen ohne vorausgegangene Befruchtung aus
Körperausscheidungen entstehen oder aus dem Paradies herabkommen,
ganz langsam der Befruchtungsgedanke hineinschleicht, aber zuerst ganz
ohne daß die Geschlechtsorgane in Funktion treten; wobei wir schon
deutlich eine fortgeschrittene Stufe jenes Ringens der Menschen, in das
Geheimnis der Zeugung einzudringen, sehen.
Eine Sage des Kicevolkes in Guatamala erzählt : 1 „Man setzte den Kopf
U P ohorilles, Das Popol Wuh 29—30
26 Felix Boehm
des getöteten Hun hun aphu zwischen Baumzweige am Anfang des Weges.
Der Baum trug von da ab Früchte. Eine Jungfrau hört dies, geht das
Wunder betrachten und staunt über die Früchte. Da spricht der Toten¬
kopf, der zwischen den Baumzweigen ist: „Nur Totenschädel sind diese
runden Dinge unter den Zweigen des Baumes. Willst du sie?“ „Ich will
sie“, antwortet die Jungfrau. „Gut, strecke das Ende deiner rechten Hand
aus.“ Die Jungfrau tut es, und der Totenschädel läßt seinen Speichel auf
die Hand fallen, der schnell verschwindet. Die Jungfrau aber wird schwanger
und gebiert nach neun Monaten Zwillinge.
Ein anderes Beispiel: 1 Zwischen zwei mythischen Gegenspielern wird
die Frage erörtert, ob sie ewig leben oder sterben sollen. So beschlossen
Noak’aua und Masmasala’miq zu sterben und dann als Kinder wieder ge¬
boren zu werden. Sie stiegen zum Himmel hinauf und verwandelten sich
in Blutströpfchen, die der Wind zur Erde herabwehte. Im Schlafe atmeten
Frauen diese ein, und infolgedessen gebaren alle Kinder. So kamen Noak’aua
und Masmasala’miq wieder zu Erde zurück.
Wir haben schon gehört, wie Zeus sich selber befruchtete, ehe er die
Pallas Athene aus seinem Kopf gebar, und daß Ra sich selbst begattete,
ehe er durch Ausspucken den Gott Schu und die Göttin Tefnet zur Welt
brachte. Doch gehören diese Beispiele durchweg einem jüngeren Mythen¬
kreis an und nicht mehr zur Urschicht der Mythologie; die Urschicht
der Mythologie kennt keine Befruchtung und auch keine Götter. Diese
Entwicklung in der Mythologie entspricht durchaus der Entwicklung des Vor¬
stellungskreises des Kindes unserer Kulturwelt. Auch unsere Kinder glauben
in den ersten Lebensjahren, in denen der Vater als Erzeuger und als ge¬
fürchtete Autorität unbekannt ist, durch den Akt der Defäkation Kinder
zur Welt bringen zu können. In unseren Träumen offenbart sich gele¬
gentlich, wie Abraham 2 uns gezeigt hat, die schöpferische Kraft von
Kot und Urin.
Da sich alle frühen Entwicklungsstadien unserer Kinder in Gebräuchen
und Anschauungen von heute lebenden Primitiven wiederfinden, müßte
man den Nachweis erbringen können, daß heute noch bei einzelnen
Stämmen von Primitiven keine Kenntnis von der Bedeutung des Koitus
für die Fortpflanzung des Menschen zu finden ist. Und das ist nicht schwer.
Fast ganz allgemein herrscht bei den Völkern, bei denen die soziale
Institution existiert, welche Bachofen „Mutterrecht“ genannt hat und
welche von Ethnologen jetzt treffender „Onkelrecht“ genannt wird, eine
1) Boas, S. 214.
2) Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge in Traum und Neurose;
IZfPsA, VI, 1920, S. 64.
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes
27
vollständige Unkenntnis über den Zusammenhang zwischen sexueller Ver¬
einigung und Empfängnis. Das Mutterrecht herrscht heute noch im größten
Teil" von Zentralafrika, einem Teil Ostafrikas und in Teilen von Austra¬
lien allerdings auch noch dort, wo der eben erwähnte Zusammenhang
schon bekannt ist. In der mutterrechtlichen Familie hat der Onkel, d. h.
der Bruder der Mutter, die Rechte, Pflichten und die Autorität, welche bei
uns der Vater in der Familie hat; er hat auch für seine Schwestern zu
sorgen, und sein Hab und Gut geht bei seinem Tode nicht auf seine
eigenen Kinder über, — denn da er nicht befruchten kann, hat er keine,
— sondern auf die Kinder seiner Schwester, welche mit ihm aus dem
Leib der gemeinsamen Mutter geboren worden ist. Die Person, welche
wir Vater nennen, ist bei diesen Stämmen nur der Geliebte der Frau,
mit der er zusammenlebt, und der Spielgenosse und Freund der Kinder
dieser Frau, welche, ich betone es nochmals, ganz ohne sein Zutun zur
Welt gekommen sind. — Am gründlichsten studiert und am ausführlichsten
beschrieben sind diese Verhältnisse von Bronislaw Malinowski in seinem
soeben in ’ deutscher Sprache erschienenen Werk „Das Geschlechtsleben
der Wilden in Nordwest-Melanesien“. Hören wir, wie die Melanesier in
Neu-Guinea sich die Befruchtung vorstellen: Nach dem Tode wandert der
Geist nach Tuma, der Insel der Toten. Hier führt er ein ewiges Leben
und kann sich ständig verjüngen. Wenn er der ständigen Verjüngung
müde wird, so möchte er wieder auf die Erde; dann springt er im Alter
zuiück und wird ein kleines, noch ungeborenes Kind, welches auf dem
Wasser umhertreibt, sich ev. durch Schreien bemerkbar macht. Diese ver¬
jüngten Geister, diese kleinen präinkarnierten Kinder oder Geisterbabys
sind die einzige Quelle, aus der die Menschheit ihre neuen Vorräte an
Leben bezieht. Ein noch ungeborenes Kind findet seinen Weg zurück zu
den Trobriand-Inseln in Neu-Guinea und in den Schoß irgendeiner Frau,
die jedoch demselben Clan oder Unterclan angehört, wie das Geisterkind
selbst. Jedes auf dieser Welt geborene Kind ist zuerst in Tuma durch
die Verwandlung eines Geistes ins Dasein getreten, und der einzige Grund
und die wirkliche Ursache jeder Geburt ist in der Tätigkeit der Geister
zu suchen. Das Geisterkind kann nur durch die Vermittlung eines andern,
älteren Geistes in die Mutter gelangen. Dieser nimmt es, legt es auf den
Kopf der Mutter, in das Haar derselben; sie bekommt Kopfweh, erbricht
und hat Schmerzen im Leib; Blut strömt aus ihrem Körper in den Kopf,
und auf dem Blutstrom rutscht das Kind allmählich nach unten, bis es
sich im Schoß festsetzt. Das Blut hilft den Körper des Kindes aufbauen,
es ernährt ihn; aus diesem Grunde versiegt bei einer Schwangeren der
Monatsfluß. Jetzt ist sie wirklich schwanger und sagt: „Schon hat es
28
Felix Boehm
(das Kind) mich gefunden; schon haben sie (d. h. die Geister) mir das
Kind gebracht.“ Häufig kommt es vor, daß eine Frau ihrem Manne er¬
zählt, welcher Geist ihr das Kind gebracht hat, und die Überlieferung
bewahrt dann die Geschichte von diesem Geisterpaten. — Nach einer andern
Version kann das auf dem Wasser umhertreibende Geisterkind auch per
vaginam oder durch die Haut des Leibes der Mutter hineinschlüpfen,
während sie badet, wobei ein Geist eines mutterseitigen Verwandten der
Frau im Traume erscheint. Diese Vorstellung deckt sich mit dem Wissen,
daß eine Jungfrau nicht konzipieren kann, nämlich, weil ihre Vagina noch
nicht geöffnet ist. — Der Gedanke an eine Konzeption durch eine sexuelle
Vereinigung ist so fernliegend, daß ein Trobriander, der längere Zeit von
zu Hause fern war, hocherfreut ist, wenn ihm seine Frau in der Zwischen¬
zeit ein oder zwei Kinder geboren hat, und dieselben freudig bewegt als
seine eigenen „in seine Arme nimmt“. Dies ist seine soziale Aufgabe,
er muß das Kind beschützen, für dasselbe sorgen, mit ihm spielen.
Wenn ein Trobriander zu einem Mädchen Beziehungen hat und sie
konzipiert, so verstößt er es, weil es unschicklich für ein unverheiratetes
Mädchen ist, ein Kind zu bekommen, aber nicht etwa, weil er auf die
Idee käme, seine Geliebte könnte von ihm oder einem anderen Manne
konzipiert haben. Würde er annehmen, das Mädchen könnte von ihm
empfangen haben, so würde er es wahrscheinlich voller Freuden heiraten.
— Das Sperma spielt im Verkehr nur dieselbe Rolle, wie das Sekret der
Frau, es dient dazu, die Lust zu erhöhen. — Verhütungsmittel irgend¬
welcher Art sind unbekannt, wie auch die leiseste Vorstellung, daß es
so etwas geben könnte.
Dieses Unwissen prägt sich im ganzen Verhalten des Südseeinsulaners
aus: für ihn sind seine Haustiere, d. h. seine Schweine, die wertvollsten
und höchstgeschätzten Mitglieder des Haushaltes. Und wenn seine echte,
ernsthafte Überzeugung an irgendeiner Stelle klar hervortritt, dann in der
Sorge um das Wohlergehen und die Qualität seiner Haustiere. Auf
besonders gute, starke und gesunde Schweine, auf Rasseschweine, sind
sie besonders erpicht und unterscheiden das geschätzte, zahme Dorfschwein
vom verachteten Buschschwein. Ein Trobriander gibt zehn seiner eigenen
Dorfschweine für ein eingeführtes hochgezüchtetes europäisches. Und doch
lassen sie ihre zahmen weiblichen Schweine ruhig am Saume des Dorfes
und im Busch herumschweifen, wo sie sich ungehindert mit den
männlichen Buschschweinen paaren können; andrerseits kastrieren sie alle
männlichen Schweine im Dorfe, um die Qualität des Fleisches zu erhöhen,
ohne zu wissen, daß eine Befruchtung zur Fortpflanzung notwendig ist.
So stammt natürlich die ganze Nachkommenschaft in Wahrheit von den
wilden Ebern im Busch, wodurch die Rasse natürlich immer wieder ver-
1 lechtert wird* — doch von diesem Zusammenhang haben die Ein¬
geborenen nicht die geringste Ahnung. . . ...
Die völlige Unkenntnis von der Bedeutung der Kohabitation für die
Konzeption zeigt sich auch bei den australischen Siämmen, bei welchen
die sogenannte „Mikaoperation“, die Subzision des Penis, üblich ist. Da
nämlich die Harnröhre an der Unterseite ausgeschlitzt wird, erfolgt beim
Koitus die Ejakulation außerhalb der Vagina, so daß eine Befruchtung nur
in seltenen Fällen eintritt. Man wollte darin eine Art von Malthusianis¬
mus erblicken, daß man nämlich eine zu große Kinderzahl zu beschränken
wünsche und so gewußt haben müsse, daß die Ejakulation die Ursache
der Schwangerschaft sei. Ganz abgesehen davon, daß Naturvölker eine
Beschränkung der Kinderzahl meist nicht wünschen, haben die Forschungs¬
resultate von Klaatsch dieses Geheimnis gelüftet. Die Mikaoperation
dient nämlich einer Art von Homosexualität, wie Klaatsch von einigen
Missionaren bei den Niol-Niol an der Nordwestküste Australiens erfuhr.
Der Mann mit dem subinzisierten Penis ist nämlich dem noch nicht
operierten Knaben gegenüber das Weib, und dieser verrichtet in die
künstliche Öffnung den Koitus. Dr. Roth teilt in einem vom 18. De¬
zember 1906 an Klaatsch datierten Brief mit, daß bei den Boulia (in
Queensland) die operierten Leute „Besitzer der Vulva“ heißen. Da nun
die erwachsenen Männer der passive Teil sind, so darf man annehmen,
daß die Operation mehr dem Zwecke einer Art Wollust dient und weniger
der Abhilfe des Frauenmangels für die jungen Leute. Durch diese
Entdeckung wird die Operation aber zu einem der besten Beweise für
unsere Ansicht. Die Australier, bei denen zumeist wirklicher Frauenmangel
herrscht und denen Kinder sehr erwünscht sind, lassen die Ejakulation
des Vergnügens halber verderben, weil sie eben nicht wissen, daß sie die
Befruchtung des Weibes verursacht.
Es kann die Frage auftauchen, ob man bei den Südseeinsulanern ein
unbewußtes Wissen um die, wie uns nach einer vieltausendjährigen Kultur¬
entwicklung vielleicht scheint, selbstverständlichsten Dinge des Geschlechts¬
lebens voraussetzen darf. Es kann aber nach Malinowskis mehr¬
jährigen eingehenden Forschungen keinem Zweifel unterliegen, daß wir es
hier nicht mit einer Verdrängung von etwas einmal Gewußtem zu tun
haben. Allerdings sieht man deutlich die Tendenz, sich dieses Wissen der
Europäer nicht aneignen zu wollen, da dasselbe ihr ganzes soziales Gefüge
umstoßen würde, — und der Primitive ist im allgemeinen sehr konser¬
vativ. Gegen die Argumente der Europäer, insbesondere der Missionare,
welche ihnen ihre Dogmen von Gottvater und Gottsohn aufzwingen
30
Felix Boehm
wollen, welche in einer vaterlosen Gesellschaft sinnlos sind, — haben
sie eine Reihe gewichtiger Gegenargumente anzuführen; z. B. daß der
ungezwungene Geschlechtsverkehr von früher Kindheit an zwischen Knaben
und Mädchen gepflogen wird, und trotzdem (aus uns noch undurch¬
sichtigen Gründen) sehr selten uneheliche Kinder zur Welt kommen; daß
es sehr viele verheiratete Frauen gibt, welche jahrelang Verkehr haben
und doch nie konzipieren; daß es Frauen gibt, die mit einem weißen
Händler nach dem andern leben, ohne je Kinder zu bekommen, usw.
Daß die Notwendigkeit der vorhergegangenen Eröffnung der Vagina für
eine Konzeption durchaus bekannt ist, aber nicht der Verkehr, geht auch
aus den Mythen der Melanesier hervor, und in den IVlythcn zeigt sich ja unserer
Auffassung nach die innerste Überzeugung eines Volkes am unverhohlensten.
So erzählt eine Sage von der Insel Vakuta, wie die Urahnin eines Unter-
Clans ihren Leib dem fallenden Regen darbot und so mechanisch ihre
Jungfräulichkeit verlor. In der wichtigsten Trobriandischen Mythe lebt
eine Frau namens Mitigis oder Bolutukwa, die Mutter des sagenhaften
Helden Tudava, ganz allein in einer Grotte am Meeresufer. Eines Tages
liegt sie in ihrem Felsgemach unter einem tropfenden Stalaktiten und
schläft ein. Die Wassertropfen durchbohren ihre Vagina und rauben ihr
so die Jungfräulichkeit. In anderen Sagen vom Ursprung der Menschen
wird nicht erwähnt, auf welche Weise das Hymen durchbohrt wurde,
doch oft wird ausdrücklich festgestellt, daß die Ahnin ohne Mann war
(und deshalb keinen Geschlechtsverkehr haben konnte).
Nehmen wir ein anderes Gebiet der Mythenbildung — die sagenhaften
Berichte von jetzt noch bestehenden Ländern weit im Norden —, so
stoßen wir auf das Wunderland Kaytalugi, das ausschließlich von geschlechts¬
tollen Frauen bevölkert ist. So brutal und schamlos sind sie, daß ihre
Exzesse jeden Mann töten, den ein seltener Zufall an ihre Küsten führt.
Selbst ihre eigenen männlichen Kinder erreichen nie das Alter der Reife,
denn sie werden vorher durch geschlechtlichen Mißbrauch langsam zu
Tode gequält. Doch diese Frauen sind sehr fruchtbar und gebären viele
Kinder, männliche und weibliche.
Und wie gestaltet sich nun das Verhältnis zwischen Vater und Sohn
in dieser vaterlosen Gesellschaft? Vergegenwärtigen wir uns die Stellung
des Vaters und Ernährers in unserer Gesellschaft, insbesondere in sozial
etwas niedriger stehenden Schichten, besonders vor der Einführung der
gesetzlichen Gütertrennung zwischen Mann und Frau. Vom Vater, dem
Hausherrn, seiner Laune, seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, hing das
körperliche und seelische Wohl und Wehe von Frau und Kindern ab;
auf ihn, seine Stimmungen, begründeten und unbegründeten Bedürfnisse
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes
31
mußte die Familie Rücksicht nehmen. Er konnte die Glieder seiner
Familie nach Belieben gut stellen oder unterjochen, auch verstoßen oder
ihnen nach Gutdünken beliebige Teile seines Besitzstandes vererben. Frau
und Kinder hatten sich um sein Wohlwollen zu bemühen, für sein Wohl
befinden und seine gute Laune zu sorgen und ihn als Autorität, Besitzer
und Erwerber aller weltlichen Dinge zu respektieren. Außerhalb der Familie,
in der Schule, im Geschäft, bei der frühzeitigen manuellen Arbeit, zu der
das Bauernkind oft angehalten wird, ist es der Vater persönlich oder seine
Autorität indirekt oder sein Stellvertreter, der die Gewalt ausübt; in den
höheren Gesellschaftsklassen findet in dieser Periode der höchst bedeutsame
Prozeß statt, durch den sich der Begriff der Vaterautorität und des Vater¬
ideals bewußt bildet. Das Kind beginnt nun zu verstehen, was es früher
gefühlt und erraten hat, nämlich die festgefügte Autorität des Vaters als
Familienoberhaupt und seine ökonomische Bedeutung. Die Vorstellung von
seiner idealen Unfehlbarkeit, Klugheit, Gerechtigkeit und Macht wird
gewöhnlich in verschiedenen Abstufungen und auf verschiedene Art dem
Kinde von der Mutter oder Pflegerin bei der religiösen oder moralischen
Erziehung eingeimpft. Nun ist die Rolle eines Ideals niemals leicht, und
sie in der Intimität des täglichen Lebens festzuhalten, ist, besonders für
jemand, dessen schlechte Laune und Schrullen nicht durch Disziplin
unterdrückt werden, tatsächlich eine schwere Aufgabe. So beginnt das
Vaterideal, kaum gebildet, auch schon der Zerstörung anheimzufallen. Das
Kind fühlt anfänglich nur ein unbestimmtes Mißbehagen bei der üblen
Laune oder Schwäche seines Vaters, Angst vor seinem Zorn, ein dumpfes
Gefühl von Ungerechtigkeit und vielleicht eine gewisse Scham bei einem
wirklich schlimmen Ausbruch des Vaters. Bald ist die typische Vater¬
einstellung fertig, voll von gegensätzlichen Affekten, eine Mischung von
Ehrfuicht, Verachtung, Liebe und Abneigung, Zärtlichkeit und Furcht.
Ganz anders in der vaterlosen Gesellschaft. Das Verhalten der Frau
ihrem Gatten gegenüber ist durchaus nicht unterwürfig. Sie hat ihren
eigenen Besitz und eine eigene private und öffentliche Einflußsphäre. Ob¬
gleich die Frau bei ihrer Verheiratung in das Dorf des Mannes zieht, hat
nicht er im wesentlichen für ihr leibliches Wohlergehen zu sorgen, sondern
ihr Bruder, welcher ihr gegenüber aber infolge eines strengen Tabus
zwischen Bruder und Schwester keine Autorität besitzt. Der Mann spielt
im Hause seiner Frau, um mit unseren Begriffen zu reden, nur die Rolle
eines gerne gesehenen und respektierten Freundes oder Gastes, der sich
liebevoll und kameradschaftlich der Kinder seiner Freundin annimmt. Es
kommt nicht vor, daß die Kinder ihre Mutter durch den Vater ein¬
geschüchtert und unterdrückt sehen. Er spielt nur so lange eine Rolle,
32
Felix Boehm
als die Kinder eines älteren Gespielen bedürfen. In den Beziehungen der
Sohne zum Freunde der Mutter lassen sich keine Ansätze der uns bekannten
Ambivalenz finden und auch umgekehrt nicht. Die Mutter darf den Sohn
so viele Jahre stillen, als es ihr beliebt, entwöhnt ihn nur ganz allmäh¬
lich, sie darf ihre Zärtlichkeit auf ihn überströmen lassen, bis er die
Familiengemeinschaft verläßt und ungefähr in dem Alter, in welchem bei
uns die Kinder in die Schule kommen, mit seinen Gespielen und
Gespielinnen weit außerhalb des Dorfes umherzustreifen beginnt.
Alle Kinder dürfen sich nach Gutdünken genital betätigen, ohne je auf
ein Verbot zu stoßen; sogenannte „Unanständigkeiten“, wie sie von unseren
Kindern heimlich betrieben werden, z. B. anale Spielereien, gegenseitiger
Exhibitionismus usw., kommen nicht vor. Der Vater bleibt auch in dieser
Periode wie früher ein Freund der Kinder, der ihnen hilft und sie lehrt,
was ihnen zusagt und soweit es ihnen zusagt. Allerdings nimmt das
nteresse der Kinder für ihn zu dieser Zeit ab und sie bevorzugen im
allgemeinen ihre kleinen Kameraden. Aber immer ist auch jetzt der Freund
der Mutter ihr hilfreicher Ratgeber, halb Spielgefährte, halb Beschützer.
Erst spater tritt in das Leben des Knaben das Prinzip der Stammes-
vorsc riften und der Autorität, der Unterwerfung unter einen Zwang und
unter das Verbot gewisser wünschenswerter Dinge. Aber diese Vorschriften
und dieser Zwang werden durch eine ganz andere Person als durch den
Vater verkörpert, nämlich durch den in einem anderen Dorfe lebenden
und zu einem anderen Clan gehörigen Bruder der Mutter, das männliche
Familienoberhaupt der matriarchalen Gesellschaft. Er ist es, der die Potestas
tatsächlich ausübt und ausgiebigen Gebrauch davon macht. Er unterweist
die Knaben in den Geschicklichkeiten und Tugenden der Männer, pflanzt
in sie die Ideale des Clans und lehrt sie die Tugenden der Ahnen ver¬
ehren; er wird respektiert und gefürchtet; er ist das Ideal des heran-
wachsenden Jüngling, und er wird später einmal beerbt. Ihm gegenüber
entwickelt sich die für unsere Kulturkreise typische Sohnes-Vater-Ambi¬
valenz; an Stelle des uns bekannten Vaterkomplexes entwickelt sich ein
ausgesprochener Onkelkomplex.
Sowohl im sozialen Leben als auch im Folklore unserer Primitiven
äußern sich ihre spezifischen Verdrängungen in einer Art, die nicht mi߬
verstanden werden kann. Wann immer die Leidenschaften, - die für
gewöhnlich durch strenge Tabus, Bräuche und gesetzliche Strafen in
überlieferten Grenzen gehalten werden, - in Verbrechen, Perversionen
oder Verirrungen oder auch einem jener dramatischen Vorfälle durch¬
brechen, die von Zeit zu Zeit das Leben einer primitiven Gemeinschaft
erschüttern, dann enthüllen diese Leidenschaften den Haß gegen den
Zur Gesdiidite des Ödipuskomplexes 33
Bruder der Mutter oder Inzestwünsche gegen die Schwester, die, wie
bereits gesagt, strengstens tabu ist. Auch das Folklore dieser Melanesier
spiegelt den matrilinearen Komplex wider. Die Prüfung von Mythos,
Märchen und Legende zeigt uns, daß der verdrängte Haß gegen den
Mutterbruder, der für gewöhnlich durch konventionelle Ehrfurcht und
Gemeinschaftsgefühl verborgen bleibt, in diesen Erzählungen, die nach
dem Muster von Tagträumen aufgebaut und von unterdrückten Wünschen
diktiert werden, seinen Durchbruch findet. — Dem Onkelkomplex wird
aus Gründen der seelischen Hygiene bei manchen Primitiven dadurch
Rechnung getragen, daß dem Neffen einmal im Jahr gestattet wird, die
Pflanzungen des Onkels gründlichst zu zerstören.
Der ursprüngliche Glaube an eine übernatürliche Befruchtung hat sich
bis heute bei vielen Völkern, denen der Vorgang der Konzeption längst
bekannt ist, in zahlreichen Gebräuchen erhalten. Am deutlichsten sehen
wir dies in der Institution der „Keuschheitsnächte“, deren ursprünglicher
Zweck war, durch Fasten die Gottheit zur Befruchtung des Weibes zu
veranlassen, besonders durch geschlechtliche Enthaltsamkeit. Durch Fasten
und eine Reihe von Gerätschaften und damit verbundene Riten sucht
man die Fruchtbarkeitsdämonen, resp. verschiedene Gottheiten, zu bestimmen,
ihren Teil bei der Befruchtung des Weibes zu tun und schädliche Einflüsse
fernzuhalten. Die befruchtenden Geräte, die man während dieser Zeit
zwischen oder über dem Paare aufstellte, wurden dann auch nur im Sinne
dieser Entwicklung festgehalten, sie wurden zu Symbolen der Trennung.
W ir unterscheiden zwei Arten von Befruchtungsnächten, entsprechend der
Auffassung, die man von dem Aufenthalt der befruchtenden Dämonen
hatte: solche, bei denen sich das Brautpaar zu seiner Schlafstelle begibt
und ein befruchtendes Gerät aufstellt oder doch eine Befruchtung von
außen abwartet, und solche, bei denen das Brautpaar nicht seine Lager¬
stätte besteigen darf, sondern an Plätzen schlafen muß, an denen man
auch sonst die Hausdämonen oder Felddämonen für gegenwärtig hält, z. B.
beim Feuerherd, im Keller, im Stall (bei der Dungstätte), in Wald und
Feld. Bei den Esten findet vor der Hochzeit zwischen den jungen
Leuten der weitestgehende Geschlechtsverkehr statt. 1 Auf der von Esten
bevölkerten Insel M o o n treten die Mädchen gleich nach der Konfirmation
in freien geschlechtlichen Verkehr; je mehr Liebhaber ein Mädchen hat,
desto größer ist der Stolz seiner Mutter und desto größere Ehren genießt
es; von einer geschlechtlichen Enthaltsamkeit im Dienste einer Moral kann
hier also keine Rede sein; nach der Hochzeit aber spielen die Nächte der
1) Nach einer Mitteilung von Reitzenstein aus dem Jahre 1909.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII—1
3
34
Felix Boehm
Enthaltsamkeit eine große Rolle. In einigen Gegenden des von Esten
bewohnten Dörptschen Kreises dürfen die jungen Ehegatten überhaupt erst
im gemeinsamen Bett schlafen, wenn die junge Frau das erste Kind
geboren hat; bis dahin schlafen sie im Winter im Stall und im Sommer
auf dem Heuboden. In alter Zeit wurden bei den Esten die jungen Ehe¬
gatten in einen „Ehesack“ gesteckt und im Stall auf den Misthaufen zum
Schlafen gelegt. Wir sehen hier deutlich, wie sich noch heute, auch in
unserem Kulturkreise, der Glaube an die Befruchtung durch die Dämonen
aus wirkt. Wo dieser Glaube noch größere Bedeutung hat, wird nach der
Hochzeit vollständige geschlechtliche Enthaltsamkeit gefordert. Bei dem
australischenEuahlag i-Stamm schläft der Bräutigam einen Monat lang
auf der einen, die Braut auf der andern Seite des Feuers. Bei den Indern ist
es Sitte, daß das Brautpaar drei Nächte von der Hochzeit an, auf dem
Boden liegend, Keuschheit bewahren, die Hochzeitsfeuer unterhalten und
dabei ungesalzene Speisen genießen muß. InNeu-Pommern muß die
Braut vor der Hochzeit ein mehrmonatiges Einsiedlerleben führen. Bei den
Mexikanern hat das Brautpaar ein viermonatiges Fasten zu beobachten und
sich dabei des Verkehrs zu enthalten. In China bestehen diese Nächte
besonders ausgeprägt in der Provinz Kwangtung; die Braut geht hier nach
Beendigung der Hochzeitsfeier für drei Jahre zu ihren Eltern zurück und
darf während dieser Zeit wohl die Schwiegereltern, aber nicht den Bräuti¬
gam besuchen. Auch in zahlreichen Gegenden Deutschlands besteht noch
heute die Einrichtung der sogenannten Keuschheitsnächte nach der Hochzeit.
Wir haben gesehen, welche überragende Bedeutung für die Gestaltung
der Beziehungen zwischen Vater und Sohn die Kenntnis bzw. Unkenntnis
von den Zusammenhang zwischen Kohabitation und Konzeption hat. Hat
Goethe recht, wenn er sagt: „Wenn auch die Welt im Ganzen fort¬
schreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und als
Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen“, so muß sich die
Epoche dieser Unkenntnis ohne Ödipuskomplex auch in der individuellen
Entwicklung unserer Kinder zeigen. Ich glaube, unsere Analysen lehren
uns immer wieder, wie die Entwicklung eines Kindes wesentlich durch
die Geburt eines Geschwisters beeinflußt wird. Wir wissen, daß hierbei
die Eifersucht der älteren Geschwister auf die nachgeborenen sehr stark
zutage tritt und nie ganz überwunden wird. Vielleicht haben wir in
unseren Analysen nicht immer genügend beachtet, daß unsere Kinder bei
dieser Gelegenheit zu ahnen beginnen, daß Vater und Mutter etwas können,
was sie nicht vermögen, nämlich zusammen Kinder zeugen. Ich möchte
fast glauben, daß die Eifersucht unserer Kinder auf den gleichgeschlecht¬
lichen Elternteil nicht so sehr auf die lustbetonte sexuelle Vereinigung,
Zur Geschichte des Ödipuskomplexes 35
als auf die Fähigkeit, Kinder zu zeugen und zur Welt zu bringen, zurück¬
zuführen ist. .
Der Wunsch des Sohnes, mit seiner Mutter Zärtlichkeiten auszutauschen,
ist in Analysen leichter zu finden, als der tiefer verdrängte und sicher
mit stärkeren Schuldgefühlen beladene Wunsch, mit der Mutter ein Kind
zu zeugen. Ähnlich scheinen mir die Verhältnisse bei der Achter zu
liegen. Sehen wir uns daraufhin eine uns allen w allbekannte
Krankengeschichte, nämlich die „Analyse der Phobie eines fünfjährigen
Knaben“, von Freud 1 an. Der „kleine Hans“ ist in seinen ersten Lebens¬
jahren ein natürliches, munteres und aufgewecktes Kind, bei welchem
sich die kindliche Sexualität und das Interesse für die sexuellen als auch
für die exkrementalen Vorgänge in typischer Weise zeigen; ebenso seine
Verliebtheit in seine Mutter und seine Gespielinnen. Er liebt seinen Vater
ganz eindeutig. Ein gegen seine kindlichen sexuellen Spielereien gerichteter
Einschüchterungsversuch der Mutter zeitigt zuerst keinerlei Folgen. Wir sehen,
welche Bedeutung für die Entstehung der Verdrängungsarbeit des „kleinen
Hans“ die Geburt seiner Schwester hat. Freud sagt: 2 „Die größte Bedeutung
für die psychosexuelle Entwicklung unseres Knaben hat die Geburt einer
kleinen Schwester gehabt, als er dreieinhalb Jahre alt war. Dieses Ereignis
hat seine Beziehungen zu den Eltern verschärft, seinem Denken unlösbare
Aufgaben gestellt, und das Zuschauen bei der Kinderpflege hat dann die
Krinnerungsspuren seiner eigenen frühesten Lusterlebnisse wiederbelebt.
Auch dieser Einfluß ist ein typischer; in einer unerwartet großen Anzahl
von Lebens- und Krankengeschichten muß man dieses Aufflammen der
sexuellen Lust und der sexuellen Wißbegierde, das an die Geburt des
nächsten Kindes anknüpft, zum Ausgangspunkte nehmen.“ Wir erfahren,
daß das Kind den Vorgang der Schwangerschaft richtig erraten und zahl¬
reiche Phantasien an diesen Vorgang geknüpft hat. „Man merkt es deut¬
lich“, sagt Freud an anderer Stelle, 3 „wie das Glück in der Phantasie
noch durch die Unsicherheit über die Rolle des Vaters und die Zweifel
an der Beherrschung des Kinderkriegens gestört wird.“ Und: 4 „Hans hatte
erfahren, wie gut er es bei Abwesenheit des Vaters haben könnte, und
der Wunsch, den Vater zu beseitigen, war nur gerechtfertigt. Nun erhielt
diese Feindseligkeit eine Verstärkung. Der Vater hatte ihm die Lüge vom
Storch erzählt und es ihm damit unmöglich gemacht, ihn in diesen
Dingen um Aufklärung zu bitten. Er hinderte ihn nicht nur, bei der
1) Freud: Ges Sehr., Bd. VIII, S. 12 7 .
2) A. a. O., S. 214.
3) A. a. O., S, 235.
4) A. a. O., S. 251.
3 "
36
Felix Boehm: Zur Gesdbidite des Ödipuskomplexes
Mutter im Bette zu sein, sondern vorenthielt ihm auch das Wissen, nach
dem er strebte. 66
Die Krankengeschichte lehrt uns, daß Hans trotz allen Grübelns die
Frage der Rolle des Vaters bei der Entstehung seiner kleinen Schwester
nicht hat lösen können. — Und wie verhält sich nun der aufgeklärte,
analytisch geschulte Vater in diesem Punkt? Er vorenthält Hans dieses
Wissen unerbittlich und führt die Analyse in dieser Richtung nicht zu
Ende. Vielleicht mußte Hans gerade aus diesem Grunde die ganze, nicht
vollendete Analyse verdrängen. Hans’ Vater ist der typische Vater der
patriarchalen Gesellschaft, welcher seine Potestas so ausübt, daß er das
Wissen, das ihm allein zukommt, seinem Sohne konsequent vorenthält,
trotzdem er sich aufrichtig bemüht, Hans von allen seinen Zweifeln und
Grübeleien zu befreien.
Wenn auch das Kind unserer Kulturkreise sich die Kenntnisse über
die einzelnen Vorgänge im Sexualleben seiner Eltern nur langsam er¬
wirbt und der Ödipuskomplex sich erst allmählich im Laufe der ersten
Lebensjahre herausbildet, so lehren uns unsere Analysen doch, daß der¬
selbe auf Grund einer vieltausendjährigen Entwicklung ein Erbgut unserer
Welt geworden zu sein scheint; denn auch in den Fällen, in denen
Patienten ihren Vater oder ihre Mutter nie gekannt haben, zeigt uns eine
Analyse immer wieder, daß sich in ihrem Unbewußten der typische
Ödipuskomplex doch aufdecken läßt.
Spezialformen des Ödipuskomplexes
Vortrag auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden , am
28. September 1930
Von
Otto F e n i c h e 1
Berlin
„Ödipuskomplex“ nennt Freud das Gemenge von Strebungen, Gefühlen
und unbewußten Vorstellungen, die gruppiert sind um die Wünsche nach
sexuellem Besitz des gegen- und Beseitigung des gleichgeschlechtlichen
Elternteils. Wenn wir vom „vollständigen Ödipuskomplex“ sprechen, so
meinen wir, daß neben dieser Haltung auch die entgegengesetzte eine
Rolle spielt, also Wünsche nach sexuellem Besitz des gleich- und nach
Beseitigung des gegengeschlechtlichen Elternteils. Wer die grundlegende
Bedeutung des Ödipuskomplexes anerkennt, sei es, weil er sie an sich
selbst oder an anderen entdeckt hat, sei es, weil er sie den Psycho¬
analytikern glaubt, aber nicht tiefer in der Psychoanalyse bewandert ist,
dem drängen sich zwei Probleme, richtiger Scheinprobleme, auf:
Erstens wird er sagen: „Daß dieser Ödipuskomplex der ,Kernkomplex
der Neurose 4 sein soll, habe ich jetzt verstanden. Wer unbewußt nur
seine Mutter liebt, sieht in jeder Frau die Mutter und muß deshalb seine
Sexualität verdrängen; die aus der Verdrängung wiederkehrende Sexualität
ist dann die Neurose. Wer unbewußt seinen Vater töten will, sieht in
jeder Tat einen Vatermord und muß deshalb seine Unternehmungslust
hemmen; die wiederkehrende Unternehmungslust ist dann die Neurose.
V\ ie soll ich das aber damit in Einklang bringen, daß jetzt der Ödipus¬
komplex normal sein soll, so selbstverständlich zu jedem Organismus
gehörig, wie etwa die Nase?“
Zweitens: „Es war eben die Psychoanalyse, die, im Gegensatz zur
schematisierenden Medizin, die Einzigartigkeit und Einmaligkeit jedes per¬
sönlichen Schicksals proklamierte, die Ursachen der Neurosen seien ver¬
gessene Erlebnisse, Traumen, die dieser eine Mensch eben einmal historisch
erlebt habe. Die Aufgabe, diese persönlichen historischen Fakten wieder-
38
Otto Fenichel
zufinden, rechtfertige die lange Dauer der Psychoanalyse. Das haben wir
glücklich begriffen. Nun heißt es: Der Ödipuskomplex ist der Kernkomplex
der Neurosen. Alle Neurotiker leiden im Grunde an der gleichartigen
unbewußten Konstellation, die wir schon von vornherein kennen. Warum
sollte man dann nicht dem Patienten, sobald er nur soweit gebracht ist,
zu hören und verstehen zu können, diese seine unbewußte Konstellation
mitteilen? Wozu die historische Forschung in der Psychoanalyse ?“
Ich nannte beide Fragen „Scheinprobleme“. Sie sind leicht zu lösen;
und doch soll die vorliegende Untersuchung nur diese selbstverständliche
Lösung kommentieren.
Zur ersten Frage: Der Ödipuskomplex ist gar nicht in dem Sinne
normal wie die Nase, sondern etwa wie die Thymusdrüse, d. h., er ist
normal zu einer bestimmten Zeit, abnorm, wenn er sich über die Zeit
hinaus unverändert erhält. Im Alter von zirka vier bis sechs Jahren hat
ihn jeder Mensch; später scheint er beim Normalen zu verschwinden. Die
Neurose als das Leiden am Ödipuskomplex erscheint so als eine Ent¬
wicklungshemmung, als ein Persistieren eines frühen Entwicklungs¬
stadiums. Denn der erwachsene Neurotiker hat noch seinen
Ödipuskomplex. Er weiß zwar nichts davon, aber der Komplex läßt
sich dennoch als wirksam nachweisen, welchen Sachverhalt wir meinen,
wenn wir sagen, er sei „unbewußt“. — Das kann aber doch auch nicht so
ganz stimmen. Wir wissen doch, wird man einwenden, daß nach Freud
auch die Analyse etwa der Werke der Dichter oder der Träume der
Gesunden auch bei diesen Nichtneurotikern den Ödipuskomplex noch in
erwachsenem Alter als wirksam nachweist. Das letztere Moment, muß
man sagen, wäre an sich kein Einwand, denn der Traum ist regressiv,
belebt alte Kindheitseinstellungen wieder, die deshalb am Tage nicht vor¬
handen zu sein brauchen. Dennoch müssen wir zugeben: es stimmt nicht
ganz, auch der normale Erwachsene hat einen Ödipuskomplex. Aber
quantitativ liegt bei ihm die Sache anders als beim Neurotiker. Freud
hat als für die Entwicklung im Psychischen charakteristisch beschrieben,
daß die alten Entwicklungsstadien beim Fortschreiten zu den höheren
niemals völlig verschwinden, sondern in einem gewissen Ausmaß neben
den alten noch vorhanden und dadurch unter Umständen wieder auf¬
frischbar bleiben. Er vergleicht eine solche Entwicklung mit einer vor¬
rückenden Armee, die bei ihrem Vorrücken an allen passierten Plätzen
Besatzungstruppen zurückläßt. Wenn dann ein Rückzug notwendig wird,
so zieht sich das Gros der Armee an die Stelle zurück, wo beim Vor¬
marsch die stärksten Besatzungen geblieben waren. Wenn die zurück-
gelassenen Besatzungstruppen zahlreich waren, so wird dadurch der Vortrupp
schwach und leichter zum Rückzug gezwungen. — Der Normale hat an
der Stelle „Ödipuskomplex“ zwar auch Besatzungen zurückgelassen, aber
das Gros der Armee, die ganze Persönlichkeit, ist im Vormarsch; allerdings
bei sehr widrigen Verhältnissen kann auch er zurückweichen und
dadurch zum Neurotiker werden. Der neurotisch Disponierte, an den wir
dachten, wenn wir bisher „Neurotiker“ sagten, hat fast alle seine Kräfte
an der Stelle „Ödipuskomplex“ gelassen. Nur wenig ist weiter vorgestoßen;
schon bei geringen Schwierigkeiten muß er zurück und seinen Ödipus¬
komplex wiederbeleben. — So ist die neurotische Disposition
nicht gekennzeichnet durch Vorhandensein des Ödipuskomplexes, sondern
durch das Mißlingen seiner Überwindung. Das Interesse der allgemeinen
Ätiologie verschiebt sich von dem Vorhandensein des Ödipuskomplexes auf
die Bedingungen seiner Überwindung.
Der Ödipuskomplex hat eine komplizierte Vor- und Nachgeschichte, die
ich nur schematisch mitteilen will, soweit wir sie für das Folgende
brauchen werden. In ihm treffen sich zwei Entwicklungslinien des Kindes,
die beide wieder an jeder Stelle Störungen erfahren haben können.
a) Die Entwicklung der körperlichen Leitzonen, von denen die Trieb¬
ansprüche ausgehen, also die libidinöse Entwicklung, die durch die Schlag
worte orale — anale — phallische Entwicklungsstufe der Libido charak¬
terisiert ist; der eigentliche Ödipuskomplex gehört der phallischen Periode
an, bereitet sich aber früher vor, so daß er auch mehr oder weniger
orale und anale Elemente enthält, b) Die Entwicklung der Objektbezie¬
hungen, des Verhaltens zu äußeren Objekten, also die libidinöse Entwicklung,
die durch die Schlagworte Narzißmus, d. h. Objektlosigkeit archaisch¬
ambivalente Objektbeziehungen, nämlich die Idee, die Objekte zu fressen
(Totaleinverleibung) oder ihnen etwas abzubeißen (Partialeinverleibung) —
endlich Liebe und Haß charakterisiert ist; der eigentliche Ödipuskomplex
gehört der Liebes- und Haßperiode an, aber er bereitet sich früher vor, so daß
er auch mehr oder weniger „Einverleibungs“-Elemente enthält. Seine Über¬
windung, notwendig gemacht durch die Überzeugung des Kindes, daß seine
Befriedigung eine große Gefahr mit sich brächte, geschieht durch die kom¬
plizierten Mechanismen, die wir als „Über-Ich-Bildung“ zusammenfassen,
dadurch, daß das Kind es lernt, sich mit den Forderungen der Eltern zu iden¬
tifizieren. Das gelingt den späteren Neurotikern nur mangelhaft. Wir wollen
uns die Sache leicht machen, indem wir von dieser Mangelhaftigkeit heute
nur eine Seite betrachten. Die Identifizierung mit den Eltern, die den
Ödipuskomplex überwindet, ist nämlich ein entscheidender Schritt in der
Charakterbildung des Menschen und das Studium der Defekte dieses
Prozesses, das komplizierte und heute im Mittelpunkt des wissenschaftlichen
40 Otto Fenidiel
Interesses stehende Probleme bietet, wollen wir beiseite lassen. Statt dessen
wollen wir uns mit dem beim Neurotiker in größerem Ausmaße
Testierenden libidinÖsen Ödipuskomplex befassen, der ja
die Möglichkeit der späteren Regression bildet. Wir sagten, die Auffassung,
die Befriedigung bringe eine Gefahr mit sich, sei die Ursache des Unter¬
ganges des Ödipuskomplexes. Die unbewußt so sehr gefürchtete, als mit
der Triebbefriedigung verbunden gedachte Gefahr ist der Verlust der Liebe
der Eltern und — merkwürdigerweise — die körperliche genitale Be¬
schädigung, die „Kastration 1 . Die Angst vor Liebes Verlust und Kastration
ist es, die sich den Trieben entgegenstellt. Sowohl eine besondere Stärke
oder ein besonders frühzeitiges Auftreten dieser Ängste als auch eine
besondere Stärke oder ein frühzeitiges Auftreten des von ihnen betroffenen
Triebwunsches bedingen eine besondere Stärke oder Vorzeitigkeit der Abwehr,
und was auf besonders intensive Weise oder frühzeitig abgewehrt worden
ist, kann offenbar später nicht mehr durch Identifizierung erledigt werden,
was sein unverändertes Fortbestehen im Unbewußten bedingt.
Damit erscheint das erste der beiden „Scheinprobleme u erledigt. Dafür
ist aber das zweite um so problematischer geworden. Unsere ganzen Aus¬
führungen zeigen ja, daß die Psychoanalyse heute schon zu wissen meint,
woran jeder Neurotiker krankt. Es gibt eine allgemeine Neurosen¬
lehre, die sagt: Neurotisch erkrankt, wer vor den Enttäuschungen des
Lebens auf den Ödipuskomplex regrediert und ihn abwehrt. Das kann
nur der, bei dem sich im Unbewußten aus der Kindheit ein Stück des
Ödipuskomplexes im Grunde unverändert erhalten hat. Dies wiederum
ereignet sich nur bei dem, der mit besonderer Intensität oder besonders
frühzeitig den gegengeschlechtlichen Elternteil liebte, den gleichgeschlecht¬
lichen haßte, der aber Angst bekam, wenn er das täte, würde er allein
gelassen oder sein Genitale blutig beschädigt werden. Ja noch mehr: Es
gibt auch eine spezielle Neurosenlehre, die etwa hinzufügt: War
die prägenitale Entwicklung fehlerlos, so setzte gegen den Ödipuskomplex
eine Verdrängung ein; es entwickelt sich später eine Hysterie. Hat das
1) Die Angst vor genitaler Beschädigung äußert sich im Seelenleben des Knaben
fast ausschließlich als Angst vor dem Verlust des lustspendenden Penis, die Testikel
spielen eine erstaunlich geringe Rolle. Diesem Sachverhalt trägt der psychoanalytische
Sprachgebrauch Rechnung, wenn er — abweichend von der biologischen Kon¬
vention, die unter Kastration die Entfernung der Keimdrüsen versteht — diesen
Terminus in psychologischem Sinne in erster Linie auf die Beeinträchtigung
oder Zerstörung des männlichen Gliedes bezieht. - Beim Mädchen äußert sich der
„Kastrationskomplex“ in dem auf das andere Geschlecht gerichteten „Penisneid“,
der mit der Phantasie verbunden ist, eines ähnlichen eigenen Organs (durch Kastra¬
tion) verlustig geworden zu sein.
Kind aber durch Konstitution oder Erleben frühe prägenitale Fixierungs-
'H’nkte so wehrt es den frühzeitigen oder intensiven Ödipuskomplex ab,
indem es wieder auf diese zurückgreift; wehrt er dann die dadurch hoch¬
kommenden anal-sadistischen Wünsche auf verschiedene Weisen weiter ab
und setzen sie sich dennoch durch, so entsteht eine Zwangsneurose usw.
Wir können alpo nur nach der Diagnose schon ungefähr Voraussagen,
welche typischen Erlebnisse der Patient als Kind gehabt haben muß. Wenn
all diese ätiologisch bedeutsamen Erlebnisse typisch sind, warum dann
die lange und schwierige Arbeit an den atypischen, einmaligen,
traumatischen, persönlich-historischen Dingen?
Die Antwort ist gewiß banal, aber sie kann nicht genug betont werden.
Diese typischen Erlebnisse kennen wir ja nur formal, nicht inhaltlich.
„Ödipuskomplex“ oder „Kastrationsangst sind Worte. Die durch sie
repräsentierten psychischen Realitäten sind unendlich mannigfaltig. Die
analytische Neurosenlehre ist der Rahmen, der durch tausenderlei Erschei¬
nungsformen ausgefüllt sein kann. Was ist „Liebe“, „Haß , „Angst ? Es
sind Affekte, die an hundert Einzelerinnerungen haften, deren
jede einmalig ist. Wenn ein Mensch sagt, „ich liebe eine Frau , so wissen
wir über sein Seelenleben noch sehr wenig. Und die Liebe der Kinder
ist nicht einförmiger als die der Erwachsenen. Man kann es mit den
Begriffen der Vererbungslehre vergleichen: Die Entwicklung von Ödipus¬
komplex und Kastrationsangst ist durch determinierende Faktoren
gegeben; sie kommt bestimmt. Aber wie sie kommt, also das reali¬
sierende Moment hängt davon ab, was der Mensch tatsächlich an
Einzelschicksalen erlebt hat und wie er darauf reagiert, was wieder ab¬
hängt von seiner Konstitution und sämtlichen jeweils noch früheren Er¬
lebnissen. Das ist wichtig zu betonen. An der historischen Arbeit
der Psychoanalyse und den dadurch bedingten Schwie¬
rigkeiten hat sich nichts geändert. Wieviel von der alten
Traumalehre noch wahr ist, hat erst unlängst wieder mit sehr viel Recht
Ferenczi 1 betont, im Gegensatz zu anderen Autoren, die fälschlich die
immer wiederkehrenden Phantasien der Kinder von oralen, analen, geni¬
talen Befriedigungen und Ängsten, von Kastration und Ödipuskomplex
für wichtiger hielten als das reale Leben. Es macht nicht nur den größten
Unterschied aus, wie die Mutter beschaffen ist, die ein kleiner Junge liebt,
sondern auch, was sich ein kleiner Junge unter „Liebe“ vorstellt, und
wie sich eine solche Liebe in sein Seelenganzes einfügt, ist von Indi¬
viduum zu Individuum verschieden. Da ist jeder Fall einmalig.
1) Ferenczi: Relaxationsprinzip und Neokatharsis, IZfPsA , XVI, 1950.
42
Otto Fenichel
Warum der Ödipuskomplex einmal praktisch überwunden wird, ein
anderesmal nicht, kann man nicht prinzipiell beantworten. Aber in ein¬
zelnen Fällen kann man verstehen, daß bestimmte Erlebnisse oder Erleb¬
nisse, auf die eine bestimmte Konstitution reagierte, Ödipuskomplex und
Kastrationsangst frühzeitig weckten oder besonders in die Höhe trieben.
Und die vergleichende Analyse vieler Einzelpersonen läßt die verschiedene
Gestaltung des Ödipuskomplexes je nach dem Erleben, so jeweils einmalig
sie ist, doch bis zu einem gewissen Grade typisieren. Es gibt relativ
typische Antworten auf relativ typische Erlebnisse, die Spezialformen
des Ödipuskomplexes bedingen.
Das leuchtet sofort ein für die Arten der Überwindung des
Ödipuskomplexes. Wenn diese durch Identifizierung geschieht, so
wird das dabei entstehende Über-Ich so mannigfaltig sein wie Erziehungs¬
einflüsse mannigfaltig sein können und dazu paßt die reale Mannigfaltigkeit
menschlicher Charaktere. Aber darüber wollten wir ja nicht reden, nicht
über das Bewußte oder dem Bewußtsein näherstehende Ich, sondern über
das uns paradoxerweise viel besser bekannte Unbewußte. Aber es gilt auch
für den unbewußten Ödipuskomplex und die ihn bedrohende Kastrations¬
angst selbst.
Halten wir uns nicht lange auf; Beispiele sollen zeigen, was mit dieser
Mannigfaltigkeit gemeint ist.
Jeder Mensch, sagten wir, hat die Angst, am Genitale blutig beschädigt
zu werden. Jeder hat sie anders. Nicht nur die sekundären Angstformen,
die, durch Verschiebung entstanden, die tiefer verdrängte Genitalangst er¬
setzen sollen, hängen von speziellen Kindheitserlebnissen ab: Das Kind
nach der eindrucksvollen Mandeloperation verschiebt seine Angst auf den
Hals, ein Kind, das gegen seinen Willen gezwungen wurde, dem Köpfen
einer Taube beizuwohnen, behält für sein Leben eine Angst vor dem
Geköpft werden als Ersatz der Kastrationsvorstellung; bewußte oder un¬
bewußte Ängste vor Beschädigung des Auges deuten auf besondere Erleb¬
nisse des sexuellen Schautriebes, die Lokalisation der Angst auf den Daumen
auf beim Lutschen erworbene Ängste. Auch die Art, wie das Genitale als
gefährdet gedacht wird, ist eine sehr verschiedene. Die genitalste Form
der männlichen Kastration ist die, der Vater werde als Strafe für die auf
die Mutter bezüglichen phallischen Wünsche das Glied abschneiden. Es
gibt' eine schon etwas mit femininen Tendenzen kombinierte Spezialform,
die gerade im Penis des Vaters die drohende Waffe sieht. Das Glied kann
— je nach den Umständen — sozusagen männlich, d. h. durch einen ein¬
dringenden spitzen Gegengstand, oder weiblich durch ein klappendes
Instrument bedroht gedacht sein, je nachdem, vor welchem Elternteil der
. , mehr fürchtet, und was für Vorstellungen über den Geschlechts¬
verkehr durch seine Erlebnisse in ihm entstanden sind. Wer oral fixiert
* wird die Angst haben, das Glied werde ihm abgebissen, und wird
di • Tendenz entwickeln, es auch seinerseits anderen Personen abzubeißen
was zu sonderbaren Mischbildungen der Angst vor dem Gefressen¬
werden mit der vor dem Kastriertwerden führen kann, etwa zu der
\ndst. im Körperinneren einer Frau des Gliedes beraubt zu werden,
wie* sie uns das Märchen von Zwerg Nase vorführt, der in ein das
Körperinnere symbolisierendes Zauberschloß gerät und es mit langer Nase,
dem überkompensierenden Ersatz für die Vorstellung „ohne Nase ,
verläßt.
Aber man findet die Kastrationsangst oft auch in ganz grotesken, mit¬
unter lebensgestaltenden Formen, die nur durch einmaliges Erleben zu
erklären sind. Ein stark oraler Patient, dem die sexuelle Befriedigung
unbewußt gleich Fressen war, und der außerdem in die feminine Linie
geraten war und den Vater zu seinem Hauptobjekt gemacht hatte, hatte
von einem „Krebs“ gehört, der die Mutter bedrohte, später auch von
Bakterien. Nach Entdeckung der Penislosigkeit des Weibes hatte er folgende
merkwürdige Leitphantasie gebildet: Die Ödipuswünsche hatten die Form
angenommen, den Penis des Vaters oder das, was aus ihm herauskommt,
aulzuessen. Die abwehrende Kastrationsangst hieß: Aber die so gefressenen
klein* n Tiere werden, wenn sie sich in mir zu Kindern auswachsen, bei
der Niederkunft von innen her den Penis wegfressen. Beim Mädchen
ist di r Angstinhalt verschieden, je nach den Sexualtheorien, die sich nach
Konstitution und Erleben gebildet haben. Wer am Glauben festhielt, einen
Penis zu besitzen, er sei etwa nur klein und werde noch wachsen, hat
die richtige Abschneideangst wie ein Junge. Wer meint, ein versteckter
Penis sei im Innern verborgen, hat Operationsangst (und Operationssehn¬
sucht, damit der Penis herauskomme), wer sich weiblich einstellt, aber
z. B. den Penis eines erwachsenen Mannes sieht, erschrickt vor der Größen¬
differenz und fürchtet, zerrissen und zerspalten zu werden. Man begreift,
daß diesen Spezialformen für Neurose und Leben wichtige Bedeutung
zukommt.
Nicht anders als mit den Vorstellungen der Angst ist es mit denen
des Liebens und Tötens. Die genitale Liebe setzt sich aus sehr vielen
Komponenten zusammen und die relative Betonung dieser Komponenten
kann eine sehr verschiedene sein. Außerdem kann der Genitalwunsch
auch mehr oder weniger stark prägenital gefärbt sein (von besonderer
Bedeutung ist der stark oral unterbaute sadistische Ödipuskomplex mancher
N eurosenformen).
44
Otto Fenidiel
Und der Tod kann auch auf jede nur erdenkliche Art gedacht sein,
ja sogar selbst zu einer sadistischen Liebe sexualisiert sein und so gleich-
zeitig dem verkehrten Ödipuskomplex Ausdruck verleihen.
Was für Erlebnisse sind dafür verantwortlich, welche Spezialformen
ein Ödipuskomplex annimmt? Alle. Es gibt keine Wahrnehmung, die
nicht sofort in Triebzusammenhänge einträte. Alles, was das Kind
zur Zeit des Ödipuskomplexes, aber auch alles, was es jemals früher
erlebte, ist von Einfluß, das frühere Erlebnis hauptsächlich in dem
Sinn, daß durch seine ev. pathologische Gestaltung die Bildung des
Ödipuskomplexes selbst schon von vornherein pathologisch, nämlich
zu stark prägenital gefärbt werden kann. Ja, in frühesten Entwicklungs¬
stadien schwer gestörte Kinder bringen überhaupt keinen Ödipuskomplex
zustande und bleiben zeitlebens in ihren Objektbeziehungen „präödipal“
gebunden. Allerdings sind das keine Neurosen mehr, sondern schwerste
psychoseähnliche Charakterverbildungen und Entwicklungsanomalien.
Was für Erlebnisse kommen als besonders wichtige in Betracht?
a) Einmalig traumatische, b) chronische Einflüsse.
Auf jene hat die Psychoanalyse immer besonderes Gewicht gelegt. Sie
geben häufig die zureichende Ursache dafür ab, warum Ödipuskomplex
oder Kastrationsangst so stark oder so früh wirksam geworden sind, daß
der Ödipuskomplex nicht normal überwunden werden konnte. Was wirkt
traumatisch? Besondere Befriedigungen, besondere Versagungen oder
Erlebnisse, die beides enthalten, besonders, wenn sie plötzlich und uner¬
wartet eintreten. Da wir von dem genitalen Ödipuskomplex reden, denken
wir zuerst an das genitale Moment. Verführte Kinder werden
besonders genitalisiert, können die normale Zielhemmung ihrer Triebe
nicht durchführen und müssen sie deshalb verdrängen; sie erleben aber
natürlich auch eine besondere Intensivierung ihrer Ängste. Überhaupt
alles, was Angst macht, besonders genitale Angst, kommt als „Trauma“
in Betracht. So alle Drohungen und im Sinne von Drohungen wirkenden
Realerlebnisse, wie Unfälle, Verletzungen, Todesfälle, die den Kastrations¬
glauben zu bestärken scheinen, oder der p 1 ö t z 1 i c h e Anblick des Genitales
eines Erwachsenen, und zwar ist sowohl der Anblick des männlichen
als auch des weiblichen Genitale geeignet, eine solche Steigerung der
Kastrationsangst zu bewirken. Und eine besonders gesteigerte Kastrations¬
angst bewirkt Verdrängungen und somit Störungen in der Überwindung
des Ödipuskomplexes. Erlebnisse auf „zielgehemmtem“ Gebiete können
durch Verschiebung ebenso wirken wie genitale. Besonders wichtig
in diesem Sinne sind Überreste aus prägenitaler Zeit, wie wir sagen
„Fixierungen“, gesetzt durch besondere Erlebnisse während der oralen
der inale „ Entwicklungsphase der Libido, besonders bei der Entwöhnung
, der Reinlichkeitserziehung. Solche Erlebnisse müssen übrigens nicht
l bsI (ira i P oder anale Inhalte haben, sondern nur zu dieser Zeit vorfallen.
, ür den Ödipuskomplex besonders wichtig ist alles, was das Kind über
die Sexualität der Eltern erfährt oder sich kombiniert, wieder besonders,
wenn e S überraschend erfahren wird. Oft handelt es sich um Kombinationen
von wirklichen Erlebnissen und fälschlicher Perzeption. Hierher gehört
z R. das ganze Gebiet der sadistischen S ex u a 1 a u f f a s s u n g.
Das Wichtigste auf diesem Gebiete ist die sogenannte Ur szene, die
Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs. Ein solches Erlebnis setzt
gleichzeitig höchste Sexualerregung — je nach dem Alter des Kindes sehr
verschiedenen Inhaltes — und die Überzeugung von der Gefährlichkeit
i!» r Sexualbefriedigung, sei es durch das sadistische Mißverständnis, sei es
durch den Anblick des „kastrierten“ weiblichen Genitales; Inhalt, Grad
und Zeitpunkt der Wirkung eines solchen Erlebnisses variieren natürlich
seinen Details entsprechend; was das Kind wahrnimmt, was es erraten
kann, und in welche seelischen Zusammenhänge Wahrgenommenes und Er¬
ratenes eingeordnet wird, ob Verarbeitung und Einordnung gleich erfolgen oder
spater, all das ist von individuellen Faktoren abhängig. Sicher färbt eine Urszene
den Ödipuskomplex, aber je nach den Umständen in verschiedener Weise,
immer aber mit einer besonderen Koppelung der Begriffe „Sexual-
befrii-digung“ und „Gefahr“, was die Verdrängungsneigung steigern muß. —
Eine wirkliche Urszene kann psychisch äquivalent vertreten werden durch
Koitusbeobachtungen an Tieren, durch den Anblick von Genitalien
Erwachsener oder auch von Tieren, insbesondere, wenn andere objektiv
harmlose Szenen die Übertragung solcher Erlebnisse auf die Eltern
erleichtern. Freud hat darauf hingewiesen, daß die Idee von der
Belauschung zu den „Urphantasien“ gehört, und wo sie nicht erlebt wird,
durch Phantasien ersetzt wird; dennoch bleibt der Eindruck, daß das
wirkliche Erleben ganz anders im Sinne eines Traumas wirkt als eine
Phantasie. — Das zweitwichtigste Moment ist die Geburt jüngerer Geschwister,
nicht nur im Sinne einer traumatischen Störung der Ödipusbefriedigung
(weil sich die Eltern um das Kind nicht mehr so kümmern können wie
zuvor), sondern auch im Sinne einer Erhöhung der Sexualangst infolge
von Wahrnehmungen oder Spekulationen über den Geburstsakt und als ein
Vorgang, der die Neigung, selbst zu den prägenitalen Freuden der Säuglings¬
zeit zu regredieren, erhöht.
Chronisches Erleben: Wie ein Kind auf seine Eltern reagiert, und was
es von ihnen will, hängt davon ab, wer und wie diese Eltern sind, und
wie sie sich zu dem Kinde benehmen. Eine ungewöhnliche Reaktion wird
46
Otto Fenichel
dort eintreten, wo die Eltern ungewöhnlich sind oder sich ungewöhnlich
benehmen. Daß es wirklich so ist, zeigt schon die grobe Familienanamnese
der Neurotiker. Neurotische Eltern haben wieder neurotische Kinder. Und
der Ödipuskomplex der Kinder spiegelt den der Eltern wider. Denn der
Ödipuskomplex der Kinder wird auch von der korrespondierenden Ein¬
stellung der Eltern provoziert: Der Vater liebt die Tochter und die Mutter
den Sohn. Diese unbewußte sexuelle Bindung an die Kinder wird in allen
den Fällen besonders groß, wo die wirkliche Sexualbefriedigung der Eltern
aus äußeren oder inneren Gründen (z. B. durch ihre eigenen Neurosen)
zu wünschen übrig läßt; sie wird dann für die Kinder verhängnisvoll, die
einen entsprechenden zu starken Ödipuskomplex entwickeln müssen.
Der ideale Ödipuskomplex verlangt ein Verhältnis zu dritt. Einzige
Kinder haben auch typischerweise einen besonders starken Ödipuskomplex,
weil niemand anderer da ist, auf den sie ihre Gefühle von den Eltern
übertragen könnten. „Spezialformen“ entstehen, wenn zu viele oder wenn
zu wenige Personen vorhanden sind. Als vom Ödipuskomplex als überflüssig
empfundene Menschen kommen bei der heutigen Familienerziehung haupt¬
sächlich die Geschwister in Betracht. Sie sind vor allem Gegenstand
der Eifersucht und können, je nach individuellen Umständen, den im
Ödipuskomplex enthaltenen gegen einen Eltern teil gerichteten Haß ver¬
stärken oder auch durch Ablenkung schwächen. Aber auch als Objekt der
Liebe und somit als Gegenstand ihrer Übertragung kommen die Geschwister
in Betracht, besonders ältere und solche, die nur um ein Jahr oder weniger
jünger sind, so daß die Welt ohne sie gar nicht gekannt wurde. Bei mehreren
älteren Geschwistern gibt es oft „Doubletten des Ödipuskomplexes“, an
denen sich Analoges abspielt wie an den Eltern, was unter Umständen
entlastend wirkt, unter anderen aber auch neue Konfliktmöglichkeiten
bringt. Jüngere Geschwister, die zumeist vorwiegend als Konkurrenten
empfunden werden, können unter Umständen, besonders wenn die Alters¬
differenz eine große ist, auch als eigene Kinder gedacht werden und so je
nach der sonstigen Lagerung des Ödipuskomplexes diesen besonders auf¬
stacheln oder auch durch seine vermeintliche Befriedigung abschwächen.
Das Gegenstück, der Ödipuskomplex, für den zu wenig Menschen da sind,
entwickelt sich bei Kindern, die ohne Eltern oder nur mit Vater oder
Mutter aufwachsen. Auf die nicht in Familien aufgewachsenen Kinder
kommen wir später zu sprechen. Hier wollen wir die Fälle berücksichtigen,
bei denen ein Elternteil frühzeitig verstorben oder aus der Familie aus¬
geschieden ist. Da macht es natürlich den größten Unterschied, ob das
Kind den fehlenden Elternteil noch gekannt hat oder nicht, ob Stiefeltern
vorhanden sind oder nicht, wann solche in die Familie kommen, und wie
- . benehmen. Immer aber, auch dort, wo die Kinder den fehlenden
Khernteil t:ar nicht gekannt haben, wissen sie doch davon, daß es ihn
' a i e1 b daß andere Kinder anders, nämlich mit Vater und Mutter,
aufwachsen.' Sie neigen deshalb dazu, sich als „Ausnahmen“ zu empfinden,
denen das Schicksal besondere Entschädigungen schuldet, was selbst wieder
Zll Verstärkung des Ödipuskomplexes beitragen kann. Allgemein kann
man sagen: Wenn der gleichgeschlechtliche Elternteil verstorben ist, so
v. i! ! das als Erfüllung des Ödipuswunsches perzipiert und weckt deshalb
besonders starke Schuldgefühle. Wenn der andere Elternteil starb, so führt
unbefriedigt bleibende Ödipussehnsucht zur phantastischen Idealisierung
des Verstorbenen und zur Erhöhung der Sehnsucht. Das Übrige hängt
. wann und wie dieser Tod dem Kinde bemerkbar wurde. Besonders
verhängnisvoll scheint mir da zweierlei zu sein. Erstens eine besonders
intensive und fast unlösliche Bindung der Vorstellungen „Sexualität" und
v Tod", da beide durch die gemeinsame Sphäre „Geheimnis der Erwachsenen“
miteinander verbunden sind. Die Folge ist eine Verstärkung des Masochismus,
indem, wenn Sexualbefriedigung als mit dem Sterben verbunden gedacht
ist, das Sterben eben Sehnsuchtsziel wird; oder die Erweckung der inten-
5 ivsteil Sexualangst, da ja die unbewußte Überzeugung herrscht, man
müsse an der Befriedigung sterben, und eine verhängnisvolle Verdrängung
(Vr Sexualität als Folge dieser Angst. Zweitens aber pflegt der Mensch in
cirr I rauer uni einen Verstorbenen in einem gewissen Ausmaße zur oralen
Organisationsstuie der Libido zu regredieren, sich mit dem Verstorbenen
wie ils Tmst über seinen Verlust zu identifizieren. Geschieht dies nun in
frühem Alter, so müssen sich daraus für den Ödipuskomplex und das
ganze Leben bedeutungsvolle Fixierungen entwickeln. So erwirbt das Kind
auf diese Weise mit einer oralen Fixierung auch die Neigung, allen seinen
späteren Objektbeziehungen, also auch seinem Ödipuskomplex, ein gut Stück
Identifizierung beizumengen. — So weigerte sich z. B. eine Patientin, die
seit Jahren glücklich mit einem Manne zusammenlebte, zu heiraten, ohne
daß sie einen Grund dafür angeben konnte. Die Analyse ergab, daß für
sie „Heiraten“ „Kinder bekommen“ bedeutete, und daß sie von einer
unbewußten Angst vor Schwangerschaft und Niederkunft erfüllt war. Die
Mutter war im fünften Lebensjahr der Patientin gestorben; diese hatte
damals die Phantasie entwickelt, der Tod sei in Zusammenhang mit
Sexualität oder Geburt eingetreten, und erwartete nun als Strafe für die
Ödipusbefriedigung, die sie mit dem Tode der Mutter erlebt hatte, in
gleicher Weise zugrundegehen zu müssen wie diese. — Etwas ganz
Ähnliches war an einem männlichen Patienten zu beobachten, der aus
Kastrationsangst frühzeitig in die weibliche Linie geflohen war. Nach dem
48
Otto Fenichel
Tode der Mutter entwickelte er die intensivste Kastrations- und Todesangt,
die später in hypochondrischen Vorstellungen manifest wurde. Der unbe¬
wußte Inhalt der Hypochondrie war: Ich muß ebenso sterben wie die
Mutter, weil ich mich an ihre Stelle gesetzt habe. Ich muß sterben, wenn
der Vater mich nach meinen Wünschen schwängern würde wie die Mutter.
Hier ergab die Analyse besonders deutlich die intensive Verdichtung des
Sexualgeheimnisses mit dem Geheimnis des Todes, die die Kastrationsangst
besonders färbte, indem sie zu einer Angst vor dem „Weg-sein“ und somit
zu einer unbewußten Gleichsetzung von allem, was verschwinden kann,
von Leiche, Kot und Penis führte. — Dazu kommt, daß in dem Elterntod
eine besondere Erfüllung des Ödipuskomplexes gegeben wird — direkt
beim Tod des gehaßten, indirekt durch Idealisierung beim Tod des geliebten
Elternteiles, was Intensität und Abwehr (Schuldgefühl) des Ödipuskomplexes
erhöht. So erzählte eine Patientin, die ebenfalls mit fünf Jahren die
Mutter verloren hatte, daß sie, sonst ein stilles und zur Depression neigendes
Kind einen Sommer lang wirklich glücklich gewesen sei. Erst die Analyse
konnte ihr zu ihrer Überraschung zeigen, daß es der Sommer war, der
dem Tode der Mutter unmittelbar folgte, und in dem das Kind seine
Wünsche für erfüllt und sich selbst als die Nachfolgerin der Mutter an¬
gesehen hatte. Solchen Erwartungen mußte die Enttäuschung folgen, die
Wahrnehmung, daß die Erwachsenen, besonders der Vater, sie doch auch
weiterhin nur als Kind behandelten. Die Reaktion wieder auf diese Ent¬
täuschung mußte eine oral-sadistische werden, da gerade diese Reaktionsart
ebenfalls durch den Tod der Mutter aktiviert worden war. — Fehlt bei
einem Jungen der Vater (oder ist er von geringem Einfluß in der Familie),
so wird er leicht homosexuell oder sonst feminin. Das hängt davon ab,
daß er sich mit demjenigen Elternteil mehr identifiziert, von dem die
wesentlichen Versagungen ausgehen. Eine Patientin, die den Vater nie
gekannt hatte, benahm sich allen M^ännern gegenüber nur sadistisch im
Sinne des extremen „Rachetypus“ des weiblichen Kastrationskomplexes. Ihr
durch keine Wirklichkeit korrigierter phantastischer Ödipuskomplex ließ sie
erstens alle Männer hassen, weil keiner der Vater war, der durch seinen Tod
gottgleich geworden war, aber zweitens darüber hinaus: die Unerfüllbarkeit
der einen Hälfte des Ödipuskomplexes ließ die andere um so grotesker
anwachsen Sie haßte unbewußt wild die Mutter, weil sie selbst den Vater
genossen, ihn aber dann hatte sterben lassen, ihn so der Tochter ebenso
wie den Penis vorenthaltend; und auch diesen intensivsten und der Mutter
geltenden Haß hatte sie auf die Männer übertragen. — Eine schwer
deprimierte und allgemein gehemmte Patientin hatte folgende Vorgeschichte:
Die Eltern hatten sich, als sie erst ein Jahr alt war, geschieden, und sie hatte
j n v itcr nie wieder gesehen. Das Kind entwickelte nun folgende Ödipus-
|j antasie . Mu der Mutter hat es der Vater nicht ausgehalten, sie war
iner nicht wert, aber mich wird er eines Tages holen kommen. Er kam
nichl . Ein ungeheurer reaktiver Haß entstand, den die Patientin in ihrer
Depression gegen sich selbst wandte, mit der unbewußten Rationalisierung:
lch bin eben auch nichts wert, seiner auch nicht würdig, deshalb kommt
cr _ Man kann sich leicht vorstellen, daß Konflikte zwischen den
El tern , ihre zeitweilige oder dauernde Trennung ähnlich wirken müssen wie
Fod. Wenn die Kinder selbst Gegenstand des Streites der Eltern
werden, *o daß jeder Eltemteil um sie wirbt, so erwerben sie dabei leicht
eine besondere Intensivierung des vollständigen Ödipuskomplexes und eine
Fixierung im infantilen narzißtischen Stadium, die sie zu dem Glauben
i.i'irt. die ganze Welt werde ebenso um sie werben wie die Eltern, was
dann zu Enttäuschungen führt, die bei solcher Lebenserwartung nicht
aushleiben können.
Wir sagten, eine ungewöhnliche Reaktion trete ein, wenn die Eltern
ungewöhnlich seien oder sich ungewöhnlich benehmen. Unter „ungewöhnlich
benehmen* ist immer wieder Verwöhnung, Versagung oder beides zu ver-
stehcn. Verwöhnung und Versagung ergänzen sich insofern, als ja gerade
die verwöhnten Kinder die sonst leicht zu ertragenden notwendigen Ver¬
sagungen hei ihrem Eintritt auch traumatisch empfinden müssen. Dabei
kommen am wenigsten absichtliche Erziehungsmaßnahmen in Betracht, am
meisten dis unwillkürliche, alltägliche reale Benehmen der Eltern. Als
besonders wichtig sei zweierlei herausgehoben: Erstens das Verhältnis der
Eltern zur Geschlechtsrolle des Kindes. Manche Mutter z. B. wünscht sich
nur einen Sohn und läßt das die Tochter fühlen u. dgl. Zweitens
das Verhalten der Eltern zueinander, aus dem ja das Kind seine Auffassung
von Sexualität speist. Man denke an schlechte Ehen und ihre Einwirkung
auf die kindliche Triebweit.
Die gesamte „Sittlichkeit* des Elternhauses wirkt so auf die Gestaltung
des Ödipuskomplexes ein; wie weit das Kind seine Triebe als gestattet
oder als verhängnisvoll „schlimm* empfindet, hängt nicht nur davon ab,
ob, wann und wie ihm z. B. die Onanie verboten worden ist, sondern viel¬
mehr von Art und Stärke der im Elternhause herrschenden allgemeinen
Sexualmoral, die die Eltern — wissentlich oder unwissentlich, prinzipiell
oder gelegentlich — aber im Grunde unaufhörlich durch ihre Äußerungen
und Handlungen dokumentieren. Die so suggerierte Auffassung „Triebe
sind schlimm wirkt dem chronischen Onanieverbot gleich — und das
bedeutet, da ja die kindliche Onanie die Exekutive des Ödipuskomplexes
ist, eine Intensivierung der Neigung, den Ödipuskomplex zu verdrängen.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i
4
50 Otto Fenichel
Die wichtigste Kombination von Verwöhnung und Versagung, die sehr
häufig vorkommt, ist die Steigerung der Erregung der Kinder durch
Überzärtlichkeit der Eltern bei gleichzeitiger Behinderung der Befriedigung,
d. h. der organisationsgemäßen Abfuhr dieser Erregung durch Verbote.
Wir erwähnten, daß dabei der korrespondierende unbewußte Ödipuskomplex
der Eltern das ausschlaggebende Moment ist. Oft genug äußern „im Scherz“
Mütter zu ihren Söhnen, Väter zu ihren Töchtern, daß sie ihre Heirat
nicht wünschen, um stets bei ihnen bleiben zu können u. dgl. Die
extremsten Formen von „Ödipuskomplex der Eltern“ findet man manchmal
in der Anamnese von Psychosen. — Entsprechendes gilt nicht nur für das
genitale Gebiet. Wir besprachen, daß der Ödipuskomplex prägenital vor¬
gebildet ist, daß die Art, wie Entwöhnung und Reinlichkeitserziehung
durchgeführt worden ist, ihre Spuren hinterlassen hat, und die Form des
Ödipuskomplexes von vornherein bei seiner Bildung mitbestimmt. Ich habe
versucht, einige Beiträge zu diesem Kapitel, das analytisch schwer zu
eruieren ist, weil von dem in der Analyse auftauchenden Material von
Mischbildungen von Ödipuskomplex und prägenitalen Regungen erst all
das, was durch regressive Entstellung hineingekommen ist, ausgeschaltet
werden muß, in einer kleinen Arbeit „Zur prägenitalen Vorgeschichte
des Ödipuskomplexes“ zusammenzufassen . 1 Von besonderer Wichtigkeit für
Klinik und Charakterologie scheint mir dabei die „oral-sadistische“ Form
des Ödipuskomplexes, die die Befriedigung vom gegengeschlechtlichen
Elternteil in einer Weise fordert, die etwa so charakterisiert werden kann:
„Du mußt es mir geben, sonst nehme ich es mir mit Gewalt,“ wobei
dieses „es“ in verschiedenen Schichten des Unbewußten Verschiedenes
bedeutet: Befriedigung, Kind, Penis, Kot und Milch. Ob eine solche Form
des Ödipuskomplexes sich entwickelt, hängt ab von den Erlebnissen der
Reinlichkeits- und Säuglingserziehung. Ich konnte dort ausführlich von
einem Manne berichten, der anderthalb Jahre lang die höchste orale Ver¬
wöhnung genossen hatte, der dann eine ganz plötzliche völlige Versagung
folgte. Das Resultat war ein negativer Ödipuskomplex von sadistischem
Forderungscharakter. Der Patient lebte ohne Beruf als leidenschaftlicher
Lotteriespieler, unbewußt beherrscht nur von der einzigen an den Vater
gerichteten Idee: Du mußt mir dein ganzes Geld geben. — Ein Mädchen,
das wegen einer Mastitis der Mutter traumatisch abgesetzt werden mußte,
später von der Mutter mit viel libidinöser Beteiligung zur Reinlichkeit
erzogen worden war, erkrankte mit sechs Jahren an einer Darmerkrankung.
Sie reagierte darauf mit der Phantasie, die Mutter hätte sie krank gemacht,
1) IZfPsA, XVII, 1930.
ihr e*“ dm Kot (den Penis), weggenommen. Später im Ödipuskomplex setzte
ic J-ese Phantasie dahin fort, der Vater müsse es ihr wiedergeben, welche un-
bewll0le Forderung sie beim asketischen Charakter des Vaters, der das Ideal
rS stbeh rrschung über alles stellte, mit einer wilden Leidenschaft ver¬
trat. die sich z. B. zeitweise in einer Art Pseudonymphomanie rußerte.
\b r auch in weniger grober Form spiegelt sich regeli säßig der
Charakter der Ellern im Ödipuskomplex der Kinder wieder. Ein einfaches
i >iel: Ein Vater, der alle Frauen verachtet und der das auch wieder¬
holt' ludert, sieht sehr auf „Anständigkeit“ und verlangt Verdrängung
jeder analen Regung;, er zieht der Patientin ihre ältere Schwester merklich
v , r . Die Patientin stand also als Kind vor folgenden Aufgaben: Sie wollte
,;,. n \ it,. r lieben, mußte dabei aber den Penis (als den Geschlechtsunter-
s ,hi,-d. (irr die I rauenVerachtung bewirkte) ausschalten, die konstitutionell
m hr hohe Analerotik ebenso ausschalten, der Schwester etwas antun und
V aters Strenge und Verachtung ertragen. Sie wurde eine Masochistin,
dir das Geschlagen- und Verachtet werden, unbewußt natürlich — dem
Ödipuskomplex entsprechend — von seiten des Vaters, zu ihrem Sexual¬
ziel machte. Damit war gerade die die Liebe des Vaters gefährdende Ver-
achtung zur Lieferbedingung geworden, der anstößige Penis durch die
schlagende Hand, der anstößige Anus durch das geschlagene Gesäß ersetzt
worden, aber auch der der Schwester geltende Haß wurde miterledigt,
(1. nn die phantasierten Prügel galten in letzter Schichte ihr und waren
nur egen das Ich gewendet worden. — Manche Menschen fallen
dadurc h auf, daß ihre Liebesbeziehungen immer den merkwürdigen
t harakier einer „sozialen Angst“ vor dem Liebesobjekt annehmen. Sie
wollen von ihren Objekten in erster Linie beurteilt werden, Verzeihung
und unter Umständen auch Kritik, Verurteilung und Bestrafung erhalten.
Es stellt sich dann bei der Analyse heraus, daß diese merkwürdige
narzißtische Art zu lieben am Ödipuskomplex erworben wurde, der seiner¬
seits diese pathologische Form dem pathologischen Benehmen der Eltern
verdankt, nämlich einer Erziehung, die einerseits besonders streng war und
das Kind an die immer wieder in den Vordergrund gerückte Sphäre von
Schuld, Strafe und Verzeihung fixierte, gleichzeitig alle direkten Trieb-
äußerungen verbot, so daß dem geknebelten Trieb gar nichts anderes
übrig blieb, als die einzig freigelassene Sphäre zu besetzen; die aber
andrerseits durch Inkonsequenzen das Kind dazu brachte, nicht selbständig
zu beurteilen, was brav sei oder schlimm, sondern das von den jeweiligen
Objekten eben als Sexualbefriedigung entscheiden zu lassen. — Als letztes
hierhergehöriges Beispiel sei ein sehr banaler, aber um so einleuchtenderer
lall zitiert: Der Vater eines Patienten mit sehr intensiver Vaterbindung
4 *
52 Otto Fenichel
telegraphierte eines Tages über mehr als 400 km dem vierzigjährigen Sohn
nachdem dieser eine Angina durchgemacht hatte: „Angesichts des un
sicheren Wetters heute nicht ausgehen“.
Es wird aufgefallen sein, daß wir über den wohl wichtigsten Punk
der Realität des kindlichen Erlebens in der heutigen Welt in seiner RolL
für die spezielle Gestaltung des Ödipuskomplexes noch gar nicht gesprochei
haben, nämlich über die soziale Stellung der Eltern. Da
müssen wir jetzt nachholen. Die Analyse der häufigsten Phantasien de:
Kinder über die soziale Stellung zeigt, daß sie im Unbewußten sozia
niedrig gleich triebhaft, sozial hoch gleich gehemmt oder sublimiert setzen
Das hat unlängst erst wieder Helene Deutsch in der Analyse des söge
nannten Familienromans deutlich gezeigt. 1 Wenn ein der Abstammung
nach sozial Hochgestellter sich zu niedrigen Schichten besonders hingezoger
fühlt, so weist die Analyse dann meist — unter dem Mechanismus de:
Idealisierung: ich helfe, ich bin nicht so ungerecht wie der Vater, icl
sublimiere Sexualität zu Menschenliebe — eine Tendenz zum rein Trieb
haften nach, etwa wie in der Tendenz zur Dirne im Gegensatz zur hoher
Geliebten. Aber alle solchen Überlegungen über diese oder ähnliche unbe
wußte Äquivalente der Klassenzugehörigkeit, wie sie die Analyse aufdeckt
sagen ja gar nichts aus über unsere Frage, nämlich über die Abhängigkef
des realen Ödipuskomplexes von der realen sozialen Stellung. Uns handeli
es sich ja nicht um die unbewußten Phantasien über das Soziale
sondern über die R ealitätseinflüsse des Sozialen. Solche treffer.
das Kind unausgesetzt und müssen daher ebenso sehr wie Charaktereigen¬
schaften der Eltern für die Gestaltung des Ödipuskomplexes von Bedeutung
werden. Daß sie es werden, hat Freud schon in seinem berühmter
Beispiel „Zur ebenen Erde und im ersten Stock“ in den „Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse“ gezeigt. 2 Man braucht nur an das
Kapitel Wohnungsnot zu denken, etwa an seine Beziehung zu dem Thema
„Urszene“, um die Bedeutung dieses Momentes sofort zu erkennen,
Bernfeld hat aufgezeigt, wie bestimmte seelische Entwicklungen nui
unter den einer bestimmten sozialen Schichte gegebenen Bedingungen
möglich sind, indem z. B. die Möglichkeit, Depressionen, bzw. Gefahren
des Liebesverlustes durch einfaches Davonlaufen zu entgehen, nur an be¬
stimmtem „sozialen Ort“ gegeben ist. 3 Und trotz alledem muß man
1) H. Deutsch, Zur Genese des Familienromans, I. Z. f. PsA. XVI, 1950.
2) Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr.,
Bd. VII, S. 365 .
3) Bernfeld, Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung
und Pädagogik, Imago XV, 1929.
. daß dieser bedeutungsvolle Umstand der sozialen Stellung der
rT* die Ödipuskomplex« »ach analytischer
Erfahrung geringer ist als man erwarten konnte. Koran liegt das. leg
d' aj vielleicht daran, daß bisher das Material der Psychoanalytiker sozia
, . . . . g war? Oder nicht vielmehr daran, daß in der heutigen Gesellschal
proletarischen Haushalt ebenso die bürgerliche Moral und bürgerliche
Kr Ziehungsprinzipien herrschen wie im bürgerlichen? Wir meinen, daß wegen
indes über die Beziehung von Erziehung und Triebentwicklung
die jene beherrschende bürgerliche Moral - in der heutigen Gesell-
ichts .uisgesagt werden kann, auch dann nicht, wenn man seine
-.gen an ausschließlich proletarischen Objekten vornimmt.
loges gilt von der Frage nachdem Ödipuskomplex der Kinder,
, In Familien aufwachsen. Denn alle diese Kinder leben nicht
wirklich ohne Familieneinfluß. Sie erfahren früher oder später, daß es die
,11 der Familie gibt und worin sie besteht, daß andere Kinder
Vater und Mutter haben und sie die zurückgesetzten Ausnahmen sind. Sie
haben ebenfalls ihren Ödipuskomplex, d. h. nicht nur triebhafte Bindungen
Liebe und Haß an ihre Erzieherpersonen und an alle Erwachsenen,
mit denen sie in Berührung kommen, sondern auch Phantasien von Vater
und Mutter, die dem Ödipuskomplex anderer Kinder sehr ähnlich sind,
nur durch ihren phantastischen Charakter speziell geformt. Ihr Ödipus¬
komplex ist charakterisiert durch die Diskrepanz zwischen Phantasie und
Realität, wenn auch natürlich ihre Phantasieprodukte von realen Erfahrungen
gespeist sind. Soweit sie Objekt der Analyse geworden sind, kann man von
ihnen aussagen* daß für sie das gleiche in doppeltem Sinne gilt, was wir
den Rindern sagten, die einen Elternteil nicht gekannt haben. Wachsen
sie nicht an einer Stelle, z. B. in einer Gemeinschaft auf, die doch noch
fest« 1 Bindungen erlaubt, sondern wechseln sie ihren Aufenthaltsort und
sind jedes Jahr anderen Menschen und anderen Einflüssen ausgesetzt, so
spiegelt sich das nicht nur in ihrer widerspruchsvollen Charakterbildung
— Verwahrloste mit Über-Ich-Abweichungen haben immer diese Anamnese
—, worüber zu sprechen zu weit führen würde, sondern sie haben auch
das Lieben und Hassen nie recht erlernt, ihr Ödipuskomplex ist Phantasie und
die Wirklichkeit ist eine infantil-narzißtische Form der Objektbeziehungen,
regiert durch Identifizierungen mit ihren Konflikten und sozialen Ängsten
an Stelle von Liebe und Haß. — In einer ständigen Gemeinschaft dagegen
gibt es ja immer irgend welche Figuren, die eine Vater- oder Mutterrolle
spielen, aber freilich werden auch da die Differenzen gegenüber der Er¬
ziehung durch den wirklichen Vater und die wirkliche Mutter sich im
Ödipuskomplex spiegeln.
54
Otto Fenidiel: Spezialformen des Ödipuskomplexes
So ist kein Zweifel, daß die Spezialformen vom Erleben abhanden. Wie
aber ist es mit dem Rahmen? Ist der Ödipuskomplex selbst, die Tatsache
von Liebe und Eifersuchtshaß gegenüber den Eltern, eine biologische
Gegebenheit, wie ein Organ, wie die Nase resp. die Thymusdrüse eine
biologische Gegebenheit ist? Oder ist am Ende nicht auch er ein Produkt
des Erlebens, der Institution der Familienerziehung, und wandelbar? — So
gestellt, t it das im Grunde eine dumme Frage; denn wenn wir an die
Deszendenzlehre glauben, muß er wandelbar sein, weil ja dann auch die
Nase wie alle Eigenschaften der Arten wandelbar ist. Allerdings ist, vom
Standpunkt der Deszendenztheorie gesehen, nicht das Erleben des Einzel¬
individuums, sondern das phylogenetische Erleben ausschlaggebend. Viele
Züge des Ödipuskomplexes, vor allem seine Verbundenheit mit archaischer
Denkweise und mit der Vorstellung der Kastration, sprechen dafür, daß
auch der Ödipuskomplex seine phylogenetisch verankerte Grundlage hat.
Freud nimmt an, daß er erworben wurde, als die ganze Menschheit
die gesellschaftliche Horden Struktur, den Vorläufer der Familie, hatte. Man
kann seine diesbezüglichen Annahmen mitmachen, ohne in der Frage
Stellung zu nehmen, ob man diese patriarchalische Horde als erste oder
schon als spätere Organisationsform der Menschheit gelten lassen will. —
Jedenfalls ist die Annahme einer solchen phylogenetischen Wurzel des
Ödipuskomplexes kein Widerspruch gegen die durch die Erfahrungs¬
tatsachen seiner Spezialformen uns aufgedrängte, im Grunde selbstver¬
ständliche Ansicht, daß auch der Ödipuskomplex selbst sich ändern muß,
wenn die Institution der Familie schwindet oder sich ändert. Ohne er¬
ziehende Eltern gibt es zwar Liebe und Haß der Kinder den sie um¬
gebenden Erwachsenen gegenüber und daraus sich ergebende Konflikte, —
aber Ödipuskomplex können wir diese Erscheinung nur solange nennen,
als sie mit der Elternphantasie einhergeht und die durch die Familie auf¬
gezwungene Kuppelung von Liebe und Eifersuchtshaß zeigt. Daß ein
anderes Milieu andere Reaktionen bedingt und alle Lebenserscheinungen
immer im Flusse sind, folgt mit Selbstverständlichkeit aus der Lehre
Darwins. Freilich wird man nicht annehmen dürfen, daß solche Verände¬
rungen allzu rasch vor sich gehen.
Dir diarakterologische Überwindung des Ödipus¬
komplexes
y orlrag au f der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden,
am 28. September 1930
Von
Wilhelin Reich
Berlin
Di, psychoanalytische Forschung ist in der Lage, zur Charakterlehre
Uätilich neue Gesichtspunkte und von diesen Gesichtspunkten her,
neue Ergebnisse zu liefern; dazu ist sie durch drei Eigenschaften befähigt:
c!.m li ihre Lehre von den unbewußten Mechanismen,
durch ihre historische Betrachtungsweise, und
durch die Erfassung der Dynamik und Oekonomik des psychischen Ge-
schehens.
Indem sie von den Erscheinungen zu deren Wesen und Entwicklung
vordringt und die Prozesse der „Tiefenpersönlichkeit“ im Querschnitt und
MChnltt erfaßt, legt sie automatisch den Weg frei zum Ideal der
« h irakterforschung, zu einer „Genetischen Typenlehre“, die uns nicht
nur das naturwissenschaftliche Verständnis menschlicher Reaktionsweisen,
sondern auch deren spezifische Entwicklungsgeschichte nahebringen könnte.
Das Verdienst allein, die Charakterforschung aus dem Bereich der so¬
genannten Geisteswissenschaft im Sinne von K 1 a g e s in das der natur¬
wissenschaftlichen Psychologie herüberzutragen, wäre nicht zu unterschätzen.
Die klinische Erforschung dieses Gebietes ist aber nicht einfach, und es
bedarf zunächst einer Klärung des zu untersuchenden Tatbestandes.
I
Die Psychoanalyse hat ja von vornherein bei der Untersuchung des Charak¬
ters ihrem Wesen entsprechende neue Wege eingeschlagen. Freuds 1
erste Entdeckung, daß sich bestimmte Charaktereigenschaften historisch
1) Freud: Charakter und Analerotik, Ges. Sehr., Bd. V.
56 Wilhelm Reich
als durch Einflüsse der Umwelt hervorgerufene Abwandlungen und Fort¬
setzungen primitiver Triebrichtungen erklären lassen, daß etwa Geiz, Pe¬
danterie und Ordnungssinn Abkömmlinge analerotischer Triebkräfte sind,
war hier bahnbrechend. Später haben insbesondere Jones 1 und Abraham 2
die Charakterologie durch Zurückführung von Charakterzügen auf ihre
infantil-triebhafte Grundlage (z. ß. Neid-Ehrgeiz —Harnerotik) um grund¬
sätzliche Funde bereichert. Bei diesen ersten Versuchen handelte es sich
um die Erklärung der Triebgrundlage einzelner typischer Charakter-
züge. Die Problematik aber, die sich aus den Anforderungen des therapeu¬
tischen Alltags ergibt, reicht weiter. Wir sind vor die Alternative gestellt,
den Charakter als Gesamtformation sowohl allgemein als
auch in seinen typologischen Abwandlungen historisch und dynamisch¬
ökonomisch zu verstehen oder aber auf die Beeinflussung einer nicht ge¬
ringen Anzahl von Fällen zu verzichten, bei denen es gerade auf die Be-
seitigung ihrer charakter-neurotischen Reaktionsbasis ankommt.
Von der klinischen Tatsache ausgehend, daß sich der Charakter des
Kranken in seiner Grundeigenschaft als typische Reaktionsweise in den
Dienst des Widerstandes gegen die Aufdeckung des Unbewußten stellt
(Charakterwiderstand), konnte ich in früheren Arbeiten 3 nach-
weisen, daß diese Funktion des Charakters in der Behandlung seine Ge¬
nese widerspiegelt: Die Anlässe, die die typische Reaktion eines Menschen
im gewöhnlichen Leben und in der Behandlung in Gang setzen, sind die
gleichen, die seinerzeit die Charakterbildung bedingten, die einmal her¬
gestellte Reaktionsweise aufrecht erhielten und festigten und sie sozusagen
zu einem automatischen Mechanismus gestalteten.
Bei dieser Problemstellung kommt es also nicht auf den Inhalt und
die Eigenart dieses oder jenes Charakterzuges an, sondern auf die sinn¬
volle Arbeitsweise und die Genese der typischen Reaktionsweise überhaupt.
Während wir bisher hauptsächlich die Inhalte des Erlebens und die neu¬
rotischen Symptome und Charakterzüge verstehen und genetisch erklären
konnten, gelangen wir jetzt auch zur Klärung des formalen Problems,
der Art und Weise, in der erlebt wird und neurotische Symptome
produziert werden. Ich meine, wir gehen in der Annahme nicht fehl, daß
wir das Verständnis dessen anbahnen, was man den Grundzug einer
Persönlichkeit nennen möchte.
1) Jones: Über analerotische Charakterzüge. IZfPsA, V, 1919.
2) Abraham: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung Int PsA-Ver-
lag, 1924.
5) „Über Charakteranalyse“ (1928.), „Der neurotische und der genitale Charakter“
v 1 9 2 9 )» »Kindliche Phobie und Charakterbildung“ (1950), alle i. d. IZfPsA.
[
Man fpric h, im Populären von harten und weichen, stolzen und sich
... irigenden. kühlen und warmen, vornehmen und heißblütigen Menschen.
Die p hoana |yse dieser verschiedenen Charaktere kann nachweisen, daß
slfh pur um verschiedene Formen der Panzerung des Ichs gegen
,)„• Gefahren der Außenwelt und die verdrängten Triebansprüche des
Kj handelt. Hinter der übermäßigen Höflichkeit des einen wirkt historisch
\ ngst als hinter der schroffen und gelegentlich brutalen
Heaktionsweise des anderen. Verschiedene Schicksale nur haben bedingt,
daß der eine seine Angst in dieser, der andere in jener Form erledigt
oder zu erledigen versucht. Wenn die psychoanalytische Klinik von passiv-
feinininen. paranoid aggressiven, zwangsneurotischen, hysterischen, genital-
narzißtischen und anderen Charakteren spricht, so hat sie durch diese
Namengebung in etwas grober Schematik differenzielle Reaktionstypen er-
• a £ Ks kommt tber jetzt darauf an, sowohl das Gemeinsame der Tät¬
ige iir Iharakterbildung“ zu erfassen, als auch über die grundsätzlichen
Bedingungen etwas auszusagen, die zu einer so typischen Differenzierung
führen.
\\ ir stellen uns für diese Arbeit die Aufgabe, das Gemeinsame an der
Herstellung d* s (Charakters darzustellen und einige bekannte Differen-
zierungsmei hanismen als Beispiele anzuführen.
ii
Ms nächstes haben wir die Frage zu behandeln, was die Charakter¬
bildung veranlaßt und in Gang setzt. Dazu ist es notwendig, an einige
Kigensch.iften jeder charakterologischen Reaktion zu erinnern, die ich an
anderer Stelle ausführlich dargestellt habe. Der Charakter besteht in einer
chronischen Veränderung des Ichs, die man als Verhärtung be¬
schreiben möchte. Sie ist die eigentliche Grundlage für das Chronisch-
w erden der für die Persönlichkeit charakteristischen Reaktionsweise. Ihr
Si n ist der des Schutzes des Ichs vor äußeren und inneren Gefahren.
\N chronisch gewordene Schutzformation verdient sie die Bezeichnung
„Panzerung 1 *. Sie bedeutet klarerweise eine Einschränkung der psychischen
Beweglichkeit der Gesamtperson. Diese Einschränkung ist gemildert durch
nichtcharakterologische, also atypische Beziehungen zur Außenwelt, die wie
freigebliebene Kommunikationen in einem sonst geschlossenen System an-
tmio n. Es sind „Lucken“ im „Panzer“, durch die die libidinösen und
sonstigen Interessen je nach der Situation gleich Pseudopodien ausgeschickt
und wieder eingezogen werden. Der Panzer selbst ist aber beweglich zu
denken. Seme Reaktionsweise verläuft durchweg nach dem Lust-Unlust-
Prtnzip. In unlustvollen Situationen nimmt die Panzerung zu, in lust-
58 Wilhelm Reich
vollen lockert sie sich. Der Grad der charakterologischen Beweglichkej
die Fähigkeit, sich einer Situation entsprechend der Außenwelt zu öffne
oder sich gegen sie abzuschließen, macht den Unterschied zwischen realität
tüchtiger und neurotischer Charakterstruktur aus. Als Prototyp eini
pathologisch starren Panzerung imponieren etwa der affektgesperrte Zwang
Charakter und die schizophrenen Autismen, die in der Richtung zur kati
tonen Starre liegen.
Der charakterologische Panzer ist entstanden als chronisches Ergehn
des Aufeinanderprallens von Triebansprüchen und versagender Außenwe
und bezieht aus den aktuellen Konflikten zwischen Trieb und Außenwe
seine Kraft und seine fortdauernde Daseinsberechtigung. Er ist der Au
druck und die Summe jener Einwirkungen der Außenwelt auf das Triel
Ich, die durch Häufung und qualitative Gleichartigkeit ein historisch!
Ganzes bildeten. Das wird sofort klar, wenn wir an bekannte Charakte:
typen denken, wie etwa „der Bürger“, „der Beamte“, „der Proletarier'
„der Fleischhauer“ usw. Die Stätte, an der er sich bildet, ist das Icl
gerade jener Teil der Persönlichkeit, der an der Grenze zwischen de]
bio-physiologisch Triebhaften und der Außenwelt liegt. Wir bezeichne
ihn daher auch als den Charakter des Ichs.
Im Beginne seiner definitiven Formierung finden wir in de
Analysen regelmäßig den Konflikt zwischen den genitalen Inzestwünsche
und der realen Versagung der Befriedigung dieser Ansprüche. D i
Charakterbildung setzt ein als eine bestimmte Fori
der Überwindung des Ödipuskomplexes. Die Bedingungei
die gerade zu dieser Art der Erledigung führen, sind besondere, ebe
charakterspezifische. (Diese Bedingungen gelten unter den heute herrschende
gesellschaftlichen Umständen, denen die kindliche Sexualität unterlieg
Mit der Änderung dieser Umstände werden sich auch die Bedingunge
der Charakterbildung und mit ihnen die Charakterstrukturen verändern
Denn es gibt auch andere, freilich nicht so wesentliche und die gesaml
zukünftige Persönlichkeit bestimmende Erledigungsarten, etwa die einfach
Verdrängung oder die Bildung einer infantilen Neurose. Betrachten wi
das Gemeinsame an diesen Bedingungen, so finden wir überaus intensiv
genitale Wünsche und ein noch verhältnismäßig schwaches Ich, welche
aus Angst vor Strafe sich zunächst durch Verdrängungen schützt. Die Vei
drängung führt zu einer Stauung der Antriebe und diese wieder bedrof
die einfache Verdrängung mit einem Durchbruch des verdrängten Triebe:
Das hat eine Veränderung des Ichs, etwa Herausbildung von Haltunge;
ängstlicher Vermeidung zur Folge, die sich mit dem Ausdruck Scheu zu
sammenfassen lassen. Das ist noch nicht charakterologisch, bloß der erst
Du* durakiercnuyt^^
Kat lber für die Charakterbildung bereits bedeutsame Folgen.
t^Zh^oAer eine ihr verwandte Haltung des Ichs bedeutet zwar auf
I),e Scheu Einschränkung des Ichs, auf der anderen aber eine
Schutz vor Situationen, die Gefahren
der einen Seite eine
sie bietet einen^J
WtMB und das Verdrängte provozieren
etwa die
ht hinreicht, die Bewältigung des Triebes zu leisten; im Gegen-
Es zeigt sich aber, daß diese erste Veränderung des Ichs,^
t MW W— —T « 4 _. T j. ,
tei | ( ie Führt leicht zur Angstentwicklung und wird immer die Ha ungs-
hen Phobie. Um die Verdrängung aufrechtzu erhalten, ist
eln , weitere Veränderung des Ichs notwendig: Die Verdrängungen
müssen festgekittet werden, das Ich muß sich verhärten, die
Abwehr muß einen chronisch wirkenden, automatischen Charakter
bekommen l nd da die parallel entwickelte kindliche Angst eine stete
Bedrohung .irr Verdrängungen darstellt, da doch in der Angst das Ver-
drangte sich äußert, da ferner die Angst selbst das Ich zu schwachen
dro ht, muß auch gegen die Angst eine schützende Formation gebildet
11,, treibende Motiv aller dieser Maßnahmen, die nun das Ich
ergreift, ist letzten Hildes bewußte oder unbewußte Angst vor Strafe, die
, durch das heute übliche reale Verhalten der Eltern und Erzieher täg-
li, h neu angefacht wird. So ergibt sich das scheinbare Paradoxon, daß das
Rind aus Angst auch die Angst zu erledigen trachtet.
Die libido'ökonomisch notwendige Verhärtung des Ichs erfolgt im
wesentlichen auf der Grundlage dreier Vorgänge:
Es identifiziert sich mit der versagenden Realität in Gestalt der ver-
tagenden Hauptperson.
Es wendet die Aggression, die es gegen die versagende Person mobili¬
sierte und die selbst Angst erzeugte, gegen sich selbst.
Ks bildet reaktive Haltungen gegen die genitalen Strebungen, indem
es deren Energie dem Es entnimmt und nun in seinem eigenen Interesse
verwendet.
Der erste Vorgang erfüllt die Panzerung mit sinnvollen Inhalten. (Die
Affektsperre eines Zwangskranken hatte den Sinn: „Ich muß mich be-
herrschen, wie mein Vater mir immer gepredigt hat,“ aber auch: „Ich
muß meine Lust retten und mich gegen den Vater abstumpfen.“)
Der zweite Vorgang bindet vielleicht das wesentlichste Stück aggressiver
Energie, sperrt einen Teil der Motorik und schafft dadurch das hemmende
Element des Charakters.
Der dritte Vorgang entzieht den verdrängten libidinösen Antrieben
gewisse Quantitäten an Libido, so daß ihre Durchschlagskraft vermindert
wird. Diese Veränderung wird später nicht nur aufgehoben, sondern über-
6o Wilhelm Reidh
boten durch die Steigerung der verbliebenen Energiebesetzungen in folg
der Einschränkung der Motorik und ßefriedigbarkeit.
Die Panzerung des Ichs erfolgt also anläßlich der Strafangst, au
energetische Kosten des Es und mit den Inhalten der Verbote und Vo]
bilder der Erziehungspersonen. Nur so löst die Charakterbildung ihi
ökonomische Aufgabe, den Druck des Verdrängten zu mildern und das Ic
darüber hinaus zu stärken. Aber der ganze Prozeß hat auch eine Kehrseite
Hatte diese Panzerung nach innen Erfolg, vorläufig wenigstens, so bedeute
sie gleichzeitig eine mehr oder minder weitgehende Absperrung sowoh
gegen Triebreize von außen als auch gegen weitere Einflüsse der Erziehung
Das braucht außer in groben Fällen von Trotzentwicklung eine äußei
liehe Fügsamkeit nicht auszuschließen. Es darf auch nicht übersehe:
werden, daß oberflächliche Fügsamkeit, wie etwa beim passiv-feminine:
Charakter, sich mit härtester innerer Resistenz verbinden kann. An diese
Stelle ist der Ort hervorzuheben, daß die Panzerung in dem einen Fall
an der Oberfläche der Persönlichkeit, in dem anderen in der Tiefe erfolgi
Bei tiefliegender Panzerung ist die äußere augenfällige Erscheinung de
Persönlichkeit nicht ihr wirklicher, sondern ihr scheinbarer Ausdruck. Al
Beispiel für Panzerung an der Oberfläche führe ich den affektgesperrte]
Zwangscharakter und den paranoid-aggressiven Charakter, als Beispiel fü
tiefe Panzerung den hysterischen Charakter an. Die Tiefe der Panzerunj
hängt von hier nicht näher zu erörternden Bedingungen der Regressioi
und Fixierung ab und gehört als Detailfrage zum Problem der Charakter
diff erenzierung.
UI
Ist die charakterologische Panzerung auf der einen Seite Folge un<
bestimmte Erledigungs a r t des kindlichen Libidokonfliktes, so wird sii
unter den Bedingungen, denen die Charakterbildung in unseren Kultur
kreisen unterliegt, in der Mehrzahl der Fälle Grundlage späterer neu
rotischer Konflikte und Symptomneurosen; sie wird zur Charakter
neurotischen Reaktionsbasis. An anderer Stelle 1 wurde di<
Exacerbation der neurotischen Reaktionsbasis zur Symptomneurose eingehenc
ausgeführt. Ich beschränke mich daher auf eine kurze Zusammenfassung
Voraussetzung einer späteren neurotischen Erkrankung ist eine charak
terologische Persönlichkeitsstruktur, die die Herstellung eines sexualökono
mischen Haushalts nicht zuläßt. Die Grundbedingung der Erkrankung is
also nicht der Ödipuskomplex an sich, sondern die Art und Weise, in de]
1) Reich: „Der genitale und der neurotische Charakter.“ IZfPsA, XV, 1929,
von
Die iiigraKtvroiu^ia^^-
. , , wurde Da aber diese Erledigung selbst von der Art des
" ", jLfl.kte. weitgehend bestimmt ist (Intensität der Strafangst, Wette
' T • •bhefriedigung gezogenen Grenzen, Charakter der Eltern usw.),
. im Letzten die Entwicklung des Ichs des Kleinkindes bis zur
L * de n Weg z ür n ««. ^ r
sexuellen Haushalt all Grundlage der sozialen und sexuellen Potenz
ie cbaraktemeurotische Reaktionsbasis ist dadurch gekennzeichnet, daß
, .it ging und das Ich in einer Weise erstarren ließ daß es zu
einem geordneten Sexualleben und Sexualerleben spater nicht kommen
kann Das bedingt, daß die unbewußten Triebkräfte keine energetische
Entlastung erfahret! und daß die sexuelle Stauung nicht nur permanent
sondern sich ständig steigert. Als nächste Folge davon beobachten
wir , sl , le /«nähme der charakterologischen Reaktionsbildungen gegen
dH- sexuellen Ansprüche, die sich in Anlehnung an aktuelle Konflikte in
Wichtigen l.ebenssituationen heranbilden. Wie im Kreislauf erhöht sich
dadurch die Stauung, die zu neuerlichen Reaktionsbildungen ganz in der
An des phobischen Vorbauens führt. Die Stauung wächst aber immer rascher
j, ,r.e Panzerung zunimmt, bis schließlich die Reaktionsbildung der
psyt Spannung nicht mehr adaequat ist. Und nun setzt der Durch-
brut h der v< rdrängten Sexualwünsche ein, die sofort durch Sympiombildung
abgewehrt werden 'Bildung einer Phobie oder eines Äquivalents).
In diesem neurotischen Prozeß überschichten und durchsetzen einander
die verschiedenen Abwehrpositionen des Ichs; wir finden dann im Quer¬
schnitt der Persönlichkeit charakterologische Reaktionen nebeneinander,
JungcgMchichtlich zeitlich verschiedenen Perioden angehören.
In der Phase des schließlichen Zusammenbruchs des Ichs gleicht der
(Querschnitt der Persönlichkeit einem Landstrich nach einem vulkanischen
Ausbruch, der Gesteinsmassen verschiedener geologischer Schichten durch-
einanderlegte. Aber in diesem Durcheinander sind bald der führende Sinn
und der kardinale Mechanismus aller charakterologischen Reaktionen heraus-
zufinden, die, einmal festgestellt und verstanden, auf dem kürzesten Wege
zum zentralen infantilen Konflikt führen.
IV
Welche differenzierenden Bedingungen für die Herstellung der gesunden
und der pathologischen Panzerung sind heute schon erkennbar? Unsere
Untersuchung der Charakterbildung bleibt sterile Theorie, so lange wir
diese Frage nicht einigermaßen konkret beantworten und dadurch der
Pädagogik Anhaltspunkte liefern können. Die Konsequenzen, die daraus
62
Wilhelm Reich
folgen, versetzen allerdings den Pädagogen, der gesunde Menschen aufzieher
will, in unserer heutigen Sexualordnung in nicht geringe Verlegenheit
Zunächst muß noch einmal hervorgehoben werden, daß die Charakter
bildung nicht von der bloßen Tatsache, daß Trieb und Versagung auf
einanderstoßen, abhängt, sondern von der Art, wie dies geschieht, zu
welchem Zeitpunkte die charakterbildenden Konflikte eingreifen und ar
welchen Trieben.
Versuchen wir es, uns in der Fülle der Bedingungen zur ersten Orien¬
tierung ein Schema zu schaffen. Wir überblicken dann folgende prinzipielle
Möglichkeiten. Das Resultat der Charakterbildung hängt ab:
Vom Zeitpunkt, in dem die Versagung den Trieb trifft;
von der Häufung und Intensität der Versagungen;
von den Trieben, die die zentrale Versagung erfahren;
von dem Verhältnis zwischen Gewährenlassen und Versagung;
vom Geschlecht der hauptsächlich versagenden Person;
von den Widersprüchen in den Versagungen selbst.
Da das Ziel einer künftigen Prophylaxe der Neurosen nur sein kann,
Charaktere zu schaffen, die einerseits dem Ich gegen Außen und Innen
genügend Halt geben, andererseits aber auch die für die seelische Ökonomie
notwendige sexuelle und soziale Bewegungsfreiheit lassen, müssen wir uns
zunächst darüber klar werden, was jede Versagung einer Triebbefriedigung
des Kindes im Prinzip zur Folge hat.
Jede Versagung von der Art der heutigen Erziehungsmaßnahmen bedingt
eine Rückziehung der Libido ins Ich, mithin eine Verstärkung des sekun¬
dären Narzißmus; das bedeutet bereits eine charakterologische Wandlung
des Ichs im Sinne einer Erhöhung der narzißtischen Sensibilität, die etwa
als Scheu und erhöhte Angstbereitschaft zum Ausdruck kommt. Wurde
die versagende Person — was gewöhnlich der Fall ist — geliebt, so ent¬
wickelt sich zuerst eine ambivalente Einstellung zu ihr, die dann in eine
Identifizierung ausläuft: Das Kind nimmt neben der Versagung auch
bestimmte Charakterzüge dieser Person in sich auf, und zwar gerade die¬
jenigen, die gegen den eigenen Trieb gerichtet sind. Das Endergebnis für
den Trieb ist dann im wesentlichen seine Verdrängung.
Die charakterologische Wirkung der Versagung ist aber ver¬
schieden nach dem Zeitpunkt, in dem sie den Trieb trifft. Im Beginne
Triebentfaltung hat sie zur Folge, daß die Verdrängung zu gut gelingt;
der Sieg ist zwar vollständig, aber der Trieb steht nun weder der Sublimie¬
rung zur Verfügung noch der bewußten Triebbefriedigung. Die zu frühe
Verdrängung etwa der analen Erotik schädigt die Entwicklung der analen
Sublimierungen und bereitet schwere anale Reaktionsbildungen vor.
rharak.eroIo.nsch bedeutsamer ist, daß durch die Ausschaltung der Triebe
< r fü *e der Person eine Schädigung der Gesamtaktivität gesetzt
Zt 'lL sieht man zum Beispiel bei Kindern, bei denen die Aggression
und die motorische Lust zu früh gehemmt wurden.
\ut dem Höhepunkt seiner Entwicklung kann ein Trieb kaum me r
L r mz zur Verdrängung gebracht werden. Hier kann eine Versagung nur
mehr einen unlösbaren Konflikt stiften zwischen Verbot und Drang: Trifft
eine jähe und ungewohnte Versagung den Trieb auf der Hohe seiner
Entfaltung, so ist der Boden für die Entwicklung einer triebhaften Per¬
sönlichkeit gelegt 1 . Das Kind nimmt dann das Verbot nicht voll auf,
produziert aber trotzdem starke Schuldgefühle, die ihrerseits wieder das
triebhaite Handeln zum Zwangsimpuls verstärken: Daher begegnen wir
hei triebhaften Psychopathen einer ungefügten Charakterstruktur, die um
g efähr das gerade Gegenteil von dem Postulat der genügenden Panzerung
g.'gen Außen und Innen darstellt. Es ist für den Triebhaften charak¬
teristisch. daß nicht die Reaktionsbildung gegen den Trieb, sondern der
Trieb selbst (vorwiegend sadistische Impulse) in den Dienst der Abwehr
von imaginären Gefahrsituationen, auch Triebgefahren, eingestellt ist. Da
infolge* der zerrütteten Genitalstruktur der Libidohaushalt desolat ist, steigert
die Sexualstauiing die Angst und mit ihr die charakterologischen Reaktionen
gelegentlich zu Exzessen jeder Art.
Das Gegenteil des triebhaften ist der triebgehemmte Charakter, der als
Typus den hysterischen, zwangsneurotischen und depressiven Charakter
umfaßt. >d wie der triebhafte Charakter sich in seiner Entwicklung kenn-
zeit hnet durch den Gegensatz von vollentfaltetem Trieb und jäher Ver¬
sagung auf seinem Höhepunkte, so der triebgehemmte Charakter durch
eine Häufung der Versagungen und sonstigen triebeinschränkenden Er¬
ziehungsmaßnahmen vom Anfang bis zum Abschluß der Triebentwicklung.
Dr m entspricht die charakterologische Panzerung: Sie neigt zur Starre,
beengt beträchtlich die psychische Bewegungsfreiheit des Individuums,
bildet die Reaktionsbasis für depressive Zustände und Zwangssymptome
(gehemmte Aggression), macht aber, und das ist ihr soziologischer Sinn,
den Menschen zu einem braven, im Kern kritiklosen Untertanen.
l ; iir die Art des späteren Sexuallebens am bedeutsamsten ist das
Geschlecht und der Charakter der Haupterziehungs¬
person.
W ir reduzieren die sehr komplizierte Einflußnahme der Gesellschaft auf
das Kind auf den Tatbestand, daß es in einer aus Familien aufgebauten
i) Vgl. Reich: „Der triebhafte Charakter“, Int. PsA. Verlag 1925.
64
Wilhelm Reich
Erziehungsorganisation im wesentlichen der Vater und die Mutter sind, d
als Hauptvollzugsorgane des gesellschaftlichen Einflusses einwirken. Durc
die meist unbewußt sexuelle Einstellung der Eltern zu ihren Kinder
fügt es sich, daß der Vater die Tochter, die Mutter den Sohn mehr liel
und weniger ablehnt, daher auch weniger einschränkt und erzieht. Dj
Sexualbeziehung allein bestimmt also in den meisten Fällen, daß de
gleichgeschlechtliche Elternteil zur Haupterziehungsperson wird. Mit de
Einschränkung, daß in den ersten Lebensjahren des Kindes und bei de
Masse der werktätigen Bevölkerung sich dieses Verhältnis zugunsten de
Mutter als Erziehungsperson verschiebt, kann man sagen, daß die gleicl
geschlechtliche Identifizierung führend ist, die Tochter also ein mütte]
liches, der Sohn ein väterliches Ich und Über-Ich entwickelt. Es komm
aber durch eine besondere Konstellation der Familie oder des Charaktei
der Eltern auch sehr häufig zu Abweichungen. Wir erwähnen einige typisch
Grundlagen von Fehlidentifizierungen.
Betrachten wir zunächst die Verhältnisse beim Knaben. Unter gewöhn
liehen Umständen, wenn er nämlich den einfachen Ödipuskomplex enl
wickelt hat, wenn die Mutter ihn mehr liebte und ihm weniger versagt
als der Vater, wird er sich mit diesem identifizieren und so — voraus
gesetzt, daß der Vater selbst ein aktiv-männliches Wesen hatte — sich b
der Richtung männlicher Aktivität entfalten. War hingegen die Mutte
eine strenge, „männliche Persönlichkeit, gingen von ihr die wesentlichstei
Versagungen aus, so wird sich der Knabe vorwiegend mit ihr identifizierei
und je nach der erogenen Stufe, auf der die mütterliche Hauptversagun*
ihn traf, eine Mutteridentifizierung auf phallischer ode:
auf analer Basis entwickeln. Auf der Grundlage der phallischei
Mutteridentifizierung pflegt sich ein phallisch-narzißtischer Charakter zi
entwickeln, dessen Narzißmus und Sadismus sich besonders gegen Frauer
richten (Rache an der strengen Mutter). Diese Haltung ist die charaktero
logische Abwehr der tief verdrängten ursprünglichen Liebe zur Mutter,
die neben ihrem versagenden Einfluß und der Identifizierung mit ihi
nicht bestehen bleiben konnte, vielmehr in eine Enttäuschung auslief,
Genauer: Sie verwandelte sich in die charakterologische Haltung, aus dei
sie aber jederzeit wieder durch Analyse gelöst werden kann.
Bei der Mutteridentifizierung auf analer Basis ist der Charaktei
passiv und feminin geworden, aber nicht Männern, sondern Frauen gegen¬
über; solche Charaktere bilden oft die Basis der masochistischen Perversion
mit der Phantasie der strengen Frau. Diese Charakterformation dient
meist der Abwehr phallischer Wünsche, die in der Kindheit kurze Zeit
zwar, aber intensiv der Mutter gegolten hatten. Es besteht Kastrationsangst
or der Matter, die die anale Identifizierung mit ihr unterstützt. Die
Bisis dieser Charakterformation ist spezifisch die Analität.
, lieg t dem passiven und femininen Charakter des Mannes eine
Identifizierung mit der Mutter zugrunde. Aber während beim oben
beschriebenen Typus, da die Mutter die versagende Erziehungsperson war,
iic auc h das Objekt der Angst ist, dem diese Haltung gilt, gibt es eine
Form des passiv-femininen Charakters, die durch übergroße Strenge des
Vaters zustande kam. Das geschah in der Weise, daß der Knabe von
der männlich-phallischen Linie aus Angst vor Realisierung seiner genitalen
Wunsche auf die weiblich-anale zurückwich, sich hier mit seiner Mutter
•rte und zu seinem Vater, später zu allen Autoritäten, passiv und
weiblich einstellte. Übertriebene Höflichkeit und Zuvorkommenheit, Weich-
igung zur Hinterlist kennzeichnen diesen Typus, der mit seiner
aktiven männlichen Strebungen abwehrt, in erster Linie
seinen verdrängten Haß gegen den Vater. Neben seinem de facto weib-
lich passiven Wesen (Mutteridentifizierung im Ich) hat er sich aber in
seinem Ichideal mit seinem Vater identifiziert (Vateridentifizierung im
Über-Ich und Ichideal), ohne diese Identifizierung wegen des Mangels
einer phallischen Position je realisieren zu können. Er wird immer weib-
Üch sein und männlich sein wollen. Ein schweres Minderwertigkeits-
gef ihl, das sich aus dieser Spannung zwischen weiblichem Ich und
männlichem Ichideal ergibt, wird seinem Wesen stets den Stempel des
Gedrückten, manchmal Geduckten aufprägen. Die regelmässig vorhandene
&( hwere Potenzstörung gibt dem ganzen eine rationale Berechtigung.
Vergleichen wir diesen Typus mit dem der phallischen Mutteridentifi-
zierung, <<> sehen wir, daß der phallisch-narzißtische Charakter ein Minder¬
wertigkeitsgefühl erfolgreich ab wehrt, so daß es sich nur dem geübten
Auge verrät, der passiv-feminine Charakter dagegen sein Minderwertig¬
keitsgefühl offen ausprägt. Der Unterschied liegt in der erogenen Grund¬
struktur: Die phallische Libido befähigt eben zur kompletten Kompensation
aller Hütungen, die dem männlichen Ichideal nicht entsprechen, während
die anale Libido als Zentrum der Sexualstruktur beim Manne eine solche
Kompensation unmöglich macht.
1 ür das Mädchen gilt umgekehrt, daß ein wenig versagender Vater
eh» r zur Herstellung eines femininen Charakters beitragen wird als ein
strenger, brutaler. Serien von klinischen Vergleichen lehren, daß das
Mädchen auf den brutalen Vater typisch mit der Ausbildung eines männlich-
harten Charakters reagiert. Der stets bereitliegende Penisneid wird aktiviert
und gestaltet sich unter charakterologischer Veränderung des Ichs zum
Männlichkeitskomplex. In diesem Falle dient das männlich-aggressive
Int; Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 5
66
Wilhelm Reich
harte Wesen der Abpanzerung gegen die kindlich-feminine Einstellung
zum Vater, die wegen seiner Lieblosigkeit oder Härte verdrängt werden
mußte. War hingegen der Vater milde und liebevoll, so konnte das kleine
Mädchen ihre Objektliebe zum großen Teile — mit Ausschluß der sinn¬
lichen Komponente — beibehalten und sogar entwickeln; sie war nicht
genötigt, sich mit dem Vater zu identifizieren. Auch sie hat zwar gewöhn¬
lich einen Penisneid acquiriert; er blieb aber, da die Versagungen auf
heterosexuellem Gebiet relativ gering waren, charakterologisch unwirksam.
Wir sehen also, man sagt nichts aus, wenn man behauptet, diese oder
jene Frau hätte einen Penisneid. Auf seine charakterologische und sympto¬
matische Wirkung kommt es an. Entscheidend ist bei diesem Typus, daß
im Ich eine mütterliche Identifizierung zustande kam; sie prägt sich in
Charaktereigenschaften aus, die als weiblich bezeichnet werden.
Die Aufrechterhaltung dieser Charakterstruktur ist an die Bedingung
gebunden, daß sich in der Pubertät sehr bald der vaginale Primat als
dauernde Grundlage der Femininität hinzugesellt. Schwere Enttäuschungen
am Vater oder an Vatervorbildern in diesem Alter können eine Regression
zum Penisneid bedingen, die in der Kindheit ausgebliebene männliche
Identifizierung anregen, den schlummernden Penisneid aktivieren und so
erst spät zu einer Wandlung des Charakters führen. Das sehen wir so oft
bei Mädchen, die ihre heterosexuellen Wünsche aus moralischen Gründen
(Identifizierung mit der kleinbürgerlich moralischen Mutter) verdrängen
und Enttäuschungen an Männern provozieren. In der Mehrzahl der Fälle
neigen solche weibliche Charaktere zur Entwicklung eines hysterischen
Wesens. Wir sehen dann ein immerwährendes Vordringen der Genitalität
zum Objekt (Koketterie) und Zurückschrecken, unter Entwicklung genitaler
Angst, wenn es ernst zu werden droht (hysterische Genitalangst). Der
hysterische Charakter bei der Frau ist der Schutz gegen die eigenen
genitalen Wünsche und die männliche Aggression des Objekts.
Wir begegnen in unseren Analysen dem Sonderfall, daß strenge, harte
Mütter Töchter großziehen, die charakterologisch weder männlich noch
weiblich, sondern kindlich bleiben oder wieder werden. Die Mutter bot
dem Kinde zu wenig Liebe, der Ambivalenzkonflikt gegen die Mutter
über wog beträchtlich zugunsten des Hasses, vor dessen Gefahren sich das
Kind auf die orale Stufe der sexuellen Entwicklung zurückzog. Es haßt
die Mutter auf genitaler Stufe, verdrängt den Haß und verwandelt ihn,
nachdem es sich oral eingestellt hat, in reaktive Liebe und eine lähmende
Abhängigkeit von der Mutter. Solche Frauen entwickeln ein eigenartig
klebriges Verhalten älteren oder verheirateten Frauen gegenüber,
hängen an ihnen in masochistischer Weise, neigen zur passiven Homo-
Die charakter oiogische Überwindung des Ödipuskomplexes _67
Sexualität (im Falle von Perversionsbildung: Cunmlmgus), lassen sich von
Vieren Frauen betreuen, entwickeln nur geringes Interesse für Männer
und S ind in ihrem gesamten Dasein von „Säuglingsallüren" beherrscht.
Diese charakterologische Haltung ist ebenso wie jede andere eine Panzerung
reiien verdrängte Wünsche und Reizschutz gegen die Außenwelt: Hier
(heilt der Charakter der oralen Abwehr intensiver Haßtendenzen gegen
die Mutter, hinter denen in der Tiefe oft nur sehr schwer die eben¬
falls abgewehrte normale feminine Einstellung zum Manne aufzufinden ist.
V
Wir hatten bisher nur die Tatsache im Auge, daß das Geschlecht der
versagenden Erziehungsperson für die Gestaltung des Charakters wesentlich
ist, und berührten dabei ihren Charakter nur insofern, als wir von
„strenger“ und „milder" Einflußnahme sprachen. Die Charakterbildung
des Kindes hängt aber auch in anderer entscheidender Hinsicht vom Wesen
der Eltern ab, das seinerseits wieder von allgemeinen und besonderen
gesellschaftlichen Einflüssen bestimmt ist. Vieles von dem, was man in der
offiziellen Psychiatrie, die sich über diese Tatbestände keine Rechenschaft
zu geben vermag, als vererbt ansieht, erweist sich bei genügend tiefer
\nalyse als Ergebnis frühzeitiger konfliktuöser Identifizierungen.
Wir leugnen nicht, daß Reaktionsweisen hereditär angelegt sind. Hat
doch sc hon das Neugeborene seinen „Charakter". Aber wir meinen, daß
chiaggebenden Einfluß das Milieu hat. Es bestimmt darüber, ob
eine vorhandene Anlage entwickelt, verstärkt oder gar nicht zur Entfaltung
zugelassen wird. Den stärksten Einwand gegen die Anschauung vom
Angeborensein des Charakters bilden wohl jene Fälle, bei denen die Analyse
nachweist, daß sie bis zu einem bestimmten Alter gewisse Reaktionsweisen
hatten, von diesem Alter ab aber sich charakterologisch vollständig anders
entwickelten, etwa zuerst leicht erregbar und heiter, später depressiv, oder
zuerst zornig-motorisch waren, dann still und gehemmt wurden. Es ist aber
wahrscheinlich, daß ein gewisser Grundton der Persönlichkeit angelegt und
kaum veränderbar ist. Die Überbetonung der hereditären Faktoren beruht
zweifellos auf einer unbewußten Scheu vor den Konsequenzen, die sich für
eine Kritik der Erziehung ergeben, wenn man ihre Einflüsse richtig einschätzt.
Diese Streitfrage wird erst dann endgültig entschieden sein, wenn sich
eine maßgebende offizielle Stelle dazu entschließen wird, ein Massen¬
experiment zu machen, etwa 100 Kinder von psychopathischen Eltern
gleich nach der Geburt zu isolieren, einem gleichmäßigen Erziehungs¬
milieu auszusetzen und die Ergebnisse später mit dem von 100 anderen,
im psychopathischen Milieu verbliebenen Kindern zu vergleichen.
5*
68
Wilhelm Reich
VI
Überblicken wir noch einmal kurz die bisher entworfenen Skizzen von
Charaktergrundstrukturen, so sehen wir, daß sie alle das gemeinsame
haben, durch die Konflikte des Ödipuskomplexes angeregt zu werden, sie
in besonderer Form zu erledigen und gleichzeitig für die Zukunft zu
bewahren. Wenn Freud seinerzeit feststellte, daß der Ödipuskomplex an
der Kastrationsangst zugrunde geht, so können wir fortsetzend sagen: Er
geht zwar unter, ersteht aber neu in anderer Form, er transformiert sich
in charakterologische Reaktionen, die teils seine Hauptzüge in verstellter
Weise fortführen, teils aber Reaktionsbildungen gegen seine Grundelemente
darstellen.
Wir dürfen weiter zusammenfassend sagen, daß der neurotische Charakter
nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seiner Form ganz wie das
Symptom kompromißartig aufgebaut ist. Er enthält den infantilen Trieb'
anspruch und die Abwehr, die der gleichen oder verschiedenen Entwicklungs¬
stufen angehören; der infantile Kernkonflikt besteht fort, transformiert in
formal in Erscheinung tretenden Haltungen, in chronisch gewordenen
automatischen Reaktionsweisen.
Durch diese Einblicknahme in ein Stück menschlicher Entwicklung
werden wir befähigt, eine Frage zu beantworten, die Freud seinerzeit
aufgeworfen hat: In welcher Form ist das Verdrängte erhalten, als doppelte
Niederschrift, als Erinnerungsspur oder anders? Wir können jetzt mit aller
Vorsicht schließen, daß jene Teile des infantilen Erlebens, die nicht
charakterologisch verarbeitet wurden, als affektbesetzte Erinnerungsspuren,
die aber das Schicksal der charakterologischen Transformierung erfuhren,
als aktuelle Reaktionsweise erhalten bleiben. So dunkel dieser Vorgang
auch noch sein mag: An diesem „Als-Funktion-Fortbestehen“ kann kein
Zweifel sein, denn es gelingt uns in der analytischen Therapie, solche
charakterologische Funktionen wieder in ihre Urbestandteile aufzulösen.
Es handelt sich nicht um eine Hebung von Versunkenem, wie etwa bei
der hysterischen Amnesie, sondern um einen Prozeß, der etwa der Wieder¬
herstellung eines chemischen Stoffes aus einer Verbindung zu vergleichen
wäre. Wir verstehen jetzt auch besser, warum es uns in manchen schweren
Fällen von Charakterneurose nicht gelingt, den Ödipuskonflikt zu heben,
wenn wir nur die Inhalte analysieren; das liegt daran, daß er in der
Gegenwart gar nicht mehr existiert, sondern nur durch analytische Zer¬
setzung der formalen Reaktionsweisen gewonnen werden kann. Das
erweitert natürlich unsere therapeutischen Möglichkeiten.
Das zuletzt Gesagte gilt nur für den neurotischen Charakter. Nur bei
1 m trifft zu daß der Ödipuskomplex in der beschriebenen Formfort-
ü u, Der Idealtypus des Gesunden, der genitale Charakter, unterscheidet
h' vom neurotischen eben dadurch, daß der Ödipuskonflikt nicht »
charakterolcnsche Funktionen umgesetzt, sondern durch En er gi eentzug
eri-digt wurde. Ist nämlich der Hauptanteil der Libido teils in
Sublimierungen (statt in Reaktionsbildungen), teils in genitalen Einstellungen
lum Objekt (statt in prägenitalen und sadistischen) untergebracht un
befriedig«, ist also das psychische Interesse in der Hauptsache der Realität
und rationalen Gegenständen zugewendet, so fehlt der Anlaß zur Heraus
bildung oder zur Erhaltung der starren chronischen Formen der Reaktion¬
äre ' W ie wir sie bei neurotischen Charakteren sehen. Der genitale
Charakter ist daher in seiner Reaktionsweise beweglich, kann sich gegen
die Außenwelt, wenn nötig, ebenso abpanzern wie er in anderen Lebens¬
lagen sich ihr vollkommen öffnen kann. 1
Diese idealtypische Abgrenzung, die sich auf Sonderung der spezifisch
pathogenen von den spezifisch realitätstüchtigen seelischen Dynamismen
stützt, ist weit entfernt davon, eine theoretische Spielerei zu sein. Sie
geschieht vielmehr mit der bewußten Zielsetzung, auf dieser Grundlage
zu einer Theorie der seelischen Ökonomie zu gelangen, die der
^ogik praktische Ziele setzen kann. Es kann natürlich nur Sache der
Gesellschaft sein, die praktische Auswertung einer solchen Theorie vom
seelischen Energiehaushalt zu ermöglichen und zu fördern oder abzulehnen.
Die heutige Gesellschaft mit ihrer sexualablehnenden Moral und ihrer
wirtschaftlichen Insuffizienz, der Masse ihrer Mitglieder auch nur das
I xisieii/niiniimim zu sichern, ist von der Kenntnisnahme solcher Möglich
Seiten ebenso weit entfernt wie von der Möglichkeit praktischer Anwendung.
Das wird sofort klar, wenn wir vorgreifend mitteilen, daß sowohl die
Ehernbindung und die Onaniebekämpfung in der kindlichen Frühzeit wie
die Askeseforderung für die Pubertät und die Einzwängung der sexuellen
Interessen in die (heute soziologisch berechtigte) Eheinstitution so ziemlich
das Gegenteil von den Bedingungen darstellen, die zur Herstellung und
Durchführung eines sexualökonomischen seelischen Haushalts notwendig
•ind. Die herrschende Sexualordnung schafft mit Notwendigkeit die
charakterologische Grundlage der Neurosen; die sexuelle und seelische
Ökonomie schließt die heutige, mit allen Mitteln verteidigte Moral aus.
Das ist eine der unerbittlichen sozialen Konsequenzen der psychoanalytischen
Neurosenforschung.
1) Vgl. hierzu; Reich. Der genitale und der neurotische Charakter. IZfPsA,
XV., 1929.
70
Wilhelm Reich
VII
In der individuellen psychoanalytischen Therapie leistet die Berück¬
sichtigung der Widerstände, die vom Charakter ausgehen (Charakter¬
widerstände), nicht zu unterschätzende Dienste bei der Beseitigung der
neurotischen Reaktionsbasis. Unsere Therapie wirkt über die kausale
Symptomanalyse hinaus und leistet als Charakteranalyse das, was man in
der Psychotherapie etwas anspruchsvoll die „Behandlung der Gesamt¬
persönlichkeit“ nennt; sie unterscheidet sich von der übrigen Psychotherapie
aber wesentlich dadurch, daß sie die Gesamtpersönlichkeit weder erzieherisch
noch sonst irgendwie synthetisch, sondern lediglich durch Störung des
charakterneurotischen Gleichgewichts und Deutung der sinnvollen Arbeits¬
weise des charakterologischen Panzers verändert. Dabei entscheiden schließlich
die natürlichen Antriebe zur genitalen Lust und sozialen Betätigung, die
durch die Charakterneurose nur an der Entfaltung behindert waren. Der
technische Vorgang besteht darin, daß man, nachdem ein Teil der charaktero¬
logischen Reaktion verstanden wurde, diese dem Patienten isoliert vorführt
und ständig objektiviert. Da nämlich der Kranke wohl für seine neu¬
rotischen Symptome, nicht aber für seine neurotische Reaktionsweise
krankheitseinsichtig ist, muß ihrer Analyse die Objektivierung vorangehen,
die den Kranken befähigt, sich zu seinem neurotischen Charakterzug ebenso
einzustellen wie zu seinem subjektiv quälenden Symptom. Die Charakter¬
analyse, welche wesentlich in dieser Isolierung, Objektivierung und Deutung
des Charakters besteht, erfolgt nicht am Ende der Analyse, sozusagen als
ihre Vollendung, auch nicht nebenbei bei solchen Fällen, bei denen eine
besonders ausgeprägte Charakterneurose besteht, sondern sie ist in jedem
Falle indiziert aus folgenden Gründen: Erstens gibt es keine Neurose, die
sich nicht auf einem neurotischen Charakter aufbaute; die Unterscheidung
von Symptomneurosen und Charakterneurosen trifft daher nicht zu; man
kann nur Charakterneurosen mit neurotischen Symptomen und ohne solche
unterscheiden. Zweitens behindert der charakterologische Panzer, solange
er unangetastet bleibt, die therapeutische Wirksamkeit unserer analytischen
Deutungen; es ist mehr als eine Analogie, wenn wir sagen, daß die
Deutungen am Charakter abprallen und verpuffen, wenn wir nicht diesen
selbst auflockern und uns so einen Zugang zu den von ihm geschützten
und abgewehrten Strebungen schaffen. Drittens ging aus unseren Aus¬
führungen hervor, daß die wesentlichsten kindlichen Konfliktsituationen in
charakterologische Reaktionen transformiert wurden und daher ohne Analyse
der Haltungen nicht faßbar sind. Und schließlich erleichtern wir uns
durch die systematische Charakteranalyse den direkten Zugang zum
zentralen infantilen Konflikt.
Die diarakteroiogiscnc
Das bedeutet keine Neuerung der Technik, sondern nur ihre Erweiterung
in einer bestimmten Richtung, ohne daß dadurch irgendetwas vom Alten
überflüssig würde. Bezüglich der Detailfragen muß ich auf meine Arbeit
I ber Charakteranalyse“ verweisen.
' Die individuelle Therapie kann aber mit Rücksicht auf die Masse der
Neurosen nicht das erstrebenswerte Ziel der praktischen Psychoanalyse
bleiben. Es gilt, sich über die Kriterien einer wirksamen Prophylaxe der
Neurosen und darüber klar zu werden, wie man die Herstellung er
charakterneurotischen Reaktionsbasis verhindern kann. Das sei weiteren
Untersuchungen Vorbehalten. Aber wir müssen schon jetzt feststellen, a
unsere Erziehung auf dem Kopf steht und durch die psychoanalytische
Erforschung der seelischen Ökonomie theoretisch auf die Beine gestellt
werden muß. Erst dann wird die Gesellschaft, insofern sie sich dazu die
nötige Bewegungsfreiheit verschafft, ihre praktischen Folgerungen für die
Erziehung ableiten können.
Psychoanalyse und Medizin in ihren Beziehungen
zur Angstneurose
Vortrag auf der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden,
am 29. September 1930
Von
H. Christoffel
Basel
Ein Blick m die jüngste psychoanalytische Literatur zeigt, was schon
lange klar, daß die Beziehungen der Psychoanalyse zur Medizin auch
gegenwärtig nicht sehr im Vordergründe stehen. Metapsychologische,
religionswissenschaftliche, ethnologische, soziologische und biographische
Probleme beanspruchen zurzeit das Hauptinteresse der Analytiker. Die
von Freud (in seiner „Selbstdarstellung“) etwas ironisch charakterisierte
analytische „Penetration pacifique“ der Medizin ist offenbar nicht soweit
gediehen, daß sich fruchtbare Anknüpfungspunkte zwischen den beiden
Forschungsgebieten ergäben. — Dennoch vereinen sich in uns gewisse
analytisch-medizinische Interessen, da der ärztliche Analytiker mit
medizinischen Problemen vielfach in eine Berührung kommt, die es
angezeigt erscheinen läßt, an einem Ausschnitt aus der psychoanalytischen
Neurosenlehre auf sie einzugehen.
Ich wähle dazu das Krankheitsbild der Angstneurose; gehört sie
doch zu denjenigen Störungen, deren weitere Erforschung nach Freud 1
der Analyse „keine Angriffspunkte“ bietet und „Aufgabe der biologisch¬
medizinischen Forschung“ sein soll. Diese 1917 zum Ausdruck gebrachte
Resignation Freuds hat aber offenbar nicht völlig recht behalten.
Wenigstens das Problem der Angst finden wir von Freud bis zu seiner
letzten Schrift verfolgt 2 und in wichtigen Wandlungen begriffen; und in
dem 1926 erschienenen Buche von Freu d über „Hemmung, Symptom
1) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. VII
24. Vorlesung. ’
2) Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Int. PsA. Verlag 1930.
"" Psvdioandlyse u nd Medizin in ihren Beziehungen zur Angstneurose 73
und Angst“ 1 erfährt die Angstneurose selbst eingehende Würdigung. So
wäre doch von ihm selbst im Laufe der 13 Jahre wesentlich Neues zum
Thema beigestellt worden, nachdem er erstmals vor 35 Jahren die
{•>< n < iitiiiung dargetan hat, „von der Neurasthenie einen bestimmten
Sympt omenkomplex als Angstneurose abzutrennen“ 2 (1895). Die erhoffte
biologisch-medizinische Erforschung der Angstneurose aber steht noch aus,
lrotz der starken Entwicklung besonders der Endokrinologie.
Wenn uns Freud erzählt, seit vielen Jahren keine Gelegenheit mehr
gebäht zu haben, in seiner Praxis Aktual-, resp. Angstneurosen zu studieren, 3
so berührt er damit einen Punkt, der in gewissem Maße für die analytische
Praxis überhaupt gilt: die Patienten des Analytikers rekrutieren sich in
erster Linie aus Psycho-, erst in zweiter aus Aktualneurotikern. Daß aber
außerdem im Verlaufe von Psychoneurosen und während deren Analyse
akiuaIneurotische Momente hervortreten können, bedarf vielleicht der
besonderen Hervorhebung.
Ich setze die Ätiologie der Angstneurose als Endotoxikose, speziell
bewirkt durch frustrane sexuelle Erregung, also durch aktuelle, nicht
historische Bedingungen, als bekannt voraus und rekapituliere die
Sv m [> t o in a t o 1 o g i e nach Freuds Darstellung von 1895: „Allgemeine
Reizbarkeit“, insbesondereGehörsüberempfindlichkeit; „ängstliche Erwartung,
die Auswahl ih r Vorstellungen beherrschend“, Angstanfälle mit „der nahe-
liegenden Deutung des Schlagtreffens, des drohenden Wahnsinns“. Mit
dem Angstempfinden oft einhergehend Störungen der Atem-, Zirkulation-,
Drüsen- und Darnitätigkeit. Insbesondere klagt der Patient über Herzkrampf,
Palpitaiionen, Atemnot, Schweißausbrüche. Harndrang, Diarrhöen; in der
Darstellung des Kranken tritt das Angstgefühl häufig hinter den körper-
hohen Sensationen zurück oder wird fast unkenntlich als Schlecht werden.
Unbehagen usw. bezeichnet: larvierte Angstzustände, Angstäquivalente.
— Als Formen körperlicher Angstentäuißerung erwähnt Freud die Pseudo¬
angina pectoris als diagnostisch besonders heikles Gebiet. Ich greife ferner
aus seinen Beschreibungen die Schweißausbrüche vom Charakter des Nacht¬
schweißes heraus, das Zittern, Taumelgefühl und gelegentliche Ohnmächten
Aber schon diese unvollständige Aufzählung genügt, es verständlich scheinen
zu lassen, daß der Angstneurotiker in erster Linie den körperlichen Arzt
aufsucht.
1) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI.
2) Freud: Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als Angstneurose abzutrennen, Ges. Sehr., Bd. I.
3 ) „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, Ges, Sehr., Bd. VII, und
„Selbstdarstellung“. Ges. Sehr., Bd. XI.
n
74 H. Christoffel
Freud hat gelegentlich die Frage zur Diskussion gestellt, was zu
geschehen habe „gegen das Übermaß von neurotischem Elend, das es in
der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben braucht“. 1 Unterscheiden wir
Vorbeugung und Behandlung, so wird die erstere großenteils Sache der
Erzieher sein. Aber ein gewiß auch nicht unwesentlicher Teil der
Neurosenprophylaxe liegt bei den Ärzten und besteht in der richtigen
Erfassung der Aktualneurosen, als deren Hauptver-
treterin die Angstneurose zu gelten hat. Ist doch das angst¬
neurotische Symptom häufig Kern und Vorstufe des psychoneurotischen
und spielt nach einem Bilde von Freud „die Rolle jenes Sandkorns,
welches das Muscheltier mit den Schichten von Perlmuttersubstanz
umhüllt.“ 2
So ist es einesteils die Neurosenprophylaxe durch den Somatologen,
andernteils dessen Zusammenarbeit mit dem Analytiker, was
mir Anlaß gibt, dem Problem der Angstneurose näher zu treten. In den
Lehrbüchern der Medizin wie sogar in Arbeiten, welche sich speziell mit
psychophysischen Grenzfragen befassen, läßt sich so gut wie nichts über
die Angstneurose entdecken. Wenn andernteils Freud in seiner „Laien¬
analyse“ schreibt: „Die übergroße Anzahl der Neurosen, die uns“ — d. h. die
Analytiker — „in Anspruch nehmen, sind zum Glück psychogener Natur
und pathologisch unverdächtig“, 3 so bleibt dem beizufügen, daß nicht bloß
in der Vorgeschichte der Psychoneurosen und vor Beginn einer Analyse,
sondern auch in deren Verlauf es gerade angstneurotische Symptome sein
können, die mit ihren sicht- und meßbaren körperlichen Äußerungen
„pathologisch verdächtig“ sein können; und es darf auch nochmals auf
die Freud sehe Äußerung von 1895 über die angstneurotischen Störungen
der Herztätigkeit verwiesen werden: „Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch
heikles Gebiet.“ Bedenken wir ferner das keineswegs seltene Zusammen¬
wirken ernsthaft organischer Erkrankung mit Neurose und erinnern uns
des von Freud besonders hervorgehobenen gelegentlichen unglücklichen
Ausgangs analytisch angegangener Psychoneurosen in körperliche Krankheit,
so springt die Wichtigkeit genauer Kenntnis der Angstneurose besonders
in die Augen.
Verweilen wir einen Moment bei den meiner Erfahrung nach besonders
häufigen Herzsymptomen der Angstneurose, so sei vorläufig konstatiert,
daß in der älteren internistischen Literatur mehr über neurotische Herz¬
störungen, Pseudoangina pectoris usw. vermerkt ist als in der neuen. So
1) Freud: Wege der psychoanalytischen Therapie, Ges. Sehr., Bd. VI.
2) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. VII.
3) Freud: Die Frage der Laienanalyse, Ges. Sehr., Bd. XI, S, 375.
1 J, ■ B der Prager Internist Rudolf S c h m i dt in seiner „Neurogen-
, „motorischen Theorie der Angina pectoris“ 1 vermuten, daß ihm das
Krankheitsbild der Angstneurose völlig unbekannt ist; und dementsprechend
vermißt man in seiner Schilderung gutartiger Formen der Angina pectoris
diagnostisch wesentliche Punkte. — Wie schwierig der Ausschluß eines
Herzgefäßleidens sein kann, zeigte mir der viele Wochen andauernde
angstneurotische Zustand einer in häuslicher Pflege befindlichen Paraphrenen.
£jj ese -q jährige Kranke wies vor und nach ihrer Psychose normalen Befund
des Zirkulationssystems auf (Herz ohne Besonderheiten, Puls regelmäßig
-6 bis 80, brachialer arterieller Maximalblutdruck 130 mm Quecksilber), war
durchaus rüstig, ging auf die Jagd. Zur Zeit des angstneurotischen Zustandes
jedoch wies sie im Bette einen auf 100 bis 104 beschleunigten Puls und
bei normaler Herzgröße einen auf 180 mm erhöhten Maximalblutdruck
auf; weiterhin konstatierte der herzspezialistische Konsiliarius unreinen
I Ton über der Herzspitze; über linkem Ventrikel leises, über Aorta lautes
systolisches Geräusch, letzteres ohne Fortleitung in Brustaorta und Hals¬
gefäße, so daß doch die Anomalien als rein muskulär-vasomotorisch bedingt
angesehen wurden und man auf irgendwelche Herz- oder Gefäßmittel —-
u ie der weitere Verlauf zeigte, mit völligem Recht — verzichtete. — Die
obere Grenze der Pulsbeschleunigung pflegt 130 Schläge pro Minute, die
Blutdruckerhöhung 150 mm Quecksilber nicht zu überschreiten. Ich
erinnere mich nicht, bei Patienten vor der Pubertät auf den Symptomen-
komplex gestoßen zu sein, der in seiner subjektiven Symptomatologie als
Herzbeklemmung, krampfartiger Schmerz der Herzgegend, bald mehr
sterna], bald mehr gegen die Mamille und den Rippenbogen lokalisiert,
Krampfschmerz von eher längerer Dauer der beiderseitigen Okzipital- und
der linken Halsgegend sowie am häufigsten des linken Armes dargestellt
wird. Nicht selten fällt das lebhafte Spiel der Vasomotoren der Haut
auf. Pollakurie ist eine außerordentlich häufige Begleiterscheinung. —
Differ entialdiagnostisch scheint mir ein Moment viel zu wenig
berücksichtigt: die subjektive und objektive Besserung
bis Behebung des herzneurotischen Symptomenkomplexes
durch Bewegung und körperliche Anstrengung! Oft hat
der Angstkranke selber die Erfahrung gemacht, daß rasches Gehen, Lauf¬
schritt und Steigen ihn erleichterten, die Beklemmung weichen, den Puls
ruhiger werden ließen. So ein kräftiger Patient, Ende der Zwanziger,
der an einem Sommerferienmorgen eine herzneurotische Attacke bekam;
trotz seiner Beklemmungen wagte er, eine geplante Hochtour anzutreten;
1) Münchner medizinische Wochenschrift 1930, 34/35.
1
76 H. Christoffel
nach drei viertelstündigem mühsamem Schneestampfen wichen Druck und
Mattigkeit und er erreichte und behielt seine übliche Leistungsfähigkeit.
Weitere genau und über lange Zeiträume kontrollierte Fälle meiner
psychiatrischen und Konsiliarpraxis könnte ich viele schildern. Dazu ist
hier nicht der Ort. Aber das sei nochmals betont: Während bei einem
organisch kranken Zirkulationsapparat die Anstrengung leicht zur Über¬
anstrengung wird, ergibt sich beim Angstneurotiker die gegenteilige
Erfahrung. Es ist gelegentlich nützlich, für seinen Zustand den Ausdruck
„Krankschonung“ zu gebrauchen und in klaren Gegensatz zur oft fälschlich
beschuldigten Überanstrengung zu stellen. Es besteht also aller Anlaß,
den Patienten zu muskulärer Aktivität anzuhalten und ihn
die Probe aufs Exempel machen zu lassen. Die Frage, inwiefern die
muskuläre Betätigung eine adäquate Entlastung des Kranken sei, wird
später noch zu erörtern sein.
Frustran-sexuelle Erregung liegt ja nach den frühen Formulierungen
Freuds der Angstneurose zugrunde; und unausgesprochen, wenn auch
aus dem Zusammenhänge klar, meint „sexuell“ in diesem Falle die unter
dem Primat der Genitalität zusammengefaßte Sexualität. Bleiben wir nun
gerade bei der frus trän-genitalen Erregung, so ist hier einiger
Dinge zu gedenken, die wohl jeder Analytiker des Öftern von seinen
Patienten gehört haben mag, die aber meiner Kenntnis nach im psycho¬
analytischen Schrifttum sich nicht vermerkt finden. Und obwohl diese
stunden-, seltener tagelang anhaltenden speziell in den beidseitigen Leisten
und Hypogastrien lokalisierten Schmerzen da und dort zerstreut in der
medizinischen Literatur kurz gewürdigt werden, scheint doch ihre Sym-
tomatologie keineswegs ärztliches Gemeingut, so daß, wo dem Furor opera-
tivus bei Arzt und Patient nicht ein Studium diagnosticum die Wage hält,
diese direkt an den Genitalien sich abspielenden Erscheinungen zu aller¬
hand Mißgriffen Anlaß geben. Ihnen allen werden aus der Vorgeschichte
Ihrer Analysanden Fälle bekannt sein, wo ein „Pfaffenstich“, ein „Bräu¬
tigamsschmerz“, wie der Volksmund diese Affektionen tauft, einen Blinddarm
hat opfern lassen, nicht zu reden von den verschiedenen gynäkologischen
Manipulationen. — Die Erscheinungen am männlichen Genitalapparat
pflegen in der Venerologie unter den nicht infektiösen „Entzündungen“
abgehandelt zu werden. So findet sich erstmals 1901 von Porosz eine
Epididymitis sympathica beschrieben; 1 1907 bestreitet Wälsch, daß es
sich dabei um etwas anders als eine bloße Kongestion durch frustrane
Genitalreizung handle, behält aber in seiner Umetikettierung den auf
1) Monatshefte f. prakt. Dermatologie 53, 1901, S. 9—17
r~TT weisenden Ausdruck bei: „Epididymius erotica Wälsch“. 1911
v , M Oppenheim den diesen Schmerz- und Schweilungserscheinungen
zugrunde liegenden Vorgang zu ergründen* Dieser soll in vom Samen-
L;,I aus bewirkter Hypersekretion in Samenh äschen und Samenleiter
bestehen, wobei zugleich durch Antiperistaltik dieser Gebilde das Sekret
rückwärts in den Schwanz des Nebenhodens geschleudert werde. Dieser
Mechanismus scheint allgemein von den Venerologen ]etzt anerkannt.
Weiteres Stichwort: Epididymitis erotica sive antiperistaltica Oppenheim.
Charakteristisch für diese Zustände ist ihr plötzliches Auftreten und ihr
allmähliches Verschwinden gewöhnlich im Laufe von Stunden; doch können
>„• bei fortgesetzter frustraner Reizung auch tagelang dauern. Ob übrigens
diese und andere Erscheinungen der frustranen Erregung immer bei völlig
normaler Temperatur verlaufen, möchte ich offen lassen. Marcuse m
seinem Handwörterbuch der Sexualwissenschaft (Artikel: „Abstinenz )
äußert sich dahin, daß die „genitalen Stauungen und Reizerscheinungen“ ...
„libidinöse Ausflüsse bei Mann und Weib, vorübergehende Anschwellun¬
gen . . . und Schmerzhaftigkeiten der äußern und innern Geschlechtsorgane“
bewirken. J. Jadassohn* läßt die Schwellungen beim Manne bis auf die
Hoden sich erstrecken und meint: „Eine Verwechslung mit Hydrocele,
\aric .le und Hernien kann wohl nur bei ungenügender Untersuchung
Vorkommen“ (S. 57). — Die Veränderungen bei der Frau pflegen bloß
als a .Jlgir“ , Ovaralgia erotica benannt zu werden. Zu diagnostischen Irr-
tümern beim weiblichen Geschlecht scheinen besonders die, um mit Mar
cuse zu sprechen, „libidinösen Ausflüsse“ Anlaß zu geben, da sie oft
ni<!it ohne weiteres als solche zu erkennen, sondern von einem entzünd-
|il Fluor, wenigstens für den Praktiker, nicht zu unterscheiden sind.
I im' (’icißigjährigeAngstneurotika beispielsweise leidet an derart reichlichem,
die kem, gelblichen Ausfluß, daß sie dauernd nicht ohne Binden existieren
kann. Und diese enorme Sekretion verschwindet von einem Tage auf den
andern mit der Aufnahme normaler sexueller Beziehungen, nachdem
gynäkologische Behandlung wegen angeblichem „Gebärmutterkatarrh“,
„Gebärmutterknickung“ völlig erfolglos geblieben; nebenbei bemerkt war
auch bei dieser Patientin einige Jahre, bevor ich sie kennen lernte, der
Blinddarm entfernt worden. Die Menstruation, vorher über zehn Tage sich
hinziehend, wickelte sich bei dieser Frau nach dem Verschwinden des
1) III. Kongreß d. deutschen Gesellsch. f. Urologie 1911. Ref. Chrzelitzer,
Derinatolog. Wochenschrift 55, 1912, 1799/1800.
2) Siehe z. B, Buschke u. Langer: Lehrbuch der Gonorrhoe, Berlin, Springer
1926. S. 260.
5) 4. Aufl. v. Lessers Lehrbuch der Haut- u. Geschlechtskrankheiten, Berlin,
Springer 1927.
78 H. Christoffel
Fluors innert vier Tagen ab. — Ich kann diese Dinge nur flüchtig be¬
rühren. Wichtig scheint mir vorerst bloß, die Aufmerksamkeit beim Studium
und bei der Behandlung der Angstneurose auf die direkten genitalen Ano¬
malien zu lenken. Und ich erlaube mir nochmals zu betonen, daß meiner
Ansicht nach die richtige und rechtzeitige Erfassung des angstneurotischen
Symptomenkomplexes durch praktischen Arzt, Gynäkologen, Internisten usw.
dem Patienten mannigfache Um- und Irrwege und des öftern wohl auch
den Weg zum Analytiker sparen kann.
Aber wie steht es denn mit der analytischen Therapie der Angst¬
neurose? Erinnern wir uns nochmals des Satzes von Freud: „Die Pro¬
bleme der Aktualneurosen . . . bieten der Psychoanalyse keine Angriffspunkte;
sie kann nur wenig für deren Aufklärung leisten.“ In scheinbar völligem
Widerspruch zu dieser Äußerung wage ich zu behaupten, daß die Behand¬
lung einer Angstneurose sehr oft zu den einfachsten und dankbarsten Auf¬
gaben der Praxis gehört. Zu meiner Freude sehe ich mich in dieser Er¬
fahrung keineswegs allein. Boehm war kürzlich so freundlich, mir Gleiches
aus seinem und dem Erfahrungskreis der Berliner Analytiker mitzuteilen. 1
Hat Freud in seiner Frühzeit Enttäuschungen erlebt, als er das Tabu
der Sexualität zu erschüttern wagte, und erzählt er uns, wie er in den
neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts „diesen Untersuchungen seine
Beliebtheit bei den Kranken zum Opfer gebracht“ hat, und sie ihm nicht
selten weggelaufen sind, so macht es uns heute die analytische Technik,
wie sie sich durch die Freud sehe Erkenntnis der Übertragungsmomente,
des Widerstands usw. entwickelt hat, leicht, manche Angstneusose mit Er¬
folg anzugehen. Es verdient also Beachtung, daß der pessimistische Aus¬
spruch Freuds sich auf Erfahrungen bezieht, die vor einer wichtigen
Wendung der analytischen Therapie liegen. Nicht immer ist es wenig,
was diese bei einer Angstneurose zu leisten hat. Aber dort, wo wir es
wirklich mit einer unkomplizierten Angstneurose zu tun haben, pflegt das
Wenige der analytischen Aufwendungen praktisch eben viel zu sein.
Nun noch einige Bemerkungen zum Angstproblem. Sie erinnern
sich, wie ich anläßlich des herzneurotischen Symptomenkomplexes von
„Krankschonung“ sprach und die Frage anschnitt, inwiefern bei einem
durch frustrane sexuelle Erregung ausgelösten Zustand eine bloße Muskel¬
aktion, die offensichtlich erleichternd wirkt, als adäquates Mittel angesprochen
werden könne. Adäquat scheint doch auf den ersten Blick bloß eine Rege¬
lung der genitalen Beziehungen! — Wo Freud inseinen „Vorlesungen“
die Angstneurose als Endotoxikose, als Selbstvergiftung durch
1) Meng hat sich ähnlich ausgesprochen („Angstneurose und Sexualleben“,
Deutsche Ärztezeitung 1929, Nr. 176).
Sexualstoffe darstellt, nimmt er „Anlaß, der erogenen Zonen und der Be-
hau tung zu gedenken, daß die Sexualerregung in den verschiedensten
Organen entstehen kann“. Als eines dieser Organe oder Organsysteme kann
die Muskulatur in Betracht kommen. Sie erinnern sich auch deren Rolle,
wie sie im Oppen h eimsehen Terminus Epididymitis erotica sive anti-
p t ristaltica sich ausdrückt. Ein Teil der g e s a m t s ex u e 11 e n
Erregung dürfte muskulär sein und auf muskulärem
\V ege seine Abfuhr finden können. Als Teilerscheinung der
entbundenen und unterdrückten sexuellen Erregung hätten wir eine auto¬
matische Betätigung der Muskulatur, eine Verkrampfung bemerkt, die an
Hohlorganen im Sinne einer Verengung und an den Genitalien einer rück¬
läufigen Beförderung des Hohlorganinhaltes, einer Antiperistaltik, wirkt.
Der Ausdruck Angst = Enge deckt sich sehr gut mit dieser Beobachtung. Die
Richtung nach außen, der alloplastische Vorgang, würde der Abfuhr der
entbundenen Energien und damit einer Behebung der Beklemmung, der
Angst, dienen können. — Ich habe es vorerst vermieden, von „Muskel¬
erotik“ zu sprechen, und möchte das auch jetzt bloß tun unter gleichzeitiger
Erinnerung der wahrscheinlichen Legierung des Eros mit den Aggressions¬
trieben in dem, was wir „Muskelerotik“ heißen. Wir haben es ja nach
Freud kaum je mit einfachen Triebregungen zu tun; und für den
Aggressionstrieb trifft bekanntlich die Formulierung zu, daß er „durch Ver¬
mittlung eines besonderen Organs auf die Außenwelt abzuleiten“ sei, eben
die Muskulatur. 1 —Was die Unterdrückung der Triebregung bei der Angst¬
neurose anbetrifft, so hätten wir es wohl mit einem relativ einfachen Vor¬
gänge zu tun, nicht mit einer Verdrängung im Sinne des Nachdrängens;
statt Unterdrückung dürfte deshalb auch der Ausdruck Urverdrängung statt¬
haft sein. Und wenn nun Freud in seiner Trieblehre neuestens das
Schuldgefühl nicht aus verdrängter Erotik, sondern bloß aus verdrängter
Aggression hervorgehen läßt, 2 so darf diese Annahme auch für das Pro¬
blem der Angst beigezogen und die Vermutung ausgesprochen werden, daß,
was in der Verdrängung Schuldgefühl, in der einfachen Form der bloßen
Unterdrückung oder der Urverdrängung Angst bewirkt Ich neige also dazu,
im Aggressionstriebe, respektive seiner Unterdrückung, eine Komponente
des Angstzustandes zu erblicken. Führt die aggressive Regung zu keinem
Effekt, sondern erliegt sieder Urverdrängung, so wendet sie sich gegen
das Individuum selbst und erzeugt einen Affekt, den Affekt der
Angst. Eine solche Annahme hilft uns auch Vorkommnisse wie das
1) Freud: Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI, Kap. IV, über die „beiden
Triebarten“.
2 ) »Das Unbehagen in der Kultur.“
80
H. Christoffel
Folgende verstehen. Ein Alpinist in mittlerem Lebensalter von ausgezeich¬
neter Leistungsfähigkeit erzählt mir, anläßlich geschäftlichen Ärgers schwere
und andauernde Herzbeklemmungen bekommen zu haben; er habe sich
vorerst gesträubt, einen Arzt zu konsultieren, hingegen habe er eine Ab¬
machung mit Freunden zu Skifahrten im Jungfraugebiet absagen wollen,
aber nicht mehr können. So habe er sich eben trotzdem aufs Jungfraujoch
begeben; und von der ersten Tour an habe er sich wieder völlig in Ord¬
nung gefühlt. Anstrengende sportliche Leistungen der nächsten Monate und
eine vertrauensärztliche Untersuchung nach mehr als einem Jahr bestätigten,
daß er völlig in Ordnung war. In der Annahme der angstneurotischen
Auslösung der Herzsymptome forschte ich nach deren Momenten und er¬
fuhr, daß seit vier Jahren vor dem Zustand wie auch nachher Coitus
interruptus stattfand. Dieser an sich genügte aber offenbar nicht, die Herz¬
beklemmungen auszulösen, sondern es bedurfte dazu noch des Ärgers, also
unterdrückter aggressiver Regungen; und wie die beruflichen Mißhellig¬
keiten wieder wegfielen, war die Art der sexuellen Betätigung allein nicht
mehr imstande, das Angstsymptom zu erzeugen. — Anläßlich des „Un¬
behagens in der Kultur , dessen Auslösung Freud gegenwärtig haupt¬
sächlich der unterdrückten Aggression zuschreibt, mag rückblickend ein
Satz aus seiner Angstneurosenarbeit von 1895 zitiert werden, der lautet: „Das
Angstgefühl tritt häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als . . . Unbe¬
hagen. Zu diesem Unbehagen als rudimentärer Form einer Angstneurose eine
kleine Illustration: Ich habe des öftern Gelegenheit, bei sportsgewohnten
Kollegen wie bei mir selbst, dann, wenn strenge Berufsarbeit tage- und
wochenlang ans Konsultationszimmer fesselt, ein Symptom geschildert zu
bekommen und zu verspüren, das ich als paradoxe Müdigkeit be¬
zeichnen möchte. Ich füge bei, daß völlig normale Vita sexualis diesen
Zustand nicht verhindern konnte, hingegen ein paar Stunden Sport ihn
für Tage bis Wochen prompt beseitigten. Erinnern wir uns auch in diesem
Zusammenhänge, daß der Ausdruck „nervös“, in seiner ältern Form „nervös“,
nicht reizbar, schwach, sondern im Gegenteil sehnig, straff bedeutete, —
in einer Chronik, wenn ich nicht irre, aus dem 18. Jahrhundert, fand
ich die Bewohner eines Alpentales als „nervös“ bezeichnet, — so haben
wir noch einen weitern Hinweis auf die muskuläre Komponente der Angst.
Nur kurz möchte ich in diesem Zusammenhänge des sogenannten „Stall¬
muts“ von Rassepferden gedenken, d. h. des Zustandes, der bei zu langem
Stehen entsteht und mit Mut oft gar nichts, mit Scheu sehr viel zu tun
hat. Nebenbei bemerkt, habe ich bei diesen Angstzuständen nie einen
Unterschied zwischen Wallach und unkastriertem Pferde beobachten können.
Schwerste Angstzustände kann man auch bei bewegungsgehinderten, d. h.
; i eben eines Haushundes führen müssenden Jagdhunden, den Irish-
rn beobachten. Auf der Jagd mutig und verhalten, werden sie, wenn
sit . , . v natürliche Betätigung entbehren müssen, außerordentlich schusselig,
/• n sich gelegentlich, in der Angst auffahrend, ein Auge blind; und
das OKuisch eines ratternden Tramwagens genügt, sie momentweise ge-
I . nit zu Boden stürzen zu lassen. — Sie erinnern sich, daß die Gehörs-
ülu icmpfindlichkeit in der grundlegenden Angstneurosearbeit Freuds
vo-i 1895 hervorgehoben worden ist; es heißt dort bei den Ausfuhrungen
ü r die allgemeine Reizbarkeit des Angstneurotikers: „Einer besonderen
He rvorhebung wert finde ich den Ausdruck dieser gesteigerten Reizbarkeit
durch eine Gehörshyperästhesie, eine Überempfindlichkeit gegen
Gei an sehe, welches Symptom sicherlich durch die mitgeborene innige
!',< 71t liung zwischen Gehörseindrücken und Erschrecken zu erklären ist.
I)it*se Gehörshyperästhesie kann uns aber auch nebst sonstigen Momenten
An! ß geben, Beziehungen der A n g s t n e u r o s e zu anders bedingten
A izuständen zu suchen, nämlich zur Schreckneurose und zum
t( , isch bedingten Schock. Gerade was den letzteren anbetrifft, so
gäbt* er uns die Möglichkeit, den e n d ot o xi s c h e n Zustand der Angst-
n< uruse mit einer Exotoxikose zu vergleichen. Wenn wir es bei den
inr , rlicli wie äußerlich bedingten Zustandsbildern in ihrer ausgesprochenen
t rn mit lähmender Angst zu tun haben, so darf bei dieser Lähmung
riirirnige der quergestreiften Muskulatur vor derjenigen der glatten, oder
di« ige der „willkürlich“ vor derjenigen der unwillkürlich innervierten
M ul.itur, hervorgehohen werden. Der Schreck- oder Angstgelähmte
verliert die Herrschaft nicht nur über seine Glieder, sondern auch über
•eine, ji teilweise einer willkürlichen Innervation unterstellten, Sphinkteren;
Stuhl und Urin werden entleert, ein Vorgang, der aber die gleichzeitige
Kontraktion glatter Muskeln in der Wand von Darm und Blase voraussetzt. —
Hier ist auch der Ort, der Beziehungen zwischen Pavor nocturnus und
Enuresis nocturna andeutungsweise zu gedenken; ihre Verwandtschaft
untereinander ist für den Analytiker eine Selbstverständlichkeit. Im ganzen
wird aber die Tatsache nicht berücksichtigt, daß die medizinische Behaup¬
tung eines Nässens im Tiefschlafe auch der Physiologie völlig widerspricht.
Schon in den allerersten Lebenstagen, und hier vielleicht am allerbesten,
laßt sich feststellen, daß der Säugling im Schlafe kontinent ist. Nimmt
man ihn im Momente seines Erwachens rasch aus den Windeln, so sind
diese trocken. Und der Harnstrahl entleert sich erst, wie das Kleine ganz
erwacht. Es läßt sich genau beobachten, wie der Vorgang der Harnentleerung
mit dem Springen der schlafverengten Pupillen parallel geht. Doch das
nur nebenbei und nun rasch noch zu den Beziehungen zwischen Endo-
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i
6
82
H. Christoffel
und Exotoxikose: Wenn Oppenheim für die frustrangenitale Reizung
eine rückläufig wirkende Verkrampfung, eine Antiperistaltik, wahrscheinlich
gemacht hat, so erlaubt das Erblassen in Schreck und Todesangst eine
ähnliche Auffassung, nämlich die einer Kontraktion der Hautgefäße mit
Verschiebung des Blutes in das Innere des Körpers. Fr. Wirz 1 hat kürzlich
den Salvarsankollaps mit seinen Krampf-, Lähmungs- und Angstzuständen
beschrieben und für den Tod im Salvarsanschock folgenden Sektionsbefund
als typisch in Erinnerung gerufen: „Herz und periphere Gefäße sind
nahezu ohne Inhalt, sie sind anscheinend leer gelaufen, wie nach einem
Verblutungstode. Die ganze Blutmenge stockt im Splanchnikusgebiet. Alle
Venen dort sind strotzend gefüllt, auf dem Peritoneum sieht man kapillare
Blutpunkte, im kleinen Becken steht rötlich verfärbtes Serum.“ — Die Ver¬
folgung des muskulären Momentes der Angst führt, wie Sie sehen, zu einer
Fülle von Problemen, die ihrer weiteren Bearbeitung erst harren. Aber
eines dieser habe ich noch gar nicht berührt, trotzdem es bereits in der
ersten Arbeit Freuds zu finden ist. Ich begnüge mich, kurz zu erwähnen,
daß Freud von „einer Art Konversion“ der Angstneurose auf „rheumati¬
sche Muskeln“ spricht und schreibt: „Eine ganze Anzahl sogenannter
Rheumatiker, die übrigens auch als solche nachweisbar sind, leidet eigent¬
lich an — Angstneurose.“ B. Brun hat später in Kombination neuro¬
logischer mit psychologischer Untersuchung die Freudsche Behauptung
bestätigt. 2
Noch ein Blick zurück auf die genitale Komponente der
Angst. Ich erwähnte, daß beim Fluor frustran erregter Frauen die Unter¬
scheidung gegenüber entzündlicher Sekretion Schwierigkeiten zu bereiten
scheine. Erinnern wir uns nun der Charakteristika extragenital verschobener
Libidobesetzungen, der sogenannten „Genitalisierungen“, wie sie bei der
Konversionshysterie zu beobachten sind, erinnern wir uns ferner der aus
der alten Medizin stammenden Vierwortbeschreibung der Entzündung:
Bubor, tumor, calor, dolor, so zeigt sich eine gewisse Analogie
zwischen genitalen und entzündlichen Vorgängen. Wie bei der Entzündung,
so werden bei der Genitalisierung graduelle Unterschiede zu berücksichtigen
sein. Ist als Erfolg einer leichteren Libidobesetzung eher eine Hypertrophie
des libidobesetzten Organes zu erwarten, so bei der überstarken eher
Destruktion und Atrophie. Marcuse schreibt (loc. cit.) mit anderen
Autoren der fortgesetzten frustran-genitalen Reizung lokale „Rückbildungen“
und „regelrechte Entzündungen“ mit „nachweisbaren Schrumpfungen“ zu.
1) Münchner Medizin. Wochenschrift 1930, S. 1225.
2) „Beiträge z. Klinik und Pathogenese der Lumbago.“ Schw. Arch. f. Neur. u. Psych.,
Bd. VII, H. 1.
_ Abgesehen vom quantitativen Moment der Libidobesetzung, dürfte aber
auch ihre Kombination mit anderen Reizen, z. B. bakterieller Art, zu
^TumSrih einige Worte zur O n t o gen e s e d e r A n g s t. Ich
darf die Auffassung als bekannt voraussetzen, daß die Angst ontogenetisch
beim Geburtsvorgange erworben wird, aber auch phylogenetisch bereits
verankert ist. Wie bei der Angstneurose, so spielt bei der Geburtsangs
die Intoxikation eine Rolle. „Die Innervationen des ursprünglichen Angst¬
zustandes“ — schreibt Freud— „waren . . . wahrscheinlich sinnvoll und
zweckmäßig. So hat wahrscheinlich während der Geburt die Richtung der
Innervation auf die Atmungsorgane die Tätigkeit der Lungen vorbereitet,
die Beschleunigung des Herzschlages gegen die Vergiftung des Blutes
arbeiten wollen.“ 1 Wir hätten also sowohl bei der Angstneurose wie beim
Zustande des durch die Geburt rapid in seinen Lebensbedingungen ver¬
änderten, von der Nabelschnur- zur Lungenarterialisierung umgestellten
Lebewesens biochemische Momente als wesentliches Agens zu betrachten.
Aber wenn der Chemismus der beiden Fälle ein verschiedener ist, so sind
es desgleichen die faßbaren Wirkungen. Allerdings mag an die Anekdote,
die Freud in seinen Vorlesungen von der Hebammen Schülerin erzählt, 2 3
erinnert werden. Sie antwortete bekanntlich auf die Frage, was es bedeute,
wt nn das Kind unter der Geburt Darminhalt entleere, daß das Kind
.. \ngst habe“. „Eine gewisse Angstbereitschaft des Säuglings , meint auch
Freud selber, „ist unverkennbar.“ Sie ist aber, wie er weiter aus-
fiihrt, „nicht etwa unmittelbar nach der Geburt am stärksten, um dann
langsam abzunehmen, sondern tritt erst später mit dem Fortschritt der
seelischen Entwicklung hervor “.3 — Verrät also ein Angstneurotiker seinen
Zustand mehr oder weniger als solchen, so kann von einem Neugeborenen
kaum behauptet werden, daß es ängstlich, wohl aber, daß es grämlich
aussieht. Gram, Schmerz sind die frühest erkennbaren mimischen Äuße¬
rungen, deutliche Angst prägt sich nach physiognomischen Feststellungen*
von denen ich hier diejenigen H. Krukenbergs benütze, erst später
aus. Immerhin möchte ich aus eigener Beobachtung beifügen, daß schreck¬
haftes Zusammenzucken auf Licht- und Schallreiz bereits in den ersten
Lebenstagen vorkommt. Krukenberg schreibt: „Das Schmerzgefühl ist
beim Neugeborenen schon deutlich entwickelt“; er „gibt sein Mißbehagen . . .
durch Schreien und Schließen der Augen kund“; dazu „gesellt sich sehr
1) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI, Kap. VIII.
2) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. VII.
25. Vorlesung.
3) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI.
6*
84 H. Christoffel: Psychoanalyse und Medizin in ihren Beziehungen zur Angstneurose
bald . . . auch das Runzeln der Stirn . . . etwa in der 18. Woche . . . Herab¬
ziehen der Mundwinkel, das besonders vor dem Schreien beobachtet wird*, 1
Angst Krukenberg gebraucht diesen Ausdruck hier nicht, sondern spricht
von Furcht als dem nach seiner Verwendung der Termini schwächeren
Grade zeige sich dagegen erst gegen Ende des ersten Lebensjahres und
bekunde sich „durch Schreiweinen und Zittern*. Dies ist aber das Alter,
in dem der Säugling normalerweise nicht nur frei sitzen (fünfter bis
siebenter Lebensmonat), sondern bereits frei stehen (zehnter Monat) und
vielleicht schon gehen kann (zwölfter bis fünfzehnter Monat). 2 Der
deutliche Ausdruck der Angst dürfte also an eine gewisse Entwicklung der
Motorik gebunden sein, die beim Neugeborenen noch vermißt wird. Damit
hätte ich nochmals das muskuläre Moment am Angstzustande berührt und
damit in den Zusammenhängen zwischen Ur- und aktualneurotischer Angst
die Aufmerksamkeit besonders auf die zweite prägenitale Organisationsstufe
zu richten mir erlaubt.
Es ist Zeit, daß ich abbreche. Zwar konnte ich nirgends Ausführungen
geben, sondern mußte mich mit Skizzieren begnügen. Von der Angstneurose
ausgehend, versuchte ich zu zeigen, wie stark eigentlich die Arbeitsgebiete
des Arztes und des Analytikers ineinandergreifen. Freud hat einmal
geschrieben, man müsse verhüten, daß die Psychoanalyse in irgend einem
Lehrbuche der Psychiatrie im Kapitel Psychotherapie abgelagert werde.
Es zeigt sich, je länger, desto mehr, daß die Analyse als Therapie ausschlie߬
lich in die Hand des Analytikers gehört. Aber die Analyse ist ja nicht nur
Therapie, sondern auch Forschungsmethode. Ihre diagnostische Seite ist
die für den Somatologen und dessen Zusammenarbeit mit dem Analytiker
wesentliche, wie auch diesem das Organische keine terra incognita sein
kann.
Es handelt sich darum, daß unsere beiderseitigen Fragestellungen konform
sind. Nicht in erster Linie die Ergebnisse der experimentellen Biologie,
sondern oft sehr einfache und vom praktischen Arzt zu erhebende Tat¬
sachen können die Analyse befruchten, wie diese dazu angetan ist, ein Arztsein
zu ermöglichen und, um mit Liek zu sprechen, das bloße Medizinertum
verschwinden zu lassen. In solcher Zusammenarbeit erblicke ich die wahre
penetration pacifique .
1) Krukenberg: Der Gesichtsausdruck des Menschen, Stuttgart, Enke 1925.
2) Angaben aus Seifert-Müller: Taschenbuch der medizinisch-klinischen
Diagnostik, Wiesbaden, Bergmann.
Giftmord und Vergiftungswahn
Vortrag in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse am iy September l^o
Von
A. Kielholz
Königsfelden
Wir Anstaltsärzte sind immer wieder erstaunt darüber, wie häufig von
Angehörigen von Kranken die Frage erwogen und das Ansinnen an uns
gestellt wird, ob es nicht möglich wäre, einen armen bemitleidenswerten
Patienten mit einem „Pülverli“ sanft zu erlösen, mit anderen Worten, wie
wenig verdrängt die Beseitigungswünsche gegenüber unbequemen Familien¬
gliedern sind, und wie rasch man bereit wäre, uns Ärzte zu Komplizen
und Erfüllern solcher Wünsche anzustellen. Ebensooft begegnet man dem
Bestreben, den Kranken mit unsinnigen Haufen von Süßigkeiten und
anderen Eßwaren zu beschenken, mit denen er sich zum mindesten jedes¬
mal den Magen verdirbt, und man geht wohl nicht fehl, wenn man darin
eine mangelhaft gelungene Kompensation jener Beseitigungstendenzen mit¬
tels einer oralen Gabe erblickt.
W r ohl noch häufiger als diese Neigungen bei den Angehörigen, können
wir bei unseren Kranken die Angst beobachten, vergiftet zu werden, sei
es von ihren Leuten, sei es von Fremden, sei es von Pflegern oder Ärzten.
Entsprechende Sinnestäuschungen und Wahnideen und damit im Zusammen¬
hang stehende Schutz- und Abwehrhandlungen, wie Nahrungsverweigerung,
Ausspucken oder Fort werfen des Essens, begegnen uns täglich auf unseren
Visiten.
Der Giftmörder verwirklicht das, wozu uns jene Angehörigen gelegent¬
lich anstiften möchten. Sehen wir zu, ob aus dem Versuch, das Verbrechen
und die wahnhafte Angst davor einander gegenüber zu stellen, sich irgend
eine Einsicht gewinnen läßt in dunkle Gebiete des menschlichen Zusammen¬
lebens.
Ein 27 jähriger, durch Alkoholismus und Geisteskrankheit schwer
belasteter, debiler Schlosser, Walter H., suchte seinen Vater, einen rohen
Schnapstrinker, der ihn als siebenjährigen Knaben wegen Bettnässens mehr-
86
A. Kieiholz
mals mit einem Seil auf einer Bank festgebunden und mit einem Leder¬
riemen so ausgepeitscht hatte, daß er nicht mehr sitzen und gehen konnte,
mit Lötwasser, das er ihm fingerhutvoll in die Suppe goß, zu quälen,
damit er krank werde und langsam zugrunde gehe. Seine fünf Geschwister
hatten mit der geschiedenen Mutter das Vaterhaus verlassen; er allein war,
nachdem er auswärts als Fabrikarbeiter einige Ersparnisse gemacht hatte,
zurückgekehrt, hatte das Hauswesen übernommen und dem Vater das Haus¬
recht eingeräumt, gegen das Versprechen, mitzuhelfen in der Landwirtschaft.
Als es nicht gehalten wurde und der Vater sich das Hausrecht auch nicht
abkaufen lassen wollte, wurde er deprimiert, stand deswegen vorübergehend
in ärztlicher Behandlung, hatte Suizidgedanken, vernachlässigte die Arbeit
immer mehr und geriet in Schulden. Er hatte viel Streit mit dem Vater.
Sie taten sich zu leid, was sie nur konnten. Jeder kochte für sich. Er klagte
oft, er könne unter solchen Umständen nicht heiraten. Eine Frau wäre zur
Führung des Haushaltes sehr nötig gewesen. Ein Verhältnis wurde auch
wieder aufgelöst. Als er einmal etwas mehr als nur einen Fingerhut voll
Lötwasser in des Vaters Suppe schüttete, verspürte dieser den Geschmack
der konzentrierten Chlorzinklösung und die Sache wurde entdeckt. Vor dem
Richter motivierte er sein Vorgehen damit, daß der Vater ihn schlecht
behandelt, beständig geplagt, verfolgt, verleumdet, verdächtigt, geschlagen
und beschimpft habe, als Hurenbub, faulen Hund, Dieb, Verrückten, der
sich hängen solle. Er gehe gern ins Zuchthaus, nur um aus diesem Haus
herauszukommen. Er bekam unter Zubilligung mildernder Umstände zwei
Jahre und zehn Monate.
Drei Fragen drängen sich auf: Warum kehrt der Mann als einziger von
seinen Geschwistern nach Hause zurück und übernimmt es samt dem trunk¬
süchtigen Vater, warum greift der Schlosser statt zu einer Waffe zum Gift,
und warum verwendet er als solches LÖtwasser, das ihn verraten muß?
Er ist eben durch unsichtbare Bande an die Stätte und an den Peiniger
gefesselt, der ihn durch seine unmenschlichen Züchtigungen für sein Bett¬
nässen zum Masochisten machte, und muß daher solche Peinigungen immer
wieder aufsuchen. Als Masochist kann er auch nicht zur aktiven Waffe
greifen. Die Tat muß ihn verraten, damit er mit der Strafe wiederum
seine Quallust befriedigen kann. Und schließlich liegt in der Wahl des
Giftes ein blutiger Hohn, den jeder versteht, der weiß, daß man das
unmäßige Trinken bei uns auch als „Löten“ bezeichnet.
Die beiden Schwestern F., Susanne 55 jährig und Lisette 43 jährig,
wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, weil sie ihren ältesten
58 jährigen Bruder mit Eierkuchen, der Phosphor, und mit Tee, der Kupfer¬
vitriol enthielt, vergiftet hatten. Jener, ein händelsüchtiger Psychopath, war
einige Tage vorher aus dem Gefängnis heimgekommen, hatte sie beschimp
und"des Kindsmords beschuldigt — Susanne stand im Verdacht des sexuellen
Umgangs mit einem Neffen - hatte erklärt, er arbeite jetzt gar nicht
„ehr. und sich geweigert, eine Stelle außer dem Hause anzunehmen.
Susanne kam nach irriger Strafhaft wegen Paranoia nach Komgsfelden,
wo sie fünf Jahre später starb. Sie erklärte hier, sie würde ihren Bruder
h, ute noch wegputzen. Sie hätte drei Jahre lang gegen ihn gekämpft, er
Jei indessen immer bösartiger und frecher geworden, habe öfters unflätig
auf die verstorbene Mutter als Hure geschimpft, die ihm im Traum er¬
schienen sei. Niemand habe ihnen gegen den Narren und Tierquäler ge¬
holfen. Er habe ihr tot besser gefallen als lebendig, und sei als Leiche
g ,„,z verklärt gewesen. Zum Totschlägen hätten sie Schwestern doch zu
wenig Kräfte gehabt. Sie hätten nur aus Notwehr gehandelt. Auch hier war
der Vater ein bösartiger Trinker, der im Rausche alles zerschlug, die Schuhe
auszog und Geschirr damit zertrümmerte, und der Frau und Kinder oft mi߬
handelte, wie später der Bruder. Sie verweigerte in den letzten Jahren des
Anstaltsaufenthaltes zeitweise die Nahrung: Der Bundesrat habe ihr tele¬
phoniert, sie solle das hiesige Saufressen nicht nehmen. Lisette wurde nach
20 Jahren Zuchthaus begnadigt, führte daheim zuerst eigenen Haushalt,
kam dann ins Armenhaus und mit 78 Jahren ebenfalls wegen Paranoia nach
Königsfelden. Sie wollte nicht mit den anderen Insassen zusammen essen
und behauptete, man habe ihr Haus und Vermögen gestohlen. Die Schwer-
hürige erzählte von ihrer Untat gleichgültig und ohne Reue. Der Bruder
habe einen leeren Kopf, aber guten Appetit gehabt. Dem Vater, der an
Wassersucht litt, habe ein Arzt mit einem Messer in den Bauch gestochen,
so daß er in zwei Stunden gestorben sei. Nach seinem Tod mußten sie
zwei ledigen Schwestern das heimatliche Haus allein mit ihrem Verdienst
aus der Fabrik aufrecht erhalten, damit die schwache Mutter nicht in Not
und Elend auf die Straße hinausgestoßen wurde. Sie ließen das verlotterte
Heimwesen neu aufbauen, soviel es nottat. Vom Bruder hatten sie das
ganze Jahr nichts als Schaden. Mit ihm hätte sich die ganze Gemeinde
verbündet, um sie umzubringen. So mußten sie zur Selbsthilfe greifen.
Den Weltkrieg bezeichnete sie als gerechten Lohn für ihre Verfolgung.
Die beiden Täterinnen identifizierten sich somit ganz mit der schwachen,
mißhandelten Mutter und beseitigten den ältesten Bruder so prompt, wie
der Arzt das nach ihrer Auffassung mit dem verhaßten Vater getan hatte,
wie lästiges und schädliches Ungeziefer oder Mehltau, mit Rattengift und
Vitriol, indem sie seine Gefräßigkeit mit Omelette und süßem Tee köderten.
So wurde das mühsam erworbene und aufrecht erhaltene Elternhaus von
einem unerwünschten Parasiten befreit, damit Susanne ungestört ihrem
88
A. Kielholz
inzestuösen Umgang weiter darin frönen könne. Sie wurde auch von
Lisette als Anstifterin zur Tat bezeichnet. Lisette behauptete auch, die
Heimatsgemeinde habe sie mit einem verwitweten Schwager verkuppeln
wollen.
Die 57 jährige Hausfrau Hedwig H., Mutter von zwei kleinen Kindern,
mit einem ungeliebten, 20 Jahre älteren Witwer verheiratet, streute ihrer
schwangeren Mieterin wiederholt Arsenik in Milch und Mehl, angeblich
um ihr nur ein wenig Bauchgrimmen zu verursachen, doch genügend,
daß die Vergiftete zwei Monate später an perniziöser Anämie starb. Sie
hatte vorher dem Mieter Geld offeriert, wenn er seine schwangere Frau
kaput mache, behauptete, diese sei eine Hure, habe ihr eigenes Kind
erwürgen wollen und ihrem, der Mörderin, Mann nachgestellt. Die Mieterin
hatte diesem erzählt, daß seine Frau ihm Löcher in den Veloschlauch
gestochen. Der Zorn über diese Schwätzereien veranlaßte die Vergiftung.
Frau Hedwig gab an, sie selber habe ein stecknadelkopfgroßes Stück Gift
vorher versucht, ohne Beschwerden davon zu bekommen. Sie wisse, daß
man solches regelmäßig nehme, um hübsch zu bleiben. Das habe sie in
der Fabrik gehört, wo sie schon als Schulkind arbeiten mußte und jeweilen
in einer Kiste versteckt wurde, wenn der Inspektor kam. Als Konfirmandin
fiel sie nachts auf eine Lampe, mit der sie unters Bett zu leuchten pflegte.
Sie sei an der Verletzung fast verblutet. Bei ihren beiden Geburten
brauchte sie jeweils ärztliche Hilfe und fiel durch ihr ungebärdiges selt¬
sames Wesen auf; sie äußerte dabei Verfolgungsideen. Sie hatte dreimal
versucht, sich im nahen See zu ertränken. In der Ehe kam es zu Uneinig¬
keiten, da der Mann nach ihrer Meinung die Kinder zu wenig strafte un d
die verhaßten Mieter nicht aus dem Hause entfernte. Er durfte nie in den
Keller und auf den Estrich und mußte die Schuhe ausziehen, wenn er in
die Stube wollte, um nichts zu beschmutzen. In der Untersuchungshaft
verweigerte sie vier Tage lang die Nahrung und befürchtete, die jungen
Mitgefangenen nebenan könnten sie verführen, wenn die Türe nicht gut
verschlossen wäre. In Königsfelden träumte ihr einmal, sie habe sich selbst
mit einem großen Messer zerschnitten. Sie bestellte einen Koffer, um
damit zur Patin nach Amerika zu reisen, wo ein Bruder ihres Vaters, ein
Brandstifter, verschollen war. Unser Gutachten lautete auf Schwachsinn
und Unzurechnungsfähigkeit.
Auch in diesem Falle ist die Tendenz, das Haus, das sie in über¬
triebener Weise reinzuhalten versucht, von unerwünschten und verhaßten
Mitbewohnern zu befreien, augenscheinlich. Die Schwangerschaft der
Mieterin erinnert sie an die eigenen beschwerlichen Graviditäten, wo sie
inmal dem eigenen Leben durch Ertränken ein Ende machen wollte,
und vielleicht auch an die Schwangerschaften der Mutter - sie hat zwei
jüngere Brüder —, die sie wohl mit eifersüchtigen Regungen beobachtet
haben mochte.
Wulffen hat in einer 1917 erschienenen prägnanten Monographie
übe, die Psychologie des Giftmordes 1 den wichtigen Zusammenhang von
kriminellen und sexuellen Strebungen an den kurzen Biographien der
berüchtigten Vergifter und vor allem Vergifterinnen nachgewiesen, der
auch in unserer bescheidenen Kasuistik deutlich hervortritt.
Walter H. versucht seinen Vater zu beseitigen, nachdem er seine
1 leiratspläne durch dessen skandalöses Verhalten vereitelt sieht. Susanne F.
verleitet ihre Schwester zur Vergiftung des Bruders, der ihr inzestuöses
Verhältnis zum Neffen durchschaut hat und ihr vorhält. Frau Hedwig H.
will mit Gift die schwangere Mieterin aus dem Hause schaffen, weil diese
angeblich ihrem Manne nachgestellt hat.
Bei Walter H. ging dem Delikt eine Depression mit Suizidgedanken
voraus, die beiden Schwestern F. wurden in der Strafhaft paranoid.
Hedwig H. versuchte sich dreimal zu ertränken, verweigerte zeitweise die
Nahrung und äußerte Verfolgungsideen.
Es liegt somit nahe, bei Paranoiden mit ausgesprochenem Vergiftungs¬
wahn nach weiteren und vielleicht deutlicher durchschaubaren Zusammen-
hängen zu fahnden.
Die jetzt 44 jährige Luise K. hat mit 5 Jahren ihre beiden Eltern ver¬
loren an Lungentuberkulose und ist mit 8 Jahren von einem 16 jährigen
Pflegebruder mehrmals auf dem Abort sexuell mißbraucht, dann als
Hotel Sekretärin vom Manne einer Freundin und von einem Hotelangestell¬
ten überrumpelt worden. Mit 38 Jahren versuchte sie sich in einem
öffentlichen Abort mit Veronaltabletten zu vergiften. In ein Sanatorium
verbracht, äußerte sie Vergiftungswahn und mußte wegen Nahrungsver¬
weigerung mit der Sonde ernährt werden. Die Stimme Gottes verbot ihr
zu essen. Nachdem sie sich einmal zum Milchtrinken hatte bestimmen
lassen, spürte sie furchtbare Leibschmerzen, und hatte das Gefühl, der
Magen werde auseinandergesprengt. Dann bekam sie Riesenhunger, sie
wurde dick und fett und erklärte nun erregt, sie sei Mutter und habe
ein Kind; die Stimmen sagen ihr, sie werde ein totes Kind gebären,
Zwillinge bekommen. Sie sei guter Hoffnung von zwei Pfarrherren, denen
sie die früheren sexuellen Erlebnisse gebeichtet habe. Sie verfertigte sich
ein Kinderbettchen und pflegte darin ein fingiertes Kind. Dann verweigerte
sie wieder das Essen, sie wolle sterben, damit sie keinem andern mehr
1) Urania-Bücherei, 6. Band. Verlag des Volksbildungshauses Wiener Urania,
Wien 1917.
90 _A. Kielholz
im Wege stehe. Man wolle ihr mit der Milch das Kind im Leibe vergiften.
Die Speisen haben den Geruch von Muttermilch. Es habe auch schon
geheißen, die Frucht sei durch das Essen in ihren Leib gekommen. Häufig
roch sie auch Menstrualblut im Essen. Sie schimpfte dann wieder über
sexuelle Nachstellungen durch die Anstaltsärzte, die sie nachts bestialisch
mißbrauchten.
An den Vergiftungswahn schließt sich hier deutlich die Schwanger-
schaftsphantasie an. Der Fall bestätigt die Auffassung von Freu d, 1
was den Paraphreniker zur Klage oder zum Verdacht, daß er ver¬
giftet werde, veranlasse, sei der ins Ubw verdrängte Wunsch nach
Schwängerung, resp. die Abwehr der erkrankten Person gegen denselben.
Bemerkenswert ist auch, daß die Kranke die giftigen Eigenschaften in
erster Linie menschlichen und speziell weiblichen Se- und Exkreten zu¬
schreibt: der Muttermilch und dem Menstrualblut, und daß ihr Wahn
offenbar auf jene bekannte infantile Theorie von der Zeugung durch das
Essen zurückgeht.
Auch bei dem jetzt 44 jährigen Paranoiden Moritz S. begann der Wahn
sich darin zu äußern, daß er überall verdorbene Milch witterte. Die Ver¬
giftungsversuche seien dadurch veranlaßt worden, daß ihn sein Vorgesetzter
zwingen wollte, dessen schwangere Mätresse zu heiraten. Vom Bett eines
Mitpatienten aus ergossen sich häufig ganze Gasgarben über seine Bett¬
mitte, wodurch er betäubt wurde und dann sexuelle Gasträume bekam.
Er suchte sich dadurch davor zu schützen, daß er die Bettücher über den
Kopf zog, und lag dann beim Erwachen jeweils steif wie ein Leichnam
oder zusammengezogen wie ein Embryo im Mutterleib — das sind seine
eigenen Worte in seinem Bette. Einmal sah er in einer nächtlichen
Vision eine Schlange, die sich ihm in einem Oval auf den Unterleib legte,
dann wieder einen Frauenkopf, der ihm einen Giftkuß auf die Lippen
drückte; einmal eine Frau, die ihm den Rücken zukehrte, neidisch ihr
Gesäß schüttelte, worauf er mit dem Kopf auf ihren Schoß fiel. Einmal
sieht er im Gifttraum auf der Laube des Vaterhauses seine einzige Schwester
nackt, nur mit einem Kinderschlüttli bekleidet, vor sich liegen und will
sich bücken, um ihre Geschlechtsöffnung zu küssen. In einem Brief, in
dem er eine Assistenzärztin um ihre Hand zur Befreiung aus ganz unwür¬
diger Umklammerung bittet, bezeichnet er sich als verkrachten Heirats¬
kandidaten, der unfähig sei zur Ehe.
Hier sehen wir den Giftwahn mit inzestuösen Regungen gegen die
einzige Schwester und mit der unverkennbaren Tendenz verknüpft, in
1) S. Freud, Das Interesse an der PsA., Ges. Schriften, Bd. IV.
die vor allen feindlichen Angriffen schützende Position des Embryos zu-
rUl l K )l^. m n 3 8 jährige Schlosser Karl R. erkrankte vor 12 Jahren im An-
, chIuß an eine «ngückliche Liebschaft. Er glaubte sich von einer Bekannten
der ('„-liebten, die von seinen Anträgen nichts wissen wollte, mit Opium
Kaffee vergiftet. Die Pulver des Arztes, die er für seine Aufregung
erhi el t . beschädigten ihm angeblich die Augen. Er behauptete, seine An¬
gehörigen vergönnten ihm das Essen, glaubte auch in der Anstalt vergiftet
ZU werden. Die letzte Aufnahme in Königsfelden erfolgte, weil er auf
einer Bank 10.000 Fr. erheben wollte und dafür zwei Schlösser ver¬
pfändete, und weil er Heiratsinserate als Fabrikbesitzer erließ. Diesmal
verweigerte er die Nahrung, bis Sondenfütterung erfolgte. Anläßlich einer
Entweichung erklärte er, die Signalemente urinierten ihm m die Suppe.
Es seien das kleine Tiere, die an seiner Lunge und an seinem Herzen
fressen, ihm Hirn und Magen koitieren. Ein kleiner, stecknadelkopfgroßer
Abkömmling eines Wärters steckt in ihm, schneidet ihm mit ganz kleinem
Rasiermesser Herz und Lungen ab und beschädigt auch seine Eioden. Man
hat ihm Mäusekot in seinen Körper hineingetan, es sei davon hinten her¬
aus abgegangen, aber hinten und vorn wieder in seinen Körper hmein-
g( kommen. Alle Wärter der Anstalt koitieren in seiner Brust. Käfer haben
ihm das ganze Herz zerfressen.
Auch bei diesem Kranken sind die Giftstoffe menschliche und tierische
Exkrete, die ihm mit der Nahrung oder per anum beigebracht werden und
durch welche in ihm, wie in einer Schwängern, lebende Wesen entstehen,
die zudem das zerstörende Werk seiner Verfolger, die ihn damit vergiftet
und geschwängert haben, an seinen Eingeweiden fortsetzen. Das erinnert
uns daran, daß Kinder, welche die Urszene belauschen, darin vorwiegend
einen sadistischen Akt des Vaters gegen die Mutter erblicken. Während
Moritz S. seine inzestuösen Giftträume ins Vaterhaus zurückverlegt, wird
Karl R. in seinen Größenphantasien Schloßherr und Fabrikbesitzer und sucht
dazu eine passende Frau. Da ihm das mißlingt, wandelt er sich selbst in einen
Hermaphroditen, in dessen Innern sich sadistische Liebesszenen abspielen.
Zusammenfassend möchte ich vorläufig als Ergebnis meiner Kasuistik
die Sätze aufstellen:
Die Psychologie des Giftmordes und die des Vergiftungswahnes stehen
in engem Zusammenhang und ergänzen sich gegenseitig. Inzest und
Schwängerung spielen darin eine wichtige Rolle. Letzten Endes ist es der
Mutterleib, um dessen alleinigen Besitz gekämpft wird, und dessen Se- und
Exkrete sind die magischen Stoffe, von welchen die Gaben und Gifte zur
Beseitigung unerwünschter Nebenbuhler abgeleitet werden. Im Giftwahn
92
A. Kielholz
wird dieser Kampf in die eigene Person introjiziert. Der Giftmörder
projiziert ihn auf das, was wir als symbolische Darstellung des Mutter¬
leibes auffassen, d. h. das elterliche Haus und Besitztum. 1
Daß uns unsere Erfahrungen und Einsichten bei Süchtigen, speziell
bei Alkoholikern, recht nahe zu dem heute behandelten Thema heran¬
führen, ist nicht verwunderlich und zeigt sich ja schon bei den kurz
referierten Fällen. Der Vater vom Walter H. wie derjenige der Schwestern
Susanne und Lisette F. waren brutale, rohe Trinker, die den Nachkommen
ihren durch das Rauschgift enthemmten Sado-Masochismus einimpften.
Moritz S. und Karl R. haben selber zeitweise dem Alkohol gefrönt.
Wenn die beiden Schwestern F. zusammen beschließen, den lästigen
Bruder durch ein süßes und vergiftetes Getränk zu beseitigen, so erinnert
uns das daran, wie die meisten Süchtigen das ausgesprochene Bestreben
zeigen, Proselyten für ihr Rauschgift zu werben, in Gesellschaft Freude
haben, Neulinge sinnlos betrunken zu machen und sich an der Bewußt¬
losigkeit der wie Leichen Daliegenden zu weiden. Die Tiefenpsychologie
erweist als häufiges Motiv der Trunksucht die Sehnsucht nach einem
Nirvana, nach jenem Zustand des Embryos im Mutterleib, wie ihn
Moritz S. als Folge der Giftwirkung expressis verbis geschildert hat. Wenn
der chronische Alkoholismus zur ausgesprochenen Psychose führt, treten
analoge Wahnbildungen auf, wie bei unsern Giftwahnsinnigen.
Die 37 jährige Frau Marie S. hatte vor ihrer dritten Internierung in
Königsfelden wegen drohendem Del. trem., wobei sie mit Suizid und Tötung
ihrer Kinder gedroht hatte, vermutet, die Leute hätten ihr heimlich etwas
eingegeben, um sie zu Schlechtigkeiten zu verführen. Das sei schon in
der Pension im Welschland geschehen. Da habe man es absichtlich
so eingerichtet, daß nachts Buben und Mädchen Zusammenkommen
sollten. Es gebe geheime Gesellschaften, wo Männer miteinander geschlecht¬
lich verkehren, und gleiche, wo Frauen das tun. Man habe ihr etwas ins
Trinken getan, um sie an einen solchen Ort hinzuführen in eine solche
Weibergesellschaft. Sie denke bei den Mäusen, Hühnern und Katzen
(die sie im Delirium halluzinierte), da sei etwas gegangen mit ihr.
Letzte Woche habe sie in einer Nacht das Gefühl gehabt, wie wenn ein
Hahn mit seinen Federn oder eine Katze an ihren Geschlechtsteilen wären
und sie geschlechtlich brauchen wollten. Sie glaube, eine Kratzwunde an
ihrem Arm käme von einem solchen Tier her. Sie dürfe vor Scham
niemanden mehr anschauen.
i) Vergl. auch E. Weiß: Der Vergiftungswahn im Lichte der Introjektions- und
Pro)ektionsVorgänge. Int. Z. f. PsA., Bd. XII, 1926, S. 466, wo sich auch weitere
psa. Literatur verzeichnet findet.
I),r Zusammenhang von Vergiftungswahn und sodomistischer Schwän¬
gerungsphantasie ist hier unverkennbar.
I) r 68 jährige, ledige Johann A„ der infolge langjähriger Trunksucht
an Korsakow leidet, behauptet, er habe in einem Gehörgang ein Engelein
und ein Teufelchen, die sich begatten und Kinderchen gezeugt haben,
deren Stimmen er beständig hört. Er sah sie als Fäden hineinkommen.
Bei diesem Kranken sind die Szenen, die Karl R. in Brust und
Abdomen lokalisiert, nach oben verschoben.
Friedrich R., 57 Jahre alt, beschuldigte infolge alkoholischer Eifersucht
seine beiden erwachsenen Söhne des Umgangs mit ihrer Mutter. Seine
Internierung in Königsfelden wurde veranlaßt, weil er durch Zeichnungen
öffentliches Ärgernis erregte, die er an der Hausmauer gegen die Straße
befestigte, um aller Welt seinen vermeintlichen Eheskandal zu verkünden.
Auf einem dieser Bilder hatte er seine Frau nackt in der Stellung einer
Danae gezeichnet, bereit, die beiden in priapischer Gestalt herbeieilenden
Söhne zu empfangen. Unter ihr in einem Sarg aber liegt er selber als
Sterbender und in seinen Mund fließt als tödliches Gift das Scheidensekiet
der brünstigen Frau.
Die grausige Phantasie des eifersüchtigen Potators entspricht somit
völlig dem Ergebnis unserer Untersuchung.
Auch die Psychologie des Selbstmords liefert uns vielfach Parallelen
und Beiträge. Wir wissen aus der PsA. der Depressionen, daß diese und
die durch sie bedingten Antriebe zum Suizid nichts anderes darstellen,
als eine Nachinnenwendung des Aggressions- und Destruktionstriebes, eine
Selbstbestrafung für Beseitigungs- und Vernichtungswünsche gegen andere
Personen, meist nächste Angehörige.
In meinem Vortrag über den Urheber der mentalen Hygiene, Clifford
Wittigham Beers, 1 versuchte ich dessen depressive Psychose mit ernst¬
haften Selbstmordversuchen zu deuten als Reaktion auf den Tod eines
altern Bruders, den er unbewußt herbeigewünscht hatte. Hinter seinem
Vergiftungswahn waren kannibalistische Phantasien verborgen, er weigerte
sich, seine Mutter zu küssen, und den Sprung aus dem Fenster, der ihn
zum Tode führen sollte, hatte er in dem Momente unternommen, als sie
im Begriffe stand, ihm Süßigkeiten zu holen.
Wie die Wahl des Giftes durch charakteristische Momente konstelliert
wird, zeigt folgende Beobachtung: Der 24 jährige Sohn eines Trinkers, ein
haltloser Psychopath mit Neigung zu Alkoholexzessen, wurde deswegen
1) A. Kielholz: Geistige Gesundheitspflege. Von ihrem Begründer und ihrer
Geschichte. Kranken- und Irrenpflege, 9. J., 1930, S. 101.
94 A. Kielholz
interniert, weil er sich mit Strychnin zu vergiften versucht hatte. Er gab
als Motiv dieser Tat an, er habe geglaubt, seine Braut sei schwanger, und
sich dann daran erinnert, daß eine schwangere Haushälterin in dem Dorfe,
wo er früher lebte, mit Strychnin vergiftet worden sei.
Von einem bernischen Schwurgericht wurden vor vier Jahren ein Arzt und
dessen Geliebte wegen Abtreibung und Giftmords, begangen an der Frau des
Arztes, zu je zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Nun ist durch den Anwalt
der Verurteilten ein Revisionsbegehren 1 gestellt worden, das sich hauptsächlich
an Hand der Tagebücher der Verstorbenen auf den Standpunkt stellt, es habe
sich um den Selbstmord einer chronischen Arsenikesserin gehandelt, die in
der Depression, ^ welche zur kritischen Zeit einsetzte, in der Aufregung zu
viel von ihrem gewohnten Arsen erwischte. Das psychologische Gutachten
eines Psychiaters soll nun abklären, wie weit dieser Standpunkt begründet
erscheint.
Das reich dokumentierte und kurzweilige Werk L e w i n s über die Rolle
der Gifte in der Weltgeschichte 2 enthält interessantes Material zur Bestätigung
unserer Auffassungen.
Wir hören da beispielsweise, daß sich König Ladislaus von Neapel und
Ungarn nach den Chronisten im Jahr 1414 den Tod durch Gift geholt habe,
das in die Geschlechtsteile seiner zugleich mit ihm gestorbenen Geliebten,
einer Arzttochter, getan worden war. Nach einer andren Version habe ihm
diese auf Wunsch ihres von den Florentinern bestochenen Vaters eine mit
Akonit bereitete Salbe gleichsam als Liebeszauber in seine Geschlechtsteile
eingerieben. 3 4 Der gleiche König soll als jung schon einmal vergiftet und
damals durch die Kunst der Ärzte, die ihn öfters in das Innere eines frisch
getöteten Maulesels einlegen ließen, gerettet worden sein. Die nämliche
Methode der Entgiftung, das Einwickeln in eine blutwarme Tierhaut, wurde
auch bei Caesar Borgia angewendet.« Wir dürfen sie wohl als symbolischen
Versuch, die Situation eines Embryos und damit einer Neugeburt zu schaffen,
auffassen. Den gleichen Sinn hat unzweifelhaft auch eine im Mittelalter
vielfach geübte Behandlung von Vergifteten, die ebenfalls die Situation
des Menschen beim Austritt aus dem Mutterleib nachzubilden sucht, nämlich
die, den Vergifteten verkehrt aufzuhängen, um das Gift durch Mund, Nase,
ja sogar aus den Augen auslaufen zu lassen. So verwendete man diese
Methode bei Albrecht dem I., dem Sohn Rudolfs, der später in Königsfelden
erschlagen und begraben wurde. Erhalte 1292 Adolf von Nassau als Kaiser
1) Fritz Roth, Der Giftmordprozeß Riedel-Guala. Verl. Orell Füßli, Zürich 1929.
2) L. Lewin, Die Gifte in der Weltgeschichte. Verl. Springer, Berlin 1020.
5) A. a. O. S. 520. s
4) A. a. O. S. 490.
nprkannt und ihm die Reichskleinodien ausgeliefert. Zu dieser Resignation
* ranlaßte ihn vielleicht eine schwere Krankheit, die in alten Chroniken
als 1 Folge einer Vergiftung geschildert wird und als deren Urheber man
L Erzbischof von Salzburg bezeichnete. Mit diesem hatte der Kaiser Streit
L Salzwerkes halben, so sein Gemahl die Kaiserin Elisabeth aufgebaut hatte
bei Gmund. Und da der Bischof dem Kaiser nichts mit Waffen und Volk
anhaben konnte, versuchte er sein Heil mit Gift oder Vergebung, dingte
durch große Gaben einen unter des Kaisers Dienern, der ihm in Speis und
Trank soviel starkes Gift brachte, daß er todkrank ward. Aber die Ärzte
erhielten ihn. Sie banden seine Beine oben an, daß sein Haupt unten auf
der Erde stand, und taten ihm ein künstlich bereitetes Instrument in den
Mund und Hals, daß er sich immerdar erbrechen und das Gift ausspeien
mußte, und von dem Instrument Odem in sich zog, daß er nicht erstickte.
Also ist ihm in dieser künstlichen Erbrechung das Gift zum Munde, Nase und
Augen aus dem Leibe kommen, daß er wieder gesund geworden, aber doch
ein Auge darüber verloren hat. Das hatte er dem geistlichen Vater zu danken,
der hatte es vom Papste gelernt, Gift für Arzenei, Tod für Leben zu geben,
das zu Rom gar eine gemeine Kunst ist. Nach einer anderen Darstellung
wurden ihm bei Tische in Wien am 11. November 1295 vergiftete Birnen von
einem seiner Sekretäre, der von den Gegnern mit 300 Mark bestochen war,
beigebracht. Das Gift wurde jedoch durch die Ärzte aus einem Auge heraus¬
gebracht. In einer Chronik aus dem Ende des 14. Jahrhunderts wird sogar
berichtet, daß ihm die Ärzte ein Auge ausgestochen hätten, um dem Gift
so einen Ausgang zu verschaffen. 1 Das erinnert uns an die Behauptung des
paranoiden Karl R., daß ihm die Pulver des Arztes, die er für seine durch
die Vergiftung verursachte Aufregung erhielt, die Augen beschädigt hätten.
Auch von Kaiser Heinrich VII. ist überliefert, daß man ihn habe auf¬
hängen wollen, um das Gift durch seine Augen herauszubringen, 2 3 ebenso
von einem Bischof Johann.
Der Glaube, daß Menstrualblut giftig sei, den unsere paranoide Luise K.
äußert, war nach Lewin weit verbreitet. 4 Solches wurde sogar in Geschosse
eingeführt, wie auch das Sekret von giftigen Kröten oder Öl, in dem man
Spinnen ertränkt hatte. 5 Zum Schluß dieses historischen Exkurses sei noch
auf die sog. Giftjungfrauen Kaiser Friedrichs II. hingewiesen. Dieser be¬
rühmte Staufe habe nach den Chroniken schöne Mädchen täglich und
1) A. a. O. S. 49.
2) A. a. O. S. 465.
3) A. a. O. S. 271.
4) A. a. O. S. 155.
5) A. a. O. S. 73.
96 A. Kielholz
dauernd Gift nehmen lassen. Ärzte hatte er zur Überwachung derselben
angestellt, um, falls sich einmal eine vergiftet hätte, sie zu behandeln. Die
Überlebenden hätten sich schließlich an die Gifte so gewöhnt, als gehörten
sie zu ihrer Nahrung. Falls nun irgend ein Fürst oder ein vornehmer
Mann, der dem Kaiser zu nahe getreten war, und den er aus bestimmten
Gründen nicht hatte töten mögen, sich wieder mit ihm versöhnte, so gab
er ihm eine der giftgewöhnten Jungfrauen als Gattin. Alsbald nach deren
Umarmung wurde der Betreffende unheilbar vergiftet und starb. So rächte
sich der Kaiser an seinen Feinden. 1
Welcher Psychoanalytiker denkt bei dieser Erzählung nicht an Freuds
Ausführungen über das Tabu der Virginität, wo u. a. Anzengrubers Komö¬
die: Das Jungferngift, und der Ausspruch von Hebbels Judith zitiert wird:
„Meine Schönheit ist die einer Tollkirsche, ihr Genuß bringt Wahnsinn und
Tod.“ 2
Damit wären wir im Gebiet der schönen Literatur angelangt, und Sie
müssen mir gestatten, noch kurz auf einige mehr oder weniger bekannte
Dichtungen einzugehen, die zu unserm Thema einen Beitrag liefern
können.
In Shakespeares Dramen spielen die Gifte eine große Rolle. Die Köni¬
gin im Cymbelin ist eine geradezu vollendete Schilderung des Typus der
privilegierten Giftmischerin. 3 Nach dem Bericht des Arztes Cornelius stirbt
sie im Wahnsinn und bekennt sterbend, daß sie ihren Gatten nie geliebt,
nur aus Machtgier geehelicht, ihn verabscheut, ihre Stieftochter, die sie
scheinbar in falscher Zärtlichkeit auf den Händen trug, vergiften wollte,
ebenso den König, den sie als Sterbenden pflegen und veranlassen wollte,
ihren Sohn zum Erben der Krone zu machen. Sie verzweifelte, daß sie das
alles nicht ausführen konnte, und wurde deswegen wahnsinnig. Hier soll
also im Dreieckverhältnis Vater-Mutter-Sohn der erste zugunsten des letztem
aufgeopfert werden.
Rene Laforgue* hat uns kürzlich sehr einleuchtend gezeigt, wie sich
bei Rousseau wie ein Leitmotiv dies Dreieckverhältnis durch das Leben
des Dichters windet als Abfolge des Konfliktes der Kindheit, wie deswegen
Madame de Warens zur Mama wurde, und deren Kammerdiener und
Geliebter Claude Anet für ihn eine Vaterrolle übernehmen mußte.
In Ergänzung der Ausführungen dieses Autors sei darauf hingewiesen,
daß uns die Bekenntnisse des Philosophen auch von einem Vergiftungs-
1) A. a. O S. 225.
2) Sammlung kl. Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folffe S 2 a8
5) Wulffen a. a. O. S. 35. * ’ 4 '
4) Imago, XVI, 1930, S. 245.
ve rsuch Claude Anets mit Opium berichten nach einer Streitigkeit mit
F>au de Warens. Das Verhalten der Mama bei diesem Auftritt will
Rousseau erst die Augen geöffnet haben über die enge Verbindung, die
zwischen den beiden bestand. Wir dürfen vermuten, daß es die Eifersucht
gegenüber dem jungen Rivalen war, die den Kammerdiener zum Selbstmord
trit b. 1 2 Ebenfalls ein Dreieckverhältnis, wenn auch anderer Konstellation,
li e g t der Tragödie zugrunde, die Alfred Döblin an Hand der Akten
Klar und objektiv unter dem Titel: „Die beiden Freundinnen und ihr
Giftmord“ 3 dargestellt hat. Die an ihren Vater fixierte, infantile und
frigide Tischlersfrau Elli Link vergiftet ihren Mann, der in Reaktion auf
ihre Frigidität zum brutalen Trinker geworden ist, nachdem sie sich vor
seiner Roheit in ein homosexuelles Verhältnis zu Margarete Bende geflüchtet
hat. Von dieser läßt sie sich zum Verbrechen aufstiften. Lassen sie mich
aus dem Drama nur ein charakteristisches Detail 'hervorheben: Es war
kein bloßes Wort, wenn Link seiner Frau in der wilden Verschlingung
sagte, er müsse ihren Kot haben, er müsse ihn essen, verschlucken. Das
kam in der Trunkenheit vor, aber auch ohne Alkohol. 3 An Stelle der
analen Gabe, nach der die Perversion des Trinkers verlangte reicht ihm
die Frau später „Gift für zweibeinige Ratten“. 4 Mit dichterischem Scharf¬
sinn hat John Knittel in seinem Roman „Therese Etienne“ 5 6 einen
Giftmord als Auswirkung der Ödipussituation geschildert. Trotzdem der
Sohn dabei nur Mitwisser der Tat ist, welche die von ihm geliebte Stief¬
mutter an ihrem Gatten begeht, ist sein Schuldgefühl so groß, daß er
sich als Täter dem Gerichte stellt.
Von der Rebellion des unbotmäßigen Sohnes gegen den Vater leitet
Jakob Böhme sogar die Entstehung des Giftes überhaupt ab. Er schreibt
in der Aurora: G
„Wie nun der Naturgeist so königlich gebildet war, daß sein Geist
in seiner Form und Bildung in ihm aufstieg und von Gott gar schön
und lieblich empfangen ward, da sollte er nun augenblicklich seinen
Gehorsam und Lauf anfangen und sollte in Gott wallen als ein lieber
Sohn in des Vaters Hause, und das tat er nicht.
Sondern als sein Licht in ihm geboren war in seinem Herzen, da erhob
1) J. J. Rousseaus Bekenntnisse. Herausgegeben von O. Fischer, München. Verl.
M. Mörike, 1912, S 158.
2) Verlag die Schmiede, Berlin 1924.
5) A. a. O., S. 48.
4) A. a. O., S. 58.
5) Orell Füßli, Verlag, Zürich.
6) Herausgegeben u. eingel. von Jos. Grabisch, Verlag R. Piper & Co., München,
x 9 l 2i S 55 .
Int. ZeiKchr. f. Psychoanalyse, XVII/i
7
98 A. Kielholz: Giftmord und Vergiftungswahn
er sich in seinem Leibe wider das Naturrecht und fing gleich eine höhere,
prächtigere Qualifizierung an als Gott selber.
Davon ist das erste Gift entstanden, worin wir arme
Menschen nun in dieser Welt zu kauen haben, und wodurch der bittere,
giftige Tod ins Fleisch gekommen ist.“
Wir könnten somit nunmehr unsere frühere Zusammenfassung dahin
modifizieren oder ergänzen:
Die Se- und Exkrete des Mutterleibes sind deshalb so gefährlich und
giftig, weil ihre Erwerbung und ihr Besitz einem Inzest gleichkommt,
der mit Kastration und Tod geahndet wird.
Der Zürcher Strafrechtslehrer Prof. Hafter hat sich kürzlich in einer
Kritik der ps. Bemühungen um die Kriminalistik recht mißbilligend
über die wilden Phantasien der PsA. ausgesprochen. 1 Wir zweifeln keinen
Augenblick daran, daß er auch unsere Schlußsätze zu diesen wilden
Phantasien rechnen würde. Das darf uns aber nicht hindern, auch weiter¬
hin mit solchen Hypothesen und Konstruktionen zu operieren, ohne die
nun einmal bei aller Anerkennung ihrer Vorläufigkeit und Fragwürdig¬
keit ein Fortschreiten der Erkenntnis kaum denkbar ist.
1) E. Hafter: PsA. und Strafrecht. Schweiz. Zeitschr. für Strafrecht, 44. J.,
1950, S. 1.
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
Vortrag in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft am 4. November 1930
Von
Jakob Hoffmann
Berlin
I) Zustandsbild und Probleme
Der Patient, der uns beschäftigen wird, ist ein neunundzwanzigjähriger
Architekt, der wegen Berufshemmung in die Behandlung kam. Er ist nicht
imstande, sein Studium zu vollenden, obgleich er bereits im 22. Semester
steht. Regulär studierte er eigentlich nur vier Semester und bestand das
Vorexamen nach Ablauf der üblichen Frist. Dann wurden seine Hemmun¬
gen so stark, daß sie ihn im Studium fast vollkommen lahmlegten und
ihn insbesondere daran hinderten, gewisse Übungen, die als Vorbedingung
für sein Schlußexamen erforderlich wären, mitzumachen. Besonders wichtig
wäre eine Anzahl von Entwürfen, die er in einem gemeinsamen Zeichen¬
saal anzufertigen hätte. Aber eine unüberwindliche Angst macht es ihm
unmöglich, diesen Saal zu betreten. Seit etwa zwei Jahren ist er überhaupt
nicht mehr dort gewesen, früher auch nur höchst selten, ohne jemals eine
Arbeit fertigstellen zu können. „Wenn ich in den Zeichensaal ginge“,
pflegte er immer wieder zu sagen, „so würden mich Aalle nwesenden,
Studenten und Assistenten, in feindseliger Weise beobachten. Man würde
sagen: ,Das ist ja ein uralter Sack, was will denn der hier?’ und ich
würde keine Erklärung geben können. Oder man würde mich fragen
,Wie lange studieren Sie schon, wie kommt denn das?’ und ich wüßte
nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich könnte nichts arbeiten und
meine Minderwertigkeit und Berufsunfähigkeit würde in der beschämend¬
sten Weise bloßgestellt werden. Alle würden sie mich verachten und für
einen ganz und gar Gescheiterten halten.“ Dabei ist der Patient ein
intelligenter, scharf denkender Kopf, anscheinend von recht guter Begabung
für sein Gebiet und im Besitz gründlicher Kenntnisse. Aber es ist voll¬
kommen zwecklos, auf die Absonderlichkeit seiner Befürchtungen und auf
7*
100
Jakob Hoffmann
die Irrealität seiner Unzulänglichkeitsgefühle hinzuweisen. Er nimmt solche
Äußerungen mit größtem Mißtrauen auf und empfindet sie als „pia fr aus *'.
Ebenso wie in seinem Studium, ist der Patient ganz allgemein vor den
Personen seiner Umgebung von einer übermäßigen Angst beherrscht. Diese
Angst bestimmt sein ganzes Verhalten so vollkommen, daß er gar nicht
imstande ist, sein Tun und Lassen auf Grund eigener Anschauungen zu
bewerten. Für ihn ist das Urteil der anderen das Gesetz, das seine Hand'
lungsweise und seine Selbsteinschätzung vorschreibt. Darauf aufmerksam
gemacht, erscheint es ihm ganz unfaßbar, wie man einen anderen Maßstab
haben, wie man sich selber Ziele und Ideale setzen könne. Er vernimmt
wohl eine innere Stimme, aber sie spricht zu ihm nur: „Man kann von
dir verlangen, daß du dies oder jenes tust oder nicht tust.“ Wie er
selbst versichert, würde er sich sofort ganz wohl fühlen, wenn seine Eltern
und Freunde keine Anforderungen mehr an ihn stellen könnten. Er fürchtet
sich gar nicht so sehr vor den Schrecken einer gescheiterten Existenz, seine
große Angst ist vielmehr: „Wie entsetzlich, wenn es herauskommt,
wie ich lebe!“ Darum meidet er sorgsam nicht nur den Zeichensaal, son¬
dern auch jede andere Örtlichkeit oder Situation, in der Lehrer oder
Kollegen ihn beobachten oder irgendwelche unliebsamen Fragen an ihn
richten könnten, auch wenn diese Möglichkeit noch so gering ist. So ist
ihm das Belegen von Vorlesungen, das Einholen irgendeiner Auskunft
u. dgl. eine qualvolle Aufgabe, der oft tagelang Angstausbrüche voraus¬
gehen. Begegnungen mit Bekannten geht er peinlichst aus dem Wege,
Auf der Straße geht er immer im Eilschritt, damit ihn keiner überholen
kann. Im Sommer geht er auf der Sonnenseite, im Winter auf der Schatten¬
seite. Auf Wegen, die mit Bäumen bepflanzt sind, hält er sich nahe an
dem Straßendamm. Kurz, er ist immer da zu finden, wo die Aussicht auf
eine Begegnung möglichst klein ist. Seine Angst kann aber noch groteskere
Formen annehmen. So geht er z. B. in weitem Bogen um die Auslage eines
Photographen herum, weil ihn dort ein Bild an einen Dozenten erinnert,
dem er vor Zeiten eine Übungsarbeit nicht abgeliefert hat. Weil ein
Student, von dem er ausgefragt zu werden fürchtet, „Kräher“ heißt, ist
ihm jede vorüberfliegende Krähe eine Peinlichkeit. Im Zeichensaal ist die
Gefahr, beobachtet und ausgefragt zu werden, am größten, darum hat er
auch dort die stärkste Angst. „Solange ich nicht in den Zeichensaal gehe,“
denkt er sich, „bin ich sicher.“
Ganz ähnlich benimmt sich der Patient im Sexualleben, das auf einer
primitiven Stufe steht. Er beschränkt sich auf häufige Onanie und dazu
seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr auf fast ebenso häufigen Verkehr
mit Prostituierten. Er möchte wohl gern ein Verhältnis mit einem „anstän-
en “ Mädchen haben, aber auch hier kaum aus innerer Sehnsucht
sondern weil es die anderen so machen und sich damit rühmen.
Er^möchte auch davon erzählen können, um als ein rechter Kerl zu gelten.
Auch hier leitet ihn gewissermaßen die Einstellung: „Man kann es von
dir verlangen, daß du ein ,besseres 4 Verhältnis hast.“ Natürlich ist der
Dirnenverkehr und ganz besonders die Onanie in seinen Augen etwas
Minderwertiges, aber doch nur, weil er auch darin den Wertungen seiner
Umwelt folgt. Seine Hauptsorge ist wieder, es könne herauskommen, und
bis vor kurzer Zeit hat es ihn ständig beunruhigt, daß man ihm die Onanie
ansähe. Seine gesamte sexuelle Betätigung betrachtet er also als etwas
Verbotenes, weil er sich der allgemeinen Meinung seiner Umwelt beugt.
Er hat sich nicht so weit mit dem Verbot identifiziert, das Verworfene zu
unterlassen. Er folgt vielmehr seinem Triebe, und seine Ängste und Schuld¬
gefühle gelten in der Hauptsache nur der Entdeckung und ihren Folgen.
Wie überall, verkörpert sich auch bei unserem Patienten die Umwelt
im letzten Grunde in seinen Eltern und vor allem im Vater. Manifest ist
das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ein positives, Der Vater sorgt sich
um ihn und unterstützt ihn materiell in jeder Weise, der Sohn wiederum
verehrt den Vater und hat vor seiner Tüchtigkeit große Hochachtung. Und
doch ist es seine Hauptsorge, der Vater könne erfahren, wie es um ihn
stehe. So gern er daher auch mit ihm Zusammensein möchte, so sehr
fürchtet er doch jede Begegnung, und die Ferienreise in die Heimat wird
ihm schon im voraus durch den Gedanken vergällt: „Der Alte wird wieder
bohren“, d. h. peinliche Fragen stellen. Als dem Patienten einmal die
Möglichkeit angedeutet wurde, seinem Vater reinen Wein einzuschenken,
war er wie erstarrt. „Wie der Analytiker bloß auf einen solchen Gedanken
kommen könne!“ Tatsächlich stellte es sich immer klarer heraus, daß
auch die Analyse für ihn hauptsächlich den Zweck hatte, seinem Vater
den Tatbestand möglichst lange zu verheimlichen; außerdem sollte sie als
Entschuldigung vor der Umwelt dienen.
Ich habe soweit nur das Wichtigste erwähnt. Aber es ist fast
erschütternd zu sehen, wie beinahe jede Lebensbetätigung in Mitleiden¬
schaft gezogen wird, wie das ganze Leben des Patienten ein ständiges Hin¬
schielen auf die andern ist, eine ständige Angst, den vermeintlichen Anfor¬
derungen seiner Umwelt nicht gerecht zu werden. Selbst wenn er sich
Vorwürfe macht, hat man den Eindruck, daß nur so etwas wie ein Zwang
vorliegt, schuldbewußte Grübeleien anzustellen. Er gibt auch offen zu, er
müsse sich Vorwürfe machen, aus Angst, daß man ihn sonst nicht für
einen anständigen Menschen halten würde. Die Umwelt verlange es
eben, daß man ein Gewissen habe.
102
Jakob Hoffmann
Die bisherige Schilderung zeigt uns einen schwer neurotischen Menschen.
Fast jede Lebensfreude ist ihm versagt, in seiner Berufsarbeit ist er stark
gehemmt. Die Versagungen und Hemmungen werden ihm nicht von seinen
Mitmenschen oder durch widrige materielle Verhältnisse aufgezwungen;
in dieser Hinsicht steht er eher günstig da. Er ist selbst die Quelle aller
seiner Nöte und Beschwerden. Einzelne Züge in seinem Verhalten sind ja
nichts Seltenes und finden sich oft genug bei durchschnittlich Gesunden.
Aber im Leben des Patienten nehmen die Ängste einen so breiten Raum
ein, sie haben sein Denken, Fühlen und Gebaren so vollkommen durch¬
setzt, daß die in solcher Weise aufgezehrte Persönlichkeit im ganzen ein
Bild sui generis darbietet, das nur schwer verständlich ist und uns eine
Reihe von Problemen aufgibt. Insbesondere drängen sich uns drei Haupt¬
fragen auf:
Einmal: Warum ist es bei unserem Patienten zur Bildung so ungewöhnlich
heftiger Ängste gekommen?
Sodann: Wie erklärt sich die eigenartige Einstellung des Patienten der
Außenwelt gegenüber? Warum ist er ängstlich bestrebt, sein Verhalten
den Anschauungen und Forderungen seiner Mitmenschen anzupassen und
auf eigene Urteile und Ziele fast völlig zu verzichten ?
Endlich: Wie ist der Patient dazu gekommen, den meisten sozialen
Situationen in so merkwürdiger Weise auszuweichen, so daß er sich immer
mehr von seiner Umwelt und den natürlichen Lebensäußerungen, wie wir
sie bei einem jungen Manne erwarten, isoliert?
Die Analyse soll uns helfen, diese Probleme aufzuhellen. Wie immer,
erwarten wir von ihr zunächst eine genetische Auskunft. Sie soll uns vor
allem zeigen, wie die seelische Struktur des Patienten durch sein indi¬
viduelles Erleben von frühester Kindheit an geformt wurde und wie sich
dadurch das Wechselspiel zwischen den Instanzen seiner zerklüfteten
Persönlichkeit und der Außenwelt in einer Weise gestalten konnte um
sein Schicksal in so abnorme Bahnen zu lenken.
II) Befunde der Analyse
Unser Patient stammt aus einem Städtchen des alten Österreichs. Er
war das einzige Kind, und dieser Umstand hat sicherlich viel zu seiner
unglücklichen Entwicklung beigetragen. In einer größeren Geschwisterschar
hätten die Einflüsse der Umgebung sich nie so einseitig auswirken können.
Schon seine Geburt vollzog sich unter widrigen Umständen. Es war eine
schwere Zangengeburt; man hatte daran gedacht, die Frucht zu töten, und
bei der Entbindung erlitt er starke Quetschungen, besonders im Gesicht. —
Seinen Vater, der eine gehobene Stellung in einem geschäftlichen Unter¬
nehmen einnimmt, schildert der Patient als einen Autodidakten von guter
Bildung und vielseitigen Kenntnissen, seiner Frau gegenüber ziemlich
nachgiebig, aber trotzdem das anerkannte Oberhaupt der Familie. Im
L e ben des Patienten spielte zunächst die Mutter die Hauptrolle. Sie ist
eine von den Frauen, die, ohne ein festes System zu befolgen, nicht
genug an ihren Kindern herumerziehen können, wozu sie bei ihrem
einzigen Kind reichlich Gelegenheit hatte. Für ihre Charakterisierung ist
bedeutsam, daß sie, wie sie selber erzählte, während ihrer ganzen Kindheit
unter der Bevorzugung eines älteren Bruders stark gelitten hatte. Dieses
Moment ist für unseren Patienten schicksalhaft geworden. Die Frau hat,
wie wir sehen werden, ihr Kind mit diesem Bruder identifiziert und
unbewußt eine verspätete Rache für ihre eigene frühere Zurücksetzung
genommen. Die Wiederholungstendenz läßt sie dabei sogar dieselben in
ihrer Kindheit gehörten Worte gebrauchen. „Wie komme ich zu einem so
häßlichen Kinde?“ hatte ihre Mutter von ihr gesagt. Das gleiche bekommt
der Sohn von ihr zu hören, ohne daß ihr die Wiederholung bewußt wird.
Im übrigen nimmt sie die Erziehungsaufgabe durchaus ernst. Bis ins
kleinste schreibt sie dem Kinde vor, was es tun und was es nicht tun
dürfe; eine freie Wahl wird ihm fast nie gelassen.
Im gegenwärtigen Verhalten des Patienten fällt neben seiner Ängstlich¬
keit seine übergroße Passivität und der scheinbare Mangel jeder Aggression
am meisten auf; ähnlich ist auch sein früheres Leben charakterisiert. Und
doch macht er weder in seinem Äußeren noch in seinem allgemeinen
Benehmen einen femininen Eindruck. Da ist es bedeutsam, daß wir aus
seinen ersten Jahren Erlebnisse haben, die als Zeugen für eine damals
noch ungebrochene Persönlichkeit gelten können. Sie stammen aus seinem
zweiten und dritten Lebensjahre, Es ist, als habe er bis zu dieser Zeit
immer heftig, wenn auch vergeblich, gegen einen äußeren Zwang an¬
gekämpft und versucht, seinen eigenen Willen geltend zu machen. „Das
paßt mir nicht I u habe er unter starkem Widerstande ausgerufen, als er zum
ersten Male Hosen anziehen soll. Weiterhin erinnert er sich direkt, wie
er sich häufig gegen kalte Abreibungen durch die Mutter heftig gesträubt
habe, so daß er von einem Dienstmädchen gehalten werden mußte. Die
Mutter erzählte ihm auch später, wie er in diesen Jahren überhaupt sehr
trotzig gewesen sei. Hier haben wir Reste seiner später so stark beein¬
trächtigten Aktivität. Durch welche harten Kämpfe gegen die Umwelt diese
schon sehr bald verkümmert wurde, konnte die Analyse bis jetzt nicht
feststellen; die Verdrängung hat diese peinlichsten Erinnerungen der
ersten Jahre mit dichter Amnesie verhüllt. Die Einschüchterungen und
*°4 Jakob Hoffmann
Kränkungen seiner phallischen Männlichkeit in der folgenden Ödipuszeit
konnte dagegen die Analyse — wie wir bald sehen werden — um so
schärfer erfassen. Zwei Deckerinnerungen scheinen jedenfalls auf die
frühkindliche Onanie und den ersten Entwöhnungskampf hinzu weisen.
In der einen sieht der Patient sich lange, vielleicht ängstlich, nach einem
großen Schornstein um. In der anderen wird er als etwa Dreijähriger von
seinem Kindermädchen in einem Sportwagen auf der Straße gefahren. Er
sucht ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er auf eine sich
öffnende weiße Bahnschranke zeigt und ausruft: „O Gott, da geht sie schon
wieder auf!“ Das Mädchen weist ihn zurecht: „,0 Gott 4 soll man nicht
sagen!“ Der Ausruf „O Gott“ bedeutete für ihn, daß sich etwas Schlimmes
ereignet. Er hatte ihn früher bei einem Brande ausrufen hören, als eine
Fabrik (Schornstein!) einstürzte. Der Schornstein und die sich aufrichtende
und wieder senkende Bahnschranke dürften das Kind an Erektion und
Onanieversuchung gemahnt haben, aber zugleich — wie der Ausruf „O Gott“
zeigt auch an ihre ängstliche Abwehr, möglicherweise als Erfolg früherer
Züchtigungen oder Drohungen. Wenn das zutrifft, so dürfte zur späteren
Einschränkung seiner phallischen Männlichkeit schon hier der Grund gelegt
worden sein. Sehr drastisch muß auch die Erziehung zur Reinlichkeit ge¬
wesen sein. Ein Traum, den er in die Analyse bringt, frischt eine frühe
Erinnerung auf, die dann durch die Mutter bestätigt wird. Sie zeigt ihn
als etwa Dreijährigen, der sein Bett verunreinigt hat, und dem von der
Mutter angedroht wird, mit dem schmutzigen Laken auf dem Marktplatz
bloßgestellt zu werden. Weinend habe er gebeten, man solle ihn lieber
schlagen. Man sieht bereits seine große Angst vor Bloßstellung; überdies
bereitet sich hier etwas vor, was später von großer Bedeutung werden sollte.
Es wird ihm gezeigt, daß man durch Zwang zu einer Triebbefriedigung ge¬
langen kann, und so bietet sich ihm die Möglichkeit zur Erotisierung der
Strafe, wie es in einem allerdings viel krasseren Falle Alexander
geschildert hat. 1
Die Strenge der Erziehung trifft das Kind um so härter, als es ein starkes
Bedürfnis nach Zärtlichkeit und liebevoller Anteilnahme hat. Als Drei- bis
Vierjähriger verschluckt er einen eisernen Haken, beachtet aber kaum die
Schmerzen, sondern ist froh, daß man herbeieilt und sich um ihn kümmert.
In die gleiche Richtung weisen seine damaligen Spiele. Tiere aus weichem
Stoff sind seine Lieblinge, zu denen er nicht zärtlich genug sein kann.
Noch als Zwölfjähriger geht er mit einem Teddybären ins Bett. Auch bei
dem erwähnten Bahnschrankenerlebnis erinnert er sich deutlich des
1) Alexander, Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit, S. 189.
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 105
Wunsches, man möge sich um ihn kümmern. Aber schon mit dieser Be-
ebenheit verknüpft er die Erinnerung, daß man seine Sehnsucht nach
Liebe mit einer Zurechtweisung beantwortet hat. Dies ist aufschlußreich
dafür, wie sich in seinem subjektiven Erleben die frühe Kindheit
darstellt 1 Er empfindet sie als eine Ketie von Enttäuschungen. Sein Wunsch
nach Zärtlichkeit wird nie befriedigt, sondern von der Umwelt, vor allem
der Mutter, schroff zurückgewiesen und das Kind zudem häufig verspottet
und auch körperlich gezüchtigt. Erinnern wir uns an die neurotische
Erziehungstendenz der Mutter, die an ihrem Sohne ihren Bruderkomplex
auslebt. Dabei verrät sich die Frau ganz offen. „Ich werde dir das Ver¬
zogenwerden schon austreiben“, fährt sie ihn an, wenn er beim Großvater
gewesen ist, dem einzigen Orte, wo er sich wirklich unbefangen fühlt.
Oft flüchtet er, nachdem ihn die Mutter geschlagen hat, in seine Spiel¬
ecke und weint. Dann zerrt sie ihn heraus und schreit ihn an, oder sie
lacht ihn aus und ruft das Dienstmädchen herbei, ihn mitauszulachen. Am
quallvollsten empfindet er es jedoch, daß das Verhalten der Mutter durch¬
aus widerspruchsvoll ist, und sie dem Knaben häufig Vorwürfe für etwas
macht, was sie selber angeordnet hat. So muß er, um nur ein Beispiel zu
nennen, sehr wider seinen Willen jeden Morgen ein Ei essen, um später
zu hören zu bekommen, er werde dadurch viel zu sehr verwöhnt und führe
ein Leben wie ein Baron. Solche Inkonsequenzen muß er fast täglich über
sich ergehen lassen und weiß bald gar nicht mehr, wie er sich benehmen
solle, um die Mutter zufriedenzustellen. — Alle diese Versagungen und Ein¬
schüchterungen konnten nur den Erfolg haben, daß der Knabe sich schon
damals teilweise von der Mutter ab wendet und sich mehr dem Vater zu¬
neigt, an den er aus dieser Zeit nur freundliche Erinnerungen bewahrt
hat. Während der Woche bekommt er ihn zwar kaum zu Gesicht, doch
darf er am Sonntag Morgen zu ihm ins Bett gehen und dort herumtoben.
Trotzdem sind auch seine Vorstellungen vom Vater durchaus nicht angst¬
frei. Die Mutter stellt es immer so dar, als ob auch der Vater mit ihm
unzufrieden sei und ihre Vorhaltungen und Bestrafungen durchaus billige.
So erschien dem Kind der Vater als die höhere strafende Instanz, die
eigentlich noch gefährlicher war als die Mutter, an deren häufige Zwangs¬
maßnahmen es sich gewöhnt hat.
Trotz aller Härten und Lieblosigkeiten, denen der Knabe in der frühen
Kindheit ausgesetzt ist, treten grobe manifeste Entwicklungsstörungen
1) Diese ganze Darstellung kann natürlich auf das objektive Verhalten der
Mutter kein Licht werfen. Das ist auch hier unwesentlich, weil wir es nur mit der
psychischen Realität zu tun haben. Auf objektiv ungewöhnliches Benehmen der
Mutter deutet allerdings ihre neurotische Einstellung hin.
Jakob Hoffmann
106
zunächst nicht auf. Er bleibt zwar ein verängstigtes Kind, aber in den
entscheidenden Jahren der eigentlichen Ödipuszeit — dem vierten bis
fünften Lebensjahr — finden wir doch sichere Hinweise, daß er die
phallische Stufe, wenn auch nur vorübergehend, erreicht hat. Mit seinen
Kameraden treibt er wiederholt Penis- und Urinierspie^e. Einmal geht er
danach zur Mutter, zeigt auf seinen Penis und versucht, mit ihr über
seinen „Herrn Ziller“, wie sie das Glied nannten, zu scherzen. Aber ge.
rade da begegnet ihm etwas, woran er sich auch heute noch als eine der
schmerzlichsten Erfahrungen seines Lebens erinnert. Ganz gegen ihre
Gewohnheit bestraft ihn die Mutter diesmal nicht selber, sondern liefert
ihn dem Vater aus, und nun muß es der Knabe erleben, daß dieser wirk¬
lich der strenge Mann ist, als den ihn die Mutter immer hingestellt hat.
Er wird zum ersten Male vom Vater selbst empfindlich gezüchtigt, und
dasselbe wiederholt sich, als dieser den Knaben auf der Siraße bei
Urinierspielen mit Freunden ertappt. Wir sehen so, daß in dieser kritischen
Zeit der Abgewöhnungskampf gegen die Onanie wieder mit besonderer
Härle geführt worden ist, wobei entscheidend ins Gewicht fällt, daß die
Einschüchterung diesmal vom Vater ausgeht. Es seien noch einige andere
Erlebnisse aus diesen Jahren genannt, die die allgemeine Verängstigung
des Knaben zeigen und offenbar auch traumatisch im Sinne von Kastra¬
tionsdrohungen gewirkt haben. Man erzählt ihm von der Lügenbrücke,
und das Kind erschrickt heftig über einen toten schwarzen Vogel, den es
zufällig neben einer Brücke im Graben liegen sieht. Noch nach Jahren
betet er, der schwarze Vogel solle ihm nicht im Traum erscheinen. Dies
vertieft das Verständnis für die zuvor erwähnte heutige Angst vor Krähen.
Der Weihnachtsmann schreckt ihn mit einem unheimlichen Rutenbündel
und seiner merkwürdigen Kapuze, die anscheinend auch phallische Be¬
deutung hat. Seither fürchtet sich das Kind noch lange vor allen Menschen,
die eine ähnliche Kopfbedeckung tragen. Mit einem Kameraden phantasiert
er von einer Nachbarsfrau, daß sie Kinder in die „Hölle“ zu ihrem Manne
schleppe, der dann mit einer Heugabel auf ihren Köpfen herumhacke. Die
Vorstellung, daß die andern auf ihm „herumhacken“, beherrscht ihn heute
noch und bricht zuweilen in Träumen durch, zumal seine Mutter oft eine
ähnliche Wendung gebrauchte. Endlich ist noch ein wichtiges reales
Kastrationserlebnis aus dieser Zeit zu berichten: Er geht mit der Mutter,
sieht den Vater von weitem und will auf ihn zulaufen. Dabei fällt er
aufs Steinpflaster und schlägt sich ein Loch in den Kopf, das vom Arzt
vernäht weiden muß. Als er vom Arzt weggeht, ereilt ihn das weitere
Mißgeschick, daß er sich den Pünger an der Tür klemmt, was er als
schlimmer als den eigentlichen Unfall empfindet. Anscheinend hat diese
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
107
Fehlhandlung die Bedeutung einer kastrativen Selbstbestrafung für verpönte
feindselige Absichten. Als eine Reaktion auf solche aggressiven Regungen
ind auch seine Ängste zu deuten, wenn die Eltern ausgehen und ihn
allem lassen. Er befürchtet dann, sie könnten durch ein Verkehrsunglück
tötet werden. Bezeichnenderweise hat er als Erwachsener wirklich an
Selbstkastration gedacht, um seiner sexuellen Triebhaftigkeit, die er für
übermäßig hält, Herr zu werden, und in Selbstmordphantasien, die
zuweilen auftauchen, legt er sich aut eine Schiene und läßt sich von
einem Eisenbahnzug den Kopf abtrennen. Auch diese Phantasien zeigen
aber wieder ein Doppelgesicht: Bestrafung und masochistische Trieb¬
befriedigung.
Unser Patient befindet sich so beim Ausgang des Ödipuskonfliktes in
einer eigenartigen seelischen Verfassung, wobei vor allem ein Moment
augenfällig ist: Beide Eltern erscheinen ihm als feindselige, mit Kastration
drohende Gewalten, was am klarsten in der obigen Phantasie über die
Nachbarsleute zum Ausdruck kommt: die Frau schleppt das Kind zum
Manne, der auf seinem Kopfe herumhackt. Offensichtlich stellt dies eine
S> nthese der beiden realen Begebenheiten dar, wie ihn die Mutter dem Vater
übergibt, der den Knaben, ganz gegen seine Erwartung, körperlich züchtigt,
und wie er später, als er zum Vater eilen will, sich ein Loch in den
Kopf schlägt. Unter dem Druck dieser und ähnlicher Erlebnisse wird die
Kastrationsargst außerordentlich verstärkt, und es setzt sich bei ihm die
Vorstellung fest, die ihn auch heute noch vollkommen beherrscht: „Die
gesamte Umwelt ist mir feindlich gesinnt“, oder, wie er es auch häufig
ausdrückt: „Man will mir übel.“ Entscheidend ist nun, wie der Patient
auf diese Eindrücke reagiert. Denkbar wäre es, daß er mit offener Rebellion
und starkem Trotz antwortet. Aber dieser Ausweg ist ihm durch seine
übermächtige Kastrationsangst versperrt. Um so mehr muß man sich fragen,
was aus seinen aggressiven Tendenzen geworden ist, wie er damals seine
sadistischen Triebregungen untergebracht hat. Diese mußten ja bei der
strengen lieblosen Erziehung besonders heftig aufbegehren. Tatsächlich
erinnert sich der Patient daß er starke Haßgefühle gehegt hat, besonders
der Mutter gegenüber, die er oft als Feindin betrachtete und die er um
nichts bitten konnte. Aber auch dem Vater grollte er wiederholt, so, wenn
dieser ihm auf gemeinsamen Spaziergängen mit barschen Worten das Reden
veibot. Wir haben auch gesehen, wie er in seinen Ängsten um die Eltern
seine eigenen Todeswünsche gegen diese verrät, und ähnlich haben wir
seine Überzeugung von der allgemeinen Feindseligkeit der Umwelt auch
teilweise als eine Projektion seiner eigenen Haßgefühle einzuschätzen.
Überhaupt hat die Kastrationsangst den Erfolg gehabt, daß der Patient seinen
108
Jakob Hoffmann
Sadismus gegen sich selber richtet und daß er immer mehr in eine
masochistische, passive Haltung hineingedrängt wird.
So konnte der Ausgang der Ödipusphase kaum zweifelhaft sein. Eine
irgendwie normale Erledigung im Sinne des Aufgebens der inzestuösen
Objekte, der Identifizierung und Sublimierung ist dem Knaben unmöglich
gewesen; ebensowenig kommt es zu einer Fixierung eines genital fun¬
dierten Charakters. Die außergewöhnliche Kastrationsangst bewirkt vielmehr,
daß er die genitale Entwicklungslinie größtenteils verläßt und auf die
anale sado-masochistische Stufe regrediert. Die Disposition zur Analerotik
hat die Mutter durch ihre rigorose Reinlichkeitserziehung gefördert. Zahl¬
reiche Erinnerungen des Knaben aus dem fünften und sechsten Lebens¬
jahre beschäftigen sich mit ausgesprochen analerotischen Neigungen. Davon
ist besonders eine bemerkenswert, in der auch wiederum sein Wunsch nach
Vergewaltigung, seine Tendenz, die Strafe zu erotisieren, zum Ausdruck
kommt. Er besucht eine Tante in der Großstadt, die ihn warnt, mit
fremden Leuten zu gehen, weil sie den Kindern die Augen ausstechen,
um sie zum Betteln tauglich zu machen. Der Onkel stellt dies dahin
richtig, daß sie mit den Kindern „Schweinereien“ treiben. Dem Knaben
aber ist der Gedanke, zu solchen Dingen gezwungen zu werden, durch¬
aus nicht unsympathisch, und die Begriffe „Schweinereien — unanständig
Kotspielen“ gehören für ihn schon damals zusammen.
Den Höhepunkt erreicht diese ganze Entwicklung in einer Phantasie,
die anscheinend um diese Zeit begonnen wurde. Der Knabe spann sie
immer weiter aus, und die Beschäftigung damit war viele Jahre lang für
ihn mit großer Lust verbunden Sie läßt abermals die Verschmelzung
von infantilen Wünschen und früheren realen Erlebnissen deutlich erkennen.
Die Hauptmomente darin sind: Der Knabe wird von Räubern entführt
und in einem Raum eingesperrt, wo man ihn zwingt, in dem dort
angehäuften Kote herumzuwühlen . Dabei hat er eine charakteristische
ärmliche Kleidung an: Gestrickte graue Wollstrümpfe, ebensolche Wollstutzen
an den Armen, eine Frauenhose, die später durch eine Manchesterhose aus
Wollsamt ersetzt wird. Statt der Jacke hat er einen Sack, an den Füßen
Holzpantoffeln . Als Bett dient ihm zuerst eine Holzpritsche , dann ein mit
Stroh gefüllter Sack . Die Analyse zeigte, daß „Sacktragen“ eine Strafe
bedeutete; die Mutter hatte es ihm angedroht, wenn er sich schmutzig
machte. Die Hose deutet auf ein „unanständiges“ Lied und die Strümpfe
auf den Vater, der im Wohnzimmer, wenn er kalte Füße hatte, seine
Wollstrümpfe wechselte. Auch das habe die Mutter als unanständig
bezeichnet. Diese Phantasie zeigt zunächst mit größter Deutlichkeit, wie
der Patient die früher nur vereinzelten Tendenzen inzwischen zum System
Lntwiddungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
109
, .Er erotisiert die Strafen, die ihm die Umwelt auferlegt.
ausgebilaex na 1. ^ . . . ,
den Strafandrohungen der Mutter schöpft er eine masochistische,
analerotische Lust. Gleichzeitig entlastet er sein Schuldgefühl, denn die
Triebbefriedigung schließt ja die Bestrafung ein, und außerdem wird er
dazu gezwungen, wobei die Räuber, von denen Strafe und Zwang aus-
hen die kontrollierenden Eltern vertreten. Die Phantasie zeigt ferner
von neuem seine vollkommene Passivität, läßt aber auch fetischistische
Tendenzen erkennen, die zum Teil heute noch fortbestehen. Schon als
Kind erregt bei ihm die Vorstellung von den Wollstrümpfen und dem
Strohsack ein starkes Lustgefühl mit nachfolgendem Harndrang. Zu Anfang
der Pubertätszeit bilden sie einen Bestandteil seiner Onaniephantasien,
und für den Erwachsenen sind Sirümpfe als Kleidungsstück an seinen
Liebesobjekten ein unwiderstehlicher Anreiz, wenn sie auch nie von so
ausschließlicher Bedeutung werden, daß man von einer eigentlichen Per¬
version sprechen kann. Sie verraten so auch homosexuelle Neigungen,
die ursprünglich dem Vater gegolten haben.
Mit dieser intensiven Phantasietätigkeit analmasochistischen Inhalts sind
die ersten Jahre der Latenzperiode erfüllt, so daß der Knabe zu keiner
zweckmäßigen Sublimierung seiner prägenitalen Triebe gelangen kann.
Zudem finden seine Neigungen in häufigen urethralen und analen Spielen
mit Kameraden auch reale Befriedigung, und als ein älterer Schüler,
den er als Autorität anerkennt, ihm befiehlt, den Anus zu zeigen, sieht
er es von neuem bestätigt, daß man aus bedingungslosem Gehorsam gegen
die Umwelt Lustgewinn ziehen kann. Schüchterne Sublimierungsversuche
werden wieder von der Mutter im Keime erstickt. Als sie eine Phantasie¬
zeichnung von ihm in einem Schulhefte entdeckt, tadelt sie ihn streng
wegen dieser „schmierigen Schweinereien“ und bestraft ihn mit Ohrfeigen.
Seine Handschrift ist schon früher in der Schule und zu Hause als
Schmieren gebrandmarkt worden. Nun wird auch das Zeichnen mit einem
Verbot belegt, wie zur Vorbereitung seiner späteren ZeichensaaTÄngste.
Inzwischen ist er in ein Gymnasium eingetreten, und die Folgen
der Einschüchterung und seiner Neigung zu phantastischen Träumereien
machen sich in erschwerender Weise bemerkbar. Der Zwang von seiten
der Mutter läßt auch in keiner Weise nach Zu allem übrigen überwacht
sie seine Schularbeiten, hört ihn ab und kritisiert seine Leistungen stark.
Kein Wunder, daß er scheu wird und sich von seinen Mitschülern
absondert, weil er sich ihnen gegenüber minderwertig fühlt. Die heutige
Tendenz zum sozialen Ausweichen macht sich schon damals deutlich
bemerkbar. Ebenfalls ist auch schon die Furcht vorhanden, man könnte
an ihn irgendwelche Fragen stellen und so seine Minderwertigkeit ent-
lto
Jakob Hofimann
decken, oder er selbst konnte diese durch eigene Fragen verraten
Einen tieferen Grund für seine Unzulänglichkeitsgefühle deckt eine
Erinnerung aus dieser Zeit auf: Die Mitschüler messen die Länge ihres
Penis mit dem Lineal, er wagt aber nicht mitzumachen, aus Angst, sein
Glied könne zu klein sein. In seiner damaligen gedrückten Lage bringt
ihm der öftere Ferienaufenthalt bei Freunden in einem kleinen Nachbarort B
eine Erleichterung Im Gegensatz zu seinen Eltern legen diese Leute ihren
Kindern kaum nennenswerte Schwierigkeiten in den Weg. Der Patrent ver¬
weilt noch heute mit Vorliebe bei diesen Erinnerungen, mit denen er bezeich¬
nenderweise den Einfall verknüpft: „In E. ist alles erlaubt.“ Erst nach
längerer analytischer Arbeit wurde ihm bewußt, wogegen sich dies als Spitze
gerichtet hat, und daß der Nachsatz lauten sollte: „Bei mir zu Hause
ist alles verboten.“ Es ist bezeichnend für ihn, daß er schon in jungen
Jahren die völlige Lahmlegung seines eigenen Willens als berechtigte
Maßregel seiner Umwelt anerkannt hat, daß sein heutiges Lebensaxiom:
„Man kann das von mir verlangen“, schon so früh fixiert gewesen ist.
Wenn er dagegen keinen Widerspruch erhebt, so verrät er nur abermals,
wie diese Unterwürfigkeit seinen passiv-masochistischen Tendenzen entgegen¬
gekommen ist.
Die Pubertätsperiode, so wichtig auch ihre Einflüsse gewesen sind, konnte
keine grundlegenden Veränderungen herbeiführen. Eigentlich ist hier nur
logisch fortgesetzt und besiegelt worden, was in der ersten Sexualperiode
der Ödipusphase vorbereitet worden war. Die einmal begonnene Entwicklung
konnte nicht mehr aufgehalten werden. In dieser Zeit beginnt die bewußte
Onanie, die von Anfang an mit manifesten homosexuellen Betätigungen
verknüpft gewesen ist. Der Patient ist dazu, wie kaum erwähnt zu werden
braucht, von seinen Mitschülern und Kameraden verführt worden, unter
denen ein schon seit dem siebenten Jahre vertrauier Freund E. eine große
Rolle spielt. In dem Freundschaftsverhältnis ist E. seit jeher der aktive
und tyrannische Partner gewesen; er ist stolz auf seinen gioßen Penis und
setzt den seines Freundes zu dessen großem Ärger und Scham mit verächt¬
lichen Ausdrücken herab. Es kommt zu häufigen homosexuellen Handlungen,
wobei unser Patient sich immer passiv verhält, auch immer unten liegt.
Meistens handelt es sich um mutuelle Onanie, verschiedene Male versucht
der Freund aber auch einen coitus in anurn. Der Patient gibt selbst zu,
daß es ihm angenehm gewesen ist, von E. zwangsweise masturbiert zu
werden, zumal wenn dieser die bewußten gestrickten Strümpfe anhatte. In
ähnlicher Weise ist er auch von einer Reihe anderer Mitschüler angegriffen
und teils zwangsweise masturbiert, teils direkt homosexuell vergewaltigt
worden.
J
— fcntwiddungsgesdiichte eines Falles von sozialer Angst 111
Wir können deutlich sehen, wie sich in solchen Situationen die Geschichte
frühen Kindheit gleichsam wiederholt, wenn auch modifiziert und
auf einem anderen Niveau. Damals gehen die Vergewaltigungen haupt-
ächlich von Frauen aus, heute vom gleichen Geschlecht. Damals bewirkt
das aggressive Vorgehen der Umwelt eine anale, masochistische Einstellung.
Diese finden wir in der Pubertät wieder; sie ist ja für die charakteristische
Gestaltung dieser Periode verantwortlich. Andererseits tragen wiederum die
Pubertätserlebnisse dazu bei, die angebahnte Einstellung zu verstärken und
eine weitere Brechung der Männlichkeit herbeizuführen. Dazu kommt noch,
daß er in stärkerem Maße als früher unter den Hänseleien von Mitschülern
zu leiden hat, so daß er sich bald als der Prügelknabe der Klasse vorkommt
und den größten Teil seiner Schulgenossen als Feinde betrachtet. Diese
Einstellung stammt ebenfalls aus der Kindheit, und wir sehen, daß er sie
restlos auch auf sein heutiges Leben und auf die Beziehungen zur Mehr¬
zahl seiner Mitmenschen übertragen hat. Weiterhin ist es besonders wichtig,
daß die Pubertätserlebnisse ganz dazu angetan sind, die seit seiner frühen
Kindheit immer wieder gemachte Erfahrung, daß Gehorsam gegen die
Außenwelt Lust bringen kann, im vollsten Maße zu bestätigen. Dadurch,
daß er sich den Vergewaltigungen seiner Kameraden fügt, erzielt er die
ersehnte Triebbefriedigung, und zwar nicht nur in der Phantasie, sondern ganz
real. Eine geheime Bedeutung seines Lebensgrundsatzes: „Man kann das von
mir verlangen“, wird so völlig klar. Er bringt damit seine unbewußte
libidinöse Sehnsucht nach Vergewaltigung zum Ausdruck Sein Wunsch,
die Befriedigung seiner Triebe, die der Angstvolle nicht aktiv anzustreben
wagt, möge ihm durch Zwang zuteil werden, kommt wiederum am deut¬
lichsten in einem längeren Tagtraum zum Ausdruck: Räuber emführen ihn
und mißbrauchen ihn zwangsweise, sie zu masturbieren . Sie Locken auch
Mädchen aus gutem Hause in ihre Burg, wo man sie erst freundlich emp¬
fängt und in ein Bad führt. Während sie sich aber dort befinden, nimmt
man ihnen die Kleider fort und eröffnet ihnen zynisch, daß sie sich ganz in
der Gewalt der Räuber befänden und sich ihnen zu fügen hätten . Die Mädchen
müssen sich dann belasten und verprügeln lassen , sich schließlich auch zum
Koitus her geben, während man ihn (den Patienten) zwingt , sich teils als
Zuschauer, teils aktiv zu beteiligen. —Dieser Tagtraum zeigt abermals, wie die
Pubertät die Gedanken und Wünsche der Nach-Ödipuszeit wieder aufnimmt,
denn wir haben es hier eigentlich nur mit einer Erneuerung der zuvor be¬
richteten Kindeiphantasien auf einem der Pubertätszeit angepaßten Niveau zu
tun. Die Phantasie offenbart ferner die passiv-masochistische Stufe des Trieb¬
lebens und deckt den Wunsch nach Triebbefriedigung ohne eigene Verant¬
wortlichkeit, der ihn zur Erotisierung der Strafe veranlaßt, aufs klarste auf.
Jakob Hoffmann
112
Die weiteren Lebensschicksale des Patienten sind bald erzählt. In der
Prima muß er seine Schulzeit für längere Zeit unterbrechen, weil er zur
Kriegsausbildung eingezogen wird. Dtr militärische Drill trägt dazu bei,
seine passive Einstellung zu verstärken. Er leidet zwar unter der harten
Disziplin, fühlt sich aber andererseits ganz wohl, denn hier ist ja das
Prinzip, daß man alles von ihm verlangen kann, restlos erfüllt. — Mit neun¬
zehn Jahren, nach dem Abitur, tritt nun die Frage der Berufswahl an ihn
heran. Der Wunsch der Mutter ist, er solle Lehrer werden. Hier greift
aber der Vater ein. der dem Sohn völlig freie Wahl gelassen wissen will.
Es ist vielleicht das erstemal in seinem Leben, und natürlich kann er
damit nicht viel anfangen. Schließlich entscheidet er sich für den Architekten¬
beruf, indem er sich dabei von alten Kinderneigungen und Phantasien
leiten läßt. Er hat schon immer davon geträumt, in seiner Heimatstadt
prächtige Bauten aufzuführen und sich damit Ruhm und die Bewunderung
seiner Landsleute zu erwerben. Man durchschaut leicht, daß die Heimat¬
stadt ein Mutterersatz ist. Was er immer so schmerzlich vermißt hat, Liebe
und Anerkennung, möchte er so erzwingen. — Was geschieht? Der Patient
verläßt zum erstenmal für längere Zeit die Heimat und siedelt nach einer
Universitätsstadt über, wo er nun endlich die Freiheit in vollen Zügen
hätte genießen können. Aber gerade das kann er nicht. Statt dessen erfaßt
ihn ein heftiges Heimweh. Er sehnt sich nach dem Elternhaus und nach
dessen ihm zur angenehmen Gewohnheit gewordenen Ketten. Zu den
Kommilitonen und seiner sonstigen Umgebung findet er kein richtiges
Verhältnis, Ebensowenig vermag er Beziehungen zum andern Geschlecht
anzuknüpfen. Einige wenige Versuche mit Mädchen seines Standes, wobei
die Frau stets die aktive, verführende Rolle spielt, verlaufen im Sande.
Mit einem Dienstmädchen komrm es einmal zu einem mißglückten Koitus.
Schon damals kann er seine sexuellen Bedürfnisse nur durch häufige
Onanie und Verkehr mit Prostituierten, bei denen er gut potent ist,
befriedigen. Er entspricht hierin dem Befund von F. B o e h m, 1 „wonach
homosexuelle Neigungen und Polygamie Zusammengehen, weil der homo¬
sexuelle Mann mit Hilfe einer polygamen Frau mit einem anderen Manne
verkehrt, letzten Endes mit Hilfe der Mutter mit dem Vater“. Zweimal
wechselt er noch den Ort seines Studiums, aber die Angst vor dem Zeichen¬
saal und anderen Gelegenheiten, bei denen er sich beobachtet glaubt, ist
schon fast von Anfang an, wenngleich in geringerem Maße, vorhanden
gewesen, bis die Entwicklung den verhängnisvollen Lauf nimmt, den wir
zuvor geschildert haben.
1) B o ehm, Beiträge zur Psychologie der Homosexualität. IZfPsA , VI, 1920, S. 3ig.
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
113
Verweilen wir noch etwas bei seiner Angst vor dem Zeichensaal, die
die stärkste Hemmung seines Berufslebens bildet. Wir verstehen jetzt, daß
Zeichnen für ihn zunächst keine harmlose Verrichtung ist. Zeichnen
ist Schmieren. Es gemahnt ihn zu stark an die alten unsublimieiten
Äußerungen seiner Analerotik. Es ist daher mit Verboten belegt, und die
Angst ist zum Teil die alte Kinderangst, die eine rücksichtslose Reinlich¬
keitserziehung bei ihm besonders stark ausgeprägt hatte. In dem früher
erwähnten Traum wird die Zeichensaalsituation auch geradezu mit seiner
Lage als kleines Kind verglichen, als er sein Bettchen beschmutzte. Der
Zufall muß es noch fügen, daß er ganz im Anfang seines Studiums vor
einer seiner Zeichnungen zwei ihm unbekannte Studenten sieht, die diese
als ungenau und schmierig kritisieren. Auch heute noch ist die Scheu vor
unsauberem Zeichnen mit eines der Motive, die ihn den Zeichensaal
meiden lassen. Der Patient behauptet, er verwische die Zeichnungen, weil
er zumeist feuchte Hände habe. Die feuchten Hände führt er selbst auf
seine häufige Onanie zurück, und damit kommen wir zu dem zweiten
Motiv der Zeichensaalangst. Zeichnen bedeutet ihm im Unbewußten nicht
nur Kotschmieren, sondern auch Onanieren. Die verknüpfende Idee ist für ihn,
daß beides verunreinigt: Kotschmieren ist eine Beschmutzung, Onanieren
eine Selbstbefleckung. Wenn also der Patient immer wieder klagt: „Im
Zeichensaal kommt meine Minderwertigkeit heraus“, so meint er eigentlich,
daß jene beiden verpönten Beschäftigungen herauskommen, und die Angst
gilt ihrer Bestrafung. Das bezeugen auch seine Einfälle und Träume, in
denen stets von neuem der Gedanke zur Darstellung gelangt: „Dort —
im Zeichensaal — beißen sie mich , dort fallen sie über mich her. u Nach
allem hat der Patient also nicht so unrecht, wenn er der Onanie eine
große Schuld an der Verkümmerung seines Lebens zuschreibt. Wenn er
aber seine Furcht in die Worte kleidet: „Die andern werden über mich
herfallen . so veriät er damit einen weiteren wichtigen Grund seiner
Scheu vor dem Zeichensaal, nämlich die Angst vor homosexueller Verge¬
waltigung, die er im tiefsten Grunde, wie wir so häufig gesehen haben,
doch gerade begehrt. Noch heute haben viele Träume bald seine Angst
vor homosexueller Befriedigung zum Inhalt, bald sein Verlangen danach.
Seine ambivalente Einstellung kommt auch in dem Wunsche zum Aus¬
druck, man solle ihn zwingen, nach dem Zeichensaal zu gehen Die
Phantasie, von Soldaten dahin abgeführt zu werden, hat. abgesehen von
der Absurdität, nichts Unsympathisches für ihn. „Dann sähen die andern
dort, daß er nicht freiwillig da wäre, und er trüge keine Verantwortung.“
Wir erkennen wieder das Schema der kindlichen Räuberphantasien. —
Schließlich sei noch ein sekundäres Motiv erwähnt, das eine große Rolle
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 8
Jakob Hoffmann
114
spielen dürfte. Durch das Meiden des Zeichensaales rächt er sich an seinen
Eltern, weil er damit ihre auf ihn gesetzten Hoffnungen scheitern läßt.
Er kann so mit dieser Trotzhandlung einem Teil seiner gegen die Eltern
gerichteten feindseligen Gefühle Genüge tun, zumal der Aggression gegen
seinen Vater, den er im Grunde immer mehr gefürchtet hat als die Mutter.
Die Befriedigung seines Rachebedürfnisses wird ihm freilich wieder nur
dadurch ermöglicht, daß sie eine Selbstbestrafung einschließt.
III) Folgerungen aus den Befunden
Kehren wir zu unserem Ausgangspunkte zurück und überblicken wir,
was die Analyse zur Aufklärung unseres Falles beitragen konnte. Wir haben
drei Hauptprobleme herausgestellt, von denen das erste sich mit der Frage
beschäftigt, warum unser Patient so zahlreichen und ungewöhnlich heftigen
Ängsten unterworfen ist. Hier müssen wir zuerst die konstitutionelle Ver¬
anlagung berücksichtigen, die wir aber, wie häufig, nur als unbekannte
Größe in Rechnung stellen können. Vielleicht sind in der Erbanlage pri¬
märe Momente vorhanden gewesen, die zu einer besonders ängstlichen
Einstellung disponierten, und vielleicht mögen die erschwerenden Umstände
bei der Geburt zu einer solchen Disposition beigetragen und etwas wie
einen „emotionellen Infantilismus“ verursacht haben, von dem Ferenczi
spricht. 1 Wir wissen es nicht. Eine eigentliche Aufklärung können wir
nur aus den Lebensschicksalen des Patienten gewinnen. Auch hier finden
wir keine schweren traumatischen Erlebnisse. Aber bei dem diffusen
Charakter der Neurose würden wir auch eher eine ähnlich diffuse Ätiologie
erwarten, und dafür ist immerhin erhebliches Material vorhanden. Wir
haben die besonders strenge und lieblose Erziehung verfolgen können, die
fortgesetzten Einschüchterungen und auch körperlichen Züchtigungen. Von
allerfrühester Kindheit an hat der Knabe immer wieder die Erfahrung
machen müssen, daß jeder Versuch eigenen triebhaften Wollens sich an
einer ehernen Mauer bricht und unnachsichtig bestraft wird. Die ständige
Akkumulierung solcher Erfahrungen konnte nicht umhin, eine große
Ängstlichkeit zu verursachen. Man mag hier fragen: Muß das die Folge
sein? Ist es nicht denkbar, daß der stete Druck Gegendruck erzeugt und
ein besonders gestählter Charakter geschaffen wird? Sicherlich ließen sich
viele Beispiele bringen, wo dies scheinbar der Fall gewesen ist. Jedoch
wird in solchen Fällen der äußere Druck erst in einer späteren Lebens-
1) Ferenczi, Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb. lZfPsA, XV, 1929»
S. 149 ff.
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
H5
eriode begonnen haben, während bei unserem Patienten alles darauf hin¬
deutet daß der Zwang, man möchte sagen, schon vom Tage der Geburt
an eingesetzt hat. Das kleine Kind ist aber viel zu schwach und hilflos,
um sich zu wehren. Es stehen ihm fast keine Mittel zum Kampfe zur
Verfügung, und es ist darum auch nur wenig auf Widerstand eingestellt.
Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich der Umgebung anzupassen,
da es sie sich doch nicht gefügig machen kann. In unserem Falle, wo
die Umwelt von ihrer Überlegenheit von Anfang an rücksichtslosen
Gebrauch gemacht hat, hat sich daher nur ein schwaches Ich entwickeln
können, das jeder Situation, die irgendwie gefährlich werden könnte, mit
hoher Angstbereitschaft begegnet. Dürfen wir so annehmen, daß die große
Ängstlichkeit des Patienten eine Folge der frühkindlichen Behandlung
gewesen ist, so haben wir andererseits gesehen, daß die Ängste der Gegen¬
wart zum größten Teil nur die Ablösung und folgerichtige Entwicklung
seiner Kinderängste sind.
Wie ist nun die eigentümliche Einstellung des Patienten der Außenwelt
gegenüber zu erklären? Wie ist es gekommen, daß er für sein Verhalten
das Urteil und die Vorschriften seiner Umgebung zur Richtschnur nimmt,
daß er eigene Maßstäbe nicht kennt? Auch hierfür werden die Erlebnisse
der ersten Jahre verantwortlich zu machen sein. Bei der unnachsichtigen
Behandlung des Patienten durch seine Mutter ist das Ungewöhnliche nicht
so sehr die große Härte, als das Widerspruchsvolle und Inkon¬
sequente im Verhalten der Frau, das zum großen Teil in ihrer neu¬
rotischen Einstellung seine Erklärung findet. Wir möchte gerade auf dieses
Moment besonderen Nachdruck legen und glauben, daß es in hohem Maße
die pathologische Entwicklung beeinflußt hat, weil es in folgenschwerer
Weise auf die Charakterentwicklung einwirken mußte. Für diese ist ja die
Ödipusphase ausschlaggebend; denn die Art und Weise, wie man deren
Konflikte erledigt, macht sich bei der Gestaltung des Über-Ichs entscheidend
geltend. Bekanntlich ist ein wichtiges Motiv zur Bildung eines Über-Ichs
die Notwendigkeit, die Ödipussituation zu bewältigen. Das Ich, das um
diese Zeit noch zu schwach ist, um mit der Realität fertig zu werden,
stärkt sich durch die Schaffung einer H-ilfsinstanz, indem es das Haupt¬
hindernis für seine Ödipuswünsche, in der Regel die Eltern, als Über-Ich
in sich aufrichtet. Daraus erwachsen dem Ich zunächst große Vorteile. Es
hat jetzt eine innere Aufsicht geschaffen, die es unausgesetzt beobachtet
und im Sinne der Anforderungen der Außenwelt zu leiten versucht. Sofern
sich das Ich der Stimme seines Über-Ichs unterwirft, wird so Konflikten
mit der Außenwelt vorgebeugt und die Auseinandersetzung mit der Realität
bedeutend erleichtert. „Ihr braucht mich nicht mehr zu strafen“, kann
8*
L
Jakob Hoffmann
116
das Kind sagen, „ich tue es schon von selber.“ 1 Überlegen wir, wie sich
diese Vorgänge bei unserem Patienten abgespielt haben mögen. Wir haben
gezeigt, eine wie heftige Kastrationsangst sich bei ihm unter dem Druck
der Erziehung entwickelt, daß er beide Eltern als Kastratoren fürchtet
und schon früh von der Vorstellung beherrscht wird, die ganze Umwelt
sei ihm feindlich gesinnt. „Aber nicht nur feindlich ist die Umwelt“,
muß der Knabe denken, „es gibt auch kaum ein Mittel, das Übelwollen
von mir abzuwenden, denn wie ich mich auch verhalte, immer werde ich
bestraft. Auch wenn ich das befolge, was die Mutter selbst angeordnet hat,
nie bin ich sicher, daß mir nicht dasselbe später als Unrecht vorgeworfen
wird“. Der Patient verweilt in seinen Einfällen sehr häufig bei diesem
Gedanken und betont, wie gerade die neurotische Inkonsequenz der Mutter
ihn gepeinigt habe und ihm so vollkommen unfaßbar erschienen ist. Wie
vermag der Knabe dieser Situation zu begegnen ? Trotz oder offene Empö¬
rung hat, wie wir gesehen haben, bei der Stärke der Kastrationsangst
nicht in Frage kommen können. Für ihn bleibt unter den geschilderten
Umständen nur ein Ausweg, um wenigstens einigermaßen vor Verfol¬
gungen geschützt zu sein. Er muß auf jede eigene Willensäußerung und
Selbständigkeit verzichten und mit peinlicher Sorge darauf bedacht sein,
sich in jedem einzelnen Augenblick nur so zu verhalten, wie es seine
Umgebung gerade von ihm verlangt. Dies hat sich der Patient, wie ihm
heute selbst bewußt wird, schon sehr früh auch wirklich zur Lebensregel
gemacht und an ihr seither ängstlich festgehalten. Sie ist der Schlüssel
zu seinem Lebenslauf. Sie hat ihm auch eine gewisse Identifizierung im
Über-Ich mit der Mutter ermöglicht, deren ständige Mahnungen: „Tch
habe dir doch schon immer gesagt 1 und „Ich kann von dir verlangen“
auf diese Weise verinnerlicht worden sind. Zur Bildung eines Über-Ichs
mit eigenen Ichidealen oder irgendwie eindeutiger Zielrichtung hat es
nicht kommen können. Dadurch wäre der Konflikt mit der Außenwelt ver¬
schärft statt gemildert worden. Zudem ist dem Knaben eine entsprechende
Identifizierungsmöglichkeit versperrt gewesen, denn die ganze Entwicklung
drängte hauptsächlich nach Identifizierung mit der widerspruchsvollen
Mutter, und dagegen hat die natürlich auch versuchte und zum Teil voll¬
zogene Vateridentifizierung nicht aufkommen können. Unter diesen Um¬
ständen wird die Forderung: „Tue und lasse, was man dir jeweils
befiehlt das Postulat seines Über-Ichs und nimmt dann den uns bekannten
Wortlaut an: „Man kann von dir verlangen, daß du dieses oder jenes
tust oder nicht tust.“
1) Vergl. Radö, Das Problem der Melancholie. iZfPsA , XIII, 1927, S. 451.
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 117
Freilich hätte die äußere Notwendigkeit allein nicht ausgereicht, um
eine derartige Haltung auf die Dauer zu fixieren, wenn der Patient nicht
die Möglichkeit gefunden hätte, mit dieser Einstellung gleichzeitig seinem
Triebleben Genüge zu tun, wenn sie ihm nicht immer wieder Erfüllungen
seiner masochistischen Neigungen ermöglicht hätte. Man muß dies aber
auch umgekehrt formulieren. Durch die schwierige äußere Konstellation
wird der Patient dazu gedrängt, sich eine den Verhältnissen adäquate
Trieb befriedigung auszusuchen. Es bleibt ihm zu diesem Zweck gar nichts
anderes übrig als die Erotisiemng der Strafe und damit die Sexualisierung
der ganzen Über-Ich-Funktion. „Ich muß der Umwelt gehorchen“, sagt
sich der Patient, „ich kann ihren Strafen nicht entgehen. Nun gut, dann
muß dies auch die Art meiner Triebbefriedigung werden.“
Sein Masochismus braucht also nicht als primär vorausgesetzt zu werden.
Vielmehr finden wir, wie so oft, auch hier, daß zunächst äußere Umstände
eine besondere Haltung erzwingen und dadurch gewissen Trieben des
Menschen Vorschub leisten, daß diese aber dann die Herrschaft an sich
reißen und die weitere Entwicklung in ihre Bahnen lenken. Läge hier
wirklich ein Fall von ursprünglich passiv-masochistischer Veranlagung vor.
so wären die immer wieder auftretenden Ängste des Patienten schwer
verständlich. Diese ergeben sich im tiefsten Grunde gerade aus dem Kon¬
flikt zwischen seiner Männlichkeit und seinen femininen Tendenzen. Es
sind die typischen Ängste vor der Kastration, die ihm droht, ob er nun
seinen maskulinen oder seinen femininen Strebungen nachgeben will. Ein
ursprünglich vorzugsweise feminin eingestellter Mensch hätte sich trotz
dieser Gefahr irgendwie mit der Realität abgefunden und wäre wahrschein¬
lich manifest passiv-homosexuell geworden. Das ist unser Patient aber
nicht, trotz aller unbewußten homosexuellen Neigungen. Er hat sich sogar
ein Stückchen, wenn auch stark verkümmerter, männlicher Genitalität ge¬
rettet, vielleicht weil er, worauf manches hindeutet, die Frühonanie nie¬
mals ganz aufgegeben hat. Auf den meisten andern Gebieten, besonders
auf dem sozialen, hat er freilich nachgegeben und sich* fast völlig auf eine
passive Rolle zurückgezogen. — Wir haben es hier auch wohl kaum, trotz
mancher Ähnlichkeiten, mit einem moralischen Masochisten zu tun, denn
dieser sucht das Leiden auf, während der Patient sich davon fernhält. Ein
moralischer Masochist würde z. B. wahrscheinlich in den Zeichensaal hinein¬
gehen, dort große psychische Qualen erdulden und diese nach seiner Art
genießen. Der moralische Masochist, sagt Freud, „hält immer seine Wange
hin, wo er Aussicht hat. einen Schlag zu bekommen .“ 1 Man denke etwa
1) Freud, Das ökonomische Problem des Masochismus, Ges. Sehr., Bd. V, S. 381.
L
SSBBn
118 Jakob Hoffmann
an Dostojewskijsche Charaktere. Der Patient tut etwas Derartiges nie. Solche
Situationen meidet er ängstlich.
Von einem werienden Standpunkt aus könnte man versucht sein, einen
Menschen wie unseren Patienten, der sein Verhalten durchgängig nach den
Anforderungen der Umwelt orientieren will, als übersozial einzuschätzen,
sieht aber bald, daß wir es hier mit einer Karikatur davon zu tun haben.
Unser Patient tut ja praktisch überhaupt nichts, sondern sein ganzes Ge¬
baren zielt darauf ab, sich von der Außenwelt abzuschließen und jeder
Konkurrenz und Leistung zu entziehen. Damit sind wir bei unserer dritten
Fra^e angelangt. Warum weicht der Patient der Umwelt aus? Warum
leistet er ihr nicht vielmehr wirklich in jedem einzelnen Falle Gehorsam?
Er würde damit restlos dem Geheiß seines Über-Ichs folgen und relativ
angstfrei bleiben. Nun, er kann dies nicht, und zwar aus verschiedenen
Gründen. Er kann nicht den Zeichensaal betreten, zum großen Teil aus
Triebabwehr. Der Konkurrenzkampf mit Männern, der zum normalen Berufs¬
leben nötig ist, sowie die berufliche Tätigkeit selbst ist bei ihm, wie wir
gesehen haben, so sexualisiert, daß erabwehren muß. Andererseits kann er
nicht von der Onanie und dem Prostituiertenverkehr lassen, weil sich seine
Sexualansprüche nicht vollkommen unterdrücken lassen und sich oft genug
durchsetzen. Im Gegensatz zum Ich ist das Es des Patienten nicht schwäch¬
lich. Seine sexuellen Bedürfnisse erscheinen ihm selber sogar als übermäßig.
Er klagt darüber in der Analyse fast täglich und spricht nie anders als von
seinen sexuellen „Exzessen“. Tatsächlich ist es nichts Seltenes, daß er an
einem Tage zwei Prostituierte aufsucht und außerdem noch onaniert. Länger
als drei Tage kann er überhaupt nicht enthaltsam sein. Darin braucht man
freilich dem Urteil des Patienten nicht zu folgen. Nicht wegen überstarker
Sexualität kommt es zu den häufigen sexuellen Betätigungen, sondern weil
er die ihm adäquate Form nicht gefunden hat und darum stets unbefriedigt
bleibt. Er leidet, wie es Reich formuliert hat, an Herabsetzung der orga¬
stischen Potenz. 1 Nicht so manifest sind seine sadistischen Strebungen, bei
denen die Kastrationsangst eine besonders intensive Verdrängungsarbeit
geleistet hat. Aber wir haben zeigen können, mit welcher Stärke sich sein
Sadismus indirekt in seiner Haltung sowohl seinen Eltern wie der sonstigen
Umgebung gegenüber Geltung verschafft. In den letzten Monaten haben
diese Strebungen auch häufig direkt durchzubrechen versucht. Er verspürt
dann den Drang, mit allen Menschen, mit denen er in Berührung kommt,
Händel anzufangen. Bei dieser Triebanlage hat es nicht ausbleiben können,
daß das Leben unseres Patienten von beständigen Konflikten zwischen
1) Reich, Die Funktion des Orgasmus, S. 51.
m Ent Wicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst_119
leinen Es- Forderungen und seinem Streben, den Wünschen der Umwelt
erecht zu werden, erfüllt gewesen ist. Das Es erzwingt allen Verboten
fum Trotz häufig die Möglichkeit, sich auszuleben. Das schwache Ich aber,
das von dauernder Kastrationsangst geschreckt ist, kann den Knoten nicht
zerhauen, sondern weicht dem Kampfe aus und schützt sich vor der
gefürchteten Rache der Umwelt, indem es jeder Begegnung mit ihr sorg¬
fältig aus dem Wege geht. Demnach wird auch das Verhalten des Aus-
wei chens und Meide ns des Patienten aus der Ökonomie seiner
seelischen Struktur verständlich, aus dem Kräftespiel zwischen einer starken
Außenwelt, einem schwachen Ich, einem relativ starken Es und einem
eigenartigen Über-Ich.
Auf die Entwicklung des Patienten hat anscheinend noch ein Moment
erschwerend eingewirkt, auf das schon anfangs hingewiesen wurde, die
Tatsache, daß er das einzige Kind gewesen ist. Ist dieser Umstand schon
an und für sich bedeutungsvoll, so mußte er in unserem Falle zusammen
mit der übrigen außergewöhnlichen Konstellation tiefgreifende Folgen
haben. Wir müssen zunächst daran denken, daß der äußere Druck, der
ror allem von der Mutter ausgegangen ist, besonders schwer lasten mußte,
da er als Ziel immer wieder nur unseren Patienten gehabt hat und sich
nicht auf mehrere Geschwister verteilen konnte. Dem gleichen Umstand
ist es auch nicht wenig zuzuschreiben, daß dieser Druck so lange
angedauert hat, zum Teil heute noch fortbesteht, und daß die damit
verbundene Einschüchterung einen so hohen Grad erreicht hat.
Weiterhin hat diese Sonderstellung die soziale Einstellung des Patienten
sicherlich wesentlich beeinflußt. Die Vorstufe für das soziale Zusammen¬
leben ist ja, wie Freud gezeigt hat, 1 die Kinderstube, und es ist
einleuchtend, daß bei einem einzigen Kinde ganz andere, und zwar
im allgemeinen schwierigere Bedingungen für seine spätere soziale Ent¬
wicklung gegeben sind als bei einer Anzahl von Geschwistern. Diese
Schwierigkeiten werden unter günstigen Verhältnissen oft ausgeglichen,
hier aber mußten sie, wiederum als Folge der frühzeitigen Einschüchterung,
besonders groß werden. In seinem Bestreben, sich der Außenwelt anzu¬
passen, muß unser Patient in früher Kindheit Verhaltungsweisen erwerben,
wie sie seiner schwierigen Situation als einzigem Kinde, dessen Bewegungs¬
freiheit ungemein beeinträchtigt wird, angemessen sind. Diese Mechanismen
kann er dann nicht umhin im späteren sozialen Leben zwangsläufig zu
wiederholen, und es ist dann nicht verwunderlich, wenn sein Verhalten
dazu führt, ihn in dieselbe Situation wieder hineinzutreiben, aus der diese
1) Freud, Massenpsychologie und Ichanalyse, Ges. Sehr. Bd. VI, S. 5 20 / 3 21,
Jakob Hoffmann
120
Mechanismen entsprungen sind, nämlich in die Situation des Einzelnen
und Isolierten der von den anderen verfolgt wird. Das macht es wieder
von einem neuen Gesichtspunkte aus verständlich, warum er seine Mit¬
schüler und später seine Kommilitonen als Feinde betrachiet. Offenbar
ist dafür eine, wenn auch geringe, reale Berechtigung vorhanden, denn
er muß ja selber zu dieser Feindseligkeit beitragen, weil ihm der Weg
vorgezeichnet ist. Dazu kommt aber noch, daß das einzige Kind ohnedies
eine solche Tendenz ins soziale Leben leicht mitbringen wird, weil es nur
wenig Gelegenheit hat, vorher ein positives Gemeinschaftsgefühl zu erwerben.
Dieses bildet sich nach Freud (a. a. O.) „zuerst in der mehrzähligen
Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, und zwar als
Reaktion auf den anfänglichen Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere
aufnimmt“. Ein einziges Kind wird zu einer positiven sozialen Bindung
häufig erst später und schwerer gelangen können, wird vielmehr dazu
neigen, wenigstens anfänglich im Genossen derselben Gemeinschaft den
verhaßten Rivalen zu erblicken, wie dies auch bei unserem Patienten
in auffälliger Weise der Fall ist.
Im allgemeinen ist bemerkenswert, daß es dem Patienten gelungen ist,
einen großen Teil seiner Ängste ähnlich wie bei einer Phobie auf eine
äußere Situation zu verschieben, deren Vermeidung ihm eine erhebliche
Angstersparnis sichert. Vielleicht möchte man diesen Fall klinisch unter
die Phobie einreihen, aber dazu steht die Zeichensaalangst doch nicht
genug im Mittelpunkt der Krankheit. Der Patient vermeidet ja überhaupt
jede Situation, wo er sich besonders beobachtet glaubt, und wo man
an ihn Fragen stellen könnte. In seiner Tendenz, auszuweichen und
sich dadurch immer mehr zu isolieren, hat er Ähnlichkeit mit vielen
Zwangsneurotikern, wie überhaupt sein Charakter eine lange Reihe zwangs¬
neurotischer Züge aufweist, so z B : Grübelsucht; pedantische Umständlich¬
keit und Weitschweifigkeit in seinen Einfällen; tägliche zwangsartige
körperliche Übungen, mit denen er Phantasien magischen Inhalts verbindet,
und ähnliches mehr. Sehr stark wird man an paranoides Verhalten erinnert,
worauf noch zurückzukommen sein wird. Streng genommen paßt der
Fall in keine der üblichen Gruppierungen. Phänomenologisch ist er am
meisten durch die übermäßige Angst vor der Außenwelt charakterisiert,
durch das, was Freud schon in „Zur Einführung des Narzißmus “ 1 und
zuletzt besonders in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur “ 2 als
soziale Angst bezeichnet hat, die man am reinsten beim kleinen
1) Freud, Ges. Sehr., Bd. VI, S. 186.
2) Int. PsA. Verlag, 1929, S. 102.
Entwiddungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
121
Kinde beobachten kann. Für das Kind ist anfänglich dasjenige „das Böse“,
wofür es Liebesverlust und Bestrafung erwarten muß. Diese Gefahr droht
ihm von der übermächtigen Außenwelt, wird aber erst wirklich, wenn
die böse Handlung oder die Absicht von der Autorität entdeckt ist. Solange
dies noch nicht der Fall ist, besteht Angst vor der Entdeckung und den
daraus entstehenden Folgen, was als Schuldgefühl empfunden wird. Wir
finden die Angst vor der äußeren Auiorität und der Entdeckung mehr
oder weniger bei jedem Menschen. Im Seelenleben unseres Patienten spielt
sie aber eine überragende Rolle, und darum möchte ich seine Neurose
als einen Fall von sozialer Angst kennzeichnen.
IV) Theoretische Bemerkungen
Die soziale Angst hängt also irgendwie mit der Über-Ich-Bildung
zusammen, und man würde zunächst an eine Entwicklungsstörung denken.
Diese könnte dadurch erfolgt sein, daß der Kranke entweder auf einer
Vorstufe stehengeblieben ist oder daß eine Rückentwicklung stattgefunden
hat. In beiden Fällen wäre kein eigentliches Über-Ich vorhanden. Es
macht nun keineswegs den Eindruck, als ob etwas Derartiges bei unserem
Patienten vorläge, vielmehr hat er, wie oben ausgeführt, durchaus ein
Über-Ich gebildet, und zwar ein sehr strenges. Freilich ist es kein
harmonisches Über-Ich, das auf Grund einer völligen Identifizierung mit
gewissen positiven und negativen Forderungen zustande gekommen wäre.
Menschen mit einer solchen wirklich vollzogenen Identifizierung — mit
einem, wie es Freud nennt, unpersönlichen Über-Ich — sind in ihrem
Verhalten autonom. Ihr Tun und Lassen wird von ihrem eigenen
Gesetz diktiert, wenn auch natürlich genetisch diese Gesetze aus der
Umwelt stammen. Einen großen Gegensatz dazu bilden Menschen, für die
zwar die Erfüllung von Anforderungen auch imperativ ist, die sich aber
nicht damit identifiziert haben, sondern es nur aus Zwang tun, aus Furcht
vor Strafe oder Liebesverlust. In beiden Fällen akzeptiert das Ich ein Gesetz,
und es gibt eine innere Stimme, so daß man in beiden Fällen von der
Existenz eines Über-Ichs sprechen kann Aber im ersten Falle spricht die
innere Stimme: „Verhalte dich immer so, wie d u es für richtig hältst, und
zwar, weil d u es so und nicht anders für richtig hältst.“ Dagegen heißt es im
zweiten Falle: „Du mußt dich jeweils ganz so verhalten, wie es die U m-
weit von dir verlangt, und zwar nur, weil sie es verlangt.“ Ist im ersten
Falle das Über-Ich autonom, so kann man im zweiten von einem
Jakob Hoffmann
122
heteronomen Über-Ich sprechen. Beide Typen kommen mit ihren
Trieben in Konflikt und verhalten sich dann nicht überichgerecht; aber
die Reaktionen sehen verschieden aus. Beim autonomen Über-Ich stellt
sich ein heftiges, eigentlich nie zu beschwichtigendes Schuldgefühl ein,
es sei denn durch schwere Bußen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Ver¬
schuldung der Umwelt bekannt wird oder nicht. Verfällt der Konflikt der
Verdrängung, so entsteht ein unbewußtes Strafbedürfnis. Anders beim
heteronomen Über-Ich. Auch hier wird sich ein Schuldgefühl einstellen,
weil man sich in strafbarer Weise verhalten hat. Da sich aber das Ich
mit der eigentlichen Forderung nicht identifiziert hat, wird das Schuld¬
gefühl von sekundärer Natur sein. Primär aber wird die Angst vor der
Entdeckung und der dann von der Umwelt zu gewärtigenden Bestrafung
werden.
Unser Patient gehört im wesentlichen zum zweiten Typ, und da¬
rum kann ihm auch sein Ausweichen und Meiden sozialer Situationen
einen Vorteil bringen. Wie bei einer Phobie, insbesondere bei einer kind¬
lichen Tierphobie vermag er durch einfache Ausschaltung aus der Wahr¬
nehmung den Gefahren zu entgehen, weil er diese in die Außenwelt ver¬
legen kann, ein Weg, der bei einem autonomen Über-Ich nicht offen steht.
Zum Teil ist eben das heteronome Über-Ich doch infantil geblieben und
wird wie bei unserem Patienten infantile Haltungen fixieren. Es ähnelt
in gewisser Weise dem unfertigen Über-Ich des Kindes, von dem
Anna Freud spricht. 1 Auch dieses ist in hohem Maße noch von der
Außenwelt abhängig und verändert sich, wenn die Personen der Umwelt
sich ändern. — Noch ein dritter Typ läßt sich denken, bei dem überhaupt
kein Über-Ich vorhanden wäre. In einem solchen Falle würde sich das
Individuum ganz triebhaft benehmen, etwa wie ein Säugling, und sich nur
durch aktuelle äußere Gewalt in Schranken halten lassen. Von irgend¬
welchem Schuldgefühl könnte hier noch keine Rede sein. In allen drei
Fällen handelt es sich um extreme Typen, wie sie in der Wirklichkeit
nicht Vorkommen und auch kaum lebensfähig wären. Was wir finden,
sind immer nur Mischungen, bei denen bald der eine, bald der andere
Typ vorherrscht.
Wir haben auf die Ähnlichkeit hingewiesen, die unser Fall mit einem
paranoiden Wahn aufweist. Eine wirkliche Paranoia liegt allerdings keines¬
falls vor, da der Patient bei seinen Verfolgungsideen sich doch einiger¬
maßen innerhalb der Grenzen der Realität hält. Immerhin könnte man
1) Anna Freud, Einführung’ in die Technik der Kinderanalyse, Int. Ps.-A. Ver¬
lag, S. 68/6 9 .
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst 123
von gewißen paranoiden Ansätzen reden, und tatsächlich erweist unsere
Analyse dafür einen entsprechenden Aufbau, kann uns aber über die
Struktur dieser Krankheit noch ergänzende Aufschlüsse geben. Im Falle
gchreber kommt Freud zu der uns heute geläufigen Feststellung: 1
der paranoische Charakter liegt darin, daß zur Abwehr einer homo¬
sexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn von solcher
Art reagiert wird.“ Bei der Paranoia des Mannes ist die Wunschphantasie,
den andern Mann zu lieben, und dieser Wunsch verwandelt sich durch
Abwehr und Projektion in die Folgerung: „Ich liebe ihn ja nicht —
ich hasse ihn ja — weil er mich verfolgt.“ Die Abwehr homo¬
sexueller Strebungen haben wir bei unserm Patienten deutlich beobachten
können; bildet sie doch ein Haupthindernis für das Betreten des Zeichen¬
saales, weil dort die homosexuelle Verfolgung lauert. Freilich ist diese
Abwehr, wie wir gesehen haben, bei unserem Falle nicht das einzige
Motiv, aber sicherlich ein wesentliches und eines, das unser theoretisches
Interesse verdient. — Die aus dem Falle Schreber klinisch gewonnene Er¬
kenntnis, daß der Verfolgungswahn der Abwehr homosexueller Wunsch¬
regungen dienen soll, erfährt bei Freud in „Zur Einführung des
Narzißmus“ 2 eine theoretische Erweiterung, indem hier der Beobachtungs-
wahn, welcher in der Symptomatologie der paranoiden Erkrankungen so
deutlich hervortritt, in Zusammenhang mit der zensorischen Instanz des
Gewissens gebracht wird. Es heißt hier: „Die Institution des Gewissens
war im Grunde eine Verkörperung zunächst der elterlichen Kritik, in
weiterer Folge der Kritik der Ges eil schaft, ein Vorgang, wie er sich bei
der Entstehung einer Verdrängungsneigung aus einem zuerst äußerlichen
Verbot oder Hindernis wiederholt. Die Stimmen sowie die unbestimmt
gelassene Menge werden nun beim Beobachtungswahn von der Krankheit
zum Vorschein gebracht, damit die Entwicklungsgeschichte des Gewissens
regressiv reproduziert.“ Hier wird also schon darauf hingewiesen, daß bei
der Paranoia eine Beziehung zwischen den Verfolgern und dem Über-Ich
vorhanden ist, die z. B. auch darin offenbar wird, daß die verfolgenden
Stimmen häufig die Verfehlungen vorwerfen. Jedoch wird bei Freud
nicht im einzelnen gezeigt, wie und warum eine solche Beziehung hergestellt
wird. In unserem Falle hat nun die Analyse der Kindheit die allmähliche
Verarbeitung der Über-Ich-Sphäre für den Zweck einer passiv-homosexuellen
Befriedigung sowie die dazu treibenden Kräfte mit aller Deutlichkeit auf¬
weisen können. Wir haben gesehen, wie der Gedanke, bestraft zu werden,
1) Freud, Ges. Sehr.. Bd. VIII, S. 4io und 414.
2) Freud, Ges. Sehr., Bd. VI, S. 179/180.
124
Jakob Hoffmann:
Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst
und damit der ganze Bereich des Über-Ichs unter dem Druck der äußeren
Verhältnisse von früher Jugend an immer mehr sexualisiert wird, so daß
schließlich die Idee: „die Männer werden über mich herfallen“ nicht nur
Strafbedeutung für den Patienten hat. sondern auch gleichzeitig sein unbe¬
wußtes Sexualziel geworden ist, das in der Neurose abgewehrt wird.
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Psychogene Potenzstörungen nach urologischen
Operationen
Aus der Psychiatrisch-neurologischen Klinik der Universität in Wien
Vorstand Prof. Dr. Otto Pötzl
Von
Ladislaus F e s s 1 e r
Wien
Unter den mannigfaltigen Beschwerden, die nach Operationen zur Beob¬
achtung kommen, sind auch psychische Veränderungen beschrieben worden.
Diese psychischen Veränderungen und ihre Beziehungen zu den chirurgischen
Eingriffen sind schon wiederholt Gegenstand eingehender Untersuchungen
gewesen. So haben Pilcz 1902 und Kleist 1916 über postoperative
Psychosen sehr ausführlich berichtet.
Auch über die Beziehungen von Verletzungen zu psychischen Erkrankungen
liegen Untersuchungen vor; es sei nur an die Arbeiten von Ferenczi,
Hartmann und Schilder erinnert.
Potenzstörungen, die im Anschluß an Operationen auftreten, kommen relativ
selten zur Beobachtung. Als Potenzstörung ist natürlich nicht bloß die
Impotentia coeundi bezeichnet, sondern auch das Mißverhältnis zwischen
Libido und Potenz, namentlich in der Art, daß trotz starker Libido Impotenz
besteht. Für gewöhnlich hält ja das Wiedererwachen der Potenz und der
Libido nach Operationen gleichen Schritt. Bei „sinnlichen Naturen“ mag es
zuweilen Vorkommen, daß sich die Libido früher einstellt als die Potenz.
In der überwiegenden Mehrzahl dieser Fälle wird das sexuelle Versagen auf
die allgemeine Prostration zurückzuführen sein, und mit gebessertem Allgemein¬
befinden verschwinden meist diese Potenzstörungen. Eine genaue Grenze,
wie weit in solchen Fällen das sexuelle Unvermögen psychisch mitbedingt
ist, läßt sich kaum ziehen.
Nach urologischen Operationen finden wir in dieser Beziehung andere
Verhältnisse vor, weil es im Anschluß an diese Operationen wesentlich
häufiger zu Potenzstörungen kommt als nach sonstigen. Geht man dieser merk¬
würdigen Tatsache nach, so findet man, daß sich die Potenzstörungen, die
nach urologischen Operationen auftreten, leicht in zwei Gruppen teilen lassen.
126
Ladislaus Leisler
Die erste Gruppe bilden jene Fälle, deren postoperative Impotenz organisch
zu erklären ist, respektive bei welchen organische Faktoren (anatomische Ver¬
änderungen) für das Zustandekommen der Impotenz weitgehend mitverant¬
wortlich sind. Diese, also organisch bedingten Potenzstörungen scheiden aus
unserer Betrachtung aus.
Die zweite Gruppe bilden jene Fälle, in welchen sich keinerlei organische
Erklärung für die Potenzstörung finden läßt. Nur von diesen soll im folgenden
die Rede sein.
Zunächst sei festgehalten, daß es im Anschluß an urologische Operationen
resp. im Anschluß an Operationen am Urogenitalapparat, unvergleichlich
häufiger zu psychisch bedingten Potenzstörungen kommt als nach anderen
Operationen. Es entsteht somit die Frage, wodurch sich dieser Sachverhalt
erklären läßt.
Eine einfache Überlegung zeigt, daß mehrere Faktoren da sein müssen, die
mit der postoperativen Entstehung der Impotenz in engster Beziehung stehen.
Erstens einmal die Operation an sich, weil ja die Impotenz vor der Operation
nicht bestanden hat.
Wir wissen schon seit langem, daß die Psychoanalyse jede Operation als
ein Erlebnis auffaßt, das zum Kastrationskomplex gehört. Der Kastrations¬
komplex umfaßt all die vielfältigen Phänomene, die sich aus der Angst vor
der Kastration (Kastrationsangst) ergeben, und darüber hinaus auch jede Er¬
scheinung, die eine Gefährdung der körperlichen Integrität darstellt. Vom
Wesen dieser Kastrationsangst führt Freud aus: „Wenn der Knabe den
Vater als mächtigen Rivalen bei der Mutter empfindet, seiner aggressiven
Neigungen gegen ihn und seiner sexuellen Absichten auf die Mutter inne
wird, hat er ein Recht dazu, sich vor ihm zu fürchten, und die Angst vor
seiner Strafe kann durch phylogenetische Verstärkung sich als Kastrations¬
angst äußern.“
Die Kastrationsangst ist also nach der Anschauung Freuds eine hereditär
fixierte Beaktionsweise des Knaben auf seine inzestuösen Phantasien in der
Ödipuszeit, in welcher er den Vater bei der Mutter als Rivalin bekämpft
und deshalb des Vaters Strafe namentlich an jenem Organ (Penis) fürchtet,
das für sein Rivaiitätsverhältnis von besonderer Bedeutung ist. Die Bedeutung
des Kastrationskomplexes, seire Beziehungen zu körperlichen Eingriffen der
verschiedensten Art und namentlich die Beziehungen des Kastrationskomplexes
zu den Potenzstörungen sind eindeutig festgestellt und in der psychoanalytischen
Literatur eingehend gewürdigt. So schreibt H. Hartmann in seinem Buche
„Die Grundlagen der Psychoanalyse“: „Das Mitanklingen des Kastrations¬
komplexes bei schweren körperlichen Beschädigungen oder Verletzungen zeigt
sich beim Erwachsenen sehr deutlich in der Psychologie postoperativer
Psychosen. “
Sadger meint in seinem Buche „Die Lehre von den Geschlechts ver-
irrungen“, daß vom Kastrationsstück des Ödipuskomplexes in jedem Menschen
eine frei flottierende Angst bestehe, „die gleich dem Schatten des Achill nur
darauf wartet, Blut zu trinken, um lebendig zu werden“.
Aus zahlreichen Analysen ist es bekannt, daß in jedem Falle von Impotenz
das Problem der Kastration eine überragende Rolle spielt. Sadger, ein
Autor, der sich mit der Frage der Kastration sehr eingehend beschäftigt hat,
Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen
127
rieht die Meinung aus, daß zum Zustandekommen der Impotenz unbedingt
auch die Kastrationsangst gehöre. Er schreibt: „Diese (Kastrationsangst) ist
fl nd bleibt das beste Mittel, den Mann von seinem Seelischen her unvermögend
machen, und erweist sich auch praktisch als die stärkste Wurzel des
ZU en Defektes.“ Derselbe Autor berichtet aus der Analyse eines seiner Fälle
folgende wörtliche Angabe des Kranken: „Noch eines sei angeführt: Jede
Operation mutet mich an wie ein schwerer Eingriff in den Organismus, der
sich nie wieder so herstellen kann. Mindestens die benachbarten Organe
zeigen immer eine gewisse Verkürzung. Es findet ja stets eine Zusammen-
ziehuno- statt. Ich habe den Gedanken: Die Stelle kann nie wieder so her¬
gestellt werden wie früher. Auch das spricht dafür, daß ich in jeder Operation
eine Kastration sehe.“
Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Es ist also durchaus keine
bloße Vermutung, sondern eine gewonnene Erfahrung, daß Operationen als
irgendwie zur Kastration gehörig empfunden werden. Die genaue Darlegung,
warum das so ist, gehört nicht mehr zum eigentlichen Thema der vor¬
liegenden Untersuchung.
So evident die hier angeführten Beziehungen der operativen Eingriffe zur
Kastrationsangst und in weiterer Folge zu den Potenzstörungen auch sein
mö ff en, sind sie eine ungenügende Begründung für unsere Beobachtung, daß
Potenzstörungen nach urologischen Operationen häufiger auftreten. Wir sagten
ja eingangs, daß Potenzstörungen nach Operationen relativ selten zur Beob¬
achtung kommen und dann meist hinreichend durch den herabgesetzten
Gesamtzustand des Individuums erklärt sind. Es muß also von besonderer,
sozusagen von spezifischer Bedeutung für das postoperative Auftreten der
Impotenz sein, daß die Operation eine urologische war.
Das heißt weiter ausgeführt, daß die urologische Operation mit irgend¬
welchen, ganz charakteristischen Manipulationen verbunden sein muß, die
das gehäufte Auftreten solcher postoperativer Potenzstörungen erklärlich machen.
Somit muß unsere Untersuchung zunächst die Frage aufwerfen, wodurch
sich denn die urologischen Operationen von anderen Operationen wesentlich
unterscheiden und ob diese eventuellen Unterschiede die Verschiedenheit der
beobachteten postoperativen Wirkung erklären können.
Für diesen Fall müßte es sich zeigen, daß die typisch urologischen Mani¬
pulationen im Erleben des Patienten eine sehr bedeutsame Rolle spielen.
Zunächst die Frage nach den markanten Unterschieden, die zwischen
urologischen Operationen und anderen bestehen. Jeder urologischen Operation
gehen fast immer mehrere, mitunter sehr unangenehme Manipulationen am
Genitale voraus, Maßnahmen, die bei nichturologischen Operationen nur ganz
ausnahmsweise vorgenommen werden. Diese Maßnahmen sind: Katheterismus,
Zystoskopie und häufig auch Ureterenkatheterismus. Die hier aufgezählten
Eingriffe imponieren dem Patienten sehr oft schon selbst als Operation. Die
Situation, in die der Patient gebracht wird, rechtfertigt auch in einem
sehr hohen Ausmaße diese seine Stellungnahme. Die erwähnten Eingriffe
werden dem Patienten ebenso wie Operationen „angekündigt“, d. h. meist
nicht sofort vorgenommen, und ihre besondere Wichtigkeit wird vom Arzt
mehrmals betont. Der Patient muß also auf sie „vorbereitet“ werden.
Der Eingriff selbst hat auch vielerlei Ähnlichkeiten mit einer Operation.
128
Ladislaus Fessler
i. Es ist ein gewisses Gefahrmoment vorhanden. 2. Die körperliche Lage de
Patienten bei der Ausführung des Eingriffes ist der bei einer Operation ein!
genommenen sehr ähnlich. 3. Die Manipulation nimmt eine gewisse Zeit in
Anspruch. 4. Vom erhobenen Befund werden die weiteren oft sehr gewich-
tigen Entscheidungen abhängig gemacht.
Es soll später noch erörtert werden, welche enorme Bedeutung der Patient
diesen Voruntersuchungen beimißt. Dazu kommt, daß diese Eingriffe meist
wiederholt vor der Operation ausgeführt werden und jeder einzelne erfoWt
durch den Penis, das Exekutionsorgan der Potenz. Bedenkt man aber noch
daß die überwiegende Mehrzahl der urologisch operierten Patienten den
gleichen unangenehmen Prozeduren oft noch für viele Wochen auch nach
der Operation ausgesetzt sind, dann ist es leicht einzusehen, daß die für eine
urologische Operation charakteristischen Manipulationen für den Patienten
eine sehr große Bedeutung gewinnen.
Mi halte die Annahme für durchaus gerechtfertigt, daß so häufige Eingriffe
äm üemtale, selbst wenn sie ganz schmerzlos sind, einen Kastrationskomplex
mobilisieren, quasi virulent machen können, der gelinderen Erschütterungen
wie z. B. denen einer Operation ohne solche Prozeduren, standgehalten hätte!
hadger berichtet aus der Analyse einer Impotenz: „Als eine der ihn
beherrschendsten Vorstellungen erwies sich der Kastrationskomplex.“ Dieser
Patient berichtet wörtlich: „Schon das bloße Wort .schneiden* oder operieren
hat bei mir stets eine große Furcht ausgelöst. Ganz besonders gräßlich er¬
scheint mir jede Operation in der Harnröhre, ja selbst das Katheterisieren “
Einer mündlichen Mitteilung des Herrn Dr. Sadger verdanke ich die
enntnis, daß dieser Patient nie einer Operation unterzogen, ja nicht einmal
katheterisiert wurde. So zeigt diese Tatsache ganz deutlich, daß schon die
bloße Vorstellung von Manipulationen am Genitale besonders leicht den
Charakter des Schrecklichen annimmt.
Im folgenden sei das Wesentliche aus den Krankengeschichten meiner drei
hierher gehörigen Fälle mitgeteilt. 1
Fall F. G., 31 Jahre, ledig.
Vater gesund, Mutter an Tuberkulose gestorben. Patient erlitt im Krieg eine
Granatverletzung am Rücken, das Geschoßstück wurde operativ entfernt. 1025 wurde
Patient wegen einer Otitis media am rechten Ohr einer Radikaloperation unterzogen.
Mit .7 Jahren Gonorrhoe. Anschließend daran eine beiderseitige Nebenhodenent-
zun ung. 1923 Cystitis, auf Behandlung gebessert, nachher zeitweise Pollakisurie.
Harn trüb, Schmerzen bei der Miktion, Gewichtsverlust. 4. VII. 1928 Zystoskopie.
Befund: Rechtes Ureterenostium klaffend, starr, von Ödem und Knötchen umgeben leer
gehend. Linkes Ostium o. B. Katheter-Harn: Koch-Bazillen nachweisbar. Prostata:
Derber Knoten ,m rechten Lappen. , 4 . VII. ,928 Operation. Exstirpation der rechten
tuberkulösen N.ere. Patient wiid am 11. VIII. 1928 entlassen. Ein Teil der Wumte
heilt per secundam und vernarbt erst nach mehrmonatiger Behandlung.
, Zuweisung der Fälle, die sämtlich aus dem Krankenmaterial der uro-
log.schenAbte.lung der Allg. Poliklinik (Vorstand Prof. Rubritius) stammen, und für
der o^: r en SS r t g , der g ' SC . hen Befunde s P re <*e ich Herrn Dr. Fuchs, Assistent
der obigen Abteilung, meinen besten Dank aus.
129
"" Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen
Nach Beendigung der ambulatorischen Behandlung suchte mich auf Veran-
] ssung des Urologen der Patient mit der Klage auf, daß er seit der Operation
llständig impotent sei* Während er noch bis zur Operation mit seiner Freundin
standslos und genußreich verkehren konnte, sei ihm seit seiner Operation trotz
deler Bemühungen kein Koitus gelungen. Wenn er allein ist, werde er oft von
Erektionen geplagt und empfinde auch ein starkes Verlangen nach Sexualverkehr.
Kaum ist er aber mit der Frau allein und die Möglichkeit eines Verkehres gegeben,
verschwindet zunächst die Erektion; darüber werde er so unglücklich und mißmutig,
daß er auch bald das Verlangen verliert. Patient ist verlobt. In seinen sexuellen
Beziehungen zur Braut sei es schon in der letzten Zeit vor der Operation zu Ver¬
sagern gekommen. Seine Nierenerkrankung habe ihn sehr deprimiert; er habe das
Gefühl einer dauernden Schädigung nicht los werden können und hatte oft den Ein¬
druck, er sei durch diese Erkrankung sexuell minderwertig geworden.
Das Gefühl der sexuellen Minderwertigkeit habe er aber zunächst nur bei seiner
Braut gespürt. Er sei ihrer eigentlich überdrüssig, wiewohl er sie noch ganz gern
habe. Nur aus Korrektheit löse er nicht seine Beziehungen zu ihr. Er habe sich mit
ihr seinerzeit ganz unbedachterweise in Beziehungen eingelassen, sich noch unbe¬
dachterer Weise mit ihr verlobt und jetzt könne er sie nicht verlassen. Trotz alledem
hätte ihn sein vereinzeltes sexuelles Versagen nicht so hart getroffen, weil er eben
auch eine Freundin hatte, mit der er noch bis zur Operation durchaus befriedigenden
Sexualverkehr hatte. Dieses Verhältnis wurde für ihn namentlich in der Zeit vor der
Operation von größter Wichtigkeit, weil er durch den klaglosen Verkehr mit der
Freundin den Beweis hatte, daß er „ja doch potent“ sei.
Im Laufe der Behandlung konnte folgendes ermittelt werden: Patient ist das
einzige Kind gewesen. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter. Er kann sich
nur erinnern, daß sie ständig krank war, daß er im Haushalt viel arbeiten mußte
und daß in seinem Elternhaus sehr dürftige Verhältnisse herrschten. Seine Mutter
hat Patient sehr gerne gehabt. Da er trotz seiner Jugend einen Großteil der häus¬
lichen Arbeiten verrichten mußte, wurde er manchesmal unwillig und dann bekam
er von der Mutter Vorwürfe zu hören. Sie nahm es ihm übel, daß er in solchen
Momenten gegen sie lieblos geworden sei, und warnte ihn immer: Es werde ihm
einmal noch sehr leid tun, daß er so unfreundlich war.
Der Vater des Patienten lebt- Er ist ein verschlossener Mensch, der den Patienten
wohl gern gehabt hat, doch ihm nie seine Liebe zeigte. Der Patient hat zu seinem
Vater niemals besondere Beziehungen gehabt; an Angst vor dem Vater könne er sich
nicht erinnern, der Vater sei ihm eher gleichgültig gewesen. Nach dem Tode der
Mutter kam Patient zu einem verheirateten Onkel, der zwei Kinder hatte. Dort ging
es ihm im großen und ganzen gut, doch habe er viel Herzleid mitmachen müssen.
„Mir fehlte die Mutterliebe. Ich sah, wie die Kinder des Onkels von ihren Eltern
geherzt und verwohnt wurden, ich fühlte sehr deutlich den Mangel einer Elternliebe.“
Mit zehn Jahren kam Patient wieder zu seinem Vater, der sich unterdessen eine
Witwe, die bereits eine große Tochter hatte, als Lebensgefährtin genommen hat.
Damals gab es häufig Streit wegen Bevorzugung der Kinder durch den eigenen
Elternteil. Patient erzählt wiederholt, daß er sich als Kind sehr vereinsamt fühlte
und auch sehr verschlossen war. Als er vierzehn Jahre alt war, heiratete sein Vater
eine andere Witwe, die vier Kinder in den gemeinsamen Haushalt mitbrachte, in
welchem auch Patient nunmehr leben mußte. In dieser Zeit ging es ihm auch ganz
gut, wenngleich es gelegentlich zu kleinen Streitigkeiten kam. Aus dieser Zeit erinnert
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i
9
130
Ladislaus Fessler
sich Patient, daß er und einer seiner Stiefbrüder mit dem Vater des Patienten in
sehr heftigen Streit gerieten, der fast in Tätlichkeiten ausartete. Damals habe Patient
sehr zurückgezogen gelebt und sich niemandem anvertraut. Vor Mädchen hatte er
eine ziemliche Scheu und fürchtete sich vor jederlei Annäherung.
Patient hat viel onaniert. Er machte sich deshalb große Vorwürfe, hatte nach
dem Onanieren das Gefühl einer Selbsterniedrigung und war außerdem überzeugt,
sich durch die Onanie auch körperlich schwer zu schädigen, so daß sich die Ge¬
wissensbisse über sein Laster bald ins Maßlose steigerten. Als er zirka 23 Jahre alt
war, mußte er mit seinem älteren Stiefbruder in einem Zimmer schlafen und wurde
so wiederholt unfreiwilliger Zeuge der häufigen Masturbationen seines Schlafkame¬
raden. Die Erinnerung an diese Begebenheit ist ihm sehr unangenehm, wobei er
aber nicht den Grund angeben kann.
Vor dem ersten Sexualverkehr — an das Alter kann er sich nicht mehr erinnern __
hat Patient „ein sehr unsicheres Gefühl gehabt; es sei eigentlich eine direkte Angst
gewesen, weil sich die dazu in Aussicht genommene Partnerin — die jetzige Braut —•
ziemlich lange gegen den Geschlechtsverkehr sträubte“.
Um diese Angst zu bekämpfen, resp. um sich die Sicherheit des Gelingens zu
verschaffen, ging er vorher ganz gegen seine Absicht zu einer Prostituierten.
Bei sexueller Erregung habe er „viele sadistische Züge gezeigt“, Zwicken, Beißen
und Schlagen seien fast die unfehlbaren Begleiterscheinungen seiner sexuellen Er¬
regung gewesen.
Jetzt fühle er sich „fast in allen Dingen sehr imsicher“. Patient berichtet, daß
er „früher“ zwar nie ein Feigling war, aber schon immer ziemlich unentschlossen
und sich auf eine mehr „passive Haltung“ zurückzog.
Nach der Nierenoperation bemächtigte sich seiner höchste Verzweiflung. Es kam
eine Ängstlichkeit über ihn, die er früher gar nie kannte; er habe „Angst vor dem,
was sein wird“. Dies sei ihm um so rätselhafter, als ja die Nierenoperation für ihn
nicht die erste Operation war. Als er noch viel jünger war, mußte er sich einer
Radikaloperation wegen Mittelohrentzündung unterziehen und er wußte damals sehr
wohl, daß diese Operation äußerst gefährlich werden kann. Die Nierenoperation sei
doch lange nicht so gefährlich gewesen, und wiewohl er sich diese Tatsache oft und
oft vergegenwärtigte, hat die Nierenoperation doch so unvergleichlich mehr auf ihn
gewirkt. „Alles, was mit der Nierenoperation in Zusammenhang stehe, sei. ihm als
fürchterliches Erlebnis in Erinnerung. Das Katheterisieren und die zystoskopischen
Untersuchungen sind ihm, ehrlich gesagt, noch viel schauerlicher im Gedächtnis als
die ganze wirkliche Operation. Er ist so oft diesen Prozeduren unterzogen worden,
und hat dabei immer das Gefühl gehabt, in einem solchen Grade wehrlos zu sein,
wie er es bis dahin noch nie war.“ Es sei ihm auch schon einige Male der Magen
ausgehebert worden, aber das sei ihm „seelisch lange nicht so nahe gegangen wie
das Katheterisiertwerden, geschweige denn wie die Zystoskopie“.
Die Impotenz, unter der er jetzt, nach der Operation, zu leiden habe, sei sicher
das größte Unglück, das ihn bisher getroffen hat. Jetzt müsse er auch so oft an
seine Onanie denken; er habe wieder, ganz wie früher einmal, das Gefühl, als ob
ihn die Onanie sehr folgenschwer geschädigt hätte. Trotzdem onaniere er auch heute
noch, um sich davon zu überzeugen, daß er auch potent sein kann. Wenn es ihm
auch eine große Freude bereite, bei der Onanie seine Potenz zu bewundern, bewirke
sie doch immer schwere Selbstvorwürfe. Für die Ärzte, die ihn vor der Operation
untersuchten und dann operierten, empfindet er eine sehr große Verehrung.
Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen
131
Aiis dieser, nur auszugsweise mitgeteilten Krankheitsgeschichte sei her¬
vorgehoben, daß Patient einige Jahre vor seiner Nierenoperation zwei
n rationen anderer Art durchzumachen hatte (Granatverletzung am Rücken
und Radikaloperation wegen Otitis media) und daß sich nach keiner dieser
O erationen irgendwelche Potenzstörungen eingestellt haben. Für diesen Fall
kann es mithin als erwiesen gelten, daß unter den chirurgischen Eingriffen
. n an den Harnorganen für die Entstehung der postoperativen Potenz¬
störung eine besondere Bedeutung zukommt.
Fall A. F., 22 Jahre alt, ledig, Mediziner.
Familienanamnese o. B. Potus und venerische Affektion negiert. Im November 1927
bemerkt Patient bei der Miktion, daß der Harnstrahl plötzlich unterbrochen ist und
daß er die Blase erst nach einiger Zeit vollständig entleeren kann. Es bestanden
keine Schmerzen, der Harn war leicht getrübt. Im April 1928 wurde Patient zum
erstenmal auf der Klinik Hochenegg zystokopiert, wobei folgender Befund erhoben
wurde: „Divertikelöffnung nahe dem linken Ureter. Rechts zwei Ureteröffnungen.
Die Zystographie zeigt ein über Ei großes, links hinter der Blase liegendes Divertikel.“
Zum Zwecke einer exakten Funktionsprüfung beider Nieren wurde Patient in der
Folgezeit zweimal auf der urologischen Abteilung der Allg. Poliklinik zystoskopiert.
Am 31. Mai 1928 Operation. Äthernarkose. Mediane Laparatomie. Exstirpation eines
hühnereigroßen Blasendivertikels. Nach der Operation Dauerkatheter. Bis zum n. VI,
glatter Verlauf, dann Schüttelfrost, Temperatur 38*8, Diagnose: Pyelitis dextra. Durch
mehrere Tage Dauerkatheter. 24. VI. 1928 Zystoskopie. 26. VI. 1928 wird Patient
mit klarem Harn ohne Beschwerden entlassen. Vom 12. VII. bis 18. VII. neuerliche
Aufnahme. Während dieser Zeit ist der Harn wieder trübe. Am 22. VIII. 1928 tritt
eine akute linksseitige mehrmals rezidivierende Epididymitis auf, die unter konser¬
vativer Behandlung im Laufe einiger Wochen abklingt. Seither urologisch voll¬
kommene Heihuig.
Im Frühjahr 1929 sucht mich dieser Patient, ebenfalls auf Veranlassung des ihn
behandelnden Urologen, mit folgenden Beschwerden auf: Er leidet an einem völligen
Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Er hätte dringend für nahe bevorstehende
Prüfungen zu lernen und müsse sich immer wieder dabei ertappen, daß er zwar
über den Büchern sitze, wohl auch hineinschaue, aber mit seinen Gedanken „weiß
Gott wo“ sei.
Es beschäftige sich immer mit seinen „letzten Stunden“; vor seinem Tode habe
er eine unsagbare Angst. In diesen ängstlichen Zuständen denke er nicht an eine
bestimmte Todesart, vielmehr an das Sterben überhaupt, wodurch er regelmäßig in
furchtbaren Schrecken gerate. Er sehe die ganze Situation seiner Sterbestunde, fürchte
sich vor dem Todeskampf und erkenne verzweifelt die schließliche Aussichtslosigkeit
aller gegen den Tod gerichteten Bemühungen. Er müsse dabei sehr viel an seine
Eltern denken. So müsse er sich immer die Lage vorstellen, wie es ohne ihn im
Eltemhause sein wird.
Eines Abends habe er auf dem Heimweg die Gestalt eines verstorbenen Freundes
zu sehen geglaubt; im Augenblick, da er die Gestalt sah, sei es ihm gar nicht bewußt
gewesen, daß der betreffende Freund schon tot ist. Dieses Erlebnis habe ihn sehr
beunruhigt. Er wisse, daß Sinnestäuschungen bei der Schizophrenie Vorkommen. Sein
unablässiges Denken an den eigenen Tod werde manchesmal von Gedanken abgelöst,
die sich mit den Sterbestunden ihm nahestehender Personen beschäftigen. Er empfinde
9 *
L
132
Ladislaus Fessler
großes Mitleid mit den Qualen, die diese Menschen ausstehen müßten. Wenn er zu
arbeiten Habe, schlafe er ein oder hänge den geschilderten Meditationen nach.
Er habe schon mehrere wichtige Prüfungstermine des ersten Rigorosums versäumt.
Mit einer Kollegin, die Patient schon seit einigen Jahren kennt, habe er in der
letzten Zeit im gemeinsamen Haushalt gelebt. „Jetzt sei er außerdem noch impotent.“
Es komme zu keiner Erektion, wiewohl seine Libido groß sei und er seine Partnerin
— die erwähnte Kollegin — sehr liebe. Versuche, mit anderen Frauen zu verkehren,
seien ebenfalls erfolglos gewesen. Deshalb sei er ganz verzweifelt, und es packt ihn
ein Grauen vor der Gelegenheit zu koitieren. Mit seiner Potenzstörung trat auch
oft „das Gefühl auf, daß sein ganzer Körper absterbe, gliederweise verfaule, so als
ob ein Arm oder ein Bein abfallen würde“.
Seine mißlungenen Koitusversuche führen ihn über die Vorstellung des glieder¬
weisen Verfaulens zu den imabwendbaren Todesgedanken und machen ihn vollkommen
ratlos. Er habe bemerkt, daß er auch heute vor dem Verkehr die gefürchteten
Todesgedanken bekomme, dann natürlich beim Koitus versage und durch all das
schließlich des Lebens überdrüssig geworden sei.
Während der Behandlung konnte folgendes ermittelt werden: Patient hat nur
einen jüngeren Bruder, stammt aus einer Kaufmannsfamilie. Er lebt mit seinen
Eltern in ziemlich gedrückten materiellen Verhältnissen. Ehe er Medizin studierte,
war er Techniker, hatte für diesen Beruf viel mehr Neigung, glaubte aber aus
äußeren Gründen seinen Beruf wechseln zu müssen (konfessionelle Zwistigkeiten
mit seinen Kollegen).
Mit seinen Eltern vertrage er sich ganz gut, besonders herzlich sei sein jetziges
Verhältnis zu ihnen nicht, wofür Patient die großen materiellen Sorgen verantwort¬
lich macht.
Aus der Kindheit des Patienten sei hervorgehoben, daß seine erste Erinnerung
onanistische Akte sind, die er im Alter von drei Jahren vollführte. Er weiß ganz genau,
daß er mit drei Jahren an seinem Genitale manipulierte. Er erinnert sich auch, daß
er während der Manipulationen und auch nachher Veränderungen an diesem Organ
beobachten konnte. Zu diesen Manipulationen sei es das erstemal gekommen, als er
auf dem Topf saß. Er will sich deutlich daran erinnern, damals auch Erektionen
gehabt zu haben. Um diese Zeit herum war Patient sehr schamhaft und sehr ungehalten,
wenn er von jemandem nackt gesehen wurde. Einmal wurde er von seiner Mutter
überrascht, als er gerade mit seinem Genitale spielte. Die Mutter gebärdete sich
bei dieser Entdeckung sehr verzweifelt, schlug den Patienten und sagte, „es sei ein
großes Unglück, wenn man damit spiele. Wenn er es noch einmal tun werde, wird man
einen Spagat daran knüpfen und ihn so durch alle Gassen führen“. Diese Spielereien
bereiteten aber dem Patienten sehr großes Vergnügen und er verschaffte sich durch
sie eine ganz eigenartige Erregung, die er nur als Lust bezeichnen kann. Seine
Manipulationen setzte er fort, war aber seither sehr darauf bedacht, von seiner
Mutter nicht mehr erwischt zu werden.
Er erinnert sich sehr gut, daß ihm das Kitzelgefühl, das er sich durch das
Hantieren mit dem Genitale verschaffte, sehr gut gefiel und daß bei diesem ange¬
nehmen Gefühl sein Penis viel größer und härter wurde. „Die Erektion betrachtete
ich als ein nur mir bekanntes Geheimnis, und ich hatte große Angst, jemals in
Gegenwart meiner Mutter eine Erektion zu bekommen. Je vertrauter mir diese
Manipulationen wurden, um so größer wurde mein Schamgefühl. Ich erinnere mich
ganz deutlich, daß ich mich vor der Mutter besonders stark schämte.“
• fünf Jahren entdeckte Patient an seinem Vater die ersten grauen Haare; bei
^Entdeckung wurde Patient sehr ängstlich und fragte den Vater, ob er deshalb
bflld werde sterben müssen.
SC In der Volksschule ging ich während der Pausen nie mit meinen Kameraden
’ ” eren sondern wartete immer, bis ich allein war. Ich wollte nicht, daß ein
^Iitschüler mein Glied sehe; ich schämte mich auch, das Genitale eines Kollegen
anZ ßei der engen physiologischen Verknüpfung und dem gedanklichen Assoziiertsein
r Sexualfunktion und der Harnentleerung fand ich es erklärlich, daß beim Patienten
J* Hemm ung, wie sich bald herausstellte, auch bei der Miktion in Erscheinung trat.
Er ist unfähig, im Beisein einer zweiten Person den Harn zu entleeren. Solange er
öffentlichen Anstandsort allem ist, uriniert er regelmäßig in starkem Bogen; in
dem Moment, wo noch jemand eintritt, wird die Miktion wie ab ge schnitten, er
wird unfähig, auch nur einen Tropfen herauszupressen.
Patient bringt noch folgende bemerkenswerte Erinnerung: Mit vier Jahren habe er
aus Spielerei seinen Penis in eine Bierflasche gesteckt, konnte ihn aber dann nicht
mehr aus der Flasche herausbringen. Während er gerade damit beschäftigt war,
sein Glied aus dieser unangenehmen und — wie ihm deutlich erinnerlich schmerz¬
haften Lage zu befreien, wurde er von seiner Mutter überrascht. Es gab wieder
eine große Szene, die Mutter war abermals ganz verzweifelt und sagte, es sei ein
ganz furchtbares Unglück geschehen. Patient bekam wieder Prügel und seine Angst
vor dem Erwischtwerden steigerte sich ganz gewaltig. Seither war Patient noch viel
mehr auf der Hut, bei seinen onanistischen Handlungen gesehen zu werden.
Bis zu seinem zehnten Lebensjahr hatte Patient „eine schwache Blase“. Er sei
wohl kein ausgesprochener Bettnässer gewesen, doch habe er den Harn nie vollständig
halten können, „es hat fast immer getröpfelt“, in der Nacht sei er bei geringstem
Harndrang erwacht, untertags habe er den Harndrang häufig übersehen und sei oft
erst durch das Tröpfeln aufmerksam geworden.2
Während seines sechsten und siebenten Lebensjahres habe er wiederholt von
seiner Mutter gehört, daß beim Onanieren das Rückenmark verloren gehe; an die
unmittelbare Wirkung dieser Mitteilung kann er sich nicht mehr erinnern, er wisse
nur, „das habe ihm die Freude daran verdorben und er fürchtete sich“.
Seinen ersten Orgasmus erlebte er in einer der unteren Klassen des Gymnasiums,
und zwar im unmittelbaren Anschluß an eine große unterdrückte Wut. Patient kaufte
nämlich während der Pause von einem älteren Kollegen ein Lehrbuch und erfuhr
knapp vor Beginn der nächsten Unterrichtsstunde, daß dieses Buch für ihn unver¬
wendbar sei. Kaum daß er das erfahren hatte, geriet er in eine sehr große Erregung,
aber schon läutete es und der Lehrer betrat das Klassenzimmer. Als die Schüler
aufsprangen, sei er ganz besonders stramm gestanden, „ich hatte alle Muskel krampf¬
haft angespannt“, und schon spürte er, fast plötzlich, ein rhythmisches Lustgefühl.
Als er sich wieder setzte, merkte er, daß er eine Ejakulation gehabt hatte.
Zu dieser Begebenheit fällt dem Patienten ein, daß Wut und Zorn in seiner
1) Vgl. Ferenczi, „Analytische Deutung und Behandlung der psychosexueilen
Impotenz beim Manne“. Psych. Neur. Wochenschrift X., 1908.
2) Hier sei gleich bemerkt, daß diese Inkontinenzbeschwerden sehr leicht bereits
auf jene organischen Veränderungen in der Blase bezogen werden können, die später
zur Bildung des Blasendivertikels geführt haben.
134
Ladislaus Fessler
Sexualität eine große Rolle spielen. Er müsse gestehen, daß für ihn das Zufügen
von Schmerzen, einerlei, ob es körperliche oder seelische sind, erotisierende Wirkung
haben. Die zornige Erregung einer Frau mache ihn sinnlich, ja sie bedinge eigentlich
seine richtige sexuelle Genußbereitschaft. So oft er in die Lage komme, eine Frau
zu quälen, bekomme er fast ausnahmslos eine starke Erektion. Bei seinem Sexual¬
verkehr spielen Schlagen, Beißen und Zwicken eine sehr wesentliche Rolle.
Die urologische Operation war die erste Operation, der sich Patient unterziehen
mußte. Bis zur Operation hatte er nie Potenzstörungen. Ungefähr drei Wochen
nach seiner Entlassung unternahm er den ersten Koitusversuch, der auch glückte-
das Ejakulat bei diesem ersten Koitus war aber blutig, worüber Patient sehr erschrak.
Patient mußte noch vier Wochen nach der Operation mit Dauerkatheter liegen.
Nach acht Tagen Dauerkatheter bekam Patient nachts häufig Erektionen. Es kam auch
zu Pollutionen, die zunächst mit vollem Orgasmus verbunden waren, dabei aber sehr
schmerzhaft empfunden wurden, so daß Patient Sedativa gebrauchen mußte. Die
Pollutionen hörten erst auf, als der Dauerkatheter endgültig entfernt werden konnte.
Patient betont, daß er sich nach der Operation in seinem ganzen Charakter ver¬
ändert fühlte.
Während ihm früher „Angst kaum je zum Bewußtsein kam, sei er nach der
Operation ausgesprochen ängstlich geworden“. Sein sicheres Auftreten habe sehr
gelitten. Frauen gegenüber sei er scheu geworden, was früher nie der Fall war. Auf
dem linken Auge besteht ein angeborener Strabismus. Während er seinem Schielen
früher gar keine Bedeutung beigemessen hat, kam ihm dieser Defekt jetzt sehr
deutlich zum Bewußtsein und wurde von ihm sehr störend empfunden. Ungefähr
fünf Monate nach der urologischen Operation mußte sich Patient einer Tonsillektomie
unterziehen.
Patient hat diese beiden Operationen oft verglichen und kam immer wieder zu
dem Ergebnis, „daß ihm die ganze Tonsillektomie wesentlich sympathischer war als
eine bloße Zystoskopie. Die Tonsillektomie war wohl sehr schmerzhaft und die Vor¬
bereitung dazu war sehr ekelhaft und quälend, aber trotzdem habe ich diesen Eingriff
lange nicht so unangenehm, ja ich möchte sagen nicht so bedeutungsvoll, so ein¬
schneidend empfunden wie eine Zystoskopie. Selbst das Katheterisiertwerden war
mir furchtbarer als die ganze Tonsillektomie“.
Für unsere Betrachtung seien folgende Momente festgehalten:
Die Potenzstörung trat hier nach einer urologischen Operation auf. Wenn
auch in diesem Falle — zum Unterschied von früher beschriebenen — eine
Gegenüberstellung von postoperativen Beschwerden nach urologischen und
nichturologischen Operationen nicht möglich ist, weil die urologische Operation
bei diesem Patienten eben die erste war, kann trotzdem das Auftreten der
postoperativen Potenzstörung auf die urologische Eigenart des chirurgischen
Eingriffes bezogen werden. Wir haben ja gehört, daß dieser Patient innerhalb
sechs Wochen vor der Operation dreimal zystoskopiert und einmal auch einem
Ureterenkatheterismus unterzogen wurde. Aber auch die Nachbehandlung war
in diesem Falle eine für das Genitale — wenn ich so sagen darf — trauma-
tisierende, denn sie bestand in Dauerkatheter und nochmaliger Zystoskopie.
Fall F. D. f 28 Jahre, Elektromechaniker, verheiratet.
1912 Radikaloperation wegen Otitis media. Juli 1920 wurde wegen Tuberkulose
dreimal Pneumothorax angelegt. Februar 1929 fieberhafte Angina, dann Wohlbefinden.
r. g Juli 1929 Fieber, Schmerzen in der Blasengegend, Pollakisurie. Venerische
Aktion negiert. Lungenbefund. Allgemeine Poliklinik, Abteilung Hofrat Manaberg:
A C wahrscheinlich ausgeheilte Phthise der Lunge. Urologischer Befund: Prostata in
A infiltriert, seitlich von der Beckenwand nicht vollkommen abgrenzbar. Rechter
T° t0 en stark prominent und druckempfindlich, doch zeigt er noch keine Fluktuation.
Kathetensmus: Kein Restharn. Therapie: Kalter Arzberger, Belladonna-Suppositorien,
Aolan- Temperatur sinkt ab. Zunahme der Schmerzen. 1. August 1929 Fluktuation im
rechten Prostatalappen. Sofortige Operation in Äthernarkose. Perineale Freilegung
der Prostata. Inzision eines Abzesses im rechten Lappen. Im Eiter: Staphylokokken;
stoperative Rektumfistel, die sich bis zum 25. August vollkommen schließt. Patient
wird dann in ambulatorische Behandlung entlassen. Aus der Rektumfistel gehen noch
eine Zeitlang Gase ab; die Fistel schließt sich dann vollständig.
Oktober 1929 beginnen die Potenzstörungen und Patient wird wegen derselben
an mich gewiesen. Seit der Operation fühle er sich verändert. Am deutlichsten komme
ihm diese Veränderung in seinem Verhalten Frauen gegenüber zum Ausdruck. Während
er früher für Frauen sehr lebhaftes Interesse hatte, mache sich jetzt bei ihm eine
generelle Gleichgültigkeit geltend. Über diese Veränderung sei er sehr erstaunt,
zumal er sich keine Erklärung dafür geben kann. Wenn er auch nicht vollkommen
impotent ist, könne er doch nicht sagen, daß er sein Sexualleben als intakt empfinde.
Der Sexualverkehr bereite ihm Schwierigkeiten und er empfinde ihn meist nur als
eheliche Pflicht. Deshalb sei er sexuell sehr zurückhaltend, wodurch oft häusliche
Szenen herauf beschworen werden. Er habe sich allmählich auch davon überzeugen
müssen, daß die Erektionsfähigkeit seines Gliedes sehr nachgelassen hat. Es dauere
sehr lange, bis die Erektion zustande kommt, und auch dann sei sie nur selten so
kräftig, daß ein Koitus mühelos erfolgen kann. Die Häufigkeit des Sexual Verkehrs
habe sehr gelitten, er verkehre jetzt monatlich kaum einmal. Der Koitus befriedige
ihn eigentlich sehr wenig, und trotzdem leide er darunter, daß seine Potenz so stark
nachgelassen hat. Während sein früheres Interesse für Frauen zunächst sexuell gerichtet
war, seien seine jetzigen Beziehungen mehr auf den „geistigen Kontakt“ bedacht.
Patient sagt, er habe jetzt zu den Frauen eine „mehr mütterliche als sexuelle
Beziehung“.
Er ist verheiratet und seiner Frau untreu, aber lange nicht in dem Maße, als es
seiner Einstellung zu ihr entspräche. Diese relative Scheu vor anderen Frauen habe
er, weil er sich „auswärts nicht blamieren will“.
Bis zur Operation war er „übermäßig potent“. Wohl hielt seine sexuelle Spann¬
kraft nie besonders lange an, aber sie kehrte sehr bald wieder. Seinen jetzigen
sexuellen Zustand müsse er als Impotenz bezeichnen, denn „das Geringste könne ihn
so stören, daß jeder Koitus versuch vollkommen aussichtslos wird“.
Mit der Abschwächung seiner Potenz seien ihm noch eine Reihe anderer Ver¬
änderungen aufgefallen. So sei er von einer ihm bis dahin völlig fremden Grübel¬
sucht befallen worden. Er möchte z. B. gerne ergründen, warum er seiner Frau so
kühl gegenüberstehe. Er müsse staunen, daß er wegen seines Verhaltens gegen seine
Frau keinerlei Gewissensbisse empfinde, wiewohl er sich darüber klar sei, daß sein
Benehmen nicht das richtige ist. Er interessiere sich für medizinische Probleme,
besonders für hygienische Fragen, wobei er sich bemühe, namentlich über Entstehung
und Verhütung von Krankheiten möglichst viel zu erfahren. Patient bezeichnet sich
als Hypochonder, er sei „überaus empfindlich geworden“. Während er sich früher
um Krankheiten gar nicht kümmerte, mache er sich jetzt „über jeden Schmarrn“
136
Ladislaus Fessler
quälende Sorgen. Im allgemeinen sei er mißmutig, verstimmt, finde an seiner Arbeit
keine Freude, und wenn er sich schon zu irgendeiner außerberuflichen Tätigkeit
aufschwingen könne, sei es die Lektüre populär-wissenschaftlicher Schriften oder
irgendwelche häusliche Bastlerei.
Auch verschiedene Mängel seiner Persönlichkeit seien ihm nach der Operation
mehr bewußt geworden und auch darüber müsse er fast unaufhörlich nachdenken.
Früher habe er alle möglichen Interessen gehabt, betrieb Lektüre, suchte Theater
und andere Vergnügungen auf und kümmerte sich um politische Fragen. Jetzt sei
er einsilbig, sehr leicht reizbar, dabei aber gleichgültig und teilnahmslos. Sein Ge¬
dächtnis habe stark nachgelassen, wie er überhaupt bemerken mußte, daß seine
gesamte geistige Leistungsfähigkeit rapid im Abnehmen sei. Er sei meist schwer
deprimiert, habe die feste Überzeugung „es stimme etwas nicht mehr, er könne nicht
sagen was, aber seit der Operation sei er gänzlich verändert“.
In der Behandlung ergab sich folgendes:
Seine ersten Erinnerungen sind die Schreckensgeschichten, die man ihm im Alter
von vier bis fünf Jahren erzählte. Er hörte viel von Zigeunern und Juden. Beide
hätten es auf die Christenkinder abgesehen. Namentlich die Juden töten Christen¬
kinder, um mit dem frischen christlichen Blut die jüdischen Kinder zu taufen. Über¬
haupt habe er zu Hause viele Schauergeschichten gehört, deren Inhalt aber immer
irgend eine religiöse Färbung hatten.
Mit fünfeinhalb Jahren habe er häufig mit Mädchen gespielt. Das Spiel bestand
im „Abgreifen“. Bei diesem Spiel konnte er bemerken, daß die Mädchen kein Glied
haben. Patient sei über diese Entdeckung zwar nicht erschrocken, habe sich vielmehr
darüber gewundert, ohne sich aber weitere Gedanken zu machen.
Dagegen erinnert er sich sehr deutlich, daß ihn an den Mädchen allmählich das
Fehlen des Gliedes zu interessieren begann. Einmal wurde er bei einem dieser
Spiele von seiner Mutter überrascht. Damals drohte sie ihm: Sein Glied werde ihm
abfallen, wenn er mit diesen Schweinereien nicht für immer aufhöre. Auch diese
Drohung hat angeblich auf den Patienten keinen besonderen Eindruck gemacht.
Trotzdem erinnert er sich sehr genau, daß er von dieser Zeit an eine große Furcht
hatte, abermals von seiner Mutter erwischt zu werden, weil er Prügel bekommen
würde.
Mit sechs Jahren verlor er seinen Vater. Die Erziehung des Patienten sei eine
sehr religiöse gewesen. Seine Mutter habe ihm oft mit dem Krampus gedroht und
auch sonst wurde ihm viel von überirdischen Erscheinungen erzählt, die alle
gegebenenfalls fürchterlich strafen. Die religiöse Erziehung sei bei ihm vornehmlich
so gehandhabt worden, daß man ihm Angst einjagte, und er wisse genau, daß er
noch bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr sehr stark unter diesem Eindruck gestanden
sei. Mit sieben und acht Jahren spielte er mit Mädchen „Vater und Mutter“. Bei
diesem Spiel sei es wiederholt zum früher erwähnten Abgreifen und zum gegen¬
seitigen Zeigen der Genitalien gekommen. Damals habe er bereits gewußt, daß
Vater und Mutter miteinander bestimmt „etwas Ähnliches machen“. Aus dem achten
oder neunten Lebensjahr stammt folgende Erinnerung: Patient kam in die Küche
und wollte weiter in das Zimmer gehen, denn er glaubte, er werde dort den heiligen
Nikolo in vollem Ornate sehen. Dann bekam er plötzlich eine riesige Angst und
traute sich nicht weiter. An mehr könne sich Patient nicht erinnern.
Mit sechzehn Jahren begann Patient zu onanieren. Schon damals machte er
sich darüber große Vorwürfe. Ungefähr um diese Zeit hörte er einen populären
Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen 137
Vortrag über die Schäden der Onanie. Durch die Onanie leide das Gehirn des
Menschen und die Säfte des Rückenmarks gehen verloren. Aus diesem Grund bezog
Patient alle seine Erkrankungen auf die Onanie und machte sich unendliche Vorwürfe,
daß er sich so l e i c htfertig zugrunde gerichtet hätte. Noch mit neunzehn Jahren
hielt Patient an dieser Meinung fest. In diesem Alter hatte er eine Gelenksentzündung
und einen beiderseitigen Spitzenprozeß durchzumachen. Diese beiden Erkrankungen
betrachtete er als die Folgen seiner Onanie, wobei er noch von dem Gedanken
gequält wurde, diese Folgen seien irreparabel.
Patient wurde durch einen seiner Freunde zur Masturbation verleitet. Dieser
Freund war Jude. Als nun dieser Freund zufällig auch eine Gelenksentzündung
bekam, mußte Patient sehr oft an seine Mutter denken, die ihm doch immer gesagt
hat, er solle die Juden meiden, denn von ihnen käme alles Schlechte. Daß er und
sein Verführer an der gleichen Krankheit erkrankten, gab ihm zu denken. Seine
ganze Jugend sei unter dem Zeichen ständiger Furcht und fortwährender Er¬
mahnungen gestanden.
Von allen Erkrankungen, die Patient bisher durchzumachen hatte, sei der
Prostataabzeß die weitaus unangenehmste gewesen. Früher sei ihm das Kranksein nie
so zum Bewußtsein gekommen. „Mit der kranken Lunge konnte ich atmen und
trotz des kranken Ohres konnte ich hören, aber jetzt war das alles anders. Ich hatte
ja kein wirkliches Verlangen nach Sexualverkehr, aber es wurde mir so klar, daß
ich mir ein sexuelles Verlangen gar nicht hätte leisten können. Die Krankheit war
ja nicht besonders gefährlich, aber ich fühlte mich durch sie wie erschlagen.“
Wiewohl man ihm sagte, daß sein Genitale vollkommen gesund sei, machte es auf
ihn einen sehr tiefen Eindruck, daß durch die Erkrankung eines anderen Organs
sein Penis so arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wiewohl er wußte und es von
den Ärzten immer wieder hörte, daß sein Genitale ganz gesund sei, konnte er das
Gefühl vollkommener Verzagtheit nicht los werden.
Namentlich wenn er sich mit dem Dauerkatheter im Bette sah, überkam ihn
eine sehr wehmütige Stimmung. „Es war an einer Stelle meines Körpers, die mir
bisher nie irgendwelche Sorge bereitete, ein ganzer Apparat angemacht.“ Er konnte
sich auch nicht erklären, daß ihm seinerzeit „ein Einstich zwischen die Rippen
(Pneumothorax) lange nicht so berührte wie jetzt das Katheterisieren“. Es machte
auf ihn fast den Eindruck, „daß man lungenkrank viel unverschuldeter werde als
da unten. Das ist so wie eine Strafe“. Es sei ihm oft eingefallen, solche Gedanken
seien wohl ein Unsinn, aber „andererseits stehe es doch fest, daß man mit der
Lunge nicht sündigen könne“.
Auch bei diesem Fall kann besonders darauf hingewiesen werden, daß die
Potenzstörungen nach einer urologischen Operation aufgetreten sind, während die
früher durchgemachten Operationen keine derartigen Folgeerscheinungen hatten. 1
Es würde sicher zu weit führen, die dem Kastrationskomplex zugehörigen
Motive, wie sie die mitgeteilten Krankengeschichten zeigen, im einzelnen
1) Guisy berichtet über verschiedene psychische Störungen, die nach Prosta¬
tektomien aufgetreten sind. Seine Fälle haben aber für unsere Untersuchung kein
besonderes Interesse, weil sie zum Teil senile Individuen betreffen und zum andern
Teil der innersekretorischen Komponente in der Funktion der Prostata eine große
Bedeutung zuschreiben. Die innersekretorische Bedeutung der Prostata ist aber heute
noch zu wenig faßbar, um auf sie vom klinischen Gesichtspunkt näher einzugehen.
138
Ladislaus Fessler
darzulegen. Überdies ist der Kastrationskomplex in allen drei Fällen so
deutlich, daß ein näheres Eingehen darauf ruhig unterbleiben kann, und dies
umso mehr, als ja nicht sein Vorhandensein dargelegt werden soll, sondern
nur die ihn aktivierende Wirkung jener Maßnahmen, die urologischen
Operationen vorangehen, respektive diesen Operationen folgen.
Dagegen scheinen mir noch folgende Momente besonderer Erwähnung wert.
Es entspricht einer allgemeinen ärztlichen Erfahrung, daß der Patient kaum
jemals seinem Arzt vollkommen neutral gegenüb ersteht. Die Beziehung des
Patienten zum Arzt ist fast ausnahmslos nach irgend einer Seite affektbetont
so daß sie entweder eine freundliche oder ablehnende genannt werden muß-
vgl. die Übertragung im Sinne der Psychoanalyse. Die psychoanalytische
Erfahrung hat aber gezeigt, daß der Patient nahezu regelmäßig zum männlichen
Arzt das gleiche Verhältnis findet, das er zu seinem Vater hatte. Auf diese
Weise bekommt der Arzt für den Patienten eine vaterähnliche Bedeutung •
der Arzt wird für den Patienten zum Ersatz der Vaterimago. Im Kastrations¬
komplex ist die Angst vor der Kastration wesensmäßig auf den Vater
konzentriert und es ist ohneweiters klar, daß sich Kastrationsangst auch in
bezug auf die Vater-Ersatzfigur einstellen kann. Diese Übertragung der
Kastrationsangst auf den rezenten Vertreter der Vaterimago erscheint um so
evidenter, als ja in den beschriebenen Fällen der zur Vaterfigur erhobene
Arzt mit dem Genitale des Patienten sehr oft und in einer für den Patienten
sehr eindrucksvollen Weise in Berührung kam.
Im allgemeinen läßt sich zwischen medizinischen Eingriffen und ihren
psychischen Auswirkungen zwanglos die Relation hersteilen, daß die durch
den Eingriff verursachte Unlust für den Erlebniswert des Eingriftes von
außerordentlicher Wichtigkeit ist.
Gemessen an der überragenden Bedeutung, die in unseren Fällen den
urologischen Untersuchungsmethoden (Katheterismus, Zystoskopie, Ureteren-
katheterismus) zukommt, wäre anzunehmen, daß die erwähnten Maßnahmen
ganz besonders schmerzhaft sein müssen. Dies ist aber gar nicht der Fall,
denn die genannten Eingriffe sind bei sachgemäßer Durchführung schmerzfrei.
Es ist demnach nicht der erlittene Schmerz, sondern das in die Unter¬
suchung und Behandlung miteinbezogene Organ, welches für das Versagen
dieses Organes also für die Impotenz — verantwortlich zu machen ist.
Mögen auch bis zu einem gewissen Grade die individuellen Schwankungen
der Schmerzempfindlichkeit bei den verschiedenen Patienten beachtenswert
sein, ich glaube, daß dies keinesfalls das Entscheidende sein kann. Hat doch
keiner der Patienten so sehr die Schmerzhaftigkeit des Eingriffes beklagt als
vielmehr darunter gelitten, daß dieser Eingriff dort vorgenommen wurde,
wo der Patient ein Manipulieren seit jeher als etwas Folgenschweres
gewertet hat.
In den meisten urologischen Fällen ist entweder das Genitale selbst
erkrankt oder das erkrankte Organ ist nur durch das Genitale wichtigen
Maßnahmen zugänglich. Jedenfalls ist es exponiert, d. h. quälenden Prozeduren
ausgesetzt. Für das Erlebnis der Kastration ist es ja belanglos, daß z. B. bei
einer Nierentuberkulose das Genitale im engeren Sinne intakt ist. Für das
Erlebnis gilt der Untersuchungsweg zur kranken Niere fast mehr als diese
selbst, weil ja dabei das Genitale in einer dem Kranken viel augenschein-
*■ Psychogene Potenzstörungen nadi urologischen Operationen 139
, en 'W'eise zum Gegenstand ärztlicher Manipulation wird als das eigentlich
k ankte Organ. Natürlich ist der Umstand von fundamentaler Bedeutung,
*fß r die erwähnten Manipulationen gerade jenes Organ betreffen, welches die
hste Libidobesetzung hat. So wird dem Patienten schon rein äußerlich
offenbar, daß sein Genitale mit der Krankheit auf das engste verknüpft ist.
Daß ^nach Operationen am Genitale und in seiner Nachbarschaft psychische
Impotenz nicht selten auftritt, hat Hitschmann betont. In seiner Arbeit
Phimose und Neurose“ berichtet er, nach Phimose-Operationen psychische
Impotenz beobachtet zu haben.
Auch Oswald Schwarz faßt seine diesbezüglichen Erfahrungen dahin
zusammen, daß eine durchgemachte genitale Erkrankung bei psychogenen
Potenzstörungen die Produktion des Symptoms wesentlich erleichtert.
Über die Bedeutung erkrankter Organe für die neurotische Symptom¬
bildung äußert sich Ferenczi: „Es stellt sich heraus, daß in sehr vielen
Fällen die von der Außenwelt zurückgezogene Libido nicht dem ganzen Ich,
sondern hauptsächlich dem erkrankten oder beschädigten Organe zugewendet
wird und an der verletzten oder erkrankten Stelle Symptome hervorruft, die
man auf eine lokale Libidosteigerung beziehen muß.“ In dieser Arbeit führt
Ferenczi folgendes Beispiel an: „Ein Magenkranker, dessen ganzesinteresse
von der Verdauung in Anspruch genommen war, tat den charakteristischen
Ausspruch: ,daß ihm die ganze Welt schlecht schmeckt, es schien, als sei
auch seine ganze Libido um den Magen zentriert. Vielleicht gelingt es
einmal, die spezifischen Charakter Veränderungen bei organisch Kranken als
Reaktionsbildungen des Ich auf solche Verschiebungen der Libido zurück¬
zuführen. “
In diesem Sinne handelt es sich bei Potenzstörungen nach urologischen
Operationen, streng genommen, gewiß nicht immer um direkt erkrankte,
wohl aber um exquisit „beschädigte“, resp. „verletzte“ Organe, zumindest
aber um solche, die vom Patienten gefühlsmäßig sehr stark in die Sphäre
einer Beschädigung oder Verletzung einbezogen werden.
An dieser Einsicht kann wohl die Annahme zur Sicherheit werden, daß
für das Auftreten von Potenzstörungen nach urologischen Operationen in
erster Linie die endourethralen und endovesikalen Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden wirksam sind, die vor der Operation und in der Nach¬
behandlung Anwendung finden.
Literatur
Ferenczi: Analytische Deutung und Behandlung der psychosexuellen Impotenz
beim Manne. Psych. Neur. Wchschft. X, 1908.
— Hysterie und Pathoneurosen. Int. Psychoanal. Verlag 1919.
— Versuch einer Genitaltheorie. Int. Psychoanal. Verlag 1924.
Freud: Hemmung, Symptom und Angst. Int. Psychoanal. Verlag 1926. (Ges. Sehr.,
Bd. XI.)
Guisy: Fernkomplikationen bei transvesikalen und perinealen Prostatektomien.
Prä- und postoperative Geistesstörungen. Zeitschft. f. Urologie, Jahrgang 1912
Band 6.
140 Ladislaus Fe ssler: Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen
Heinz Hartmann: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Verlag Georg Thieme in 27
Zur Frage der Selbstblendung. Jahrbuch f. Psychiatrie u. Neurologie, Band
Heft 2/3.
Ein weiterer Beitrag zur Selbstblendungsfrage. Jahrbuch f. Psychiatrie u. NeuroWi»
Band 44, Heft 1. g '
Hartmann u. Schilder: Zur Psychologie Schädelverletzter. Archiv f. Psychiatrie
und Nervenkrankheiten, Band 75, Heft 2/3.
Hitschmann: Phimose und Neurose. Zeitschrift f. Psychotherapie, Oktober 1950.
K. Kleist: Postoperative Psychosen. Monographien aus dem Gesamtgebiete der
Neurologie und Psychiatrie, Heft 11.
Pilcz: Postoperative Psychosen. Wr. klin. Wochenschft. 1902, Nr. 36.
J. Sa dg er: Über den Kastrationskomplex. Fortschritte der Medizin, kk. Jahrffan»
Nr. 30 und Nr. 31. 00 8
Neue Studien zur Kastration. Vortrag, gehalten auf dem V. Internationalen
Kongreß für Psychoanalyse in Budapest.
— Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen auf psychoanalytischer Grundlage
Verlag Franz Deuticke 1921. 6
Schilder: Über eine Psychose nach Staroperation. IZfPsA , VIII, 1922.
Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt
der Behandlung
Von
Eduard H i tschmann
Wien
Es ist nun ein Menschenalter her, daß Freuds Traumdeutung das Ver-
ständnis der Träume gebracht hat, aber im allgemeinen beschäftigt sich kaum
jemand mit der Traumwissenschaft. Nur wir Analytiker sind Traumkenner
und Traumdeuter. Nicht die bravouröse Deutung eines einzelnen Traumes ist
unsere Sache, sondern wir haben es mit Serien von Träumen eines Individuums
zu tun, was unsere Sicherheit in der Deutung noch wesentlich erhöht.
Das geringe Interesse der Menge an der Traumdeutung erklärt sich aus
dem asozialen Charakter des Traumes, seinem normalen Vergessenwerden,
seinem Verrat des verleugneten Triebhaften, seinem Versagen in prophetischer
Hinsicht u. a. m.
Ist die Traumsymbolik für den Analytiker ein selbstverständliches Verlä߬
liches Mittel zur Deutung geworden, so bringt der Laie der Anwendung der
viel umfangreicheren Wissenschaft von der Symbolik auf den Traum einen
nur hier mit solcher Respektlosigkeit möglichen VViderstand entgegen.
Es mag daher ein unterstützender Beweis für die Symbolik nicht unwill¬
kommen sein. Details des Traumsymbols können nämlich im Laufe der
Behandlung eines Neurotikers sich entsprechend seinem inneren Erleben ver¬
ändern. Der Eindruck dieser Abhängigkeit vom Erleben gibt dem Symbol
einen erhöhten Wirklichkeitscharakter, Fleisch und Blut, Plausibilität von
überzeugendem Grade.
Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt der Behandlung 141
Vergleichen wir z. B. die folgenden zwei Zahnträume einer wegen Frigi¬
dität behandelten Patientin, den ersteren aus dem Anfang der Kur, den
weiten nahe der Heilung geträumten, so finden wir im ersten Traum den
Männlichkeitswunsch und -stolz noch ganz in Blüte ausgedrückt.
Erster Traum: Ich und Tante und noch jemand betrachten meine
Zähne mit Spiegeln. Der Mund ist viel größer, meine Zähne sind größer als
lei einem Mann, mit vielen Goldplomben und einer Brüche. Ich bin stolz auf
dieses Gebiß , das ich von allen Seiten sehe.
j m Traum der späteren Phase ist die Kastration, die Aufgabe der Männ¬
lichkeit und der Penis-Symbole als halluzinatorische, noch ambivalente Wunsch-
erfüllung dargestellt.
Zweiter Traum: Ich bin beim Zahnarzt wegen Plombieren. Er zog
aber vier bis fünf untere Zähne. Ich bin erschreckt, wehre mich, sehe auf.
Es ist der Analytiker.
Ein dritter Traum, allerdings mit anderer Symbolik, soll uns die Patientin
im Übergangs Stadium zeigen, in der Mitte der Behandlung.
Dritter Traum: Ich hatte neue Schuhe an, sie schlossen sich, wurden
immer größer, ich schenkte sie dem bösen Bruder. Ich traf die Verkäuferin
und beschimpfte sie wegen des Größerwerdens. Dann aber war nur der linke
Schuh der großwerdende.
Es sei nun von den Variationen der Stiegenträume einer gleichfalls vaginal
anästhetischen Patientin berichtet.
Vierter Traum: Ich mußte über eine enge, oben schmäler werdende
Wendeltreppe hinaufgehen, hatte Angst und Schwindel. Oben war ein ganz
enges Stück, über das ich hinüber mußte; mein Kind war voraus, fiel nieder,
blieb mit seinem Kleidchen hängen, ich rettete es.
Am darauffolgenden Tag träumte die Patientin den folgenden Traum
(Leiter statt Stiege).
Fünfter Traum: Der Pelz meines Mannes hing im Vorzimmer, hatte
aber ganz zerfetzte Ränder. Ich stieg auf einer nach oben enger werdenden
Leiter mit Angst und Schwindel hinauf, um aus dem Aufsatzkasten etwas
herauszunehmen; dies sollte zeigen, wie der Pelz meines Mannes hätte repariert
werden sollen. Ich dachte: Jetzt kann mein Arzt doch nicht sagen, daß die
Leiter etwas Sexuelles bedeute. Ich erwachte amüsiert lachend.
Nun lasse ich zwei weitere Träume folgen, welche mehrere Wochen
nachher geträumt sind. Ich verzichte auf jede weitere Deutung und bringe
sie nur als Beispiel der Veränderung von Details am Symbol.
Sechster Traum (Bruchstück): Mein Mann wollte, daß ich auf die
Galerie des Festsaales hinaufgehen solle, die Stiege war breit, aber oben die
Türe verschlossen. Ich mußte zurück und wollte nun über eine Wendeltreppe,
die nach oben schmäler wurde, hinauf Ich zweifelte erst, ob es gelingen
werde, kam aber dann *■erfolgreich hinauf Mein Mann kam nach ... es war
festlich und schön und heiter.
Siebenter Traum (fünf Tage nach dem vorigen geträumt): Es war
auf der Straße, ich glaube in Tunis. Ich flüchtete mit meinem Kinde ängst¬
lich vor schwarzen Arabern in schwarzen Mänteln, die uns verfolgten. Dann
fuhr ich mit der Wiener Elektrischen zu einem alten Haus in die Burggasse;
und so schrecklich und finster ich die hohe Stiege erwartete, so schön war sie
142 E. Hitsdimann: Wandlungen derTraumsymbolik beim Fortschritt der Behandlung
zu meiner Überraschung, und ich hatte im Hause keine Angst mehr . Di e
Stiege -war warm, hell, sc/zorc geputzt und festlich . redete mir zu, es
werde alles gut gehen, und ich kam gut hinauf
Dieser Traum entsprach einem wesentlich vollkommeneren Genuß am
Koitus und der Wahrnehmung eines Orgasmus als Abschluß. Der Traum
mit dem Koitus-Symbol der Stiege ist als ein aus Identifizierung mit
dem Mann entspringender anzusehen, denn er verbindet sich ja mit der
Symbolik der verschlossenen Türe und dem Eindringen in ein Haus. Diese
Fehlidentifizierung mit dem beim Koitus aktiv tätigen Mann entspringt dem
Penisneid und Männlichkeitskomplex der frigiden Frau.
Nach dem gewandelten Symbol der Zähne und der Stiege sei noch
erinnert an einen Wandel am Symbol des Schmuckkästchens, den
ich im Jahre 1911 im Zentralblatt für Psychoanalyse beschrieben habe.
(„Ein Fall von Symbolik für Ungläubige.“) Eine Dame, die schon einmal
dem Hausarzt einen Traum von ihrem „Schmuckkästchen“ erzählt hatte, verriet
ihm die plastische Operation, die sie sich ohne sein Vorwissen zur Verengerung
ihrer Scheide hatte machen lassen, durch Bericht über einen neuerlichen
Traum, in dem sie dem Arzt das „Schmuckkästchen ihrer Kindheit“ vorwies.
REFERATE
Aus den Grenzgebieten
Murray, C. D., Ph. D.: Psychogenic Factors in the
Etiology of Ulcer ative Co litis and Bloody Diarrhea.
Am. J. Med. Sei. Vol. CLXXX., No. 2. Philadelphia. IQ30-
Verfasserin berichtet über Untersuchungen, die zur Aufhellung des Grenz¬
gebietes zwischen Psyche und Soma beizutragen berufen sind. Untersuchungen
dieser Art bilden einen Teil des Programmes der „Constitution Clinic“. Sie
wurden an an ulzeröser Colitis Erkrankten vorgenommen und ergaben engste
Beziehungen zwischen psychischen Konflikten der Patienten und ihrem Leiden.
Diese Beziehungen ließen sich teils aus der Vergangenheit der Patienten
rekonstruieren: aus Koinzidenzien in Lebensgeschichte und Krankengeschichte;
teils aus dem zeitlichen Zusammenfällen des aktuellen Krankheitsausbruches
mit einem psychischen Konflikt der Patienten.
Die der Mitteilung zugrunde liegenden Untersuchungen an zwölf Colitis-
Kranken ergaben die Feststellungen, daß A n g s t ein wesentliches ätiologisches
Moment bei ulzeröser Colitis sei, und daß die Infantilität des Gefühls¬
lebens bei diesen Kranken ausnahmslos vorhanden war, entsprechend der
infantilen Art, mit Diarrhöe auf Angst zu reagieren. Verfasserin erwähnt,
daß Draper and Mc. Graw schon den Charaktertypus des an Magengeschwüren
und Colitis Leidenden fest umschrieben haben, sie aber die von ihnen be¬
schriebenen infantilen Züge nur bei Colitis gefunden habe, während ihrer
Erfahrung nach Magengeschwüre mit einer größeren Reife des Gefühlslebens
einherzugehen pflegen. Als Bestätigung ersterer Behauptung wird die Lebens¬
geschichte der untersuchten sieben Männer und fünf Frauen angeführt, deren
Gefühlsbindung an die Eltern klar zutage trat. So waren „einige dieser
Männer nicht mehr als dreißig Tage ihres ganzen Lebens von der Mutter
entfernt. Keiner war verheiratet** und bei dem größeren Teil von ihnen fiel
der Anfang ihrer Colitis mit dem Konflikt zwischen ihrer Mutterbindung und
dem Wunsch, sich zu verheiraten, zusammen — psychische Wiederholung
ihrer Geburt (!). Von diesen Patienten hatten fünf von sieben nachgewiesener-
weise Geschwüre in der Darmwand, blutiger Stuhl war bei allen ständig
vorhanden 4 . Die fünf Frauen wiesen letzteres Symptom ebenfalls auf, Ge¬
schwüre in der Darmwand waren bei zweien festgestellt worden. Die Ehe-
144
Referate
geschiehten ergaben: bei 1) Verheiratung mit einem Manne gleichen Alter
der ständig im Elternhaus der Frau lebte. Bei 2) Verheiratung mit eine ’
Manne doppelten Alters. Bei dem Versuch, sich von diesem Vaterersatz Iq^
zumachen, brach die Colitis aus. 3) war insgeheim verheiratet. Am Hochzeits
tag bemerkte sie zum erstenmal lange Schleimfäden in ihrem Stuhl. Als nach
zwei Monaten der Tod des Vaters sie ins Elternhaus zurückbrachte und sie
der Mutter ihre Ehe weiter verheimlichte, bemerkte sie nach der Rückkehr
an ihren ständigen Aufenthaltsort Blut und Eiter in ihrem Stuhl. Zu der Zeit
tauchte auch der Verdacht einer Gravidität auf. Als sie nach dreitägigem
Spitalsaufenthalt beschloß, die Mutter von ihrer Verheiratung in Kenntnis 8 zu
setzen, hörte ihre Diarrhöe auf. Bei 4), die verlobt war, verhinderte Colitis
im Dienste ubzv Tendenzen die Heirat. 5) war dem Ehethema gegenüber
derart unzugänglich, daß sich keinerlei Feststellung bei ihr machen ließ!
Bemerkenswert ist, welch ernste Erkrankungsformen in Erscheinung
treten können, bei zeitlichem Zusammentreffen psychischer Konflikte mit dem
Beginn der Krankheitssymptome, besonders bei Vorhandensein eines oder
mehrerer der folgenden Umstände: „1) Wenn der seelische Konflikt tief ver¬
ankert, chronisch oder nicht leicht zu beheben ist. 2) Wenn eine spezifische
Infektion vorliegt (wobei der ungünstige seelische Zustand dem Überhand¬
nehmen der Infektionen Vorschub leisten kann). Und, obwohl schwer zu
bestimmen, müssen wir hinzufügen, wenn 3) das Individuum durch Disposition
irgendwelcher Art, sei es Vererbung, frühe Angewöhnung, allgemeiner körper¬
licher oder nervöser Habitus usw., zu Darmbeschwerden neigt.“ Obzwar keine
regelrechte Psychoanalyse bei Spitalspfleglingen durchführbar ist, suchte Ver¬
fasserin immerhin durch eingehende psychologische Untersuchung der Lebens¬
geschichte und der psychischen Lebenseinstellung der Patienten Gelegenheit
zu psychotherapeutischer Hilfeleistung.
Da in keinem der Fälle eine regelrechte Analyse durchgeführt wurde,
konnte bedauerlicherweise weder die Genese der Angst, die den Zuständen
zugrunde lag, noch auch ihr Zusammenhang mit den auf der Oberfläche
angetroffenen Eheproblemen näher ergründet werden.
Kata Levy (Budapest)
Anschütz, Dr. Georg: Das Farbe-Ton-Problem im
psychischen Gesamtbereich. Deutsche Psychologie, V., 5 .
Carl Marhold, Verlagsbuchhandlung, IQ2Q.
Die Studie zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil erhalten wir eine knappe,
objektiv gehaltene Zusammenfassung über das Synästhesieproblem. Es wird das
Nichtmitwirken des bewußten Denkens, die Analogie von synoptischen Er¬
scheinungen und Traumbildern hervorgehoben, auch auf die in einigen Fällen
mögliche analytische Deutung hingewiesen und besonders die vielseitigen
Arten mit ihren einander widersprechenden Eigenschaften aufgezählt. Der
zweite Teil gibt die Darstellung eines einzigen Falles, ausführlich für den
Systematiker der Symptome, allerknappest für die analytische Erfassung. Es
soll die auftauchende Frage unerörtert gelassen werden, inwieweit die Per¬
sönlichkeit des Darstellers R. pathologisch ist. Mit dem Hinweis auf den
Referate
145
U £ zum Mystischen wäre für die Erklärung noch nichts gewonnen. Viel¬
leicht mehr, wenn man die infantile Geschichte von einer Riesenschlange,
die vor seinen Augen erschossen wurde, weiter verfolgen könnte. Es heißt
auch in dem Protokoll eines Versuches, es kommen Ringe, wie eine Schlange.
Und die Abbildungen sind voll von ringartigen, dann von züngelnden Ge¬
bilden auch Schlangenlinien treffen sich an. Ellipsen gehen in der Ent¬
fernung auseinander und „stellen so Schweife dar“. Klinisch wichtig ist es,
daß die Sichtgebilde im Falle R. jederzeit „erdrückt“ werden können, und
da wirft sich die Frage auf, ob denn unterdrückte Synopsie und Depersonali¬
sation nicht organisch zusammen gehören, wie ich es auf Grund von beob¬
achteten Fällen vermute. Hermann (Budapest)
Hoesslin, J. K.: Die Abstufungen der Individualität.
Beihefte zu den Annalen der Philosophie und philosophischer
Kritik. H. IO. Felix Meiner, Leipzig, 1929.
Zweck des Buches ist, das Schöpferische im Menschen in Analogie mit
dem Schöpferischen in der Natur zu erklären. Als Erklärungsgrundlage gilt
der transzendentale Urgrund des Naturganzen, dessen Auszweigung im Menschen
als Ich-Metaphysisches angenommen wird. Regressive Eröffnungen dieser Ich-
Tiefe ergeben das Schöpferische. Inmitten dieser Abstraktionen kann der Leser
Hinweise auf Freuds Psychologie finden, so in der Lehre von den
„ Wunscherfüll ungsvorgaukelungen“ im Aufbau der peripheren Charaktere.
Und auch außerhalb dieser Hinweise bemerken wir Psychoanalytisches, so in
der Behauptung von der Übertragung von den Zielen auf die sie bedingenden
Mittel, in der Rollenzuweisung für die Liebe, für den „ereinheitlichenden
Prozeß. Natürlich könnte auch umgekehrt auf die Lehre vom Es diejenige
vom Ich-Metaphysischen befruchtend wirken, wäre die letztere nicht durch
und durch philosophische Abstraktion. Schön ist die Durchführung der Tendenz,
alle seelische Umwandlung dem ganzen Ich und nicht einem Ich-Mosaik zu¬
zuschreiben. Hermann (Budapest)
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Mauz, Friedrich (Marburg): Die Prognostik der endogenen
Psychosen. Thieme, Leipzig, IQ 3 °- 121 S.
Es handelt sich um den Versuch, die K r e t s c h m e r sehe Lehre in syste¬
matischer Weise für die Prognostik der Schizophrenie und des manisch-
depressiven Irreseins fruchtbar zu machen. Der Fragestellung entsprechend
rückt dabei der konstitutionelle Gesichtspunkt in den Vordergrund, ohne daß
jedoch das reaktive Moment völlig vernachlässigt wäre. Das Buch ist Ergeb¬
nis weiter und eingehender persönlicher Erfahrung und besonnen in seinen
Schlußfolgerungen. Es wird für jeden, der an dem behandelten Fragenkreis
interessiert ist, notwendig sein, sich mit der Arbeit auseinanderzusetzen.
Das zugrundegelegte Material umfaßt etwa 1500 Psychosen, 1050 Fälle mit der
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/i 10
146
Referate
Diagnose Schizophrenie, 420 Fälle mit der Diagnose manisch-depressives Irre-
sein. Als wesentliches Kennzeichen der schizophrenen Prozeßhaftigkeit gilt
dem Yerf. das Erlebnis des Bedrohtseins des Ich und seiner Einheitlichkeit
das Erlebnis des Individualitätszerfalls, des Verändertseins, des fehlenden Akti¬
vitätsbewußtseins. Die entsprechenden Einzelsymptome sind: Gedankenentzug
gemachte Gedanken, Beeinflussungsgefühl u. ä. Verf. spricht vom „organischen“
Charakter dieser Symptome. Je heller und besonnener solche Symptome auf-
treten, um so sicherer sind sie „prozeßorganisch“ — ein Gesichtspunkt, den
wir auch bei Bleuler finden. Im Verlauf des Prozesses unterscheidet Verf.
zwei Formen: die Katastrophe und den Schub. Die erstere Form ist relativ
selten; ihr Erkrankungsalter liegt um das zwanzigste Jahr herum. Die pyk-
nische Körperbauform fehlt unter den schizophrenen Katastrophen gänzlich.
Übrigens tritt diese Art des Verlaufs bei den „schizokaren“ Fällen (d. h. solchen
die im Kern der Persönlichkeit schizophren „zerfallen“) fast ausschließlich bei
Kranken einer höheren Bildungsschicht auf. Eine ihrer Voraussetzungen auf
dem Gebiete der Persönlichkeitsgrundlagen scheint also ein gewisses Maß von
seelischer Differenzierung zu sein. Im übrigen entspricht die prämorbide Per¬
sönlichkeit dieser Fälle der „hyperästhetisch-autistischen Kerngruppe des
Schizoids 4 (in der Bezeichnung von Kretschmer). In der prämorbiden
Persönlichkeit der katatonen Formen des Katastrophen Verlaufs überwiegen Ein¬
seitigkeit und Starrheit, fehlende Konziliantheit, innere Reizbarkeit; bei den
hebephrenen Formen findet sich ein deutliches „Vorwiegen des Triebhaften“.
Diese drei Gruppen der katastrophalen Verlaufsformen lassen sich auch nach
ihrem Körperbau differenzieren: der schizokaren entsprechen schlanke lepto¬
some und extrem asthenische Formen, der katatonen athletische und kräftig
leptosome, der hebephrenen dysplastische. Der schizophrene Schub kann — im
Gegensatz zur Katastrophe — auch bei pyknischen Konstitutionen auftreten.
Bei den schubweisen Verläufen stehen das paranoide und das paraphrene
Syndrom im Vordergrund. Man darf bei diesen Fällen, wenn sie einmal einen
Schub durchgemacht haben, nicht jedes weitere Manifestwerden schizophrener
Symptomatik als prozeßbedingt ansehen; hier ist ein Punkt, an welchem auch
der Autor das Wirksamwerden psychisch-reaktiver Momente gelten läßt. Für
die Prognose der paranoiden Erkrankungen, für ihre Heilbarkeit oder Unheil¬
barkeit, ist die Intensität des Prozesses von relativ geringer Bedeutung; Tem¬
perament, Triebleben, Milieu spielen hier eine entscheidende Rolle. Unter
dem Material des Autors finden sich 14 Fälle, die nach Art einer „Reaktion“
begonnen haben; nur vier sind in Heilung übergegangen. Als wichtigste
Erlebnisreize — sowohl bei den geheilten wie bei den ungeheilten Fällen —
kommen nach M. religiöse und sexuelle Erlebnisse in Betracht. Die Prognose
der reaktiv beginnenden (und ebenso auch der „ausgelösten“ und der „ver¬
ständlichen“) Schizophrenien ist nicht günstiger als die der „rein endogenen“
Formen. Praktisch wichtig ist auch die rechtzeitige Erkennung etwaiger psycho¬
gener Momente in der Verursachung schizophrener Schübe; hier kann psycho¬
therapeutisches Eingreifen die Prognose günstiger gestalten. Psychogene Schübe
können, nach Verf., sein: Flucht in die Krankheit oder Komplexreaktion. Als
die wesentlichsten Komplexgruppen führt der Autor da drei psychische Gebilde
an, die eine Nebeneinanderordnung in einer Ebene wohl kaum vertragen,
nämlich: Vaterkomplex, Angstkomplex und Insuffizienzkomplex. In der Über-
Referate
147
eit zwischen aktuellem Prozeß und relativ stabilem schizophrenem
® Defekt“ können ebenfalls Außenwelteinflüsse von maßgebender Bedeutung
werden. — Im Rahmen des manisch-depressiven Irreseins ist Verlauf und
Ausgang der periodischen Depressionen, ihr Auftreten oder Ausbleiben nicht
lediglich endogen bedingt. Der Arzt kann hier Einfluß auf die Verlaufspro¬
gnose nehmen. Auch bei den Manisch-Depressiven erweist sich die progno¬
stische Bedeutung des Körperbautypus, u. zw. ist der Konstitutionstypus ent¬
scheidend für die Frage, ob eine tiefere Form der Destruktion der Per¬
sönlichkeit eintreten wird. Psychosen mit echtem pyknischem Körperbau
verlaufen sowohl im schizophrenen, wie im mechanisch-depressiven Formenkreis
vorwiegend günstig. Im prämorbiden Persönlichkeitsbild der Manisch-Depres¬
siven sind hyperthyme und depressive Psychopathien relativ selten; dagegen
findet sich eine Häufung „gesunder unauffälliger zyklothymer Menschen“.
Prognostisch wichtig ist auch die „Tiefe“ der Endogenität, dann aber auch
körperliche Momente (die Disposition der Pykniker zu Arteriosklerose, Rheuma¬
tismus, Diabetes, Gicht ist bekannt). Der Psychotherapie läßt M. bei den
Manisch-Depressiven nur wenig Raum — wesentlich scheint sie ihm nur im
Zeitpunkt des Abklingens der Depressionen zu sein. Er meint, daß länger
bestehende endogene Depressionen nicht selten „durch eine Psychogenie der
seelischen Oberschichten“ kompliziert werden, die psychotherapeutisch ab¬
gebaut werden kann. Wichtig scheint auch die Beobachtung, daß ein völlig
abartiger Körperbau oder besondere körperliche Dispositionen prognostisch
schwerer wiegen, als geringe heterogene Wesenszüge. — Die Welt, aus der
dies Büchlein kommt, ist eine andere als die der Analyse; aber es ist keine
der Analyse feindliche Welt. Es kann auch für den Analytiker fruchtbar sein,
seine (ganz anders gewonnenen und strukturierten) Erfahrungen an den Tat¬
sachen und Überlegungen zu messen, die der Autor ihm vorlegt — und
umgekehrt! H. Hartmann (Wien)
Carp, E. A. D. E.: Über den Anteil der psychoanalytischen
Auffassungen an der Kenntnis der involutiven und
präsenilen Geistesstörungen. Psychiatr. en Neurol.
Bladen, 33» 5* Oktober 1929-
■
Eine dankenswerte Zusammenstellung über ein unseres Wissens von der
Psychoanalyse direkt kaum noch in Angriff genommenes Thema. Da die in
Frage stehenden Psychosen meist unter dem Bilde der Angst, der melancho¬
lischen Depression oder der paranoiden Wahnbildung verlaufen, wird dabei
hauptsächlich das psychoanalytische Wissen über die Mechanismen dieser
drei Syndrome sowie die libidotheoretische Bedeutung des Klimakteriums
und des Rückbildungsalters überhaupt auseinandergesetzt. Die Darstellung
bleibt theoretisch, auf Krankengeschichten wird kaum Bezug genommen.
Aber auch diese theoretische Darstellung leidet darunter, daß neben den
Auffassungen von Freud, Abraham, Ferenczi und anderen Psycho¬
analytikern auch die „Annullierung“ von St ekel, die etwas anderes sein
soll als die „Verdrängung“, herängezogen wird; auch werden verschieden¬
artige Auffassungen von differentem Niveau vielfach systemlos nebeneinander
gesetzt. Dennoch muß es als Verdienst des Autors gewertet werden, die
IO*
148
Referate
psychoanalytische Aufmerksamkeit auf das interessante und (aus begreiflichen
Gründen) allzu vernachlässigte Gebiet der Involutionspsychosen gelenkt zu
haben. F enichel (Berlin)
Steinach, E.: Ein Reizstoff des Zentra I org ans und
die zentrale Funktion. Medizinische Klinik Nr. 33 » I92Q.
Steinach berichtet über neuartige Versuche, die er unter teilweiser
Mitwirkung von H. Kun ausgeführt hat.
Im Jahre 1910 hatte Steinach einwandfrei nachgewiesen, daß es bei
verschiedenen Tieren gelingt, durch Keimdrüsentransplantation eine weitgehende
Veränderung der sekundären Geschlechtsmerkmale und auch des sexuellen
Verhaltens der Tiere zu erreichen. Kastrierte Frösche wurden durch die
Transplantation von Hodensubstanz eines brünstigen Männchens derartig be¬
einflußt, daß sie sich hinsichtlich des Umklammerungsreflexes wie normale
brünstige Männchen verhielten. Das gleiche Resultat konnte auch erzielt werden,
wenn man den Tieren Injektionen von Gehirn-, respektive Rückenmarksubstanz
verabreichte.
Auch die neuen Versuche wurden zum größten Teil an Fröschen aus¬
geführt. Steinach behandelte die Tiere in der Weise vor, daß er ihnen
Hirnpreßsaft oder Hirnextrakt in den Rückenlymphsack injizierte. Die
Kontrolliere wurden zum Teil unbehandelt gelassen, zum Teil wurde ihnen
das gleiche Quantum indifferenter Lösungen injiziert.
St. untersuchte nach dieser Vorbehandlung die Reflexerregbarkeit der Tiere
und zwar nach vorangehender Dekaptivierung. Er prüfte den sogenannten
Wischreflex. Bringt man die Pfote eines dekaptivierten Frosches in eine ver¬
dünnte Essigsäurelösung, so zieht er die Pfote reflektorisch zurück. St. prüfte
den Grad der Reflex er regbarkeit in der Weise, daß er sich eine Verdünnungs¬
skala von Essigsäurelösungen herstellte und untersuchte, bei welcher Ver¬
dünnung noch eine reflektorische Bewegung der Pfote auftrat. St. konnte be¬
obachten, daß die mit Hirnpreßsaft oder Hirnextrakt vorbehandelten Tiere
eine größere Reflexerregbarkeit auf wiesen als die Kontrolliere. Als Ausgangs¬
material wurde Hirnsubstanz verschiedener Tiere verwendet und es zeigte
sich, daß alle versuchten Hirngattungen eine Reflexerregbarkeitserhöhung her-
vorrufen, daß also die Wirkung nicht artspezifisch ist.
Eine weitere Versuchsanordnung wurde in der Weise angestellt, daß
St. untersuchte, wie viele Fliegen in einer bestimmten Zeit von unvorbe-
handelten Fröschen geschnappt werden, und wie viele von den mit oben er¬
wähnten Substanzen vorbehandelten. Es scheint auch da eine erhöhte Reflex¬
tätigkeit durch die Injektionen hervorgerufen zu werden. Jedoch sind die
Resultate da nicht so eindeutig wie bei der Prüfung des Wischreflexes.
Am wichtigsten für uns sind die Schlußfolgerungen, die St. aus seinen
Versuchen zieht. Er stellt die Vermutung auf, daß geistige Unterentwicklung,
Krankheiten des Zentralnervensystems und psychische Anomalien auf einen
Mangel oder einer Mangelhaftigkeit eines von ihm als „Reizstoff“ bezeichneten
Agen$ beruhen könnten. In allen solchen Fällen schlägt er vor, therapeutische
Versuche zu machen, die darin bestehen sollen, den Patienten den „R 3izstoff
in Form von aus Zentralorgan hergestelltem Material zu injizieren.
Referate
149
Als vor Jahren die Steinachschen Hoden-, resp. Ovarientransplantations-
ebnisse mitgeteilt wurden, aus denen hervorging, daß man durch diesen
riff die sekundären Geschlechtsmerkmale und auch das psychosexuelle
Verhalten der Tiere zu maskulinisieren, respektive zu femininisieren im-
tande ist, hegte man die berechtigt erscheinende Hoffnung, daß man da mit
einem Schlage die Therapie der Homosexualität gefunden hätte. Es stellte
sich dies aber nachträglich als großer Irrtum heraus. Die Frage der Homo¬
sexualität konnte von ihrer psychischen Seite her Aufklärung und vielfach
auch Heilung finden, die Heilungen von der organischen Seite schlugen
fehl Es ist ja auch da sehr wahrscheinlich, daß zu den psychischen Erlebnis¬
faktoren noch irgendwelche körperlicher Art hinzukommen, aber offenbar
liegen die Dinge da viel komplizierter, als man ursprünglich vermutete.
Aus diesen Erfahrungen heraus erscheint uns bei den neuerlichen Er¬
gebnissen und den aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen schwerste Skepsis
geboten, besonders wenn man bedenkt, daß hier alles noch viel komplizierter
liegt als bei der Frage der Homosexualität. Unsere Skepsis bezieht sich vor
allem auf die von St. erwähnte Möglichkeit der Therapie psychischer Anomalien
durch Injektion von „Reizstoff“.
Unabhängig von St. wurden an der Bi er sehen Klinik therapeutische
Versuche mit einem aus Hirnsubstanz und Strychnin hergestellten Präparat
gemacht, und zwar an Fällen von Tabes, Paralyse und multipler Sklerose.
Die Ergebnisse lauten günstig; aber wenn man bedenkt, wie intensive Remissionen
bei diesen Erkrankungen auch ohne Therapie auftreten, so muß man sich
auch da zunächst skeptisch abwartend verhalten.
Haberlandt in Innsbruck konnte die Versuchsergebnisse Steinachs an
Fröschen bestätigen. H. L a m p 1 (Berlin')
Künkel, Fritz: Arbeit am Charakter. Friedrich Bahn, Schwerin
i. Mecklenburg.
Wie alle Individualpsychologen, grenzt sich Künkel offen von der kausalen,
naturwissenschaftlichen Psychologie ab. Er steht auf dem Boden einer teleo¬
logischen, von religiösen Vorstellungen stark durchsetzten Weltanschauung, was
sich schon darin ausdrückt, daß er jedem Kapitel eine „Regel an fügt, im
wesentlichen moralische Vorschriften für das praktische Handeln, die er aus
seinen psychologischen Erkenntnissen ableiten zu können glaubt.
Der Autor gliedert sein Buch in vier Abschnitte. Im ersten setzt er die
Grundbegriffe der individualpsychologischen Charakterologie auseinander, die
drei anderen beschäftigen sich mit Erziehung, Selbsterziehung und Heilung.
Der Charakter wird nach der individualpsychologischen Auffassung rein final
durch das „Leitbild“ bestimmt, d. h. durch das Festhalten an irgend einer
narzißtisch betonten Zielvorstellung, wie etwa, „ein Mussolini sein u. dgi.
„Das Ziel der Charakterforschung läßt sich demnach formulieren als die Fest¬
stellung des im Menschen wirksamen Leitbildes, und das Ziel der Charakter¬
beeinflussung stellt sich nunmehr dar als die Veränderung derjenigen Leitbilder,
die sich als unbrauchbar erweisen“ (S. 23). Das „Leitbild ist immer etwas
Einheitliches, auch wenn Ambivalenz der hervorstechendste Zug eines Menschen
150
Referate
sein sollte. Ein ambivalenter Mensch habe eben das Leitbild: ich will auf
nichts verzichten. Es ist evident, wie die finale Betrachtungsweise das Ver¬
ständnis der psychischen Dynamik völlig unmöglich macht.
Ebenso flach und unbefriedigend — ganz abgesehen von dem moralisieren¬
den Schwulst, der die Lektüre des Buches sehr erschwert — ist, was der
Autor über Erziehung und Charakterbildung zu sagen hat. Besonders bezeich¬
nend für die Art individualpsychologischer Gedankengänge ist das Kapitel über
die Geschlechtsreife, wo wörtlich zu lesen steht: „Die geschlechtlichen Fragen
sind bei Kindern zu neunzig Prozent nicht geschlechtlicher, sondern kämpfe¬
rischer Natur. Das Kind ist auf irgend eine Weise in Gegensatz zu den
Erwachsenen gekommen und es benutzt im Kampf um seine Selbstbehauptung
alle Waffen, die sich als geeignet erweisen, und da ergibt es sich bald, daß
die wirksamsten Waffen dem sexuellen Gebiet entstammen“ (S. 65). Also:
Onanie, sexuelle Neugierde und alle anderen Äußerungen des kindlichen —-
übrigens auch des erwachsenen — Sexuallebens sind nicht Auswirkungen von
Trieben, die im Körperlichen wurzeln, sondern sie sind nur Äußerungen des
Machttriebes. ^ „Den Geschlechtstrieb gibt es nämlich nur in der Phantasie
der ,Mutlosen und onaniert wird nur aus Minderwertigkeitsgefühl“ (S. 68
S. 69). Mit dieser Auffassung der Sexualität spricht sich die Individualpsycho-
logie selbst das Recht ab, wissenschaftlich ernst genommen zu werden.
Die individualpsychologische Therapie besteht im wesentlichen in einer
Auflockerung des narzißtischen Überbaus der Persönlichkeit. Auch der Analytiker
muß in den meisten Fällen diesen Überbau zerstören, um seine Patienten
überhaupt analysefähig zu machen. Während aber für den Analytiker dann
erst die wirkliche Arbeit beginnt — nämlich die Behebung von Verdrän¬
gungen und die Befreiung der Libido —, fügt der Individualpsychologe noch
ein wenig Moral und Ermutigung hinzu und ist befriedigt.
Bei der Lektüre individualpsychologischer Werke nimmt es immer wunder,
daß derartige Banalitäten eine solche Popularität genießen können, aber an¬
scheinend verdankt die Individualpsychologie ihre Popularität gerade ihrer
Banalität. . . _ .
Anme Reich (Wien)
Aus der psychoanalytischen Literatur.
Medical Review of Reviews, 412, März 1930, „Psycho-
pathology Number“, herausgegeben von D. Feigenbaum.
Die Redaktion der bekannten amerikanischen medizinischen Zeitschrift hat
von Feigenbaum eine Sondernummer zusammenstellen lassen, um ihre
Leser über psychoanalytische Themen zu informieren. Ein Vorwort von
Freud betont, daß ein solches Unternehmen bei den oberflächlichen Vor¬
stellungen, die die meisten amerikanischen Ärzte über Psychoanalyse haben,
sehr begrüßenswert ist, und wünscht ihm Erfolg. — Feigenbaum stellte
den mitwirkenden Analytikern zwei Themen zur Diskussion: Neurasthenie
und Charakteranalyse. Während das zweite Thema in jeder Beziehung sehr
geeignet erscheint, bleiben Zweifel, ob die Erforschung der Aktualneurosen
Referate
151
eits so weit abgeschlossen ist, daß sie einem analytisch ungebildeten Leser-
k'se klar vermittelt werden kann, und insbesondere, ob dieses Thema gerade
r61 ee ignetste ist, um in die psychoanalytische Gedankenwelt einzuführen.
^Tatsächlich merkt man schon nach der Lektüre einer neutralen historischen
Einleitung von Bunker, die als Verdienst Freuds preist, daß er als erster
aus dem verschwommenen „Neurasthenie“begriff Beards eine nosologische
Einheit herausgearbeitet hat, daß sich die Autoren über deren Wesen noch
keineswegs einig sind. So hebt Wechsler, einig mit Freud in der Be¬
tonung des somatischen Charakters der Neurasthenie, die ganzen Freudschen
Einsichten in die Ätiologie der Aktualneurosen wieder auf, wenn er — ganz
w ie man es vor Freud tat — das konstitutionell-hereditäre Moment in den
Vordergrund schiebt, ohne zu sagen, was wir uns konkret unter einem
solchen Moment vorzustellen haben, und wenn er dann die Ähnlichkeit des
Symptomenbildes mit dem, das bei Erkrankungen der Nebennieren entsteht,
hervorhebt. Das entgegengesetzte Extrem vertritt Brill; er will den Lesern
die gewiß berechtigte Warnung zukommen lassen, bei psychisch unklaren Neu¬
rosenbildern nicht eilfertig „Neurasthenie“ zu diagnostizieren, weil sie sich meist
doch als verkappte Hysterien, Zwangsneurosen oder Psychosen entpuppen;
er geht aber darin so weit, die Existenz libidinös-somatischer Krankheiten
überhaupt zu bezweifeln. — Federn untersucht das bisher kaum beachtete
Gebiet des „neurasthenischen Kerns hysterischer Symptome“. Als „somatisches
Entgegenkommen“, das die Lokalisation konversionshysterischer Symptome
mitdeterminiere, komme neben eigentlich somatischer Veränderung eines Organs
— und häufiger als diese — eine organlibidinöse Veränderung und dadurch
bedingte neurasthenische Sensationen in Betracht. Es komme dann häufig
vor, daß die Psychoanalyse den „Überbau" des konversionshysterischen
Symptoms zum Schwinden bringe, so daß dann der darunterliegende neur¬
asthenische „Kern“ manifest werde. Besonders häufig sei das bei hysterischen
Schwangerschaftssymptomen und bei solchen Symptomen, die mehr den Ab¬
wehrkräften als den sich gegen sie durchsetzenden infantilen Trieben Ausdruck
geben. — Fenichel versucht als notwendige Einleitung zu jedem Studium
aktualneurotischer Probleme eine systematische Darstellung der „Hypothese
der Organlibido“. Leider wird ihr Verständnis durch einige Übersetzungsfehler
erschwert. Es mag noch angehen, wenn „Orgasmus mit ,,organism über¬
setzt erscheint, da der Leser wohl das Richtige erraten wird; völlig verwirrt
muß der Leser aber werden, wenn gerade dort, wo der Gegensatz zwischen
Organ und Organrepräsentanz auseinandergesetzt wird, an Stelle von „Organ
,, organrepresentation 1 steht. — Schilder, dessen Beitrag sich merkwürdiger¬
weise in die zweite Hälfte des Buches, mitten unter die Charakterarbeiten
verirrt hat, gibt eine besonders diesen Aufsatz ergänzende Zusammenstellung
der psychoanalytischen Ansichten über Neurasthenie und Hypochondrie mit
besonderer Hervorhebung der Rolle des „Körperschemas und des sadistischen
und „ Kastrations“gehalts der hypochondrischen Symptome. Dagegen sind die
Ansichten Schilders über die Rolle der „Arbeit in der Ätiologie der
Neurasthenie nicht sehr klar. Es erscheint uns fraglich, ob gerade der „Ge¬
schäftsmann von 40“ zur Neurasthenie prädestiniert sei; Schilder meint,
derselbe hätte in seiner Arbeit so viel (sadistische) Libido investiert, daß
dadurch früher oder später das Sexualleben (die Potenz) gestört werden müsse;
152
Referate
die Sehnsucht, sich vom Geschäftsleben wieder mehr dem Liebesieben zuzu¬
wenden, sei dann der Anlaß der Neurasthenie.
Die Arbeiten zur Charakterfrage werden von einem sehr lesenswerten
zusammenfassenden Artikel von Hedwig S c h a x e 1 eingeleitet, der den gegen¬
wärtigen Stand der psychoanalytischen Charakterforschung skizziert: Er legt
die Erkenntnisse über Libido- und Ichentwicklung dar und verbreitet sich
hauptsächlich über die Über-Ich-Bildung und ihre Schwierigkeiten sowie über
die Beziehung der prägenitalen Organisationsstufen zum Charakter. — Von
den Einzeldarstellungen bestimmter Charakterfehlentwicklungen scheint uns
die von L e w i n über den Zwangscharakter die gelungenste, sowohl deskriptiv
als auch genetisch. Wichtig sind die Hinweise, daß solche symptomfreie
Zwangsneurosen häufig in der Kindheit doch kleine echte Zwangsneurosen
durchgemacht haben, und auf die Erleichterungen, die unsere heutige Kultur
gerade einer Neigung zur Regression auf die anal-sadistische Stufe bietet.
Leider bleibt, was über die Differentialätiologie von Zwangsneurose und
symptomfreiem Zwangscharakter gesagt wird, rein deskriptiv; hier sind noch
wichtige Fragen für künftige Forschung offen. — Im Gegensatz dazu erscheint
die Arbeit über den „hysterischen Charakter“ von Wittels oberflächlich
und unbefriedigend. Sie wird am besten durch kurze Zitate charakterisiert:
„Meine Beobachtungen, die ich bald publizieren werde, haben mich zu dem
Schluß geführt, daß die Entwicklungslinie vom Kind über das Weib zum
Mann geht und über ihn zum desexualisierten, intelligenten Schöpfer, dem
zivilisierten^ Menschen. Der Fixierungspunkt der Hysterie liegt zwischen Kind
und Weib. Der Hysterie fehle das männliche schöpferische Prinzip; sie
bringe Phantasie und Wirklichkeit durcheinander. „Aber der Hysteriker nimmt
Leben, Tod und Selbstmord nicht ernst.“ — Lorand beschreibt als
„reaktive Charaktere“ Menschen, die genau das Gegenteil von dem wurden,
was ihre Triebe oder urspüngliche Idealbildungen von ihnen verlangten. Sie
sind beherrscht von Reaktionsbildungen, immer in Gefahr, doch ins Gegen¬
teil umzuschlagen. Ein Fall wurde in jeder Beziehung das Gegenteil vom
Vater, dem er unbewußt nachstreben wollte, ein weichlich-femininer Mensch
erwies sich als von unbewußten rücksichtslos-draufgängerischen Phantasien
und Idealen beherrscht. — Jones hebt als eine Charaktereigenart den
„Angstcharakter hervor. Nicht jeder ängstliche Mensch soll mit dieser Be¬
zeichnung gemeint sein, sondern nur einer, bei dem „Angsterscheinungen und
Reaktionen gegen dieselben eingebaut sind in die Struktur der Gesamtpersön-
lichkeit“. Über die Angst überhaupt setzt Jones seine bereits an anderem
Orte publizierten, verschiedentlich von Freud abweichenden Ansichten aus¬
einander: Er glaubt nicht an die Existenz einer „traumatischen Angst“, die
sich automatisch in geburtsanaloger Situation einstellt, sondern will auch in
ihr eine Art „Signalangst , d. h. eine Abwehrmaßnahme gegen eine Gefahr
sehen, — und zwar gegen die größte Gefahr, gegen die „Aphanisis“. Während
dieser Teil der Jonesschen Ausführungen nicht sehr einleuchtet, ist es
wieder überzeugend, daß auch die Angst selbst wieder zu einer
Gefahr werden kann, die sekundäre Abwehrmaßnahmen erfordert, was am
Beispiel der verschiedenen Möglichkeiten der Schichtung von Angst, Haß und
Schuldgefühl gezeigt wird. — Alexander setzt seine dem deutschen
Leser schon bekannten Ansichten über die nosologische Einheit „neurotischer
Referate
153
Charakter“ und ihre Unterkategorie „krimineller neurotischer Charakter“
useinander, gibt dafür Beispiele und zeigt die praktische, besonders forensische
Bedeutung einer besseren psychopathologischen Erfassung der hierher gehörigen
_ Healy anerkennt die Bedeutung der Psychoanalyse für das Ver¬
ständnis der Kriminalität, warnt aber vor jeder Einseitigkeit, z. B. vor der
Meinung, jeder Verbrecher sei ein solcher aus Schuldgefühl. Es gäbe unendlich
viele Typen und gerade erst die Psychoanalyse ermögliche uns die Einsicht
in die reale Mannigfaltigkeit, die auch an einigen mit psychoanalytischem
Blick gesehenen Fällen demonstriert wird. — Ein Schlußbeitrag von Feigen¬
baum gibt die Geschichte zweier „paranoider Verbrecher , d. h. von
Menschen, die unanalytisch einfach als „Psychopathen“ bezeichnet worden
wären deren Verwandtschaft mit der Paranoia aber nicht nur der Nachweis
paranoider Mechanismen (Projektion), sondern auch der Nachweis der für die
paranoiden Krankheiten charakteristischen unbewußten Inhalte (Narzißmus
und Kampf gegen latente Homosexualität) beweist. Es sind Menschen, die
unter widrigen Umständen an einer paranoiden Psychose erkranken könnten,
oder solche, die sich die Psychose eben durch ihre Kriminalität ersparen.
Das Büchlein ist gewiß für den Psychoanalytiker interessant, für den
psychoanalytisch Unorientierten ein Ansporn, sich eingehender mit der Psycho¬
analyse zu befassen. Ein Ersatz solchen Befassens kann und will es nicht sein.
F e n i c h e 1 (Berlin)
Meng, Heinrich: Angstneurose undSexualleben. Deutsche
Ärzte-Zeitung. LV., 176, September IQ2Q.
Nach einer ausführlichen Darstellung der Freud sehen Ansichten über
Aktualneurosen im allgemeinen und über Angstneurose im speziellen werden
die wichtigsten kritischen Einwände gegen diese Ansichten besprochen und
widerlegt und schließlich dargetan, welche Bedeutung das diesbezügliche Wissen
für den Praktiker hat. Der Autor berichtet dabei über Erfolge durch einfache
hygienische und medikamentöse Maßnahmen und betont, daß beim Aus¬
bleiben des therapeutischen Erfolges entweder eine übersehene organische
Krankheit oder eine Psychoneurose vorliege, die psychoanalytischer Behandlung
bedürfe. F e n i c h e 1 (Berlin)
Feigenbaum, Dorian: An Introduction to the Study of
Psychoanalytic Diagnosis. Structure of a Gase of Gamo-
phobia. PsA, Review XVII, Juli 193°-
„Gamophobie“ nennt Feigenbaum die phobische Vermeidung der Ehe. Es
handelt sich um eine verheiratete Patientin, die im eigenen Haushalt solche
Angstzustände bekam, daß sie vorzog, bei ihrer Mutter zu wohnen. Die
wesentliche unbewußte Grundlage dieser Neurose war in einer frühzeitigen
Verführung gelegen, die die Abwehr des Ödipuskomplexes in Form einer
Identifizierung mit dem Vater und einer Hinwendung zur Homosexualität
(zur Liebe zur Mutter) bewirkt hatte. — Dieser Fall wird nun dazu benutzt,
154
Referate
um an Hand des genauen Berichtes der ersten sieben Analysenstunden
zeigen, wie weit der Analytiker aus dem Benehmen des Patienten in den
ersten Stunden die unbewußten Inhalte (Fixierungspunkte) und Mechanismen
zu durchschauen vermag, um eine „psychoanalytische Diagnose“, d. h. die
Erkenntnis eben der prävalenten Fixierungen und Mechanismen, zu stellen
Es mag an den Schwierigkeiten liegen, die ersten allgemeinen Eindrücke
die man in der Analyse vom Patienten bekommt, in so knapper Form
genügend wiederzugeben, wenn die wahrscheinlich richtigen Konklusionen
des Autors den Leser durchaus nicht immer überzeugen können.
F e n i c h e 1 (Berlin)
Roellenbleck, Ewald: Das psychoanalytische Schrift¬
tum. Hefte f. ßüctereiwesen, XIV., 3—5.
In der Zeitschrift der „Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Bücherei¬
wesen berät Roellenbleck die Leiter von Volksbibliotheken über die
psychoanalytische Literatur. Seine ausgezeichneten Ausführungen, die nicht
nur von einer genauen Kenntnis und einem tiefen Verständnis der gesamten
Literatur zeugen, sondern auch von einem genauen Durchdenken der Fragen
nach relativer Bedeutung und Verständlichkeit der einzelnen psychoanalytischen
Bücher, soweit sie für volkstümliche Bibliotheken in Betracht kommen,
sind ergänzt durch „Bücherliste und Anschaffungsschema“. — Wenn wir
hören, daß die Herausgeberin der Zeitschrift eine der wesentlichsten Organi¬
sationen zur Förderung des außerschulmäßigen Bildungswesens ist, und daß
Leserkreis sich nicht auf Deutschland beschränkt, sondern sich in allen
deutschsprachigen Ländern findet, werden wir erst die höchst dankenswerte
Arbeit Roellenblecks entsprechend würdigen. F e n i c h e 1 (Berlin)
Oberndorf, C. P.: Technical Procedure in the Ana-
lytic Treatment of Children. Int. Journal of PsA., XI, I.
Die Arbeit beschreibt einen technischen Kunstgriff, um störrische und
unzugängliche Kinder für die analytische oder analytisch-pädagogische Arbeit
zu gewinnen. Die Fürsorgerin Julia Goldman, die Oberndorf als
Erfinderin des Kunstgriffes nennt, pflegt bei der Behandlung unzugänglicher
Asozialer die Situation zwischen Kind und Erzieher gleichsam umzukehren,
indem sie sich schwach und hilfsbedürftig, z. B. krank, stellt, also nicht mehr
helfende Mutter, sondern hilfsbedürftiges Kind spielt. Daraufhin benimmt sich
das Kind als Mutter, projiziert in die kindspielende Erzieherin seine eigenen
Tendenzen und verrät sich, indem es die eigenen Motive der Erzieherin
zuschiebt. Später stellte sich heraus, daß zur Erreichung solchen Erfolges
nicht nötig sei, sich krank zu stellen; es genügt, zu sagen, man sei müde, sich
passiv auf ein Sofa zu legen und alles übrige der Initiative des Kindes zu
überlassen. Ähnliche kleine Kunstgriffe sind in Kinderanalysen sicher schon
wiederholt angewendet worden und es ist ein Verdienst Oberndorfs, sie
ausdrücklich als solche beschrieben zu haben. Fenichel (Berlin)
Referate
155
Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften
Zweite Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in
Dresden vom TJ. bis 2Q. September 1930.
Die Absicht der Dresdner Tagung, die Errungenschaften unserer Wissen¬
schaft vor einem Publikum von psychoanalytischen Laien darzulegen, ist
vollauf gelungen. Das ist in erster Linie dem Vorsitzenden und dem Sekretär
der Tagung — Max Eitingon und Felix Boehm — zu verdanken, die
ein Programm zusammenbrachten, das wissenschaftlich keine Konzessionen
machte und das doch in dieser würdigen Form ein lernbereites Publikum
vom Anfang bis Ende fesselte und überzeugte.
In diesem Sinne begrüßte Eitingon (Berlin) die Teilnehmer: immer
wieder tauche der Vorwurf der Einseitigkeit gegen Freud und seine Schüler
auf* aber der Forderung an die Psychoanalyse nach Neuorientierung, die
heute in erster Linie aus der geisteswissenschaftlichen Atmosphäre des an den
Hochschulen Mode gewordenen psychologisch-medizinischen Betriebs stamme,
halte unsere Wissenschaft mit ruhigem Gewissen ihre seit Anbeginn konsequent
eingehaltene Methodik entgegen, die von jeher beherrscht sei vom Grund¬
gedanken einer Gesamtschau der Person. Wir haben bisher keine Ursache
gehabt, jenen Vorschlägen nachzukommen. Dagegen vermögen wir festzustellen,
daß die übrige Wissenschaft sich immer mehr den psychoanalytischen Grund¬
anschauungen nähert.
13 wissenschaftliche und 4 populäre Vorträge entwarfen ein reiches, wenn
auch nicht lückenloses Bild vom Stande der psychoanalytischen Wissenschaft.
Der erste Vormittag war der theoretischen Grundlegung Vorbehalten.
Seine Aufgabe, den Hörern die Bedeutung des Ödipuskomplexes darzulegen,
löste er vollkommen. Besonders eindrucksvoll war der Auftakt durch den
Vortrag von Felix Boehm (Berlin), „Zur Geschichte des Ödipuskomplexes“,
der diesen so oft mißverstandenen seelischen Inhalt aus einem reichen und
neuen Zusammenhang heraus entwickelte. Er wies seine Vorstufen in der
Ethnologie und Mythologie nach und ließ den Ödipuskomplex, wie ihn die
griechische Ödipussage darstellt, auf diesem Hintergrund als den für unsere
Kultur gültigen Sonderfall erscheinen.
Otto Fenichel (Berlin) greift an dieser Stelle das Thema auf. Sein
Vortrag „Spezialformen des Ödipuskomplexes“ prüft diesen auf seine indivi¬
duellen entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen hin und arbeitet die ihm
zugrunde liegenden spezifischen Triebschicksale übersichtlich heraus.
Wilhelm Reich (Wien) schließt daran seinen Vortrag über „Psychoanalyse
und Charakterbildung“. Klar, schematisch (zu schematisch vielleicht) leitet
er die Entstehung des „ Charakterpanzers " aus dem Konflikt zwischen Sexual¬
trieb und Außenwelt her, der im Untergang des Ödipuskomplexes seinen
Gipfel und Abschluß findet, und zeigt den graduellen, nicht prinzipiellen
Unterschied von neurotischem und nicht neurotischem Charakter auf.
Der Vormittag des nächsten Tages ist zum größten Teil der medizinischen
Psychoanalyse gewidmet. Ein einleitendes Referat von Sändor R a d ö („ Die
psychoanalytische Therapie und das Publikum“) behandelt die merkwürdige
156
Referate
Tatsache, wie sehr selbst Gebildete (wenn nicht auch Ärzte) noch dazu
neigen, die Leistungsfähigkeit der analytischen Therapie nach dem „Alles
oder-Nichts“-Gesetz des infantilen Narzißmus zu bewerten: man holt sich
durch Übersteigerung der Ansprüche die unvermeidbare Enttäuschung Un( j
zieht sich schließlich auf eine trotzige Ablehnung zurück. Nur geduldige
Aufklärungsarbeit könne unseren Bemühungen jenen Respekt verschaffen, den
das Publikum der Körpermedizin heute schon entgegenbringt, bereit, ihre
Grenzen anzuerkennen und auf ihren allmählichen Fortschritt zu vertrauen
Der junge analytische Therapeut aber müsse davor gewarnt werden, die
Allmachtserwartung seiner Klienten in dieser oder jener Form mitzumachen
Die Ausführungen von Jenö Härnik (Berlin), „Therapie der Homo¬
sexualität“, enthalten Wichtiges und Neues über die Indikation und zeigen eine
elastisch angewandte Technik an zwei Fällen mit praktischen Heilresultaten
Ernst -Simmel (Tegel) begründet in einem Vortrag über die „Süchte“
die Wichtigkeit der Charakterumstimmung des Süchtigen, die dazu führe, daß
die Tendenz zum „Lustselbstmord“ aufgegeben werde. Er begründet seine
therapeutischen Überlegungen mit problemreichen theoretischen Gedankengängen.
Hans Christoffel (Basel) stellt in seinem Vortrag „Psychoanalyse und
Medizin das fesselnde Problem der aktualneurotischen Symptomatik in den
weiten Zusammenhang der Wechselbeziehung von Psyche und Organismus.
Seine Ausführungen über die Funktion der unwillkürlichen, beziehungsweise
der willkürlichen Muskulatur als Träger, beziehungsweise Abfuhrorgan
libidinöser Spannungen versprechen die Basis weiterer fruchtbarer wissen¬
schaftlicher Erhebungen zu werden.
Die Beziehung zur Biologie knüpfte der Vortrag von Michael Bälint
(Budapest) „Über einige psychosexueile Parallelen zum biogenetischen Grund¬
gesetz . Es handelte sich um den Versuch, die Fortpflanzungsweise niederer
Organismen mit den Stadien der frühkindlichen Libidopositionen in Parallele
zu setzen. Trotz gut gewählter Beispiele blieb der Eindruck, daß man auf
diesem Wege niemals über Analogien von fragwürdigem Wert hinaus gelangen
könne. Derartige Untersuchungen können der Tatsache nicht gerecht werden,
daß die beiden in Vergleich gesetzten Erfahrungsgebiete durch inkommen¬
surable Methoden der Erkenntnis zugänglich sind.
Einen grundsätzlichen Vorstoß ins Gebiet der Soziologie machte Erich
Fromm (Heidelberg), dessen Vortrag „Anwendung der Pyschoanalyse auf
die Soziologie" eine methodologische Klärung und Umgrenzung der psycho¬
logischen Aufgabe in der Soziologie darstellte.
Der Vortrag von Karl Landauer (Frankfurt a. M.) „Das Individuum
und seine Gemeinschaften“ stellte einen spekulativen Beitrag zur Frage der
Hordenbildung dar, die er als Gegensatz zur patriarchalischen Sippe aufgefaßt
wissen will.
Hugo Staub (Berlin) betont in seinem Vortrag „Psychoanalyse und Straf¬
recht“ den hohen Wert, den die Psychoanalyse für das Verständnis des Ver¬
brechers hat. Denn nicht das Verbrechen, der Verbrecher als Individuum hat
den modern eingestellten Strafrechtler zu interessieren.
Die Gedankengänge von Carl Mülle r-B raunschweig (Berlin) über
„Psychoanalyse und Weltanschauung“ stützen sich darauf, daß die Psycho¬
analyse durch ihre Erforschung des Unbewußten die Menschen von der Hybris
Hegemonie des Bewußtseins und der Willensfunktion befreie. Damit
elner , no twendig den Boden für eine neue Wertlehre vor.
6 t Schnei der (Stuttgart) weist in seinem Vortrag „Begriffsbildung
Pchoanalyse und Psychologie“ an Hand der wissenschaftlichen Namen-
^bunen die fundamentale Lebendigkeit der Psychoanalyse gegenüber der
Schulpsychologie nach.
Die Reihe der öffentlichen Vorträge wurde eingeleitet durch Heinrich
Mens (Frankfurt): „Seelische Hygiene auf psychoanalytischer Grundlage.“
Auf einen Überblick über die Errungenschaften der Psychoanalyse baute er
Richtlinien für eine moderne psychische Hygiene auf.
Ihm folgte der Vortrag von Karen Horney (Berlin) „Das Mißtrauen
wischen den Geschlechtern“, der inhaltlich und rhetorisch eine hervor-
Z a <rende Leistung war: Zwischen Mann und Frau besteht ein letzten Endes
biologischer und darum jenseits der Werturteile stehender Konflikt. Wo er
nicht im letzten Grunde erkannt wird, werden die Tatbestände verfälscht.
Das gilt auch für die Bildung jener wissenschaftlichen Theorien, die sich mit
dem Problem des Geschlechtsunterschiedes befassen.
Der zweite öffentliche Abend begann mit dem hinreißenden Vortrag von
August Aichhorn (Wien) „Aus der Erziehungspraxis des Fürsorgeerziehers“.
Aichhorn brachte auch in diesen Ausführungen wieder die Leistung zu¬
stande, die lebendige Wirklichkeit unmittelbar in der ganzen erschütternden
und zwingenden Einfachheit erscheinen zu lassen, in der sie gesunder
Menschenverstand sieht. Die wissenschaftlichen Hintergründe, nirgends hervor¬
gehoben, gaben doch dem Gesagten jenen Gehalt, der auch leichtem Erzählen
unversehens Gewicht verleiht. K
Der Vortrag von Georg Groddeck (Baden-Baden) „Der Struwwelpeter
gab sich auf den ersten Blick als ziellose Freude am Deuten. Aber seine bei¬
nahe absichtlich jede psychologische Übersicht vermeidende, ganz auf intuitive
Kombination der Sexualsymbole abgestellte Art schien mehr darauf angelegt,
das Publikum zum Protest zu bringen als es zu überzeugen. Oft eröffneten
sich zwar unversehens unerhört weite Zusammenhänge. Sie konnten aber, in
dieser Form vorgebracht, wohl das Herz eines psychoanalytisch Gebildeten
erfreuen, dem psychoanalytischen Laien mußten sie grotesk erscheinen. Es
war unvermeidlich, daß der Vortrag durch seine formale Eigenart das Pu¬
blikum vor den Kopf stieß und die Aufmerksamkeit jener Presse auf sich
zog, die sich keine „Gelegenheit“ entgehen läßt, die Psychoanalyse zu
verhöhnen. B a 11 y (Berlin)
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
Dr. Hanns Sachs 50 Jahre
Wir Analytiker haben gewiß viele der Mängel, die Menschenwesen anhaften
können; unsere Mängel rühren nicht zum kleinsten Teil daher, daß wir einem
Gruppengebilde angehören, das unter besonders schwierigen soziologischen
Bedingungen sich entwickelt hat und seither unter noch nicht ganz veränderten
Bedingungen weiter existiert. Dieser Umstände, wie auch einiger anderer in
dieser Richtung gehender Dinge, uns durchaus bewußt, müssen wir andererseits
aber auch betonen, daß wir der Tugenden nicht ganz entbehren, darunter
besonders der der Anerkennung und Dankbarkeit für ältere Brüder, die früher
auf dem Kampffeld aufgetaucht sind, und von denen wir zu kämpfen und
vor allem zu wissen gelernt haben.
Ich möchte jetzt auf einen kurz hinweisen, der seit zehn Jahren der Lehrer
von vielen unter uns Berlinern gewesen ist, der aber auch weit über Berlin
hinaus bekannt und geschätzt ist in der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung. Es ist Dr. Hanns Sachs, der vor einigen Tagen 50 Jahre alt
geworden ist. Ich möchte ihm im Namen der Deutschen Psychoanalytischen
Gesellschaft und im Namen unserer Internationalen Psychoanalytischen Ver¬
einigung Glück wünschen, und wir werden ihm da hoffentlich etwas wünschen,
wozu der Kluge und Skeptische viel Talent hat. Er hat überhaupt viel Talent,
unser Hanns Sachs. Aber bei dieser Gelegenheit wollen wir ihm vor allem
auch danken für das, was er für uns hier getan hat und für unsere Arbeit
mit uns, und da haben wir Berliner gerade ihm für sehr vieles zu danken.
Hanns Sachs ist am 10. Jänner 1881 geboren; er hat das Gymnasium
besucht. Er soll ein brillanter Schüler gewesen sein.
Korrespondenzblatt
159
Sehr charakteristisch ist Sachs’ Verhalten zur Arbeit: er, zu dessen ber¬
atendsten Eigenschaften es wohl gehört, daß er nicht müssen mag und
Tl edessen auch nicht den Arbeitszwang mag, ist einer der stärksten Arbeiter
111 ° g uns un d macht das so leicht und mühelos, als ob er nichts lieber täte,
un . in unseren Berliner Lehrveranstaltungen übernimmt er vielseitigst, worum
^an ihn recht bittet, es unformal, lässig-elegant und mit großem didaktischem
Geschick ausfuhrend.
Sachs beendet 1899 das Gymnasium, studiert Jus, wird 1904 Dr. jur. und
k k Hof- und Gerichtsadvokat, taucht 1909 in der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung auf, kommt 1910 bereits in den Vorstand derselben. 1930 sehen
-wir ihn dann wieder in einem Gruppenvorstand, dafür aber an hervorragender
Stelle in unserem eigenen Berliner.
1918 erleidet Sachs einen körperlich gesundheitlichen Zusammenbruch
gerade während des V. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in
Budapest. Die unter uns, die dort gewesen sind, wissen, daß er während der
Kongreß Verhandlungen schwer darniederlag an den Folgen einer Lungenblutung.
Er übersiedelt in die Schweiz, nach Davos, wo er zum Glück sich recht rasch
erholt, lebt dann in Basel und Zürich, wo er mit großem Erfolg zur analytischen
Behandlungs- und Lehrtätigkeit übergeht. In dieser letzteren Eigenschaft riefen
wir ihn nach Berlin Ende 1920. Diese fruchtbare und verantwortungsvolle
Tätigkeit Sachs’ hat das Gesicht der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
mitbestimmt und erstreckt sich auch weit über die Grenzen Berlins hinaus.
Werfen wir rasch einen Blick auf Sachsens wissenschaftlich-literarische
Betätigung. Ohne zu denen zu gehören, die besonders viel schreiben, hatte
Sachs immer etwas Wesentliches zu sagen, meist Anregendes, oft Bleibendes.
1910 erschienen seine „Soldatenlieder von Kipling“, bald darauf, gemeinsam
mit Rank, „Über die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften“
in der Loewenfeldschen „Sammlung der Grenzfragen“. Ab 1921 die „Elemente
der Psychoanalyse“, dann die „Ars amandi psychoanalytica“, dann die
„Gemeinsamen Tagträume", „Bubi, die Lebensgeschichte des Caligula“,
die, Sachsens große Vorliebe für die Kaiserepoche der römischen Geschichte
zeigend, seine stupende Kenntnis des Materials verrät und die ganze Grazie
seines Schreibens. Eine Eisenbahnfahrt Wien—Berlin wird mir immer gern im
Gedächtnis bleiben, auf welcher ich einen großen Teil des Manuskripts
gelesen habe. Ein jüngst englisch erschienenes Büchlein von Sachs, „Does
Capital Punishment exist“ ist mir noch nicht zugänglich gewesen.
Sachs gehörte zu den Anregern der Gründung der „Imago und ist seit
Beginn derselben einer ihrer Redakteure. Er hat eine große Reihe von
Aufsätzen in unseren beiden Zeitschriften veröffentlicht, der wissenschaftlich
hervorragendste von ihm ist wohl der „Zur Theorie der Perversionen ;
höchst anregend sind seine Analysen literarischer Wbrke. Es ist so schön an
ihm, daß er Shakespeare so gut kennt. Sehr groß ist die Zahl der von
Sachs an verschiedensten Stellen in verschiedenst großer Öffentlichkeit gehaltenen
Vorträge. Ein großer Freund der neuesten darstellenden Kunst, des Films,
hat Sachs mit Abraham zusammen die „Geheimnisse der Seele viele, sehr
viele Menschen sehen lassen.
Und so wünschen wir denn Hanns Sachs noch gute lange Jahre au jardin
d 1 Epicure, uns allen und unserer Sache zu Nutzen. Dr. M. Litingon
i6o
Korrespondenzblatt
Mitteilungen des Zentral Vorstandes
I) XII. Internationaler Psydioanalytisdier Kongreß
Nach Beschluß des XL Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in
Oxford soll der nächste Kongreß in der Schweiz stattfinden. Nach Beratung
mit dem Vorstand der Schweizer Gruppe und im Einvernehmen mit den
Zweigvereinigungen hat der Zentralvorstand Interlaken als Kongreßort
gewählt und als Zeit den 7. bis 10. September, im Anschluß an die unmittelbar
vorher in Bern stattfindende Tagung der Internationalen Neurologischen Gesell¬
schaft. Wir bitten die Mitglieder der einzelnen Gruppen der I. P. V, } Vor¬
tragsanmeldungen möglichst rechtzeitig, spätestens zum 1. April, an den Unter*
zeichneten gelangen zu lassen, gleichzeitig mit einer konzisen Inhaltsangabe
des zu haltenden Referates. Die weiteren Nachrichten über den Kongreß
werden den Gruppen in Rundbriefen an die Vorstände derselben zugehen.
II) Gründung einer japanischen Gruppe und ihre Aufnahme
in die I. P. V.
Im Frühjahr vergangenen Jahres hat sich in Tokio eine Psychoanalytische
Vereinigung die Nippon Seishin-Bunteki Gakukai , Japanische Psycho¬
analytische Gesellschaft gebildet, als erster Niederschlag der Bemühungen
einer um den Herrn Y. K. Y a b e zentrierten Gruppe von Menschen, welche
eifrigst dem Studium der Psychoanalyse oblagen. Sie besteht aus Ärzten,
Psychologen und Schriftstellern. Die Mitglieder sind folgende:
A s a b a, Takeichi, Dr. med. ;
Mawatari, Kazue, Dr. med.;
Nagata, Hideo, Dramatiker;
O t s u k i, Kenji, Graduierter der Waseda Universität;
Tsuskima, Kwanji, Dr. med., Sekretär;
Y a b e, Yae-Kichi, A. B., Präsident .
Sie haben bereits eine Reihe von Werken Freuds ins Japanische übersetzt.
Mit unermüdlichem Eifer werden Kurse veranstaltet, Gelegenheiten zur syste¬
matischen Erlernung der Psychoanalyse gegeben. Der Zentralvorstand hat die
Gruppe auf Ansuchen ihres Vorsitzenden, Herrn Yabe — den bei seinem
mehrmonatigen Aufenthalt in Europa im Frühjahr vergangenen Jahres kennen
zu lernen die Londoner und Berliner Gruppe das große Vergnügen hatten —
provisorisch aufgenommen; über ihre endgültige Aufnahme wird statutengemäß
der nächste Kongreß entscheiden.
Dr. M. Eitingon
Zentralprasldent
■
.
'
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XVII, Heft I
(Ausgegeben im Februar 1930
Seite
Max Kitingon: Über neuere Methodenkritik an der Psychoanalyse.. 5
Felix Boehm: Zur Geschichte des Ödipuskomplexes. . 16
Otto Fenichel: Spezialformen des Ödipuskomplexes. 37
Wilhelm Reich: Die charakterologische Überwindung des Ödipuskomplexes. 55
H. Christoffel: Psychoanalyse und Medizin in ihren Beziehungen zur Angstneurose ... 72
A. Kielholz: Giftmord und Vergiftungswahn •••••.. . 85
Jakob Hoffmann: Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst ....... 99
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Ladislaus Fessler: Psychogene Potenzstörungen nach urologischen Operationen .125
Eduard Kitschmann: Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt der Bf Handlung . 140
REFERATE
Aus den Grenzgebieten:
Murray: Psychogenic Factors in the Etiology of Ulcerative Colitis and Bloody Diarrhea
{Levy) 143. — Anschütz: Das Farbe-Ton-Problem im psychischen Gesamtbereich
(Hermann) 144. — Hoesslin: Die Abstufungen der Individualität (Hermann) 145.
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur:
Mauz: Die Prognostik der endogenen Psychosen (Hartmann) 145. — Carp: Über den
Anteil der psychoanalytischen Auffassungen an der Kenntnis der involutiven und präsenilen
Geistesstörungen (Fenichel) 147. — Steinach: Ein Reizstoff des Zentralorgans und die
zentrale Funktion (Latnpl) 148. — Künkel: Arbeit am Charakter (A. Reich) 149.
Aus der psychoanalytischen Literatur:
Medical Review of Reviews „Psychopathology Number“ (Fenichel) 150.— Meng:
Angstneurose und Sexualleben (Fenichel) 153. — Feigenbaum: An Introduction to the
Study of Psychoanalytic Diagnosis (Fenichel) 153. — Roellenbleck: Das psychoanaly¬
tische Schrifttum (Fenichel) 154. — Oberndorf: Technical Procedure in the Analytic
Treatment of Children (Fenichel) 154.
Tagung en wissenschaftlicher Gesellschaften:
Zweite Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden vom 27. bis
29. September 1930 (Bally) 155.
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Dr. Hanns Sachs 50 Jahre (Eitingon) 158. — Mitteilungen des Zentralvorstands. I) XII. inter¬
nationaler Psychoanalytischer Kongreß 160. — II) Gründung einer japanischen Gruppe und ihre
Aufnahme in die I. P. V. 160.
Mit diesem Heft beginnt der Jahrgang 19)1 (XVII. Band)
Abonnement 1931 (4 Hefte) Mark 28.-
Alle diese Zeitschrift betreffenden redaktionellen Zuschriften und Sendungen bitte zu richten an
Dr. Sandor Radö, Berlin-Grunewald, Ilmenauer Str. 2
alle geschäftlichen Zuschriften und Sendungen an:
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, In der Börse.
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, I., Börsegasse 11. — Herausgeber:
^ r ‘ ^* KrT V Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Adolf Josef Storfer, Wien, I., Börsegasse 11. — Druck:
Elbemühl Papierfabriken und Graphische Industrie A. G., Wien, III., Rüdengasse 11. (Verantwortlicher Druckereileiter:
Karl Wrba, Wien.)