Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
XVII. Band
1931
Heft 2
Kinderanalysen mit Erwadisenen
Festvortrag, gehalten anläßlich des fünfundsiebzigsten Geburtstages von Professor Freud in
der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung^' am 6. Mai IpJI
Von
S. Ferenczi
Budapest
I
Meine Damen und Herren !
Es bedarf einer Erklärung oder Entschuldigung, daß in einer Ver-
einigung, in deren Mitte so viele Würdige und Würdigere dieses Amtes
walten könnten, gerade ich, ein Fremder, zum Redner unserer heutigen
Feier erkoren wurde. Die Anciennität allein, die 35 Jahre, die ich an der
Seite des Meisters und unter seiner Führung erleben durfte, macht es
nicht aus; sitzen doch in Ihren Reihen Kollegen, die ihm noch länger
als ich treue Gefolgschaft leisten. Lassen Sie mich also eine andere Be-
gründung konstruieren. Vielleicht wollten Sie diese Gelegenheit dazu
benützen, um eine weitverbreitete und von Uneingeweihten und Wider-
ständischen gerne gehörte Lüge aus der Welt zu schaffen. Unzählige Male
hört man leichtsinnig hingeworfene Äußerungen über die Unduldsamkeit,
die „Orthodoxie" unseres Lehrers. Er lasse in seinem Kreise keine Kritik
seiner Theorien zu. Er dränge alle selbständigen Talente aus diesem Kreise
heraus, um tyrannisch seinen wissenschaftlichen Willen durchzusetzen.
Einige sprechen von seiner alttestamentarischen Strenge, die sie sogar
rassentheoretisch begründen wollen. Nun, es ist eine traurige Wahrheit,
daß ihm einige hervorragende Talente und viele Geringerwertige im Laufe
der Zeit, nach kurzer oder längerer Gefolgschaft, den Rücken gekehrt
haben. Sind sie wirklich rein wissenschaftlichen Motiven gefolgt? Ich meine,
Int. Zeltschr. f. Psychoanalyse, XVII/2 u
a
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
l62 S. Ferenczi
ihre wissenschaftliche Unfruchtbarkeit seit der Abkehr spricht nicht zu
ihren Gunsten.
Ich möchte nun Ihre freundliche Einladung an mich als Argument
gegen die Orthodoxie der Internationalen Vereinigung und ihres geistigen
Führers, Professor Freud, in die Wagschale werfen. Ohne mich an Bedeu-
tung mit den Kollegen, auf die ich anspiele, messen zu wollen, Tatsache
ist, daß ich ziemlich allgemein als ein unruhiger Geist, oder wie man
mir es unlängst in Oxford sagte, als enfant terrible der Psychoanalyse be-
kannt bin.
Die Vorschläge, die ich in technischer und theoretischer Hinsicht Ihrem
Urteil unterbreitete, werden von einer respektablen Mehrheit als phantastisch
allzu originell, bekrittelt. Ich kann auch nicht behaupten, daß Freud
selber mit allem, was ich publiziere, einverstanden ist. Er nahm kein Blatt
vor den Mund, als ich ihn um seine Meinung bat. Er setzte aber gleich
hinzu, daß die Zukunft in mancher Hinsicht mir recht geben mag, und
weder ihm noch mir fällt es ein, wegen dieser Differenzen bezüglich der
Methodik und der Theorie unsere Zusammenarbeit zu unterbrechen; sind
wir doch über die wichtigsten Grundsätze der Psychoanalyse vollkommen
einer Meinung.
In einer Hinsicht ist Freud allerdings orthodox. Er schuf Werke, die
seit mehreren Jahrzehnten unverändert, unangetastet, wie kristallisiert da-
stehen. Die Traumdeutung z. B. ist ein solch scharfgeschliffenes Juwel,
inhaltlich und formal so festgefügt, daß sie allen Wandlungen der Zeiten
und der Libido widersteht, so daß sich die Kritik kaum an sie heranwagt.
Danken wir dem Schicksal, daß wir das Glück haben, mit diesem großen,
und wie wir es laut verkünden können, liberalen Geiste zusammenwirken
zu dürfen. Hoffen wir, daß sein 75. Lebensjahr ihm zur ungebrochenen
geistigen Frische auch die Herstellung der Körperkräfte bringen wird.
Nun, zum Thema meines heutigen Vortrages. Es fügte sich, daß sich
im Laufe der letzten Jahre bei mir gewisse Erfahrungstatsachen der Analyse
um Ideen gruppierten, die mich dazu drängen, den bisher so scharfen
Gegensatz zwischen der Analyse der Kinder und Erwachsenen wesentlich
zu mildern.
Die ersten Ansätze der Kinderanalyse stammen aus Ihrer Gruppe.
Abgesehen von einem einzigen, allerdings wegweisenden Versuche Freuds,
war die Wiener Analytikerin V. Hug-Hellmuth die erste, die sich metho-
disch mit der Analyse von Kindern befaßte. Ihr verdanken wir die Idee,
die Analyse mit Kindern sozusagen als Kinderspiel zu beginnen. Sie und
Kinderanalysen mit Erwadisenen
163
später Melanie Klein, sahen sich genötigt, wollten sie sich mit Kindern
analytisch beschäftigen, wesentliche Änderungen an der Technik der Er-
wachsenenanalyse vorzunehmen, meist im Sinne einer Milderung der sonst
üblichen technischen Strenge. Allgemein bekannt und geschätzt sind die
systematischen Arbeiten Ihres Mitgliedes Anna Freud über diesen
Gegenstand und die meisterhaft geschickten Kunstgriffe Aichhorns,
auch die schwierigsten Kinder gefügig zu machen. Ich selber hatte mit
Kindern analytisch sehr wenig zu tun, und es ist für mich selber eine
Überraschung, nun von einer ganz anderen Seite her auf die Probleme der
Kinderanalytik zu stoßen. Wie kam ich eigentlich dazu? Es ist in
wenigen Worten erzählt, es ist aber nicht überflüssig, bevor ich diese
Frage beantworte, Ihnen von einer persönlichen Eigenheit meiner Arbeits-
richtung Mitteilung zu machen. Eine Art fanatischen Glaubens an die
Leistungsfähigkeit der Tiefenpsychologie lifeß mich die gelegentlichen Miß-
erfolge weniger als Folgen der „ünheilbarkeit", denn als die Konsequenz
unseres eigenen Ungeschicks ansehen, eine Voraussetzung, die mich not-
wendigerweise dazu führte, in schweren, mit der üblichen Technik nicht
zu bewältigenden Fällen Änderungen an dieser Technik vorzunehmen.
Ich entschließe mich also nur höchst ungern dazu, auch den zähesten
Fall aufzugeben, und entwickelte mich zu einem Spezialisten besonders
schwerer Fälle, mit denen ich mich viele, viele Jahre hindurch befasse.
Urteile, wie: der Widerstand des Patienten sei unbezwingbar, oder, der
Narzißmus gestatte es nicht, in dem Fall weiter vorzudringen, oder gar die
fatalistische Ergebung in die sogenannte Versandung eines Falles, blieben
für mich unannehmbar. Ich dachte mir, so lange der Patient überhaupt
noch kommt, ist der letzte Faden der Hoffnung nicht gerissen. Ich mußte
mir also immer wieder die Frage stellen, ist immer der Widerstand des f
Patienten die Ursache des Mißerfolges und nicht vielmehr unsere eigene j
Bequemlichkeit, die es verschmäht, sich den Eigenheiten der Person, auch 1
in der Methodik, anzupassen? In solchen anscheinend versandeten Fällen, '
in denen die Analyse über recht lange Zeiten hindurch weder neue Ein-
sichten noch therapeutische Fortschritte brachte, bekam ich die Empfindung,
daß das, was wir freie Assoziation nennen, immer noch zu sehr bewußte
Gedankenauswahl ist, drängte also die Patienten zu tieferer Relaxation,
zu vollständigerer Hingebung an die ganz spontan auftauchenden inneren
Eindrücke, Tendenzen und Emotionen. Je freier nun die Assoziation
wirklich wurde, um so naiver — man könnte sagen, kindischer — wurden
die Äußerungen und sonstigen Manifestationen der Patienten; immer häu-
figer mengten sich unter die Gedanken und bildmäßigen Vorstellungen auch
kleine Ausdrucksbewegungen, gelegentlich auch „passagere Symptome", die
l64 S. Ferenczi
dann, wie alles übrige auch, der Analyse unterzogen wurden. Nun erwies
sich in einigen Fällen die kühl zuwartende Stummheit und Reaktions-
losigkeit des Analytikers als eine Störung der Assoziationsfreiheit. Kaum
daß sich der Patient bereitfindet, wirklich selbstvergessen alles herzugeben
was in ihm vorgeht, erwacht er wie mit einem Ruck plötzlich aus der
Versunkenheit und beklagt sich, er könne doch unmöglich seine Gemüts-
bewegungen ernst nehmen, wenn er sieht, daß ich ruhig hinter ihm sitze
meine Zigarette rauche, und höchstens etwa teilnahmslos und kühl mit
der stereotypen Frage reagiere: „Nun, was fällt Ihnen dazu ein?" Da
dachte ich mir denn, daß es Mittel und Wege geben müßte, diese Asso-
ziationsstörung zu beseitigen und dem Patienten Gelegenheit zu bieten, die
um Durchbruch ringende Wiederholungstendenz in weiterem Ausmaße zu
entfalten. Es dauerte aber recht lange, bis ich die ersten Anregungen dazu
empfing, und zwar wieder von den Patienten selbst. Hier ein Reispiel :
Ein im besten Mannesalter stehender Patient entschließt sich nach Über-
windung schwerer Widerstände, insbesondere seines starken Mißtrauens,
sich Vorgänge seiner frühesten Kindheit zu vergegenwärtigen. Dank der
analytischen Aufhellung seiner Vorzeit weiß ich bereits, daß er mich in
der wiederbelebten Szene mit seinem Großvater identifiziert. Auf einmal —
mitten im Gespräch — schlingt er seinen Arm um meinen Hals und
flüstert mir ins Ohr: „Du, Großpapa, ich fürchte, ich werde ein kleines
Kind bekommen!' Da verfiel ich auf die, wie mir scheint, glückliche Idee,
ihm zunächst nichts von Übertragung u. dgl. zu sagen, sondern im gleichen
Flüsterton die Rückfrage an ihn zu richten: „Ja, warum glaubst du denn
das? Wie Sie sehen, habe ich mich da in ein Spiel eingelassen, das
man Frage- und Antwortspiel nennen könnte, durchaus den Vorgängen
analog, die uns die Kinderanalytiker berichten, und ich bin mit diesem
kleinen Kunstgriff eine Zeitlang gut gefahren. Glauben Sie aber ja nicht,
daß ich in der Lage bin, in einem solchen Spiele alle möglichen Fragen
zu stellen. Ist meine Frage nicht einfach genug, nicht wirklich der
Fassungskraft eines Kindes angepaßt, so ist das Zwiegespräch bald ab-
gebrochen, ja mancher Patient sagt es mir gradwegs ins Gesicht, ich hätte
mich ungeschickt benommen, sozusagen das Spiel verdorben. Das passierte
mir nicht selten in der Art, daß ich in meine Antworten und Fragen
Dinge einmischte, von denen das Kind seinerzeit unmöglich wissen konnte.
Eine noch energischere Zurückweisung wurde mir zuteil, wenn ich gar
gelehrte, wissenschaftliche Deutungen zu geben versuchte. • — Ich brauche
Ihnen wohl nicht zu sagen, daß meine erste Reaktion auf solche Vor-
kommnisse eine Art autoritärer Empörung war. Für einen Moment fühlte
ich mich durch die Zumutung verletzt, daß der Patient oder Schüler die
Kinderanalysen mit Erwachsenen
165
Sachen besser wissen solle als ich selbst, zum Glück kam mir aber sofort
der andere Gedanke, am Ende müsse er ja die Dinge über sich wirklich
hesser wissen als ich sie erraten könne. Ich gab also die Möglichkeit des
Trrtums meinerseits zu, und die Folge war nicht das Verlieren meiner
Autorität, sondern die Steigerung seines Vertrauens zu mir. Nebenbei
gesagt, waren einzelne Patienten darüber empört, daß ich dieses Verfahren
ein Spiel nannte. Sie sagten, das sei ein Zeichen, daß ich die Sache nicht
ernst nehme. Auch damit hat es seine Richtigkeit; bald mußte ich mir
selbst und dem Patienten eingestehen, daß diese Spielereien viel von den
ernsthaften Realitäten des Kindesalters versteckt enthalten. Den Beweis
erhielt ich, als einzelne Patienten anfingen, aus diesem halb spielerischen
Gehaben in eine Art halluzinatorischer Entrücktheit zu versinken, in der sie
mir traumatische Vorgänge voragierten, deren unbewußte Erinnerung auch
hinter dem Spielgespräch steckte. Bemerkenswerterweise machte ich bereits
in den Anfängen meiner analytischen Laufbahn eine ähnliche Beobachtung.
Ein Patient begann plötzlich mitten im Zwiegespräch mit mir in einer
Art von hysterischem Dämmerzustand eine Szene zu agieren. Ich schüttelte
damals den Mann recht energisch und schrie ihn an, er solle es doch zu
Ende sagen, was er mir soeben sagen wollte. Diese Aufmunterung half,
er gewann durch meine Person, wenn auch nur in eingeschränktem Maße
den Kontakt mit der Außenwelt wieder und konnte mir einiges von seinen
verborgenen Konflikten, statt in der Gebärdensprache seiner Hysterie, in ver-
ständlichen Sätzen mitteilen.
Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, habe ich bei meinem Vor-
gehen den technischen Kunstgriff der „Spielanalyse mit einem — aller-
dings auf eine Reihe von Beobachtungen gestützten — Vorurteil verbunden,
dem nämlich, daß man sich mit keiner Analyse zufriedengeben darf, solange
sie nicht die reale Reproduktion der traumatischen Vorgänge der ürver-
drängung herbeigeführt hat, auf der Charakter und Symptombildung schließlich
beruhen. Wenn Sie bedenken, daß nach unseren bisherigen Erfahrungen
und Voraussetzungen die Mehrzahl der pathogenen Erschütterungen in die
Kinderzeit fällt, werden Sie sich nicht darüber wundern, daß der Patient
beim Versuch, die Genese seines Leidens preiszugeben, plötzlich ins Kin-
dische oder Kindliche verfällt. Nun erheben sich aber einige wichtige
Fragen, die ich auch mir selber stellen mußte. Hat man etwas davon,
wenn man einen Patienten in die kindliche Primitivität sinken und ihn
in diesem Zustande frei agieren läßt? Ist damit wirklich eine analytische
Aufgabe erfüllt? Ist das nicht etwa die Bekräftigung des uns vielfach
gemachten Vorwurfs, die Analyse erziehe die Menschen zu unbeherrschter
Triebhaftigkeit, oder sie provoziere einfach hysterische Anfälle, die doch
l66 S. Ferenczi
auch ohne analytische Hilfe, aus äußeren Gründen, plötzlich auftreten
können, ohne dem Menschen mehr als eine vorübergehende Erleichterun»
zu bringen? Und überhaupt, wie weit darf so ein analytisches Kinderspiel
gehen? Gibt es Kriterien, die uns gestatten, die Grenze zu bestimmen
bis zu der die kindliche Relaxation gestattet werden darf, und bei der
die erzieherische Versagung beginnen muß?
Natürlich ist mit der Reaktivierung der Kindlichkeit und mit der
Reproduktion der Traumata im Agieren die analytische Aufgabe nicht
erfüllt. Das spielerisch agierte oder sonstwie wiederholte Material muß
einer gründlichen analytischen Durchforschung unterzogen werden. Natür-
lich hat Freud recht, wenn er uns lehrt, daß es ein Triumph der Analyse
ist, wenn es gelingt, das Agieren durch Erinnerung zu ersetzen; ich meine
aber, es ist auch von Vorteil, bedeutsames Aktionsmaterial zu beschaffen
das man dann in Erinnerung umsetzen kann. Auch ich bin im Prinzip
gegen unkontrollierte Ausbrüche, meine aber, daß es zweckdienlich ist,
die verborgenen Aktionstendenzen möglichst breit aufzudecken, bevor man
an die gedankliche Bearbeitung und damit gleichzeitig an die Erziehung
zur Selbstbeherrschung herangeht. Auch die Nürnberger hängen keinen
Dieb, sie hätten ihn denn. Glauben Sie also nicht, daß meine Ana-
lysen, die ich gelegentlich zum Kinderspiel degradiere, im Grunde so
verschieden von den bisherigen sind. Die Stunden beginnen, wie immer,
mit Gedanken, die von der psychischen Oberfläche ausgehen, befassen
sich — wie auch sonst — recht viel mit den Ereignissen des Vortages,
dann kommt etwa eine „normale" Traumanalyse, die allerdings schon
gerne ins Infantile oder in die Aktion ausartet. Aber ich lasse keine
Stunde vergehen, ohne das Aktionsmaterial gründlich zu analysieren,
natürlich unter voller Verwertung alles dessen, was wir von Übertragung
und Widerstand und von der Metapsychologie der Symptombildung wissen
und dem Patienten bewußt zu machen haben.
Auf die zweite Frage, wie weit die Aktion im Kinderspiel gehen darf,
kann man antworten: auch der Erwachsene sollte in der Analyse sich wie
ein schlimmes, d. h. unbeherrschtes Kind benehmen dürfen, wenn er aber
selber in den Fehler verfällt, den er uns gelegentlich vorwirft, wenn er
also beim Spiel aus der Rolle fällt und darauf ausgeht, die infantile
Realität in den Aktionen eines Erwachsenen auszuleben, dann muß man
ihm zeigen, daß nun eben er der Spielverderber ist; und es muß so
gelingen, wenn auch oft mit Mühe, ihn dazu zu bringen, Art und
Umfang seines Betragens auf das Kindliche zu beschränken. In diesem
Zusammenhange möchte ich der Vermutung Ausdruck geben, daß die
gemütlichen Ausdrucfcsbewegungen des Kindes, insbesondere auch die
Kinderanalysen mit Erwadisenen
167
rbidinösen, im Grunde auf das zärtliche Mutter-Kind-Verhältnis zurück-
phen und daß die Elemente der Bosheit, der Leidenschaftlichkeit, der
inbeherrschten Perversion meist schon die Folgen taktloser Behandlung
eitens der Umgebung sind. — Es ist für die Analyse von Vorteil, wenn
dem Analytiker gelingt, mit nahezu grenzenloser Geduld, Verständnis,
Wohlwollen und Freundlichkeit dem Patienten soweit als möglich ent-
ffesenzukommen. Man schafft sich so einen Fond, auf den gestützt man
die früher oder später unvermeidlichen Konflikte mit Aussicht auf Ver-
söhnung auskämpfen kann. Der Patient wird dann unser Benehmen als
Kontrast zu den Erlebnissen in der wirklichen Familie empfinden, und da
er sich nun vor der Wiederholung geschützt weiß, getraut er sich, in die
Reproduktion der unlustvollen Vergangenheit zu versinken. Die Vorgänge,
die sich dabei abspielen, erinnern lebhaft an jene, die uns von den Kinder-
analytikern berichtet werden. Es kommt z. B. vor, daß der Patient beim
Bekennen einer Schuld plötzlich unsere Hand erfaßt und uns bittet, ihn
ja nicht zu schlagen. Recht häufig versuchen es die Kranken, den bei uns
vermuteten versteckten bösen Willen durch ihre Schlimmheit, Sarkasmus,
Zynismus, verschiedene Unarten, auch Grimassen, zu provozieren. Es ist nicht _
vorteilhaft, auch unter diesen Umständen den immer Guten und Nach-
sichtigen zu spielen, es ist ratsamer, ehrlich einzugestehen, sein Benehmen
berühre uns unangenehm, daß wir uns aber beherrschen müssen, wissend,
daß er sich nicht ohne Grund der Mühe des Schlimmseins unterziehe.
Man erfährt dann auf diese Weise so manches von der Unaufrichtigkeit
und der Hypokrisie, die der Patient in seiner Umgebung in der Form
von zur Schau getragener oder behaupteter Liebe oft beobachten mußte,
seine Kritik vor Allen, später auch vor sich selber verbergend.
Nicht selten bringen uns die Patienten, oft mitten in der Assoziation,
kleine selbstgemachte Geschichten, oder gar Gedichte, Reime, manchmal
verlangen sie nach einem Zeichenstift, um uns irgend ein meist sehr
naives Bild zum Geschenk zu machen. Natürlich lasse ich sie gewähren
und diese kleinen Gaben zum Ausgangspunkte weiterer Phantasiebildungen
nehmen, die ich nachher der Analyse unterziehe. Klingt nicht schon das
allein wie ein Stück kinderanalytischer Erfahrung? — Gestatten Sie übrigens,
daß ich bei dieser Gelegenheit einen taktischen Fehler bekenne, dessen
Gutmachung mir in einer prinzipiell wichtigen Frage zu einer besseren
Einsicht verhalf. Ich meine das Problem, inwieferne das, was ich mit
meinen Patienten treibe, Suggestion oder Hypnose ist. Unsere Kollegin,
Elisabeth S e v e r n, die sich bei mir in Lehranalyse befindet, machte mich,
über dieses Thema, wie über manches andere disputierend - — einmal darauf
aufmerksam, daß ich zeitweise mit meinen Fragen und Antworten die
^m
168 S. Ferenczi
Spontaneität der Phantasieproduktion störe. Ich sollte meine Hilfe bei der
Produktion darauf beschränken, die etwa erlahmende Kraft des Geistes zu
weiterer Tätigkeit anzuspornen, ängstliche Hemmungen zu überwinden
u. dgl. Noch besser sei es, wenn ich die Anregung in die Form von sehr
einfachen Fragen, statt Behauptungen, kleide, die den Analysanden zwingen
die Arbeit mit eigenen Mitteln fortzusetzen. Die theoretische Formulierung
die daraus folgt, und deren Befolgung ich so manche Einsicht verdanke
ist die, daß die Suggestion, die man sich auch in Analysen gestatten darf
eher allgemeine Ermutigung als spezielle Wegweisung sein soll. Ich denke
das ist wesenhaft von den sonst bei Psychotherapeuten üblichen Suggestionen
verschieden; es ist eigentlich nur eine Verstärkung der in der Analyse
doch unvermeidlichen Aufgabestellung: nun legen Sie sich hin, lassen Sie
ij!;|j{jj Ihre Gedanken frei spielen und sagen Sie uns alles, was Ihnen in den
11 Sinn kommt. Auch das Phantasiespiel ist nur eine ähnliche, allerdings
verstärkte Ermutigung. Was die Frage der Hypnose anbelangt, mag
sie in gleicher Weise beantwortet werden. Elemente der selbstvergessenen
Entrückung sind bei jeder freien Assoziation unvermeidlich; die Aufforderung
hier weiter und tiefer zu gehen, führt allerdings gelegentlich — ehrlich
gestanden, bei mir recht häufig — zur Entstehung tieferer Entrücktheit,
die man, wenn sie sich gleichsam halluzinatorisch gebärdet, meinetwegen
Autohypnose nennen darf; meine Patienten nennen es gerne einen Trance-
zustand. Wichtig ist, daß man dieses gewiß viel hilflosere Stadium nicht
dazu mißbraucht, eigene Theorien und eigene Phantasiegebilde in die
widerstandslose Psyche des Patienten zu pressen, sondern diesen nicht zu
leugnenden großen Einfluß dazu verwertet, die Fähigkeit des Patienten zu
Eigenproduktionen zu vertiefen. Mit einem sprachlich gewiß unschönen
Ausdruck könnte man also sagen, die Analyse darf nicht Dinge in den
Patienten hineinsuggerieren oder -hypnotisieren; heraussuggerieren oder
-hypnotisieren ist aber gestattet, ja förderlich. Und hier eröffnet sich ein
pädagogisch bedeutsamer Ausblick auf den Weg, den man auch in der
rationellen Kindererziehung betreten sollte. Die Beeinflußbarkeit der Kinder,
ja ihre Neigung, sich in Momenten der Hilflosigkeit widerstandslos auf
einen „Großen" zu stützen, also ein Stück Hypnotismus in der Beziehung
zwischen Kindern und Erwachsenen, ist unleugbare Tatsache, mit der man
sich abfinden muß. Doch anstatt, wie üblich, die große Macht, die die
Erwachsenen den Kindern gegenüber haben, immer noch dazu zu verwenden,
die eigenen starren Regeln in die plastische Seele des Kindes wie etwas
von außen Aufoktroyiertes einzudrücken, könnte sie zu einem Mittel zur
Erziehung zu größerer Selbständigkeit und Mut ausgestaltet werden.
Fühlt sich der Patient in der analytischen Situation verletzt, enttäuscht.
so beginnt er manchmal wie
ein verlassenes Kind
den Eindruck, daß
61,
zu
im Stich gelassen,
•t sich selbst zu spielen. Man hat entschieden
V rlassensein eine Persönlichkeitsspaltung nach sich zieht. Ein Teil der
. gjj Person beginnt Mutter- oder Vaterrolle mit dem restlichen Teile
spielen und macht dadurch das Verlassensein sozusagen ungeschehen.
Merkwürdigerweise werden bei diesem Spiele nicht nur einzelne Körper- '
teile, wie Hand, Finger, Füße, Genitalien, Kopf, Nase, Auge, Vertreter 1
der ganzen eigenen Person, an der alle Peripetien der eigenen Tragödie
zur Darstellung gebracht und dann zu einem versöhnlichen Ende geführt
werden, sondern man bekommt Einblicke in die Vorgänge jener von mir
so benannten narzißtischen Selbstspaltung in der geistigen Sphäre selbst.
Man erstaunt über die große Menge autosymbolischer Selbstwahrnehmung
oder unbewußter Psychologie, die in den Phantasieproduktionen der
Analysanden, wie offenbar in denen der Kinder zutage treten. Es wurden
mir kleine Märchen erzählt, in denen etwa ein böses Tier einen Gallert-
fisch mit seinen Zähnen und Krallen vernichten will, ihm aber nichts
anhaben kann, weil er wegen seiner Geschmeidigkeit vor jedem Stiche
und Bisse ausweicht und dann seine Kugelform wiedererlangt. Diese
Geschichte läßt zwei Deutungen zu: sie drückt einerseits die passive
Resistenz aus, die der Patient den Angriffen der Umwelt entgegensetzt,
anderseits ist sie die Darstellung der Spaltung der eigenen Person in einen
schmerzlich fühlenden, brutal destruierten und in einen gleichsam alles
wissenden, aber fühllosen Teil. Noch deutlicher wird dieser Urvorgang
der Verdrängung in Phantasien und Träumen ausgedrückt, in denen der
Kopf, d. h. das Denkorgan, vom übrigen Körper abgetrennt auf eigenen
Füßen geht, oder mit dem übrigen Körper nur durch einen Faden
verbunden ist, alles Dinge, die nicht nur nach historischer, sondern auch
nach autosymbolischer Auslegung verlangen.
Über die metapsychologische Bedeutsamkeit aller dieser Spaltungs- und
Wiederverwachsungsvorgänge will ich mich bei dieser Gelegenheit nicht
näher auslassen. Es genügt mir, wenn ich Ihnen meine Ahnung über-
mitteln konnte, daß wir in der Tat von unseren Kranken, unseren Schülern
und offenbar auch von den Kindern noch so manches zu lernen haben.
Schon vor vielen Jahren machte ich kurze Mitteilung über die relative
Häufigkeit eines typischen Traumes; ich nannte ihn den Traum vom
gelehrten Säugling. Es sind das Träume, in denen ein eben geborenes
Kind oder ein Säugling in der Wiege plötzlich zu reden beginnt und den
Eltern oder sonstigen Erwachsenen weise Ratschläge erteilt. In einem
meiner Fälle nun gebärdete sich die Intelligenz des unglücklichen Kindes
in der analytischen Phantasie wiederum als besondere Person, deren Aufgabe
1/0 S. Ferenczi
es war, einem beinahe tödlich verletzten Kinde rasch Hilfe zu bringen
„Rasch, rasch, was soll ich machen? Man hat mein Kind verwundet!
Niemand da, wer ihm helfen kann! Es verblutet ja! Es atmet kaum mehr»
Ich muß die Wunde selbst verbinden. Nun, Kind, atme tief, sonst stirbst
du. Jetzt stockt das Herz! Es stirbt! Es stirbt! ..." Nun hörten die
Assoziationen, die sich an eine Traumanalyse knüpften, auf, der Patient
bekommt einen Opisthotonus, macht Bewegungen, wie zum Schutze des Unter-
leibs. Es gelang mir aber, den Kontakt mit dem beinahe komatösen Kranken
wiederherzustellen und ihn mit Hilfe der oben charakterisierten Ermutigung
und Fragestellungen zum Aussagen über ein im frühen Kindesalter erlittenes
Sexual trauma zu zwingen. Was ich jetzt hervorheben möchte, ist das Licht
das diese und ähnliche Beobachtungen auf die Genese der narzißtischen
Selbstspaltung werfen. Es scheint wirklich, daß unter dem Drucke einer
imminenten Gefahr ein Stück unserer selbst sich als selbstwahrnehmende
^ij,|ij| und sich-selbst-helfen-wollende Instanz abspalte, möglicherweise schon im
frühen und allerfrühesten Kindesalter. Ist es uns doch allen bekannt, daß
Kinder, die moralisch oder körperlich viel gelitten haben, die Gesichtszüge
des Alters und der Klugheit bekommen. Sie neigen dazu, auch andere zu
||ijj| bemuttern, sie dehnen dabei offenbar die Kenntnisse, die sie beim
Behandeln des eigenen Leidens schmerzlich errungen haben, auch auf
andere aus, sie werden gut und hilfsbereit. Nicht alle gehen so weit in
der Bewältigung der eigenen Schmerzen, manche bleiben in Selbstbeobachtung
und Hypochondrie stecken.
Zweifellos aber ist, daß hier der vereinigten Kraft der Analyse und der
Kinderbeobachtung noch ungeheure Aufgaben gestellt sind, Fragestellungen,
zu denen uns wesentlich die Geraeinsamkeiten in den Analysen von Kindern
und Erwachsenen verhelfen.
Das Verfahren, das ich meinen Analysanden gegenüber anwende, kann
man mit Recht eine Verzärtelung nennen. Mit Aufopferung aller Rücksichten
auf eigene Bequemlichkeit gibt man den Wünschen und Regungen, soweit
als irgend möglich, nach. Man verlängert die Analysenstunde, bis eine
Ausgleichung der vom Material angeregten Emotionen erreicht ist; man
läßt den Patienten nicht allein, bevor die unvermeidlichen Konflikte in
der analytischen Situation durch Aufklärung der Mißverständnisse und
Rückführung auf die infantilen Erlebnisse in versöhnlichem Sinne gelöst
sind. Man verfährt also etwa wie eine zärtliche Mutter, die abends nicht
schlafen geht, ehe sie alle schwebenden kleinen und großen Sorgen,
Ängste, bösen Absichten, Gewissensskrupel mit dem Kinde durchgesprochen
und in beruhigendem Sinne erledigt hat. Mit dieser Hilfe gelingt es uns,
den Patienten in alle frühen Stadien der passiven Objektliebe versinken
.'■«
M'a
Kinderanalysen mit Erwadisenen
171
lassen in denen er — wirklich wie ein eben einschlafendes Kind — in
V," ;7einurnielten Sätzen Einsicht in seine Traumwelt gewährt. Ewig tann
, dieses zärtliche Verhältnis auch in der Analyse nicht dauern. L'appetit
'ent en mangeant. Der zum Kind gewordene Patient geht mit seinen
Ansprüchen weiter und weiter, verzögert das Eintreten der Versöhnungs-
ituation immer mehr und mehr, um dem Alleinsein, d. h. dem Gefühle
des Nichtgeliebtwerdens, zu entgehen, oder er trachtet mit mehr und mehr
gefährlich werdenden Drohungen uns zu einer Strafhandlung zu ver-
anlassen. Je tiefer und ersprießlicher die Übertragungssituation war, uni
so größer wird natürlich der traumatische Effekt des Momentes sein,
in dem man sich schließlich gezwungen sieht, der Schrankenlosigkeit ein
Ende zu setzen. Der Patient gerät in die uns so wohlbekannte Versagungs-
situation, die zunächst die hilflose Wut und die darauffolgende Lähmung
aus der Vergangenheit reproduziert, und es gehört viel Mühe und taktvolles
Verständnis dazu, die Versöhnung auch unter solchen Umständen im Gegen-
satz zur dauernden Entfremdung in der Kindheitssituation wiederherzu-
stellen. Dabei hat man Gelegenheit, einiges davon zu sehen, was den Mecha-
nismus der Traumatogenese ausmacht: zunächst die vollkommene Läh-
mung jeder Spontaneität, auch jeder Denkarbeit, ja schockartige oder komatöse
Zustände auch auf körperlichem. Gebiete, dann die Herstellung einer neuen
— verschobenen ■ — Gleichgewichtssituation, Gelingt es uns, den Kontakt
auch in diesen Stadien herzustellen, so erfahren wir, daß das sich verlassen
fühlende Kind sozusagen alle Lebenslust verliert, oder wie wir es mit
Freud sagen müßten, die Aggression gegen die eigene Person wendet.
Dies geht manchmal so weit, daß der Patient anfängt, die Gefühle des
Vergehens und Sterbens zu erleben, man sieht das Auftreten tödlicher
Blässe im Gesichte, auch ohnmachtähnliche Zustände, oder allgemeine
Steigerung des Muskeltonus, die den Grad eines Opisthotonus erreichen kann.
Was sich da vor uns abspielt, ist die Reproduktion der seelischen und
körperlichen Agonie, die unfaßbarer und unerträglicher Schmerz nach sich
zieht. Nur nebenbei bemerke ich, daß mir die „sterbenden" Patienten
auch interessante Nachrichten aus dem Jenseits und über die Natur des Seins
nach dem Tode bringen, Äußerungen, deren psychologische Würdigung
zu weit führen würde. Die oft bedrohlichen Erscheinungen, über die ich
mich mit Kollegen Dr. R i c k m a n aus London aussprach, regten ihn zur
Frage an, ob ich denn Medikamente zur Hand habe, um gegebenenfalls
lebensrettend einzugreifen. Ich konnte auf diese Frage bejahend antworten,
bisher kam es aber nie dazu, ein solches in Anwendung zu bringen.
Taktvoll beruhigende Worte, unterstützt etwa von ermutigendem Hände-
druck, wenn das nicht genügt, freundliches Streicheln des Kopfes, mildern
t72
S. Ferenczi
,Al|i
:!il
die Reaktion zu einem Grade, bei dem der Patient wieder zugänglich wird
Als Kontrast zu unserer Handlungsweise erfahren wir dann vom Patienten
von unzweckmäßigen Aktionen und Reaktionen der Erwachsenen beim
Manifestwerden kindlich traumatischer Erschütterungen. Das schlimmste
ist wohl die Verleugnung, die Behauptung, es sei nichts geschehen, es
tue nichts weh, oder gar Geschlagen- oder Beschimpftwerden bei Äußerungen
traumatischer Denk- und Bewegungslähmung; diese machen erst das Trauma
pathogen. Man hat den Eindruck, daß auch schwere Erschütterungen ohne
Amnesie und neurotische Folgen überwunden werden, wenn die Mutter
mit ihrem Verständnis und ihrer Zärtlichkeit und, was das seltenste ist
mit voller Aufrichtigkeit bei der Hand ist.
Ich bin hier auf die Einwendung gefaßt, ob es denn notwendig sei,
den Patienten zuerst durch Verzärtelung in den W^ahn grenzenloser Sicher-
heit einzuwiegen, um ihn dann ein um so schmerzlicheres Trauma
erleben zu lassen. Meine Entschuldigung ist die, daß ich diesen Vorgang
nicht absichtlich herbeigeführt habe, er entwickelte sich als Folge des
meines Erachtens legitimen Versuchs, die Freiheit der Assoziationen zu
verstärken; ich habe eine gewisse Achtung vor solchen spontan sich er-
gebenden Reaktionen, lasse sie also ungestört eintreten und vermute, daß sie
Reproduktionstendenzen manifestieren, die man — wie ich meine — nicht
hemmen, sondern zur Entfaltung bringen soll, ehe man sie zu meistern
versucht. Ich muß den Pädagogen die Entscheidung darüber überlassen,
inwieweit solche Erfahrungen auch in der gewöhnlichen Kindererziehung
zu finden sind.
Höchst merkwürdig, ich kann auch getrost sagen, bedeutsam ist das
Benehmen der Patienten nach dem Erwachen aus solcher infantil-trauma-
tischer Entrückung. Man gewinnt da förmlich Einblick in die Schaffung
von Prädilektionsstellen der bei späteren Erschütterungen einsetzenden
Symptome. Eine Patientin z. B., die während der traumatischen Konvul-
sion ungeheuren Blutandrang im Kopfe bekam, so daß sie blau im Gesicht
wurde, erwacht wie aus einem Traume und weiß von den Vorgängen
und ihren Ursachen nichts, sie fühlt nur den Kopfschmerz, eines ihrer
gewöhnlichen Symptome, außerordentlich verstärkt. Ist man da nicht auf
der Spur der physiologischen Prozesse, die die hysterische Verschiebung
von einer rein psychischen Gemütsbewegung auf ein Körperorgan zustande
bringen? Ich könnte Ihnen ein halbes Dutzend solcher Beispiele mit Leich-
tigkeit zitieren, einige mögen genügen. Ein Patient, der als Kind von
Vater, Mutter, ich möchte sagen von allen Göttern verlassen, den
peinlichsten körperlichen und seelischen Leiden ausgesetzt war, erwacht
aus dem traumatischen Koma mit ünempfindlichkeit und leichenhafter
...jiijlill:
RVsse einer Hand, im übrigen ist er, abgesehen von der Amnesie, ziemlich
faßt und fast plötzlich leistungsfähig. Es war nicht schwer, die Ver-
chiebung alles Leidens, ja des Sterbens, auf einen einzelnen Körperteil,
ozusagen in flagranti, zu ertappen: die leichenblasse Hand repräsentierte
die ganze leidende Person und den Ausklang ihres Kampfes in Empfindungs-
losigkeit und Ersterben. Ein anderer begann nach der Traumareproduk-
tion zu hinken: die mittlere Zehe eines Fußes wurde schlaff und nötigte
den Patienten, auf jeden Schritt mit bewußter Aufmerksamkeit zu achten.
Abgesehen von der sexualsymbolischen Bedeutung der mittleren Zehe,
drückte sie mit ihrem Benehmen die sich selbst gegebene Warnung aus:
Sei vorsichtig, bevor du einen Schritt machst, damit dir nicht wieder der-
gleichen passiert. Der englisch redende Patient ergänzte meine Deutung
mit der Bemerkung: „Sie meinen etwa, ich stelle nur die englische Redens-
art dar: ,Watch your step.'
Wenn ich da plötzlich innehalte und mir die Worte vergegenwärtige,
die auf den Lippen meiner Zuhörer schweben, so höre ich gleichsam von
alleii Seiten die erstaunte Frage: Ist denn das eigentlich noch Psycho-
analyse zu nennen, was in den Kinderanalysen der Erwachsenen vorgeht?
Sie reden ja fast ausschließlich von Gefühlsausbrüchen, von lebhaften, ja
halluzinatorischen Reproduktionen traumatischer Szenen, von Krämpfen
und Parästhesien, die man getrost hysterische Anfälle nennen kann. Wo
bleibt da die feine, ökonomisch-topisch-dynamische Zerlegung und der
Wiederaufbau der Symptomatik, das Verfolgen der wechselnden Energie-
besetzungen des Ichs und des Über-Ichs, die die moderne Analyse charak-
terisieren? Tatsächlich beschränkte ich mich in diesem Vortrag fast aus-
schHeßlich auf die Würdigung des traumatischen Momentes, was natürlich
in meinen Analysen auch nicht im entferntesten der Fall ist. Monate-,
oft jahrelang verlaufen auch meine Analysen auf dem Niveau der Konflikte
zwischen den intrapsychischen Energien. Bei Zwangsneurotikern z. ß,
dauert es manchmal ein Jahr und noch länger, bevor das Emotionelle
überhaupt zur Sprache kommt; auf Grund des auftauchenden Materials
können der Patient und ich in diesen Zeiten nichts anderes leisten, als
den Entstehungsursachen der Vorbeugungsmaßnahmen, der Ambivalenz in
der Gefühlseinstellung und in der Handlungsweise, den Motiven der
masochistischen Selbstpeinigung usw. intellektuell nachzugehen. Soweit aber
meine Erfahrung reicht, kommt es früher oder später, allerdings oft sehr
spät zum Zusammenbruch des intellektuellen Überbaues und zum Durch-
bruch der doch stets primitiven, stark emotiven Grundlage, und nun erst
beginnt die Wiederholung und Neuerledigung des ursprüngliehen Konflikts
zwischen dem Ich und der Umwelt, wie sie sich in der Infantilzeit ab-
174
S. Ferenezi
gespielt haben muß. Vergessen wir nicht, daß die Reaktionen des kleinen
Kindes auf Unlust zunächst immer körperlicher Natur sind; erst später
lernt das Kind seine Ausdrucksbewegungen, diese Vorbilder jedes hyste-
rischen Symptoms, beherrschen. Man muß also zwar den Nervenärzten
darin rechtgeben, daß der moderne Mensch viel seltener offenkundige
Hysterien produziert, als sie noch vor wenigen Jahrzehnten, als ziemlich
allgemein verbreitet, beschrieben worden sind. Es scheint, als ob mit vor-
schreitender Kultur auch die Neurosen kultivierter und erwachsener
geworden wären, ich meine aber, daß bei entsprechender Geduld und
Ausdauer auch festgebaute, rein intrapsychische Mechanismen abgebaut
und auf das Niveau des infantilen Traumas reduziert werden können.
Eine andere heikle Frage, die man mir unverzüglich vorlegen wird
ist die der therapeutischen Resultate. Sie werden es nur zu gut verstehen
daß ich mich diesbezüglich einer dezidierten Äußerung noch enthalte.
Zwei Dinge muß ich aber gestehen; meine Hoffnung, die Analyse mit
Hilfe von Relaxation und Katharsis wesentlich zu verkürzen, hat sich
vorläufig nicht erfüllt, und die Mühseligkeit der Arbeit für die Analytiker
wurde durch sie wesentlich gesteigert. Was aber durch sie gefördert wurde
und, wie ich hoffe, noch bedeutend gefördert werden wird, ist die Tiefe
unserer Einsicht in die Tätigkeit der gesunden und kranken Menschen-
seele und die berechtigte Hoffnung, daß der therapeutische Erfolg, der sich
auf diese tieferen Grundlagen stützt, soweit er zustande kommt, mehr
Aussicht auf Bestand haben wird.
Und nun zum Schluß eine praktisch wichtige Frage. Müssen und
können auch die Lehranalysen bis zu dieser tiefen Infantilschichte
vordringen? Bei der Terminlosigkeit meiner Analysen führt das zu
ungeheuren praktischen Schwierigkeiten; und doch glaube ich, daß jeder,
der die Ambition hat, andere verstehen und anderen helfen zu wollen,
dieses große Opfer nicht scheuen sollte. Auch die rein aus beruflichen
Gründen Analysierten müssen also im Laufe ihrer Analyse ein bißchen
hysterisch, also ein bißchen krank werden, und da zeigt sich denn, daß
auch die Charakterformung als entfernte Folge von recht starken Infantil-
traumen anzusehen ist. Ich glaube aber, daß das kathartische Resultat
dieses Untertauchens in Neurose und Kindheit am Ende erquickend wirkt
und, wenn zu Ende geführt, keinesfalls schadet. Jedenfalls ist dieses
Verfahren viel weniger gefährlich als die opferwilligen Versuche mancher
Kollegen, die Infektionen und Vergiftungen am eigenen Leibe studiert
haben.
Meine Damen und Herren! Sollten die Gedanken und Gesichtspunkte,
die ich Ihnen heute mitteilte, irgendwann Anerkennung finden, so wird
Kinderanalysen mit Erwachsenen
175
, Verdienst ehrlich zwischen mir und meinen Patienten und Kollegen
pteilt werden müssen. Natürlich auch mit den oben bereits genannten
Kinderanalytikern ; ich wäre glücklich, wenn es mir gelungen wäre,
venigstens die Anfänge einer intimeren Kooperation mit ihnen angebahnt
zu haben.
Es würde mich nicht wundern, wenn Sie von diesem Vortrage, wie
von einigen anderen, die ich in den letzten Jahren publizierte, den Eindruck
einer gewissen Naivität der Anschauung empfangen hätten. Wenn jemand
nach fünfundzwanzigjähriger Analysenarbeit plötzlich anfängt, die Tatsache
der psychischen Traumen anzustaunen, so mag er Ihnen ebenso merk-
würdig vorkommen, wie jener mir bekannte Ingenieur, der nach fünfzig-
jähriger Dienstzeit in Pension ging, sich aber jeden Nachmittag zur Bahn-
station begab, um den eben abfahrenden Zug anzustaunen, oft mit dem
Ausruf: „Ist denn die Lokomotive nicht eine wunderbare Erfindung!" Es
ist möglich, daß ich auch diese Tendenz oder Fähigkeit zum naiven
Anschauen des Altbekannten von unserem Lehrer erlauscht habe, der
während einer unserer gemeinsamen, mir unvergeßlichen Sommeraufenthalte
mich eines Morgens mit der Mitteilung überraschte: „Sehen Sie, Ferenczi,
der Traum ist wirklich eine Wunscherfüllung!" und mir seinen letzten
Traum erzählte, der allerdings eine glänzende Bestätigung seiner genialen
Traumtheorie war.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß Sie das von mir Mitgeteilte
nicht sofort verwerfen, sondern Ihr Urteil aufschieben werden, bis Sie sich
Erfahrungen unter den nämlichen Bedingungen geholt haben. Jedenfalls
danke ich für die freundliche Geduld, mit der Sie meine Ausführungen
anhörten.
Die Krise der Psydiologie und die Psychoanalyse
Von
Siegfried Bernfeld
Berlin
Die Zahl der Schulen innerhalb der Psychologie ist in den letzten
Jahren so groß geworden, die Unterschiede zwischen ihnen sind so wesent-
lich, daß man bereits die Frage aufwirft, ob es überhaupt noch eine
Psychologie gibt, oder ob man nicht mehrere völlig unabhängige Wissen-
schaften mit verschiedenen Zielen, Methoden, ja Gegenständen unter einem
einzigen Namen anerkennen muß. („Psychology — psychologies" formuliert
man neuestens in Amerika.) Die meisten Psychologen nehmen aber
ihren gemeinsamen Namen lieber als Hoffnung auf eine künftige um-
fassende einheitliche Wissenschaft und deuten mit Bühler' den „Turm-
bau zu Babel", mit dem der Zustand der heutigen Psychologie vergleich-
bar erscheint, als die „Aufbaukrise" ihrer Wissenschaft. Unter diesen
Schulen, in dieser „Krise der Psychologie", nimmt die Psychoanalyse eine
Sonderstellung ein. Sie ist die älteste von ihnen und wird doch täglich
jünger. Während von der Psychologie, die den Anfängen Freuds zeit-
genössisch ist, recht wenig übrig und lebendig blieb — vor allem nichts
von ihrem Ideengehalt, von ihren Zielen und Programmen — nähern
sich die heutigen Psychologien in einem sehr beträchtlichen Maße den
alten Grundpositionen der Psychoanalyse. Gab es früher zwischen der
Psychoanalyse und der Psychologie schlechthin unüberbrückbare Gegen-
sätze, so gibt es heute unter den Psychologien keine, die nicht an wesent-
lichen Stellen mit der Psychoanalyse Berührung hätte, aus ihr geschöpft
i": Bühl er, Karl; Die Krise der Psychologie. Jena 1929.
Die Krise der Psychologie und die Psydioanalyse
177
V,-- t oder aus ihr Tatsachen, Argumente, Förderungen holen könnte. An
j- Psychoanalyse allein grenzen sie alle, sie ist ihr Medium; sie müssen
• h daher aber auch alle, jede in ihrer Weise, von der Psychoanalyse
erffisch abgrenzen, und so mag es manchem scheinen, als wäre die Psycho-
nalyse die einstimmig von allen Psychologien abgelehnte, verurteilte und
useeschiedene. In Wahrheit ist sie ebenso Stück für Stück von jeder
einzelnen, und so von ihnen allen zusammen ziemlich ganz, angenommen.
Nicht nur die Psychopathologie, auch die Psychologie ist ohne Freud nicht
denkbar, obzwar hier weniger deutlich ist, wie weit der Entwicklungs-
gang der Psychologie durch die Psychoanalyse tatsächlich bestimmt wurde.
Alle wissenschaftlichen Grundeinstellungen der modernen Psychologien
konvergieren nach der Psychoanalyse; viele sind von ihr längst vorweg
formuliert und angewendet; keine der psychoanalytischen Tatsachen ist
von irgend einer Seite widerlegt, viele sind mit anderen Methoden und
Begriffen, in andere theoretische Zusammenhänge eingebettet, bestätigt
worden; keine der Psychologien ist der Psychoanalyse „gefährlich", aber
keine bleibt durch die Psychoanalyse ungefährdet. Daher mehren sich in
den letzten Jahren die Bemühungen der Psychologen, diese eigentümlichste
der Psychologien kennen zu lernen und einzuordnen in das Gesamt
ihres Turmbaues. Die Psychoanalyse hingegen scheint diese Entwicklung
der Psychologie weniger zu beachten als sie verdient. Sie ist sich zwar
bewußt, mehr als Psychotherapie zu sein, sie entwickelt sich immer selbst-
bewußter zur Psychologie, aber die wichtigste Funktion, die ihr in der
Krise der Psychologie zukommt, hat sie, wie mir scheint, noch nicht
deutlich erkannt. Soll diese Funktion bestimmt werden, muß erst voll zur
Kenntnis genommen werden, wie weit die heutigen Psychologien über
physiologisch-experimentelle Studien, über Messung des Gedächtnisses für
sinnlose Silben und über determinierende Tendenzen des Willens hinaus-
gewachsen sind, wie nahe sie sich an die Psychoanalyse heranentwickelt
haben und wie weit sie nun erst recht von ihr abstehen. Für einige der
wichtigsten psychologischen Schulen möchte ich versuchen, in diesem
Sinne in den folgenden Aufsätzen Grundlagen zu einer Auseinandersetzung
vorzubereiten und deutlich zu machen, welche Aufgabe der Psychoanalyse
inmitten dieser verschiedenen Schulen als ihre spezielle, nur von ihr konzi-
pierbare und nur von ihr leistbare, gestellt ist.
Int. Zeltschr. f. Psychoanalyse, XVII— 2
178
Siegfried Bernfeld
=ii
■II
■'•i
l) Der Personalismus. William Stern'
Wenn ich mit William Stern beginne, so läßt sich das leicht recht-
fertigen; denn Stern hat eine Reihe der heute entscheidenden neuen
psychologischen Gesichtspunkte wohl zuerst scharf formuliert. Solcher
Rechtfertigung bedarf aber die Bevorzugung Sterns, weil seine psycho-
logischen Grundgedanken in seiner sehr umfangreichen und mannigfaltigen
psychologischen Forschungsarbeit nicht radikal, sondern meistens nur als
Hintergrund und Motiv zur Geltung kommen. Sie gehören seinem philo-
sophischen System an, dem Personalismus. Erst wenn sie aus diesem System
losgelöst werden, was Stern selbst in den letzten Jahren immer konsequenter
unternimmt, erweisen sie sich als sehr frühe und sehr entschlossen neu-
artige psychologische Theorien. Ganz anders etwa als die Grundgedanken
der Gestaltpsychologie und der Behavioristen (von der Psychoanalyse zu
schweigen), die zu radikal neuer psychologischer Forschung unabhängig
von jedem philosophischen System geführt haben. Diese engste Verbindung
der Psychologie mit Philosophie mag eine Folge der Sternschen Priorität
sein. Wem schon 1900 Personwissenschaft vorschwebte, der mußte dazu
gedrängt werden, die psychologische Tradition mit verhältnismäßig geringer
Modifikation fortzusetzen und die grundlegend neuen Gedanken zu einer
Personphilosophie abgetrennt auszubauen. Doch will nicht verkannt sein,
daß es bei Stern kaum die Zeitumstände allein waren, die ihn in die
Philosophie drängten, sondern daß sie mit starken metaphysischen Antrieben
in ihm „konvergierten". Es ist hier aber keineswegs diese Metaphysik, die
uns interessiert, sondern es ist der Begriff der Person, den ich darzu-
stellen habe, und zwar möglichst losgelöst aus dem philosophischen Boden
des Personalismus; eine Aufgabe, die Stern durch seine jüngsten Publi-
kationen iPW) sehr erleichtert.
„Person" und „Sache" ist das Gegensatzpaar, von dem Sterns Philo-
sophie^ ausgeht, und das zur Definition der „Person" führt: „Person ist
r. Band
Aufl.
1) Zitierte Schriften von William Stern:
(PS.) Person und Sache. System der philosophischen Weltanschauung.
Ableitung und Grundlehre. Leipzig igo6.
(MP.) II. Band. Die menschliche Persönlichkeit. Leipzig 1917.
(Ki) Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre. 4.
Leipzig 1927.
(PfV) Studien zur Personwissenschaft. I. Teil. Personalistik als Wissenschaft.
Leipzig 1930.
(H) Briefwechsel zwischen Ed. v. Hartmann und William Stern. Festschrift für Driesch.
1.930-
(E) Der zweite Hauptsatz der Energetik und das Lebensproblem. Zeitschrift für
Philos. u. philos. Kritik. Bd. 121, 122. igoÄ
2) PS. — MP.
I
m
ä
Die Krise der Psydiologle und die Psydioanalyse
179
ein solches Existierendes, das trotz der Vielheit der Teile eine reale eigen-
artige und eigenwertige Einheit bildet und als solche trotz der Vielheit
der Teilfunktionen eine einheitliche, zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt.
Eine Sache ist das kontradiktorische Gegenteil der Person." Sache ist also
,keine Einheit und vollbringt keine einheitliche zielstrebige Selbsttätigkeit".
Die Begriffe dieser Nominal definitionen vsrerden so erläutert: „Der Begriff
der Einheit ist, da er selbst ein letzter ist, nicht mehr positiv zu
beschreiben, sondern höchstens negativ zu u m schreiben : Einheitlich ist
dasjenige Sein und Tun, das nicht restlos durch die Summe der Existenzen
der Teile und durch die Taten der Teile repräsentiert werden kann. Ein-
heitlichkeit ist nicht zu verwechseln mit Einfachheit; das Einfache ist
ohne Teile . . ., die Person ist eigenartig, d. h. eine solche so
beschaffene Einheit kommt nur dies eine Mal vor. Sie hat wohl Eigen-
schaften, durch welche sie mit anderen Personen vergleichbar und gegen
andere meßbar ist; sie ist aber niemals nur die Summe dieser Eigen-
schaften, sondern bei aller Vergleichung bleibt eine letzte Inkommen-
surabilität . . . Die Person ist Individualität, die Sache Vergleichbarkeit.
Die Person ist selbsttätig, d. h. das an ihr sich vollziehende Geschehen
ist in seiner Beschaffenheit nicht restlos bestimmt durch die von außen
herkommenden Einwirkungen und durch die Tätigkeiten ihrer Teile. Viel-
mehr ist sie selbst als Ganzes mitbestimmender Wirkungsfaktor an diesem
ihrem Funktionieren. Die Person ist aktiv (und spontan), die Sache ist
passiv (und rezeptiv). In der Sphäre der Person gibt es innere Kausalität
(d. h. Wirkung des Ganzen auf die Teile), in der Sphäre der Sache gibt
es nur äußerliche Kausalität (Beziehung eines Elementes auf ein anderes).
Die Tätigkeit der Person ist zi el s t r eb i g, d. h. das von ihr ausgehende
Geschehen ist so beschaffen, daß es geeignet ist, einen bestimmten Zustand
herbeizuführen, welcher für die Person ein relatives Optimum ist. Zu den
Bedingungen ihrer Tätigkeit gehört nicht nur Vergangenheit und Gegen-
wart, sondern auch die Zukunft. Die Person ist teleologisch, die Sache
mechanisch. Die Person ist eigenwertig; sie ist nicht nur die Summe der
Werte ihrer Teile . . . Die Person ist nicht restlos ersetzbar (sie hat
„Würde"), die Sache ist restlos ersetzbar (sie hat einen „Preis") (PS. S. 1 6/18).
Ein wesentlicher Teil der personalistischen Philosophie widmet sich der
ontologischen Frage, ob es Personen und Sachen „gibt", und kommt
als kritischer Personalismus zu dem Ergebnis, daß das wirklich Seiende
„Person ist, „unitas multiplex"' . „Die Welt besteht aus Personen; sie ist
gegliedert in einen Stufenbau von Personen derart, daß die Teile jeder
Person wieder Personen sind, die wiederum aus Teilen bestehen, usw.
ad infinitum" {PS., S. 177). Ein anderer Teil des Personalismus — der
i8o
Siegfried Bernfeld
für Stern entscheidende und umfangreichste — handelt von der „Würde"
ist wertphilosophisch. Wir haben in unserem Zusammenhange keinen
Anlaß, uns mit ihm zu befassen. Es genüge die Feststellung, daß selbst-
verständlich der Mensch eine „Person" ist. Die Definitionen der Person
können also, von ihren ontologischen und wertphilosophischen Absichten
unabhängig, als Charakteristika und Formulierungen für die „menschliche
Persönlichkeit" gelten. Als solche sind sie für die neue Psychologie überaus
bezeichnend. Denn wenn es etwas gibt, was all die mannigfaltigen Schulen
und Richtungen — oder doch die meisten von ihnen — eint, so ist es
der personale Gesichtspunkt, wie immer er sich selbst bezeichnen
mag. Daß der Psychologe nicht vor einem „Bündel von Vorstellungen",
nicht vor einem „Aggregat" von „Empfindungen und Reaktionen" steht,
nicht vor einem „Mosaik von Empfindungselementen , sondern daß er mit
„ganzheitlichen" Phänomenen oder doch mit Reaktionen der „Einheit
Person" zu tun hat, dürfte heute niemand mehr leugnen, wenngleich die
Psychologien darin sehr unterschieden sind, wie weit dieses Anerkenntnis
bloß Zugeständnis ist, und wie weit es Forschung und Denken konkret
beeinflußt.
Andererseits enthalten die Stern sehen Definitionen Elemente, die die
heutige Psychologie heftigst entzweien. Liegt in der Definition der Person
der Ansatzpunkt für eine Konkordienformel der neuen Psychologie, so
enthält die Definition der Sache den Keim für einen der grundsätzlichen
Streitpunkte. Die philosophische und methodologische Absicht der Gegen-
überstellung von Person und Sache ist für Stern unstreitig die Abtrennung
der Personwissenschaft von der Naturwissenschaft, der ,,Teleologie" von der
„Mechanik". Im einzelnen geht Stern dabei originelle Wege, und es liegt
ihm sowohl der theologische als auch der vitalistische Sinn der Teleologie
fern, aber im ganzen und in der Wirkung wird zwischen dem sach-
wissenschaftlichen Verfahren (Physik) und den personwissenschaftlichen
Verfahren (Biologie, Psychologie, Soziologie) eine grundsätzlich unüber-
brückbare Kluft aufgerissen und durch ontologische, weltanschauliche,
wertphilosophische Gedankengänge offen gehalten. Dies liegt völlig im
Sinne einer ganzen Reihe von heutigen psychologischen Schulen, so ver-
schiedenartig sie sonst auch sein mögen, widerspricht aber ebenso völlig
einer kleinen Gruppe von anderen, die jene Kluft zwischen Physik und
Personwissenschaft nicht wahr haben wollen. In diesem Streit wirken
Sterns ältere Darlegungen in keiner Weise klärend, weil sein Bild von
der Physik gegenüber dem heutigen veraltet ist, und daher nicht geeignet,
der neuen Situation hilfreich zu sein, in der es gilt, die Beziehungen
zwischen der „neuen" Physik und der neuen Psychologie zu finden.
Die Krise der Psydbologie und die Psydioanalyse
181
Halten wir uns zunächst an den Sternschen Personbegriff, der zwar
tologisch mit dem der „Sache" unlösbar verknüpft ist, für die Psycho-
1 ffie aber Bedeutung behalten kann, auch wenn der Gegensatz : Person —
Sache philosophisch unzulänglich wäre, und der tatsächlich ein zentrales
Ziel aller heutigen Psychologie bezeichnet. Seine frühe Formulierung durch
Stern ist ein historisches Verdienst, aber man kann sich nicht verhehlen,
daß die Einmengung des Wertgesichtspunktes den Wert der Definition
der Person für deren wissenschaftliche Erkenntnis schmälert. Es will dies
um so deutlicher ausgesprochen sein, als heute diese Einheitsbasis der
Psychologie, ihre Intention aufs Ganze, auf die Person, vielfach lediglich
Programm oder Pathos ist, dem weder Durchführung noch gar wissen-
schaftliche Arbeit folgt, sondern weltanschauliche Forderung. Und es scheint
nicht allzuviel erreicht, wenn die Psychologen und Philosophen wieder
Anthropologie nennen, was sie ein Jahrhundert lang Psychologie hießen.
Stern würde solcher Vorwurf nicht treffen, weil er sich nicht begnügt
hat, die Person zum Programm eines unklaren Wissenschaftsgebildes zu
erheben, sondern schon in der frühesten Fassung seiner Lehre einen für
die Psychologie höchst bedeutsamen Gedanken durchgeführt hat, der seinen
ontologischen Erörterungen erst das konkrete wissenschaftliche Gewicht
gibt. Die Person ist psychophysisch neutral; weder deckt sich Sterns
„Sache" mit dem Körper, noch „Person" mit Seele, Geist, Bewußtsein.
Von dem uralten Gegensatz „Körper — Seele" und von dem neueren „Körper —
Bewußtsein" wendet sich Stern radikal ab. Was als Eigenart der Seele
bezeichnet wurde, geht bei Stern, man darf sagen, sehr gereinigt, in die
Definition der Person ein. Die Person zerfällt nicht in einen Körper und
eine Seele, woraus hernach höchst komplizierte Fragen sich ergeben, wie
diese zwei scharf gesonderten Teile doch miteinander und auf einander
wirken, sondern an Stelle jener falschen Scheidung in Physisch und
Psychisch folgt aus der Sternschen Begriffsbildung: Person {= ganzheitlich),
Sache (= quantitativ, summativ), daß die Person weder physisch noch
psychisch ist, sondern als Person „von oben betrachtet persönlich, von
unten, d. h. vom Standpunkt der Teile aus, sächlich („Formel des teleo-
mechanischen Parallelismus") {PS., S. 149). Diese Lösung oder doch
radikale Verschiebung des „Leib-Seele-Problems" hat ihren Sinn natürlich
nur im Rahmen der personalistischen Philosophie und ist beurteilbar und
kritisierbar nur von einem definiten philosophischen und erkenntnis-
theoretischen Gesichtspunkt aus. Aber als psychologische Arbeitshypothese
ernst genommen, ergibt sie eine ganz beträchtliche Verwandlung der
Psychologie. Sind alle personalen Äußerungen psychophysisch neutral, so
verschwinden die Grenzen zwischen Physiologie, Biologie und Psychologie
182
Siegfried Bernfeld
m
W"
entweder völlig oder doch provisorisch, bis der Personen stufenbau, als de
nach Stern die menschliche Persönlichkeit aufgebaut ist, nach seine
Struktur erkannt ist, und die Möglichkeit besteht, diese Wissenschaften
nach der Rangordnung der Teilpersonen zu definieren, aus denen die
Gesamtperson besteht. Eine Konsequenz, die Stern zwar nicht zieht, aber
vielfach ansetzt.
Der Gesichtspunkt der psychophysischen Neutralität sagt konkret und
nun völlig frei von Ontologie : daß Person und Bewußtsein nicht
dasselbe sind. „Person ist nicht Bewußtsein, sondern sie hat Bewußtsein
Sie hat es neben vielem anderen, was sie hat, und ist daher selber als
„überbewußt" zu bezeichnen" {MP. S. 247). Stern ist sich der Eigentüm-
lichkeit dieser Auffassung (gegenüber der älteren Psychologie) voll bewußt:
„Hier liegt in der Tat eine ümkehrung der üblichen Betrachtungsweise
vor. Während man früher das Wesen der Persönlichkeit in ihrer psychischen
Beschaffenheit sah, erblicken wir das Wesen des Psychischen in seiner
persönlichen Bedeutung. Die Person — als psychophysisch neutrale, mit
zielstrebigen Tendenzen ausgestattete, mit der Welt in Konvergenz stehende
einheitliche Wesenheit — ist das Prius; das Vorhandensein eines Sich-
selbst-Bespiegelns in der Form des Bewußtseins ist das Posterius — nicht
zeitlich, wohl aber im logischen System der Bedeutung . . . Nicht das
ganze Leben der Person, sondern nur einige ausgezeichnete Stellen in
diesem sind von Erleben begleitet" (MP. S 325/225). Es folgt daraus
sowohl die Nötigung zu einer Theorie des Bewußtseins (über die ich in
einem anderen Zusammenhang spreche), als auch zur Befassung mit dem
Unbewußten. „Solange die Psychologie sich lediglich auf die Betrach-
tung des Bewußtseins beschränkt, findet sie zahllose . . . , Erscheinungen'
oder , Phänomene', die . . . für sich allein einen durchaus fragmentarischen
Charakter tragen. Sie können beschrieben, geordnet, klassifiziert werden;
aber jeder Versuch, sie zu erklären, zu verstehen oder zu deuten, muß
notgedrungen über die Dimension des Bewußtseins hinausführen. So haben . . .
die wissenschaftlichen Psychologien . . . etwas , Unbewußtes' formulieren
müssen. Für die personalistische Theorie ist aber dieser Begriff nicht, wie
für die meisten Theorien, ein unbequemer Notbehelf, oder ein unver"
ständliches X. Sie ist . . . imstande, den Begriff seiner farblosen Negativi-
tät zu entkleiden und ihm innerhalb des Umkreises persönlichen Daseins
seine positive Stelle zu verschaffen. Wir bezeichnen als ,unbewußt' alles
dasjenige an der Person, was zu ihren Bewußtseinstatsachen Beziehung
oder für sie Bedeutung hat und doch nicht selbst Bewußtseinstatsache ist.
Das Unbewußte tritt auf in beiden Hauptarten des ,Unterbewußten' und
des ,Überbewußten'. Das , Unterbewußte' ergibt sich aus der fragmen-
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
183
tarischen Beschaffenheit des Bewußtseins . . . Unterbewußt sind somit alle
Zustände der Person, die noch nicht oder nicht mehr bewußt sind, die
also ein Minus gegenüber den Bewußtseinserscheinungen darstellen, da sie
deren Vorbereitungen und Nachwirkungen sind . . . ,Überbewußt' —
hierher gehört alles das an der Person, was mehr ist als bloßes Bewußt-
sein. Die Erlebnisse des Bewußtseins selbst sind passiv, bloße Gegeben-
heiten; aber sie sind die Angriffspunkte, die Rohstoffe, die Spiegelungen
die Waffen für aktive Verhaltungsweisen der Person. Die Aktivität ist
somit nicht selber Bewußtsein, mag sie noch so eng mit ßewußtseins-
erscheinungen verknüpft sein; sie ist das, was Bewußtsein macht, sich des
Bewußtseins bedient, sich im Bewußtsein spiegelt — aber eben deshalb
nicht selber in die Bewußtseinsebene hineingehört '. Akte und Dispositio-
nen, die freilich auch mehr oder minder bewußtseinsbehaftet sein können,
bilden das Überbewußte {MP. S 241/45).
Mit dem Begriff der psychophysischen Neutralität der Person wäre so
eine sehr radikale Wendung gegenüber dem psychologischen Denken seit
der Mitte des XIX. Jahrhunderts vollzogen, die Stern selbst so formuliert:
„Bewußtsein und Unbewußtes zusammen ergeben den Umkreis des Be-
griffes des , Psychischen' . . . Früher galt das Psychische (die Psyche, die
Seele, der Geist) als der eigentliche Quellpunkt der persönlichen Einheit-
lichkeit (Ganzheit) und des zielstrebigen Tuns. Diese Annahme setzt also
voraus, daß andererseits das Physische im Menschen als solches bloßes
Aggregat und bloßer Mechanismus sei. Indem wir beides, Ganzheit und
Zielstrebigkeit, der ungeteilten Person beimessen, wurde auch das leibliche
Sein und Geschehen in diesen Rahmen mit eingeschlossen; ja, wir fanden
zahlreiche Sein- und Verhaltungsweisen der Person — und es waren
gerade die wesentlichsten — in denen die Frage, ob Ganzheit und Ziel-
strebigkeit ihrer leiblichen oder ihrer psychischen Seite zukomme, geradezu
sinnlos wurde; denn sie erstreckten sich in unentwirrbarer Einheit auf
das Ineinandergefüge von organischen bewußten Lebensprozessen . . . Was
bleibt uns ... als Kennzeichen des Psychischen übrig? Die Bewußtseins-
bezogenheit. Alles, was selber Bewußtsein ist in der Person oder zu ihrem
Bewußtsein in Beziehung steht, macht ihre psychische Existenz aus. Will
man die Fundamentaltatsache zum Ausdruck bringen, daß die Person,
sofern sie sich selber erscheint, nicht bloß aus beliebigen hier und dort
gelegentlich auftretenden Bewußtseinsphänomenen besteht, sondern daß
diese sporadischen Phänomene gehalten und getragen sind durch einen
smnvoUen, in sich geschlossenen, personalgeschichtlichen Zusammenhang,
so haben wir für eben diesen Zusammenhang keinen anderen Terminus
als das Wort psychisch . . . Daraus ergibt sich eine grundsätzliche For-
^
184 Siegfried Bernfeld
■ Ji
m
derung für die Wissenschaft vom Psychischen: die Psychologie kann sich
nicht darauf beschränken, Bewußtseinsphänomene zu beschreiben, sondern
sie muß sie in ihrem Zusammenhang verstehen und erklären. Die Zu-
sammenhänge aber ruhen in dem Telos der Persönlichkeit, und diesem
Telos sind die Erklärungskategorien zu entnehmen, welche der Kategorie
der bloßen Bewußtseinserscheinungen übergeordnet werden müssen, damit
Psychologie als Wissenschaft möglich wird" (MP. S 249/50).
Diese Sätze entstammen einer Konzeption von Psychologie, die sich sehr
b deutlich von der alten Psychologie abgrenzt; bei der aber freilich nicht
6 mehr gilt, daß sie ihrer Zeit weit voraus war, denn 1919 waren die
i|| ^ heutigen psychologischen Strömungen bereits durchaus sichtbar, wenn
f auch noch nicht scharf konturiert. Weder die Psychologie, die auf Selbst-
beobachtung ruht, noch auch die Psychologie, die in Nervenprozessen die
Ursachen oder die zureichenden Bedingungen der psychischen Prozesse
sucht, genügt der personalistischen Forderung. Aber auch diese Formu-
lierungen von 1919 sprechen bei weitem nicht alle Konsequenzen aus, die
sie enthalten, nicht einmal alle, die Stern selbst gezogen hatte. Stern hat
die entscheidend wichtige Konsequenz seines eigenen Standpunktes gespürt
i'i.jjjjjlj' und erwogen, ihr aber bei weitem nicht die methodologische Rolle ein-
geräumt, die ihr zukommt und die er erst 1930 (PPF) ausführlicher erörtert.
!||[[||| Das Fundament der alten Psychologie ist nämlich die Gewißheil
der Selbstbeobachtung, die ja bekanntlich seit B er k el ey, ja, seit
Descartes als gewisser gilt, denn die Wahrnehmung der Außenwelt.
Die physiologische Psychologie hat an der Glaubwürdigkeit der Selbst-
beobachtung nicht gerüttelt; selbst die platteste materialistische Inter-
pretation berührt nur das Wesen des Bewußtseins, das „in Wahrheit"
Bewegung, Nervenprozeß sein soll, nicht aber die Glaubwürdigkeit seiner
I Inhalte. Hier sieht Stern „den grundlegendsten Unterschied zwischen dem
Personalismus und den meistens philosophischen Richtungen der Gegen-
wart . . . Die Persönlichkeit als geistige wäre (bei den Nicht-Personalisten)
in ihrem Sein so, wie sie sich der Selbstbetrachtung darstellt ... An
diesem naiven Subjektivismus ist wohl hier und da ein wenig gerüttelt
worden, aber doch immer nur gelegentlich und ohne Einsicht in die
grundsätzliche Bedeutung der Frage" (MP. S 238/259). Stern fordert eine
Erkenntnistheorie der Selbsterkenntnis, die er, freilich auf nächste wert-
philosophische Antworten eingestellt, in dieser Schrift kaum ansetzt. An dieser
Stelle erkennt und anerkennt Stern auch die Verwandtschaft des
P er s onalis mu s und der Psychoanalyse.
Diese Verwandtschaft besteht bei sehr großen Differenzen tatsächlich;
und sie bestünde vor allem dann, wenn Stern in seiner Forschungsarbeit
hl"
m
■l:'l
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
185
j-e Notwendigkeit und Möglichkeit der .Deutung' des Bewußtseins
A chfülirte; dieses liegt seinen konkreten Forschungsaufgaben im all-
meinen fern; das Prinzip der Deutung aber als eine der bedeutsamsten
Methoden der Psychologie liegt in der Linie des Personalismus. Es ist
. ^gji letzten Jahren in steigendem Maße, in verschiedenartigster Weise
freilich, in mannigfaltigen Psychologien als Prinzip und Praxis zur Geltung
gekommen. Stern widmet ihm {PW. 1930), die Ansätze von 1917 aus-
bauend, nunmehr konzentriertere Aufmerksamkeit. „Das Verfahren, durch
welches Bedeutungen festgestellt werden, ist die ,Deutung'. Von alters
her wird dies Verfahren angewandt, naiv oder reflektiert, einseitig oder
vielseitig; aber wissenschaftstheoretisch ist es noch wenig geklärt" {PJV.
S 67). Stern unterscheidet nach der sprachlichen Klarstellung, daß das
Deutungs material ge deutet, das Deutungs ziel er deutet wird, teleo-
logische und symbolisch-symptomatische Deutung. „Die teleologische
Deutung ordnet den einzelnen Tatbestand in die Zweckstruktur der per-
sönlichen Ganzheit ein, erfaßt ihn also in seiner Dienstbarkeit gegenüber
dem Sinngefüge. Diese Deutungs weise ist bipolar, da sie Nützlichkeit oder
Schädlichkeit, Hemmung oder Förderung des personalen Zwecksystems
konstatieren kann. Von solchen teleologischen Deutungen sind alle bio-
logischen, psychologischen Betrachtungen des menschlichen Individuums
derartig durchsetzt, daß es fast unbegreiflich erscheint, wie man lange
Zeit glauben konnte, durch eine ,naturwissenschaftlich' eingestellte Behand-
lungsweise die Teleologie ausschalten zu können" {PPF. S 68). Ausdrücklich
wird die Konstatierung von Verdrängungen durch die Psychoanalyse
bejahend hierher gerechnet. „Dabei ist teleologische , Deutung' keineswegs
identisch mit teleologischer , Erklärung', d. h. einer ursächlichen Zurück-
führung auf eine causa finalis^ (PW. S 69). Symptomatische Deutungen
vollzieht der Astrologe, Graphologe, Biograph, Richter und der wissen-
schaftliche Psychologe, „von der dunkelsten Magie ... bis zur strengen
Wissenschaft wird Deutung benutzt, ein Umstand, der es so schwer macht,
den Charakter spezifisch-wissenschaftlicher Symptomdeutung abzugrenzen.
Aber man darf wegen dieser Schwierigkeit nun nicht in den Fehler ver-
fallen, das Deuten aus der wissenschaftlichen Methodik ausschalten zu
wollen" {PW. S. 70). Das Ziel, dem alle Deutung zustrebt, „ist die Totalität der
Person. Dies kann aber nicht heißen, daß jeder Deutungsakt unmittelbar
zwischen der Deutungsmaterie und diesem Endziel verlaufen müsse . . .
(aber) die Richtung geht unbedingt und ausnahmslos vom Einzelmoment
zur Ganzheit hin . . . Von einer Fehlhandlung zu einem verdrängten
Komplex, von diesem zu einer vorherrschenden Triebrichtung, von dieser
zur allgemeinen Triebstruktur. Oder: von einem Zug der Handschrift zu
'V!
;l! i
m
einer Gemütseigenschaft, von dieser zur Charakterstruktur. „Diese Richtuns
des Deutungsganges auf Totalisierung bedeutet zugleich die Richtung von
außen nach innen, von der Oberfläche in die Tiefe, vom aktuell Wirk-
lichen zum dispositionell Möglichen" (PW. S 73). Nachdrücklich betont
Stern, daß das Deuten „seine eigene methodische Struktur hat, die es vom
, Schließen' scharf unterscheidet; jenes sucht vertikale, dieses horizontale
Zusammenhänge. Während die Schlußglieder — bis zu einem gewissen
Grad — homogen sind, gilt dies für die Deutungsglieder nicht. Aus dem
,Erschließen' wird ein echt personales Deuten in dem Augenblick, wo
beide Glieder durch einen gemeinsamen sie übergreifenden personalen Sinn-
zusammenhang als zueinandergehörend, und wo das zweite Glied (das
Deutungsziel) innerhalb dieses Zusammenhanges als das tiefer eingebettete
stärker totalisierte verstanden wird" {PPF. S 75). Das Schließen ist „danach
durch die lineare Eindeutigkeit des Zusammenhanges (funktionale, ursächliche,
korrelative)" bestimmt; sie ergibt sich aus erfahrungsmäßiger Regelhaftig-
keit. Dem Deuten fehlt sie {PfF. S 74). Der zweite bedeutende Unter-
schied zum Schließen ist nach Stern: „Die Beziehung zwischen Symptom
und Deutungsziel ist nicht linear, sondern radial, und zwar radial nach
beiden Richtungen. D. h. ein Symptom kann auf sehr Verschiedenes
gedeutet werden ; ein Deutungsziel kann aus sehr verschiedenen Symptomen
;|j|j| erdeutet werden. Diese Vieldeutsamkeit (Polysymptomatik) ist nicht etwa
lllj nur ein subjektiver Mangel, der aus der Unvollkommenheit des deutenden
i|i! Forschers entspringt; sie ist vielmehr das methodische Korrelat zu jener
Ijj objektiven Vieldeutigkeit, die wir als Wesensmerkmal personaler Existenz
[||| überhaupt aufgewiesen haben. Dem zu fordernden polysymptomatischen
|l!i Deutungsverfahren gegenüber macht sich nun weithin eine Neigung zur
j!i| Monosymptomatik geltend, die zu den stärksten Hemmnissen einer eigent-
|j| lieh wissenschaftlichen Deutungsmethodik gehört . . . Der Graphologe
lljj benutzt nur die Handschrift, der Chiromant nur die Handlinien, der
Psychoanalytiker nur unwillkürliche Verhaltungs- und Erlebnisformen, der
ßinetist nur die Reaktion auf bestimmte Testaufgaben ..." (P/F". S 76/77).
Dies Bemühen Sterns, das Deutungsverfahren — soviel ich sehe zum
erstenmal — in die Methodologie der Psychologie aufzunehmen, schätze
ich als großes Verdienst Sterns ein. Daß diese ersten Andeutungen noch
nicht zulänglich sind, wird von vornherein zuzugestehen sein. Aber es
zeigt sich, daß die Psychoanalyse sogleich einen Platz in der Psychologie
erhält, sowie man sich darüber klar wird, daß viele ihrer anscheinenden
Sonderbarkeiten von ihrer eigenartigen Methode herrühren, die selbst wieder
keine Absonderlichkeit, sondern eine Neuerung in der Psychologie ist, die
erwogen, geprüft, durchdacht sein will. Wenn Stern dabei der Psychoanalyse
)!
:lii
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
187
TT'nseitiekeit vorwirft, die sie mit Graphologie, Chiromantie, aber auch
njit Bin et und Ebbinghaus auf eine Linie bringt, so kommt das, wie
Vh noch zeigen werde, zum Teil daher, daß sich das in der Psychoanalyse
verwendete Deutungsverfahren nicht ganz mit Sterns Auffassung davon
deckt. Dies wird eine nähere Darstellung der Sternschen Einwände gegen
die Psychoanalyse zeigen, wobei noch einige Punkte des Personalismus
deutlicher dargestellt werden können.
Stern ist den Psychoanalytikern als einer derjenigen bekannt, die seiner-
zeit gegen die Psychoanalyse „Protest erhoben" haben, und die gelegentlich
wenig sachliche Äußerungen über die Psychoanalyse publiziert haben. Aber
damit ist die Stellung Sterns zur Psychoanalyse keineswegs richtig
katalogisiert. Stern vertritt vielmehr einen immer mehr zustimmenden
Standpunkt; d. h. es wird ihm immer deutlicher oder aus seiner Polemik
gegen die Psychoanalyse wird immer deutlicher, daß eine Reihe grundsätzlicher
Gedanken der Psychoanalyse seinem Personalismus nahe stehen, ja konsequent
sich aus ihm ergäben. Ich möchte im folgenden an Sterns Einwänden
gegen die Psychoanalyse zeigen, inwieweit dies der Fall ist. Ich werde
aber nicht versäumen, auch die Stellen anzugeben, wo zwischen Personalismus
und Psychoanalyse die prinzipiellen Differenzen liegen, die nicht mehr
auf Mißverständnissen hüben und drüben beruhen.
So zahlreich im einzelnen, z. B. in der neuesten Auflage seiner Psycho-
logie der frühen Kindkeit (Ki), die Einwände und Ablehnungen sind, die
Stern gegen die Psychoanalyse erhebt, so zentrieren sie sich doch um einige
wenige Grundeinwände, die wir um so ernster nehmen müssen, als ihnen
eine mindestens ebenso große Zahl von Zustimmungen gegenübersteht.
Seine „Psychologie der frühen Kindheit" ist geradezu durchzogen von der
Anerkennung wichtiger und zentraler psychoanalytischer Einsichten. Stern
verschließt sich keineswegs einer Unzahl von Tatsachenfeststellungen, aber
auch nicht einer Reihe von Momenten der psychoanalytischen Theorie.
Seine Ablehnungen, die sich vor allem auf die kindliche Sexualität,
übrigens keineswegs auf die ganze, beziehen, sind allermeistens durch die
unmethodische „Deuterei", durch die man alles aus allem deuten könne,
motiviert. Wenn dieser Einwand von psychotherapeutischer Seite käme,
so würde er vielleicht als „Widerstandssymptom", jedenfalls als Einwand
von sehr veralteter Form und geringem Niveau beiseite zu schieben sein.
Ich glaube aber nicht, daß dieses Verhalten gegenüber dem Psychologen
gleich berechtigt wäre. Hierfür scheint mir eine Reihe von Gründen zu
sprechen, die im Interesse der Klarheit und der Sicherheit der psycho-
analytischen Psychologie an und für sich Interesse verdienen. Zunächst
ist der Prozeß der Resorption der Psychoanalyse in der Psychotherapie
188
Siegfried Bernfeld
seit viel längerer Zeit im Gange als in der Psychologie. Es mui3 uns weder
verwundern noch ungeduldig machen, wenn wir bei Psychologen auf
Einwände stoßen, die uns als längst überwundene erscheinen (sind sie
übrigens wirklich in der Psychotherapie?). Dem Psychotherapeuten, welcher
Schule immer, der sich der Methodologie zum Angriffe bedient, dürfen
wir entgegnen, er möge doch prüfen, welche Legitimation seine eigenen
„Deutungen" haben; ohne Deutung ist ja Psychotherapie überhaupt nicht
möglich; die seinen mögen wirksamer, befriedigender, tiefer oder auch
nur banaler erscheinen — keine psychotherapeutische Schule kann be-
haupten, „wissenschaftlicher" zu verfahren als die Psychoanalyse. Dies
liegt in jeder Hinsicht anders bei der Psychologie, oder auch Kinderpsycho-
logie, die für Stern besonders in Frage kommt. Unbestreitbar gibt es
Psychologie, die ohne „Deutung" auskommt; ja, die ältere Psychologie
kannte dies Verfahren überhaupt nicht, lehnte es ab oder war sich seiner
nicht bewußt. Sterns Psychologie fordert „Deutung" auch in der Kinder-
forschung und setzt eine Methodologie dieses Verfahrens an. Man kann
der Psychologie auch nicht bestreiten, daß sie wissenschaftliche Methoden
verwendet, ausbaut, daß sie ernstlich bemüht ist, ihren Erkenntnissen den
je erreichbaren Grad von wissenschaftlicher Sicherheit zu verschaffen. Sie
hat ein volles Recht, als Tatsachenfeststellung nur das anzuerkennen, was
mit ihren Methoden sichtbar wird. „Die überaus schwierige Aufgabe der
richtigen Deutung", die Stern durchaus für nötig hält, „wird also nur
dann gelöst werden können, wenn sie das Kind selbst zum Ausgangspunkt
nimmt und nur solche Triebe und Affektgrundlagen annimmt, die auch
mit anderen methodologischen Hilfsmitteln als denen der symbolischen
Deutung festgestellt werden können" {KL, S. 255). Dieser Grundsatz ist
unzweifelhaft richtig. Freilich könnten seine Konsequenzen etwas gemildert
werden, wenn die psychoanalytische Methode als Forschungsmittel der
Psychologie überhaupt sichergestellt wäre; was u. a. durch Klärung des
Deutungsbegriffes geschehen kann und soll. Schließlich will nicht vergessen
sein, daß psychoanalytische Publikationen zur Kinderpsychologie vielfach
berechtigten Anlaß gegeben haben, an der Brauchbarkeit der Deutungs-
methode zu zweifeln. Wenn Hug-Hellmuth z. B. aus den Tagebüchern
des Elternpaars Stern über deren Kinder Beweise für die Richtigkeit gewisser
psychoanalytischer Behauptungen zu gewinnen sucht, so ist dies, da ja
allen Deutungen die Einfälle der Kinder fehlen, da diese empfindliche
Lücke auch nicht durch anderes Material kompensiert wird, zwar für den
Psychoanalytiker, der Einsichten bereits gesichert glaubt, ein neuer Beleg
für deren Richtigkeit, hat aber tatsächlich keinerlei Überzeugungswert für
den Kinderpsychologen, der bemüht ist, seinem Material nicht mehr
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
189
lesen, als das Material unter Anwendung gesicherter Methoden er-
laubt.
Es ist daher durchaus nötig, sich zu überlegen, was an dem Vorwurf
3 fessellosen Deuterei", den Stern bei Anerkennung des Deutungs-
fahrens überhaupt gegen die Psychoanalyse aufrecht erhält, richtig sein
a- um so nötiger, als wir in der Psychoanalyse eine eindeutige Fest-
1 ffung des Begriffes Deutung noch nicht haben. Im psychoanalytischen
Snrachgebrauch lassen sich leicht mehrere recht verschiedene Verfahren
unterscheiden, die man „deuten", „Deutung", nennt. Da ist zunächst die
Deutung, die der Analytiker im Laufe einer analytischen Behandlung dem
Analysanden gibt. Ob es sich dabei um Deutung eines Traumes, eines
Symptomes, einer Übertragungsäußerung oder eines Widerstandes handelt,
ob der Analytiker seine Mitteilung als Deutung bezeichnet oder oh er
durch irgendein Verhalten eine Deutung vorbereitet oder ein Deutungs-
erlebnis im Patienten intendiert, es handelt sich hier immer um Akte
innerhalb der Therapie, und es empfiehlt sich, dies therapeutische Deutungs-
verfahren vom wissenschaftlichen abzusondern. Die Therapie, auch die
wissenschaftlichste, bezweckt ja nicht Erkenntnis, sondern Änderung einer
psychischen Struktur; und wenn die Analyse sich auch rühmen darf,
sokratische Ziele zu verfolgen, durch Einsicht zu ändern, so ist doch
offenkundig die Beziehung zwischen Heilung, Erkenntnis und Selbsterkenntnis
recht kompliziert, und wenn man auch die therapeutische Tätigkeit des
Analytikers ein „Deuten" nennen kann, so präjudiziert sein Verfahren
nichts für die psychoanalytische Psychologie. An der Notwendigkeit,
methodologisch die therapeutische Deutung von dem wissenschaftlichen
Forschungsverfahren der Psychoanalyse zu scheiden, ändert die Tatsache
nichts, daß unsere psychoanalytischen Einsichten ursprünglich durch
therapeutische Analysen gewonnen wurden. Praktisch sind die beiden
Prozesse miteinander verbunden, logisch sind sie sehr wohl trennbar.
Neben diesen für die Analyse spezifischen therapeutischen Deutungen
bezeichnen wir sehr häufig mit dem Wort „deuten" denselben Erkenntnis-
prozeß, der ganz allgemein so genannt wird, nämlich das Erraten
einer verborgenen, verheimlichten Absicht. So „deuten wir die ver-
borgene Absicht des 'Patienten, die heutige Stunde zu „verreden". Hier
heißen wir „deuten" nichts anderes als: wir erraten seine Absicht. (Je
nach Bedarf teilen wir ihm diese erratene Absicht mit, „geben sie ihm
als Deutung", nämlich als therapeutische Deutung.) Dies Erraten geschieht
entweder intuitiv oder geleitet von allgemeiner Menschenkenntnis, oder
schließlich unterstützt von psychoanalytischen Kenntnissen. Aber die so
erratenen Absichten erheben keinen Anspruch darauf, wissenschaftliche
I"! 1
r'ijjih'i
Erkenntnisse zu sein, wenngleich sie sich durch Verifikation zu solch
erheben lassen. Keinesfalls ist dies stark intuitiv gefärbte und nicht le" h
beschreibbare Erraten die Forschungsmethode der Psychoanalyse. -VV
wollen es im folgenden überhaupt nicht „Deuten" nennen.
Wir haken uns an das Verfahren, das Freud als Traumdeutung im
Titel seines Buches hervorgehoben hat, und prüfen, wie weit dies Deuten
des Traumes, das an dem Ziel orientiert ist, wissenschaftliche Erkennt-
nisse über die Psychologie des Traumes zu erlangen, mit den Sternschen
Aufstellungen über die Deutung übereinstimmt. Wobei wir, wie gesagt
die Verwendung der „Traumdeutung" innerhalb der therapeutischen Analyse
hier nicht berücksichtigen. Stern unterscheidet Deutungsmaterie vom
Deutungsziel. Was wäre in unserem Falle das Deutungsziel? Merkwürdiger-
weise nicht etwa das Unbewußte, sondern das Bewußte, nämlich der
manifeste Traum — ihn erdeuten wir, d. h. wir wollen ihn verstehen
„erklären". Was wäre das Deutungsmaterial, womit deuten wir? Merk-
würdigerweise wieder das Bewußte, nämlich die Einfälle des Träumers.
D. h. aber nach der Sternschen Terminologie: wir „deuten" überhaupt
nicht, sondern wir „schließen linear" auf Grund „regelhaften Zusammen-
treffens", wir erklären den Traum „kausal" und „deuten" ihn überhaupt
nicht, weder teleologisch noch symbolisch-symptomatisch. Wir verfahren
also bei der „Traumdeutung" durchaus, wie man auch sonst bei der
Erklärung von Naturvorgängen verfährt, und Freud hätte besser getan,
sein Buch Traumerklärung statt Traumdeutung zu heißen? So ganz ein-
fach ist der Sachverhalt freilich nicht; aber es bleibt beachtenswert, daß,
soweit das erste Sternsche Kriterium reicht, die Struktur des psycho-
analytischen Verfahrens nichts Ungewöhnliches darbietet. Tatsächlich meint
Freuds Bemühen, den Traum als sinnvollen zu erkennen, seine unbewußten
Motive zu deuten, wie schon Hart mann betont, aber auch bei Freud
klar zu lesen steht, kausale Erklärung.
Es wehrt sich dennoch etwas in uns, anzunehmen, daß die Traum-
deutung nichts anderes sein soll als jede andere kausale Erklärung auch.
Mir scheint hier doch noch etwas enthalten zu sein, was Berücksichtigung
verlangt. Ich mache es mir an Bildern klar und vergleiche das psycho-
analytische Verfahren mit dem des Archäologen, worauf Freud oft genug
anspielt, und mit dem des Detektivs (in den Romanen) : beide finden sich
vor einem Trümmerhaufen, vor einer verschütteten Stadt, einem um und
um gewühlten Zimmer. Beide wollen einen vergangenen Zustand
oder Vorgang rekonstruieren, sie deuten die Reste. Der Detek-
tiv hat dabei einen Vorteil; den Ausgangszustand „wie das Zimmer war",
kann er in der Regel leicht rekonstruieren; sein Scharfsinn gehört der
Jüllfi
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
191
Aufgabe, aus den Anzeichen der Zerstörung den Vorgang zu erschließen,
jer von jenem Ausgangszustand zum manifesten Wirrwarr geführt hat;
der Archäologe hat demgegenüber den Zerstörungsprozeß leicht fest-
gestellt, und hat die Hauptarbeit an die Wiederherstellung des Ausgangs-
zustandes zu wenden. Man kann ohne Zwang beide Verfahren Deutung
nennen, man kann sie ebensowohl ein Schließen nennen. Nach Sterns
Definition deutet jedoch weder der Archäologe noch der Detektiv. Es
handelt sich bei beiden um Induktionsschlüsse. In ihre Schlußketten gehen
freilich eine Reihe von teleologischen Deutungstatsachen ein, nämlich daß
Menschen mit bekannten Zwecken hier gebaut oder geraubt haben zu
bekannten Zwecken; oder auch zu Zwecken, die aus den Anzeichen zu
erraten wären. Die Schlußketten, die zur Rekonstruktion führen, sind in
Wirklichkeit nicht vorhanden, sondern „Intuitionen", „Gestaltsauffassungen"
stehen an ihrer Stelle; aber das Resultat des Denkens, Erfassens, Erratens
läßt sich nachträglich als Induktionskette darstellen. Sherlock Holmes erfreut
uns durch die Vorspiegelung solchen bewußten methodischen Erschließens.
Die Traumanalyse hat große Ähnlichkeit mit diesem Rekonstruktions-
verfahren. Der manifeste Traum ist der Trümmerhaufen, den der Kampf
zwischen Über-Ich und Wünschen zurückgelassen hat. Kennen wir diese
Wünsche und kennen wir die Zensur, so können wir von diesem Aus-
gangszustand aus den Vorgang der Traumbildung rekonstruieren, wie ein
Detektiv; kennen wir sehr genau den Zerstörungsprozeß, die Traum-
bildung, so können wir, wie der Archäologe, den Ausgangszustand, die
Wünsche, rekonstruieren. Ich meine, diese Vergleiche belehren uns, daß
mindestens ein beträchtlicher Teil der Traumdeutung nicht als Deuten im
Sinne Sterns zu qualifizieren wäre; sie machen uns aber auch auf den
Unterschied vom sonst in der Naturwissenschaft üblichen Verfahren auf-
merksam. Es handelt sich um ein exquisit historisches Verfahren ;
wir erschließen aus seinen Spuren den Vorgang, der die Spuren hinter-
lassen hat. Dieses Verfahren verdiente sehr wohl durch einen eigenen
Namen ausgezeichnet zu werden, wenngleich es gewiß nicht für die
Psychoanalyse, nicht einmal für die Psychologie spezifisch ist. Es ist viel-
mehr ein Verfahren, das jede historisch oder genetisch orientierte Wissen-
schaft verwendet; die Geschichtswissenschaft ebensogut wie die Geologie
etwa. Das Verfahren selbst bietet kein uns hier angehendes Problem; es
mtendiert zweifellos kausale Erkenntnis, es ist mindestens auf der Voraus-
setzung irgend einer Gesetzlichkeit des Geschehens aufgebaut.
Neben diesen Rekonstruktionen enthält die Traumdeutung nicht wenige
»teleologische Deutungen", die völlig den Stern sehen Charakteristiken
entsprechen. So spricht Freud vom Traum als dem Hüter des Schlafes, so
Siegfried Bernfeld
behauptet die allgemeine Traumformel, daß der Traum der Wunsch-
erfüllung diene. Unbestritten verwendet die Psychoanalyse auch sonst
vielfach teleologische Deutungen. Denn selbstverständlich anerkennt sie
Wünsche, Zwecke — Telos, wie Stern sagt — ■ und sie hat vielfach Anlaß
sich mit ihnen zu befassen, daher teleologische Betrachtungen anzustellen
Es sind allerdings gerade diese Gedankengänge nicht, die im psycho-
analytischen Sprachgebrauch als Deutungen bezeichnet werden. Wir sagen
eher, der Traum wird als Hüter des Schlafes erklärt, als : er wird als Hüter
des Schlafes gedeutet. Tatsächlich dürfte man das Wort „erklären" hier
beanstanden, während Sterns Terminus „teleologische Deutung" hier wohl
am Platze wäre. Aber was wir in der Psychoanalyse mit solcher teleologischen
Erklärung oder Deutung aussprechen, ist eine funktionelle Auffassung.
Die Funktion des Traumes überhaupt im Ganzen der personalen Leistungen
soll festgestellt werden.^ Dies funktionelle Verständnis, die Traumerklärung,
erschließt sich aber erst auf Grund der Einsichten, die aus der Rekonstruktion
der Traumbildungsvorgänge gewonnen wurden; Rekonstruktionen, die aus
Spuren (dem manifesten Trauminhalt und den Einfällen) an einzelnen
Träumen gewonnen wurden. Der Unterschied zwischen dem Verständnis,
das sich auf ein konkretes, individuelles Phänomen bezieht, „diesen Traum",
und der Einsicht, die auf die allgemeine Natur eines psychischen Prozesses,
„den Traum", geht, wird in der Psychoanalyse lebhaft empfunden, wenn-
gleich er methodisch und terminologisch nicht durchgearbeitet ist. Gewöhnlich
sprechen wir, wenn von allgemeinen Prozessen die Rede ist, von Mechanismen,
Prinzipien, Erklärungen; wenn wir das Verständnis eines konkreten Phänomens
intendieren, von Deutung. „Dieser Traum" wird gedeutet, „der Traum"
erklärt. Nach Sterns methodologischen Erwägungen wäre gerade Erklärung
„des Traumes", wenigstens soweit sie funktionelle Gesichtspunkte berück-
sichtigt, als teleologische Deutung zu bezeichnen und unsere Deutung
„dieses Traumes stünde als historisch-(genetische) Rekonstruktion dem
„Schließen mindestens sehr nahe. Da gerade das Verfahren, das wir in
der Psychoanalyse Deutung nennen, uns die bedeutsamsten psychologischen
Erkenntnisse schafft, und da gerade dieses soviel Anfeindung und Miß-
verständnis erfährt, möchte ich sehr betonen: es gibt eine Fülle von
„teleologischen Deutungen" in der Psychoanalyse, aber nicht diese schaffen
die psychologischen Erkenntnisse, sondern die teleologischen Deutungen
i) Eben dies heißt P r e u d in der „Traumdeutung" den Traum als ein sinnvolles,
vollwertiges psychisches Phänomen verstehen. Der Psychologie von igoo war dieser
Gesichtspunkt so fremd, die übliche psychologische Erklärung hatte ein so völlig
anderes Ziel, daß Freud die Eigenart seiner Absicht mit dem besonderen Worte
„Deutung" hervorheben wollte.
Die Krise der Psychologie und die Psydioanalyse
193
den auf Grund von Erkenntnissen möglich, die wir zwar „Deutungen
nennen pflegen, die aber durch Rekonstruktion aus Spuren gewonnen sind.
Am klarsten wird das wohl bei der Symboldeutung, die auf den ersten
Rlick ganz in Sterns Kategorie der symbolisch-symptomatischen Deutung
gehören scheint. Wer die Symbolik in der von Freud abgelehnten
Weise die Stekel z. B. übte, betreibt, „deutet" gewiß überhaupt nicht,
nndern nimmt einen regelhaften festen Zusammenhang zwischen gewissen
Traumbildern und bestimmten unbewußten Tatbeständen an; Haus im
Traum bedeutet ihm Mutterleib im Unbewußten, nicht anders als
äR" Körpertemperatur Fieber bedeutet, eines steht für das andere, bezeichnet
es meint dasselbe, ist festes Anzeichen für es. Aber auch für die Freudsche
Auifassung vom Symbol ist die Regelhaftigkeit entscheidend. Die Symbol-
deutung beruht auf der Kenntnis eines allgemeinen Mechanismus: der
der Symbolbildung. Daß dieser Prozeß in einem bestimmten Traum an
einer bestimmten Stelle statthatte, nehmen wir an, wenn sich im mani-
festen Trauminhalt und in den Einfällen Anzeichen vorfinden, die uns
als Spur des Symbolbildungsprozesses bekannt sind. Solche Deutung als
Symbol ist im Sternschen Sinne nun keine Deutung. Ein völlig anderes
Problem bildet der Symbolbildungsvorgang selbst, vor allem die Beziehung
zwischen Symbol und Symbolisiertem. Für die „Deutungen der Psycho-
analytiker" kommt dies Problem, zu dem die Psychoanalyse übrigens bisher
wenig zu sagen hatte, nicht in Frage. Denn nicht, wie Symbole entstehen,
sondern was uns berechtigt, einen stattgehabten Symbolbildungsprozeß
anzunehmen, ist die umstrittene Frage. Vorausgesetzt, wir kennen die
Anzeichen des stattgehabten Symbolbildungsprozesses sehr genau, dann
wird die „Deutung" zur Diagnose. Das mühevolle Verfahren der
Rekonstruktion aus zahlreichen Spuren wird ersetzt durch die abkürzende
Diagnose. Selbstverständlich hat die Diagnose Rekonstruktionen zur Voraus-
setzung, sie ist aber methodologisch ebenso wie die Rekonstruktion ein
kausal schließendes Verfahren.
Für das Deutungsverfahren charakteristisch ist nach Stern die schritt-
weise Progression in die Tiefe der Person, „von der Fehlhandlung zum
unbewußten Komplex, zur Triebstruktur". Diese Richtung hat das psycho-
analytische Verfahren gewiß. Aber die Tiefe der Person, auf die wir hin-
zielen, ist nicht in erster Linie „Kern" oder „Totalität" der Person,
sondern entweder ein abgespaltener, einem besonderen Schicksal unter-
worfener „Besitz" der Person: das verdrängte Unbewußte; oder eine
historisch je ältere Schichte, je „tiefer" wir „deutend" eindringen. Füi
die Fehlhandlung gilt das gleiche wie für den Traum. Die Handlung wird
gedeutet: es wird der innere Vorgang, dessen Resultat sie ist, rekonstruiert.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII— 2 ig
II
Siegfried Bernfeld
Die richtig „gedeutete" Fehlhandlung gewährt uns einen „Einblick" {„
einen Charakterzug oder in eine verborgene Absicht der Person; die
kann sich plötzlich durch eine solche Leistung erschließen oder auch
verraten. Aber diese Verwertbarkeit eines Selbstverrates (um ein Beispiel
zu nennen) ist weder von der Psychoanalyse erfunden noch für sie
spezifisch. Die Fehlhandlung kann mir auch einen Komplex „verraten"-
ich werde gewiß sagen, der Komplex, der an der Fehlhandlung teilhatte'
sitze „tiefer" als diese selbst; die Psychoanalyse meint damit zunächst nichts
anderes als daß dieser Komplex genetisch älter ist als die Fehlhandlung
und daß er infolgedessen nicht nur bei dieser einen heutigen Fehlhandlung
mitwirkte, sondern seit Jahr und Tag mannigfaltige Spuren in verschiedensten
personalen Äußerungen niederschlug. Die Sammlung und Sichtung dieser
Spuren erlaubt uns seine Rekonstruktion. Es wird sich dabei erweisen
daß z. B. analsadistische Regungen geholfen haben, ihn aufzubauen. Sie
sind älter und hatten schon vor Entstehung des Komplexes als Triebstruktur
Wirkungen entfaltet, deren Spuren es aufzufinden gilt. Es handelt sich
also tatsächlich um ein immer „tieferes" Eindringen in die Person, d.h. aber um
Rekonstruktion von Vorgängen, die immer weiter zurück liegen. Daß hier
ein Rekonstruktionsverfahren und keine „Deutung" vorliegt, kann um so
leichter übersehen werden, je gesicherter die Spurenwissenschaft ist oder dem
„Deuter" erscheint; d. h. je genauer eine bestimmte Spur einem bestimmten
vergangenen Vorgang zugeordnet ist (oder vermeint wird). Der Psycho-
analytiker glaubt über eine ganze Reihe sehr „tiefer" Prozesse sehr gut
Bescheid zu wissen; er erkennt sie an sehr abgeleiteten, sehr jungen Aus-
läufern, und fühlt sich daher oft imstande, unter Auslassung umfänglicher
Detailrekonstruktion weit zurück, sehr „tief" zu „deuten". Er vollzieht
dabei nichts anderes als eine Diagnose. Aus einer Phantasie des Erwach-
senen diagnostiziert er („deutet" er) ein frühinfantiles Libidoschicksal.
In Wahrheit ist Rekonstruktion und Diagnose nie in dem Maße sicher,
das wir gewöhnt sind als exakte Erkenntnis anzusprechen. Hier bewährt
sich ein Sternsches Kriterium der Deutung für die psychoanalytischen
Deutungsvorgänge, ohne daß sie ganz in seinem Sinne Deutung wären.
Es bleibt nämlich doch gegenüber jeder Rekonstruktion der Einwand:
daß, wenn in tausend Fällen der Vorgang vom Typus A eine Spur a
hinterläßt, in einem looi. Fall a von einem Vorgange Typus B herbei-
geführt sein kann. Oder auch: wir kennen zwei Vorgänge, die, ganz
verschieden in ihrer Natur, doch beide zur Spur a führen, und wir
haben kein Mittel, diese beiden verschiedenen a von einander zu unter-
scheiden. Die Rekonstruktionen, die die Psychoanalyse Deutungen nennt,
sind zunächst vieldeutig, wie die Deutungen im Sinne Sterns. Und es gih auch
Die Krise der Psychologie und die Psydioanalyse
195
für beide, daß sie keineswegs darum minder bedeutsam sind als die ein-
deutigen linearen Zuordnungen, die man Kausalerklärungen im engsten
Sinne des Wortes nennt. Sie sind auch weder der Psychoanalyse noch
gar der Person Wissenschaft spezifisch, sondern alle historischen und
genetischen Wissenschaften sind in der gleichen Situation. Mit einer
Eigenart der Gesellschaft oder der Menschen hat dies aber kaum zu tun,
da die ganze Biologie und eine Reihe von Problemen der Physik sich in
derselben Lage befinden — es würde hier aber zu weit führen, die
Methodologie der historischen und genetischen Rekonstruktion anzuschneiden
— uns genüge, dai3 die Erkenntnisprozesse, die wir in der Psychoanalyse
Deutungen nennen, in diese Gruppe gehören und nicht einen ausschließen-
den Gegensatz zur „linearen, kausalen Erklärung" bilden, den Stern für
symbolisch-symptomatische Deutungen postuliert. Daher trifft die psycho-
analytische Deutung auch nicht der Sternsche Vorwurf der Einseitigkeit.
Einseitig ist weder das Verfahren der psychoanalytischen Deutung noch
ihr Material; hingegen ist das Resultat ihrer Rekonstruktionen „einseitig".
Dies ist aber nur selbstverständlich. Wenn die Psychoanalyse die Spuren
der Ödipussituation studiert und findet, daß diese zwar schwer erkenn-
bar, aber sehr mannigfaltig und zahlreich im Leben, Träumen und Phan-
tasieren der Menschen vorhanden sind, wenn sie gerade in diesen Spuren
besonders sachkundig aus winzigen Bruchstücken komplizierte vergangene
Situationen zu diagnostizieren und zu rekonstruieren vermag, so ist nicht dies
Verfahren als ein spezielles Deutungsverfahren einseitig oder besonders
problematisch. Auch das Bemühen des Analytikers, dessen Interesse auf
die Rekonstruktion der Ödipussituation gerichtet ist — aus welchen
Gründen immer — möglichst viele Spuren gerade dieses Ereignisses her-
beizuschaffen, ist nicht als einseitig qualifizierbar. Dies alles hat mit der
Kritik der Natur und Berechtigung des psychoanalytischen Deutens nichts
zu tun, sondern bloß mit der Frage der Verifizierung, die uns in diesem
Zusammenhang nicht zu beschäftigen braucht.
Der Begriff der Deutung, wie ihn die Psychoanalyse gebraucht, ist mit
diesen Bemerkungen keineswegs erschöpft. Er stellt eine Reihe von
Problemen, die mit Ausdruck, Form und Gestalt zu tun haben, die ich
aber lieber in Verbindung mit den psychologischen Schulen besprechen
möchte, die vorzüglich von dieser Seite her unser Interesse beanspruchen.
Aber ehe ich weiter den Sternschen Deutungsbegriff und die aus ihm
folgende Kritik an der Psychoanalyse betrachte, möchte ich noch darauf
hinweisen, daß der Analytiker tatsächlich subjektiv, indem er deutet,
keineswegs aus Spuren „schließt". Vielmehr geht ihm, während er die
Einfälle hört, „der Sinn des Traumes, dessen Deutung, auf", und zwar in
13*
196
Siegfried Bernfeld
einer Weise, die zwar schwer beschreibbar ist, die aber doch in jenem
späteren Zusammenhang erörtert werden soll. Dieses Erlebnis des Aufgehens
einer Deutung ist vom Schließen so sehr verschieden, daß Analytiker!
selbst sich darüber im unklaren sein können, wie ihr eigenes Verfahren
methodologisch einzureihen wäre, und gelegentlich geneigt sind, die
Psychoanalyse als „Verstehen", als „übernaturwissenschaftliches Verfahren"
mißzuverstehen. Man braucht sich aber nur zu fragen, woher wir uns die
Überzeugung von der Richtigkeit unseres Verfahren holen, um sich darauf
zu besinnen, daß wir an eine „Deutung" erst glauben, wenn sie verifiziert
ist, wenn sie sich in „regelhaft wiederholt auftretende Zusammenhänge
einreiht. Freud spricht von Rekonstruktion und Erraten und zeigt damit
deutlich an, daß er verifizierbare Erkenntnis eines stattgehabten Vorgangs
meint.
Von teleologischen Deutungen macht die Psychoanalyse nicht nur in
der Traunaerklärung sehr ausgiebigen Gebrauch, sie sind ein wesentliches
Stück ihrer Theoriebildung. All die Betrachtungen, die wir mit dem Lust-
Unlust-Prinzip verbinden, kurz alle Erklärungen im Sinne des ökonomischen
und zum großen Teil des sogenannten strukturellen Gesichtspunktes
gehören hierher. Wenn wir uns z. B. Handlungen, Phantasien usw. als
im Sinne des Lustprinips verlaufend vorstellen, oder wenn wir von den
Traumentstellungen sprechen, die um der Zensur willen geschehen, vom
sekundären Krankheitsgewinn, von Angstersparnis usw., handelt es sich um
echte teleologische Deutungen im Sinne Sterns. Dabei unterlaufen Psycho-
analytikern gelegentlich methodologisch recht unzulängliche Anwendungen.
Ich sehe von den sehr häufigen unkorrekten Äußerungen ab, die den
Anschein eines Denkfehlers erwecken, wo es sich nur um methodologische
oder sprachliche Ungenauigkeiten und kleine Inkonsequenzen handelt.
Aber teleologische Deutungen sind immer nur mit gewissen beträchtlichen
Schwierigkeiten verifizierbar. Die Funktion, die ein Teil im Ganzen hat,
befriedigend festzustellen, ist sachlich schwierig — für die funktionellen
Behauptungen der Psychoanalyse zum Teil prinzipiell unmöglich - — und
bietet formal eine Anzahl logischer Schwierigkeiten. Wir glauben gewiß
nicht, daß die Pflanzen und Tiere um der Menschen willen da sind, aber
es ist keineswegs leicht, diesen Glauben zu widerlegen, es ist sogar
unmöglich, ihn ohne weitgehende erfcenntnistheoretische, wissenschafts-
logische Voraussetzungen zu widerlegen, und der Gegenbeweis kann nur
die Behauptung durch Aufdeckung von widersprüchlichen Konsequenzen
unglaubwürdig machen. So ist die Behauptung von A. Adler, „daß alles
dem Machttrieb diene", so wenig wie die angebliche Behauptung der
Psychoanalyse, „daß alles dem Sexualtrieb diene", widerlegbar. Und wenn
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
197
die funktionell (teleologische) Aussage auf „fast alle Phänomene ein-
enfit wird, so ist wirklich der Willkür Tür und Tor geöffnet. Man
hilft sich dann etwa durch die weitere Einschränkung, man wolle die
Behauptungen auf die sinnvollen, wissenschaftlich sinnvollen Fragestellungen
inschränken, wäre aber nunmehr verpflichtet, sich über jene schwierigen
letzten Fragen des Sinns in der Wissenschaft klar zu äußern. Hier würde es
auch nichts helfen, vor Einseitigkeit zu warnen (was Stern übrigens auch
nicht tut: seine polysymptomatische Forderung bezieht sich nicht auf die
teleologische Deutung), denn jede teleologische Deutung ist willkürlich,
also auch die mehrfache. Unbestreitbar legitim ist, wenn ich recht sehe,
die teleologische Deutung nur, wenn die Absicht, das Telos, auf das sie
bezogen wird, sichergestellt ist; es würde nicht genügen, daß es evident
sei, vielleicht nicht einmal, wie im Falle der Lust, daß es tautologisch sei.
Verifizierbar ist es bei der Maschine, deren Telos tatsächlich bekannt ist,
oder bei einem Menschen, der die erdeutete Absicht selbst eingesteht. Der
Psychoanalyse würde dieser Fall nicht viel helfen, da sie ja grundsätzlich
unbewußte Absichten anzuerkennen hat. Handelt es sich gar um ein
Ganzes, wie es die Person ist, so ist der oft erhobene Einwand sehr ernst
zu nehmen: „da in der Person wirklich alles mit allem zusammenhängt,
ist auch alles von allem abhängig, funktionell und funktional, deutbar".
Tatsächlich trifft dies wirkliche Dilemma der teleologischen Deutung die
Psychoanalyse in sehr viel geringerem Maß, als man gemeinhin denkt,
und vor allem an der am wenigsten empfindlichen Stelle, nämlich ledig-
lich an einem Teil ihrer Theorien; während ihr Erkenntniserwerb, wie
ich oben zeigen wollte, nicht vermittels teleologischer Deutung geschieht.
Aber andererseits sind alle „Abfallbewegungen" ausgegangen von teleolo-
gischen Gesichtspunkten — Stekel, Adler, Jung, Rank - — es hat
dies wenigstens wesentlich mitgespielt. Für die analytische Therapie - — ■
und die mit ihr engst zusammengehörigen Gebiete — besteht ein sehr
wirksamer Schutz gegen die Gefährdung durch die teleologische Deutungs-
problematik. In der analytischen Situation kann nämlich die teleologische
Deutung — „alles gehört dazu" — kaum übertrieben werden, weil die
bewußte und unbewußte Absicht, die Neurose aufzugeben oder auch zu
behalten, eine reale, meist unmittelbar verifizierbare ist. Aber wir wissen,
daß schon in der Kinderanalyse die Technik dieses schrankenlose Anwesend-
sein von „Absicht" nicht mehr so unbedingt voraussetzen darf und daher
gewisse Modifikationen vornehmen muß. So wie wir Anwendung der
Psychoanalyse auf die Gesellschaftswissenschaft oder gar psychoanalytische
Psychologie betreiben, wird die Gefahr des Mißbrauchs der teleologischen
Deutung real.
198 Siegfried Bemfeld
Die Konsequenz, die hier zu ziehen wäre, lautet keineswegs, auf di
teleologischen Deutungen zu verzichten, es wird auch kaum einen Ana-
lytiker geben, der bereit wäre, das Lustprinzip zu opfern. Vielmehr handelt
es sich bloß darum, die von Freud in vollster Klarheit aufgezeigten
Bahnen einzuhalten. Es ist kein Zufall, daß Freud gerade bei seinem
ökonomischen Gesichtspunkt den Anschluß an die Biologie, ja die Physik
fordert. Die Fragen der Lust sind ihm letztlich quantitative Fragen; der
Trieb — das Telos der Person — mündet in die Tendenz nach dem
Ruhezustand, dem Ausgleich; das Lustprinzip ist mit dem physikalischen
„Stabilitätsprinzip" verknüpft. Gerade bei dem exquisit qualitativen, teleo-
logischen Deutungsprinzip ruft Freud nach dem Anschluß an die übrige
quantitative Naturwissenschaft. Für Freud sind alle teleologischen Deutungen
„vorläufige", die ihre Fundierung erst von einer Wissenschaft irgendwelcher
„dahinterliegender" quantitativer Verhältnisse bekommen sollen. Bemühungen,
wie sie manchem Psychoanalytiker sympathisch erscheinen, die teleologischen
Deutungen auszubauen, selbständig zu machen, und die quantitativen
Probleme aus der Psychoanalyse abzuschieben, sind abwegig und müssen
notwendigerweise die ganze verbleibende Psychoanalyse in die Dilemmen
einer teleologischen „Wissenschaft" hineinziehen. Es liegt aber nicht an
der Psychoanalyse, diese vorläufigen teleologischen Begriffe, Deutungen
und Erklärungen zu überwinden. Sie sind in der Psychoanalyse völlig
unvermeidlich, mindestens soweit es sich um die Trieblehre handelt. Denn
der Begriff „Trieb" ist an und für sich mit Ziel verbunden, und so sehr
Freud erfolgreich bemüht war, gerade die Trieblehre ateleologisch aufzu-
bauen, so bleiben hier doch sehr wesentliche Schwierigkeiten, solange die
Biologie es nicht vermag, mit den Problemen des Zwecks, der Richtung
biologischen Geschehens, ans Ende zu kommen. Sorgfältige Darstellung
der Freudschen Trieblehre könnte zeigen, daß in ihr die unvermeid-
liche vorläufige Teleologie sogleich zu einer bloß terminologischen Be-
langlosigkeit würde, wenn die Biologie ihre wissenschaftliche Schuldigkeit
getan hätte.
Aus Sterns Kinderpsychologie sei nun eine Stelle beigebracht, an der
sich konkret das Mißverständnis aufweisen läßt, das sich aus den zwei
recht verschiedenen Bedeutungen ergibt, die das Wort „Deutung" im psycho-
analytischen Sprachgebrauch und in Sterns Personwissenschaft hat.
„. . . Es gibt nun aber unzählige andere Fälle, in denen die Symbolik
nicht so auf der Hand liegt — kein Wunder, daß dann die kindlichen
Phantasieäußerungen zum Tummelplatz willkürlicher Deutereien werden.
Denn symbolisch erdeuten läßt sich schließlich alles aus allem; und eine
vorgefaßte Meinung oder eine bestimmte Hypothese legt dann leicht die
Die Krise der Psydiologie und die Psydioaneilyse
199
Weee der Interpretation von vornherein fest, schiebt wohl auch eine
uneezwungene Erklärung beiseite, um eine weit hergeholte zu geben.
Reichliche Beispiele hierfür liefern die verschiedenen psychoanalytischen
Schulen, insbesondere die Freuds. Die Theorie, daß das unbewußte Trieb-
leben des Kindes vornehmlich erotisch-sexueller Natur sei, führt zu
Deutungen, die aus jeder Phantasievorstellung ein Sexualsymbol machen.
Eine große Rolle spielt hierbei der Eifersuchts- und Tötungswunsch-
komplex . . . Wenn nun ahnungslose kleine Kinder in irgendwelchen
Phantasieäußerungen das Wort „Tod" oder verwandte Ausdrücke gebrauchen,
so wird die Wirkung jenes Triebkoraplexes angenommen, wofür zwei
Beispiele von Hug-Hellmuth angeführt seien. Sie schreibt:
„Wenn der kleine Scupin spontan sagt, ,ich wer aber mein Papa in
ein Topf stecken und immer heißes Wasser mit der Kelle übers Gesicht
gießen, bis er schön weich wird, und dann wer ich 'n Papa aufessen', —
so sind solche Phantasien nicht allein auf das Märchen „Hansel und Gretel"
mit der Knusperhexe zurückzuführen, sondern in ihnen kommt die
unbewußte Absicht, sich gelegentlich des Papas, des gefährlichsten Rivalen
bei der Mama, zu entledigen, zum Ausdruck, und das Märchen liefert nur
das Mäntelchen, um den bösen Wunsch in harmlose Form zu kleiden . . .
(Ki., S. 5250).
Diese Sätze von Hug-Hellmuth werden wir gewiß eine psychoanalytische
Deutung nennen und m. E. eine im wesentlichen wohl richtige. Man
muß aber Stern zugeben, erhöben diese Sätze den Anspruch, eine neue
psychologische Erkenntnis zu gewinnen, so wäre diese durch jenes Verfahren
gewonnen, das Stern symbolisch-symptomatische Deutung nennt, im Prinzip
wohl anerkennt, aber mit vollstem Recht nur unter einer Reihe von
Kautelen anwendbar findet. Der Sachverhalt ist aber keineswegs so einfach.
Vielmehr handelt es sich für Hug-Hellmuth hier um die Anwendung
einer andersartig gewonnenen Einsicht, zum Zwecke einer Diagnose. Es
wird hier ausgesagt : den Phantasiesatz von Bubi erkenne ich — an bestimmten
regelhaften Anzeichen — als einen Fall vom Typus der entstellten Ödipus-
phantasie; Bubis Satz wird also in einen bestimmten Geschehensverlauf
vom Typus j4 eingeordnet. Diese Diagnose oder Zuordnung kann unrichtig
sein; sie ist aber keine Deutung im Sinne Sterns. Woran erkennt nun der
Psychoanalytiker den Geschehenstypus, dem dieser Satz zugehört? Ich
möchte diese Frage einem späteren Zusammenhang aufsparen und vor-
läufig sagen: an der Struktur dieses Satzes in der Gesamtsituation (Alter
des Sprechers, Phantasieäußerung usw.). Daß aber Sätze solcher Struktur
den Geschehensverläufen vom Typus A (Ödipusphantasie) angehören oder
angehören können, das ist eine Einsicht, die vorgängig gewonnen sein
200 Siegfried Bernfeld
muß, ehe diese Diagnose gestellt werden kann. Sie wurde keineswegs
aus Diagnosen, sondern aus Rekonstruktionen erhalten, wie ich oben dar-
stellte. Wie die Verifizierung dieser Rekonstruktionen geschah und wie
wertvoll sie ist, bleibe zunächst offen. Es sind zwei logisch unterscheidbare
Verfahren, die Hug-Hellmuth — wie übrigens in der psychoanalytischen
Literatur, nicht mit Recht, gebräuchlich — hier ungeschieden läßt. Aber eine
Kritik der Psychoanalyse, die für die Entwicklung der Psychologie förderlich
wäre, müßte die Tatsache der Verbindung zweier Verfahren berücksichtigen.
Zusammenfassend: der wesentliche psychoanalytische Erkenntniserwerb
geschieht nicht durch Deutungen, weder durch teleologische noch durch
symbolisch-symptomatische, sondern durch Rekonstruktion abgelaufener
Geschehnisse aus dem Studium ihrer Spuren. Hingegen spielen
teleologische (funktionelle) Deutungen in ihrer Theorie eine wesentliche
Rolle. Die durch jenes Rekonstruktionsverfahren gewonnenen Einsichten
werden zu Diagnosen verwendet. Im psychoanalytischen Sprachgebrauch
werden sowohl die Rekonstruktionen als auch die Diagnosen oft „Deu-
tungen" genannt. Die Kritik der psychoanalytischen Methoden müßte dies
berücksichtigen.
Es ist, wie bereits gesagt, nicht behauptet, daß das Erkenntnisverfahren,
das wir Deutung nennen, keine besonderen Probleme biete. Wenn es auch
nach m einer Meinung als teleologische Deutung nur ungenügend charakterisiert
wäre, so haben doch alle Rekonstruktionen der Psychoanalyse Bezug auf
die Person, und zwar auf die Person, wie sie Stern charakterisiert. Die
Psychoanalyse ist unbestreitbar eine personalistische Psychologie. Dieser
ihr sehr bedeutender Gegensatz zur alten Psychologie ist zwar m. W. nicht
ausdrücklich von Freud formuliert worden; und es gibt in der psycho-
analytischen Terminologie, besonders in der älteren, genügend Ausdrücke
und Wendungen, die an assoziationspsychologische und elementenpsycho-
logische Gedankengänge anknüpfen, oder aus der medizinischen Symptomatik
herrühren, so daß demjenigen, der sich bloß an die Worte hält, die Psycho-
analyse leicht als unpersonalistisch erscheinen kann. Wer aber versuchen
wollte, die psychoanalytische Gedankenwelt in den Begriffen der alten
Psychologie zu denken, käme bald zu argen Ungereimtheiten, die man
früher freilich skrupellos der Psychoanalyse vorwarf, die aber heute, da
die alte Psychologie nicht mehr als ausreichend gilt, kein Makel der
Analyse zu sein brauchen. Daß der Gegenstand der Psychoanalyse die
Person — und zwar die psychophysisch neutrale — , daß diese eine ziel-
strebige, selbsttätige Einheit in der Vielheit ist, das ist uns so selbstverständlich,
daß ich die in diesem Punkt vollkommene Übereinstimmung mit dem
Personalismus nicht weitläufig zu begründen brauche. Doch sei daran
Die Krise der Psychologie und die Psydioanalyse
201
erinnert,
daß Sterns Formulierungen auch einen ontologischen Sinn
nspruchen, auf den sich diese Übereinstimmung nicht bezieht.
Es erhebt sich aber nunmehr die Frage, wie die Psychoanalyse ihrer
A fffabe gerecht wird, wenn sie sich auf die Person bezieht, aber dennoch
Vht wenigstens nicht wesentlich, Deutungen als ihr Erkenntnismittel
erwendet; während doch Stern nachweisen möchte, daß eine auf die Person
bezogene Psychologie dieses neuen Erkenntnismittels zur Bewältigung ihres
eiffenartigen Gegenstandes bedarf, wenn, wie man sagen könnte, die Deutung
in der personalistischen Psychologie gegenstandsadäquat ist. Mit der
Besprechung dieser Frage wird es auch zugleich möglich, einige Eigen-
tümlichkeiten der psychoanalytischen Psychologie herauszuarbeiten und die
wirklichen Gegensätze zum Personalismus aufzuzeigen.
Ich knüpfe hier zunächst an einen Sternschen Gedanken an, der in
seiner allgemeinsten Fassung mit entsprechenden Freudschen Gedanken
geradezu gleichlautend ist:
Seelische Entwicklung ist nicht ein bloßes Hervortretenlassen ange-
borener Eigenschaften, aber auch nicht ein bloßes Empfangen äußerer
Einwirkungen, sondern das Ergebnis einer Konvergenz innerer Angelegt-
heiten mit äußeren Entwicklungsbedingungen. Diese .Konvergenz' gilt
für die großen Züge, wie für die Einzelerscheinungen der Entwicklung.
Bei keiner Funktion oder Eigenschaft dürfte man fragen: ,Stammt sie
von außen oder innen?' sondern: ,Was an ihr stammt von außen und
was von innen?'; denn stets wirkt beides an ihrem Zustandekommen mit,
nur jeweils mit verschiedenen Anteilen. Beruht die Erzielung von
Entwicklungsfortschritten vorwiegend auf dem inneren Anteil, so sprechen
wir von ,Reifung'; überwiegt der äußere Anteil, so heißt der Vorgang
, empirisches Lernen'" (Ki., S. 27).
Stern legt auf diesen Konvergenzgedanken größtes Gewicht. Wenn
er auch heute nicht mehr sehr originell und auf den ersten Blick sogar
wenig gehaltvoll erscheinen mag, so will beachtet sein, daß Stern ihn
formuliert und in seiner Tragweite erkannt hat zu einer Zeit, in der viel
mehr als heute auch noch unter „Anlage" und „Umgebung", „Nativismus"
und „Empirismus" starre Gegensätze gedacht wurden, die einander
ausschließen. In der Psychologie hat wohl Stern diese so wichtige
dialektische Auflockerung der alten Begriffe eingeleitet und weitgehend ge-
fördert. Freud ist die Bewältigung dieses Problems — soweit es hier in Rede
steht — sehr früh, früher als Stern, geglückt, und so gründlich, daß
ernsthafte Schwierigkeiten in der Psychoanalyse daraus nicht entstanden
sind. Die Freudsche Auffassung von den Ergänzungsreihen, Anlage
und Umwelt, sind dem Psychoanalytiker so sehr gewohnt, daß er immer
202
Siegfried Bemfeld
wieder aufs neue mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen muß, daß auß
halb der Psychoanalyse die wunderliche Fragestellung, „ob" angebore
oder erworben, noch vielfach herrscht, an Stelle der von Stern formulierte
— uns völlig selbstverständlichen — Frage, „was an" einem Phänomen
Anlage, was Umwelteinfluß ist. Weder die Sternsche noch die Freudsche
„Konvergenztheorie" ist inhaltlich auf die Vererbungs- und Anlagefrage
beschränkt. Beiden handelt es sich um ein allgemeines formales Prinzip
ich möchte sagen, um eine Vorschrift, Denkschwierigkeiten zu lösen (die
in der Psychoanalyse die vielfältigere Anwendung findet): bei anscheinend
einander ausschließenden Wirkungsfaktorengruppen sei nicht für eine
Gruppe zu Ungunsten der anderen zu entscheiden, sondern ihr Zusammen-
wirken im Sinne der Konvergenz anzunehmen.
Betrachten wir aber die Anwendung des Konvergenzprinzips bei Stern
und Freud inhaltlich eingehender, auf das Thema der Entwicklung be-
schränkt, so fällt auf, daß die Psychoanalyse es mit mindestens drei
Ergänzungsreihen zu tun hat, während Sterns Personalismus nur zwei
Beihen kennt, oder genauer fast immer nur zwei Beihen vordergründlich
anerkennt. Zwischen die „Anlage" und die „Umweltsfaktoren" stellt Freud
mit dem Hauptakzent die historische Beihe der nachwirkenden Schick-
sale, insbesondere der Triebschicksale. Gerade sie machen die personale
Struktur im engeren, eigentlich psychoanalytischen Sinne aus. Der Konver-
genzgedanke wird dabei in der Psychoanalyse häufiger gebraucht, um die
Beziehung zwischen den beiden inneren Faktorenreihen, der angeborenen
und der historisch gewordenen, zu beleuchten. Die in der Psychoanalyse
umstrittene Problematik betrifft die Beziehung zwischen den historisch
gewordenen inneren Faktoren und der Umwelt,' die gelegentlich ganz
zugunsten des inneren Faktors (der autonomen Triebgesetzlichkeiten) ent-
schieden wird, während Freud nachdrücklich auch hier die Konvergenz
vertritt. Die Person entwickelt sich aus dem Zusammenwirken aller drei
Faktorenreihen.
Natürlich kennt Stern diesen „historischen" Faktor; hat er doch einen
großen Teil seiner konkreten Forschungsarbeit der Kinder- und Jugend-
psychologie gewidmet; aber er würdigt ihn fast gar nicht in der Theorie
der Person.^ Soweit er als „Beifen und Lernen" Berücksichtigung findet,
i) Siehe auch: B e rn f e 1 d. Die Tantalussituation. Imago, Bd. XVII (1931), H. 3.
2) Anmerkung während der Korrektur : In einem Aufsatz „Personalistik der Erinnerung",
der vor kurzem (Zeitschrift für Psychologie, Band 118, 1930) erschien, setzt Stern die
Behandlung dieses Themas an. Die Behauptung des Textes erfährt dadurch eine Ein-
schränkung. Stern anerkennt in dieser Arbeit sehr weitgehend die Richtigkeit psycho-
analytischer Gedankengänge, bleibt aber, im Rahmen seiner Aufgabe, der konlureten
Darstellung der Erinnerung als dem „bewußt personalhistorischen Erleben" zugewendet.
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
203
tehen vor allem die intellektuellen Phänomene in Frage. Die Entwicklung
ist bei Stern wesentlich als ein Nacheinander von Phasen gesehen. Eine
Phase löst die andere ab; die abgelöste Phase ist damit wirkungslos geworden.
Bei aller sorgfältigen Darstellung der aufeinanderfolgenden Phasen, die
Sterns entwicklungspsychologische Arbeiten kennzeichnet, wird doch kein
genetisches Geschehen gewonnen. Dies Fehlen eines für die Psychoanalyse
entscheidend wichtigen Gesichtspunktes im Personalismus, genauer seine
bloß allgemeine Anerkenntnis ohne konkrete Durchführung, bewirkt auch
entscheidende Mißverständnisse über die Bedeutung dessen, was die Psycho-
analyse „Unbewußtes" nennt.
Für den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse ist das
Historische entscheidend wichtig, wenn es ihn auch nicht erschöpft. Das
Unterbewußte' und das „Überbewußte der Person, wie es Stern formuliert,
deckt sich inhaltlich mit dem Unbewußten der Psychoanalyse, vom Wert-
philosophischen abgesehen. Wenn Stern den Gegensatz seiner Konzeption
vom Unbewußten gegenüber der Psychoanalyse vv^ie folgt formuliert, so
verfehlt er den Gegenstand :
„Wir stehen hier an demjenigen Punkt, an welchem sich die von uns
vertretene personalistische Überzeugung mit dem psychoanalytischen Stand-
punkt am nächsten berührt. Beide halten es für erforderlich, nach der
Bedeutung des Bewußtseins zu fragen und die Deutung der
Bewußtseinserlebnisse zu versuchen. Nach beiden Überzeugungen würde
die Beschränkung der Betrachtung auf das bloße Bewußtsein als solches
eine Oberflächenpsychologie herbeiführen ; die Kräuselungen und Wellen-
bewegungen dieser Oberfläche erhalten vielmehr erst im Zusammenhang
mit den darunter ruhenden Tiefen ihren Sinn. Aber diese Tiefen werden
nun von der Psychoanalyse als eine bloße Gegeninstanz des Bewußtseins
aufgefaßt, als ,das Unbewußte', das wie ein eigenes selbständiges Seelen-
gespenst irgendwo im Menschen sitzt und sich hier einer verwickelten
Maschinerie bedient, um dem Bewußtsein, wo es nur kann, ein Schnippchen
zu schlagen. Für den Personalismus dagegen ist jene Tiefe erfüllt von der
Person selbst, in deren ungeteilte und unteilbare Lebenseinheit die
Bewußtseinsregungen ebenso eingebettet sind wie die Strebungen, die,
ohne der Vermittlung des Bewußtseins zu bedürfen, auf ihre Ziele zusteuern.
Und auch darin unterscheiden sich die beiden Richtungen, daß ,das
Unbewußte' der Psychoanalyse, im Grunde nur ein einziges Ziel, das
Sexualziel kennt, während die , Person' des Personalismus eine Vieleinheit
der Ziele und damit auch der Strebrichtungen ist." (Ki. S. 394.)
Das psychoanalytische Unbewußte „enthält" die individuelle Vergangen-
heit, ja, die Geschichte des Organischen in sich. Es ist die Person, ganz
204
Siegfried Bemfeld
ebenso wie bei Stern; denn das Bewußtsein, das nur qualitativ
Gegensatz zum Unbewußtsein bildet, ist lediglich ein, wenn auch eio-
artig bedeutsames Moment der Person. Für die Psychoanalyse ist die indivi-
duelle Vergangenheit der Person noch „ganz da", wenn auch in mannig-
faltigen und merkwürdigen Weisen. Manches ist „da", wie die individuell
Vergangenheit der Baumrinde in den Jahresringen „da" ist, manches wie
die ganze Geschichte eines Volkes in seinen heutigen Institutionen und
Zielen „da" ist. Nur weil die Vergangenheit noch „da" ist, kann sie auch
aufgedeckt, rekonstruiert werden in jenem Verfahren, das wir „Deutung"
nennen. Auch der Detektiv im Roman kann die vergangene Mordszene
nur rekonstruieren, weil und soweit sie in ihren Spuren da ist.^ Die Frage
wie die Vergangenheit jeweils „da" ist, braucht in diesem Zusammenhang
nicht vollständig beantwortet zu werden. Die Psychoanalyse kennt mehrere
Weisen dieses Aufbewahrtseins der Vergangenheit in der Gegenwart, mehrere
Kategorien des Unbewußten: l) als Vorbewußtes, einerlei ob es sich auf
Erinnerungen oder auf „Absichten" bezieht; 2) als verdrängtes Unbewußtes;
j) als die psychischen Apparate und Instanzen, bzw. als deren Eigentümlich-
keiten, Eigenschaften, kurz: als Organisation der Person. Das Vorbewußte
als Anwesenheitsform des Vergangenen ist der Psychologie — Erinnerung —
ganz allgemein bekannt. Das Verdrängte wird immer mehr anerkannt,
Stern geht hierin sehr weit; er identifiziert aber das Unbewußte der
Psychoanalyse ganz mit dem Verdrängten. Nahezu völlig, auch von Stern,
übersehen, ist aber die enorme Bedeutung, die für die personalen Auffas-
sungen der Psychoanalyse die Apparate = Instanzen haben. So sind die
Reaktionsbildungen Über-Ich, Ekel, Scham usw. — die alle unbewußt
sind, wenngleich sie ins Bewußtsein wirken, dem Stemschen Überbewußt-
sein ähnlich — Niederschlag bestimmter individueller Erlebnisse, das
Uber-Ich die „Narbe" der Ödipussituation ; der Charakter überhaupt in Kon-
vergenz der Anlage mit inneren historischen Fakten, und Umwelt entstanden.
In der unbewußten Organisation der Person ist ihre ganze Vergangenheit
niedergeschlagen. Weil die Organisation im Ganzen und im minutiösesten
Einzelbau von der Vergangenheit abhängig ist, ja, „die" Vergangenheit ist,
darum kann die Psychoanalyse, trotzdem die Person voller Zwecke ist,
ohne teleologische Deutung die Vergangenheit aus der Gegenwart rekon-
struieren. Und zwar geht es nicht um die äußere Geschichte der Person
allein, sondern um ihre innere. Diese aber ist — wie Stern auch lehrt —
sehr viel mehr als deren einfach erinnerbarer Anteil. Die Rekonstruktion
1) Wenn der Täter vor dem Geständnis stirbt, so bleibt in der Rekonstruktion
des Detektivs eine nicht mehr rekonstruierbare Lücke. Der Täter, in dessen Erinnerung
allein die Spuren vorhanden waren, hat sein Geheimnis mitgenommen.
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse 205
o-anzen inneren Geschichte wird darum zur „Deutung des Unbewußten ,
• dem sie enthalten ist. Tatsächlich ist diese Ausdrucksweise dem Sach-
halt nicht adäquat. Denn erkennbar wird das Unbewußte, soweit es im
n vußtsein da ist, oder indem die unbewußten Organisationen der Person
T istungen vollziehen, aus denen wir sie erkennen. Dieser für die
VTethodologie der Psychoanalyse überaus wichtige Sachverhalt verlangt nach
klarer und präziser Formulierung, ich muß aber den Versuch vorerst
verschieben.
Sterns Personalismus kennt die Tatbestände, die ich hier Organisation
nenne, aber sie spielen bei ihm im Vergleich zur Psychoanalyse eine
minimale Rolle. Es liegt hierin ein sehr beträchtlicher Unterschied zwischen
der psychoanalytischen Psychologie und der Sternschen, der in vielen
Einzelfragen zu vollen Gegensätzen in den Fragestellungen und Auffas-
sungen führt. Der Unterschied ist aber nicht grundsätzlich unversöhnlich.
Denn in der Sternschen Personswissen schaft wäre Raum für die Organi-
sation der Person, wie sie von der Psychoanalyse erforscht oder hypothetisch
angenommen wird. Ob hingegen die Grundkonzeption der personalistischen
Philosophie die Freudsche Auffassung von der Geschichte der personalen
Organisation verträgt, darf fraglich bleiben. Die Psychoanalyse scheint mir
hier der Sternschen Psychologie überlegen; sie ermöglicht, Fragen, die
Stern genötigt ist wertphilosophisch zu behandeln, der schlichten wissen-
schaftlichen Lösung zuzuführen. An einem originellen und philosophisch
wohl bedeutsamen Sternschen Regriff läßt sich diese Behauptung illustrieren.
Da Selbsterhaltung und Selbstentfaltung den Kern des Zwecksystems der
Sternschen Wertlehre ausmachen, so läge ihr anscheinend eine egoistische,
subjektive, individualistische Konsequenz nahe. Stern übersieht aber nicht,
daß das Leben der Menschen nicht minder stark von der „Heterotelie", von
Fremdzwecklichkeit bis zum weitgehenden Altruismus bestimmt wird.
„Sofern Autoteile und Heterotelie im Sinne der bisherigen Betrachtung
zwei einander widerstrebende und gegenseitig hemmende Zweckbestimmungen
sind, können sie zu einer wirklichen Synthese nicht zusammentreten. Und
da keine der beiden Bestimmungen das persönliche Leben der Menschen
in Wirklichkeit ausschließlich regelt, wäre nur ein ständiger Kampf oder
ein abwechselndes Überwiegen bald der einen, bald der anderen Richtung
möglich. Allein so häufig diese Forderung auch zutrifft, sie erschöpft nicht
das Bild der menschlichen Person, ja, sie übergeht gerade jenen Zug, der
die Person erst im vollsten Sinne zur ,Persönlichkeit' macht und der den
Menschen am grundsätzlichsten von allen niederen Formen der Personalität
scheidet: die Aufnahme der Heterotelie in die Autoteile"
{MP. S 58). Diesen Vorgang nennt Stern „innere Aneignung oder Intro-
Siegfried Bernfeld
zeption der Ziele". Er scheint ihm eine sehr bedeutsame Lösung diese
wesentlichen Wert- und Zwecfcproblems zu sein. Für unseren Zusammen-
hang ist nun entscheidend, daß Stern mit dieser Aufstellung, die möff-
licherweise einen Zugang zur Psychologie, auch zur Personalistik des Zwecks
des Wertes und der Ideale bieten könnte, keine die empirische ForschunJ
bestimmende Arbeitshypothese bezweckt, sondern vom , Geheimnis' der In-
trozeption, vom „letzten Wunder alles personalen Daseins", vom „Mysterium"
spricht. Die Freudsche Konzeption des Über-Ichs entspricht völlig der
Introzeption Sterns, wenn man diesen Terminus gegen den Willen des
Autors als empirisch-psychologischen Befund nehmen wollte. Das Über-
ich, als Verinnerlichung der Werte und Ziele der Umwelt, ist entstanden
aus den Motiven der Angstvermeidung und des Liebesgehorsams. Für Freud
wird dies Über-Ich zur Forschungsaufgabe: seine Vorläufer, seine Ent-
stehungsweisen, seine Funktion und Dysfunktion empirisch-psychologisch
festzustellen. Gerade dies wird durch die Sternsche philosophische Konzep-
tion verunmöglicht oder doch sehr wesentlich erschwert. Jedenfalls hat
der Personalismus einen anderen als philosophischen Zugang zu diesem
und ähnlichen Problemen, die bisher allein die Psychoanalyse der Wissen-
schaft erschließt, noch nicht gefunden.
Ich habe bisher der Besprechung die umfassendere, aber ältere Stern-
sche Charakterisierung der Person {PS. 1906) zugrunde gelegt und mehr-
fach sagen müssen, daß mit ihr der eigentliche Gegenstand, auf den die
Psychoanalyse zielt, durchaus bezeichnet ist. In der konkreten Erfüllung
dieses Programms durch Stern und die Psychoanalyse zeigen sich starke
Akzentunterschiede. Alle psychoanalytischen Erfahrungen drängen dahin,
das historische Moment als zentrales zu achten, während es in jener
älteren Person-Definition Sterns völlig fehlt. Da es sich dort aber um die
Gegenüberstellung zwischen Person und Sache handelt, ist diese Differenz
nicht unter allen Umständen entscheidend. Eine der Psychoanalyse genügende
Berücksichtigung dieses Moments bringt aber auch die neueste, vom philo-
sophischen Interesse losgelöste Darstellung (PPF. 1930) nicht. Die Tiefe
der Person, die Stern hier behandelt, ist in viel geringerem Maße historisch,
als die psychoanalytische Erfahrung verlangen würde. Doch gehe ich auf
die sehr interessanten Darlegungen Sterns über die Dimensionen der Person
besser im Zusammenhang mit den übrigen modernen charakterologischen
Bemühungen ein.
Eine ähnliche Akzentverschiebung, allerdings eine grundsätzlich minder
bedeutsame, würde wohl genauere Betrachtung des Merkmals der „Ein-
heit der Person" ergeben. Der ontologische Sinn dieses Begriffs
kümmert uns hier nicht. Logisch ist auch die Person der Psychoanalyse
Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse
207
eine Einheit, und zwar gerade in dem von Stern betonten dialektischen
Sinn als Einheit in der Mannigfaltigkeit. Mit der Person als übergreifender
Einheit der beiden Gegensätze „Körper" und „Seele", ebenso mit der Person
als Einheit all der mannigfaltigen, zum Teil einander sachlich wider-
sprechenden und begrifflich gegensätzlichen Strebungen und Phänomene
ist ein Begriff gegeben, der der Psychoanalyse adäquat ist. Manche Unsicher-
heiten und Mißverständnisse innerhalb der Psychoanalyse und zwischen
der Psychoanalyse und ihren Gegnern rühren daher, daß sich Freud schon
in den ersten Anfängen der Psychoanalyse von den Fesseln der starren
überkommenen Begriffswelt freigemacht hatte und, der Erfahrung folgend,
unvoreingenommen schauend und vorsichtig schließend und aufbauend zu
Konzeptionen, Begriffen und Theorien gelangte, die dem personalen
Geschehen sehr gut, dem geläufigen Denken in Psychologie und Medizin
sehr schlecht angepaßt waren. Indem aber Freud und seine Schule, täglich
aufs neue überzeugt, daß ihre Begriffe ihrer Erfahrung angemessenen
Ausdruck geben, kaum Anlaß hatten, sich der radikalen formalen Neu-
artigkeit ihrer Begriffswelt theoretisch bewußt zu werden, blieben sie der
nicht minder radikalen Neuartigkeit ihrer inhaltlichen Forschungsergebnisse
ausschließlich gewidmet. Der Psychoanalytiker, dem man von „Einheit
der Person" spricht, wird daher die inhaltliche Bedeutung des Begriffs vor
seiner logisch-formalen Qualität beachten und wird betonen, daß „Einheit der
Person" nicht Harmonie der Person meinen darf. Sterns Wertphilosophie,
die bewußt Optimismus ist, • — sie nimmt ihren Ausgang von der Gegen-
satzstellung zu E. V. Hartmanns Pessimismus (H) — drängt nicht
selten die Sternsche Psychologie zur Auffassung der Person als einer
harmonischen Einheit. Die Psychoanalytiker, die vom Studium der Neu-
rosen herkommen, mögen eine gewisse Geneigtheit mitbringen, die Dis-
harmonien besonders scharf zu sehen. Aber auch wenn wir versuchen,
uns dieser Voreingenommenheit zu entschlagen, so sehen wir zwar gewisse
synthetische, harmonisierende Funktionen in der Person wirksam, sehen
aber ebenso deutlich, daß diese nie den ganzen Umfang des Psychischen
erfassen, daß sie nie restlos wirksam sind, und daß ihre Funktionsweise
schließlich treffender durch Bilder vom Kampf, Verdrängen, Bewältigen
usw. geschildert wird, als von friedlich-harmonischen Ausgleichen und
Entfaltungen. Die friedlich-harmonische Einheit der Person mag ein Ideal
sein; die psychoanalytische Erfahrung spricht nicht dafür, daß dies Ideal
im realen personalen Geschehen typisch verwirklicht ist. Von hier aus
ergeben sich starke Divergenzen in den Psychologien von Stern und Freud.
Daß der Psychoanalyse, die, wie jede Naturwissenschaft bei der Eroberung
eines neuen Gebietes, erkenntnistheoretisch naiv verfährt, die Person eine
208
Siegfried Bernfeld
physische Einheit, ein räumlich-zeitliches Gebilde ist, das sich ein-
heitlich — in der Mannigfaltigkeit — verhält, braucht kaum erwähnt zu
werden. Stern erreicht diese Position durch erkenntnistheoretische kriti-
zistische Sicherungen. Die Konsequenz dieses psychoanalytischen Gesichts-
punktes scheint mir in dem Versuch zu liegen, den ich (gemeinsam mit
S. Feitelberg) unternommen habe, die Person als System — im Sinne
der Physik — zu sehen. Das „System Person' widerspricht gewiß der
Tendenz des Sternschen Personalismus, der entschieden eine Trennung
der Personwissenschaft und gar der Personphilosophie von der Physik und
von der physikalisch fundierten Biologie intendiert. Aber jene Physik, von
der Stern die Personwissenschaft geschieden wissen will, und vor allem
die übliche mechanistisch-materialistische Psychologie, hat nur mehr wenig
mit der heutigen Physik zu tun, und kaum etwas mit jener Verbindung
von Physik und Psychoanalyse, die mir als theoretische Psychologie vor-
schwebt.
Völlig trennen sich die Wege des Personalismus und der Freudschen
Theorie an dem dritten Charakteristikum der Person. Seine oben gegebene i
Formulierung, freilich als eine rein formale, bietet auch Raum für die |
psychoanalytische Anschauung; aber es hätte wenig Sinn, diese formale,
eigentlich rein definitorische Übereinstimmung zu betonen. Das Telosj
der Person, „jener Zustand, den alles personale Geschehen als personales
Optimum anstrebt", könnte zwar eine Bestimmung erfahren, die der Psycho-
analyse genügte, aber Stern hat mit großer Intensität das Telos aus-
schließlich als Selbsterhaltung und Selbstentfaltung interpretiert. Dies ist '
der Kern des Personalismus. Dieses Telos allein „ist eigentlich da", wenn
ich so sagen darf, seinetwegen geschieht etwas und alles ; was Stern
freilich viel mannigfaltiger und weniger primitiv auszudrücken versteht.
Das gesamte personale Geschehen und die Person selbst sind in Sterns
Sinn nur von diesem Telos her zu verstehen. Freud weiß ein solches
einheitliches letztes Zentrum der Person nicht anzugeben. Dieser Unter-
schied rührt aber nicht daher, daß Sterns Formulierungen philosophische
Aufgaben zu erfüllen haben, die jenseits von Freuds Interesse liegen.
Selbsterhaltung und Selbstentfaltung sind auch in Sterns Personwissenschaft,
die aphilosophisch gemeint ist, das eigentliche Telos der Person. An diesem
Punkt hängt Sterns Personwissenschaft (Person alistik) unlösbar von seiner
Personphilosophie (Personalismus) ab. Nach bestimmten Zuständen gerichtet
ist auch für Freud alles personale Geschehen. Aber es ist kein einheitliches
Telos, das diese Richtung bestimmt. Im allgemeinen orientiert sich das
Geschehen nach Triebbefriedigung. Diese Triebe selbst sind Grenzbegriffe
zwischen Physischem und Psychischem (psychophysisch neutral und personal
Die Krise der Psychologie und die Psychoanalyse
209
■ Sterns Nomenklatur); sie folgen dem Lustprinzip, aber nicht ohne daß
in immer steigendem Maße einem entgegenwirkenden Prinzip, der
R alität unterworfen wären. Das Ziel der Triebe als ein letztlich einheit-
Tches als das Telos anzusehen, lehnt Freud ab; er will zwei, und zwar
wei einander entgegengesetzte Richtungen postuliert wissen. Gemeinsam
"st den Trieben bloß, daß sie die Wiederherstellung gestörter verlorener
Befriedigungssituationen anstreben. Der Tendenz zur Stabilität steht der
Fros entgegen. Dem ewigen Unruhestifter Eros wirkt der Todestrieb zu-
wider. Freud gibt gern zu, daß diese Theorien die strenge Einheitlichkeit
vermissen lassen, die nicht nur Gemütsbedürfnisse, sondern auch Erkenntnis-
wünsche befriedigen würde, wenn sie nur zu haben wäre. Und es mag
ungenügend, vielleicht, wie man sagt, unklar und in sich widerspruchsvoll
sein, was Freud, streng gebunden an die psychoanalytische Erfahrung,
zu den letzten Fragen aller Naturphilosophie zu sagen weiß. Ich möchte
versuchen, seinem Gedanken eine Formulierung zu geben, die dessen
volle Armut und den ganzen Reichtum dieser Armut deutlich macht.
Das Ziel alles Lebens und das Wesen jedes Lebensmoments ist: zu leben
und zu sterben ■ — dies sagt eigentlich Freuds Konzeption von der Natur
der Triebe, des Lebens und der Person. Wertphilosophisch ist diese
Konzeption ärmlich und wahrscheinlich pessimistisch; ontologisch ist sie
gewiß banal; aber sie scheint mir in höchstem Maße wissenschaftlich frucht-
bar zu sein. Leben und Tod, als zwei einander ausschließende, starre
Begriffe, sind überhaupt unbrauchbare Denkkategorien. Freud löst sie auf;
er vollzieht bei diesen Grundbegriffen die gleiche dialektische Auflockerung
aller überkommenen psychologisch-biologischen Schemata, die das ganze
Gedankengebäude der Psychoanalyse durchzieht. Leben und Tod sind
durcheinander definiert, wie Schlafen und Wachen, wie Innen und Außen,
wie Person und Umwelt, wie Erostrieb und Todestrieb, Narzißmus und
Objektlibido. Mag sein, daß Freud hier die unmißverständliche Darstellung,
das Einfangen des Gedankens in einen adäquaten Terminus mißglückt ist.
Der Personalismus verfehlt, wenn ich ihn recht verstehe, an dieser Stelle
seine Grundidee.
Auch Sterns Personalismus ist durchsetzt von dialektischen Begriffen,
sogar logisch bewußter als Freuds Lehre. Im Telos überhaupt und erst
recht in seiner Präzisierung als Selbsterhaltung und Selbstentfaltung wird
eine alte starre Kategorie festgehalten. Daß Selbsterhaltung als Ziel und
Tendenz vorhanden ist, kann natürlich nicht bestritten werden; und auch
die von Stern beschriebenen Tatbestände der Selbstentfaltung sind nicht
allein vorhanden, sondern in ihrer Sphäre sehr wichtig. Ebenso ist eine
teleologische Gesamtdeutung der Person vom Telos der Selbsterhaltung aus
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/2 14
Siegfried Bernfeld
möglich; es gilt für solche Deutung, was, wie ich oben erwähnte, jed
teleologische Deutung möglich und zugleich fragwürdig macht. Aber ich
sehe nicht, wie die wissenschaftliche Selbsterhaltungsteleologie mit dem
Tode fertig werden kann. Sterns Personalistik hat jedenfalls dieses Problem
nicht bewältigt, sie hat es bisher gar nicht gestellt. Solange es aber nicht
gelingt, den Tod vom Telos der Selbsterhaltung aus zu deuten, solange
darf jeder Deutungsversuch in dieser Richtung mit Skepsis betrachtet
werden, und veranlaßt uns nicht, ihn zu akzeptieren. Es erhebt sich hier
für die Personwissenschaft dieselbe Schwierigkeit, die gewissen theologisch-
teleologischen Deutungen des Weltgeschehens grundgefährlich geworden
ist. Wenn die Natur zum Besten der Menschen, oder auch bloß der guten
frommen Menschen eingerichtet ist, warum geht es dann den Menschen
so schlecht, warum insbesondere triumphieren die Bösen? Bekanntlich
kann dieser schlichte primitive Einwand nur durch den Hinweis auf
irgendein ausgleichend gerechtes Jenseits behoben werden. In ähnliche
Lage kommt auch die Personalistik. Ist Selbsterhaltung das Telos, so muß
die Person ewig sein. Stern genügt dieser Forderung, indem er die Person-
wissenschaft durch Personphilosophie ergänzt. In ihr ist das Seiende —
und also das Ewige, für dessen Möglichkeit in geistreicher Weise ein
bioenergetisches Grundgesetz, als personalistische Erweiterung des Weber-
Fechnerschen Gesetzes (E), herangezogen wird — eine Hierarchie von
Personen, mündend in der Allperson Gott.
Die philosophische Haltbarkeit und Bedeutung dieser Lehre vermag ich
nicht zu würdigen, ich unterstelle aber gern, daß sie das Problem meta-
physisch löst: Selbsterhaltung als Telos der Person aufzustellen, trotzdem
grundsätzlich keine Person dies Telos länger als für eine winzige Zeitspanne
erfüllt. Suchen wir aber Begriffe für die Psychologie und Biologie,
d. h. müssen wir Formulierungen finden, die ohne Rekurs auf die
Metaphysik unser Wissen vom Leben, Psyche, Person mehren und ordnen,
so bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als Leben und Tod als „Eins"
zu denken. An teleologischer Deutung orientiert, werden dann die Lebens-
tatsachen und die Person nur in Trieb- Gegensatzpaaren, als Eros und Todes-
trieb, sagt Freud, begreiflich. Die „Person" wäre dann die „Einheit"
der für eine endliche Zeitstrecke an einer endlichen Raumstelle organisierten
Gegensätze — wie jedes „System" in der Natur. Den Sinn dieser Gegen-
satzpaare klären wir leicht, wenn wir uns an keinerlei Teleologie orientieren;
sie mildern sich zu gegensätzlichen Begriffen, mit denen wir unseren
Forschungsgegenstand bewältigen. Als solche Begriffe sind Freuds theoretische
Aufstellungen, die als teleologische Deutungen erscheinen mögen, zu
verstehen; sie mögen nur vorläufig sein, aber sie entsprechen unserem der-
Siegfried Bernfeld: Die Krise der Psydiologie und die Psydioanalyse 211
zeitigen Wissen und fassen es recht befriedigend zusammen. Unter den
sehr zahlreichen Tatsachen, die Stern in der Aussagepsychologie, differentiellen
Psychologie, Kinderforschung, Jugendkunde, Psychotechnik, Begabungs-
lehre beschrieben hat, ist keine, die zwänge, seine Teloslehre zu akzeptieren.
Sie wurde ja auch lange vor diesen Tatsachen konzipiert. Sie eigne sich,
mit ihrer metaphysische Ergänzung, sehr wohl, personales Geschehen zu
deuten; aber ohne die personphilosophische Ergänzung eröffnet sie
Schwierigkeiten, die von Freud von vornherein vermieden werden und
auch vermieden werden müssen, weil sie wissenschaftlich prinzipiell nicht
lösbar sind.
H*
Psychoanalyse und Medizin
„Haroey Lecture" in der Academy of Mediane in New York, am jr. Januar l^}t
Von
Franz Alexander
z. Z. Visiting Professor a. d. Universität Chicago
Aus dem englischen Manuskript übertragen von Francis Deri
Zunächst wollen wir unser Problem „Psychoanalyse und Medizin" schärfer
präzisieren, als es der angekündigte Titel vermag. Man kann entweder unter-
suchen, welche Beziehungen zwischen der Psychoanalyse und der Medizin
den theoretischen Voraussetzungen nach bestehen sollten, oder man kann
die tatsächlich vorhandenen Beziehungen feststellen. Ich ziehe es vor, mich
in der Hauptsache auf die Beantwortung der zweiten Frage zu beschränken,
und will es Ihnen überlassen, auf Grund meiner Erörterung der zwischen
Psychoanalyse und Medizin wirklich bestehenden Beziehungen die Antwort
auf die erste Frage zu finden, wie die Beziehung zwischen den beiden
Wissenschaften sein sollte.
Bevor ich auf Einzelheiten eingehe, schulde ich Ihnen eine Erklärung,
warum die ganze Frage nach der Beziehung zwischen Psychoanalyse und
Medizin überhaupt ein Problem ist. Etwa dreißig Jahre lang hat die Psycho-
analyse als konsequent und geschlossen sich entwickelnde Theorie der
Persönlichkeit und als genau und präzise beschriebene Methode der psycho-
logischen Untersuchung und Behandlung geistiger Störungen eine seltsam
isolierte Existenz an der Grenze zwischen Medizin und Naturwissenschaften
geführt. Dieser Zwischenzustand resultierte jedoch keineswegs allein aus der
exklusiven Haltung der medizinischen Welt gegenüber der Psychoanalyse,
sondern auch die Psychoanalytiker selbst waren unentschieden, wohin sie
gehören. Tatsächlich fragen viele Analytiker, ob die Psychoanalyse nicht als
Disziplin für sich betrachtet werden sollte, mit der Medizin verwandt, aber
im Wesen unabhängig von ihr; so wie die Archäologie mit der Geschichte
verwandt, aber doch eine selbständige Wissenschaft für sich ist, oder wie
die Paläontologie andere Methoden und Zwecke verfolgt als die ihr nahe-
Psychoanalyse und Medizin
213
stehende Geologie. Selbst jene Psychoanalytiker, die mit mir überzeugt sind,
daß die Psychoanalyse, soweit sie Therapie ist, zur Medizin gehört, können
die Tatsache nicht übersehen, daß ihr Gegenstand, ihre Methode und ihre
Ausdrucksweise von denen der Medizin so weit entfernt sind, daß sie nur
sehr schwer in der Medizin aufgehen kann. Tatsächlich ist eine klare Ent-
scheidung darüber, an welcher Stelle im Wissenschaftsbereich diese junge
Erfahrungswissenschaft einzureihen ist, sowohl theoretisch als praktisch ein
reichlich kompliziertes und noch ungelöstes Problem. Die Medizin ist bestrebt,
das Körperliche bis zu einem gewissen Grade als eine physikalisch-chemische
Angelegenheit zu erfassen. Die Psychoanalyse dagegen hat es mit psycho-
logischen Sachverhalten zu tun und bemüht sich, seelische Vorgänge durch
seelische Methoden zu beeinflussen. Im Sinne dieser Definition hatte daher
die Psychoanalyse aus der Medizin auszuscheiden.
Auf der anderen Seite gehören psychische Vorgänge zu den charakteristischen
Erscheinungen biologischer Systeme und sind bekanntlich imstande, körper-
liche Vorgänge, wie Weinen, Erröten oder Magensaftsekretion, zu beeinflussen.
Ferner gibt es eine Anzahl von Erkrankungen, die sich auf seelischem
Gebiete manifestieren: Psychosen und Psychoneurosen. Auch wenn die
Zellularphysiologie des Gehirns noch so weit entwickelt sein wird, werden
wir kaum physiologische oder pharmakologische Methoden anwenden, um
jemanden seelisch zu beeinflussen, z. B. ihn zu überzeugen oder ihm ein
mathematisches Axiom zu erklären, um pathologische Seelenvorgänge zu
beeinflussen, brauchen wir psychologische Methoden, die der Überredung
und der Erklärung im wesentlichen ähnlich sind. Die beste Methode,
seelischen Störungen beizukommen, wird wahrscheinlich immer die sein,
sich der Mittel der seelischen Einflußnahme zu bedienen.
Allerdings könnte man, um die Homogeneität der Medizin zu wahren,
zwar den wissenschaftlichen und therapeutischen Wert der psychologischen
Methoden anerkennen, aber diese Methoden doch aus der Medizin aus-
schließen; man könnte Psychologie, Psychopathologie und deren praktische
Anwendung, die Psychotherapie, als Disziplinen ansehen, die der Medizin
zwar verwandt seien, aber doch außerhalb ihrer Grenzen lägen.
Immerhin muß man anerkennen, daß es keine natürliche Grenze zwischen
seelischen und körperlichen Vorgängen, also auch zwischen seelischen und
körperlichen Erkrankungen gibt. In Wirklichkeit besteht hier ein stetiger
Übergang. Und in der Therapie ist es nicht immer leicht zu entscheiden,
in welchen Fällen ein psychologisches und in welchen ein physiologisches
Vorgehen angezeigt ist. Man kann das Individuum nicht in Körper und
seelische Persönlichkeit teilen: das Individuum ist eine psycho-biologische
Ganzheit.
214
Franz Alexander
Unsere theoretische Erörterung über die Korrelation von Psychoanalyse
und Medizin würde sich bald in verfrühten Abstraktionen verlieren, wenn
wir nicht vorher untersuchten, wie die Dinge auf beiden Wissensgebieten
tatsächlich liegen.
Es ist unbestreitbar, daß die Psychoanalyse innerhalb der Medizin als
ein therapeutischer Versuch entstand, hysterischen Symptomen mit psycho-
logischen Mitteln beizukommen. Unter dem Einfluß von Charcots
Untersuchungen über die Hysterie und über ihr Verhältnis zu den hypno-
tischen Phänomenen entwickelten Freud und Breuer die Methode der
kathartischen Hypnose. Sie beobachteten, daß Patienten in der Hypnose
gewisse vergessene Erlebnisse erinnern konnten, die mit den Symptomen
eng zusammenhingen. Diese Reaktivierung in der Hypnose war von Affekt-
ausbrüchen begleitet und hatte in der Regel das Verschwinden der Sym-
ptome zur Folge. Freud gab die Methode der kathartischen Hypnose
bald auf und ersetzte sie durch die Technik der freien Assoziation. Diese
Technik erhellt in einer ungleich vollständigeren Weise den historischen
Hintergrund der Symptome und erwies sich weit über ihren therapeu-
tischen Wert hinaus als hervorragend geeignet, uns Einblicke von nie
früher erreichter Tiefe in die menschliche Persönlichkeit zu verschaffen.
Der größte Teil meiner Darstellung wird der Beschreibung der Methode
gewidmet sein. Denn dieser Methode ist die Tatsache zu danken, daß sich
aus der Psychoanalyse, zwei Jahrzehnte, nachdem sie als der bescheidene
Versuch begann, hysterische Erscheinungen zu beeinflussen, eine geschlossene
Theorie der Persönlichkeit entwickelt hat. Doch sehen wir uns vorerst die
Resultate an, die durch diese neue Technik psychologischer Forschung
gewonnen wurden.
Wir dürfen behaupten, daß die grundlegende Idee der Theorie des
Unbewußten das ganze moderne Denken tief beeinflußt hat. Die Ent-
deckung der allgemeinen dynamischen Wirkung unbewußter Seelenvorgänge
auf das manifeste Verhalten hat die Begrenztheit der rationalen und
bewußten Teile der Persönlichkeit aufgezeigt. Diese Tatsache wurde für
die seelische Haltung des Gebildeten des zwanzigsten Jahrhunderts so
wichtig, daß ohne sie viele Erzeugnisse und Erscheinungsformen moderner
Geistigkeit nicht verstanden werden können. Die Veränderung in der Ein-
stellung auf die äußere Realität, die aus dieser Erkenntnis resultierte, kann
ohne Übertreibung mit der Veränderung verglichen werden, die vierhundert
Jahre vorher aus dem Kopernikanischen System hervorging. Die Theorie
des Unbewußten bringt einen neuen und empfindlichen Bruch in die
anthropozentrische Haltung gegenüber der Außenwelt. Das Kopernikanische
System zerstörte diese anthropozentrische Haltung in kosmologischem Sinne,
Psydioanalyse und Medizin
215
aber sehr bald gewann der Mensch sie in psychologischem Sinne zurück.
Dies wird besonders klar, wenn wir uns der Lehren der Rationalphilosophie
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts erinnern, die all ihren
Glauben und all ihre Hoffnungen in die Allmacht des denkenden Er-
kennens setzten. An Stelle der Erde wurde nun der menschliche Geist
zum Mittelpunkt des Universums. Es begann mit der Lehre des Descartes,
daß nichts sicher sei, außer dem eigenen Denken, und diese Lehre führte
unaufhaltsam und in direkter Linie zu Kants anthropozentrischer These:
die Außenwelt, wie wir sie sehen, ist abhängig vom Verstände und seinen
Kategorien, die selbst absolut sind und zu der unwandelbaren Struktur des
Geistes gehören. Erst die Psychoanalyse als genetische Theorie entthronte
diese neuen Despoten und Monarchen philosophischen Denkens; sie
betrachtet die Kantischen Kategorien als Produkte der Anpassung an die
Außenwelt. Die seelischen Vorgänge des Kindes sind weder den logischen
noch den moralischen Kategorien Kants unterworfen, und, was noch viel
wichtiger ist, im Unbewußten jedes einzelnen, selbst des Erwachsenen,
gehen seelische Prozesse vor sich — die z. B. in Träumen manifest
werden — , die gleichfalls den Gesetzen der Logik nicht gehorchen. Diese
unbewußten Vorgänge kennen kein Kausalgesetz, sondern nur zeitliche
Abläufe, und sie kennen auch etwa die Unmöglichkeit nicht, daß ein
Ding gleichzeitig an zwei Orten sein kann. Kurz gesagt, rationales Denken
ist ebenso wie moralische Gefühle und Vorschriften Produkt der An-
passung des Organismus an seine Umgebung. Doch nicht sie allein deter-
minieren unser Denken und Verhalten: ein dynamisch mächtiger Anteil
des Seelenlebens ist weder rational, d. h. an die Außenwelt angepaßt, noch
moralisch, d. h. an die Forderungen der Gemeinschaft angepaßt. Der
rational angepaßte Teil der Persönlichkeit ist in dauerndem Konflikt mit
den noch nicht angepaßten Schichten. Der störende Einfluß dieser nicht
angepaßten Seeleninhalte wird durch einen dynamischen Vorgang, die
Verdrängung, ausgeschaltet; sie sind nun vom Bewußten ausgeschlossen
und werden unbewußt. So kann die menschliche Persönlichkeit in zwei
Teile geschieden werden: in das angepaßte Ich und in das ursprüngliche
und unpersönliche E s, das noch nicht in eine harmonische Einheit zu-
sammengefaßt ist und die verschiedenen konfliktuösen Triebkräfte enthält.
Dieser Konflikt zwischen den infantilen und den erwachsenen Anteilen
der Persönlichkeit ist bei pathologischen Individuen quantitativ intensiver,
aber qualitativ nicht anders als bei Normalen. So können wir seelische
Störungen, wie Psychosen und Psychoneurosen, als intensivere und mani-
festere Erscheinungen des unangepaßten unbewußten Persönlichkeitsanteils
verstehen.
2l6 Franz Alexander
Alle diese Funde sind heute nicht nur allgemein angenommen, sondern
sie wurden auch gefühlsmäßig verarbeitet und bilden in ähnlicher Weise
wie die Entwicklungslehre oder wie die kosmologische Lehre vom Planeten-
system einen integrierenden Teil modernen Denkens. Die gefühlsmäßige
Konsequenz dieses veränderten Aspekts ist, daß der Mensch sich nunmehr
entschiedener als winziger Teil im Weltall fühlt. Da sein Glaube an die
Absolutheit seines rationalen Denkens dahin ist, hat selbst dieser letzte
Anspruch auf eine Sonderstellung in der Welt seine Motivierung verloren.
Rationales Denken kann nun nicht länger mehr als eine letzte Tatsache,
als ein Urphänomen betrachtet werden, das weiterer wissenschaftlicher
Forschung unzugänglich ist, sondern es stellt sich als ein Produkt der An-
passung an die Außenwelt dar. Es ist nicht nur nicht absolut, sondern so
relativ, wie etwa daß die Vögel fliegen und die Fische schwimmen. Unser
logisches Denken ist genau so wenig die einzig mögliche Art des Denkens,
wie Fliegen die einzig mögliche Art der Fortbewegung ist. Die wissen-
schaftliche Konsequenz dieser neuen Einsicht ist, daß die Psychologie eine
Rolle für die Biologie zu spielen beginnt. Denken ist eine der Funktionen
des biologischen Systems, ein Orientierungsmittel gegenüber der Außen-
welt. So wie das Kreislaufsystem in allen seinen Details den hydrodyna-
mischen Aufgaben angepaßt ist, denen es dient, so können die Funktionen
des seelischen Apparates als Anpassungen an die Aufgabe der Orientierung
in der Umwelt verstanden werden. Diese Auffassung enthält keine teleo-
logischen Elemente. Um die Organisation des Kreislaufsystems oder die
Struktur des seelischen Apparates zu verstehen, ist man berechtigt, die
biologischen Aufgaben, die durch beide gelöst werden, zu untersuchen,
ohne endgültig entscheiden zu wollen, wie sich solche zweckmäßige
Einrichtungen entwickeln.
Haben wir auf diese Weise die psychoanalytische Psychologie endgültig
von der Philosophie geschieden, so wird sie zur mechanischen oder viel-
mehr zur dynamischen Wissenschaft und beschreibt die Funktionen des
seelischen Apparates in Ausdrücken der Mechanik oder der Dynamik. Sie
studiert bis ins Detail die Entwicklung der Seele in allen Phasen des An-
passungsprozesses, den man als einen Vorgang ansehen kann, der die un-
organisierten, unsystematischen, diffusen Manifestationen der kindlichen
Seele in das komplizierte System des erwachsenen Ichs umwandelt. Sie
beschreibt pathologische seelische Erscheinungen als Folgen unvollständiger
früherer Unangepaßtheit und kann sogar bis zu einem hohen Grade aus-
sagen, in welcher Entwicklungsphase eine Störung eintrat oder, mit anderen
Worten, an welche früheren Entwicklungsphasen bestimmte Typen von
seelisch Kranken fixiert bleiben.
Psydioanalyse und Medizin
217
Diese genetische und dynamische Annäherung an das Verständnis seelischer
Störungen bedeutet einen entscheidenden Schritt vorwärts in der Psycho-
pathologie. Die psychodynamische Auffassung ermöglicht es, pathologische
seelische Prozesse systematisch zu beeinflussen, das heißt, Psychotherapie
kausal zu orientieren.
Von der Voraussetzung des Konfliktes aus, der zwischen den infantilen
Resten und dem erwachsenen Anteil der Persönlichkeit herrscht, konnte
man nun die psychotischen und neurotischen Symptome verstehen. Die
Hauptdifferenz zwischen einer Neurose und einer Psychose ist der verschiedene
Grad, bis zu dem der verdrängte, unangepaßte seelische Inhalt, nachdem
der Widerstand der verdrängenden Kräfte überwältigt wurde, ins Bewußtsein
durchbricht. Dieser Durchbruch der verdrängten Inhalte ist in den ver-
schiedenen Formen der Psychose viel vollständiger als in denen der Neurose.
So hat man zum Beispiel den Eindruck, daß das Ich in den Endphasen
der Schizophrenie allen Kampf aufgegeben hat und gänzlich von halluzina-
torischen Seelenvorgängen beherrscht wird. In der Psychose bricht sogar
die allererste Anpassung des Ich zusammen, nämlich die Fähigkeit, Phantasie-
befriedigungen dem Zeugnis der sinnlichen Wahrnehmung unterzuordnen.
Die Konsequenz ist der Verlust der Orientierung in der Umwelt. Natürlich
verschwinden in der Psychose auch alle späteren Resultate der Entwicklung :
ästhetische und moralische Einschränkungen und Hemmungen. So kann
die Psychose als eine Flucht aus der Realität und aus dem erwachsenen
Leben betrachtet werden, zurück zur Kindheit, zu jener glücklichen Zeit,
in der die Phantasie vorherrscht und sich um die Tatsachen der Außenwelt
nicht kümmert.
In den verschiedenen Formen der Psychoneurosen tobt ein nicht ent-
schiedener Kampf zwischen den beiden Polen der Persönlichkeit, zwischen
dem bewußten Ich und dem primitiven Es, da keines von ihnen end-
gültig gesiegt hat, sondern der Konflikt zwischen ihnen fortbesteht. Während
die Endphase der Psychose einem schweigenden Schlachtfeld gleicht, auf
dem alle Soldaten der einen Seite getötet worden sind, dauert der Kampf
bei der Psychoneurose noch an^ Psychoneurotische Symptome sind zum Teil
Äußerungen verdrängter Triebe und zum Teil Reaktionen des Ichs gegen
diese Triebe.
Bei den Psychoneurosen hat das bewußte Ich immer noch die Überhand,
trotzdem es ihm nicht ganz gelingt, die unbewußten Tendenzen völlig zu
unterdrücken. Daß die Kontrolle des Ichs nur eine partielle ist, zeigt die
wichtige Tatsache, daß der unbewußte seelische Inhalt nur in entstellter
Form im Bewußtsein erscheinen kann. Diese Entstellungen sind die Kom-
promisse zwischen den zwei antagonistischen Kräften im seelischen Apparat,
';:i!l
4
218 Franz Alexander
also zwischen den verdrängten und den verdrängenden Mächten, und in
diesen entstellten Formen kann der unbewußte Inhalt im Bewußtsein er-
scheinen, ohne die bewußte Persönlichkeit zu verletzen.
Man kann Psychoneurosen und Psychosen als verschiedene Stadien des-
selben seelischen Prozesses betrachten, nämlich des Durchbruches des un-
bewußten verdrängten primitiven Anteiles der Persönlichkeit. In der Psychose
geht dieser Prozeß sehr weit, der Unterschied zwischen dem bewußten und
dem unbewußten Teil verschwindet und das Unbewußte beherrscht die ganze
Persönlichkeit; in der Neurose bleibt die wichtigste Erwerbung der späteren
Ichentwicklung, nämlich die Anerkennung der Realität, mehr oder weniger
intakt und die unbewußten Tendenzen dringen nur in isolierten Symptomen
durch, etwa so, wie wenn Fremdkörper in normales Gewebe eingebettet
sind. Abgesehen von diesen psychopathologischen Resultaten, hat ein bestimmter
Typus dynamischer Erscheinungen, die durch unterdrückte seelische Kräfte
verursacht werden, auch eine spezielle Bedeutung für die innere Medizin:
die sogenannten hysterischen Dysfunktionen und Organneu-
rosen, bei denen unbewußte psychische Kräfte physische Symptome hervor-
rufen. Die Erforschung dieses Gebietes erfordert engste Zusammenarbeit
zwischen der internen Medizin und der Psychoanalyse; sein größter Teil
muß der Zukunft überlassen bleiben.
Alle diese psychoanalytischen Funde auf dem Gebiete der Psychopathologie
sind in gleicher Weise integrierende Bestandteile des modernen medizini-
schen Denkens geworden, wie die fundamentalen Tatsachen des U n-
bewußten und der Verdrängung das allgemeine Denken der Gegen-
wart durchdrungen haben. Die Theorie der Fixierung an infantile
Haltungen und die bei Psychoneurosen und Psychosen beobachtete stärkere
Neigung, auf diese frühen Formen des Denkens und Fühlens zu regre-
dieren, gehören heute zu den grundlegenden Vorstellungen der Psychiatrie.
Aber auch seelische Mechanismen, wie Rationalisierung und Pro-
jektion, Methoden zur Lösung des Konflikts zwischen dem bewußten Ich
und verpönten Wünschen und Strebungen, werden sowohl in der Psychiatrie
wie auch im allgemeinen Denken und in der Umgangssprache so allgemein
anerkannt und angewandt, daß der junge Medizinstudent sehr häufig nicht
einmal weiß, daß sie aus dem psychodynamischen Systemgebäude Sigmund
Freuds stammen.
Nicht nur die anscheinend so sinnlosen Seelenvorgänge der Neurotischen
und Geisteskranken hat die Psychoanalyse erklären können. Sie wurde auch
zur Psychologie aller Arten irrationaler Seelentätigkeit, also der Fehl-
leistungen und Phantasien und besonders der Träume. Sie konnte zeigen,
daß die anscheinende Irrationalität all dieser Phänomene eine Konsequenz
Psydioanalyse und Medizin
219
A Tatsache ist, daß sich unser angepaßtes rationales Denken im Laufe
j individuellen Entwicklung immer mehr von den primitiveren, besonders
. Traumleben klar zu beobachtenden Denkformen entfernt. Wenn wir
aber die primitive Sprache unseres kindlichen Seelenlebens wiedererlernen,
sind wir imstande, den psychologischen Sinn unserer Träume zu verstehen.
Ich muß mich auf jene Grundtatsachen der analytischen Psychologie
beschränken, die für die Medizin bedeutsam geworden sind. Die Natur
dieser Grundtatsachen kann den Widerstand gegen sie, besonders den
Widerstand der medizinischen Welt, nicht erklären. Im Gegenteil, gerade
diese Methode, an die Probleme des Seelenlebens heranzugehen, nähert die
Psychologie den biologischen Wissenschaften und hebt ihre traditionelle
Verbindung mit der Philosophie auf.
Immerhin, der Widerstand gegen die Psychoanalyse ist ein kompliziertes
Phänomen und hat sich während der dreißig Jahre wesentlich verändert,
seitdem die Psychoanalyse das gewohnte Denken und Fühlen der wissen-
schaftlichen Welt und der öffentlichen Meinung zu stören beginnt. Der
erste — in der Hauptsache emotional gefärbte — Widerstand galt aus-
schließlich ganz bestimmten Spezialresultaten der neuen empirischen und
bis ins kleinste Detail gehenden Erforschung des seelischen Lebens. Im
besonderen rief die Entdeckung der infantilen Sexualität und des Fort-
bestehens gewisser infantiler und asozialer, später unterdrückter Tendenzen
im Unbewußten jedes Menschen eine allgemeine Abwehr hervor. Diese
ersten Widerstandserscheinungen sind so oft und so gut beschrieben
worden, daß kein Bedürfnis vorliegt, sie nochmals aufzuzeigen, besonders
da diese ersten Reaktionen in der Zwischenzeit ihre Aktualität verloren
haben. In den letzten dreißig Jahren hat sich die Welt emotional und
intellektuell stark verändert, und die Psychoanalyse hat ihren ehrlichen
Anteil an dieser Veränderung. Dieses erste, das heroische Zeitalter der
Psychoanalyse, in dem sie hauptsächlich gegen affektive Vorurteile zu
kämpfen hatte, ist praktisch vorüber. Der Ödipuskomplex ist von den zwei
konservativsten Stellen anerkannt worden: vom Oxford Dictionary und vom
Punch, und Psychoanalytiker, die heute noch glauben, die Menschheit aus
ihrem sorglosen Schlafe wecken zu müssen, kämpfen gegen Windmühlen.
Der Widerstand ist allmählich auf das intellektuelle Gebiet hinüber-
getragen worden. Diese intellektuelle Form des Widerstandes, der in über-
alterten Denkgewohnheiten und Forschungsmethoden wurzelt, richtet sich
nicht länger gegen jene allgemeinen oder philosophischen Konsequenzen
der Psychoanalyse, die das moderne Denken bereits allgemein assimiliert
hat, sondern er findet sich bloß noch auf jenem Gebiete, in dem die
Psychoanalyse entstanden ist : in der medizinischen Forschung und Therapie.
220 Franz Alexander
Um ihre Anerkennung als Theorie der Persönlichkeit braucht die Psycho-
analyse nicht mehr zu kämpfen; sie muß ihre Anerkennung als Teilgebiet
der Medizin durchsetzen, und dies, trotzdem es ihrem neuen dynamischen
Gesichtspunkt zu danken ist, daß die Psychiatrie ihr rein beschreibendes
Stadium überwunden hat und eine erklärende Wissenschaft geworden ist
Wir wollen uns nun diese ernstere intellektuelle Form des Widerstandes
näher ansehen, die heute wirksam ist und die es der medizinischen Welt
so schwer macht, sich endgültig psychoanaljrtisch zu orientieren.
Den Kern dieses Widerstandes habe ich bereits erwähnt. Die Psycho-
analyse hat es mit seelischen Erscheinungen zu tun und bringt damit]
ein ganz neues Element in die Medizin. Sie führt ein Forschungsobjekt
ein, das mit zeitlichen und räumlichen Begriffen nicht erfaßt werden
kann und droht so, die Homogeneität der Medizin zu stören, die es lieber
nur mit chemisch-physikalischen Fakten zu tun hätte und vorzugsweise
mit experimentellen Methoden arbeitet. Die Psychoanalyse muß durch ihr)
Objekt und Wesen beim Naturwissenschaftler das Mißtrauen wachrufen,
das dieser gegen die Tatsachen und Methoden der Psychologie allgemein
hat. So kommt es zu der paradoxen Situation, daß auch die Psychiatrie,
ein anerkanntes Teilgebiet der Medizin, notwendigerweise das Schicksal
der Psychoanalyse teilt, von der übrigen medizinischen Welt nicht respektiert
zu werden, seitdem sie ■ — ■ besonders hier in Amerika — so viel von der
Psychoanalyse in sich aufgenommen hat.
Die Homogeneität einer Wissenschaft, die Einheitlichkeit ihrer Methoden
sind zweifellos Postulate, die man zu beachten hat; aber die wissenschaft-
liche Forschung hat wichtigere Prinzipien. Es gibt seelische Phänomene,
sie sind mit anderen biologischen Phänomenen verknüpft, und der
Wissenschaftler darf nicht seine Augen vor Phänomenen nur darum ver-
schließen, weil er sie mit den üblichen und erprobten Methoden nicht
bewältigen kann. Die Hauptsache ist das Forschungsobjekt — und nicht
die Forschungsmethode. Die Methode aber muß der Natur des Objektes
angepaßt sein. Immer noch herrscht die Tendenz ■ — eine Art geistigen
Beharrungsvermögens — , Methoden, die sich auf dem einen Gebiet als
erfolgreich erwiesen haben, einem anderen, abweichenden Gebiet aufzu-
zwingen, statt nach neuen und diesem neuen Tatsachengebiet spezifisch
angepaßten Methoden zu suchen. Wäre die Psychoanalyse eine experimentelle
Wissenschaft gewesen, die Medizin hätte sich nicht gegen sie gesträubt.
Sie wäre dann wohl von der Medizin aufgenommen worden — allerdings
hätte sie dann aber auf die Erforschung der Persönlichkeitsprobleme ver-
zichten müssen. Andererseits ist es unbestreitbar, daß jenes Mißtrauen
gegen die psychologische Methode seine guten Gründe hatte. Trotzdem die
Psydioanalyse und Medizin
221
Psychologie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts den Anspruch erhebt,
nicht zur Philosophie zu gehören, konnte sie bis zu Freud keine empirischen
Resultate aufweisen, die jenes Mißtrauen hätten zerstreuen können. Und
es war auch keine Aussicht vorhanden, daß die Psychologie jemals die
pessimistische Feststellung von Möbius über die „Hoffnungslosigkeit jeder
Psychologie" würde entkräften können.
Allerdings verlangt das Verständnis der Persönlichkeit eines anderen
Individuums Methoden, die sich in vielen Punkten von den Methoden
der Naturwissenschaften grundlegend unterscheiden. Jede empirische Wissen-
schaft beruht auf der Verfeinerung und systematischen Entwicklung der
Beobachtungsmethoden des täglichen Lebens. In jeder Wissenschaft können
wir uns nur unserer Sinne bedienen, wenn wir auch ihre Genauigkeit
vergrößern und bis zu einem gewissen Grade ihre Fehlerquellen aus-
schalten können. Die Psychoanalyse nun hat — im Gegensatz zur früheren
Psychologie — einfach jene Methoden verfeinert und systematisiert, die
wir alltäglich anwenden, um die seelischen Situationen anderer Menschen
zu verstehen. Eigentlich ist dieses alltägliche Einander- Verstehen ein ziem-
lich komplizierter Vorgang. Sein Hauptwerkzeug ist eine Art von Identi-
fizierung mit dem Anderen, das heißt, man denkt sich in die seelische
Situation des Anderen hinein, man beobachtet seine Gesten, den
Ausdruck seines Gesichts, den Ton seiner Stimme, hört auch das, was er
sagt, und bekommt so ein Bild davon, was in seiner Seele vorgeht. Dieses
Verstehen resultiert aus der Tatsache, daß das Beobachtungsobjekt ein dem
Beobachter ähnliches Wesen ist — beide sind menschliche Persönlichkeiten.
Diese Ähnlichkeit zwischen dem Beobachter und seinem Objekt ist sehr
wesentlich und findet sich nur auf psychologischem Gebiete. Wenn man
physikalische Phänomene beobachtet, z. B. das Verhalten zweier Kugeln,
die über einen Tisch rollen, so ist man auf das beschränkt, was man
sieht; man bleibt absolut unfähig vorauszusagen, was im nächsten Moment
geschehen wird, außer wenn man das Verhalten solcher rollenden Kugeln
bereits aus früheren Experimenten kennt. Wenn man aber einen anderen
Menschen beobachtet, dann sieht man zwar auch nur die äußeren Mani-
festationen seines Verhaltens ; aber zur selben Zeit weiß man auch aus
der eigenen introspektiven Erfahrung heraus: was man
fühlen würde, wenn man dieselben Ausdrucksmittel, denselben Gesichts-
ausdruck, dieselben Worte und Gesten gebrauchte, wie das beobachtete
Objekt. Man versteht die Motive des Anderen, weil man die eigene Reaktion
aus ähnlichen Situationen kennt. Die psychologische Beobachtung des mani-
festen Verhaltens des Objektes wird unterstützt durch die direkte oder
introspektive Kenntnis der eigenen Person.
1
222
Franz Alexander
Die Wichtigkeit des Zusammentreffens der objektiven und der intro-
spektiven Beobachtung in der Psychologie kann nicht genug betont werden
Nicht nur, weil es die grundlegende Differenz zwischen den physikalischen
und den psychologischen Wissenschaften bildet, sondern auch weil hier
der einzige Vorzug der psychologischen Beobachtung vor der physikalischen
Untersuchung vorliegt, mag letztere auch andererseits über eine Menge
von Vorzügen — vor allem über die Möglichkeit des Experimentierens —
verfügen. Keine der psychologischen Methoden, die es versäumen, sich
jenes spezifischen Vorzugs der psychologischen Forschung zu bedienen
kann wichtige Funde bei der Untersuchung der menschlichen Persönlich-
keit machen. Ich erwähne bloß die Experimentalpsychologie und den
Behaviorismus. Beide wollten die Methoden der experimentellen Wissen-
schaften kopieren. Die eine unterließ es, jene allgemeine Einfühlungs-
fähigkeit zu gebrauchen und zu entwickeln, die andere lehnte die Ver-
wendung dieser Fähigkeit direkt ab. Der vorwissenschaftliche Mensch
verstand es, sogar die unbeseelte Welt psychologisch zu interpretieren:
er legte den Zorn Gottes in den Donner und seine Strafe in den Blitz-
schlag. Der Behaviorismus verfällt in genau den umgekehrten Fehler und
lehnt es ab, den seelischen Hintergrund sogar des Verhaltens lebendiger
Wesen zu analysieren. Der Animismus verpersönlichte die unbelebte Natur;
der Behaviorismus aber will sogar menschliche Wesen ihrer Persönlichkeit
berauben. Es wirkt fast tragikomisch, wenn man sieht, wie hartnäckig
der Behaviorismus auf eine Erkenntnisquelle verzichtet, indem er sich auf
die Beobachtung des sogenannten manifesten Verhaltens beschränkt. Sind
nicht auch Worte objektive Tatsachen? Kann der Hörende vermeiden, daß
sie ihm Kenntnisse über die seelischen Vorgänge des Sprechenden ver-
mitteln ?
Ich gebe zu, daß die allgemein geübte Einfühlung in die seelischen
Situationen anderer Individuen eine sehr unzuverlässige Methode ist. Aber
ist es nicht die Aufgabe jeder Wissenschaft, natürliche Beobachtungsfähig-
keiten zu vervollkommnen? Ist nicht die alltägliche optische Beobachtung
ebenso unzuverlässig? War es nicht notwendig, sie durch die Zeiger und
Skalen physikalischer Instrumente oder durch das Mikroskop zu verbessern ?
Es ist jetzt an der Zeit, konkreter zu beschreiben, was ich mit der
natürlichen Fähigkeit meine, seelische Situationen eines anderen Menschen
zu verstehen. Ich will das an einem banalen Beispiel zeigen.
Ein Soldat attackiert einen Offizier. Er wird gefragt, warum er dies
getan hat. Er erzählt, daß sein Vorgesetzter ihn lange Zeit hindurch
ungerecht behandelt und dauernd gedemütigt habe, bis er schließlich die
Herrschaft über sich verlor. Nun versteht man die Situation, weil jeder
Psydioanalyse und Medizin
223
schon ähnliche Gefühle in seinem Leben erfahren hat. Wenn man nun
feststellt, daß der Soldat seinen Vorgesetzten attackierte, weil dieser ihn
ungerecht behandelte und weil schließlich die Verbitterung des Soldaten
stärker wurde als seine Angst vor Bestrafung, so hat man damit eine
kausale Theorie seines Verhaltens aufgestellt, die sogar ein quantitatives
Urteil von einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad enthält. So viel an
Verständnis kann also bereits durch die gewöhnliche Alltagspsychologie
erreicht werden, die eine allgemeine und natürliche, dem Sehen- und
Hörenkönnen vergleichbare, nur viel kompliziertere Fähigkeit ist. Diese
Fähigkeit des psychologischen Verständnisses, die die verschiedenen Formen
der Sinneswahrnehmung in Verbindung mit der introspektiven Kenntnis
der eigenen Gefühle benutzt, vermag zu helfen, den Anderen auf dem
Wege der Identifizierung zu verstehen. Genau so wie optische und
akustische Wahrnehmungen die Grundlage physikalischer Experimente
bilden, so bildet diese Fähigkeit, die jeder in verschiedenem Grade besitzt,
die Grundlage des psychoanalytischen Verständnisses. Aber die Wissenschaft
verfeinert und entwickelt diese alltäglichen Methoden und Fähigkeiten.
Wir wissen ja, daß die gewöhnliche Alltagspsychologie ziemlich unzu-
verlässig ist, da sie verschiedene Fehlerquellen enthält. Die erste und
wichtigste ist die, daß — um zu unserem einfachen Beispiel zurück-
zukehren — der Soldat ja nicht alle Motive aufzählen muß, die ihn zur
Attacke auf seinen Vorgesetzten veranlaßten. Er wird eine Geschichte
erzählen, die ihn in möglichst gutes Licht setzt. Ein erfahrener Menschen-
kenner mag die wirklichen Motive erraten und ihre Verschleierungen auf-
decken; doch Beweise gibt es auf diesem Gebiete nicht.
Eine zweite Fehlerquelle liegt darin, daß der Soldat unmöglich seine
wirkliche seelische Situation schildern kann, selbst wenn er es wollte:
denn er selbst kennt nicht alle seine Beweggründe. Er täuscht nicht nur
uns, sondern auch sich selbst, und die Geschichte, die er erzählt, soll ihn
nicht nur in unseren, sondern auch in seinen eigenen Augen in gutes Licht
setzen. Diese zweite Fehlerquelle führt uns zu einem der Hauptfunde der
Psychoanalyse, nämlich zur Verdrängung. Die Verdrängung ist das Be-
streben, dem Bewußtsein Tendenzen und Motive fernzuhalten, die die
Harmonie des bewußten Ichs stören und die gute Meinung verderben
könnten, die wir so gern über unser eigenes Selbst hegen.
Eine dritte Fehlerquelle liegt darin, daß der Soldat in seiner seelischen
Struktur so verschieden von uns sein kann, daß wir seine Motive nicht
verstehen können. Die Identifizierungsmöglichkeit hängt von einer gewissen
Ähnlichkeit zwischen Beobachter und Beobachtetem ab. Diese Ähnlichkeit
ist natürlich bis zu einem gewissen Grade immer vorhanden, denn beide.
Beobachter und Beobachteter, sind Menschen. Nichtsdestoweniger wird durch
Unterschiede in Geschlecht, Rasse, Nation, Klasse usw. diese Ähnlichkeit
verringert und damit eine neue Fehlerquelle geschaffen. Männer verstehen
Männer besser als Frauen, und Frauen verstehen einander besser als sie
Männer verstehen. Wir verstehen Angehörige der westlichen Zivilisation
besser als Orientalen. Je größer die Differenz in der geistigen Verfassung
zweier Personen ist, desto schwieriger wird es für sie, einander zu ver-
stehen. Mit einem Wilden oder einem kleinen Kind haben wir fast die-
selben Verständnisschwierigkeiten, wie mit unseren psychotischen oder
neurotischen Patienten. Der autistisch-halluzinatorische Charakter infantilen
Denkens ähnelt der schizophrenen Denkweise, und auch das Seelenleben
der Wilden hat viele Berührungspunkte mit psychotischen und neurotischen
Verhaltensweisen. So vollziehen sie z. B. anscheinend sinnlose Zeremonielle,
die sich den sonderbaren Zwangszeremoniellen unserer Zwangsneurotiker
nähern.
Illl Die Schwierigkeiten, die sich dem Verständnis der ganz kleinen Kinder,
der Wilden, der Psychotiker und der Neurotiker entgegenstellen, kommen
alle aus derselben Ursache: ihre seelischen Prozesse verlaufen anders als
die seelischen Prozesse normaler Erwachsener, sie gehören einem priraiitiveren
Niveau geistiger Entwicklung an.
Schließlich wird eine vierte Fehlerquelle dadurch geschaffen, daß der
Beobachter selbst sozusagen „psychische blinde Flecke" hat, die seinen
eigenen Verdrängungen entsprechen. Es gibt Motive, die er aus seinem
eigenen Bewußtsein ausschließt, bei sich selbst nicht zulassen will; dann
wird er aber auch nicht fähig sein, diese Motive in anderen Menschen
zu entdecken. So kommt es, daß eine Voraussetzung des psychologischen
Verständnisses — die introspektive Kenntnis des eigenen Seelenzustandes
■ — bei der gewöhnlichen Alltagsbeobachtung so häufig fehlt; sie wird eben
überall dort vermißt werden, wo das Verdrängtsein eigener Motive ihre
Gewinnung verhindert. Die Wichtigkeit der eigenen Verdrängungen als
dynamisches Hindernis, seelische Abläufe eines fremden Bewußtseins zu
verstehen, kann nur dann richtig eingeschätzt werden, wenn wir uns klar
machen, daß Einheitlichkeit und Harmonie unseres bewußten Ichs einzig
durch unsere Verdrängungen ermöglicht sind. Um erwachsen zu werden,
ist es notwendig, die infantilen Denkweisen zu vergessen. Doch diese
infantile Form des geistigen Lebens hat eine sehr große Anziehungskraft,
denn sie ist dem Lustprinzip viel mehr unterworfen als die Mentalität des
Erwachsenen, die sich der Realität anpassen mußte. Es ist charakteristisch
für das kindliche Seelenleben, daß es jene realen Tatsachen, die den
subjektiven Wünschen und Bedürfnissen widersprechen, einfach nicht in
Psydioanalyse und Medizin
225
Betracht zieht. Die Anerkennung einer fremden und durchaus nicht immer
freundlichen Außenwelt ist ein Problem, das vom Kinde im Verlaufe
seiner Entwicklung gelöst werden muß. Das wichtigste Mittel, mit der
kindlichen Denkform, den kindlichen Wünschen und Strebungen fertig
zu werden, ist die Verdrängung, durch die das Ich die störenden Über-
bleibsel seiner infantilen Existenz hinwegräumt. Diese infantilen Über-
bleibsel werden durch die Verdrängung unbewußt und formen nun den
unbewußten Anteil der Persönlichkeit. Der speziellen Schwierigkeit des
Verstehens von Kindern, Wilden und Neurotikern liegen also nicht nur
Unterschiede zwischen ihrer und unserer Mentalität zugrunde, sondern
auch ein seelisches Moment in uns selbst, das uns verhindert, sie zu ver-
stehen — die eigene Verdrängung. Um ein normaler Erwachsener zu
werden, haben wir den primitiven Anteil unserer Persönlichkeit zu ver-
gessen, beziehungsweise zu überwinden, und darum können wir weder
die primitiven Seelenprozesse anderer noch unsere eigenen Träume ver-
stehen, in denen sich unsere infantile Persönlichkeit manifestiert. Die
Wissenschaft aber muß bei der Erforschung der Psychopathologie die
subjektive Schwierigkeit überwinden, die in der Tatsache der eigenen
Verdrängungen liegt.
Ich gebe zu, daß die Aufzählung dieser vier Kategorien von Fehler-
quellen wahrscheinlich tiefe Skepsis in bezug auf die Möglichkeit jeder
wissenschaftlichen Psychologie hervorrufen wird. Einige dieser Fehler-
quellen scheinen einfach unvermeidbar.
Die Mannigfaltigkeit dieser Schwierigkeiten erklärt zur Genüge, warum
die Psychologie so lange keine Methode finden konnte, die fähig gewesen
wäre, jene Fehler auszuschalten oder zu verringern. Darum war die
Psychologie keine Wissenschaft, sondern ein Privileg einiger weniger genialer
Menschenkenner • — der großen Dichter in Roman und Drama. Nur diese
großen Menschenkenner konnten wenigstens bis zu einem gewissen Grade
einige der Schwierigkeiten im Verstehen der wirklichen Motive fremder
Persönlichkeiten überwinden, trotz der allgemein menschlichen Tendenz,
uns selbst und Andere zu täuschen, trotz der Unterschiede an Alter, Rasse
und Geschlecht. Die Genies sind dazu fähig, weil jene vierte Fehlerquelle,
die eigenen Verdrängungen, bei ihnen weniger stark ist als bei anderen.
Dieses geringe Quantum an eigenen Verdrängungen ist es, was aus manchen
Leuten bessere Menschenkenner macht als aus anderen. Sie kennen ihre
eigene Persönlichkeit besser, und so können sie auch Andere besser verstehen.
Lassen Sie mich jetzt von den methodologischen Entdeckungen sprechen,
die es der Psychologie ermöglicht haben, eine Persönlichkeitswissenschaft
zu werden. Daß jeder wissenschaftlichen Entwicklung methodologische
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/2 15
226
Franz Alexander
Erfindungen und Neuerungen vorangehen, ist genügend bekannt. Die
Anatomie begann mit der Einführung der Sektion, die Histologie mit
jener des Mikroskops, die Bakteriologie mit der Methode, Kulturen zu
züchten. Die Psychologie als empirische Persönlichkeitswissenschaft beginnt
mit der Entdeckung der Methode der freien Assoziation von Freud.
Ich will nicht behaupten, daß alle jene vier Fehlerquellen durch die
Methode der freien Assoziation vollständig ausgeschaltet seien, aber sie sind
so beträchtlich verringert, daß die Anforderungen einer objektiven Wissen-
schaft erfüllt sind. Diese Methode kann nur innerhalb der therapeutischen
Situation erfolgreich gehandhabt werden. Der Patient wird angehalten
alles zu berichten, was sich während der analytischen Sitzung in ihm
abspielt; d. h. er hat alles, was ihm einfällt, in der ursprünglichen Reihen-
folge und Form, ohne jede Änderung oder Weglassung auszusprechen. Man
bittet ihn, seinen eigenen Gedankenabläufen gegenüber eine passive Haltung
einzunehmen, also jede bewußte Kontrolle seiner Seelenvorgänge aus-
zuschalten, sich ihnen zu überlassen und sie einfach wiederzugeben. Diese
einfache Prozedur scheint zunächst eine ziemlich unbedeutende Angelegenheit,
und es ist gar nicht so leicht, ihren Wert für die Forschung gerecht ein-
zuschätzen. Aber die Methoden der Perkussion und Auskultation waren
zunächst auch ziemlich anspruchslos und unbedeutend, und erst die Inter-
pretation der beobachteten kleinen akustischen Abweichungen machte sie
für die Medizin so wrichtig.
Die erste Fehlerquelle, nämlich der Mangel an Interesse seitens des
Forschungsobjektes, uns volle Rechenschaft über seine seelischen Inhalte
zu geben, wird bei dieser Methode durch die therapeutische Situation
ausgeschaltet. Nur ein kranker und leidender Mensch, der durch Befolgung
der ärztlichen Vorschriften von seinen Symptomen befreit zu werden hofft,
wird willig mitarbeiten und uns so intime Einblicke in seine Persönlich-
keit gestatten, wie es die Methode der freien Assoziation verlangt. Wenn
man sich seinem spontanen Gedankenablauf hingibt, kommen sehr bald
Einfälle, die man sonst verwerfen, fallen lassen und aus dem Aufmerk-
samkeitsfelde schieben würde. Wenn man sich dieser unkontrollierten
Denkform überläßt, kommt allmählich ein unbekannter Teil der Persön-
lichkeit ans Licht. Bei Ausschaltung oder zumindest bei Einschränkung
der bewußten Kontrolle erscheinen alle möglichen Arten unangenehmer
und irrationaler Seeleninhalte, die das kontrollierende Denken sofort unter-
brechen und sperren würde, bevor sie zu voller Klarheit kämen. In der
therapeutischen Situation lernt es der Analysand allmählich, die konven-
tionelle Maske abzulegen, die die Menschen gewöhnlich vor einander
tragen. Schritt für Schritt lernt er, ganz aufrichtig zu werden, sich in
Psydioanalyse und Medizin
227
geistiger Nacktheit zu zeigen und sogar jene Maske abzulegen, die er vor
sich selbst aufsetzt. Ich möchte darum die Behauptung wagen, daß allein
die therapeutische Situation brauchbare Bedingungen für eine wirksame
psychologische Forschung schafft, insoferne nur diese Situation "l^b Bereit-
willigkeit des zu Beobachtenden garantiert, sich so zu zeigej , ; wie er
wirklich ist.
Die einzige andere Situation, die dieser Anforderung nachkommt, ist
die Lehranalyse. In ihr unterwirft sich der Ausbildungskandidat der Analyse,
um deren Technik zu erlernen. In diesem Falle ist nicht die Hoffnung
auf Gesundung, sondern der Wunsch zu lernen das Motiv, das die Offen-
heit des Analysanden garantiert, seine Bereitschaft, uns in seine inneren
Vorgänge Einblick zu gewähren. Ohne diese Zusammenarbeit zwischen
Beobachter und Beobachtetem ist keine Psychologie möglich. Die Physik
ist nicht von der Bereitwilligkeit der leblosen Objekte abhängig, sich
erforschen zu lassen ; die Psychologie aber steht und fällt mit dieser
Bereitschaft.
Auch die zweite Fehlerquelle, nämlich die aus den Verdrängungen
folgende Unfähigkeit des Forschungsobjektes, seine eigene seelische Situation
völlig zu beschreiben, ist durch die analytische Technik beseitigt, nämlich
durch die Ausschaltung der bewußten Kontrolle. Die unkontrollierten
Gedankenketten sind in viel höherem Grade den verdrängten Kräften
unterworfen als das Denken des Alltags. Solche Assoziationsreihen sind
nicht mehr durch die bewußten Abläufe bestimmt und bekommen daher
einen viel irrationaleren Charakter, der sie den Tagträumen, denen wir
uns in Mußestunden hingeben, oder den Gedanken vor dem Einschlafen
ähnlich macht. Lange und geduldige Beobachtung solcher unkontrollierten
freien Assoziationen hat eine Deutungstechnik entwickelt, die uns gestattet,
die unbewußten Strebungen zu rekonstruieren, die die Beihenfolge und
den Inhalt jener freisteigenden Assoziationsketten determinieren. Auf diese
Weise erlangen wir tiefere Einblicke in die Struktur der Persönlichkeit
und lernen es, Motive und affektive Zusammenhänge zu verstehen, die
normalerweise durch die Kon troll- und Auswahlfunktionen des bewußten
Ichs verhüllt worden sind und die daher auch dem Betreffenden selbst
vorher nicht bewußt gewesen waren. So wird die zweite Fehlerquelle aus-
geschaltet: die Unfähigkeit des Patienten, über die Motive seines Seelen-
lebens völlig Rechenschaft zu geben.
Die dritte Fehlerquelle war, wie wir gesehen haben, eine subjektive
im Beobachter : seine Verschiedenheit vom beobachteten Objekt. In manchen
Fällen ist die Identifizierung fast unmöglich, häufig z. B. bei geistig
Erkrankten, die, wie bereits erwähnt, in primitive Infantilformen der
15"
228
Franz Alexander
seelischen Tätigkeit zurückgefallen sind. Die lange Dauer der psycho-
analytischen Beobachtung, Tag für Tag, Monat für Monat, ist das einzige
Mittel, dieser Schwierigkeit Herr zu werden. Wenn man in ein fremdes
Land mit fremder Bevölkerung reist, wird man in den ersten Wochen von
der Geistigkeit der Einwohner nichts erfassen, selbst wenn man ihre
Sprache versteht! Ihr Gesichtsausdruck und ihre Gesten sind ungewohnt
sie lachen und erröten in anderen Situationen, sie sind bei. manchen
Gelegenheiten unerwarteterweise verletzt, und Feststellungen, die uns voll-
ständig neutral erscheinen, schmeicheln ihnen. Aber mit der Zeit lernt
man ihre Reaktionen verstehen, ohne sagen zu können, wie und woher
und allmählich bekommt man die Fähigkeit, sich in diesem fremden Land
psychologisch zu orientieren. Ebenso ergeht es dem Beobachter im Laufe
einer langen Psychoanalyse. Sogar eine ganz besonders neurotische Persön-
lichkeit wird ihm im Verlaufe einer langen und beharrlichen Beobachtung
vertraut.
Schließlich muß auch die vierte Fehlerquelle ausgeschaltet werden, wenn
die Psychoanalyse Anspruch darauf erheben will, als verläßliche Forschungs-
methode zu gelten: jene Fehlerquelle, die den blinden Flecken in der
Seele des Beobachters, also seinen eigenen Verdrängungen entspricht. Das
Mittel, diese Schwierigkeit zu bewältigen, ist die Ausbildung, die der Be-
obachter durch seine eigene Analyse erfährt. Durch sie überwindet er
seine eigenen Verdrängungen, lernt den unbewußten Anteil seiner Persön-
lichkeit kennen und wird fähig, Reaktionen in der fremden Seele zu ver-
stehen, für die er bis dahin blind gewesen war. Um diese Schwierigkeit
konkreter darzustellen, wollen wir auf unser erstes Beispiel vom Soldaten
zurückgehen, der seinen Vorgesetzten angreift. Wir nehmen dabei an,
daß der Beobachter eine im tiefsten tyrannische Natur ist, sich aber seine
tyrannischen Neigungen nicht einmal selbst eingesteht, sondern versucht,
seinen Hang zu Aggression und Bemächtigung durch Selbstbetrug zu
rationalisieren. Ein derartiger Mensch wird immer dazu neigen, im Anderen
die Ursache seiner eigenen aggressiven Tendenzen zu finden, andere für
seine eigenen tyrannischen Neigungen verantwortlich zu machen. Immer
wird er im Verhalten des andern etwas finden, was seine eigene despotische
Haltung rechtfertigt. Wenn er die Szene zwischen dem Soldaten und
dessen Vorgesetzten beobachtet, wird er natürlich geneigt sein, die Brutalität
des Vorgesetzten zu übersehen und den Soldaten für die Aggressionen des
Offiziers verantwortlich zu machen. Ein derartiger Beobachter wird große
Schwierigkeiten haben, den Standpunkt des Soldaten zu verstehen und
seine Verbitterung zu erkennen. Er wird in ihm leicht einen Rebellen
sehen und damit die Haltung des tyrannischen Offiziers, mit dem er sich
Psychoanalyse und Medizin
229
leichter identifizieren kann, rechtfertigen. Da er seine eigenen tyrannischen
Tendenzen vor sich selbst verbergen und ihnen gleichzeitig doch eine Ab-
fuhrmöglichkeit verschaffen will, wird er blind für ähnliche Tendenzen
bei anderen sein, vs^eil die Anerkenntnis solcher Strebungen die Gefahr in
sich birgt, ähnliche Motive bei sich selbst zugeben zu müssen.
Diese subjektive Fehlerquelle wurde durch die Einführung der Lehr-
analyse überwunden. Denn durch die Lehranalyse lernt der Beobachter
seine eigene Persönlichkeit besser kennen, durch sie wird es dem Analytiker
möglich, den störenden Einfluß der eigenen Charakterzüge mit in Rechnung
zu ziehen. Deshalb hat auch die Internationale Psychoanalytische Ver-
einigung seit vielen Jahren als obligatorisch festgesetzt, daß jeder Analytiker
sich einer Psychoanalyse zu unterziehen habe, bevor er anfängt, Andere zu
analysieren. Ebenso wie die astronomische Beobachtung mit dem subjek-
tiven Irrtum rechnen muß, den man als persönliche Gleichung bezeichnet,
so ist auch psychoanalytische Beobachtung unmöglich, ohne jene eigenen
Besonderheiten zu kennen, die die objektive psychologische Beobachtung
stören könnten.
Wie gesagt, gibt es also bei jeder gewöhnlichen psychologischen Be-
obachtung vier Fehlerquellen, die von der systematischen psychoanalytischen
Technik durch folgende vier Mittel ausgeschaltet werden: der Unwille
des Objektes, sich dem Beobachter gegenüber aufzuschließen, wird durch
die Tatsache der therapeutischen Situation überwunden, die Unfähigkeit,
über seinen seelischen Zustand Rechenschaft zu geben, durch die Methode
der freien Assoziation, die Verschiedenheit zwischen Beobachter und Objekt
durch die lange und systematisch wiederholte Beobachtung, und die blinden
Flecke im Beobachter selbst durch die Lehranalyse. Durch Anwendung
dieser vier Mittel ist es der Psychoanalyse gelungen, das allgemeine Ver-
ständnis für das fremde Seelenleben derart zu verfeinern, daß daraus eine
wissenschaftliche, für jedes ernste Bemühen erlernbare und objektiv-
kontrollierbare Methode entwickelt werden konnte.
Die Wirksamkeit dieser Methode ist dadurch am besten bewiesen, daß
das Verständnis für das Seelenleben Dritter auf Fälle ausgedehnt werden
konnte, bei denen das allgemeine Verständnis und selbst die Genialität
der großen Dichter versagt haben: auf Fälle von Psychosen und Psycho-
neurosen. Das anscheinend unverständliche, irrationale und sinnlose Ver-
haken der Geisteskranken, die Seltsamkeit und Irrationalität psychoneu-
rotischer Symptome kann psychoanalytisch erklärt und in eine verständ-
liche Sprache übersetzt werden.
Ich kann meine Darstellung nicht schließen, ohne wenigstens kurz auf
die Psychoanalyse als therapeutische Methode einzugehen.
230 Franz Alexander
Die Bedeutung der therapeutischen Situation, außer der Lehranalyse
der einzigen Möglichkeit einer ins Detail gehenden psychologischen Unter-
suchung, gibt der neuen Disziplin eine besondere Note: Therapie und
Forschung fallen zusammen, die Ziele der Behandlung und der Forschune
sind die gleichen.
Freud erkannte die neurotischen Symptome als dynamische Äußerungen
verdrängter seelischer Tendenzen, die der Patient zu seinem Bewußtsein
nicht zuläßt und die verkleidet, als unverständliche Symptome, ins Be-
wußtseinvr.urückkehren. Es wurde ihm klar, daß man den Patienten von
seinen Symptomen befreien kann, indem man ihm die zugrunde liegenden
verdrängten Strebungen bewußt macht. So erweitert die Psychoanalyse die
Herrschaft des bewußten Ichs über solche Anteile der Persönlichkeit, die
bis zur Behandlung unbewußt waren. Durch die Behandlung, besonders
durch die Konsequenzen der Gefühlserlebnisse während der Analyse, wird
der Patient seiner selbst mehr bewußt und kann allmählich einen größeren
Anteil seiner seelischen Kräfte regulieren, als vor der Behandlung. Er
wird befähigt, auch jene Kräfte zu meistern und in normaler Betätigung
zu gebrauchen, die in den neurotischen Symptomen gebunden sind, und
das ist der Weg zur Heilung. Die Endziele der Therapie und der Forschung
sind also identisch : eine vollständigere Erkenntnis der Persönlichkeit. Und
das ist in der Tat eine einzig dastehende Erscheinung auf dem Gebiete
der Medizin. Bei jeder anderen medizinischen Behandlung spielt der Patient
eine passive Rolle. Den Patienten in die Einzelheiten und in den Mecha-
nismus seiner Krankheit einzuweihen, ist nicht nur unnötig, sondern
dürfte in den meisten Fällen sogar schädlich sein. Aber selbst wenn einige
Ärzte es vorziehen, den Patienten, soweit das bei einem Laien möglich
ist, mit der Natur seiner Krankheit bekannt zu machen, so wird niemand
von dieser rein intellektuellen Aufklärung eine direkte therapeutische
Wirkung erwarten. In der Psychoanalyse dagegen wird die Kenntnisnahme
der für die Symptombildung verantwortlichen verdrängten Seeleninhalte
durch den Patienten zu d e m therapeutischen Mittel. Der glückliche Um-
stand, daß die Methode der Therapie mit der Methode der wissenschaft-
lichen Forschung zusammenfällt, schafft die in der Medizin einzig dastehende
Tatsache, daß die Therapie nicht nur ein Zugang, sondern überhaupt die
Quelle der wissenschaftlichen Erkenntnis ist.
Ich habe die psychoanalytische Technik als die großartige methodo-
logische Erfindung bezeichnet, die aus der Erforschung der Persönlichkeit
eine Wissenschaft aufbaut und aus der Psychotherapie eine ätiologische
Behandlung schafft. Vielleicht scheint sie Ihnen zu einfach und zu banal,
als daß man ihr die Entwicklung einer neuen Wissenschaft zuschreiben
Psychoanalyse und Medizin
231
dürfte. Vielleicht denken Sie: Worin liegt denn die großartige und neue
Leistung der Psychoanalyse? Sie nimmt für die Untersuchung geeignete
Objekte, die bereit sind, einen Einblick in ihre Persönlichkeiten zu ge-
währen, und gibt die einfache technische Anleitung, die bewußte •Kontrolle
der Assoziationsketten aufzugeben. Sie haben recht: die Methode ist in
der Tat sehr einfach — wie jede wissenschaftliche Methode. Das Ge-
heimnis ihrer Wirksamkeit liegt bloß in ihrer genauen Anpassung an die
Natur des Untersuchungsobjektes. Die gesamte Entwicklung der modernen
Medizin ist auch nur auf das einfache Mittel zurückzuführen, daß man
über den menschlichen Körper keine spekulativen Überlegungen anstellt,
sondern ihn betrachtet, ihn seziert und die Einzelheiten seines Baues
untersucht. So wie der Anatom sieht, so hört der Psychoanalytiker, und
diese Analogie ist in Wirklichkeit tiefer als sie aussieht. Die voranato-
mische Medizin bestand ebenso wie die Vor-Freudsche Psychologie aus
vagen Verallgemeinerungen und spekulativen Begriffen. Psychologen
sprachen von Gefühl, Wille, Idee, Wahrnehmung und Apperzeption, aber
sie interessierten sich nicht für die einzelnen tatsächlichen Seeleninhalte.
Wie Sie wissen, war ja auch die Einführung der Sektion durchaus kein
glatter und leichter Prozeß. Man hatte all die gefühlsmäßigen Vorurteile
jener Zeit zu überwinden, so wie heute die Sezierung der Persönlichkeit
alle gefühlsmäßigen Vorurteile des heutigen Menschen zum Gegner hat.
Wenn man die Schriften gewisser Kritiker Freuds in Deutschland liest
und für die Worte „Persönlichkeit" oder „Seele" das Wort „Körper" ein-
setzt, so steht man vor den gleichen Argumenten, die im 16. und 17.
Jahrhundert gegen die Sezierung des Körpers vorgebracht wurden. Die
Psychologie ist eine Entweihung, sie degradiert die Seele, zieht unsere
höchsten Seelenbesitztümer in den Schmutz. Erkennt man nicht in diesen
Sätzen den Stil der Gegner der körperlichen Sektion ? Sicher führten
Anatomie und Physiologie zu einer großen Enttäuschung: die Wissenschaft
konnte die Seele nicht unterbringen. Auch die Psychoanalyse war von
Enttäuschungen begleitet. Die Zergliederung der Seele führt die Kompli-
ziertheit der Persönlichkeit mit all unserem höchsten Streben und unseren
geheimsten Schwingungen auf ein System dynamischer Kräfte zurück,
die unter der nüchternen Lupe des Wissenschaftlers alle Beiklänge, wie gut
und böse, hoch und niedrig, schön und häßlich, verlieren. Außerhalb des
Feldes wissenschaftlicher Beobachtung, im praktischen Leben, behalten
alle diese Begriffe selbstverständlich ihre alte Bedeutung.
Doch ich würde Sie unter einem falschen Eindruck lassen, wenn ich
bloß die Einfachheit der psychoanalytischen Methode betonen würde. Sie
ist einfach nur in ihren Grundlinien, d. h. in dem Prinzip, daß man
1
232
Franz Alexander
das anhören muß, was der Patient zu sagen hat. Die wissenschaftliche
Auswertung des so erhaltenen Materials dagegen ist keineswegs einfach
Eine ausgearbeitete Deutungstechnik, die auf langwierigen und mühsamen
Vergleichungen beruht, macht das Erlernen dieser Methode genau so
schwer, wie das Erlernen des Mikroskopierens. Sie erfordert reiche Erfah-
rung und lange Übung in der komplizierten Fähigkeit, die seelischen
Situationen Anderer zu verstehen. Das Erlernen der Deutungsmethode
selbst möchte ich mit dem Erlernen einer neuen Sprache vergleichen.
Träume und alle sonstigen Äußerungen des Unbewußten sprechen eine
andere Sprache als das bewußte Ich, eine Art Bildersprache, deren Ver-
hältnis zum bewußten Denken dem Verhältnis alter Bilderschrift zur mo-
dernen Buchstabenschrift nahesteht.
Ich hoffe, daß dieser Einblick in die Einzelheiten und in das Wesen
der psychoanalytischen Technik es der Medizin leichter machen wird, zu
diesem jungen Wissenszweig definitiv Stellung zu nehmen.
Die Bedeutung der Psychoanalyse in ihrem Verhältnis zur Medizin sehe
ich in den folgenden beiden Errungenschaften : i . mit Hilfe einer Technik,
die der Natur psychischer Phänomene spezifisch angepaßt ist, entwickelt
die Psychoanalyse eine in sich geschlossene und empirisch begründete
Theorie der Persönlichkeit, die geeignet ist, als Grundlage für das Ver-
ständnis und die Behandlung seelischer Störungen zu dienen. 2. Die
Psychoanalyse hat der philosophischen Forderung zur Betrachtung lebender
Wesen als psycho-biologischer Einheiten einen konkreten Inhalt gegeben,
und zwar durch die ins einzelne gehende Untersuchung des gegenseitigen
Verhältnisses von psychologischen und physiologischen Vorgängen. Der wesent-
liche Teil dieser Untersuchung jedoch muß der Zukunft vorbehalten bleiben.
^ Ich muß gestehen, daß ich meine Darstellung sehr unvollständig finde,
da ich die tatsächlichen Ergebnisse der psychoanalytischen Untersuchung
nur gestreift und mein Interesse auf die Methode konzentriert habe. Aber
ich denke mir, daß es für Sie als Repräsentanten der Medizin interessant
und wichtig ist, etwas von dem wissenschaftlichen Charakter und der
Methodologie der Psychoanalyse zu erfahren, gerade wenn Sie den Wunsch
haben, mit dieser jungen, so scharf angegriffenen, so problemreichen und
noch so unbekannten Wissenschaft vertraut zu werden. Wenn Sie den
Eindruck bekamen, daß die Methode an und für sich gesund ist, dann ist
es von sekundärer Bedeutung, ob die Resultate heute schon endgültig
gesichert sind oder nicht. Ist die Methode gesund, so müssen mit der Zeit
auch die Resultate gesund und annehmbar werden. Lassen Sie mich mit
einigen Worten schließen, die mir am besten die Bedeutung von Freuds
Lebenswerk zu charakterisieren scheinen :
Psychoanalyse und Medizin
233
Talleyrand sagte einmal, daß die Sprache das beste Mittel ist, um
unsere Gedanken zu verbergen. Eine Wahrheit, auf die nur ein Diplomat
hatte kommen können. Freuds Errungenschaft liegt darin, daß er eine
Methode geschaffen hat, in der die Sprache nicht mehr nur zum Verbergen
unserer Gedanken dient, sondern auch zu ihrer Erforschung.
über respiratorisdie Introjektion
Von
Otto Fenichel
Berlin
Es ist von Freud nachgewiesen worden, daß die Identifizierung mit
einem Objekt der Außenwelt, die nicht nur in der Pathogenese der Melan-
cholie, sondern auch in der Charakterbildung des Normalen, besonders
beim Aufbau des Über-Ichs, eine wesentliche Rolle spielt, als orale Ein-
verleibung gedacht ist.' Verschiedene Arbeiten haben seither diesen Fund
an klinischem und ethnologischem Material bestätigt. Die prägenitale Basis
der Identifizierung, der Umstand, daß sie wirklich unbewußt gedacht ist
als ein Aufessen des Objektes, der den mit der Analyse nicht Vertrauten
so unglaubwürdig anmutet, ist in der Tiefenanalyse sicher zu beweisen.
Bevor der Mensch lieben konnte, wollte er sich Objekte „einverleiben",
„total ' und „partiell",^ vpovon die Identifizierungen eben Spuren sind,
sowie auch die Kastrationsangst auf einer prägenitalen Basis ruht. Aber
Abraham hat ferner gezeigt,^ daß es auch andere Einverleibungsideen
gibt als orale; freilich von weniger prinzipiellem Charakter, mehr passagere,
offenbar in Phantasien und Identifizierungen sich weniger spiegelnd: eine
anale, die sich etwa offenbart in der von Ophuijsen und S t ä r c k e bei
Paranoikern nachgewiesenen Gleichsetzung von Verfolger und Kot, deren
infantiles Vorbild etwa die Klistierspritze ist;3 eine epidermale, entsprechend
dem infantilen Kolschmieren; die Annahme einer respiratorischen endlich
wird uns z. B. nahegelegt durch eine Episode in der Geschichte des Wolfs-
mannes:''' er mußte, wenn er Krüppel sah, forciert ausatmen, um nicht
i) Freud: Trauer und Melancholie. Ges. Sehr., Bd. V., vind Das Ich und das Es,
Ges. Sehr., Bd. VI.
2) Abraham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido.
5) Ophuijsen: Über die Quelle der Empfindung des Verfolgtwerdens. Int. Zschr. f.
PsA, VI., i92o, und Stärcke: Die Umkehrung des Libidovorzeichens beim Verfol-
gungswahn. Int. Z. f. PsA., V, 1919.
4) Freud; Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Ges. Sehr., Bd. VIII.
über respiratorisdie Introjektion
235
werden wie diese;^ da er so die Objekte ausatmet, so muß er sie vor-
her auch durch Einatmung in sich aufgenommen haben.
Es ist eine analytische Selbstverständlichkeit, daß man bei der Deutung
eines Symptoms nicht sofort auf den Ödipuskomplex greifen darf. Das
intermediäre Material, das sich zwischen Ödipuskomplex und Symptom ein-
schiebt, ist unerläßlich, um zu jenem wirklich vorzudringen. Was so für
die analytische Praxis gilt, gilt in gewissem Sinne auch für die analytische
Theorie. Ein Beispiel dafür sind etwa die Arbeiten von D a 1 y;^ die Angst
vor der Menstruation ist gegenüber der vor der Kastration gewiß etwas
Intermediäres; die theoretische Bedeutung der Hervorhebung dieses inter-
mediären Faktors aber ist klar. So bedeutet auch die respiratorische Intro-
jektion gegenüber der oralen ein intermediäres Moment; aber es wird sich
lohnen, sie einmal zum Gegenstand einer Spezialuntersuchung zu machen.
Die verschiedenen Introjektionsphantasien w^erden selbstverständlich, wenn
wir uns überlegen : Die Identifizierungen sind nur Überreste von oder
Regressionen zu prägenitalen Objektbeziehungen. Die Einverleibung ist die
Objektbeziehung der Prägenitalität. Alle prägenitalen erogenen Zonen,
soweit die von ihnen ausgehenden Sensationen nicht nur autoerotisch sind,
sondern sich Objekten zuwenden, müssen also der Ausgangspunkt von Ein-
verleibungsphantasien sein. Darum entsprechen der oralen, analen, epider-
malen Erotik eine orale, anale, epidermale Introjektion. — Auch die Wahr-
nehmungen sind nach Freud zunächst introjektions verwandt. Wenn das
Lust-Ich nur Angenehmes wahrnehmen, Unangenehmes weghalluzinieren
will, so entspricht auch das einer elektiven Einverleibung der ümwelt.3
Auch Auge und Ohr werden bekanntlich als objektaufnehmende Sexual-
organe phantasiert, sind aber offenbar für die Idee der bleibenden Intro-
jektion, die den Identifizierungen zugrunde liegt, weniger geeignet als die
Nase. Man muß daran denken, daß beim Geruchssinn die Einverleibung
der Objektwelt auch materiell wahr ist. Die nasale Introjektion entspricht
der respiratorischen Erotik, wie die orale der oralen Erotik.
Gibt es denn eine respiratorische Erotik? Gewiß. Die Atmungsfunktion
ist von der Psychoanalyse bisher etwas stiefmütterlich behandelt worden,
was damit zusammenhängt, daß ihre Erogeneität in so enger Verbindung
auftritt mit oraler und analer Erotik, die die Aufmerksamkeit bei der
Analyse etwa von Asthma bronchiale oder Atemzwang gleich auf sich zog.
Es fehlt aber nicht an Hinweisen, daß hier auch eine autonome Erogeneität
i) Freud; 1. c. S. 5o7, 508.
2) Daly: Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex, Imago, XIII, 1927, und Der
Menstruationskomplex, Imago, XIV, 1928.
3) Preud: Triebe und Triebschicksale. Ges. Sehr., Bd. V.
236
Otto Fenidiel
vorliegt, und zwar keine unwichtige. Wir werden nicht umhin können
auf diese Frage später noch einzugehen, wollen uns aber im wesentlichen
auf die Introjektionsfrage beschränken, bei deren Behandlung aber eben-
falls die innige Verschränkung mit anderen prägeniialen Erotismen
Oralität, Analität und Epidermität — • zutage treten wird.
Daß — wie A.braham vermutete — die orale Introjektion immer
der Total-, die anderen Arten der P arti al ein Verleihung entsprechen '
konnte ich — vielleicht mangels geeigneter Fälle — nicht bestätigen. Mein
Material erlaubte in so schwer durchschaubaren Schichten kaum eine klare
Differenzierung zwischen Total- und Partialeinverleibung. Zwischen dem
ganzen Objekt und seinem Penis wurde als Triebobjekt nicht unterschieden.
Theoretisch leuchtet aber Abrahams Ansicht ein: Die anale Organisations-
stufe der Libido ist eine spätere Bildung als die orale, die Partialeinver-
leibung ebenfalls eine spätere als die totale; so passen sie wohl auch zeitlich
besser zusammen. — Die respiratorische Introjektion steht zwischen beiden in
der Mitte: Die oberen Luftwege sind natürlich dem Mund nahe verwandt
durch die Idee der Geruchsaufnahme aber auch wieder eng mit der Anal-
erotik verbunden. Geruchsaufnahme und Einatmung sind im Unbewußten
nicht unterschieden.
Ich will jetzt klinisches Material vorlegen und erst zum Schluß wieder
auf die Theorie zu sprechen kommen. Das Material stammt von zwei
Fällen. Der erste ist sehr gründlich analysiert; nach seinem Studium wird
auch das des weniger tief analysierten zweiten Falles beweiskräftig sein.
Der erste Fall ist identisch mit dem, den ich in meiner Arbeit
„Psychologie des Transvestitismus" eingehend geschildert habe.^ Ich setzte
dort die Fußnote: „Die tiefere Analyse der narzißtischen Schichten ergab
schließlich, daß die Identifizierung mit der toten Mutter (dem , Geist' der
Mutter) durch Introjektion (Einatmung) erfolgt ist, und daß im Unbewuß-
ten die introjizierte Mutter und der eigene Penis gleichgesetzt wurden. So
gilt die symbolische Gleichung: Patient in Frauenkleidern = Mutter mit
Penis == Penis überhaupt. S. die Ähnlichkeit des ersehnten Frauennamens
mit dem Kosenamen des Penis." Diese Fußnote will ich nun belegen und
kommentieren.
Ich erinnere kurz an das wichtigste Material aus dieser Krankengeschichte.
Der Patient hatte zu einer älteren Schwester, von der er früh sexuell ver-
führt worden war, ursprünglich eine sehr sadistische, angriffslustige Ein-
stellung gehabt. Diese schwand nach Entdeckung ihrer Penislosigkeit, für
die er sich seiner unbewußten Wünsche wegen verantwortlich fühlte. Die
i) Abraham; Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido.
2) Fenichel; Zur Psychologie des Transvestitismus, Int. Zschr. f. PsA. 1930,
über respiratorische Introjektion
237
Obiektbeziehung wurde ersetzt durch eine Identifizierung, wobei er, um
sein Schuldgefühl zu lindern, unter äußerster Kastrationsangst die penis-
besitzende Schwester agierte, um sich als solche von der Stiefmutter lieben
zu lassen. In tieferer Schichte aber war er nicht nur die phallische Schwester,
sondern die phallische Mutter, sein Objekt nicht die Stiefmutter, sondern
der Vater. Die Mutter war früh verstorben. So warf er dem Vater vor,
daß er nach dem Tode der Mutter die Stiefmutter und nicht ihn selbst zu
ihrem Ersatz genommen hatte. Er lag unbewußt sozusagen mit der Stief-
mutter darum im Streit, oh das „Mana" der toten Mutter auf sie oder
auf ihn übergegangen sei.
Nun muß ich nachtragen, daß der Patient im wesentlichen an Hypo-
chondrie litt und eigentlich deshalb die Analyse aufgesucht hatte. Nach
jedem sexuellen Erlebnis mußte er einen Arzt aufsuchen, der ihm durch
den Bescheid, er sei gesund, Absolution erteilen mußte. Besonders fürchtete
er Blutvergiftung, Schlaganfall und Infektionskrankheiten. Blutvergiftung
und Schlaganfall erwiesen sich als Kastrationssymbole, denn vor ihnen
hatte der Vater immer genau so gewarnt, wie er dem Sohn die Angriffe
auf seine Schwester als gefährlich hingestellt hatte. Die Infektionsangst
war die Angst vor der Vergiftung = Schwängerung durch den Vater, die ja
den Tod bringen mußte, da der Patient unbewußt annahm, daß seine
Mutter an einer Schwangerschaft gestorben sei.
Nun war schon lange aufgefallen, daß die Infektion immer nur als
Hals- oder Lungenentzündung gefürchtet wurde; die Blutvergiftung sollte
von ebendort ihren Ausgang nehmen. Ständig ließ der Patient sich von
Spezialisten Hals und Lunge untersuchen; er brachte es durch eine be-
sondere Art, sich zu räuspern, zu einer chronischen Pharyngitis, derentwegen
er ständig zurri Halsarzt mußte. Es war nicht schwer, in der Analyse nach-
zuweisen, daß Hals und weibliches Genitale gleichgesetzt waren. Das infan-
tile Vorbild für seine Halsangst war eine schwere Diphtherie, die er als
Kind ungefähr zu der gleichen Zeit durchmachte, in der er auch den
Penismangel der Schwester in der Badewanne entdeckte, so daß er seine
Kastration sangst leicht auf den Hals verschieben konnte. Immerhin ge-
nügte das nicht, um die ausgesprochene Bevorzugung des Respirationstraktus
im Symptombild zu erklären, und man dachte an ein somatisches Ent-
gegenkommen, — bis sich das analytische Bild änderte und in der
schlimmsten Zeit der Kur eine immense Nasenangst auftrat. Er begann
sich genau so zu benehmen, wie es Mack Brunswick von der zweiten
Erkrankung des Wolfsmannes geschildert hat:^ Er war den ganzen Tag
i) Mack Brunswick: Ein Nachtrag zu Freuds Geschichte einer infantilen
Neurose. Int. Z. f. Ps.A., XV, 192g.
238
Otto Fenidiel
nur mit der Sorge um seine Nase beschäftigt, sah immerfort in den
Spiegel, ob nicht die blutvergiftende Infektion der Nase schon zu sehen
sei, hatte alle möglichen schmerzenden Sensationen im Innern der Nase
die ihn zum ständigen Nasenbohren verführten, weshalb er sich dann
wieder die heftigsten Vorwürfe machte. Wenn er meinte, sich durch das
Nasenbohren beschädigt zu haben, dann schmierte er sich Unmengen
Vaseline in die Nase oder wusch sie sich mit Alkohol aus, so in der Ab-
wehr der vermeintlichen Schädigung erst recht die Nase wirklich gefähr-
dend. Er bekam Angst, sich erst durch diese Heilungsversuche wirklich
geschädigt zu haben, und begann wieder zu bohren, um Vaseline und
Alkohol wieder zu entfernen, so daß ein circulus vitiosus von Bohren und
Einschmieren entstand. Oder er versuchte, sich die Nase zu pudern, wobei
er dann Puder aspirierte und erst recht die Pneumonie zu fürchten
hatte, usw.
Die Ausschließlichkeit, mit der der Patient in dieser Zeit lediglich
seiner Nasenhypochondrie lebte, ließ keinen Zweifel an deren narzißtischer
Natur. Er sorgte sich um seine Nase und sprach von ihr in genau der
gleichen Weise, in der er in seinen zwangsneurotischen Reaktionsbildungen
sich um Frau und Kinder gesorgt und von diesen gesprochen halte. So
entstand der Verdacht, daß die Beziehung zur Nase ein narzißtisch-regressiver
Ausdruck einer alten Objektbeziehung sei. Daß die Angst Um die Nase eine
verschobene Kastrationsangst war, war schon vorher klar geworden, da dies-
bezüglich die Symptome des Patienten sehr deutlich waren. Es war dabei
zu erkennen, daß der Nase, die ja als Penissymbol allgemein bekannt ist,
als Hohlorgan auch eine weibliche Bedeutung zukommt.
Bevor unser Verdacht, die Nase stelle ein äußeres Objekt dar, bestätigt
werden konnte, gelang es, ihre genitalsymbolische Bedeutung tiefer zu
erhärten. Kindheitserinnerungen ließen erkennen, daß der infantile Vor-
läufer der Nasenhypochondrie eine Penis hypochondrie gewesen war. Der
Patient erinnerte sich, um seinen Penis ängstlich und zärtlich besorgt ge-
wesen zu sein, wofür auch der erwähnte Kosename für ihn sprach. Eine
Deckerinnerung, er ziehe sich aus dem Penis ein Haar heraus, konnte
umgewandelt werden: er habe in der Genitalgegend einen Verband und
zupfe an diesem. Das deutete auf ein besonderes Kastrationserlebnis, das
durch die Diphtherie nur gedeckt war. So war kein Zweifel an der
Gleichung Nase = Penis, beide aber wurden wie dem Ich gegenüber-
stehende, ambivalent besetzte Objekte behandelt (Frau und Kinder), für
die man fürchtet. Die übertriebene Besorgnis um seine Frau war neben
der Hypochondrie das Hauptsymptom der ganzen Neurose. Setzte man also
die Gleichung: Nase = Penis fort: Nase = Penis = Ehefrau, so schien das
über respiratorische Introjektion
239
vahrscheinlich, wurde aber trotz der Unwahrscheinlichkeit durch zwei
Umstände bestätigt:^
r) durch die tiefgehende Identifizierung mit ihr: Er zog nicht nur
>, i seinen transvestitischen Spielereien ihre Kleider an, sondern fühlte sich
auch immer unwohl, wenn sie menstruierte;
2) der Kosename für den Penis hatte nicht nur Ähnlichkeit mit dem
von ihm erstrebten Frauennamen, sondern, wie wir erst spät in der
Analyse erfuhren, auch mit dem Namen der verstorbenen Mutter. So war
also die Gleichung bewiesen : Nase = Penis = introjizierte Mutter. Diese
Gleichsetzung war die Grundlage seines Transvestitismus, indem er darin
Mutter und Penis zugleich agierte.
Wie aber ist die tote Mutter in den Körper, in den Penis hineinge-
kommen, und warum wird der Penis gerade durch die Nase ersetzt? —
Zur Zeit der Hypochondrie machte die Frau des Patienten ihn aufmerksam,
daß die Tapete an seinem Bett morgens immer mit Vaseline verschmiert
war. Der Patient bohrte während des Schlafes in der eingefetteten Nase
und schmierte dann das Fett an die Wand. In dieser Symbolhandlung
wurde also die anale bzw. feminine Bedeutung der Nase deutlich. Wir
deuteten: Heute schmiert sich der Patient erst etwas in die Nase, führt
dann im Schlaf den Finger wieder zur Nase, um es wieder herauszuholen,
und dann an die Wand; als Kind fuhr er mit dem Finger erst an den
Anus, dann zur Nase, um daran zu riechen, und dann an die Wand. Das
Symptom schwand und wir hatten den Eindruck gewonnen, die Intro-
jektion der Mutter muß etwas mit Biechen und Kot-
schmieren zu tun haben.
Dazu war uns allerdings schon einiges Material bekannt. Die charak-
teristische Form der Kastrationsangst des Patienten war die vor dem „Weg-
sein". Er fürchtete, seine Frau könnte, wenn sie ausgegangen war, nicht
wiederkommen, einfach verschwunden, weg sein. Wenn sie eine Reise
machte, so phantasierte er, wie die Freunde, die sie von der Bahn abholen
sollten, sie nicht antreffen, also immer nur ihr geheimnisvolles „Wegsein ,
nie, was ihr etwa zustoßen könnte. Das war die Folge davon, daß
während seiner Kindheit sich das Geheimnis um den Tod der Mutter
mit dem der Sexualität so unlösbar verdichtet hatte. Die Angst war,
der Penis könnte eines Tages so weg sein, wie die tote Mutter weg war.
1) Eine unbewußte Gleichsetzung von hypochondrisch affiziertem oder somatisch
erkranktem Organ und introjiziertem Objekt wurde von S i m m e 1 an verschiedenen
Stellen beschrieben. So schreibt er: „Das introjizierte Elternsuhstitut ist zum Krankheits-
stoff geworden dessen man sich zu Genesungszwecken entäußern muß" und spricht '
von der Möglichkeit, daß ein einziges Organ diesen Stoff repräsentiert. —
S. „Doktorspiel, Kranksein und Arztberuf", Int. Z. f. Ps.-A., XII, 1926.
240
Otto t'enidiel
Da er den Penismangel der Schwester in der Badewanne entdeckt hatt
so war verständlich, daß diese zum Angstort wurde. Er fürchtete, er könnt
mit dem aus der Badewanne abgelassenen Wasser in die Unterwelt mitge-
schwemmt werden und weg sein. Diese Vorstellung war natürlich beein-
flußt von der Beobachtung, wie der Kot im Klosett vom Wasser mitffe-
rissen wurde. Allmählich stellte sich eine Menge Material darüber ein wie
er als Kind mit Grauen zugesehen hatte, wie Käfer am Strand im Sande
zu verschwinden schienen, und endlich, wie er ebendort urinierenden
Mädchen zugesehen und sich gewundert hatte, daß der Urin im Sand ver-
schwand und dann einfach weg war. Aus all dem ergab sich die Gleichung-
Leiche = Kot ^ Penis = Dinge, die verschwinden. Die Vorstellung „Kot"
war also das Bindeglied zwischen den Vorstellungen „tote Mutter" und
„Penis' . Die unbewußte Idee „die Mutter ist in mir" schien so verdichtet
mit „ich habe Kot in mich aufgenommen". ' („Die Mutter ist in mir"
war übrigens verdichtet mit „ich bin in der Mutter"; zahlreiche Mutter-
leibsphantasien durchzogen die ganze Neurose.)
Es wurde also gedeutet, daß im Patienten eine Vorstellung wirksam
sein müsse, etwa von der Art: „Ich habe Kot gerochen und so ist meine
Mutter in meine Nase gekommen." Die erste Bestätigung waren Vor-
stellungen von der als Atem gedachten ,, Seele" der Mutter, die er ein-
geatmet = gerochen hätte.
Daß die Identifizierung mit der Mutter gefährlich ist, mit Tod und
Kastration droht, wurde in der Arbeit über Transvestitismus breit ausgeführt.
So müssen Phantasien von „tötendem Geruch oder Atem" unsere Deutung
bestätigen. Ich darf deshalb die Serie von Träumen, die ich nun mitteilen
will, mit einem beginnen, der von gefährlichen analen Aggressionen handelt,
die auf Geruch und Atem hindeuten:
Ich fülle eine Kanone von oben mit Marmelade. Ich mache dabei den
Rand schmutzig. Dadurch entsteht Explosions- oder Gasgefahr. Dann wird
ein Deckel angeschraubt.
Der Traum wird verständlich, wenn man drei Tagesreste kennt: zunächst
eine Diskussion über einen besonderen Kochtopf mit abschraubbarem Deckel,
der als explosionsgefährlich bezeichnet worden war; ferner ein zufälliges
Beschmutzen des Klosetts, dessen sich der Patient, in der Angst, man werde
ihn als Missetäter entdecken, sehr schämte; und schließlich eine zwangs-
i)Die unbewußte Gleichsetzung instrojiziertes Objekt=Kot ist bei Psychosen wie
an ethnologischem Material wiederholt nachgewiesen worden. S. Abraham: Versuch
einer Entwicklungsgeschichte der Libido, Simmel: a. a. O., R6heim: Nach dem
Tode des Urvaters. Imago IX, 1923 u. a.
über resplratorisdie Introjelction
24t
purotische Unsicherheit vor dem Einschlafen, ob der Gashahn geschlossen
ei und Angst vor dem Gastod während des Schlafes.
Den latenten Traunigedanken nach konnte also Kot durch Gasentwick-
lung töten. Da er daran gedacht hatte, seiner Frau diesen gefährlichen
Kochtopf zu. kaufen, so ist sie das Objekt seiner analen Tötungslust. Um-
gekehrt fürchtet er, dafür durch seine Frau getötet zu werden. Das An-
t,zw. Abschrauben verrät, daß mit dem Tod wieder die Kastration verdichtet
ist. Der Hauptgedanke des Traumes lautet also: Ich möchte die Schwester
oder Mutter töten und fürchte, dabei getötet oder kastriert zu werden.
Wichtig für uns ist dabei aber die Exekutive dieses Tötens: Wer die Gase
eines anderen einatmet, den Geruch seines Kotes riecht, der geht daran
zugrunde. — Und verschiedene Symptome sprachen von der gleichen Angst,
jemand durch Kot zu töten, von jemandem (dem mit ihm als Frau koi-
tierenden Vater) durch Kot (Infektion) getötet zu werden.
In einem zweiten Traum ward das gleiche Motiv mit dem der Identi-
fizierung verknüpft, so daß die symbolische Gleichung : Frau = Nase =
Kot = Penis = Kind einleuchtend wird. Er lautet:
Ich sehe ein plattgedrücktes Kind.
Er hatte sich am Vortag neben eines seiner Kinder auf das Sofa gelegt
und man hatte ihm im Scherz gesagt, er werde es erdrücken. Ebenso
hatte ich ihn auf die Triebgrundlage seiner pädagogischen Maßnahmen
aufmerksam gemacht, ihn also auch davor gewarnt, er könnte seine Kinder
schädigen. — Im plattgedrückten Objekt erkennt er aus der Nase heraus-
gekratzte trockene Borken, die ihn am Vortage sehr entsetzt hatten, weil
er sie als Zeichen schwerer Krankheit aufgefaßt hatte. Die Gedanken „ich
habe mein Kind geschädigt ' und „ich habe meine Nase geschädigt" sind
also verdichtet. Der Einfall der im Backofen plattgebackenen Max und
Moritz zeigte den dahinterstehenden Kastrationsgedanken. Dazu paßt eine
Kastrationserinnerung aus der Kindheit, die lautet: Er bekommt einen
Angstanfall, als Kinder bei einer Laterna-magica-Vorstellung mit ihren
Fingern die Leinwand berühren ; er fürchtet, die Finger könnten zusammen
mit den gerade projizierten Soldaten wregmarschieren, die Kinder könnten
für den Leichtsinn ihres Hinfassens zu streng bestraft werden. Auch damals
war ihm Problem, was von dem Gesehenen körperlich (die Finger) und
was nur Bild sei, also „plattgedrückt" (die Soldaten). Die Voraussetzung
dieser Angst war die knapp vorher erfolgte Kenntnisnahme von der Penis-
losigkeit der Schwester, auf deren Schoß er während dieser Vorstellung
ebenso saß, wie sonst bei den sexuellen Spielen mit ihr. Der Sinn des
Traumes ist also : Ich will die Schwester mit meinen sexuellen Angriffen
kastrieren und fürchte, deshalb selbst kastriert zu werden. Die Schwester
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVI I/2 16
242
Otto tenidiel
aber ist dabei verdichtet nicht nur mit seinen Kindern, sondern auch m'
dem Penis (hinfassender und verschwindender Finger) und der Nase d"
er durch das Bohren beschädigt hatte, ferner mit dem Kot = mit de
Borken aus der Nase. Das plattgedrückte Ding ist Schwester, Kot, Nase
und Penis in einem. Es ist kein Zufall, daß dem Patienten nach diesem
Traum einfiel, daß er während der Diphtherie inhalieren mußte, daß das
wollüstig und gleichzeitig angsterregend war, denn der Inhalationsapparat
erinnerte zu sehr an die Laterna magica, die also nicht nur Finger platt
machen, sondern auch Gase aussenden kann.
Durch solches Material waren wir wieder auf die enorme Riechlust des
Patienten aufmerksam geworden. Er hat nicht nur als Kind alles beschnüffelt
und am Geruch unterschieden, sondern der ganze Transvestitismus hatte ]a
damit begonnen, daß er an Kleidungsstücken der Schwester deren erregenden
Körpergeruch wahrgenommen hatte. Nachdem die Analyse an den unbe-
wußten Grundlagen des Transvestitismus gerüttelt hatte, regredierte er zum
Ursprung dieses Symptoms : Er legte Frauenwäsche nicht mehr an, sondern
hielt sie an seine Nase, um sie zu beschnüffeln, und onanierte dabei. Das
Riechen und Einatmen des weiblichen Geruchs ersetzte also das Anlegen
der weiblichen Kleider. Wie dieses sich als Verdichtung eines objektlibidinösen
Aktes (Kleid=:Frau) mit einem Identifizierungsakte erwiesen hatte, so war
auch diese Riechonanie sowohl ein Sexualakt mit dem weiblichen Geruch
als auch eine Identifizierung, ein Weibwerden durch die Aufnahme des
weiblichen Geruchs. Wir haben dabei die Vorstellung des Kotgeruchs (Kot=
Leiche) oberflächlicher gefunden als die des vaginalen, besonders menstruellen
Geruchs. — Ein Traum lautet nur :
Jemand ist gestorben. Es riecht nach Leichen.
Er hatte vor dem Einschlafen auf die geschilderte Weise mit einem
Wäschestück seiner Frau onaniert. Gestorben ist also seine Frau. Er tötet
magisch durch das Beriechen und nimmt die Leiche in sich auf. Das
Gegenstück dieser Phantasie ist wieder die Angst, durch Gerüche vergiftet
zu werden. Hierher gehört eine Phobie vor ranziger Butter. Er konnte
nur die allerfrischeste Butter essen, die im ersten Geschäft gekauft sein
mußte. Erinnern wir uns, wie er nach transvestitischen Akten sich die
Kleider so schnell wie möglich herunterreißen mußte, damit „es nicht
stecken bleibe", so verstehen wir: Wenn er die Frau durch Riechen tötet
und einatmet, so ist die Talionsstrafe, die ihn erwartet, daß er, selbst
Frau geworden, an Geruchs- und Gasvergiftung zugrunde gehe. Durch
das Einatmen nimmt er das weibliche Mana in sich auf und wird selbst
Weib. Daß die schreckliche Gefahr, die ihn dann als Weib bedroht,
schließlich wieder die Kastration ist, ergibt sich daraus, daß dieses Weib-
über resplratorisdie Introjektion
243
liehe auch als Blut, der weibliche Geruch als Menstrualgeruch gedacht war.
Der Patient, der kein Blut sehen kann, gestand, daß er es sehr gerne rieche,
ja daß er sich immer freue, wenn er sich in der Nase blutig gekratzt hätte,
weil es dann so einen hübschen Blutgeruch gäbe. Wir sehen darin unsere
Auffassung von der bisexuellen Natur der Nase bestätigt, die nicht, nur den
Penis, sondern auch das penislos gemachte blutende weibliche Genitale
darstellt. Die Nasenhypochondrie war wirkliche Kastrationsangst, war die
Angst, er könnte durch sein Riechen und Onanieren aus seinem Penis ein
blutendes Organ machen. Offenbar war der Kotgeruch teilweise schon ein
regressiver Ersatz für den Blutgeruch, den er, oft im Bett der Stiefmutter
schlafend, sicher in sexueller Erregung wahrgenommen, aber, ihre Penis-
losigkeit perzipierend, verdrängt und durch Kotgeruch ersetzt hatte. Viel-
leicht war das der Anlaß, über die Gleichung Kot=Penis an Stelle der realen
Stiefmutter die tote Mutter und damit an Stelle der Objektliebe die Identi-
fizierung, an Stelle der Heterosexualität die Homosexualität zu setzen. Das
ist aber nicht ganz klar geworden. Sicher ist, daß die Aufnahme des Weibes
durch den Geruch eine gefährliche Sache ist, da sie bewirken könnte, daß
man, selbst Weib geworden, den Penis verliert wie die Stiefmutter und
Schwester, oder stirbt wie die Mutter. Ein nachhinkender Traum lautet:
Mein jüngstes Kind ist durch einen Inhalationsapparat gefährdet.
Tagesreste: Der Patient hatte in dieser Nacht ausnahmsweise mit diesem
Kind in einem Zimmer geschlafen. Am Tage zuvor hatte der Patient ge-
fürchtet, seine Kinder könnten durch ein fremdes hustendes Kind infiziert
werden. Er selbst hatte als Kind, w,e wir hörten, den Inhalationsapparat
geliebt und gefürchtet. Eine Tante, Schwester des Vaters, war in der frühen
Kindheit des Patienten an Tuberkulose gestorben und der Vater pflegte, wenn
dieSchwester hustete, zu sagen: „Oje, sie wird sterben, wie meine Schwester.«
Wieder also: Todeswünsche gegen Kinder und Schwester, Talionsangst für
sich, die Todesgefahr dargestellt durch Einatmung, die Todesursache als
Respirationskrankheit.
Wir haben also neben- oder richtiger untereinander die Ideen:
1) ich möchte die Frau (Schwester) durch Gas kastrieren und töten
(wohl: um mich an ihre Stelle zu setzen) und werde deshalb von ihr durch
Geruch getötet;
2) das Riechen des weiblichen Geruchs ist ein Sexualgenuß, aber ein
kastrationsgefährlicher; man wird dadurch selbst Weib;
p das Riechen weiblichen Geruchs ist die Aufnahme der weiblichen
^teiche in den eigenen Körper und die Voraussetzung für den Sexualgenuß,
den der Vater mir als Frau geben soll — und das ist kastrationsgefährlich!
Diese dritte — wohl die tiefste — Schichte wird besonders deutlich durch
i6'
244
Otto Fenidiel
eine Reihe von Träumen, die man die Träume vom „Streit mit der Stief-
mutter um die Rechtsnachfolge nach der Verstorbenen nennen könnte.
Der knapp vor der Analyse erfolgte Tod des Vaters gab dem Patienten
Gelegenheit, auf den Tod der Mutter bezügliche Kindheitsphantasien wieder
zu aktivieren.
Traum: Ich habe irgendwo eine der Stiefmutter gehörige Kiste liegen
lassen.
Tagesrest: Die Stiefmutter hatte einen Schirm seiner Frau stehen lassen.
Er rächt sich also, indem er nun auch einen ihr gehörigen Gegenstand
liegen läßt. Warum eine Kiste? Dazu fällt ihm das Grab Friedrichs des
Großen in Potsdam ein, dann ein Witz, in dem ein Sarg mit einer Kiste
Käse, der Leichengeruch mit dem Käsegeruch verwechselt wird. Dann Erb-
streitigkeiten mit der Stiefmutter. Man kann also deuten: Ich will der
Stiefmutter die Leiche, den „Geruch" des Vaters wegnehmen; nicht sie
ist seine Rechtsnachfolgerin, sondern ich. Das deckt einen entsprechenden
Gedankengang aus der Kindheit: Nicht sie war damals die Nachfolgerin
der Mutter, sondern ich; wobei die Rechtsnachfolge durch den Resitz des
Geruchs = der Seele des Toten dargestellt ist. Warum ersetzt nun der Traum
einen realen Schirm durch eine Kiste? Dabei mögen aktive Kastrationsgedanken
gegen den Vater mitwirken, der Gedanke, er hätte keinen Penis (Schirm),
sondern eine Vagina (Kiste) gehabt; sicher aber gehört das mehr in den
Rereich der Gedanken über den Tod der Mutter, deren Seele er ja, wie
wir schon erfahren haben, als Vaginageruch = aus einer Kiste kommenden
Geruch vorstellte.
Daran schließt sich ein etwas komplizierterer Traum, dessen Retrachtung
aber lohnt :
Eine Frau liegt mit Schwellungen krank im Bett. Sie macht meiner Schwester
Vorwürfe, sie hätte Pelze gestohlen. Ich selbst habe eine Geschwulst unter
dem Auge.
Sowohl die Frau als auch er selbst haben Schwellungen, er setzt sich
also wieder einer Frau gleich. Zum Auge fällt ihm ein Plakat von Fromms
Act ein, außerdem hatte er in diesen Tagen besondere Luesangst. Es ergibt
sich also der latente Traumgedanke : Ich und die Frau haben einen Primäraffekt,
sind kastriert. Warum „Schwellungen" ? Er sah einmal eine Frau mit
Urämie, die Ödeme unter den Augen hatte. Er wußte nicht, was Urämie
ist, dachte aber, „etwas, was mit dem Urin zusammenhängt". Er hat als
Kind den Urin seiner Schwester berochen. Also : Durch Uringeruch werde
ich =ist eine Frau kastriert worden. — Zur kranken Frau fällt ihm ein, daß
er von der Insel Finkenwerder gelesen habe, die Frauen würden dort früh
Witwen, weil die Männer als Fischer verunglückten. Zum Fischer fällt ihm
über respiratorische Introjektion
245
. Scherzwort seiner Frau ein, daß er, beim Aufstoßen sich die Hand vor
den Mund haltend, die Magengase fischen gehe. Die Witwen aus Finken-
werder entsprechen nach dem Tode des Vaters natürlich der Stiefmutter. —
Stiefmutter und ich sind durch Gerüche oder Gase krank geworden. —
Warum Pelze? Er hat einen Pelz des Vaters geerbt; die Stiefmutter macht
ihm nun im Traum den Pelz streitig, wie er auch in Wirklichkeit mit
ihr Erbstreitigkeiten hatte. Also : Stiefmutter und ich sind durch die
respiratorische Introjektion des toten Vaters krank. — Warum hat nun nicht
er sondern die Schwester die Pelze gestohlen? Aus zwei Gründen: erstens
als Dublette der unrechtmäßigen Besitzergreifung des Toten durch eine Frau;
zweitens hatte die Schwester in Wirklichkeit einmal Porzellan gestohlen.
Porzellan aber gab es im Haus noch als Andenken an die erste Mutter.
Also geht es in tieferer Schichte wieder nicht um den Vater, sondern um
die Mutter, und wir können deuten: Warum nehmen diese Frauen, Stiefmutter
und Schwester, die Stellung der toten Mutter ein, die mir zukäme? Ich
will ihnen diese Stellung rauben, indem ich ihre Seele einatme, fürchte
aber, ich müßte dabei kastriert werden und zugrunde gehen. Jetzt verstehen
wir auch die Aggressionen und aktiven Kastrationswünsche gegen die Frauen,
besonders gegen die Schwester. Eine Komponente ihrer Psychogenese (neben
anderen) lautet: Diesen Frauen möchte ich den Penis ausreißen, den Geruch
wegatmen, um damit die geraubten Insignien der Mutter an mich zu reißen;
als Talionsstrafe für diese Gedanken werden mir selbst Atmungsorgane
und Penis krank.
Ich will das Material dieses Falles nicht verlassen, ohne noch ausdrück-
lich auf die erwähnte Verdichtung der respiratorischen mit anderen Intro-
jektionsarten hingewiesen zu haben. Denn da ist die epi dermale, in
diesem Traum angedeutet durch den Pelz, der, auf der Körperoberfläche ge-
tragen, das Leichengift des Vaters von der Haut her eindringen läßt. Es
sei ergänzt, daß der homosexuelle Verkehr im Unbewußten des Patienten
immer als gegenseitiges Kotschmieren perzipiert war, und die gefürchtete
Infektion als eine durch die Haut erfolgende Kotinfektion. Auch die orale
Introjektion war trotz der besonderen Betonung des Respirationapparates
auch in diesem Falle deutlich ausgeprägt ■ — • ich habe ja nur ausdrücklich
das respiratorische Material unter Vernachlässigung des anderen zusammen-
gestellt. Es sei nachgetragen, daß das orale Moment z. B. in der Idee, sich
durch einen Kuß, den er dem toten Vater gegeben hatte, infiziert zu haben,
aber auch schon in der steten Sehnsucht nach frischer Butter zum Ausdruck
kam. Dafür noch ein kurzes Traumbeispiel :
Meine Schwester hat mir etwas Schlechtes zu essen gegeben.
Das hatte sie wirklich getan. Ihre Tomatensuppe beim Abendbrot hatte
246
Otto Fenidiel
miserabel geschmeckt, nachher hatte sie sich in ihr Zimmer eingeschloss
und ihn nicht zu sich gelassen. In der Kindheit war die Schwester Bett-
nässerin gewesen. Wenn die Eltern darüber sprachen, wurde er hina
geschickt. Er hatte ihren Urin berochen. Sie hatte ihm also im Traum
Urin nicht nur zu riechen, sondern zu essen gegeben. Es war aber Tomaten-
suppe, also nicht nur Urin, sondern Blut, Menstrualblut. Die Übernahme I
des weiblichen Mana erfolgte also in diesem Traum oral.
Von ein«m zweiten Fall sei in diesem Zusammenhang nur die Analyse!
eines ^yr'.toms dargestellt. Bereits im ersten Stadium einer komplizierten
Zwangsiieurose eines jungen Mannes hatten Erstickungsangst und Atem-'
Zeremoniells eine große Rolle gespielt. Die Analyse konnte diese Symptome
rasch als Ausdruck der Kastrationsangst, die gegen homosexuelle Phantasien
gerichtet war, erkennen, ohne einen Zusammenhang mit Identifizierungen I
ahnen zu lassen. So hatte der Patient eines Tages die Phantasie, der
Analytiker könnte ihm mit einer Schere „die Luft abschneiden", d. h. eine
phantasierte Luftzufuhr, wie sie etwa ein Taucher hat, unterbinden und
ihn so ersticken lassen. Das ging auf eine aus der Latenzzeit stammende
Angst zurück, er könnte beim Schlafen unter der Decke ersticken. Er
verkroch sich nämlich damals zum Phantasieren unter die Decke. Die
Phantasien, meist solche von großen Ungeheuern kosmischer Dimensionen, j
die ganze Welten fressen, waren die Abkömmlinge alter Onaniephantasien,
das Unter- die Decke-Kriechen eine Fortsetzung des verbotenen früh-
infantilen Die Hand-unter-die-Decke-Legens. So verkrochen, genoß er
den Geruch der eigenen Flatus und konnte deshalb seiner alten Kastrations-
angst die Form von Erstickungsangst geben. Die Analyse des Symptoms,
die ich nun mitteilen will, brachte uns hier im Verständnis weiter. Es
stellte sich der Zwang ein, wenn er ein Auto hupen hörte, es nachzuahmen
und selbst „Töff-töff" zu machen. Dazu hatte er nach längerer Analyse
endlich den Einfall, das Auto sei ein großes Ungeheuer und er könne
auch so machen wie dieses. Allmählich erfuhren wir, daß diese Nach-
ahmung dazu diente, das Ungeheuer zu bannen, so wie nach Anna Freud
Kinder eine Tierangst bannen können, indem sie das gefürchtete Tier
nachahmen.^ Der Gedanke war: Wenn ich den gleichen Krach machen
kann wie das Ungeheuer, so kann es mich nicht fressen, also eine Über-
windung der Angst durch die Identifizierung mit ihrem Objekt. Daß das
Ungeheuer auch in unserem Fall den Vater darstellte, war daraus zu
entnehmen, daß dieser dem Patienten schon als Kind immer durch seine
lauten Geräusche imponiert hat. Er bewunderte des Vaters Flatus, sein
i) Anna Freud: Ein Gegenstück zur Tierphobie der Kinder. Vortrag auf dem
XI. internat. psa. K.ongrel3. Autoreferat Int. Z. f. PsA., XV, 1929.
über respiratorisdie Introjektion
247
Schnarchen und vor allem sein lautes, schlürfendes Essen. Wenn das erste
Zwangssymptom des Patienten darin bestanden hatte, daß er den Mund
weit aufreißen mußte, so verstehen wir jetzt, daß dieses Symptom schon
das gleiche ausdrückte wie das spätere Töfftöff: Ich kann ebenso fressen
wie der Vater und brauche deshalb nicht zu fürchten, von ihm gefressen
zu werden. Es war eine Identifizierung mit dem Vater zum Zwecke der
Abwehr der Angst vor ihm, die ihrerseits eine feminine Sehnsucht abwehrte;
diese Identifizierung schien zunächst eine orale Grundlage zu haben;
handelte es sich doch um Fressen und Schreien. Nachdem das Symptom
aber so weit analysiert worden war, veränderte es sich: Er mußte die Autos
noch weiter nachahmen, dem „Töff töff" aber eine forcierte Exspiration,
ein Wegblasen folgen lassen. Wir konnten erkennen, daß sein Symptom
dadurch ein zweizeiliges geworden war, dessen zweite Hälfte, die Exspiration,
die erste, das Töff-töff. wieder ungeschehen machen sollte. Alle seine
Zwangssymptome gaben in tiefster Schicht dem Konflikt Ausdruck: Soll
ich mich mit den Männern identifizieren oder mich ihnen passiv hingeben?
Im „Töff-töff' indentifizierte er sich mit dem Auto, in der Exspiration
gab er es wieder von sich. Wenn aber dieses Von- sich- Geben durch
Atmung erfolgte, so muß auch die vorangegangene Introjektion des Objektes
als Atmung gedacht gewesen sein. Was aber hatte er eingeatmet? Seine
Flatus unter der Decke, auch die des Vaters, — und auch Autos pflegen
zu riechen.
Nun war — wie im ersten Fall die Mutter — in diesem ein ältere'
Bruder gestorben. Die Schuldgefühle, die der Patient wegen dieses Todes
empfand, waren der wesentliche Inhalt seiner Neurose. Er hatte die ganze,
dem Vater geltende Ambivalenz später auf diesen Bruder übertragen.
Zahlreiche Symptome und Träume ließen keinen Zweifel daran, daß das
Objekt, mit dem er sich einerseits identifizierte, dem er sich andrerseits
unterwerfen wollte, auch dieser verstorbene Bruder war, dessen Seele er
mit dem Töff-töff einatmete und mit der forcierten Exspiration wieder
ausatmete. (Die phantasierten Ungeheuer waren alle kosmische Wesen und
lebten im Weltall, wie der tote Bruder im Himmel lebte.) Der gleiche
Patient hatte ebenfalls Gasangst und eine merkwürdige Küchenangst:
Rochgerüche könnten in sein Schlafzimmer dringen und ihn töten. Das
ist die Verdichtung der abgewehrten oralen und respiratorischen Intro-
jektion. Daß dieser Patient auch besondere Rauchzeremoniells hatte, die
den unbewußten Inhalt des Zweifels hatten, ob er sich genau so benehmen
sollte wie der Vater oder gerade entgegengesetzt, bringt auf die Idee, daß
oeim Rauchen überhaupt die respiratorische Erotik und Introjektion eine
größere Rolle spielen dürfte als die bisher allein beachtete orale.
248
Otto Fenidiel
So hat uns das Material deutlich vor Augen geführt, daß es eine
prägenitale Tendenz gibt, ein Objekt ganz oder teilweise durch Atem oder
Geruch in sich aufzunehmen, daß diese Tendenz mit der oralen Einverlei-
bung verdichtet auftritt, daß sich ihr Ängste entgegenstellen und um sie
Konflikte ausbrechen können, daß sie in speziellen Formen restierender
Identifizierungen in die Genitalzeit hineinragen kann. Wir wollen die
Betonung dieses Fundes noch durch zweierlei Gedanken rechtfertigen-
erstens, indem wir Anschluß suchen an die bisherige Literatur, zweitens
durch Überlegungen über die respiratorische Erotik und Identifizierung
im sozialen Leben.
Oberndorf hat einen Fall publiziert,' der mit unserem ersten Fall
manche Ähnlichkeit hat, ohne aber das Material genügend theoretisch aus-
zuwerten: Ein sehr narzißtischer, prägenital fixierter, polymorph perverser
Patient hatte u. a. einen Schnüffeltic, der beim Zusammensein mit Frauen
seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und so seine Erektion
zurückgehen ließ; ferner eine Nasenhypochondrie. Sein ganzes Leben war
auf Nase und Geruch eingestellt. Zur Riechlust ergab sich eine älteste
Erinnerung, daß er einmal Gelegenheit gehabt hätte, am Anus der Mutter
durch die Kleider hindurch zu schnüffeln. Darauf ging ein Spiel zurück,
das die Grundlage seiner späteren Perversionen wurde, das „Bet- Spiel"
(der Patient litt später unter religiösen Zwangsskrupeln). Ein Sessel, auf
dem knapp vorher die Mutter gesessen hatte, war der Altar, und das Kind
betete, indem es sein Gesicht in den Sitz einpreßte und den Geruch der
Mutter in sich einsog. Daß dabei eine Identifizierungstendenz mitwirkte,
sah man nicht direkt, aber es ergab sich aus seiner Femininität, aus der
Umkehrungsphantasie, die eine große Rolle spielte: Er dringe mit seiner
Nase immer tiefer und tiefer in das Rektum einer Frau ein, bis er
schließlich ganz hineinkrieche. Auch bei meinem Patienten waren Mutter-
leibsphantasien häufig. „Mit der Mutter einswerden" ist ein regressiver
„Einverleibungs"-Ausdruck des hetero- und homosexuellen Inzest-
wunsches.^ Die Tendenz, die Mutter in sich aufzunehmen, ist allerdings
von Oberndorf nicht bemerkt worden, obwohl er lange über die
Graviditätsphantasien des Patienten handelt. Dagegen erwähnt er aus-
drücklich die Kastrationsnatur der Nasenhypochondrie (die ja seiner Arbeit
den Titel gegeben hat), die bisexuelle Natur der Nase, die Bedeutung
dieser Dinge für die Rauchsucht und die Verwandtschaft des nasalen
Schnüffeins mit dem oralen Saugen.
i) Oberndorf: Submucous Resection as a Castration Symbol, Int. Journal of
PsA., X., 1929.
2) Freu d: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges. Sehr., Bd. VIII, S. 5+5-
über respiratorisdie Introjektion
249
Eine weitere Arbeit, die hier erwähnt werden muß, erschien zugleich
niit meiner Arbeit „Zur Psychologie des Transvestitismus' , nämlich die
von Bertram D. Lewin, „Kotschmieren, Menses und weibliches Über-Ich \
Ohne auf seinen Hauptgedanken, die Beziehung zum Über-Ich, einzu-
gehen, will ich doch einige Übereinstimmungen mit meinen Funden
hervorheben: /) Die Hautintrojektion wird von Lew in beschrieben als
Äquivalent der oralen zur Wiedergewinnung verlorener Objekte durch das
Schmieren. Das Schmieren der Vaseline an Nase und Wand bei unserem
Patienten bestätigt das vollkommen. Nur fügten wir hinzu, daß eben neben
dieser epidermalen auch die respiratorische Introjektion zu setzen sei.
2) Auch Lewin betont die Beziehung dieser Introjektion en zur Anal-
erotik auf dem Wege der symbolischen Gleichung: Introjiziertes Objekt
= Leiche = Kot. ß) L e w i n betonte die Äquivalenz von Menstrualblut
und Kot bei Frauen. Wir konnten dasselbe gerade in der Beziehung zur
Introjektion beim Manne nachweisen.
Das Menstrualblut als das weibliche Prinzip, das anzieht, aber kontagiös
gefährlich ist, erinnert an die Arbeiten von D a 1 y,^ dessen allgemeine
kulturhistorische Auffassung wir für das Unbewußte unseres Patienten
bestätigen konnten. Seine Heterosexualität war getragen von der Idee: Ich
möchte in die Nähe der Frau ==; des Menstrualgeruches, aber das Blut
= die Gefahr, selbst Weib zu werden, schreckt mich ab. Freilich zeigte
uns auch unser Material, daß solche Ängste regressiver Ersatz für die
Kastration sangst sind, was D a 1 y übersieht.
Die Erwähnung D a 1 y s erinnert daran, daß aufschlußreiches Material
über unseren Problemenkreis in der Ethnologie zu finden ist. Bei ethno-
logischem Material gibt es bereits viel mehr Vorarbeiten zur „respiratorischen
Introjektion" als bei klinischem.
Die bekannte allgemein magische Bedeutung des Atems ist sicher nicht
nur daraus zu erklären, daß die Atemfunktion die einzige ist, bei der dem
Menschen eine willkürliche Einflußnahme auf das Vegetativsystem ohne
weiteres möglich ist. Es gibt keine narzißtisch-animistische Weltanschauung,
in der nicht der Atem als das Leben an sich narzißtisch besetzt wäre. Das
lateinische Wort anima bedeutet gleichzeitig Atem, Leben, Seele, Wind,
Geruch. Im Deutschen entspricht dem am ehesten das Wort „Odem '.
Atemzauber auch in Verbindung mit Introjektion gibt es überall, z. B.
wenn Medizinmänner eine Krankheit aus dem Patienten herausatmen und
durch eine folgende Exspiration wieder von sich geben. Ja, der Begriff
i) L e win: Kotschmieren, Menses und weibliches Über-Ich, Int. Z. f. PsA., XVI, 1930.
2) Daly: Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex, Image, XIII, 1927, und Der
Menstruationskomplex, Imago, XIV, 1928.
250 Otto f enidiel
Mana, den wir gezwungen waren anzuwenden, um die unbewußten
Gedankengänge unseres Patienten darzustellen, bedeutet ja nichts andere
als „introjizierter infektiöser Atem oder Geruch eines Dinges". In seine
Arbeit „Das Selbst" faßte Röheim alle magisch-narzißtischen Handlungen
die sich auf das eigene Ich beziehen, systematisch zusammen' und dabei
spielt die Atmung keine geringe Rolle. Freilich neigt auch er dazu, den
Atemzauber, seine Autonomie unterschätzend, nur für eine besondere
Erscheinungsform des oralen Zaubers zu halten, so wenn er schreibt, der
„Hauchzauber" sei „eine reduzierte, weniger sinnfällige, halb symbolische
und daher auch mehr sublimationsfähige Form des Spuckens";^' aber auch
er zitiert die Medizinmänner, die „Dämonen" ausblasen. Wichtiger für uns
sind seine Ausführungen über den „Seelenstoff", in denen er die allgemeine
Verbreitung der sogenannten „Hauchseele" studiert. Die Zusammenfassung,
„in unserem Sinne" sei „die Hauchseele als eine Hypostasierung der oralen
Erogeneität des Hauchenden und der Hauterogeneität des Angehauchten
zu betrachten,"3 zeigt die nahe Verwandtschaft mit der oralen und Haut-
erotik, unterschlägt aber wieder die Respirationsnatur des Hauchens. Das
Material dafür, daß der Tote der Seele und diese wieder einerseits Kot,
andererseits Luft oder Atem gleichgesetzt wird, erstreckt sich über viele
Seiten und entspricht dem unbewußten Denken unseres Patienten, dem
die tote Mutter Kot und damit Ateminhalt geworden war. Der Glaube an
die Befruchtung durch den Wind hängt damit eng zusammen; und in
diesem Zusammenhange müssen wir hier die Arbeit von Jones über die
Empfängnis der Jungfrau Maria zitieren.^ Die Atemvorstellungen machen
zwar nur einen Teil des magisch-animistischen Denkens aus, aber schein-
bar doch keinen geringen, so daß eine besondere Hervorhebung derselben,
die sich ja zerstreut in allen einschlägigen Arbeiten, z.B. bei Ranks
„Doppelgänger "5 findet, besonders im Vergleich mit klinischem Material
sehr lohnen würde.
Aber uns lockt es noch einmal zum klinischen Material zurück. Wir
wollten uns ja auf die Introjektion beschränken, aber diese könnte nicht
verständlich werden, zöge man nicht allgemeinere Gesichtspunkte über
Respirationserotik mit heran. Die Idee, ein Objekt sich durch Atem oder
Geruch einzuverleiben, ist der Ausdruck einer besonderen Sexualisierung
der Atem- und Geruchsfunktion. Man hat die Riechlust häufig nach ihrem
i) Röheim: Das Selbst, Imago, VII, 1921.
2) A. a. O. S. 5.
3) A. a. O. S. 145.
4) Jones: Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr. Jahrb. f. psa.
Forschgn., VI, 1914.
5^ Rank: Der Doppelgänger, Imago, III., 1914.
über respiratorische Introjektion
251
hervorstechendsten Objekt zur Analerotik gerechnet, nicht ganz mit Recht,
denn ihre Erregung sitzt ja nicht im Rektum, sondern in der Nase. Es ist
analytisch nachgewiesen worden, daß überall, wo eine Sexualisierung des
Atems vorliegt, anale und orale Libidoquanten auf die Atemfunktion ver-
schoben wurden, etwa analog wie bei der Sexualisierung der Denkfunktion.
Aber das Atmen ist primitiver als das Denken und es ist durchaus anzu-
nehmen, daß es eine autonome Respirationserotik gibt, die, an sich vielleicht
nicht stark, durch Verschiebung oraler und analer Quanten an Bedeutung
gewinnen kann. Sie trägt archaisch-prägenitalen Charakter. Die respiratori-
sche Introjektion ist der Ausdruck ihrer objektgerichteten Komponente. Sie
beherrscht keine Lihidophase, sondern ist nur anderen Erotismen beigeord-
net und zwar nicht nur der analen, sondern vor allem der oralen. Das
Schnüffeln erscheint uns nicht als „Äquivalent des Saugens", wie Obern-
dorf sagte,' sondern als etwas, was während des Saugaktes auch
geschieht, allerdings sicher weniger Interesse des Säuglings auf sich kon-
zentriert als die orale Aufnahme. Aber man erinnert sich an die Erkennt-
nis der Physiologie: Sehr viel von dem, was wir „Geschmacks"wahrnehmung
nennen, ist in Wahrheit Geruchswahrnehmung.
Die Existenz einer Respirationserotik ist im Grunde eine Selbstver-
ständlichkeit. Sie ergibt sich ja aus der Lehre Freuds von den erogenen
Zonen.^ Wichtig wird sie, wenn sie pathologische Erscheinungen macht,
und wenn sich nachweisen ließe, daß auch die respiratorische Introjektion,
neben der oralen, in den Identifizierungen des Normalen eine Rolle spielt.
Das erstere ereignet sich an zwei Stellen: wo die sexualisierte Atem-
funktion in neurotischen Symptomen durchbricht, in den Organneurosen
der Atmungsorgane (Asthma bronchiale) und in den Atemzeremoniells
mancher Zwangsneurosen, und wo die Abwehr solcher Regungen in Form
von Nasen- oder Lungenhypochondrie (wie in unserem Falle) oder Er-
stickungsangst in Erscheinung tritt. Das sind auch die Stellen, wo ent-
sprechende Fälle schon psychoanalytisch untersucht worden sind. 3
In der Asthmaliteratur findet sich viel Material zur respiratorischen
Introjektion, doch wird sie nirgends als solche hervorgehoben, sondern —
mit Recht — der Analerotik der Hauptanteil zugeschoben. In einem sind
sich alle Autoren einig: Das Asthma ist keine Konversionshysterie. Der
1) Oberndorf, Submucous Resection as a Castration Symbol, Int. Journal oi
PsA., X., 192g,
2) Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Sehr., Bd. V.
5) S. z. B. Helene Deutsch: Zur Psychogenese eines Ticfalles. Int. Z. f. PsA..
^^■' '925; S a d g e r: Ist das Asthma bronchiale eine Sexualneurose? Zentralbl. f. PsA.,
I, 1911 ; Weil3: Psychoanalyse eines Falles von nervösem Asthma. Int Z. f PsA., VIII,
1922; Wulff: Zur Psychogeneität des Asthma bronchiale. Zentralbl. f. PsA., III, 1915.
252
Otto fenicfael
Asthmakranke benimmt sich wie ein Zwangsneurotiker oder gar wie eine
narzißtische Neurose. Zwischen den tiefsten Gehalt der im Symptom durch-
brechenden infantilen Sexualität, den Ödipuskomplex, und das Konversions-
symptom schiebt sich eine Regression. Oft genug scheint diese bis
zum Narzißmus zu gehen, so daß ein ursprünglich zwischen dem Patienten
und seinen Objekten spielender Konflikt zwischen ihm und seiner Lunge
dargestellt wird, immer aber geht sie bis zur analsadistischen Stufe.
Abraham hat einmal den Tic eine „analsadistische Konversion" ge-
nannt.^ Man müßte verschiedene andere hysteriforme Krankheiten, wie
manche echte Organneurosen, das Stottern und vor allem eben das Asthma
bronchiale, mit dem Tic zusammen in eine Gruppe „prägenitale Konversions-
neurosen" zusammenfassen und von der Hysterie trennen. Daß sich die
Atemneurosen auf solche Weise von der Hysterie unterscheiden, daß sich
Atemsymptome oft als einziges Konversionssymptom etwa noch neben
der einen oder anderen Darmerscheinung in einer Zwangsneurose einge-
sprengt finden, weist deutlich auf die archaisch-prägenitale Natur der
respiratorischen Erotik. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf
die Narkose aufmerksam machen. Der artifizielle pharmakologisch gesetzte
Zerfall des Ichs ist ja gewiß die Ursache für das Wiederauftauchen
archaischer Erlebnisformen in der Narkose; aber vielleicht ist es dafür auch
nicht unwichtig, daß sie auf dem Atemwege vor sich geht.
Die Atemangst ist kürzlich von H ä r n i k einer prinzipiellen Unter-
suchung unterzogen worden.^ Wir wollen aus seiner Arbeit zweierlei
Momente herausheben, die in unserem Zusammenhang belangvoll erscheinen.
Wenn wir hinter einer manifesten Erstickungsangst in der Analyse die
Kastrationsvorstellung verdrängt nachweisen können (wie es z. B. bei der
Vorstellung des „Luftabschneidens" der Fall war), so daß wir die
Erstickungsangst für einen entstellten Ausdruck der Kastrationsangst erklären
müssen, so hindert das nicht, daß diese Entstellung regressive Bahnen
einschlug, und die Vorstellung des Erstickens bereits zu einer Zeit angst-
besetzt war, in der es noch keine Kastrationsvorstellung gab; dasselbe gilt
ja z. ß. für die orale Angst vor dem Gefressenwerden. 3 Sodann ergibt sich
aus dem Funde von Härnik, daß die Angst vor der Erstickung jeder
Todesangst zugrunde liege und eigentlich der archaischeste Angstinhalt
überhaupt sei, daß, wenn eine mit der Befriedigung infantiler Sexualität
verbunden gedachte Gefahr als Ersticken perzipiert wird, diese Sexualität
i) Abraham: Beitrag zur Tic-Diskussion. Int. Z. f. PsA., VII, 1921.
2) Hdrnik: Über eine Komponente der frühkindlichen Todesangst. Int. Z. i-
PsA., XVr, 1930.
g) S.z.B. Fenichel: Zur Angst vor dem Gefressenwerden. Int. Z. f. PsA., XIV, 1928.
II
über respiratorische Introjektion
253
Ibst keineswegs respiratorischen Charakter haben muß. Atemangst muß
• ht immer Abwehr von Atemerotik sein, sondern das Atemmoment
k'nnte durch die Qualität der Angst erst dazu gekommen sein. Wahr-
cheinlich ist das eben bei Nasen- und Lungenhypochondrie und bei Fällen,
bei denen die Vorstellung des Erstickens eine ganz besondere Rolle spielt,
nders. Eine solche hervorragende Betonung des Atemmoments auf
der Angstseite darf auch als Indizium einer besonderen Sexualisierung des
Atems aufgefaßt werden. Sonst aber hat Hdrnik gezeigt, wie oft der
Säugling und das kleine Rind Erstickungserlebnisse haben müssen, durch
iie jedes gefährliche Erlebnis in tiefster Schichte mit der Idee der
Erstickung verbunden bleibt. Eine nähere Erwägung der Freud sehen
Angsttheorie' macht auch theoretisch klar, daß es so sein muß. Atem-
innervierungen gehören eben zum Wesen der Angst. Sie waren im Vor-
bild jeder traumatischen Situation, dem Geburtsakte, vorhanden, und alle
späteren Ängste sind ja ein partielles Wiedererleben dieser Situation. Diese
Verbindung von Angst und Atem ist eine so wesentliche und innige, daß
man sogar daran denken muß, daß umgekehrt oft eine besondere Sexualisierung
der Atemfunktion auf eine primäre Sexualisierung der Angst zurückgehen
könnte. Jedenfalls tut man gut, bei pathologischen Erscheinungen im
Bereich der Atemfunktion an die Angst zu denken, und so glaube ich,
Härniks schöne Arbeit zu ergänzen, wenn ich noch ein allzu wenig
beachtetes Symptom im Bereich des Normalen mit der Erstickungsangst
in Beziehung bringe.
Mit dem Atem verhält es sich nicht anders wie mit anderen Muskel-
funktionen. Sie alle werden vom Durchschnittsmenschen nicht optimal
durchgeführt, sondern zeigen die merkwürdigen Erscheinungen von Hem-
mungscharakter, die ich als „Dystonus" bezeichnete.'' Änderungen des
Atemrhythmus, vor allem vorübergender Atemstillstand, variable ungleich-
mäßige Beteiligung einzelner Thoraxanteile an der Atmung sind die Wege,
auf denen die kontinuierlichen kleinen psychischen Alterationen ihren
unzweckmäßigen dystonischen Einfluß auf die Atemfunktion geltend machen.
Besonders deutlich wird er bei der Intendierung einer neuen Handlung,
bei jeder Bewegung, bei jeder Änderung der Aufmerksamkeitsrichtung.
Man kann sich leicht durch Selbstbeobachtung von dem Umfang dieser
Störungen überzeugen. Ihre Beziehung zur Aufmerksamkeit ist besonders
deutUch. H o 1 1 ö s nahm an, daß solche Atemstörungen einer Störung der
rhythmischen Abwechslung der Aufmerksamkeitsrichtung nach außen oder
i) Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI.
2)Fenichel: Über organlibidinöse Begleiters cheinimgen der Triebabwehr.
Int. Z. f. PsA., XIV, 1928.
254
Otto f'enldiel
innen entspricht,' nach H e y e r^ liegen darüber auch experimentelle Unter-
suchungen vor. Ich will mich bei diesen nicht lange aufhalten, sondern
nur Suter zitieren, der so weit geht zu sagen, „vollständige Atmungs-
hemmung" sei „das theoretische Optimum der Aufmerksamkeitsleistung". 3
Aber diese Störungen erweisen sich als durch Übung leicht korrigierbar-
man überzeugt sich leicht, daß sie vom Ich, dem bewußtseinsnahen, trieb-
abwehrenden Teil der Persönlichkeit ins Werk gesetzt werden, denn man
kann sie bis zu einem hohen Grade unterlassen, wenn man sich darauf
einstellt. Es handelt sich also um die Hemmung einer Ichfunktion. Die
enge Beziehung von Angst und Atmung läßt es nun als wahrscheinlich
erscheinen, daß den fortwährenden Atemschwankungen eine fortwährende
unbewußte Angstbereitschaft zugrunde liegt. Vorübergehenden Atemstill-
stand bei Steigerung der Kastrationsangst kann der Analytiker täglich
beobachten. Zwerchfellkrämpfe werden auch von Nichtanalytikern ak Angst-
anzeichen gewertet. Die Atemsymptome wären eben „Angstsignale"
geringen Ausmaßes. Es macht den Eindruck, als ob das Ich mit der Atem-
hemmung bei Intendierung einer neuen Handlung, bei einer neuen Wahr-
nehmung, bei jeder Veränderung der Aufmerksamkeit probieren, abtasten
möchte, ob es sich fürchten soll oder nicht. Zwar ist nicht jedes Erlebnis
eine Gefahr, das durch Angstsignal angezeigt werden müßte, aber es
könnte eine sein, so daß eine Art „Vorsignal" in der Atemhemmung
dem Ich angezeigt erscheint.
Wir sind von der Introjektion abgekommen, aber vielleicht finden wir
noch den Weg zurück. Unsere Beispiele für die Wirksamkeit respiratori-
scher Identifizierung waren narzißtisch-pathologische. Wir wollen nun noch
fragen: Spielen respiratorische Introjektionen auch in den Identifizierungen
des täglichen sozialen Lebens eine Rolle? Ein Umstand macht das wahr-
scheinlich: Die Bereitschaft zu Atemänderungen bei allen Neuerungen,
von der wir eben sprachen, zum Abtasten der Realität mit Hilfe von
Atemvorsicht, bedingt es, daß wir auch im täglichen Verkehr mit Men-
schen unsere Atemtätigkeit unausgesetzt mannigfaltig ändern. Dabei sind
wir aber abhängig von der realen Beschaffenheit der Objekte und von
deren Atemtätigkeit. Es ist oft gesagt worden, daß wir uns im sozialen
Leben durch Übernahme von Ausdrucksbewegungen des anderen fortwäh-
rend mit ihm identifizieren, ja daß eine solche Übernahme von Ausdrucks-
i) Hollös: Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. Int. Z. f. PsA., V, 1919.
2) Heyer: Das körperlich-seelische Zusammenwirken in den Lebensvorgängen.
Bergmann 1925.
3) Suter: Die Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und Atem. Arch. f. d. gas.
Psych., 1925.
über respiratorisdie Introjcktion
255
bewegung der erste Akt jeder Einfühlung wäre.^ Dabei scheint die Über-
nahme von Atemrhythmus und -art keine geringe Rolle zu spielen. Wenn
wir die Atemtätigkeit eines anderen übernehmen, ist allerdings damit noch
nicht gesagt, daß wir ihn dabei im Unbewußten gleichsam einatmen.
Wenn wir uns aber das pathologische Material vor Augen führen, das wir
besprachen, wird es bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich. Wenn
wir uns mit jemandem identifizieren, so zeigt sich das darin, daß wir ihn
nachahmen. Vielleicht geschieht das zu einem großen Teil dadurch, daß
wir ihm nachatmen.
not ■^''^'^'^- Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Sehr., Bd. VI, S. 509, Fuß-
e- — Vergleiche auch Fenichel: Die Identifizierung. Int. Z. f. PsA., XII, 1926.
Ein Beitrag zur Frage der Libidoentwicklung des
Mäddiens in der genitalen Phase
Von
Josine M ü 1 1 e r f
Die folgenden Ausführungen der am 30. Dezember 1950 uns plötzlich
und unerwartet durch den Tod entrissenen Verfasserin enthalten
bedeutsame Aufstellungen über „eine libidinöse Besetzung der Vagina
in der infantilen Genitalperiode", und zwar gerade auch bei später
frigiden und klitorisbetonten Frauen. Die Mitteilung — die die Autorin
am 10. November 1925 in der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft"
vortrug — ist gleichsam ein gedrängtes Expos6 zu dem Hauptthema
eines umfangreichen hinterlassenen Werkes über „die Erforschung der
infantilen Weiblichkeit aus Erkrankungen von narzißtischen Personen",
um dessen Veröffentlichung der Unterzeichnete bemüht sein wird. In
diesem Werk finden wir in extenso sowohl dasjenige klinische Material,
auf dem die folgenden Ausführungen fußten, als auch das Material der
letzten fünf Jahre, durch das sie weitergehende gründliche Bestätigung
erfahren. Carl Müller-Braunschweig
Ein Vortrag von Frau Horney in der Berliner Ortsgruppe, ge-
nannt „Weibliche Gedanken über den Männlichkeitskomplex der Frau*
(51. Oktober 1925), der unter der Überschrift „Flucht aus der Weiblichkeit"
in der Zeitschrift erscheinen soll,' gibt mir den Anlaß, auf Vermutungen
darüber hinzuweisen, daß libidinöse Besetzung der V a g i n a in der infantilen
Genitalperiode häufiger vorkommt, als man bisher annahm, und daß der
Vagina dabei weit mehr 'Bedeutung zukommt als einer beliebigen anderen
erogenen Zone. Dies gerade bei solchen Fällen, die sich später als frigide
im Geschlechtsverkehr, klitorisbetönt und mit starkem Kastrationskomplex
und männlichen Wesenszügen behaftet erweisen. Der Beitrag will sich nur
mit dem Verhältnis der Libidobesetzung der beiden weiblichen Genital-
organe beschäftigen, mit dem Vorstellungsleben nur insofern, als aus dieser
Quelle eine Bevorzugung der Klitorislust vor der vaginalen verstanden
1) Vgl. IZfPsA., XII (1926), S. 360 (G. M.-Br.).
Ein Beitrag zur Frage der Libidoentwiddung des Mäddiens i. d. genitalen Phase 25/
werden kann, oder sofern das Verhältnis der genitalen Regungen zum
Kastrationskomplex gestreift werden muß. Es handelt sich erstens um
direkte Beobachtungen an Kindern, zweitens um Eindrücke aus Analysen,
bei denen ich mich frage, ob nicht bei der Analyse des Kastrations-
komplexes und der Verfolgung der Klitoriswahrnehmung der Patientin bis
in ihre früheste Kindheit regelmäßig noch ein anderer Faktor zu spüren
ist, der darauf schließen läßt, daß einmal die Wahrnehmung eines Trieb-
anspruchs an der Vagina gemacht worden ist, der aber bald mitsamt einer
speziellen Ziel- und Objektvorstellung aus dem Bewußtsein verdrängt
wurde, von nun aber das Bewußtsein des Kindes dauernd beunruhigte
und in einer allgemeinen Willens-, Instinkt- und Wahrnehmungsunsicherheit
seinen negativen Ausdruck fand.
Was die direkte Beobachtung an Kindern anlangt, so gehe ich von
folgenden Erinnerungen aus, die aus den Zeiten meiner Tätigkeit an
Krankenhäusern und aus den Jahren meiner Allgemeinpraxis stammen:
Es kommt garnicht selten vor, daß Mütter ihre zwei- bis fünf] ährigen Töchter
in die Sprechstunde bringen mit der Behauptung, das Kind sei durch Spielen an
der Scheide krank geworden. Ich erinnere mich besonders deutlich an ein
Kind im Alter von fast drei und an eins im Alter von vier Jahren. Die
Untersuchung ergibt dann häufig Rötung des Scheideneingangs und leichten
Fluor aus der Scheide. Der Arzt erinnert sich bei solchen Fällen zunächst
an die Beobachtung, daß bei Mädchen mit Eingeweidewürmern die Würmer
(Oxyuren) gelegentlich beim Verlassen des Darmes in die Scheide gelangen,
dort Juckreiz verursachen und das Kind zum Reiben mit dem Finger
veranlassen.^ Kommt nun zweifellos diese Verursachung der Masturbation
für manche Fälle in Betracht, so fehlt in anderen eine nachweisbare
äußere Ursache, solche Kinder verfallen dann an Stelle ärztlicher Behandlung
den üblichen Ermahnungen und Drohungen. Nun wissen wir ja schon,
daß die Sexualbetätigungen der Kinder nur in den deutlichsten Fällen von
Erziehern und Ärzten beobachtet werden; diejenigen Kinder, die eine
larvierte Scheidenonanie betreiben, etwa auf dem Sitz auf- und nieder-
schnellen oder darauf schaukeln oder durch Anspannung und Wieder-
loslassen der die Scheide umgebenden Muskulatur die Scheide erregen,
kommen nicht zur Beobachtung, ebensowenig die Fälle der Kinder, die
bei der geringsten Zurückweisung zur Verheimlichung der Betätigung
i) So findet sich z. B. folgende Angabe in dem „Lehrbuch der speziellen Pathologie
«nd Therapie der inneren Krankheiten" von Strümpell (16. Aufl., 1907, I. Bd.,
• °°4): »Bei Mädchen ist auch ein Überwandern der Oxyuren in die Scheide nicht
selten, wodurch ebenfalls heftiges Jucken entsteht, das zuweilen zur Masturbation
verleitet."
Iit. Zeltschr. f. Psychoanalyse, XVII/2
17
258
Josine Müller
oder auch zur Verdrängung des Triebanspruches aus dem Bewußt-
sein bereit sind. Immerhin bekommt man noch auffallend viele Bestätigungen
von Ärzten, die man fragt, welche ihre Fälle regelmäßig als Ausnahmen
ansehen, ebenso erhielt ich einige schöne Bestätigungen von Analytikern
Frau M. Klein wies auf ihre bereits mitgeteilten Erfahrungen dieser Art
aus Kinderanalysen hin (Würzburger Tagung 1924 und Korreferat zum
oben erwähnten Vortrag von Hörne y). Boehm brachte eine Mitteilung
aus der Analyse einer Erwachsenen, nach der die Betreffende als Kind von
etwa fünf bis sieben Jahren (ebenso wie der Fall von Frau Klein) in
der Weise onaniert hatte, daß sie den Hemdzipfel von hinten nach vorn
zog und damit auf die Gegend über der Scheide einen Druck ausübte.
Härnik berichtete aus zwei Analysen erwachsener frigider Frauen
mit besonders starker Klitoriserregbarkeit; die eine wußte, daß ihr als
dreijährigem Kinde eine Haarnadel durch einen ärztlichen Eingriff aus
der Vagina hatte entfernt werden müssen, die andere erinnerte sich, daß
sie mit 15 Jahren vaginal masturbiert hatte. Es war ihr also nach einer
bewußt gewordenen Pubertätsbesetzung der Scheide mit Libido noch
möglich gewesen, den vaginalen Triebanspruch aus dem Bewußtsein zu
verdrängen und die Klitoris zu bevorzugen. Daß dies ohne infantile Vorbe-
reitung des Verdrängungsweges möglich sein sollte, ist mir nach meinen
eigenen Analysen unwahrscheinlich. Ich selbst verfüge über einen äußerst
markanten Fall, über den ich in einer kasuistischen Mitteilung über diese
Frage neben änderen weniger deutlichen ausführlich berichten werde.
Ehe ich mitteile, welche Gesichtspunkte in meinem analytischen
Material für mich maßgebend waren, um eine häufigere Verdrängung
eines anfänglich vorhandenen Triebanspruchs an der Vagina zugunsten
späterer Klitorisbevorzugung anzunehmen, möchte ich einige theoretische
Überlegungen anstellen. Ich betrachte den angenommenen Fall eines
kleinen Mädchens, das in der genitalen Phase eine zunächst vielleicht
nicht differenzierte Erregung sowohl an der Klitoris als auch an der Vagina
wahrnahm, dann aber infolge irgendwelcher Erlebnisse genötigt war, dem
vaginalen Anteil die Aufmerksamkeit zu entziehen und eine zugehörige
Zielvorstellung zu verdrängen. Dann erkennt man die Bedeutung der
Tatsache, daß das Mädchen zwei Genitalorgane hat, denn es braucht nicht
die genitale Stufe vollkommen wieder aufgeben, sondern es wird ihm
schon eine wesentliche Hilfe sein, wenn es ihm gelingt, die Klitoris stärker
mit Libido zu besetzen, und die Überbesetzung wird um so stärker sein
müssen, je mehr es gilt, die Aufmerksamkeit von der Vagina abzulenken.
Eine Klitorisüberbesetzung kann also ein Hinweis sein auf einen ursprünglich
besonders lebhaften Triebanspruch an der Vagina. Gelingt nun diese
Ein Be itrag zur Frage der Libidoentwitfclung des Mäddiens i. d. genitalen Phase 259
Verdrängung schlecht — und mir scheint, sie muß desto schlechter ge-
lingen, je mehr dem Kind durch die Klitorislust das Verlassen der genitalen
Phase und ausgiebige Regression auf tiefere Stufen erspart bleibt — so
wird dies unter anderem die Folge haben, daß die vaginale Erregung
leicht wieder wachgerufen wird, neuer Verdrängungsanstrengung begegnet
und nun wenigstens das Bewußtsein bedroht, und zwar mit Sciiuldgefühl,
das sich am leichtesten mit der Klitorisonanie verbindet, und es außerdem
bedroht mit der Empfindung allgemeiner Unsicherheit des Wollens, der
Instinkte und der Wahrnehmung. Die Abwehr lebhaftester geschlechts-
bestimmender Empfindungen muß im Seelenleben Minderwertigkeits-
gefühle wachrufen, die sich zu den aus dem Penisneid stammenden
Minderwertigkeitsgefühlen addieren, andererseits aber zur Bevorzugung
derjenigen Vorstellungen, Fähigkeiten und Betätigungen führen, die sich
mit den dem Kinde bewußt gebliebenen Triebregungen verbinden lassen.
Die Klitoriserregung scheint der urethralen Lust näher zu stehen und
auch solche Phantasien hervorzurufen, die urethrale Komponenten enthalten,
und umgekehrt scheinen urethrale Phantasien geeignet, Klitoriserregungen
wachzurufen. Es sind Phantasien aggressiver, aktiver Natur, und diejenigen,
die eine Identifizierung mit dem Manne (Vater) in der Geschlechtsrolle
enthalten.
Man wird erwarten dürfen, daß in dem beschriebenen angenommenen
Falle zum Beginn der Latenzzeit, d. h., wenn das starke Andrängen der
Sexualerregung nachläßt, die Onanie an der Klitoris wegen der Über-
besetzung, die sie trägt, doch nicht leicht aufgegeben wird, während gleich-
zeitig der schlecht verdrängte vaginale Triebanspruch mit seinem infantilen
Ziele in der Verdrängung ebenfalls erhalten bleibt. Andererseits können
bei dem Kinde gerade wegen der erhalten bleibenden libidinösen Besetzung
des gesamten Genitales die Wirkungen des Penisneides zur vollen Geltung
gelangen.
Das letztere wird erst wirklich zur lebenshemmenden Störung gegen
Ende der Pubertät oder spätestens beim Eingehen eines Sexualbündnisses,
wenn es dem neuen Ansturm der Sexualtriebe nicht gelungen ist, das an
der Vagina auftretende Verlangen der Frau gegen erneuerte Verdrängungs-
versuche ins Bewußtsein zu rufen und dem Willen eine Richtung auf
em anerkanntes zentrales Triebbefriedigungsziel zu geben. Das infantile
Triebbefriedigungsziel besteht dann unbewußt weiter. Das Ich kann sich
mit diesem unbewußten Willen nicht identifizieren und fühlt sich nur
sicher in der Abwehr genitaler Regungen, und andere Ichwünsche
Tonnen sich mit den genitalen Wünschen nicht auseinandersetzen. Anstatt
er Außenwelt selbständig beobachtend entgegenzutreten, muß die Frau
26o
Josine Müller
alle Eindrücke vermeiden, die ihre weibliche Einstellung zur Welt wach-
rufen können, und muß sich ängstlich den Wahrnehmungen des Mannes
anschließen. Zu dieser Frage der erneuten Identifizierung mit dem Manne
möchte ich bemerken, daß ich aus einer Anzahl Analysen Material aus
dem 6. bis 15. Lebensjahre habe, an dem zu sehen ist, wie einerseits die
letzten infantilen Triebbefriedigungsformen abgewehrt werden und vaginale
Pubertätsmasturbation wieder auftritt, andererseits die Phantasien eine Um-
formung durchmachen aus der infantilen Form in die später erhalten-
bleibende, die, zum größten Teil unbewußt, zur Trägerin der Lebens-
führung wird, die sich dann als ständiger Versuch der Identifizierung mit
einem idealen Manne erweist.
Abschließend möchte ich noch über das normale Selbstgefühl der Frau
sprechen, wie es sich schließlich im großen und ganzen gegenüber dem
Penisneid wiederherstellt. Dabei will ich die überragende Bedeutung des
Kinderwunsches nicht im mindesten einschränken, sondern nur von der
Betrachtung der Triebansprüche des Menschen her einen Beitrag dazu
liefern. Maßgebend war mir dabei die Beobachtung des Überganges vom
ängstlich übersteigerten Selbstgefühl frigider Frauen, das ständig von den
Wirkungen des Kastrationskomplexes bedroht ist, zum ruhigeren Selbst-
bewußtsein derselben Frauen nach beginnender Aufhebung der Frigidität
und damit im Zusammenhang die Frage: Wie kann man überhaupt den
Kastrationskomplex abbauen, wenn die Aussicht auf äußere Veränderung
des Sexuallebens sehr gering ist?
Ich vermute, daß das Selbstgefühl jedes Menschen in hohem Grade
abhängig ist von seiner Fähigkeit, zentrale Triebregungen zu befriedigen
und auf Grund dieser Ansprüche befriedigende Verbindung mit den Mit-
menschen herzustellen. Es wird also für den heranwachsenden Menschen
im Gegensatz zum Kinde, bei dem das Genitale doch noch nicht die
lebensbeherrschende zentrale Bolle erlangt hat, zur endgültigen Befestigung
seines Selbstgefühls darauf ankommen, daß der geschlechtsbestimmende
Anteil seiner genitalen Regungen sich seinem Ich gegenüber klar durch-
setzt. Wenn nun bei einer Frau die vaginale Regung vom Bemerktwerden
von vornherein abgesperrt ist, auch in ihrem Ziel infantil bleibt, ihr
Handeln aber dennoch von unbewußten vaginalen Wünschen mit infan-
tilem Befriedigungsziel geleitet wird, so muß es sie mit dem Ichgefühl,
soweit es von der Klitoris her triebhaft unterstützt ist, in Widerspruch
bringen und sie in ihrem Selbstgefühl durch den Konflikt im genitalen
Wollen selbst erschüttern. Macht sie dann einen neuen Verdrängungsversuch
durch Überbetonung der männlichen Einstellung und der Klitorisregungen,
so wird sie desto empfindlicher gegen den Penisneid, während sie im um-
Ein Beitrag zur Frage der Libidoentwicklung des Mäddiens i. d. genitalen Phase 261
gekehrten Falle bei Bewußtwerden und voller Befriedigung vaginaler Triet-
ansprüche vom Penisneid abgelenkt werden muß. Die Erfahrung zeigt,
daß Frauen lediglich mit der Fähigkeit — nicht einmal der Gelegenheit
, 2U voller vaginaler Befriedigung sich besser in männliche Rollen zu
i finden wissen als frigide Frauen, andererseits auch Konkurrenzen, in denen
sie sicher dem Manne unterliegen müssen, und damit die Wiederbelebung
des Kastrationskomplexes besser vermeiden. In diesem Punkte war mir die
Auffassung von Frau H o r n e y über primären und sekundären Penisneid
von Bedeutung. ,
Über die analytische Kasuistik zu dieser Frage möchte ich nur kurz
angeben, um was für Fälle es sich handelt, und welche Gesichtspunkte
in den Vordergrund treten. Es sind Frauen zwischen 20 und 40 Jahren,
; bei denen Frigidität oder Vaginismus im Rahmen einer Hysterie oder einer
Zwangsneurose vorhanden ist, ferner einzelne Fälle, in denen lebhafte
Abwehr bisher jede vaginale Berührung nach der Pubertät, sei es im
Koitus, sei es durch Untersuchungen, verhindert hat, jedoch auffallende
Funktionsstörungen (fast völliges Fehlen der Periode, Krampfzustände)
bis zum Beginn der Analyse bestanden haben und dann durch die Analyse
behoben wurden.
Für diese Fälle läßt sich sagen, und zwar für das ganze Leben, daß
es keine Abgrenzungen zwischen den Zeiten stärker vordringender Sexuali-
tät und den übrigen Lebensabschnitten gibt. Die infantilen Triebregungen
beunruhigen das Kind bis etwa in das achte Jahr und werden dann durch
eine Verdrängungsanstrengung neuer Art zurückgedrängt, die sich anderer-
seits bereits gegen den beginnenden Pubertätsansturm zu wenden hat.
(10. bis n. Jahr.) Der Beginn der Periode wird dann oft mit auffallender
Nichtbeachtung hingenommen oder auch außerordentlich verzögert, bis in
das 19. Jahr. Die Beschwerden der Pubertät sind stark und hören eigent-
lich nie auf. (Bleichsuchtserscheinungen mit 55 Jahren.) Das Klimakterium
solcher Frauen, das früh anfängt und ausgedehnt ist (10 Jahre), kenne ich
nicht aus Analysen, sondern nur aus zum Teil jahrelangen Behandlungen
in der Allgemeinpraxis, es hinterläßt diesen Frauen entweder schwere
chronische Depressionen oder wenigstens einzelne typische klimakterische
Beschwerden, wie Stimmungswechsel, Wallungen, Schweißausbrüche noch
auf 10 bis 15 Jahre nach Aufhören der Blutungen.
Einige Gesichtspunkte, die mich veranlaßten, in diesen Fällen neben
dem überaus wirksamen Kastrationskomplex, und diesen z. T. unterstützend,
noch einen Verdrängungskampf anzunehmen, der sich gegen eine im
infantilen Leben bereits wahrgenommene libidinöse Besetzung der Vagina
richtet, sind folgende:
262
Josine Müller: Ein Beitrag zur Frage der Libidoentwidclung
i) Das Studium der Erlebnisse und Phantasien, etwa zwischen dem
8. und 11. Jahre, scheint einen Befreiungskampf des Mädchens gegen va-
ginale Wünsche zu enthalten und einen Rückfall in dieselben in der
Pubertät vorbereitend zu verhindern.
52) Das Auftreten dysmenorrhoischer Erscheinungen schwererer Art oder
die völlige Gleichgültigkeit gegen das Auftreten der Periode, ohne jede
Wahrnehmung von Wollust, die zur Blutüberfüllung der weiblichen
Organe normalerweise hinzugehört, kann ich mir ohne bereits bestehende
Abwehrm&"hanismen gegen die Wahrnehmung libidinöser Besetzung der
weiblichen Organe überhaupt nicht denken, eher könnte ich schon eine
langjährige Verzögerung der Periode aus einem NichtZustandekommen
einer auch Vorher noch nicht vollzogenen libidinösen Besetzung verstehen.
3) Das seelische Verhalten, das Bedürfnis, in dieser Zeit der Schonungs-
bedürftigkeit gerade besondere Kraftleistungen zu vollbringen und besonders
aktiv zu sein, führt in der Analyse zur ausgiebigen Aufdeckung des
Männlichkeits-, resp. des KastrationskompJexes. Man hat in diesem Zu-
sammenhange oft von der Abwehr der passiven Rolle im Geschlechtsleben
gesprochen. Nach längerer Analyse aber tritt eine andere Haltung auf,
das ist die von einer Pat. so genannte „Angst vor der Angst", die ich in
dem betreffenden Falle aus einer Übertragungssituation unmittelbar auf
eine schon bekannte infantile Situation zurückführen konnte, in der ein
vaginaler Triebanspruch mit passivem Befriedigungsziel und Richtung auf
den Vater bestanden hatte und zurückgewiesen worden war.
4) Die Art, wie das bisherige Ichbewußtsein bei einer Heirat zusammen-
bricht und
5) der hinter der Identifizierung mit einem Manne oft unmittelbar
andrängende Wunsch nach Überwältigtwerden und Defloration sind weitere
analytische Eindrücke, die sich für die vorliegende Untersuchung ver-
wenden lassen.
Ich glaube, daß ich die eingangs aufgestellte Behauptung, wenn nicht
beweisen, so doch recht wahrscheinlich machen kann, wenn ich mein
Material ausführlich zur Darstellung bringen werde.
über den epileptisdien Anfall'
Von
Wilhelm Reich
Berlin
Ich bringe hier eine klinisch-analytische Beobachtung vor, die für die
I Klärung der Epilepsie Wert gewinnen könnte, wenn sich die Auffassung
[ des epileptischen Anfalles, die sich dabei ergab, als zumindest für die Spät-
epilepsie allgemeingültig erweisen sollte. Man kann heute, da das Problem
1 der Epilepsie so großes Interesse beim ärztlichen Psychologen geweckt hat,
I nicht, wie man es vorziehen würde, abwarten, bis man das Problem all-
I seitig an vielen Fällen selbst wissenschaftlich geklärt hat, sondern darf
auch eine vereinzelte Beobachtung dem bereits gesammelten Material an-
fügen, in der Hoffnung, daß sich von anderer Seite Bestätigungen, viel-
leicht auch fruchtbare Kritik ergeben werden.
Der epileptische Anfall wurde in jüngster Zeit von mehreren Autoren
psychoanalytisch gedeutet und es wurde versucht, die Epilepsie psycho-
logisch zu erklären. Nach Schilder etwa stellt der epileptische Anfall
eine Wiedergeburt dar, und im epileptischen Dämmerzustand sollen Mutter-
leibs- und Geburtsphantasien eine große Rolle spielen.^ Durch das soge-
nannte Ersparnisverfahren bei Reproduktion vorgesagter Texte ließ sich
■ auch nachweisen, daß die Amnesie des Epileptikers keine vollständige ist,
^sondern sich wie beim Hysteriker teilweise beheben läßt. Stekel, dem
das Verdienst zukommt, das Problem der Psychogenie der Epilepsie und
[ihrer psychotherapeutischen ßeeinflußbarkeit neuerdings zur Diskussion
\ gestellt zu haben, nimmt als Ursache des epileptischen Anfalles Todesangst,
Grausamkeit, Inzestwünsche, Homosexualität und anderes an. Schon daß
rso vieles und mannigfaltiges als Motor des epileptischen Anfalles aufgezählt
i) Die Niederschrift dieser Arbeit erfolgte im Jahre 1925. Einige weitere Beob-
achtungen an Epileptikern, die ich seither machen konnte, ermutigen mich zu dieser
IPublikation. An den theoretischen Erörterungen hatte ich nichts wesentliches zu
I andern. Sie setzen die Kenntnis meiner Auffassung der „Funktion des Orgas-
|»us« (Int. PsA. Verl. 1927) voraus.
2) ZurPsychologieepileptischerAusnahmszustände,Allg.Zschr.f. d. ges.Ps. Bd.8o, 1924.
264
Wilhelm Reich
wird, läßt vermuten, daß das Spezifische seiner Ätiologie und seines
Mechanismus nicht gefunden wurde. Sehen wir doch die genannten Ein-
stellungen und Tendenzen nicht nur in jedem hysterischen und psycho-
neurotischen Symptom sondern auch in vielen normalen Erscheinungen
Daß im epileptischen Anfall ebenso wie z. B. beim Skifahren sexuelle
und motorisch-sadistische Tendenzen befriedigt werden und Todesangst (Gefahr
des Sturzes wie auch bei Gletschertouren) erlebt wird, steht außer Frage
Aber das ist heute kein Problem mehr und erklärt in keiner Hinsicht den
epileptischen Anfall; auch nicht die Tatsache, daß er von Wiedergeburts-
^ Phantasien erfüllt wird. Die therapeutische Beeinflußbarkeit, die nach
S t e k e 1 und G r a v e n möglich ist, sagt gewiß weder darüber aus, ob
der epileptische Anfall psychogen ist, noch auch darüber, welche Mecha-
nismen dabei eine ausschlaggebende Rolle spielen, solange die spezifische
Dynamik der Psychotherapie der Epilepsie nicht klar ist. Es . ist sicher
verfehlt, den Weg zum Problem der Epilepsie über die therapeutische
Beeinflußbarkeit einzuschlagen, weil doch auch einwandfrei organische
Krankheiten sich infolge ihres psychischen Überbaues der psychischen
Beeinflußbarkeit zugänglich erweisen.
Die Frage ist auch nicht, was den epileptischen Anfall hervorruft, denn
es können auch unstreitig organische Krankheiten wie etwa Lungen-
tuberkulose durch seelische Erregung und durch verschiedenste, banalste
Erlebnisse ausgelöst werden; ebensowenig steht zunächst zur Diskussion,
welchen sekundären Krankheitsgewinn der epileptische Anfall bringt, d. h.
zu welchen Zwecken er ausgenützt werden kann, denn einen psychischen
Überbau hat jede organische Erkrankung und kann infolgedessen auch
psychisch reguliert werden; die Frage ist vielmehr, welches der spezi-
fische Mechanismus des epileptischen Anfalles ist, der sonst keiner
anderen Erkrankung zukommt. Wir sprechen nicht von der Epilepsie als
Krankheitsbegriff, sondern vom epileptischen Anfall, vermeiden dadurch
die Diskussion der so schwierigen Frage der Definition der Epilepsie, die
immer wieder daran scheitert, daß die deskriptive Definition (nach
den differenziellen Kennzeichen des epileptischen und hysterischen Anfalles)
vermengt wird mit der alten genetischen Definition: die Epilepsie
sei organischen, die Hysterie psychischen Ursprungs. Gegen die Methodik
der psychologischen Untersuchung der Epilepsie durch St ekel und seine
Anhänger gibt es viele Bedenken. Es ist zunächst nicht klar, ob St ekel
die Epilepsie für eine rein psychogene Erkrankung hält. W i 1 1 e 1 s meint,
sie wäre zwar organisch, es ließe sich aber die Psychogenie nachweisen.
Wessen? Des epileptischen Anfalls, der Epilepsie oder der organischen
Ätiologie der Epilepsie? Der Standpunkt, daß die Epilepsie letzten Endes
über den epileptisdien Anfall
265
evchogen sei, ist derzeit durch keinerlei Tatsachenmaterial gerechtfertigt.
Stellt man sich aber aus heuristischen Gründen auf diesen Standpunkt,
müßte man die differenzielle Ätiologie gegenüber anderen Neurosen
nachweisen, was S t e k e 1 unterlassen hat, und aus dem Krankheitshegriff
Epilepsie jene Formen ausscheiden, für die eine somatische Ätiologie
gefunden wurde. Steht man auf dem Standpunkt, sie sei eine organische
Erkrankung, die psychisch zustande komme, so müßte man zunächst noch
Klarheit über das Problem der Beeinflußbarkeit des Körperlichen durch
das Seelische schaffen. Anderenfalls bleibt jede derartige Untersuchung ein
Kartenhaus.
S t e k e 1 wurde entgegengehalten, seine Fälle seien Hysteriker oder
Hysteroepileptiker , denn sie wären psychisch beeinflußbar gewesen: eine
petitio principii; es könnte ja tatsächlich eine von der Hysterie spezifisch
verschiedene psychogene Erkrankung unter dem Bilde der Epilepsie
geben, die sich auch von einer organischen Epilepsie genetisch unter-
schiede. Durch die unklare genetische Definition der Epilepsie ist zweifel-
los vieles der Epilepsie zugeordnet worden, was zur Hysterie gehört
(Sadger), andererseits muß es innerhalb der „Epilepsie (in deskriptiver
Definition) genetisch differente (organische und psychogene?) Gruppen
geben.
Sehen wir von der organischen Jackson-Epilepsie ab, so bleiben drei
Gruppen: die genuine Epilepsie (Beginn im frühen Kindesalter), die Spät-
epilepsie (meist Beginn in der Pubertät) und die „Hysteroepilepsie , Spät-
epilepsie mit starkem hysterischem Einschlag.
Der Begriff Hysteroepilepsie kann bedeuten, daß ein „echter Epilep-
tiker daneben auch Hysteriker ist, oder daß ein Hysteriker epileptische
Anfälle „imitiert"; er kann aber auch meinen, daß er echte epileptische
Anfälle produziert. Nun zeigt die Psychoanalyse der Simulation, daß man
nichts imitieren kann, wenn man nicht über die spezifische Dynamik des
Imitierten verfügt (sei sie nun quantitativ oder qualitativ bestimmt). Ein
gesunder Mensch wird vergebens versuchen, einen hysterischen Anfall zu
erzeugen. Ebensowenig wird ein Hysteriker imstande sein, einen epilepti-
schen Anfall zu produzieren, wenn er nicht über die dynamischen Grund-
elemente des epileptischen Anfalls verfügt. Diese Überlegung ergibt bereits,
daß der Zugang zum Problem der Epilepsie von der Hysterie mit epilepti-
formen Anfällen, auch wenn man sie nicht als echte Epilepsie anspricht
wie St ekel und Graven, methodologisch gerechtfertigt ist. Bei der Hy-
steroepilepsie muß zur Dynamik der Hysterie etwas hinzutreten, damit sie
unter dem Bilde der Epilepsie erscheine. Das, was hinzutritt, muß ein
Stück spezifisch-epileptischen Mechanismus sein.
266
Wilhelm Reich
Dieses Plus der Hysteroepilepsie gegenüber der reinen Hysterie
dann das gemeinsame Stück der Mechanismen der Hysteroepilepsie
und der reinen (genuinen und späten) Epilepsie sein; um die sogenannt
echte Epilepsie zu gestalten, mögen dann noch andere, unbekannte
Mechanismen hinzukommen. Es besteht kein Bedenken, von Bekanntem
auszugehen, in einer Übergangsform das Gemeinsame mit anderen Krankheits-
mechanismen zu suchen, um es dann als Ausgangspunkt zur Erforschung
des Neuen zu benützen. Den folgenden Fall sprechen wir nicht als reine
Epilepsie an, aber er vermag uns dieses Gemeinsame zu zeigen.
Eine 25 jährige verheiratete Frau suchte im Frühjahr 1925 das
Ambulatorium wegen epileptischer Anfälle auf. Ihrer Schilderung und der
des Gatten nach waren es echte epileptische Anfälle im deskriptiven Sinne.
Auch die Diagnose der Nervenklinik lautete „Epilepsie".
Der erste epileptische Anfall war im 15. Lebensjahr aufgetreten, angeblich
ohne besonderen Grund. Sie stürzte zusammen, als sie sich wusch, und
erlitt dabei eine schwere Verletzung am Hinterhaupt.
Seit etwa fünf Jahren, d. h. seit der Verheiratung, traten die Anfälle
gehäuft auf. Zwei- bis dreimal wöchentlich, gelegentlich auch zweimal
am Tage oder in der Nacht. Der Anfall kündigte sich gewöhnlich durch
ein Angstgefühl und Stammeln an, sie fühlte, daß sie etwas sagen mußte,
murmelte aber ihr selbst unverständliche Worte vor sich hin. Die Krampf-
anfälle dauerten ungefähr eine Minute und gingen mit totaler Bewußtlosigkeit
einher. Nach dem Anfall war sie mehrere Stunden lang benommen, abge-
schlagen, müde. Sie hatte sich bereits öfters schwere Verletzungen am
Kopf, an Armen und Beinen zugezogen und pflegte sich fast immer in die
Zunge oder die Lippen zu beißen. Die Inspektion der Zunge ergab typische
Bißnarben. Während des Anfalles kam es fast immer zu secessus urinae.
Auf genaue Befragung gab sie an, daß sich die Anfälle sehr häufig auch
nach Aufregungen, aber ebenso häufig auch ohne ersichtlichen Grund und
nachts aus dem Schlafe einstellten.
Zunächst wußte sie keinen besonderen Anlaß für den ersten Anfall
im 15. Lebensjahr anzugeben. Später erinnerte sie sich, daß sie damals
eine Liebschaft mit einem jungen Manne hatte und zu einem Rendezvous
gehen sollte. Die um mehrere Jahre ältere Schwester, die ihr gegenüber
die Mutterrolle spielte, verbot ihr jedoch hinzugehen; darauf fiel sie
zusammen. Während eines ihrer Angabe nach glücklichen Verhältnisses
traten die Anfälle nur sehr selten, ungefähr einmal im Monat, auf.' Als
1) In einem männlichen Falle von Epilepsie ließ sich einwandfrei feststellen, daß
die Anfälle ein Jahr ausblieben, als der Patient regelmäßig onanierte, und daß sie
wieder gehäuft auftraten, als er die Onanie unterdrückte.
über den epileptisdien Anfall
267
der Freund starb, häuften sie sich wieder. (Ihrer Angabe, daß er in ihren
Armen gestorben war, war wenig Glauben zu schenken, weil sie überdies
eine pathologische Lügnerin war; es handelte sich wohl um eine Phantasie,
ihn während des Aktes zu töten.) Vor und nach diesem Verhältnis hatte
sie intime Beziehungen zu vielen Männern, die sie mir lange Zeit ver-
schwieg. Sie war jedoch immer total frigid gewesen; sie hatte sich zwar
vor dem Akt nicht geekelt, es trieb sie vielmehr immer wieder „etwas"
zum Koitus, doch hätte sie während des Aktes „Fliegen fangen oder
Zeitung lesen" können. Sie könnte keinem Manne widerstehen. Zwei Jahre
später ging sie eine Vernunftehe ein und gebar, 20 Jahre alt, einen Knaben.
Ihren Mann liebte sie nicht, versuchte jedoch, ihn mit allen Mitteln zu
beherrschen und zu quälen. Allmählich lernte sie ihre Anfälle auszunützen.
Der Mann hatte bald genug von ihr und strebte in der arbeitsfreien Zeit
vom Hause fort. Sie versuchte ihn durch Anfälle, die sich in nichts von
den spontanen unterschieden, ans Haus zu fesseln. Seit der Verheiratung
traten die meisten spontanen Anfälle am Morgen vor dem Erwachen auf.
Außer den epileptischen Anfällen litt die Patientin an zwei exquisit
hysterischen Symptomen: Erstens trat gelegentlich Angst vor Einbrechern
auf. Dieses Symptom war der Rest einer in früher Kindheit durch-
gemachten Angsthysterie. Zweitens litt sie schwer an ticartigen Zuckungen
der Arme, die ganz der reflektorischen Abwehr eines schreckhaften Ein-
druckes entsprachen (plötzliches Ausbreiten der Arme mit geballten Fäusten)
und von einem Laut begleitet waren, der sich wie ein halbunterdrückter
Angstschrei anhörte. Dabei fehlte jeder Angstaffekt. Solche „Zuckungen"
pflegten bei jeder Gelegenheit, vorwiegend in Gesellschaft aufzutreten,
wenn sie den Mann damit ärgern konnte; sie hielten oft mehrere Stunden
an und gingen gewöhnlich in einen epileptischen Anfall über.
Ehe wir die analytischen Ergebnisse über den Anfall mitteilen, sei noch
einiges über den Charakter der Patientin vorgebracht.
Die Analyse gestaltete sich äußerst schwierig, weil die Patientin sich
mißtrauisch und trotzig verhielt und überdies bewußt log. Nach fünf
Monaten täglich einstündiger Behandlung brach die Patientin die Analyse
ab, sie wiederholte dabei wiederholt agierte Fluchtsituationen.
Schon bei der Anamnese hatte ich den Eindruck des typisch hysteri-
schen Charakters. Sie kokettierte mit den Ärzten, behielt die Hand beim
Abschied lange in der ihrigen. An der Diagnose der Nervenklinik, die auf
Epilepsie lautete, mußte man daher zweifeln, trotz der typisch epileptischen
Anfalle. Die Analyse setzt sofort mit starker positiver Übertragung und
sexuellen Phantasien ein ; diese Einstellung schlug aber schon nach einigen
Tagen in trotziges Schweigen um, als sie die Unnahbarkeit des Arztes
268
Wilhelm Reldi
wahrnahm, dem sie dann Interesselosigkeit vorwarf. Auf die entsprechende
Aufklärung teilte sie vieles über ihre große Liebesbereitschaft und ihre
Verhältnisse mit, die sie angeblich auch mit allen Ärzten, die sie be-
handelten, gehabt hatte. Es wäre jedoch ihr Schicksal, fügte sie hinzu
daß sie jedes Verhältnis abbrechen muß und es nirgends lange aushält. An
einigen Details konnte ihr gezeigt werden, daß sie jedem Manne auch rah
gewissem Hasse begegnete und auch mit ihrem Verhalten in der Analyse
den Arzt ärgern wollte, aus Rache für die Abweisung, die sie indirekt
erfahren hatte. Das gab sie bald zu.
Die Anfälle, die bei Beginn der Analyse fast täglich aufgetreten waren
wurden seltener und kamen dann wochenlang nur mehr jeden Freitag
Vorabend. Bald ergab sich, daß die Patientin jeden Freitag die Mutter
besuchte und schon dort oder bald nachher die Anfälle bekam. Lange
Zeit verschwieg sie, daß sie den ganzen Tag vom Analytiker phan+asierte,
und dann gab sie nur zu, daß sie ihn in der Phantasie küßte. Als ihr
die Koitusphantasien, die in Träumen klar zum Ausdruck kamen, gedeutet
wurden, teilte sie mit, daß sie auch beim Verkehr mit ihrem Manne in
der Phantasie den Arzt umarmte, trotzdem aber kalt blieb. Auf die Dauer
hielt sie aber die Versagung nicht aus und drückte ihre Wünsche
deutlicher aus.
Eine Sitzung begann wieder mit der Besprechung ihrer Lügenhaftigkeit
und ihres Verschweigens von Gedanken in der Analyse. Dazu fiel der
Patientin ein, daß sie als Zwölfjährige von der Polizei wegen einer älteren
Schwester, die mit einem Manne durchgegangen war, einvernommen wurde
und ihre Mitwisserschaft verheimlichte. Als sie das aussprach, zuckte sie
heftig zusammen. Nun konnte ihr das Zusammenzucken als motorischer
Ausdruck einer unterdrückten Angst gedeutet werden. Auf die nächste
Frage, ob sie auch sonst noch viel gelogen hatte, zuckte sie wieder zusammen
und sagte unvermittelt, daß sie seit vielen Monaten stündlich Stuhldrang
bekomme. Ich fragte sie, ob ihr bekannt sei, daß Kinder im Angstzustand
gelegentlich defäzieren. Sie zuckte wieder heftig zusammen, schrie leise auf
und stieg vom Sopha herunter. Mit ängstlichem Gesichtsausdruck und
geistesabwesendem Blick stellte sie sich vor mich hin und fing an,
unverständliche Worte an mich zu richten. Es klang wie ein kindliches
Lallen, etwas stotternd und wie bittend, als ob sie sich über etwas beklagen
oder etwas gestehen wollte. Dann sank sie langsam hin, im ganzen Körper
setzte ein tonischer Krampf ein, sie wurde zyanotisch im Gesicht, verdrehte
die Augen und während Schaum vor den Mund trat, setzten plötzlich
klonische Zuckungen am Kopf und in den oberen Extremitäten ein; die
Beine blieben tonisch, aber weit gespreizt. Es bestand Mydriasis und die
über den eplleptisdien Anfall
269
R flexe waren herabgesetzt. Nach ungefähr einer Minute ließen die Krämpfe
ch und verebbten innerhalb ungefähr zwei bis drei Minuten. Nachher
blieb die Patientin bewußtlos liegen; es dauerte sehr lange, bis sie die
Aueen öffnete; auf Fragen und Anrufe reagierte sie anfangs gar nicht;
näter war sie desorientiert, blickte verwundert um sich, wußte nicht, wo
md bei wem sie sich befand, kannte weder ihren eigenen Namen, noch
vußte sie ihre Haus- und Telephonnummer zu nennen. Nach dreiviertel
Stunden wich die Amnesie und sie bekam Stuhl- und Harndrang.
Ich teilte ihr den Eindruck mit, den ich von ihrem Stammeln empfangen
hatte; sie wußte damit wenig anzufangen und meinte bloß, sie hätte dabei
tatsächlich das Gefühl gehabt, als ob sie etwas ihr Unbekanntes hätte
aussprechen müssen und als wäre sie ein auf frischer Tat ertapptes Kind
gewesen.
In der sechsten Woche der Analyse kam sie eines Tages ganz zerschlagen,
bleich und müde in die Behandlung und erzählte, sie hätte in der Nacht
wieder einen Anfall gehabt. Vom Manne hatte ich bereits telephonisch
erfahren, daß sie auch noch einen zweiten Anfall in der Nacht aus dem
Schlafe gehabt hatte, von dem sie nichts wußte. Die Patientin selbst
berichtete, daß am Vorabend um 9 Uhr heftige Zuckungen eingesetzt
hatten und sie fortwährend hatte urinieren müssen. Um 12 Uhr nachts
hatte sie wieder zu stottern und nach Luft zu schnappen begonnen, der
Gatte rüttelte sie jedoch aus der einsetzenden Bewußtlosigkeit heraus,
worauf sie von heftigem Kältezittern befallen wurde. Der Mann nahm
sie hierauf zu sich ins Bett, um mit ihr zu verkehren, und meinte, das
werde ihr helfen (!) ; im Augenblicke jedoch, als das Glied einzudringen
begann, zuckte sie stärker denn je zusammen und stieß den Mann von
sich, dann verlor sie das Bewußtsein und bekam einen Anfall, bei dem
sie sich eine schwere Zungenverletzung zuzog.
Die hysterischen Mechanismen dieses Falles bedürfen wohl keiner
eingehenden Erörterung. Die aus Koitus- (und Kastrations-) Angst vaginal-
anästhetische Frau verfügte seit der Kindheit über eine starke psychogenitale
Libido. Im Anfall kommt ein Koitus zur Darstellung, doch bedient sich
der Anfall epileptischer Motorik, die grundverschieden ist von der
hysterischen. Im hysterischen arc de cercle wird ein Koitus (und dessen
Abwehr) dargestellt, doch kommt es da nie zur Entladung; man möchte
sagen, die Erregung verflache vor der Akme, während es im epileptischen
Anfall zum Orgasmus kommt. Es fehlt keines seiner charakteristischen
Kennzeichen. Der epileptische Anfall setzt mit der Akme ein, bei der
der Atem angehalten wird und der ganze Körper sekundenlang in einen
tonischen Krampfzustand kommt, der sich genau wie ein epileptischer
Anfall in klonisch-rhythmischen Zuckungen auflöst, die langsam verebbe
Als bedeutsamer Unterschied sei hervorgehoben, daß beim normalT"
Orgasmus die Muskeln des Unterleibes und der unteren Extremitäte^"
beim epileptischen Anfall der Kopf, der Hals und die oberen ExtremitätT'
Hauptsitz der Krämpfe sind. Das läßt auf eine Absperrung des GenitaT
apparates und seiner muskulösen Umgebung aus dem Wirkungsbereich
des sexuellen Reizablaufs schließen. Der epileptische Anfall scheint sich
vom normalen Orgasmus eben dadurch zu unterscheiden, daß er nur
im Körper abläuft und daß die für den normalen Orgasmus
charakteristische Konzentration der Erregung auf das
Genitale vor der Akme fehlt.
Frau Dr. Annie Reich teilte mir mit, daß in einem von ihr behandelten
und auf der Klinik Wagner-Jauregg diagnostizierten Fall von Spätepilepsie
em beobachteter Anfall vollkommen dem hier geschilderten glich Die
Kranke war während der Stunde ängstlich, rief nach der Analytikerin
wollte sie umarmen, wurde plötzlich blaurot im Gesicht, Schaum trat
vor den Mund; am Oberkörper, Kopf und an den Armen traten klonische
Zuckungen auf, während die Beine in voller Koitusstellung tonisch gespannt
waren. Nach dem Anfall tiefe Bewußtlosigkeit und später totale Amnesie
Nach den Berichten der Verwandten liefen die Anfälle immer in dieser
Weise ab. Zu Hause gelang es ihr fast regelmäßig, jemand zu umarmen
und m dieser Stellung den Anfall zu produzieren. Als Aura trat regelmäßig
em Angstgefühl und der heftige Wunsch, den starken Vater zu umarmen,
auf. An seiner Stelle pflegte sie auch oft einen Polster zu umarmen.
Eine verwitwete, beim Koitus immer anästhetische Epileptica berichtet
spontan, daß sie als Aura das Gefühl des Koitiertwerdens hatte. In der
Budapester Vereinigung wurden zu diesen meinen Ausführungen drei
Bestätigungen gebracht. Es wurde über zwei epileptische Männer berichtet,
die während des Anfalls Pollutionen hatten, und über ein Mädchen, das
während des Anfalls einen Stuhl mit den Beinen umschloß. Die Enuresis
der Epileptiker kann als ein primitiver infantiler Ersatz der Pollution
aufgefaßt werden, als ein Zeichen der Endbefriedigung. Beim Hysteriker
fehlen diese Kennzeichen.
Sehr viele Epileptiker berichten über ein ausgesprochen sexuelles
Glücksgefühl vor dem Anfall. Dostojewskis „Idiot", dessen femininer
Charakter und psychische Impotenz so klar geschildert werden, bekommt
einen epileptischen Anfall in dem Augenblicke, wo sein homosexuell
geliebter Freund ihn mit einem Messer erdolchen will. Der symbolische
Sinn dieser Attacke geht aus seiner Beziehung zu Rogoschin eindeutig
hervor: Sein Unbewußtes faßt den Überfall als sexuelle Attacke auf uüd
über den epileptisdien Anfall
271
die sexuelle Spannung entlädt sich im Anfall. Dazu sind auch jene Fälle
rechnen, die über Sensationen im Magen und im Bauche berichten.
Auf genaues Befragen erfährt man, daß die Sensationen „unten" im Bauche
sitzen; manche geben den eigentlichen Sitz in den Genitalen später direkt
zu. Nach einer Mitteilung Nunbergs soll bei Kaninchen durch Juckreize
ein epileptischer Anfall ausgelöst werden können. Es scheint also eine
mehr oder weniger starke genitale Erregung an irgendeiner erogenen Zone
einen Orgasmus im Körper zu entfachen. Bei keiner Neurose läuft der
Orgasmus in dieser Weise ab. Der extragenitale Orgasmus ist
also für den epileptischen Anfall spezifisch. Dieser wäre
somit seinem Wesen nach organisch bedingt. Unser Fall zeigt, daß
dieser pathologische Orgasmus durch psychische Reize in Gang gebracht
werden kann. Da die meisten organischen Affektionen psychisch weitgehend
beeinflußt werden können, ist nicht von der Hand zu weisen, daß auch
ein „echter" epileptischer Anfall auf psychische Reize ansprechbar sei. Das
bedeutet aber noch nicht, daß die Epilepsie eine psychogene Erkrankung
ist. Ob die von hysterischen Mechanismen freie Epilepsie, bzw.
welche Form derselben eine eigentlich psychische oder eigentlich somatische
(innersekretorische?) Ätiologie hat, d. h. was diese Form des Orgasmus
speziell bedingt, muß weiteren Forschungen überlassen werden. Hier wird
die Psychoanalyse von Epileptikern und die methodologisch richtige
Auswertung des Materials Entscheidendes zu sagen haben, auch wenn sich
herausstellen sollte, daß die Epilepsie keine psychogene Erkrankung im
strengen Sinne des Wortes ist. Man wird sich aber hüten müssen, wie
Stekel, Graven und W i 1 1 e 1 s die Psychogenie aus dem Vorhandensein
dieser oder jener Komplexe oder daraus abzuleiten, daß der epileptische
Anfall psychisch hervorgerufen werden kann. Ist die Gallensteinkolifc
psychogen, weil sie nach Aufregungen auftreten kann, oder ist der Zahn-
schmerz psychogen, weil er durch Auto- oder Fremdsuggestion beseitigt
werden kann?
Bemerkenswert und für diese Auffassung des epileptischen Anfalles
als extragenitalen muskulären Orgasmus wichtig ist die Tatsache, daß der
Anfall sowohl bei meinem Falle, wie bei dem von meiner Frau behandelten
und vielen an der Wiener Nervenklinik beobachteten Fällen mit Angst-
gefühlen einsetzt. Angst ist nun einer andernorts dargelegten Auffassung
nach ursprünglich und letzten Endes nichts anderes als die Äußerung
libidinöser Erregung am vegetativen System, also eine Stauungserscheinung«
Es liegt demnach die Annahme nahe, daß die am vegetativen Apparat
gestaute, als Angst zum Vorschein kommende Erregung nur in geringen
Quantitäten zum Genitale vordringt (daher die genitalen Sensationen),
in ihrem Hauptbetrage dagegen den Muskelapparat überflutet. Wir dürfen
auch sagen: Die gleiche libidinöse Erregung, die unter normalen Umständen
im genitalen Orgasmus abgeführt wird, entlädt sich nach vorhergegangener
mächtiger Aufstauung im vegetativen System (daher: Angstaura), im Muskel-
apparat. Auch von dieser Seite her rechtfertigt sich also die Auffassung
des epileptischen Anfalles als extragenital-muskulären Orgasmus. Der
epileptische Anfall wäre demnach ein besonderer Typus eines aktual-
neurotischen Symptoms.
Anderes bedeutet die Frage, welche psychischen Tendenzen sich im
epileptischen Anfall äußern. Man wird gewiß bei den verschiedensten
Individuen verschiedene Tendenzen im Anfall zum Vorschein kommen
sehen, Homosexualität, Sadismus, heterosexuelle Wünsche, Exhibition, aber
das alles erklärt den Anfall nicht.
Schilder meinte, daß der epileptische Anfall eine Geburt darstellt, und
fand im epileptischen Dämmerzustand Todes- und Mutterleibsphantasien.
Diesem Tatbestand können zwei Möglichkeiten ätiologisch zugrunde
liegen: i. Der Epileptiker könnte auf Grund noch unbekannter psychogener
Momente in ein Entwicklungsstadium regredieren, das durch epileptische
Motorik gekennzeichnet ist. Dann wäre die Epilepsie eine psychogene
Erkrankung wie die Zwangsneurose. 2. könnte eine vielleicht inner-
sekretorische Störung die hier beschriebene besondere Art des Orgasmus
bedingen. Nun lehrt die analytische Erfahrung, daß die Absperrung
libidinöser Motorik vom Genitale eine erhöhte libidinöse Spannung des
Körpers und auf diesem Wege stärkere narzißtische, bzw. embryonale
Haltungen — also mittelbar, als sekundäre Bildungen — bedingt. Da nun
im epileptischen Anfall der Orgasmus nicht am Genitale, sondern im
Körper verläuft, könnte dieser genitale Bedeutung bekommen und die
Rolle des Genitales übernommen haben. Wir wissen aus zahlreichen
klinischen Beobachtungen, daß die Mutterleibsphantasie an Stelle der
Koitusphantasie tritt, wenn der Körper psychisch die Bedeutung „Penis"
bekommt. Umgekehrt übernimmt bei der normalen Entwicklung der Penis
die Rolle des Körper-Ichs, das in den Mutterleib eindringt (Ferenczi).
So erklärt sich die Tatsache, daß im epileptischen Anfall Mutterleibs- und
Geburtsvorstellungen zur Darstellung gelangen, allerdings als sekundäre
Bildungen, entstanden durch die Genitalisierung des Körpers, worunter
wir einen — in seiner physiologischen Bedeutung noch ungeklärten —
organischen Prozeß erblicken. Es muß betont werden, daß weder ein
Koituswunsch noch eine Mutterleibsphantasie selbständig einen epileptischen
Anfall erzeugen können, außer wenn sie sich der bereitliegenden patho-
logischen Form der epileptischen Spannungslösung bedienen.
über den eplleptisdien Anfall
273
Maeder, Stekel, Graven und Schilder hoben den Sadismus
des epileptischen Charakters hervor und dazu paßt die sehr dunkel
gehaltene Äußerung Freuds: „Wir erkennen, daß der Destruktions-
irieb regelmäßig zu Zwecken der Abfuhr in den Dienst des Eros gestellt
ist, ahnen, daß der epileptische Anfall Produkt und Anzeichen einer Trieb-
entmischung ist ... , eine Äußerung, die verschiedene Auslegungen
erfahren hat, darunter auch eine von Nunberg, der in einer Diskussion
meinte, im epileptischen Anfall lebe sich der Todestrieb aus. Wir meinen,
daß es vorteilhafter ist, bei der Diskussion klinischer Fragen den biologisch-
hypothetischen Begriff des Todestriebes durch den eindeutigen klinisch-
theoretischen , Destruktionstrieb' zu ersetzen. Demnach wäre der epileptische
Anfall als Ausdruck destruktiver Motorik aufzufassen, deren
Vollzugsorgan die Muskulatur des Körpers ist. Ist also der epileptische
Anfall ein pathologischer Orgasmus oder ein Akt destruktiver Motorik?
Zur Klärung dieser Frage ziehen wir zwei gut studierte klinische
Tatsachen heran : Männer, die den Koitus interruptus ausüben, berichten,
daß die muskulöse Motorik beim Koitus interruptus bedeutend intensiver
ist als gewöhnlich. Nun besteht der Koitus interruptus darin, daß der Akt
vor der Akme, also vor der vollständigen Konzentration der somatischen
Spannung am Genitale, unterbrochen wird. Es wird also ein Teil der
Erregung vom Kreislauf: Körper — Genitale — Körper ausgeschlossen
und benützt statt der Genitalmuskulatur extragenitale Muskeln zur Abfuhr.
Die heftige Unlust, die beim Koitus interruptus erlebt wird, steht in
unminelbarer Beziehung zu den Muskelaktionen, die einer destruktiv-
muskulösen Erledigung der Unlust entsprechen.
Meine Untersuchungen über die energetischen Beziehungen zwischen den
erotischen und destruktiven Antrieben haben ergeben, daß jede Behinderung
der normalen libidinösen Abfuhr, der psychischen sowohl wie insbesondere
der somatischen, die Aggressivität, bzw. den Sadismus steigert. Diese
Steigerung fällt um so intensiver aus, je größer die sexuelle Spannung
geworden ist, die nicht abgeführt werden kann. Nun eignet sich kein
Organ besser als das Genitale zur Konzentration und Abfuhr der libidinösen
Energien sowie zur Paralysierung der Aggressivität. Wird es aus dem
orgastischen Kreislauf ausgeschaltet, wie bei der Epilepsie, so fällt die
Bindung der destruktiven Antriebe mehr oder weniger weg und der
Reizablauf wird von der Genital- auf die Körpermuskulatur verschoben;
da diese ja überwiegend das Vollzugsorgan der Aggressivität ist, so entladen
sich automatisch aggressive Tendenzen: Freuds Vermutung, daß der
epileptische Anfall auf einer grandiosen Triebentmischung beruhe, erfährt
somit eine klinische Rechtfertigung. Von hier aus ergibt sich eine
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/2 18
274
Wilhelm Reidi
Möglichkeit, das Verständnis des sadistischen Charakters des Epileptikers
anzubahnen. Sollte er nicht denselben Gesetzmäßigkeiten folgen wie ieder
andere Mensch, daß Stauungen und Abfuhrbehinderungen der Libido eine
Steigerung des Sadismus bedingen ? Im epileptischenAnfall liegt zwar ein
Orgasmus vor, aber daß er die Stauung löst, ist nicht denkbar; das ergibt
der Vergleich mit dem Orgasmus beim Koitus interruptus, bei dem es zu
so hochgradigen Stauungserscheinungen kommt, daß Angstträume und
-zustände produziert werden. Ferner unterscheidet sich ja der epileptische
Orgasmus vom normalen dadurch, daß die stetige Konzentration der
Erregung am Genitale fehlt. Der orgastische Anfall beginnt:
a) mit der Akme und läuft
b) im Körper extragenital-muskulär ab.
Stimmt unsere Auffassung von der Abhängigkeit der Intensität der!
Aggressivität vom Grade der Libidostauung, so ergibt sich ferner der Schluß,!
daß der sadistische Charakter des Epileptikers bereits Folgeerscheinung der!
chronischen Libidostauung ist. Späteren Untersuchungen über den!
epileptischen Charakter vorgreifend, sei hier angeführt, daß die Natur dieses j
Charakters sowohl auf die chronische muskuläre Energieüberlastung I
(Brutalität, muskuläre Anfälle im Dämmerzustand) als auch j
auf mächtige psychische Reaktionsbildungen gegen die aggressiven Intentionen!
zurückführbar erscheint (M itleid, Religiosität).
Versuchen wir abzugrenzen, was unsere Ausführungen klären konnten,
was sie offen ließen und welche Möglichkeiten sie als Ausgangspunkt I
weiterer Untersuchungen bieten.
Nur der Mechanismus des epileptischen Anfalles konnte geklärt |
und gegen andere Störungen der Genitalfunktion abgegrenzt werden. Offen]
bleibt die Frage:
a) Nach der Entstehung solcher Störungen. Da man vorläufig an ]
der Unterscheidung zwischen Hysteroepileptiker (Hysteriker, die sich I
epileptischer Mechanismen bedienen) und echtem Epileptiker festhalten
muß, darf auch angenommen werden, daß der epileptische Anfall psychisch
und organisch ausgelöst werden kann.
b) Unsere Untersuchung des epileptischen Anfalls hat nichts zu tun mit
der Frage der Epilepsie als morphologischem Krankheitsbegriff und mit der
Entstehung dieser Krankheit. Da der epileptische Anfall als pathologischer
Orgasmus ein organischer Vorgang ist, widerspricht die These von der
organischen Genese der Epilepsie nicht unseren Untersuchungsergebnissen.
Bei Störungen der genitalen Funktion liegt die Annahme einer rein
über den eplleptisdien Anfall
275
organischen Kausalreihe nahe, was wieder eine psychische Genese der
Störung nicht ausschließt.
Künftige Analysen hysteriefreier Epileptiker werden zu entscheiden
haben, wie sich diese besondere Art des Orgasmus in das seelische Erleben
einbaut und welchen Einfluß kindliche Erlebnisse darauf nahmen. Viel
zu erwarten bleibt von einer gründlichen Durchforschung der inner-
sekretorischen und vegetativen Ätiologie der Epilepsie, doch darf man
prophezeien, daß sie steril bleiben wird, solange die psychoanalytische
Libidotheorie nicht entsprechend gewürdigt werden wird.
i8«
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Über eine seltene Deutung des Widerstandes
Von
H. Behn-Eschenburg
Küsnacht-Zürich
Jeder Analytiker hat wohl schon erlebt, daß ein Patient plötzlich in der
Wiedergabe seines Assoziationsablaufes mit der Begründung halt macht, der
abgebrochene Gedankengang oder ein Traum eigne sich nicht zur Wieder-
gabe in Worten; häufig fügt er hinzu, daß sich für sein Gefühl dieses Bild
nur durch eine Zeichnung, ein Aquarell oder gar eine Plastik — ausdrücken
ließe, oder er bringt ein solches Produkt gleich in die Stunde mit.
Man läßt dann den Patienten in der Regel gewähren, versucht des Sinnes
habhaft zu werden, der sich in dem Produkt äußert, und deutet es schließlich
wie einen Einfall. Oft bringt schon die Art des gewählten Ausdrucksmaterials
eine Einsicht. Z. B. werden wir leicht geneigt sein, mitgebrachte Malereien
als „Ausdruck" analer Tendenzen zu werten, zumal wenn uns der Kranke
versichert, daß seine Malerei „nur ein Geschmier" sei. Ferner werden wir
uns veranlaßt finden, zu untersuchen, warum gerade eine Äußerung den Weg
über dieses oder jenes Material sucht, statt sich der gewohnten und meist
deutlicheren Worte zu bedienen. Im Momente des Ausweichens, der Flucht
in ein anderes, die Verständigung erschwerendes Material, geht ein deutlicher
Unterton des Widerstandes mit, den der Patient durch das' mitgebrachte
„Geschenk" seines Fleißes nur schlecht zu verschleiern vermag. Immerhin:
wir lassen uns führen und werden meist für unsere Geduld belohnt. Die mehr
oder weniger künstlerische Produktion öffnet den Weg zu tieferen Schichten,
legt uns gerade das bloß, was sie unbewußt verbergen sollte, und wir können
uns zufriedengeben.
Eine 50 jährige Patientin war mir von einem Chirurgen überwiesen worden,
der sie wegen schwerster Darmstörungen operiert hatte. Sie war lange Zeit
arbeitsunfähig gewesen. Zu Anfang standen durchaus schwerste hysterische
Symptome im Vordergrund, bald durchsetzt mit Zwangserscheinungen und
ans Psychotische grenzenden Erregungs- und Depressionszuständen. Die
Behandlung verlief sehr stürmisch, oft dramatisch, mit Heulszenen, Suizid-
über eine seltene Deutung des Widerstandes
277
versuchen, körperlichen Erkrankungen. Aus dieser Analyse will ich nun das
Material besprechen, das sich auf diese bestimmte Form des Widerstandes bezieht.
Schon nach kurzer Zeit brachte die Patientin wiederholt Aquarelle
in die Stunde; sie entwickelte im Verlauf der mehrjährigen Analyse eine
ausgebaute Farbensymbolik. So brachte sie nicht nur bestimmte Farben und
Vorgänge niit bestimmten Personen und Handlungen zusammen, sondern
verknüpfte auch bestimmte Zahlen mit nur ihnen zugeordneten Färb quali täten.
Dies hatte eine Reihe zwanghafter Verbote zur Folge: Sie durfte mit den
meisten Tramlinien nicht fahren, weil die Nummer der Linie nicht zu ihrer
Farbe paßte; sie konnte mit Menschen, deren Kleiderfarbe von ihr als
unpassend empfunden w^urde, nicht sprechen. Ja, alle libidinösen Werte w^aren
in ihrem System mit Farbqualitäten ausgestattet und gaben dadurch zu
zahlreichen Z-wangssymptomen Anlaß. Alle Vokale waren gefärbt, und Namen,
Personen, Haus- und Autonummern usw. mußten mit den Qualitäten ihrer
Farbe übereinstimmen, vsridrigenfalls ihr der Verkehr mit den betreffenden
Menschen sehr erschw^ert oder gar unmöglich gemacht w^ar. — Die Analyse hatte
mit stärksten Widerständen zu kämpfen. Suizidversuche mahnten zur Vorsicht.
Unter solchen Bedingungen mußten wir zufrieden sein, daß die Behandlung
nach stundenlangen Sperrungen wenigstens an Hand der mitgebrachten Malereien
vorwärts ging und eine weitgehende Besserung erzielt w^urde. Jedenfalls wnrden
ihre quälendsten Symptome beseitigt und schließlich die Leistungsfähigkeit
hergestellt. Als aber die Analyse trotz dauernder Lieferung von Bildmaterial
an gewissen Stellen nicht vorwärts und zum Abschluß kommen w^oUte, bot sich
anläßlich eines Traumes Gelegenheit, das Malen an sich einer entscheidenden
Betrachtung zu unterziehen. Gewiß war dieses Thema auch schon vorher
öfters besprochen worden, und manchen Fund und viele Fortschritte verdankten
278
H. Behn-Escfaenburg
wir diesen Anlässen. Nachdem aber alle Analyse wieder vor einigen prinzipiellen
Fragen (Anerkennung der weiblichen Rolle, Anerkennung der Vagina als
Lustorgan) stockte, brachte die Patientin ein kleines Aquarell in die Behandluna-
mit (s. Abbildung^). Es stellt, stark stilisiert, einen Apfel dar. Um die in der
Mitte gespaltene, gelbrote Frucht liegt rechts und links je ein Blatt. Es
handelt sich deutlich um Eichenblätter und dieselben sollen offenbar mit ihren
drei fingerartig geformten Zacken die Rundung des Apfels umschließen. Die
Art der Stilisierung, — die Spalte in der Mitte ist mit dünnen Strichen behaart
und labienähnliche Rundungen drängen gegen eine Rautenform an, — Igßt
keinen Zweifel, daß es sich um die Wiedergabe des weiblichen Genitales
handelt. Die fingerförmigen Blätter würden in ihrer Zweizahl den beiden
Händen entsprechen, die sich onanistisch betätigen. Abgesehen von der Dreizahl
der übergreifenden Zacken, würde die Vermutung, daß es sich um einen
Penisersatz handelt, noch durch die Bezeichnung: „Eichelblätter" gestützt.
Ich ging aber zunächst nicht auf die Deutung der Einzelheiten ein, sondern
stellte die Frage, warum sie überhaupt das Bild mitgebracht hätte. Sie
erschrak sichtbar; dann erklärte sie, daß die Malerei den Inhalt eines
Traumes darstelle, der sich in Worten nicht wiedergeben lasse. Meine Bemer-
kung, daß sie aus Widerstand den Traum nicht erzählen wolle, wies sie
entrüstet ab.
Nun war mir seit langem auffällig erschienen, daß ihre Machwerke immer
entgegen der gewohnten Aquarelltechnik in dickem pastosen Farbenauftrag
ausgeführt waren. Meine Frage, warum sie so stark auftrage, beantwortete
sie mir zunächst durch starke motorische Unruhe. „Ja, das macht man eben so!"
Ich nahm Gelegenheit, sie auf die Technik eines Aquarells, das in meinem
Wartezimmer hängt, und von dem schon früher die Rede gewesen war,
aufmerksam zu machen. Sie mußte irritiert zugestehen, daß sie ja „eigentlich"
wisse, daß man Aquarelle lasierend male. Dann brachte sie den Einfall,
ihre Bilder seien überhaupt nie fertig, sie möchte daran immer weiter
malen, und alles, was sie mir bringe, enthalte nur einen Teil des Darzustellenden.
Es stellte sich schließlich heraus, daß sie anfangs dünn malt, dann, unzufrieden
mit dem Resultat, wieder übermalt und das Schicht auf Schicht fortsetzt. Nach
kurzer Zeit deutet sie selber, daß sie mit jeder neuen Schicht die darunter-
liegende zudecken, verbergen w-ill, ja, daß sie jedesmal, wenn sie sich
veranlaßt sieht, zu den Farben zu greifen, Grund zur Annahme habe, daß
der darzustellende Traum oder Sachverhalt in Worten zu durchsichtig
sein könnte. Darum also will oder „kann" sie einen Traum nicht erzählen
und zieht es vor, ihn zu malen. Und wie malt sie ihn? Sie geht technisch
so vor, daß sie das Dargestellte zwanghaft sofort wieder zudeckt: Nach
ihrer Angabe ist die dünne, lasierende Malerei zu „durchsichtig". Aber wie
sie nun einsieht, ist das deutliche Aussprechen noch durchsichtiger und darum
wählt sie überhaupt eine andere Technik als die des gefährlich durchsichtigen
Sprechens. Hier gesteht sie, daß sie halbbewußt des öfteren in letzter
Zeit gedacht habe, es sei ja nicht nötig, einen unangenehmen peinlichen
i) Wir geben hier >
verschiedenen Farben
Schraffierung.
Aquarell in Strichmanier skizziert wieder und ersetzen die
wie in der Heraldik üblich — durch entsprechende
über eine seltene Deutung des Widerstandes
279
Einfall zu erzählen. Derselbe verwandle sich ja doch in die Form eines
Traumes — und dann falle es ihr nicht mehr so schwer, das auf diesem
Utnweg entstellte Material auszusprechen. Sie bestätigte denselben Mechanismus
der Verschiebung von zu durchsichtigen Träumen auf ihre malerischen
Produkte. Hier konnte sie so lange die nach Ausdruck ringenden verpönten
Regungen und Einfälle „zudecken", bis ihr die Entstellung genügend schien,
bis ihr Widerstand die Durchsichtigkeit nicht mehr zu fürchten brauchte.
Wir sehen so bei unserer Patientin eine Schichtung vom tiefsten Unbe-
wußten zur psychoanalytisch bewußten Klarheit:
Zutiefst geben Träume die erste und am meisten entstellte Nachricht.
Die dick aufgetragenen Bilder auf schwarzem bzw. dunklem Grund (von
der Patientin bevorzugt) stehen noch in direktem Zusammenhang mit dem
dunklen Unbewußten.
Die locker, durchsichtig gemalten Bilder stehen schon der bewußten Er-
kenntnis näher. Zu oberst stünden die bewußten Erinnerungen.
Freud sagt im „Ich und Es" vom Denken in Bildern, also vom Bewußt-
werden von Denk Vorgängen durch Rückkehr zu den ihnen zugrunde liegenden
visuellen Resten: es stehe irgendwie den ubio Vorgängen näher als das
Wortdenken und sei unzweifelhaft onto- wie phylogenetisch älter als dieses.
Daß die Patientin diese archaischere Denkwelt im Sinne des Widerstandes
ausnützt, ist aus ihrer Bemerkung ersichtlich, daß sie „gefährliche" Einfälle
zurückhalte, bis sie sich in die weniger durchsichtige Form einer Malerei
oder eines Traumes zurückverwandelt haben.
Nun erst erzählte die Patientin ihren Traum:
Ich bin in der Schule und male etwas, einen Apfel, Mit großer Liebe und
Hingehung. Um den Apfel male ich zwei Eichelblätter, die denselben um-
schmiegen. FFahrend ich dabei bin, kommt unsere Zeichenlehrerin, sieht sich
das Bild an und beginnt, mich zu schimpfen. Warum, ich Eichelblätter herum
male? Das sei falsch, es müßten Lilienbl'dtter sein. Ich widersprach wütend,
sie beharrte darauf und war sehr erregt. So sehr sie auch tobte, ich m.alte
einfach weiter.
Zu der Situation in der Schule fiel der Patientin zuerst die Klavierstunde
ein. Einige weitere Einfälle, z. B. daß sie Äpfel lange aufbewahrt und
schließlich ihrem älteren Bruder geschenkt hatte, nötigten zur Deutung, daß
es sich um die Wiedergabe von onanistischen Phantasien handle. Die Symbolik
des „Klavierspiels" als genitaler Spielerei war uns schon geläufig, die Äpfel
rieb sie glänzend, bevor sie sich entschloß, sie dem Bruder zu schenken.
Dies deutete sie so: Sie habe sich beim Onanieren den Bruder hinzuphanta-
siert und die Eichelblätter seien männliche Finger. Daß die Lehrerin in vielen
Einzelheiten der Mutter entsprach, wußten wir; so konnten wir leicht be-
greifen, daß diese Figur über das verbotene Tun schimpft. Auch die Liebe
und Hingabe beim Malen, sowie die Erregung ist erklärbar. Warum aber
dringt die Mutter darauf, daß sie an Stelle der Eichelblätter, die nach An-
sicht der Patientin viel besser zu dem Apfel passen, Lilienblätter male? Nun:
Die Patientin hieß „Lilly" ! Sie behauptet also nichts anderes, als daß die
Mutter sie auf die autoerotische Befriedigung unter onanistischer Betätigung
ihrer eigenen Hände hinweist. Denn wenn die Eichelblätter männlichen
280
H. Behn-Esdienburg
Fingern entsprechen, so deutete sie folgerichtig die von der Lehrerin-Mutt
geforderten Lilienblätter als die Finger der Lilly. Wir hatten aber schon vorh^'
nachgewiesen, daß sich hinter der Zuneigung zum Bruder die verdrängte Li h
zum Vater verbarg. Also nahm sie die Deutung an, daß die Eichelblätter di
Finger des Vaters darstellen. Nun war klar, warum die Mutter-Lehrerin de^
Tochter schimpfend verbieten wollte, an ihren genitalen Apfel die als Pe "
zu deutende Hand des Vaters zu bringen.
Nun möchte ich einfügen, daß die Patientin sich als ein Menschenkind
fühlte, das immer zwischen Vater und Mutter hin und her pendelt. Sie agierte
dieses Hin und Her auch fortgesetzt im Verlauf der Behandlung. In ihren
Einfällen erzählte sie oft, wie sie sich bei Vaters Abwesenheit nach ihm ge-
sehnt habe, wie sie dann aber jedesmal nach seiner Rückkehr enttäuscht
gewesen sei. Andererseits identifizierte sie sich unzählige Male mit der Mutter
indem sie sich in deren Rolle beim Vater hineinphantasierte. Sie war sehr glück-
lich, als sie in der Realität, bei kurzer Abwesenheit der Hausfrau, dem Vater
kochen durfte. Aber der Einfall, daß die Mutter einst, gelegentlich eines
Spazierganges, ihr und dem Vater lärmende Vorwürfe gemacht, weil er seinem
Kinde Wein mit Wasser vermischt gegeben und sie es von ihm angenommen
habe, weist darauf hin, daß schon damals das Verbot wirksam war, welches durch
das Verhalten der Zeichenlehrerin-Mutter im Traum reaktiviert wird. Vom
Vater enttäuscht, an der Identifikation mit der Mutter verhindert, fand sie den
Ausweg der autoerotischen Befriedigung. Hier ist sie Weib — und ihre Hände
ersetzen ihr den Mann, wie sie selbst sagte. Und wenn sie sich erinnert, daß
sie durch Angstäußerungen erreichte, zwischen Vater und Mutter schlafen zu
dürfen, so ist dies Bild, sie stehe unentschieden zwischen Vater und Mutter
die genaue Illustration ihrer nicht erledigten Ödipussituation.
Nun zur Wirkung der Deutung des Dick- und Dünnmalens: Am
nächsten Tage kam die Patientin völlig aufgelöst in die Stunde. Lange Zeit
war sie gesperrt, weinte, stöhnte und wand sich gequält auf der Chaiselongue.
Schließlich erzählte sie, daß sie sich gestern den Rest des Tages und auch heute
ausschließlich mit dem Problem des Dünnmalens habe beschäftigen müssen,
ja, daß sie sogar erneut des Nachts aufgestanden sei und probiert habe, durch-
sichtig zu aquarelheren. Es sei ihr übrigens gestern ganz schlecht geworden,
als sie an das dünngemalte Bild im Wartezimmer gedacht, und die schon über-
wunden geglaubte depressive Stimmung habe erneut von ihr Besitz ergriffen.
Sie sei trostlos. Sie sei gestern sehr erschrocken, als ich ihr die Möglichkeit
durchsichtiger Malerei nähergebracht habe, usw. Die ganze Welt schiene
verändert. Den Himmel, die Häuser und Bäume sehe sie mit andern Augen
an. Dabei habe sie Angst, sie habe gestern abends wieder einmal unter das
Bett sehen müssen.
Zur Frage des Dünnmalens fiel ihr ein: Beim pastosen Malen können die
Farben nicht ineinander laufen. Es scheine ihr verboten, so wässerig zu malen,
daß zwei Farben zusammenkommen, darum müsse sie auch immer eine scharfe
Grenze durch eine Linie zeichnen, wo zwei Farben sich treffen. Die Erklä-
rung lieferte sie rasch : Wenn man z. B. Blau und Gelb nebeneinander auftrage
und nicht gut aufpasse, dann vermischen sich die beiden und es entstehe
eine neue Farbe, Grün, welche die ganze Harmonie störe. Also: Wenn Mann
und Frau, Vater und Mutter zusammen kämen, dann bestehe die Gefahr, daß
über eine seltene Deutung des Widerstandes
281
ein Drittes, ein Kind, entstehe. Darum hätte sie sich wahrscheinlich zwischen
Vater und Mutter gelegt, und sie selbst hätte so das Zusammenfließen der
Eltern und somit die Zeugung eines weiteren Geschwisters (Patientin ist
jüngstes Kind von dreien!) verhindert. So wurde die Harmonie gestört. Nur
nebenbei möchte ich darauf hinweisen, daß sie Erinnerungen brachte, welche
darauf deuteten, daß hinter dieser Zeugungsverhinderung auch ein Wunsch
nach Erfüllung der Zeugung sich verbarg. Und zwar wölke sie selbst vom
Vater ein Kind erhalten. Dazu brachte sie, zum Teil unter großer Affekt-
entladung und motorischer Unruhe, folgende Einfälle: Sie erinnerte, wie ihr vom
Vater etwa im sechsten Lebensjahre ein Einlauf gemacht wurde, und wie sie
diesen Akt als Vergewaltigung empfunden habe. Wie sie mit einem Holz anal
onaniert, wie sie sich einmal soviel Papier in den Anus gesteckt habe, daß der
Propfen nach vergeblichen Bemühungen des Vaters durch den Arzt entfernt werden
mußte. Damals habe sie sich ganz besonders vor dem Vater geniert, als in seiner
Gegenwart das Papier vom Doktor unter spöttischem Lächeln herausgezogen wurde.
Dem Eindruck der realen Resultatlosigkeit all dieser beschämend verlaufenen Zeu-
gungs- und Geburtsversuche entzog sie sich aber doch, indem sie allen Puppen,
die sie besaß, den Bauch aufschlitzte und den Schädel einschlug. Sie begrün-
dete diesen Vandalismus als durch die Beobachtung der Genitallosigkeit
gerechtfertigt. Denn solche Puppen wolle sie nicht besitzen. Wie sie heraus-
fand, vernichtete sie die gebäruntüchtigen Puppen, um durch deren Genital-
losigkeit nicht dauernd an ihren eigenen Mißerfolg und an das Kastriertsein
erinnert zu werden. Dafür machte sie sich eben ein Kind aus eigener Kraft.
Sie nahm ein kleines Holzscheit, wickelte ein Stück Stoff darum und erklärte
diese eigene Kreation als ihren Liebling. Da der Vater ihr kein Kind schenkte,
wollte sie nicht weiter die Mutter für ihn sein. Sie verschaffte sich also einen
Penis aus Holz, — ich erinnere daran, daß sie mit einem Holz onanierte, —
und somit die Kompensation für die kränkende Versagung ihrer traumatischen
Erlebnisse. Wie sie herausfand, war die geliebte Puppe ihr Ersatz für den
fehlenden Penis und gleichzeitig Erfüllung des an den Vater gerichteten
Wunsches nach einem Kinde. Ich darf noch hinzufügen, daß im Verlauf der
weiteren Analyse die wesentlichen Schwierigkeiten, welche die Anerkennung
der weiblichen Rolle und der Vagina als Lustquelle betrafen, überwunden
wurden.
Es erhebt sich schließlich noch die Frage, warum die Patientin gerade
zu dem Ausdrucksmittel der Malerei flüchtete. Hier muß nachgetragen
werden, daß der verstorbene Vater topographischer Zeichner war. Auch beim
topographischen Planzeichnen spielt das Abgrenzen, das Begrenzen von Flächen,
die aneinander stoßen, eine Rolle. Gewiß bezog unsere Malerin hier, rein tech-
nisch gesehen, ihre stilisierende Art des Malens. Außerdem dürfen wir als gesichert
annehmen, daß eine weitere Determinante vom Analen her geliefert wurde.
Denn das Schmieren ist der Patientin mit dem Malen identisch. (Nebenbei: Sie
arbeitete auch gern mit Plastilin.) Außerdem wollen wir nicht übersehen, daß der
Vater, selbst Zeichner und Maler, sie durch das Klistier auf eine anale
„Produktion hingewiesen hat. Als Gegenstück zur Überbetonung der analen
tione sehen wir auch eine fast vollständige Verdrängung vaginaler Tendenzen.
Und zwar wurden diese in einer Richtung verdrängt, die man als „visuell"
bezeichnen muß, auf die Augen.
282 H. Behn-Esdienburg: Über eine seltene Deutung des Widerstandes
Der Weg der Verschiebung von der Vagina aufs Auge wurde ziemlich
durchsichtig anläßlich der Analyse ihrer A s t h m a anfalle. Den ersten Anfall
erlitt sie beim Tod des Vaters, der während der Analyse erfolgte. Der
nächste trat auf, als sie eine Leinsamenfabrik besichtigte. Der Staub hätte
sich dort auf ihre Brust gelegt und wäre ihr ins Auge gedrungen
Zu der Leinsamenfabrik fiel ihr die „Fabrik des Samens" beim Manne ein'
Der Same des Mannes sei ihr also „ins Auge" gekommen. Hier dachte sie
wieder an den faden Geruch in dem Betrieb, den sie mit dem von Sperma
verglich. Dann hätte sie außer dem Asthma noch ein Ödem bekommen
durch das Reiben am Auge, in welches Leinsamenstaub eingedrungen wäre.
Dieses Reiben erkannte sie selbst als nach oben verlegte Onanie. Wir können
hier gut den Weg eines Teiles der libidinösen Besetzung verfolgen, die statt
der Vagina das Auge zum Aufenthalt erkoren hat. Die Folgen des Reibens
blieben mit dem Ödem = Schwangerschaft nicht aus. Wir sehen aber gleich-
zeitig, wie auch jene Libidoquantität, die vom Analen durch die Sublimierung
im Malen Ausdruck fand, eine Beziehung zum Auge hat. Denn das veränderte
Produkt des Analen, das Gemälde, benötigt der Augen zur Hersteilung wie
auch zur Verwertung, dem Angesehenwerden.
Abschließend sei zusammengefaßt, wie durch die Deutung und Auflösung
des Widerstandes die Patientin veranlaßt wurde, ihre reservierten, lang ver-
teidigten Positionen preiszugeben, wie sie Einsicht bekam in den Verbleib
eines großen Teiles ihrer neurotisch untergebrachten Libido.
Wie wir sahen, stand sie schwankend zwischen Vater und Mutter und
mußte, vom Vater enttäuscht, an der Identifizierung mit der Mutter ver-
hindert, auf vaginale Befriedigung verzichten. Sie identifizierte sich mit dem
Vater und ging so ganz den Weg autoerotischen Lustgewinns. Dieses narziß-
tische Zurückweichen auf ihre Person mußte zu bedeutenden Schwierigkeiten
führen.
Das Malen während der Analyse scheint darauf hinzudeuten, daß es sich
bei ihrem Narzißmus hauptsächlich um eine Verankerung im Analen handelt.
Darauf weisen ja auch die sadistischen Triebregungen hin, welche sich in
den Selbstmordversuchen äußerten. Jene Selbstmordversuche, die einerseits
sicher die Mutter treffen — jeder Selbstmord gilt gleich dem Mord an einem
anderen — , auf der anderen Seite ihr jedoch eine endliche Vereinigung mit
dem verstorbenen Vater ermöglichen sollten.
In diesem geschilderten Fall schien die Libido während der Behandlung
durch die Übertragung von allen möglichen Positionen auf das Schlachtfeld
der Malerei gelenkt worden zu sein. Hier gelang es, sie zu erfassen. Das
Schlachtfeld muß, wie Freud sagt, nicht notwendig mit dem Punkt, um
den der Krieg eigentlich geführt wird, zusammenfallen. Erst nachdem man
die Übertragung wieder gelöst hat, kann man die Libidoverteilung, welche
während des Krankseins bestanden hatte, in Gedanken rekonstruieren.
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
I) Mitteilungen des Zentralvorstandes
75- Geburtstag von Prof. Freud
Am 6. Mai d. J. ist Herr Prof. Freud 75 Jahre alt geworden. Die Rück-
sicht auf seinen ausdrücklichen Wunsch und auf seinen Gesundheitszustand
ließ uns davon absehen, diesen Tag so feierlich zu begehen, -wie es unser
aller Wunsch ge'wesen wäre, um die ganze Größe unserer Verehrung und
Dankbarkeit auszudrücken. Unterzeichneter hat im Namen des Zentralvor-
standes ihm die Glückwünsche und Grüße der IPV übermittelt.
Aus demselben Anlaß hat ein engerer Kreis von Freunden der Psycho-
analyse einen Fonds gesammelt, der über Mk. 50.000' — betrug, und hat ihn
am nämlichen Tage Herrn Prof. Freud für psychoanalytische Zwecke zur
Verfügung gestellt. M. Eitingon
Dr. Max Eitingon 50 Jahre
Es gereicht mir zur Ehre, im Namen des Zentralvorstandes der Inter-
nationalen Psychoanalytischen Vereinigung unserem allbeliebten Präsidenten
aus Anlaß seines fünfzigsten Geburtstages die herzlichsten Glückwünsche darzu-
bringen. Seine hohen Verdienste um die Vereinigung, um die Förderung des
Psychoanalytischen Unterrichtswesens im allgemeinen und um die Schaffung
des Musterinstituts in Berlin wurden erst vor kurzem von Professor Freud
gewürdigt, wir können uns also auf die Worte der Anerkennung beziehen,
die im Vorwort zur Publikation „Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches
üistitut enthalten sind, und möchten ihnen diesmal nur weniges zufügen.
284
Korrespondenzblatt
Gerade als Mitglieder des Zentralvorstandes können wir einstimmig bezeugen,
wieviel unsichtbare und wirkungsvolle Tätigkeit Eitingon als Schlichter
kleinerer und größerer Differenzen innerhalb der Vereinigung entfaltet hat;
wir brauchen nur auf die schließliche Einigung aller Gruppen in der Laien-
analysenfrage hinzuweisen. Wir, die wir ihm beruflich so nahestehen, können
nicht umhin, aus diesem Anlaß auch seiner persönlichen Liebenswürdigkeit
und Hilfsbereitschaft zu gedenken, doch nicht zu guter Letzt des Vergnügens,
das uns der Verkehr mit ihm als einem weit über die Fachgelehrsamkeit
hinaus gebildeten Menschen verschafft hat. Ad multos annos!
S. Ferenczi
n) Mitteilungen der Internationalen Unterridits-
kommission
Berliner Psydboanalytisdies Institut
Im Herbstquartal (Oktober — Dezember 1930) fanden folgende Kurse statt:
a) Vorlesungen
1) Sändor Radö: Einführung in die Psychoanalyse, I. Teil (Analytische
Normalpsychologie) 8 Stunden. Hörerzahl: 74.
2) Hanns Sachs: Traumdeutung. 7 Stunden. Hörerzahl: 52.
5) Otto Fenichel: Spezielle Neurosenlehre, 11. Teil (Perversionen, Psycho-
sen, Charakterstörungen). 7 Stunden. Hörerzahl: 29.
4) Karen Horney: Indikationen und Technik der analytischen Therapie,
I. Teil. Nur für Ausbildungskandidaten. 7 Stunden. Hörerzahl: 15.
5) Theodor Reik: Anwendung der Psychoanalyse auf Probleme der
Geisteswissenschaften (Religionswissenschaft, Ethnologie, Literaturwissenschaft,
Kriminalistik usw.). 4 Stunden. Hörerzahl: 21.
b) Seminare, Übungen, Kolloquien
6) Jenö Harnik: Freud-Seminar: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie .
7 Doppelstunden. 19 Teilnehmer.
7) Carl MüUer-B raunschweig: Freud-Seminar : Theoretische Schriften.
7 Doppelstunden. 5 Teilnehmer.
8) Siegfried Bernfeld: Seminar: Praktische Fragen der psychoanalyti-
schen Pädagogik. Für Vorgeschrittene. 40 Teilnehmer.
9) Boehm, Harnik: Technisches Seminar. Nur für Ausbildungs-
kandidaten.
10) Eitingon u. a.: Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen).
Nur für Ausbildungskandidaten.
11) Ernst Simmel: Probleme klinisch-psychoanalytischer Therapie (Indi-
kationen, Prognose, Modifikationen der Methodik). Für ausübende Analytiker.
12) Sändor Radö: Referatenabende (Kolloquium über Neuerscheinungen
der Psychoanalyse und ihrer Grenzgebiete). 4 Doppelstunden. 19 Teilnehmer.
K orrespondenzblatt
285
c) Arbeitsgemeinschaften
iz) Klinische Studiengemeinschaft (Leitung: Sandor Radö). Laufend
14) Pädagogische Arbeitsgemeinschaft (Leitung : Müller-Braunschweig,
Bernfeld). Laufend I4tägig.
je) Kriminalistische Arbeitsgemeinschaft (Staub).
Lehrinstitut der Ungarischen psydioanalytiscben Vereinigung,
Budapest
Im Herbstquartal (Oktober — Dezember 1950) fanden folgende Kurse statt:
Frau V. Koväcs: Technisches Seminar. Nur für Ausbildungskandidaten.
Frau V. Koväcs: Technisches Seminar.
Abende. Teilnehmerzahl 9.
Dr. M. Bälint: Seminar über Metapsychologie. Für Fortgeschrittene.
8 Abende. Teilnehmerzahl 15
Dr. I. Hermann: Schamgefühl und Schuldbewußtsein. Für Fort-
geschrittene. 4 Vorträge. Teilnehmerzahl 20.
I
Nederlandsdi Instituut voor Psydboanalyse, Haag
Am 4. Oktober 1950 fand die Eröffnungssitzung des neuen Institutes im
„Spinozahuis" im Haag unter Vorsitz des Präsidenten der Niederländischen
Gruppe, J. H. W. van Ophuijsen, statt. Seitens der Ärzte, welche mit
ihren Damen zu dieser Versammlung eingeladen waren, zeigte sich nur geringes
Interesse. Nach einer kurzen Rede, in welcher er die Bedeutung des Institutes
und die Ausbildung des Analytikers skizzierte, erteilte der Vorsitzende zuerst
das Wort an Dr. F. P. M u 1 1 e r, Dozent an der Universität Leiden, zu seinem
Thema: „Die Psychiatrie gestern, heute und morgen" (etwas gekürzt erschienen
in Nederlandsch Tijdschrift voor Geneeskunde 1930, Heft 48). Der Zentral-
präsident, Dr. M. Eitingon, der die Absicht hatte, bei dieser Gelegenheit
anwesend zu sein, war leider im letzten Moment verhindert, seinen Plan
auszuführen. Jedoch war Dr. Th. R e i k sofort bereit, seine Stelle als Redner
einzunehmen, und er sprach über: „Die Psychologie im Indizienbeweis und
der Indizienbeweis in der Psychologie." Sowohl die tiefsinnigen Auseinander-
setzungen Dr. Mullers als die geistreichen Ausführungen Dr. R e i k s ernteten
großen Beifall.
Im Laufe des letzten Quartals 1950 wurden folgende Kurse gehalten:
1. CoUoquium für Mitglieder des Vereines und der „Leidsche Vereeniging
voor Psychopathologie en Psychoanalyse". Laufend i4tägig.
2. J. H.W. van Ophuijsen. Einführung in die Psychoanalyse. 6 Stunden.
5. Dr. A. J. Westerman Holstijn. Die Struktur der Persönlichkeit.
5 Stunden.
4. J. H. W. van Ophuijsen. Psychoanalyse des Sadismus. 5 Stunden.
5. J. H. W. van Ophuijsen. Psychoanalyse der Homosexualität. 5 Stunden.
6. Dr. S. Weyl. Psychoanalyse der Kriminalität. 5 Stunden.
PiWf
286 Korrespondenzblatt
Institute of Psycfco-Analysis, London
Im Herbstquartal (Oktober — Dezember) 1930 fanden folgende Kurse statt-
Miß N. Searl: „Die Technik der Kinderanalyse." 6 Vorträge. '
Seminar über die „Praktik der Psychoanalyse." Monatlich.
Seminarreihe über „Die Theorie der Psychoanalyse."
Lehrinstitut der Wiener Psydioanalytisdien Vereinigung
Im Wintersemester 1950/1951 fanden folgende Kurse statt:
a) Vorlesungen:
Dr. E. Hitschmann: Traumlehre. 5 stündig (Hörerzahl 55).
Dr. R. Sterba: Libidotheorie. 4 stündig (Hörerzahl 56).
Dr. W. Hoff er: Einführung in die Neurosenlehre. 5 stündig (Hörerzahl 19).
Dr. R. Wälder: Psychologie der Weltanschauungen. 5 stündig (Hörerzahl ig)"
Dr. E. Bibring: Psychoanalytische Charakterlehre. 5 stündig (Hörerzahl ig)^
Dr. H. Hart mann: Einführung in die Wissenschaftstheorie der Psycho-
analyse. 5 stündig (Hörerzahl 14).
b) Seminare:
Dr. P. Federn: Lektüre und Diskussionen über Freuds Schriften.
Jeden Dienstag.
Dr. E. Hit seh mann: Seminar für psychoanalytische Therapie. (Am
Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.) Jeden zweiten
Mittwoch.
Anna Freud: Seminar zur Technik der Kinderanalyse. Jeden Montag.
c) Arbeitsgemeinschaften:
Dr. E. Bibring: Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytische Charakterologie.
(Für ausübende Analytiker.)
Dr. Ruth MackBrunswick: Arbeitsgemeinschaft für Psychosenforschung.
Dr. Helene Deutsch: Praktisch-therapeutische Übungen für ausübende
Analytiker (Kontrollseminar).
d) Pädagogik:
A. Aichhorn: Praktikum in Horten, Tagesheimstätten und Kinder-
heimen mit Besprechung der sich ergebenden Schwierigkeiten.
Dr. W. Hoff er: Seminaristische Besprechungen für Pädagogen.
Dr. Sändor R a d 6,
Sekretär der Internationalen
Unterricfatskommlssion
Korrespondenzblatt
287
ni) Berichte der Zweigvereinigungen
The American Psychoanalytic Association
1930
Die siebente Winter- Jahresversammlung (25. Sitzung) der American Psycho-
analytic Association wurde am 50. Dezember 1930 gemeinsam mit der New
York Psychoanalytic Society in der Academy of Medicine in New York ab-
gehalten. Die Sitzung wurde von einem Abendessen eingeleitet, bei dem
Dr. Magnus Hirschfeld aus Berlin Ehrengast war.
Der Präsident Dr. A. A. Brill eröffnete die Sitzung. Der Vorsitzende des
Lehrkomitees der New Yorker Gruppe machte Mitteilungen über die Kollo-
guien, Kurse und Seminare, das Protokoll der letzten Sitzung wurde verlesen
und zur Kenntnis genommen. Dann wurde die Geschäftssitzung unterbrochen
und die w^issenschaftliche Sitzung mit folgendem Programm eröffnet:
1) Dr. A. A. Brill: Olfactory Manifestations in the Neuroses.
2) Dr. M. Hirschfeld (a. G.) : Konstitutionsvarianten und Psycho-
analyse.
g) Dr. G. Zilboorg: Technische Problemein der Analyse von Patienten
mit Selbstmordneigungen.
4) Dr. A. S. L o r a n d : Das technische Vorgehen in einem Fall von
extremem Masochismus.
Die Diskussion entfiel infolge des umfangreichen Programms. Dr. Brill
eröffnete die Geschäftssitzung von neuem. Nach Erledigung der gewöhnlichen
Programmpunkte wurden die folgenden Personen zu ordentlichen Mitgliedern
gewählt :
Dr. George S. Amsden, 156 E. 64th Street, New York,
Lillian D. Powers, 128 Central Park South, New York,
Dr. Dudley D. Schoenfeld, 116 W. sgth Street, New York,
Dr. William V. Silverberg, Sheppard and Enoch Pratt Hospital, Tow^son,
Maryland,
Dr. Edward Hiram Reede, Medical Science Building, Washington, D. C.,
Dr. Gregory Zilboorg, Bloomingdale Hospital, White Plains, New York.
Nachtrag: In der Nachmittagssitzung der i8. Jahresversammlung am
8. Mai 1950 in Washington hielt auch Dr. J. H. W. van Ophuijsen
(Haag) einen Vortrag: „ Observations on Regression' .
Dr. Ernest E. Hadl ey, M. D.
Sekretär
British Psytho-Analytical Society
III. Quartal 1930
Geschäftssitzungen:
7. Mai 1950. Paragraph 4 und 5 der Statuten werden in folgender Weise
abgeändert: § 4. Die Generalversammlung der Vereinigung, bei der der Be-
richt des Sekretärs und Kassiers vorgelegt werden, soll im Juli (bisher Oktober)
288
Korrespondenzblatt
abgehalten werden. § 5. Die Leitung der Vereinigung soll durch einen Vq
stand geschehen, bestehend aus dem Präsidenten, dem Kassier, zwei Sekr
tären und drei weiteren Vorstandsmitgliedern, die alljährlich im Juli
w^ählt werden.
16. Juli 1950. Generalversammlung. Die Berichte der Sekretäre de
Kassiers und Bibliothekars werden der Vereinigung vorgelegt. Für H
kommende Vereinsjahr werden die folgenden Funktionäre gewählt: Präsident-
Dr. Ernest Jones. Kassier: Dr. Douglas Bryan. Wissenschaftlicher Sekretär ■
Dr. Edward Glover. Geschäftlicher Sekretär : Dr. Sylvia Payne. Bibliothekar-
Miß Barbara Low. Vorstandsmitglieder: Dr. Eder, Mrs. Ri viere Dr"
Stoddart. Unterrichtsausschuß : Dr. Glover, Dr. Jones, Mrs. Klein
Dr. Payne, Mrs. Ri viere, Miß Sharpe. Bibliotheksausschuß : Miß Low'
Dr. Stoddart, Mr. Strachey. '
Die folgenden a. o. Mitglieder wurden zu ordentlichen Mitgliedern ge
wählt: Dr. Brierley, Dr. Adrian Stephen, Dr. Sybille Yates.
Als außerordentliches Mitglied wurde gewählt: Miß S h e eh an-D ar e.
§ 22 der Statuten wird in folgender W^eise abgeändert: § 22. Statuten-
änderungen müssen 10 Tage (früher 28 Tage) vor einer Geschäftssitzung
oder Generalversammlung schriftlich beantragt werden.
Mitgliederadressen:
Miß Searl, 9, Kent Terrace, London, N. W. 1.
Miß Sharpe, g, Kent Terrace, London N.W. 1.
Dr. Adrian Stephen, 1 6 Nottingham Place, London W. 1 .
Dr. Karin Stephen, 140 Harley Street, London W. 1.
Miß Sheehan-Dare, ^ge Linden Gardens, London W. 1.
S. M. Payne,
gesdiäftlidie Sekretärin.
IV. Quartal 1930
1. Oktober 1950. Dr. Gl over: Sublimierung, Ersatzbildung und soziale
Angst.
Eingehende Erörterung der bisher bestehenden Definitionen der Subli-
mierung und der Verwirrung, die aus der gleichzeitigen Anwendung verschie-
dener Wertmaßstäbe entsteht. Die Beziehung der Sublimierung zur Symptom-
bildung (Ersatzbildung) wird geschildert und ausgeführt, daß klinisch die
Sublimierungen häufig zur Unterbringung von Angst und Zwangsbildungen
dienen. Man kann annehmen, daß die Sublimierungen weiter ausgebauten und
mehr diffusen Symptombildungen zugehören, wahrscheinlich Abkömmlingen
der infantilen Phobien, die scheinbar spontan ausgeheilt sind. Ferner zum
Problem der Desexualisierung: Sprecher vertritt die Ansicht, daß der Terminus
in metapsychologischer Diskussion nicht aufrecht zu erhalten ist, wenn man
die Sublimierung nicht ihrem Wesen nach als Abwehrprozeß auffaßt.
15. Oktober 1950. Kleine Mitteilungen.
Miß Sharp: Außenweltsfaktoren in der Phantasiebildung. Die therapeu-
tische Bedeutung des Zusammenhanges früher unbewußter Phantasien mit den
Umweltsfaktoren zu der Zeit, zu der die Umwelt traumatisch eingewirkt hat.
Korrespondenzblatt
289
Dr. R i g g ^ '^ 1 • Bemerkungen über Fälle von Zwangsneurose. Erörterung
eines Falles mit ungewöhnlichen Symptomen ; Beziehungen dieses Materials
den neuen Forschungen auf dem Gebiet der Über-Ich-Bildung.
Dr. Adrian Stephen: „Hateful, Awful, Dreadful etc." Untersuchungen
über die bestimmenden Faktoren bei der Wahl dieser und anderer Ausdrücke.
Ä. November 1950. Mrs. Seligman (Royal Anthropological Society, (a. G.):
Die Beziehung der Ehegesetze zu den Inzestverboten. - — Die Familie, die erste
menschliche Gruppierung, ist auf die Inzestschranke aufgebaut ; Verhaltens-
weisen, die von hier auf größere soziale Gruppen, besonders den Clan,
Übertragen werden; sieben verschiedene Typen der Abstammung im Clan;
die Einschränkungen der Heiratsschließung als erweiterte Inzestverbote; statt
des Verbots der Inzucht die Legitimierung der nicht verbotenen Frauen;
die Mehrzahl der Verbote beruhen auf dem Verbot des Bruder-Schw^ester-
Inzests; diese Form des Inzests, wie sie in den Gewohnheiten und Gesetzen
der Primitiven auftritt, hinterläßt eine Situation von bewußter Versuchung;
die Eltern-Kind-Beziehung bei Kindern unter drei Jahren ist einfacher als
bei uns; später beeinflussen andere Faktoren das Kind und ermöglichen ihm,
leichter den Übergang von der Elternliebe zur Geschwisterliebe oder einen
Ersatz dafür zu finden.
ig. November 1950. Dr. Jones: Das Problem Paul Morphy. Ein Bei-
trag zur Psychoanalyse des Schachspiels. (Erschienen Internat. Journal usw.
Vol. XII., 1, 1931.)
g. Dezember 1950. Miß S h e eh an-D ar e: Bemerkungen über einen Fall
von Stottern.
Zwei Ergebnisse aus dem Studium des Falles. 1) Dieser Sprachfehler
setzt sich aus einer Kombination von drei Elementen zusammen: Wieder-
holung, Teilung (Zerschneidung) des Wortes und Atemhemmung. 2) Das
Stottern ist ein mißglückter Versuch, das Liebesobjekt einzuverleiben und
auszustoßen; in diesem Falle spielen Phantasien über die vereinigten Eltern
als Liebesobjekt die Hauptrolle; es wird daraufhingewiesen, daß das Symptom
des Stotterns in seiner Beziehung zu den Psychoneurosen einer genaueren
Klassifizierung bedarf.
I. Quartal 193t
21. Januar 1951. Dr. Fairbairn (Edinburgh University) als Gast: Aus
der Analyse einer Frau ohne Geschlechtsorgan — Die Patientin litt an Angst,
Selbstvorwürfen und periodischen Verstimmungen. Die Analyse zeigt eine
intensive oral-sadistische Fixierung und ein strenges mütterliches Über-Ich.
Auf ein Nachlassen der Verdrängungen folgt eine manische Phase. Zu Zeiten
störende Befangenheit in Gegenwart von Männern. Es wird gezeigt, daß der
Mangel an w^eiblichen Organen bei der Frau weniger bedeutungsvoll ist als
der Mangel eines Penis. Der Fall bietet günstige Gelegenheit zum Studium
manisch-depressiver Mechanismen „in parvo .
4. Februar 1951. Mrs. Klein: Frühe Angstsituationen und Ichentwicklung.
(Auszug aus dem in Kürze erscheinenden Buch Frau Kleins über Kinderanalyse.)
18. Februar 1951. Dr. Franklin: „Die Familienreaktionen während der
Analyse eines Falles von Zwangsneurose." — Bericht über die Wirkungen
Int. Zeitschr, f. Psychoanalyse, XVII/2 lg
290
Korrespondenzblatt
einer Neurose und ihrer Behandlung auf die Familie. Die Patientin und ihr
Umgebung bilden ein neurotisches Milieu; die Besserung durch die Analyse
erzeugt Störungen bei andern Familienmitgliedern, besonders der Mutter, deren
Feindseligkeit sich steigert. Ausnützung dieser Feindseligkeit durch die Patientin
Solche Störungen bei Angehörigen von psychoanalytisch Behandelten entstehen
wahrscheinlich durch die Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf die Patientin
wie auch durch die Störung von kompensierenden Mechanismen. Ein scheinbar
Symptom freies Familienmitglied kann die treibende Kraft sein, die die Neurose
eines andern erzeugt und Befriedigung aus ihr zieht. Besprechung der Bedeutung
derartiger Vorgänge in der Umgebung des Patienten während der Analyse. Der
direkteste Weg zur Veränderung der Umwelt ist die Analyse des Patienten.
4. März 1951. Kleine Mitteilungen.
i) Miß Searl: Über die Geduld der Kinder. — Die Geduld kleiner
Kinder mit den Erwachsenen wird gewöhnlich unterschätzt. Die Erwachsenen
haben kein Verständnis für die Phantasien kleiner Kinder. Ältere Kinder haben
in dieser Beziehung gewöhnlich längst resigniert, aber dreijährige haben die
Hoffnung auf Verständnis noch nicht aufgegeben. Zeigt der Analytiker einmal
daß diese Hoffnung berechtigt war, so tut das Kind, außer in ganz akuten
Angstzuständen, sein möglichstes, um seine Phantasien verständlich zu machen.
Das Kind bringt dem langsamen Verständnis des Analytikers unglaubliche
Geduld entgegen.
2) Mrs. Klein: Ein Beitrag zur Theorie der intellektuellen Hemmung.
— Erscheint Journal Vol. XII, Part. 2.
5) Dr. Glover: Über das Sammeln von analytischen Daten, die sich
selber deuten. Über Möglichkeiten der Einteilung mit einer Beihe kurzer
Beispiele aus der direkten Beobachtung. Nach Diskussion wird Dr. Glover
die Ausarbeitung dieses Planes übertragen.
11. März 1951. Dr. Flügel: Maurice Bedels „Jerome". Eine Studie
kontrastierender Typen. Die wichtigsten kontrastierenden Züge sind die
folgenden : Erster Typus : Kompliziert, nicht weltfremd, romantisch, sexuelle
Interessen im Vordergrund, masochistisch, mit erreichtem Genitalprimat, direkte
sexuelle Äußerungen, etwas gehemmt, hoher Grad von sexueller Differenzierung,
Verlangen nach Heimlichkeit und Intrige, Gefühl für Konvention und Anstand,
Überschätzung des Sexualobjekts, sehr eifersüchtig, neurotisch.
Zweiter Typus : Simpel, naiv, kindisch, matter of fad, die sexuellen Interessen
im Hintergrund, sadistisch, diffus erotisch, sexuelle Äußerungen ungehemmt,
geringer Grad sexueller Differenzierung, aufrichtig, „moderne" Sittenbegriffe,
wenig Sexualüberschätzung, wenig eifersüchtig, keine Zeichen von Neurose. —
Bei dem komplizierten Typus sind die Äußerungen der Libido eng verknüpft
mit Äußerungen der hemmenden Kräfte. Bedeutung dieser Beziehung mit
besonderem Hinweis auf das Strafbedürfnis.
Adressenänderung: Miß Barbara Low, 59 Queen Anne Street,
London W, 1.
Dr. Edward Glover,
wissensdiaftlidier Sekretär
Deutsdie Psydioanalytisdie Gesellschaft
III. und IV. Quartal 1930
j6. September 1930. Bericht von Dr. Eitingon und Dr. Sjmmel
[aber die Verleihung des Goethe-Preises an Freud am 28. Augu -£ 1950.
Vortra_5 Dr. Fromm: Zum Glauben an die Allmacht der Gedanken. —
Diskussion: Bally, Rado, Sachs, Bernfeld, Harnik, Boehm, MüUer-Braunschweig,
Htrold.
2;^. September 1930. Dr. R a d ö überreicht Dr. Eitingon die Festschrift
tum zehnjährigen Jubiläum des Berliner Psychoanalytischen Instituts und
würdig in einer kurzen Ansprache Dr. Eitingon als den Gründer und
Trager dieser für die ganze psychoanalytische Bewegung entscheidend wich-
tigen Institution.
\'ortrag Dr. Spitz: Angstgefühl und Bedürfnisspannung. — Diskussion:
Bernfeld, Lampl, Radö, Josine Müller, Härnik.
I Vom 27. bis 29. September 1950 veranstaltete die Deutsche Psycho-
analytische Gesellschaft eine Tagung in Dresden. Der Verlauf der Tagung
[wurde allgemein als überaus befriedigend empfunden und fand in der Tages-
presse und in den wissenschaftlichen Zeitschriften einen durchweg verständuis-
Tollen Widerhall. Ein genauerer Bericht über die Tagung ist im letzten Heft
I (S. 155) erschienen.
7. Oktober 1930. Dr. Eitingon, Dr. Boehm, Frau Dr. Benedek, Doktor
iFenichel und Frau Dr. Lantos berichteten über die Dresdener Tagung. Diese
f Berichte, wie auch Briefe auswärtiger Mitglieder gaben einen durchaus ein-
heitlichen Eindruck von der guten Auswirkung der Tagung.
Mitteilung von Dr. Fenichel: Die Hypothese der Organlibido. — Dis-
|kussion: Bernfeld, Radö, Simmel, Harnik, Frau Lampl, Spitz.
Steff Bornstein, Berta Bornstein und Dr. Erich Fromm wurden
Ixu außerordentlichen Mitgliedern gewählt.
14. Oktober 1930. Vortrag Dr. Edith Jacobssohn: Der Sadismus der
»n. — Diskussion: Härnik, Radö, Horney, Fenichel, Sachs, Frau Lampl,
•u Schmideberg.
4- November 1950. Vortrag Dr. Hoff mann: Die Entwicklungsgeschichte
"«•Falls von sozialer Angst. — Diskussion: Schultz-Hencke, Fenichel, Sachs,
oö, Josine Müller.
18. November 1930. Vortrag Dr. Melitta S c h m i d e b e r g a. G. : Zur psychi-
IrI'uI „^^^°'^ der Sexualbetätigung. — Diskussion: Boehm, Reich, Horney,
^Bchultz-Hencke, Müller-Braunschweig, Sachs, Frau Lampl.
«9- November 1950. Vortrag Dr. Ra dö: Rausch und Kater. (Zur Psycho-
L^u*^^?"" Rauschgiftsüchte.) — Diskussion: Simmel, Fenichel, Bally, Reich,
"•chs, Harnik, Herold, Spitz. ' y> .
Uufi' "fi— r '^^°' ^^^i*^^ Mitteilungen: Dr. Fenichel: Vor-
■"■ncr— n ^^^"^ ®'"^'' ■^^^^ ''°'^ Querulantenwahn. — Diskussion:
Dr«J TVT ^' ^^^°- ^"m Thema Suizid. — Diskussion: Horney, Spitz,
»raey, M. Bdlint (Budapest, a. G.).
lg*
292
Korrespondenzblatt
16. Dezember 1950. Vortrag Dr. Groddeck: Über das Unbewußte in
der Kunst.
Dr. phil. Jakob Ho ff mann (Berlin-Charlottenburg, Witzlebenstr. 2.),
■wird zum Ao. Mitglied gewählt.
Dr. Karen H o rn e y,
Schriftführerin
I. Quartal 193I
13. Januar 1931. Dr. Sachs: Referat über Freuds Aufsatz „Das Fakul-
tätsgutachten im Prozeß Halsmann". — Diskussion: Radö.
Diskussion über den Vortrag von Dr. Groddek: Über das Unbewußte
in der Kunst. — In der Diskussion sprechen Radö, Reik, Sachs.
Vortrag Dr. Gero: Über Max Hartmanns Theorie der Sexualität. —
Diskussion: Fenichel, Radö, Horney.
20. Januar 1931. Vortrag Dr. Horney: Zur Frage der negativen thera-
peutischen Reaktion. — Diskussion: Radö, Reich, Fenichel, Fromm, Boehm,
Melitta Schmideberg. (a. G.)
31. Januar 1931. Generalversammlung. Die Berichte des Vorsitzenden und
der anderen Funktionäre werden genehmigt.
Die a.-o. Mitglieder Drs. Bally, Jacobssohn und Kraft werden zu ordent-
lichen Mitgliedern gewählt. Zur Revision der Statuten wird eine aus den Drs.
MüUer-Braunschweig, Radö und Staub bestehende Kommission eingesetzt. Der
Vorstand und der Unterrichtsausschuß werden ermächtigt, jeweils bis zur
ordentlichen Generalversammlung einen Vertreter der auswärtigen Arbeits-
gemeinschaften zu kooptieren.
Auf Antrag von Dr. Boehm wird die Wahl von zwei Kassenrevisoren
beschlossen.
Zum Vorsitzenden wird Dr. Eitingon gewählt. Als Vorstandsmitglieder
werden gewählt: Drs. Boehm, Sachs, Simmel.
In den Unterrichtsausschuß werden gewählt: Drs. Bernfeld, Eitingon,
Fenichel, Härnik, Horney, Müller-Braunschweig, Radö. — In das Kuratorium
des Stipendienfonds werden gewählt: Drs. Boehm, Härnik, Hans Lampl und
Müller-Braunschweig. — Zu Kassenrevisoren werden gewählt: Drs. Lampl-
de Groot und Staub.
10. Februar 1931. Kleine Mitteilungen: Dr. Reich: Über einen Fall
homosexueller Zwangsimpulse. — Diskussion: Groß, Fenichel, Sachs, Bally,
Radö. — Dr. Wulff: Mutter-Kind-Beziehungen und der weibliche Kastrations-
komplex. — Diskussion: Reich, Sachs.
17. Februar 1931. Vortrag Dr. Bally: Versuch einer Entwicklungs-
geschichte des Über-Ichs. — Diskussion : Fenichel, Müller-Braunschweig, Sachs,
Bornstein, Eitingon, Reich.
28. Februar 1931-. Vortrag Dr. Radö: Über Funktionsstörungen.
Anschließend Diskussion über Zwangsperversion, Zwangsonanie und zwang-
hafte Süchte: Sachs, Hdrnik, Fenichel, Reich.
10. März 1931. Vortrag Dr. Reich: Der Einbruch der Sexualmoral in
die primitive Gesellschaft. — Diskussion: Miß Grant Duff (London, a. G.),
Herold, Groß, Lantos, Sachs, Bernfeld, Boehm, Fenichel, Fromm, Müller-
Braunschweig.
Korrespondenzblatt
293
21 März 1951- Diskussionsabend über den Todestrieb. — Referenten:
Renedek, Hörne y, Reich. — Diskussion: Miß Low (London, a. G.),
Schultz-Hencke, Bernfeld, MüUer-Braunschweig, Härnik, Sachs, Fromm,
Bally, Eitingon.
Adressenänderung: Dr. Franz Alexander, zuletzt Chicago, ab
Oktober 1931: c/o Judge Baker Foundation, 40 Court Street, Boston,
U. S. A.
Dr.
Felix Boa hm,
Sdiriftführer
Dr. Josine Müller t
Der Wesenszug Josine Müllers, der den wenigen Menschen, die ihr
näherkamen, tiefen Eindruck machte, war ihr Streben nach Wahrheit — ein
stilles fast nüchtern scheinendes und doch im Grunde leidenschaftliches Streben
nach Erkenntnis, Gerechtigkeit und voller Aufrichtigkeit. Ihr unbeirrbares
Urteil würde verschwenderisches Lob nicht mit Ironie, aber mit der ihr inne-
wohnenden Kühle zurückweisen und auf der Forderung nach schlichter
Wahrheit bestehen.
Als ihr Analytiker habe ich tieferen Einblick in die Besonderheit dieser Ent-
wicklung getan. Da ihr die Mutter früh gestorben war, wurde die Fixierung
an den Vater besonders innig, und die Enttäuschung war fast unerträglich,
als sie seiner Unaufrichtigkeit inne wurde und sich von ihm abwenden mußte.
In einem sehr ernst gemeinten Selbstmordversuch gipfelte die Ablösung, und
von da an war sie das, als was wir sie kannten, ein Mensch im Schatten, erfüllt
vom Drang zur Wahrheit und voll der Fähigkeit, an der Zweideutigkeit und
Verlogenheit der Weltdinge zu leiden — aber ohne Freude und Leichtigkeit;
ein im Schatten lebender Mensch — und es ist tragisch, daß sie auf ihrer ersten
Reise der Sonne zu gestorben ist, knapp, ehe sie das Land des Sonnenscheins
erreichte.
Bei alledem entsprach sie nicht dem Bild einer Dulderin — dazu war
sie viel zu aktiv und tätig, nie klagend oder verzagt, zudem stets bereit,
fremdem Leid zu helfen und Unrecht und Irrtümer zu bekämpfen. Eher
könnte man sie einen Pflichtmenschen nennen, wenn in diesem Worte nicht
etwas trocken Bürokratisches läge, was ihrem aufs Wesentliche gestellten Geist
ganz fern lag.
Ihr Wahrheitsdrang gab sich auch in der Wissenschaft nie mit formalen
Lösungen zufrieden. Sie untersuchte und forschte unermüdlich, korrigierte
und verbesserte ihre Einsichten und war immer bereit, neue Anregungen auf-
zunehmen. In schwierigen Fragen, in denen man nicht auf gebahntem Wege
gehen konnte, war sie deshalb die beste Beraterin.
Für uns Psychoanalytiker ist ein Problem der Praxis besonders heikel : die
Unterscheidung zwischen psychogenen und organischen Erkrankungen. Abgesehen
von den realen Schwierigkeiten, sind hier noch besondere emotionelle Motive
am Werk: Einerseits die Tendenz, das eigene Gebiet auszudehnen und so
vieles als möglich psychologisch zu erklären, andererseits die Versuchung,
Verantwortung und Mißerfolge abzuwälzen. In solchen Fragen, in denen
innere Parteilosigkeit und Schärfe der Erkenntnis besonders wichtig sind
habe ich niemanden lieber um Rat gefragt als Josine Müller.
Andere, die ihr nahegestanden sind, besonders jene, die ihre analytische
Hilfe in Anspruch nahmen, wissen, wieviel seltene Eigenschaften, wieviel
Liebe und Güte, Zartheit und Liebesfähigkeit in diesem verschlossenen
Menschen verborgen lag.
Eine Frage muß ich hier noch erwähnen, die jetzt nach ihrem Tode uns
alle, die wir ihre Mitarbeiter waren, schmerzlich berührt. Wir müssen uns
den Vorwurf machen, daß wir ihre Arbeiten, besonders die eine große
wissenschaftliche Arbeit, die sie hinterlassen hat, nicht nach dem vollen Wert
geschätzt haben, ihr nicht jenes Maß an Interesse und Anteilnahme gezeigt haben
die sie nach ihrem wissenschaftlichen Werte verdiente. Wenn ich mich nach
der Ursache frage, so glaube ich, uns doch von dem Vorwurf des bloßen
Banausentums freisprechen zu dürfen: die Schwierigkeit, gegen die das Ver-
ständnis und die Anerkennung erkämpft werden mußte, lag in der Ver-
fasserin selbst. Unbestechlichkeit: das war ihr vornehmster Charakterzug —
aber sie war nicht nur selbst unbestechlich, sie wollte auch andere nicht
bestechen, auch nicht durch die legitimsten Mittel einer leicht verständlichen,
angenehmen Form, eines flüssigen Vortrages, der Aufopferung widerstrebender
Details für die Übersichtlichkeit des Ganzen. Diese Strenge machte ihre
Arbeit auch für ernste und wissenschaftlich eingestellte Leser schwer zugänglich.
Zum Schluß will sich die alte Wendung von der Lücke, die sie in unseren
Reihen ließ, aufdrängen. Ihre Freunde, ihre Analysanden werden diese Lücke
empfinden. Wir, ihre Mitarbeiter, haben das Gefühl, als würden wir ein Stück
Sicherheit verlieren, die uns ihr Urteil gegeben hat, einen verläßlichen Maßstab
für die Richtigkeit unserer Behauptungen, ein feines, unbeirrbares Instrument,
das uns immer wieder zeigen konnte, wo die reine Wahrheit lag.
Hanns Sadis
II
— Josine Müller starb am 50. Dezember 1950 auf einer Reise nach den
Kanarischen Inseln. Sie hatte sich seit Monaten auf die Schiffsreise gefreut,
die sie auf kurze Zeit nach dem Süden und seiner Sonne bringen sollte, und
hatte sich von dieser Reise Genuß und Erholung versprochen. Die mit dem
Schiff Zurückgekommenen haben erzählt, daß sie, wenn auch körperlich nicht
sehr wohl, so doch in den ersten Tagen sich an allen Eindrücken lebhaft
gefreut habe. Drei Tage nach Abfahrt des Schiffes, am 25. Dezember 1930,
auf einem Ausfluge nach Brügge, den sie von Antwerpen aus unternahm, zog
sie sich bei rauhem und nebligem Wetter eine Lungenentzündung zu. Sieben
Tage darauf, am 50. Dezember 1930, einige Stunden, bevor das Schiff
Las Palmas erreichte, erlag sie ihr.
Josine Müller wurde 1884 als Tochter eines Hamburger Kaufmannes,
Hermann E b s e n, geboren. Die Vorfahren mütterlicher- wie väterlicherseits
gehören alteingesessenen nordfriesischen Familien an. Sie verliert bald
nach ihrer Geburt die Mutter. Nach dem Abiturium 1906 bezieht sie die
Universität Freiburg und studiert Medizin. Nach fünfjährigen Studien in Freiburg
und München besteht sie 1911 in Freiburg das Staatsexamen und geht nach
Korrespondenzblatt
295
Berlin. Zunächst ist sie im Sommer 1911 (Mai bis September) in der
Kinderheilstätte Hohenlychen, darauf im Berliner Städtischen Krankenhaus
am Urban in der ersten inneren Abteilung unter Prof. August Fränkel, als
Medizinalpraktikantin tätig. Im Krankenhaus am Urban arbeitet sie zugleich
im biochemischen Laboratorium unter Rona und stellt dort physiologisch-
chemische Versuche an, deren Darstellung und Ergebnisse den Inhalt ihrer
Doktorarbeit ausmachen. Der Titel der Arbeit lautet: „Über den Verlauf der
Fett-, resp. Esterspaltung im Blut." Sie promoviert im Juli 1912 an
der Berliner Universität unter H i s.
Von nun an bis Frühjahr 1915 arbeitet sie mit einer dreiviertel] ährigen
Unterbrechung als Assistenzärztin im Krankenhaus am Friedrichshain an der
Kinder-, Frauen- und Infektionsabteilung unter Prof. Magnus-Levy. Im
Frühjahr 1915 geht sie als Assistenzärztin auf etwa eineinhalb Jahre zum
Zwecke einer neurologisch-psychiatrischen Fortbildung an Dr. Dr. Fränkel-
1 i V e n s Sanatorium Berolinum in Lankwitz und ist dort sowohl in der
Heilstätte als auch in der geschlossenen Abteilung und im Lazarett bei den
kriegsbeschädigt en Soldaten tätig. Hier versteht sie es, ein Haus schwieriger
Soldaten mit psychologischen Mitteln in Schach zu halten und erfolgreich
zu behandeln. Zu gleicher Zeit gründet sie in Berlin-Schmargendorf eine
Allgemeinpraxis, der sie sich nach ihrem Fortgange von Lankwitz, also von
Ende 1916 an, ausgiebig widmen kann. Sie ist in der Folgezeit auch als
Schulärztin am Goethe-Lyzeum in Schmargendorf tätig und wirkt in Schrift
und Wort für ein besseres, d. h. auch psychologisches Verständnis für
die mannigfachen psychisch bedingten oder mitbedingten Erkrankungsformen
bei den Mädchen von der Zeit der Latenz bis zur Pubertät. Mit dem
wachsenden Interesse für die Psychoanalyse wandelt sich ihre Allgemeinpraxis
immer mehr in eine psychoanalytische um.
Sie war bereits im Jahre 1911 mit der Psychoanalyse bekannt geworden,
hatte Freud studiert und hatte sich von 1912 bis 1915 bei Abraham
einer Analyse unterzogen. Die psychisch bedingten Fälle im Sanatorium
Lankwitz lockten zu psychoanalytischer Betrachtungsweise, und auch die Fälle
der Allgemeinpraxis gaben Anlaß, die psychoanalytischen Kenntnisse praktisch
zu erproben. Nach dem Kriege sucht sie den Anschluß an die Berliner
Psychoanalytische Vereinigung, nimmt von 1920 an als Gast an den Sitzungen
teil und wird im Dezember 1921 als ordentliches Mitglied in die Vereinigung
aufgenommen. 1923 bis 1926 unterzieht sie sich noch einmal einem Stück
Analyse, und zwar bei Sachs.
Sie hat während der knappen zehn Jahre, die sie in der Vereinigung
tätig war, nur verhältnismäßig selten, soviel ich sehe, viermal in Form von
Vorträgen, viermal in Form von kleinen Mitteilungen, das Wort ergriffen.
Häufiger sprach sie in der Diskussion. Lebhaft und interessiert hat sie sich
an den Vorträgen und Diskussionen des „Kinderseminars" beteiligt. Sie w^ar
voller Hoffnungen und Wünsche für unsere junge Analytikergeneration und
hat vielen von ihnen in der analytischen Arbeit geholfen. Die Themen der
Vorträge in der Vereinigung zeigen die Richtung an, in der sich auch eine
große hinterlassene Arbeit bewegt. Der erste Vortrag 1921 ist mir nicht mehr
erinnerlich. Er ist auch in unserem Korrespondenzblatt nur als „Bericht
über eine Psychoanalyse" verzeichnet. Der zweite von 1922 lautet: „Über
296
Korrespondenzblatt
die Rolle der Urethralerotik in der Ätiologie depressiver Neurosen", der
dritte 1925: „Über den Einfluß der religiösen Phase auf die Charakter-
entwicklung eines Mädchens", und ist z. T. unter dem Titel: „Früher Atheismus
und Charakter-Fehlentwicklung" im Jahrgang 1925 der „Internationalen
Zeitschrift für Psychoanalyse" und im „International Journal of Psycho-
Analysis veröffentlicht worden. Der vierte vom April 1929 lautet: „Der
Widerstand aus moralischem Masochismus und seine Überwindung." Die erste
der „Kleinen Mitteilungen", im März 1923, spricht über „Eine Fehlhandlung"
die zweite vom Juni 1925 „Über einen psychotischen Zustaad von zehntägiger
Dauer , die dritte, im November 1925, gibt den bedeutsamen „Beitrag zur
Entwicklung der genitalen Phase beim Mädchen". Diese Arbeit stellt gleichsam
eine vorläufige Mitteilung, ein Expose, zu einem Hauptteil der hinterlassenen
Arbeit dar, die das dazugehörige klinische Material beibringt. Die vierte der
kleinen Mitteilungen, im Dezember 1925, spricht „Über die Entwicklung
einer Perversion". Für ihr hinterlassenes Werk wünscht sie in ihrem
Testament als Titel entweder die Bezeichnung: „Die Erforschung der infantilen
Weiblichkeit aus Erkrankungen von narzißtischen Personen" oder kürzer
formuliert: „Die infantile Weiblichkeit im Narzißmus". Im Zentrum der
Arbeit steht die Erforschung einer bereits in den präphallischen Phasen
beider Geschlechter vorfindbaren, beim Mädchen an die vaginale, beim
Knaben an eine entsprechende Zone geknüpften Weiblichkeit. Das Schicksal
dieser „infantilen Weiblichkeit" und ihre Bedeutung für die Gestaltung der
neurotischen oder normalen Entwicklung verfolgt sie an einem ausgedehnten
klinischen Material. Carl Müller-Braunsdiweig
Dr. Hans Liebermann, Berlin f
Nachruf in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, gehalten am 18. April ic/^i
Am 4. April 1931, am Ostersonnabend, ist Hans L i eb er mann gestorben,
48 Jahre alt. Erlauben Sie mir, auch dieses Mal keine Obduktion zu machen,
sondern nur einige Worte des Nachrufes ihm zu widmen, der eines der
ältesten Mitglieder unserer Vereinigung war. Es war in den letzten Jahren
allmählich stiller und stiller um ihn geworden, aber alle, die ihn früher
gekannt haben, liebten ihn für so vieles, was wertvoll und liebenswert
war an seiner Person. Auch seine Patienten schätzten ihn sehr und
hingen sehr an ihm, und er hat, aus seiner Arbeit herausgerissen, eine
Anzahl von Patienten hinterlassen, für die er teilweise schwer zu ersetzen
sein wird. Er war ein ausgezeichneter Arzt, war es mit den Zügen seines
Wesens und seiner Begabung, die ihn so liebenswert und anziehend gemacht
hatten, die aber auch anderseits ihm gerade seine besondere Arbeit allmählich
so schwer gemacht haben. Wenn es erlaubt ist, den Arzt mit einem Künstler
zu vergleichen, so war Hans Liebermann einer, wie Künstlerisches auch sonst
in ihm war; es steckte ein begabter Architekt in ihm und es schien, als
wäre er ein sehr guter Chirurg geworden. Er liebte Blumen und schöne
Gegenstände, klar geformte, einfache und übersichtliche. Im Freien und Gut-
I
Korrespondenzblatt
297
heleuchteten hätte er sollen schaffen können. Mit vielen künstlerischen Naturen
hatte er jenen Optimismus gemeinsam, dessen tragende Kraft ein eigentüm-
liches Vertrauen ist, schwer unterscheidbar gemischt aus Selbstvertrauen und
Vertrauen auf eine tief innerste Macht, die wie ein altes Versprechen ist, ein
Versprechen von Hilfe und Schutz, eine Mischung von sozusagen nor-
malem, ich- und realitätsgerechtem Narzißmus mit dessen magisch-illusionären
Vorstufen resp. Erscheinungsformen. Enttäuschungen sind hier natürlich unaus-
bleiblich und mit einer solchen Einstellung, so sehr sie auf den ersten Blick
lebensförderlich zu sein scheint, lebt es sich auf die Dauer doch sehr schwer
in der Realität, Sie ist nicht immer geeignet, einen sich in der Realität
abhärten zu lassen, sondern macht umgekehrt nur allzu häufig Hilfen gegen
die Realität nötig. Als die Psychoanalyse seinen Weg kreuzte, war es zu
natürlich, daß der ebenso stark schenken wie helfen wollende und psychologisch
begabte Mensch mit Begeisterung daran ging, den oft genug unsichtbar schwerst
Beladenen zu Hilfe zu kommen. Seine Begabung lag in dem sehr guten Ein-
fühlungsvermögen in den analytischen Patienten und dem raschesten Erfassen
von unbewußten Zusammenhängen. Es drängte ihn dann zur Aktivität; die
uns aufgezwungene tätige Passivität machte ihm viel zu schaffen, und all-
mählich offenbarte sich die Tragik seines Geschicks hier. Denn nun mußte
er, der, wie ich schon sagte, eigentlich dazu geschaffen war, en pleiii air und
pleine lumiere zu wirken, in das Dunkel der Untiefen der Seelen anderer
steigen, sich dort geduldig aufhalten, wo alle Realitätsprüfung so erschwert
ist, daß man, ohne es zu merken, in die Versuchung gerät, sich den solchen
Naturen auflauernden Magien und Illusionen zu ergeben. Unsere Arbeit ist
gerade für so optimistische Naturen häufig genug schwer und zu schwer.
Besonders Hans Liebermann wurde sie allmählich zu schwer. Es kam mir in
den letzten Jahren vor, als sei er ein Kämpfer, der sich zu schwer lastende
Waffen ausgesucht hatte, immer müder wurde er im Kampf und schließlich
brach er unter der Last seines Werkzeugs zusammen. Dunkel ahnend be-
zeichnete er sich selbst einmal einem Freunde gegenüber als das „Opfer seines
Berufs".
Allen denen, die ihn unverändert geschätzt hatten, v^rar er eine stete
Mahnung an die persönlichen Voraussetzungen unseres Tuns, wie auch an die
tragischen Grenzen unserer Wirksamkeit und unseres Helfenkönnens, und wir
alle, die um sein schweres Ringen gew^ußt haben, werden Hans Liebermann
nicht leicht vergessen. M. Eitingon
Iiidian Psydio-Analytical Society
I. bis IV. Quartal 1930
9. Februar 1950. Dr. Sarasilal Sarkar: Hindu Mythological Story throwing
light on the Psychology of Phallic Worship. Der Vortragende versucht, den
Untergang des Ödipuskomplexes und die Bildung des Über-Ichs an der
psychoanalytischen Deutung der Mythe nachzuweisen, und zitiert Autoritäten
zur Unterstützung seiner Auffassung.
298 Korrespondenzblatt
17. August 1950. Dr. Suhrit Chandra Mitra: Psychology and Psycho
Analysis. Der Vortragende bespricht den Einfluß und die Beiträge der
Psychoanalyse zur Psychologie, plädiert für eine innere Annäherung zwischen
den beiden Arbeitsgebieten und meint, daß ein gegenseitiger Ideenaustausch
eine wohltätige Wirkung auf beide Wissenschaften haben müßte. Sie repräsen-
tieren die beiden Methoden der Einsicht in den bewußten und unbewußten
Anteil des Seelenlebens. Da das Bewußtsein ohne häufigen Hinweis auf das
Unbewußte nicht studiert werden kann, dürften Psychologie und Psycho-
analyse nie voneinander separiert w^erden.
24. August 1950. Dr. G. Böse: A new Technique of Psycho-Analysis.
Diese Technik ist vom Vortragenden häufig mit Erfolg angewendet worden-
Zum Unterschied von der aktiven Therapie und der Methode der forcierten
Phantasien von Ferenczi kann sie in folgender Weise charakterisiert werden.
In geeigneten Fällen wird der Patient zuerst aufgefordert, seine freien Assozia-
tionen zu bringen, um so die Natur des zurzeit in ihm aktiven verdrängten
Wunsches festzustellen. Dann wird ihm aufgetragen, diesen verdrängten Wunsch
in der Phantasie als erfüllt darzustellen, wobei er sich in den Wunsch-
situationen abwechselnd in die Rolle des Subjekts und des Objekts hinein-
phantasieren soll. — Dr. Böse versichert, daß diese Methode die Lösung der
Konflikte des Patienten erheblich beschleunigte.
51. August 1950. Dr. G. Böse: „Periodic Repression" mit Beispielen aus
22 verschiedenen Krankengeschichten. — Der Autor vertritt eine Abtrennung
dieser Gruppe von Fällen von der Zwangsneurose einerseits und dem
manisch-depressiven Irresein anderseits. Diese Fälle sind sozusagen Grenzfälle
zwischen den Psychoneurosen und Psychosen. Die Symptomatologie besteht
gewöhnlich aus einer Depression, deren Hauptzug Sorge über finanzielle
Dinge ist, und aus einem Zurückziehen des Interesses von den gewöhnlichen
Lebenstätigkeiten. Die Patienten verlieren die Fähigkeit, irgendetwas zu
genießen. Diese Depression hielt in den verschiedenen Fällen verschieden
lang an, machte dann einer scheinbar vollständigen Herstellung Platz, aber
nur um in einigen Monaten oder Jahren wiederzukehren. Im Gegensatz zu
den typischen manisch-depressiven Fällen fehlt die erregte oder manische
Phase. So wie die Angst das Hauptsymptom der Angstneurose ist, ist das
Hauptsymptom dieser periodischen Depressionen ein Besorgtsein. Eingehen
auf die Vererbung zeigte jedesmal das Vorhandensein einer manisch-
depressiven Erkrankung oder einer Zwangsneurose bei irgendeinem Bluts-
verw^andten.
9. September 1950. Mr. H. Maiti: „Suicidal Obsession". Vortragender
bringt ein klares Beispiel zur Anwendung der psychoanalytischen Methode an
einem erfolgreich behandelten Fall.
12. Dezember 1950 Prof. Haridas B h a tt a ch a r y a: „The Psycho-
logical Basis of Personal Identity". Vortragender diskutiert das Problem von
verschiedenen Gesichtspunkten aus und zeigt die Lückenhaftigkeit einiger jetzt
bestehender Theorien über dieses Thema. Er erörtert auch die darauf bezüg-
lichen psychoanalytischen Funde.
+
Fortschritte der Psychoanalyse. Das Interesse für die Psycho-
analyse in Indien ist weiter im Ansteigen und zeigt sich besonders von selten
Korrespondenzblatt
299
der Mental-Hygiene-Bewegung und der Reform der Anwendung der Straf-
gesetze, besonders auf den jugendlichen Verbrecher. Lt. Col. Berkeley Hill,
Präsident Dr. G. Böse und Dr. B. Ghosh's Bemühungen in dieser Richtung
waren sehr erfolgreich. Lt. Col. Berkeley Hill. Mr. J. K. Sirkar und andere
hielten psychoanalytische Vorträge auf dem Science Congress in AUahabad.
Auf diesem Kongreß beschäftigt sich alljährlich eine Reihe von Vorträgen
niit der Psychoanalyse. Auf Vorschlag von Mr. H. Maiti kam es auf der
AU Asia Educational Conference zu einer Resolution (37 Stimmen gegen 55
nach einer sehr lebhaften Debatte), welche die Aufnahme der Psychoanalyse
als Unterrichtsgegenstand in die Teacher's Training Courses bestimmt.
Die Tätigkeit der Vereinigung vergrößerte den Kreis der für die Psycho-
analyse Interessierten und eine Reihe von Kandidaten wandte sich mit der
Bitte um eine Lehranalyse an den Vorstand. Der Präsident hat bereits mit
der Analyse einiger gründender Mitglieder begonnen. Nur der Mangel an
einer genügenden Anzahl voll ausgebildeter praktizierender Mitglieder hindert
das psychoanalytische Institut noch an der Entfaltung seiner vollen Tätigkeit.
I. Quartal 1931
51. Januar 1951. Neunte jährliche Generalversammlung.
1) Annahme des Jahresberichts für 1950.
2) Wahl der Funktionäre für 1931: Dr. G. Böse (Präsident); Mr. M. N.
Banerjee (Sekretär); H. Maiti (Vorstandsmitglied); Dr. S. C. Mitter (Vorstands-
mitglied und Bibliothekar).
3) Der Bericht des Sekretärs über das Indian Psycho-Analytical Institute
wurde diskutiert und die folgenden Beschlüsse gefaßt:
A) Dr. G. Böse, Präsident, Lt. Col. Berkeley Hill, Mr. H. Maiti, Dr. Suhrit
Gh. Mitter, Dr. B. C. Ghosh, Mr. Gopeswar Pal und Mr. M. N. Banerjee,
Sekretär, werden zum Lehrkomitee gewählt und sollen das Institut nach
§ 14 b (4) vier Jahre lang leiten. Nach vier Jahren wird das Lehrkomitee
von neuem gewählt.
B) Nach § 14 B (7) erhalten die folgenden Herren den Titel und die
Vorrechte von gründenden Mitgliedern des Instituts : Dr. G. Böse, Mr. M. N.
Banerjee, Dr. N. N. Sengupta, Mr. H. Maiti, Mr. G. Bora, Mr. G. Pal und
Dr. Suhrit Ch. Mitter.
C) Für die theoretische und praktische Ausbildung der Kandidaten am
Institut wird ein Lehrplan aufgestellt und die Vortragenden aufgefordert, dem
Lehrkomitee Vorschläge für die Verwendung von Handbüchern zu unterbreiten.
Arbeitsgemeinschaften und Seminare sollen nach Bedarf gebildet werden.
D) Die Leitung des University College of Science soll aufgefordert werden,
den Kandidaten des Indian Psycho-Analytical Institute den Besuch der
Vorlesungen und praktischen Kurse im Department of Experimental Psychology
gegen Bezahlung eines geringen monatlichen Kollegiengeldes, das mit dem
Präsidenten des Institutes vereinbart wird, zu gestatten.
4) Wahl von außerordentlichen Mitgliedern. — Die folgenden Herren wurden
zu außerordentlichen Mitgliedern gewählt:
Mr. A. C. Chatterji, Publicity Officer, Bengal Nagpur Railway,
168 Com Wallis Street, Calcutta.
300
Korrespondenzblatt
Dr. B. B. C h a 1 1 e r j i, M. Sc, M. B. Lecturer in Physiology, Universitv
College of Science, 82 South Road, Entally, Calcutta.
Dr. K. B. Mukherji, B. Sc., M. B., Ch. B. (Edin), L. M. (Dub)
8 g Lo'wer Circular Road, Calcutta.
Mr. Sudhir Rumar Böse, M. A., M. Sc, Department of Experimental
Psychology, University College of Science.
Mr. Manindra Nath Samanta, M. Sc, Department of Experimental
Psychology, University College of Science.
Mr. Suhrit Chandra Sinha, M. Sc, 15/1/1 Ramkanta Böse Street
Calcutta.
Mr. Amarnath Mukherji, M. Sc, 1 7 Baralpara Lane, Baranagore
Road, Calcutta.
Mr. Shamswarup Jalata, B. A., Dalpat Gardens, Phagwora, N. W. Ry.
(Punjab).
5) Die Eröffnung des psychoanalytischen Instituts macht es notwendig,
einen zweiten Sekretär und einen zweiten Bibliothekar zur Unterstützung
dieser Funktionäre zu wählen. § 14 wird entsprechend abgeändert und
Mr. Manindra Nath Samanta M. Sc. zum zweiten Bibliothekar, Mr. Sudhir
Kumar Böse, M. A., M. Sc, zum zweiten Sekretär für 1951 gewählt.
6) Wahl von Mitgliedern: Mr. B. N. Roy von Natore Raj, P. O. Natore,
Dt. Rajshahi, Bengal.
7) Es wird die Neuordnung der Statuten beschlossen.
8) Die abgeänderten Statuten sollen zur Information unter den Mitgliedern
zirkulieren.
Dr. M. N. Banerjee
Sekretär
Magyarorszägi Pszidioanalitikai Egyesület
III. bis IV. Quartal 1930
15. Oktober 1930. H. Zulliger (a. G.): Die Rorschachsche Psycho-
diagnostik. — Beschreibung der Methode mit Besprechung von Psychogrammen.
7. November 1950. Frau A. Bai int: Referat und Kritik der kinder-
analytischen Arbeiten von Melanie Klein.
21. November 1950. Frau Dr. L. K. R Ott er: Aus der Analyse eines
Psychose-Grenzfalles. — Die Zwangsimpulse verschwanden während der Analyse
und gaben nach einer paranoiden Durchgangsphase einem manisch-depressiven
Stimmungswechsel Platz.
15. Dezember 1930. Anna Freud (a. G.) : Eingehende Beschreibung
der Analyse eines Kindes mit Pavor nocturnus.
Geschäftliches. Frau Dr. Lillian K. Rotter (Budapest, VIII. Fhg.
Sändor u. 46) wurde als ordentliches Mitglied aufgenommen.
Dr. M. J. Eisler hielt in der Cobden-Gesellschaft einen Vortrag über
Psychoanalyse.
Korrespondenzblatt
301
1. Quartal 1931
,6 Januar 1931- Kasuistik. 1) Dr. L. Revesz: Gebärmutterblutung
1 lanffdauerndes passageres Symptom während der Analyse. — Schwere
A Seinandersetzungen mit dem Vater im Hintergrunde. — 2) Dr. M. Balint:
Die Analyse eines sinnlosen Traumwortes.
xo. Januar i95i- Frau Dr. F. K. Hann: Analyse einer Verwahrlosten.
Patientin bot das Bild einer schweren Hysterie. Die Analyse deckte die
infantilen Determinanten der moralischen Entgleisungen auf. Die Störungen
sind seither nicht wiedergekommen.
iz. Februar 1951. a) Generalversammlung. Der Vorstand w^urde
wiedergewählt. Dr. M. Balint wurde in die Unterrichtskommission auf-
genommen; b) Dr. M. J. Eisler: Rembrandt.
27. Februar 1951. Frau Dr. K. G. Läzär: Aus der Analyse eines Falles
von Zwangsneurose. — In den verschiedenen Phasen der Krankheit lösten
sich zwangsneurotische und hysterische Symptome ab. Den gemeinschaftlichen
Inhalt bildeten Kastrationsphantasien, deren Wurzel in frühzeitigen und über-
wältigenden sexuellen Erlebnissen gefunden wurde.
iz. März 1931- D- E. Almäsy: Die Analyse von amentiaartigen Krank-
heitszuständen. — Beschreibung und Analyse von drei selbst beobachteten
Fällen.
Geschäftliches. Als ordentliche Mitglieder wurden aufgenommen:
Frau Dr. Klara G. Läzar (Budapest, VII. Riräly u. 51) und Dr. Endre
Almäsy (Budapest, VI. Hungäriä krt. 80. Irrenanstalt).
Dr. Imre Hermann,
Sekretär
Nederlandsdie Vereeniging voor Psychoanalyse
IV. Quartal 1930
1. November 1950 (Haag). Diese Sitzung war größtenteils internen
Angelegenheiten gewidmet. Anlaß war der Rücktritt von Prof. Dr. G. Jelgersma
wegen Erreichung des gesetzlichen Alters als Professor der Psychiatrie an der
Universität Leiden und die Ernennung seines Nachfolgers Prof. Dr. E. A. D. E.
Carp, welcher als ein außerhalb der Psychoanalyse stehender Forscher
betrachtet wird.
Weiter wurde eine lebhafte Diskussion abgehalten über den von
Dr. A. J. Westerman Holstijn am 14. Juni 1930 gehaltenen Vortrag:
„Bemerkungen über das Ichideal".
20. Dezember 1930 (Leiden). Dr. M. Ratan: „Bemerkungen über die
Psychoanalyse von Dementia paralytica." Sprecher skizziert seine Auffassung,
daß infolge der Nervengewebedestruktion und des Kampfes gegen das hinein-
dringende, luetische Virus im Falle von progressiver Paralyse ein Mangel
der psychischen Energie auftritt, wodurch das Ich zu einer Regression gezwungen
wird, bis zu einem Stadium, worin der Ödipuskomplex noch nicht untergegangen
ist. Dieses wird an der Hand zahlreicher männlicher Beispiele erläutert.
302
Korrespondenzblart
Dr. H. C. Jelgersma: „Die Psychoanalyse von Dementia senilis." Vortragender
weist auf die Ühereinstimmungen zwischen Operationsdelirien, Delirie
der Sterbenden und Gedankeninhalt von senil Dementen hin, 'wobei er
in allen diesen Fällen autistische Gedanken findet, hauptsächlich neben
Verwirrtheit, ein Rückzug aus der unangenehm empfundenen Realität, weniger
Einbildungserscheinungen. Er findet Verdrängungen von negativ betonten
Tatsachen (Anstaltsaufnahme, geistige und körperliche InvaHdität usw.) neben
Reproduktionen von traurigen Gedankeninhalten als Äußerung des Wieder-
holungszwangs. Was die Triebe der senil Dementen angeht, wird eine Herab-
setzung der libidinösen Triebe (Lebenstriebe) angenommen, welche Herab-
setzung schon im normalen Greisenalter festzustellen ist und für das leichtere
Sterben im hohen Alter eine Erklärung gibt. Bei Schizophrenen, welche
später senil dement werden, sieht man aus diesen Gründen ein Aufhören der
wahnhaften Gebilde. Im Beschäftigungsdelir, das nur im Anfang und Höhe-
punkt der Krankheit auftreten soll, findet man eine Überkompensierung des
Libido Verlustes.
A. Endtz,
Sekretär
New York Psydioanalytic Society
IV. Quartal 1930
28. Oktober 1930. Dr. Zilboorg: Über Übertragungsbeziehungen. Der
erste Teil behandelt die Analyse von Selbstmordimpulsen auf Grund eines
Übertragungstraumes und einer Übertragungssituation, der zweite Teil die
Deutung eines während der Analyse aufgetretenen Hautausschlages, der sich
auf infantile sexuelle Reaktionen zurückführen läßt.
Dr. Stern: Männlichkeit als Maske für männliche Homosexualität. Klinischer
Bericht über einen Fall von zwanghaftem Schwanken zwischen manifester
Hetero- und Homosexualität.
In der Geschäftssitzung wurden Dr. Susanna Haigh und Dr. Sarah A. Bonnet,
die bisher außerordentliche Mitglieder waren, zu ordentlichen Mitgliedern
gewählt. Dr. Edward Liß und Dr. Raymond Gosselin wurden zu ordentlichen
Mitgliedern gewählt, Dr. Lawrence S. Kubie zum außerordentlichen Mitglied.
Dr. Ives Hendrick aus Boston wurde als auswärtiges Mitglied aufgenommen.
Der Unterrichtsausschuß kündigt ein Seminar für social workers an. um die
Aufnahmsbedingungen den andern Zweigvereinigungen anzugleichen, wird in
den Statuten, die sich auf die Zulassung nichtärztlicher Personen beziehen, die
folgende Änderung angebracht:
„Nichtärztliche Kandidaten sollen die Möglichkeit haben, die außerordentliche
Mitgliedschaft zu erwerben. Diese Kandidaten müssen das Baccalaureat an
einem anerkannten College oder einer Universität erworben haben, müssen
einen plausiblen Grund für ihr mangelndes Medizinstudium haben und müssen
eine dreijährige Ausbildung in der Psychoanalyse an einem amerikanischen
oder europäischen Lehrinstitut entsprechend den Bedingungen der Internationalen
Unterrichtskommission nachweisen können."
Korrespondenzblatt
303
Pfarrer O.
fi. November 1950.
den Navaho-Indianern. (Sondersitzung.'
Pf ister: Instinktive Psychoanalyse bei
Der Autor beschreibt einen Zustand
von Depression bei einem Navaho-Indianer nach einem Traum, der den Tod
seines Sohnes darstelh. Die Gesänge und Zeichnungen, die dazu dienen sollen,
seine Schuldgefühlsreaktion zu überwinden, werden geschildert und durch
Photographien illustriert. Diskussion eines ähnlichen Falles, der in der
ethnologischen Literatur geschildert wird.
25. November 1950. Dr. Brill: Das Dichten als Ausdruck oraler Tendenzen.
Die Freude am Gedichtemachen -wird auf ihre infantilen Wurzeln zurück-
geführt, auf das Lallen der Kinder in den oralen Phasen der Libidoentwicklung.
Der orale Inhalt wird an zahlreichen Beispielen gezeigt. Beispiele aus der
Lebensgeschichte verschiedener Dichter zeigen den manisch-depressiven und
oralen Typus.
In der Geschäftssitzung teilt Dr. Brill mit, daß er eine Spende von
j,o.ooo Dollar erhalten hat, die zur Gründung eines psychoanalytischen
Instituts in New York verwendet werden soll. — Prof. Schilder überträgt
seine Mitgliedschaft von der Wiener auf die N. Y. Gruppe.
50. Dezember 1950. Gemeinsame Sitzung mit der American Psychoanalytic
Association.
1 . Dr. Brill: Olfactory Manifestations in the Neuroses. Reichhaltiges
Beispielmaterial aus dem Gebiet der Neurosen und Psychosen. Dr. Brill
erörtert die Rolle des Geruchsorgans in der organischen und psychologischen
Entwicklung und bezieht sich auf die von Freud vertretene Ansicht, daß die
Verdrängung der Geruchsempfindungen mit dem Beginn des aufrechten Ganges
zusammenhängt.
2. Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin, a. G.): Konstitutionsvarianten
und Psychoanalyse. Der Sprecher stimmt mit dem größten Teil der Freud-
schen Ansichten über die psychosexuelle Entwicklung überein und betont, von
seinen eigenen Forschungen ausgehend, besonders den konstitutionellen Faktor.
Er meint, daß die richtige Würdigung des konstitutionellen Faktors bei den
Neurosen zur Einführung einer „Nachkur' führen könnte, bei der man ver-
sucht, die äußere Umgebung des Patienten seinen konstitutionellen Bedürfnissen
anzupassen.
5. Dr. Zilboorg: Technische Probleme in der Analyse von Patienten
mit Selbstmordneigungen. In zwei Fällen, bei denen während der Analyse
Selbstmordgefahr auftrat, gelang es dem Sprecher, die Gefahr abzuwenden,
dadurch, daß er durch ein bestimmtes aktives Vorgehen die Feindseligkeit
des Patienten auf sich wendete. Die Frage wird diskutiert, ob es unter solchen
Umständen nicht günstig sein könnte, sogar begründete Haßregungen beim
Patienten hervorzurufen.
4. Dr. Lorand: Das technische Vorgehen in einem Fall von extremem
Masochismus. Nachdem der Patient ein Jahr lang bei einem andern Analytiker
in Behandlung gewesen war, ohne eine Änderung seiner extrem passiven
Reaktionen zu zeigen, entschloß sich der Sprecher in einem geeigneten Moment
zur aktiven Therapie in Form von Verboten, die sich auf Koitus und Darm-
tätigkeit bezogen. Folge davon war eine Änderung in den sexuellen Phantasien
des Patienten und eine Steigerung seiner aggressiven Tendenzen.
304 Korrespondenzblatt
I. Quartal 1931
27. Januar 1951. Dr. Ives Hendrick: Ego Defense and the Mechanism
of Oral Ejection in Schizophrenia. — Bericht über die neunmonatige Analyse
einer jungen Frau. Sie beginnt mit sich wiederholenden Äußerungen von
Phantasien aus der phallischen Phase, macht dann einen Versuch, zu oralen
Phantasien zu regredieren, wobei statt der häufiger üblichen kannibalistischen
Äußerungen Erbrechen auftritt. Patientin hatte eine frühe prägenitale Fixierunff
an das Erbrechen. Die Bedeutung dieses Mechanismus in Beziehung zum
Aufbau des Über-Ichs wird erörtert. — Diskussion: Lewin, Sullivan (als Gast)
Silverberg, Hinsie, Zilboorg und Brill.
24. Februar 1951. Dr. C. P. Oberndorf: Examples of Speech Disturbances
— a Clinical Communication. — Bericht über die Deutung interessanter
Neologismen bei neurotischen und psychotischen Patienten. Diskussion: Smith
Jelliffe.
Prof. Paul Schilder: On Neurasthenia. — Ein psychoneurotischer Patient
zeigt dem ersten Anschein nach neurasthenische Symptome. Darstellung des
Materials aus der siebenmonatigen Analyse, zum größten Teil homosexuelles
Material und Material aus dem Kastrationskomplex. Der Vortragende deutet
verschiedene Projektionen, Vorstellungen über den Körper des Analytikers auf
der Basis seiner Auffassung eines „postural model of the body . Diskussion:
Kardiner, Lew^in, Levy, Zilboorg, Hendrick, Liß.
31. März 1931. Dr. G. Roheim (als Gast): Psycho-analytic Technique and
Field Anthropology. — Der Vortragende bespricht die Einstellung verschiedener
Anthropologen zu ihrem Arbeitsgebiet und zeigt, wie die Anwendung analytischer
Technik auf das Studium von Individuen aus primitiven Stämmen, besonders
freie Assoziation, Traumdeutung, Terminsetzung usw., Einblicke sowohl in die
Individualpsychologie der Primitiven wie auch in den Aufbau ihrer Gemeinschaft
verschafft. Er bringt zur Illustration mehrere Traumanalysen bei Papuanern
und Zentralaustraliern. Diskussion: Dr. Brill.
In der Generalversammlung im Januar vyurden folgende Funktionäre ge-
wählt: Dr. A. A. Brill (Präsident); Dr. S. E. Jelliffe (Vizepräsident); Dr. B. D.
Lewin (Sekretär); Dr. Ames Blumgart und Meyer (Beiräte). In einer späteren
Sitzung wird Dr. Monroe A. Meyer zum Kassier gewählt. — Unterrichts-
komitee: Dr. A. Kardiner (Vorsitzender) und Dr. Feigenbaum, Jelliffe, Lehrman,
Lewin, Meyer, Oberndorf, Shoenfeld, Stern, Zilboorg. — Wissenschaftliches
Komitee: Dr. Feigenbaum (Vorsitzender) und Dr. Lorand, Bunker.
Dr. Lawrence S. Kubie wird zum ordentlichen Mitglied gewählt.
Dr. Smiley Blanton, Vassar College, Poughkeepsie, N. Y. wird zum
auswärtigen Mitglied gewählt.
Dr. Bertram D. L e w i n,
Sekretär
Korrespondenzblatt
305
Society Psydianalytique de Paris
IV. Quartal I930
ZI. Oktober 1930. Die Gruppe bestimmt die Referenten für die Conference
des Psychanalystes de langue francaise im Jahre 1951.
Dr. Parcheminey und Madame Jouve Reverchon werden über Hysterie
sprechen. Dr. Odier übernimmt die Organisation und Leitung der vorbereitenden
Sitzungen zum Studium der klinischen Fälle.
Mme. Marie Bonaparte bespricht die Analyse eines Falles. Der Patient ist
an die anal-sadistische Phase des Ödipuskomplexes fixiert, koprophile
Phantasien und visuelle Vorstellungen phallischer Frauen stehen im Vorder-
grund. Die Analyse konnte keine besondere Besserung herbeiführen, während
eine von Dr. Borel durchgeführte psychotherapeutische Behandlung Erleichterung
brachte.
18. November 1950. Dr. Schiff wird zum außerordentlichen Mitglied
gewählt. Dr. Nacht berichtet über die Analyse eines Falles von Zwangsneurose
mit Perversionen (sadomasochistisch), den er in einigen Monaten Analyse
zur Heilung bringen konnte. Diskussion.
16. Dezember 1950. Als Termin für die Conference des Psychanalystes
de langue frangaise virird der Juni 1951, als Ort Paris bestimmt.
Dr. R. Laforgue: Über Analerotik. — Zur Geschichte des Begriffes. Rolle
der Analerotik in der normalen Entwicklung des Individuums. Beziehungen
zum primitiven Denken, zum Sadomasochismus, zur Selbstbestrafung, Homo-
sexualitäten, Psychoneurosen im allgemeinen; Sublimierungsformen.
Diskussion über den Begriff des analen Komplexes usw., über die Beziehungen
der psychologischen Elemente zur Funktion des Anus usw.
I. Quartal 1931
20. Januar 1951. Generalversammlung. Zu Funktionären werden gewählt:
Dr. Parcheminey (Präsident) ; Dr. Odier (Vizepräsident) ; Dr. Allendy (Sekretär) ;
Dr. Nacht (Kassier). — Verschiedene Fragen betreffs Teilnahme am Inter-
nationalen Kongreß in Interlaken werden besprochen.
5. Februar 1951. Außerordentliche Sitzung. Prof Beltram aus Buenos Aires
spricht über Anwendung der Psychoanalyse auf die Kriminalität. Darstellung
eines Falles. Diskussion.
i8. Februar 1951. Dr. Hesnard: Phantasmes erotiques. Diskussion.
18. März 1951. Mme. Sokolnicka: Über psychoanalytische Technik. —
Über die Möglichkeit der Abkürzung der Behandlungsdauer durch systematische
Durchforschung der Todesangst. Allgemeine Diskussion.
Prof. Beltram aus Buenos Aires und Dr. E. Rieti, Arzt am Asile de Turin,
werden zu außerordentlichen Mitgliedern gewählt. »
Dr. R. Allendy,
Sekretär
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/2
306 Korrespondenzblatt
Schweizerisdie Gesellsdiaft für Psychoanalyse
IV. Quartal 1930
15. September 1950. Dir. Dr. med. A. Kiel holz, Königsfelden. Gift-
mord und Vergiftungsw^ahn.
Die Psychologie des Giftmordes und Vergiftungswahnes steht in engem
Zusammenhang und ergänzt sich gegenseitig. Inzest und Schwängerung spielen
darin eine wichtige Rolle. Letzten Endes ist es der Mutterleib, um dessen
alleinigen Besitz gekämpft wird, und dessen Sekrete und Exkrete sind die
magischen Stoffe, von w^elchen die Gifte zur Beseitigung unerwünschter Neben-
buhler abgeleitet werden. Im Giftw^ahn wird dieser Kampf in die eigene
Person introjiziert. Der Giftmörder projiziert ihn auf das, was w^ir als sym-
bolische Darstellung des Mutterleibes auffassen. Die Se- und Exkrete sind
deswegen so gefährlich und giftig, weil ihre Erwerbung und ihr Besitz einem
Inzest gleichkommt, aber mit Kastration und Tod geahndet wird. (Autoreferat.)
Diskussion: Sarasin, Blum, Behn-Eschenburg, Steiner, Kielholz.
18. Oktober. 1930. Dir. Dr. med. A. R ep o n d, Malevoz: Über den Schlaf.
Diskussion: de Saussure, Sarasin, Blum, Furrer, Frau Behn-Eschenburg,
Repond.
29. November. 1950. Pf. Dr. O. Pfister, Zürich: Intuitive Psycho-
analyse der Navaho-Indianer.
Bericht und psychoanalytische Durchleuchtung zweier Heilungen eines
Navaho-Medizinmannes. Er erkennt bei einer psychogenen Depression intuitiv
die ubii> Todeswünsche des Patienten auf Angehörige, ebenso die Inzest-
wünsche einer Patientin, die an Unfruchtbarkeit leidet. An den Heilzeremonien
nimmt der ganze Stamm teil, sie dauern mehrere Tage. Sandzeichnungen mit
durchsichtiger Symbolik bilden die Hauptheilmittel. Photographien veran-
schaulichen das Referat, das neben psychoanalytischem weitschichtiges, völker-
kundliches und völkerpsychologisches Material zutage fördert.
Diskussion ; Sarasin, Blum, Zulliger, Frau Behn-Eschenburg, Kielholz, Pfister.
15. Dezember 1950. Dr. med. H. Christoffel, Basel: Angst und
Angstneurose.
Referent bringt eine aufbauende Zusammenfassung der psychoanalytischen
Erforschung der Angst und Angstneurose und der Wandlungen der Ansichten
über diese beiden Erscheinungen, die Theorie und die Therapie betreffend.
Diskussion: Pfister, Furrer, Behn-Eschenburg, Sarasin, Blum, Dr. Boß
(a. G.), Christoffel.
In zwei Vorstandssitzungen und einer geschäftlichen Sitzung am 29. November
wurde der IPV-Kongreß 1931 vorbereitet. Beschluß, dem Vorstand der IPV
vorzuschlagen: Interlaken, 6. bis 10. September 1931. Beginn der wissen-
schaftlichen Sitzungen am 7. September um 9 Uhr morgens. Die Räumlich-
keiten wurden besichtigt, mit der Hotelier- und Kursaalgesellschaft unter-
handelt und Unterhandlungen mit den Bahngesellschaften zum Zw^ecke von
Fahrpreisvergünstigungen an Teilnehmer eingeleitet.
Korrespondenzblatt
307
I. Quartal 1931
1. Sitzung, 11. Januar 1951. Dr. med. G. Bally, Berlin: Die ökonomische
Bedeutung der Über-Ich-Funktion.
Diskussion: Pfister, Furrer, Dr. Scheller (a. G.), Sarasin, Frau Behn-
Eschenburg, Bally.
2. Sitzung, Jahresversammlung, 24. Januar 1951. Pfr. Dr. O. Pfister,
Zürich: Analyse eines jugendlichen Gewohnheitsdiebes und Totschlägers.
In Amerika hatte der Ref. Gelegenheit, einen jungen Dieb und Tot-
schläger im Gefängnis zu besuchen und ihn einige Stunden zu sprechen. Das
Material wurde dann unter psa. Gesichtspunkte gestellt, nachgewiesen, was
die Symptome bedeuten, und daß die Kriminalität des jungen Rechtsbrechers
eine beträchtliche Ambivalenzspannung zur Grundlage hatte. (Der Aufsatz er-
scheint in der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik", Juliheft 1931.)
Diskussion : Blum, Furrer, Sarasin, Boß (a. G.), Behn-Eschenburg, Steiner,
Zulliger, Rielholz, Pfister.
Geschäftliche Sitzung: Nach Genehmigung der Berichte w^erden der alte
Vorstand und die bisherige U.-K. wiedergewählt. Rechnungsrevisoren : de
Saussure und Furrer. Mitgliederbeitrag wie im vorherigen Jahre. An die
Mitglieder ergeht die Aufforderung, alles zum Gelingen des I. P.-V.-Kongresses
beizutragen und Aufsätze für ein Sonderheft „Schweiz der Zeitschrift:
Psychoanalytische Bewegung einzuschicken.
g. Sitzung, 7. Februar 1951. Zulliger: Ein jugendliches Diebskleeblatt.
Wird in der „Zeitschrift für psa. Pädagogik" publiziert.
Diskussion : Sarasin, Repond, Kielholz, Frau Dr. Blum, Frau Behn-
Eschenburg, Steiner, Blum, Zulliger.
4. Sitzung, 21. Februar 1931. Priv.-Doz. Dr. med. R. de Saussure:
Le miracle grec.
Ausgehend von Freuds „Totem und Tabu', macht Ref. den Versuch,
das „Griechische Wunder (Renan) auf die Entwicklung, den Ablauf und
die Verarbeitungsmöglichkeit des generellen Ödipuskomplexes zurückzuführen.
Wir sehen in Griechenland die Befreiung des Individuums vom Druck des
in der Familie allmächtigen Vaters, und als deren Folge das meteorhafte
Aulblühen wissenschaftlicher Welterfassung im Gegensatz zur Mystik.
Diskussion: Sarasin, Repond, Zulliger, Blum, de Saussure.
5. Sitzung, 28. März 1931. Dir. Dr. med. A. Kielholz: Teil und
Parricida.
Aus den verschiedenen Varianten über Tat und Schicksal des Parricida
und aus den bildnerischen und dramatischen Darstellungen der Teil-Geschichte
im Laufe der Jahrhunderte, sowie aus Sagen, Märchen und Volksbräuchen,
die sich mit dem rächenden Schützen befassen, werden einige psa. Schlüsse
gezogen und zu zeigen versucht, warum man heute von einer Teil-Renaissance
sprechen kann. (Autoref.) (Der Vortrag erscheint in der „Psychoanalytischen
Bewegung", Juli- Augustheft 1931.)
In der U.-K. wurden die Vorschläge und Anträge der I. U.-K. betreffend
Ausbildungsbedingungen auf dem Zirkulationswege diskutiert.
308
Korrespondenzblatt
Verschiedene Mitglieder (Pfister, Frau Behn-Eschenburg, Zulliger) sprachen
verschiedenenortes auf Einladung privater Vereine über die Anwendung der
PsA. in Seelsorge, Erziehung und Heilerziehung.
Hans Zulliger
Sekretär
Wiener Psydhoanalytische Vereinigung
IV. Quartal I930
8. Oktober 1950. Ordentliche Generalversammlung. Programm: Bericht 1.
des Vorstandes (Dr. Federn), 2. des Ambulatoriums (Dr. Hitschmann)
und technischen Seminars (Dr. Reich,) 5. des Lehrinstituts (Frau Dr.
Deutsch), 4. des Bibliothekars (Dr. Wälder), 5. des Verlages (Dir.
Storfer), 6. des Kassiers (Dr. Bibring), 7. der Revisoren (Dr. Jekels
Dr. Steiner), 8. Festsetzung des Jahresbeitrages (S 125. — einschließlich
beider Zeitschriften). 9. Erteilung des Absolutoriums. 10. Neuvvrahl des Vor-
standes und der Funktionäre: Prof. Freud (Obmann); Dr. F e d e r n (Obmann-
Stellvertreter) ; Dr. N u n b e r g, Dr. J o k 1 (Schriftführer) ; Dr. Bibring
(Kassier) ; Dr. Wälder (Bibliothekar) ; Frau Dr. Deutsch (Leiterin des
Lehrinstituts) ; Dr. Hitschmann (Leiter des Ambulatoriums) ; Dr. Reich
(in dessen Vertretung Dr. Bibring, Dr. Nunberg), Seminarleiter. 11.
Beschlüsse und Anträge des Vorstandes : a) betreffend die Verpflichtung auch
der außerordentlichen Mitglieder zum Bezug beider Zeitschriften, b) betreffend
die Einhebung nichtbezahlter Monatsbeiträge. 12. Anträge. 15. Allfälliges.
22. Oktober 1950. Vortrag Dr. Otto Isakovsrer: Formale Grundlage
der Symptome bei Zwangsneurose und Katatonie.
Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Hartmann, Mack-Brunswick, Nunberg,
Sperling, Stengel, Wälder.
5. November 1950. Vortrag Dr. Eduard Bibring: Zur Frage des Objekt-
wechsels bei Paranoia.
Diskussion: Frau Deutsch, Nunberg, Reich, Wälder.
26. November 1950. Fortsetzung der Diskussion zu obigem Vortrag: Bibring
(Ergänzungsreferat); Eideiberg, Federn, Jekels, Nunberg, Sadger, Sperling.
10. Dezember 1950. Kleine Mitteilungen und Referate.
1. Dr. Wechsler (a. G.): Über das Nägelbeißen. Diskussion: Frau Deutsch,
Federn, Hitschmann, Hartmann, Storfer, Wälder.
2. Dr. St erb a: Vergleich zwischen Mutter und Dirne. Diskussion: Frau
Deutsch, Storfer.
5. Dr. John M. Murray (a. G.): Die anthropologische Bedeutung des
Ödipuskomplexes, Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Hoffmann, Nunberg, Frau
Reich, Wälder, Wechsler (a. G.).
4. Dr. Federn: a) Die Bedeutung der Vorsilbe „ver". Diskussion: Frau
Deutsch, Feßler (a. .G.), Isakower, Storfer, Wälder, b) Zwang, etwas in Reserve
haben zu müssen. Diskussion : Frau Deutsch, Hoffer, Nunberg, Wälder, c) Woher
kommt es, daß die Menschen so begeistert sind, zu rasch zu fahren? Dis-
kussion: Doz. Deutsch, Frau Deutsch, Jekels, Murray (a. G.), Nunberg, Reich,
Storfer.
Korrespondenzblatt
309
Geschäftliches:
Zu ordentlichen Mitgliedern wurden gewählt: Dr. Otto Isakower, Wien,
VIII-, Piaristengasse 58; Frau Dr. Editha Sterba-Alberti, Wien, VI.,
Mariahilferstraße 71.
In die Wiener Psychoanalytische Vereinigung ist übergetreten das ordent-
liche Mitglied der New York Psycho- Analytic Society Frau Dr. Ruth M a c k-
Brunswicfc, Wien, XVIII., Hasenauerstraße 19.
In die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft wurde als ordentliches Mit-
glied übernommen das außerordentliche Mitglied der Wiener Psychoanaly-
tischen Vereinigung Dr. R. A. Spitz, Berlin-Grunewald, Taubertstraße 5.
Ihre Adresse haben geändert: Dr. Stephan Betlheim, Zagreb, Marnlicev
trg 17/n., Jugoslawien; Prof. M. Le vi-Bianchini, Nocera Inferiore (Salerno-
Campania), Italien; Dr. Fritz Witteis, 70 Park Ave. N. Y. City, U. S.A.
I. Quartal 1931
7. Januar 1951. Kleine Mitteilungen und Referate.
1. Dr. Federn: Weshalb haben viele Menschen eine Freude am raschen
Autofahren? Diskussion: Jekels, Schur (a. G.), Stengel.
2. Frau Dr. Reich: Nachtrag zum Vortrag von Dr. Bibring: „Über
Objektwechsel bei Paranoia." Diskussion: Bibring, Frau Deutsch, Federn,
Jekels, Nunberg.
21. Januar 1931. Kleine Mitteilungen und Referate.
1 . Dr. F e ß 1 e r (a. G.) : Potenzstörungen nach urologischen Operationen.
Diskussion: Federn, Hartmann, Sperling, Steiner.
2. Dr. Stengel: Beiträge zur Kenntnis abnormer Schicksale des Ödipus-
komplexes. Diskussion: Frau Bornstein (a. G.), Doz. Deutsch, Frau Deutsch,
Federn, Frl. Freud, Hitschmann, Mack-Brunswick, Nunberg, Stengel.
4. Februar 1931. Vortrag Dr. Eduard Hitschmann: Zur Psychologie
des Junggesellen. Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Storfer.
18. Februar 1931. Diskussionsabend: Thema: „Kritik der Widerstands-
systematik." Einleitendes Referat: Dr. Richard Sterba. Diskussion: Frau
Bibring, Frau Deutsch, Eideiberg, Federn, Frl. Freud, Hoffmann, Isakower,
Jekels, Mack-Brunswick, Nunberg, Frau Reich, Wälder, Winterstein.
4. März 1931. Vortrag Dr. Ludwig Eideiberg: Zur Indikation der
psychoanalytischen Behandlung. Diskussion: Prinzessin Bonaparte (a. G.),
Federn, Hartmann, Hitschmann, Hoffmann, Jekels, Jokl, Schur (a. G.), Sperling,
Steiner, Stengel, Tuchfeld (a. G.).
18. März 1931. Kleine Mitteilungen und Referate.
1. Frau Dr. Reich: Über einen Übertragungserfolg. Diskussion: Frau
Deutsch, Federn, Hitschmann, Steiner.
2. Prinzessin Marie Bonaparte (Paris, a. G.): Eine Bestätigung der Gleichung:
Kot — Penis — Geld. Diskussion: Federn, Hitschmann, Jekels, Mack-Brunswick.
3. Frau Dr. Mack-Brunswick: „Das Stottern meines Kindes." „Das
Kaputtsein." Diskussion: Frau Behn-Eschenburg (Zürich, a. G.), Frau Bornstein
(Berlin, a. G.), Frau Deutsch, Federn, Hartmann, Hitschmann, Rronengold,
Schur (a. G.), Steiner, Wälder.
310
Korrespondenzblatt
4. Dr. Sterba: Eine Hilfs Vorstellung für die Lehre vom Narzißmus.
Diskussion: Federn, Hartmann.
Geschäft liehe s:
Zum ordentlichen Mitglied wurde gewählt ; Dr. Gustav
Bychovski, Warschau, Miodowa 2 1 , Polen.
Zum außerordentlichen Mitglied wurde gewählt : Dr. George
Morgenthau, 1116 East Forty-Sixth Street, Chicago, U. S. A.
Ihre Adresse haben geändert: Dr. Wilheln Hof fei-, Wien, IX., Lust-
kandlgasse 12; Dr. Edoardo Weiß, Roma 126, Via dei Gracchi 528 A,
Italien.
Dr. R. H. Joki
Sdiriflführer
DRUCKFEHLERBERICHTIGUNG
In der im vorigen Heft erschienenen Arbeit von Ladislaus F e ß 1 e r, „Psychogene
Potenzstörungen nach urologischen Operationen", ist auf Seite 155 der dritte Absatz
von oben („Bei der engen Verknüpfung . . . auch nur einen Tropfen herauszupressen".)
ein Zitat aus der in der Fußnote angegebenen Arbeit von Ferenczi, das aber
durch ein Versehen der Druckerei ohne Anführungsstriche abgedruckt wurde.
REFERATE
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Storch, A.: Die Welt der beginnenden Schizophrenie
und die archaische Welt. Ein existential-analytisdier
Versudi. Ztsdir. f. d. gesamte Neurologie und Psydiiatrie, Bd. 127,
Heft 4-5-
Eine existential-analytische Untersuchung der Schizophrenie hat die Aufgabe,
„. . . die seelische Struktur des Schizophrenen als Weise eines veränderten
In-der-Welt-Seins (Heidegger) zu erfassen." Dabei ergibt sich das Problem, in
welchem Sinne der psychisch Kranke noch eine Welt hat. Storch versucht
charakteristische Züge der Weltveränderung der Schizophrenen durch Vergleich
mit der Welt der Primitiven deutlicher zu machen. Die Analogien ergeben
sich aus dem Vorherrschen des magisch-animistischen Lebensgefühls und einer
solchen Denkweise bei den Schizophrenen. Der elementare Ausdruckscharakter
alles Erscheinenden, das Zusammenfallen von Name und Person, Bild und
Abgebildetem, die ungeheure Tendenz zu Identifizierung, die zum Fallen der
Ichschranke führt, sind nach Storch die gemeinsamen Züge bei den
Primitiven und bei den Schizophrenen. Die Verschiedenheiten zeigen sich,
wenn man die Welten als Ganzes vergleicht, sie liegen vor allem im Sozialen.
Das Magische ist bei den Primitiven eine soziale Wirklichkeit, die er mit
den andern teilt. Während der Schizophrene in einer nur für ihn allein
bedeutsamen „neuen" Welt lebt. Der Primitive bleibt in der Geborgenheit
des Miteinander, dem Schizophrenen erschließt sich die neue Welt im
Untergang seiner bisherigen Welt.
Damit sind die Unterschiede freilich noch nicht erschöpft. Storch betont
auch, daß ein solcher entwicklungspsychologischer Gesichtspunkt nur vorsichtig
und stets im Bewußtsein, daß es sich um Analogien handelt, angewendet
werden kann. Jene tiefen Veränderungen, die durch den Krankheitsprozeß
die ganze Existenz der Schizophrenen verwandeln, charakterisiert Storch
dahin: „Es ist die traumartig schwebende Daseinsweise eines aus der vertrauten
Welt ins Bodenlose herausgestoßenen Menschen, der kein Zuhause mehr
hat, nicht im Miteinander und nicht im In-sich-selbst-Sein, und der die
Vernichtung seiner historischen Existenz als Vernichtung seines Lebenssinnes,
als Weltuntergang, erlebt.
3t2
Referate
Storch wollte mit dieser Arbeit: „. . .Wert und Bedeutung existential-
analytischer Untersuchungen auch im Seinsbereich des Psychopathologischen
eindringlich erweisen. " Nach dem Eindruck des Referenten ist ihm das nicht
gelungen. An Stelle des klaren Herausarbeitens psychologischer Zusammenhänge
hat er nur eine verschwommene Terminologie gesetzt.
Gero (Berlin)
Herzberg, Alexander (Berlin): Analyse der Suggestiv-
phänomene und Theorie der Suggestion. Karger,
Berlin, I93O, 128 S.
Um "gegenüber der Vielfältigkeit der Anschauungen über das Wesen der
Suggestion einen festen Punkt zu gewinnen, legt der Autor seinen Überle-
gungen eine detaillierte Analyse einiger Phänomene zugrunde, deren Charakter
als Suggestionserscheinungen unbestritten ist (experimentelle Wachsuggestion,
Suggestivfrage, therapeutische Suggestion, hypnotische Suggestion). Als Defini-
tion der Suggestion ergibt sich: „Eine Äußerung, welche durch ihren Kund-
gabecharakter die Übernahmefaktoren des Empfängers in dem Grade aktualisiert,
daß sie seinen Erfahrungen, kritischen Gewohnheiten, Anschauungen, Gewöh-
nungen, Strebungen, eventuell den Nachwirkungen rezenter Erlebnisse entgegen
die Übernahme der kundgegebenen Stellungnahme erzwingen" — eine Defi-
nition, die sich in wesentlichen Punkten einerseits mit der von Schilder,
anderseits mit der von Erwin Straus deckt. Die Divergenzen der bisherigen
Suggestionstheorien erklärt Verf. aus dem Umstände, daß die Autoren aus dem
Gesamtbereich der Suggestionserscheinungen bald dies, bald jenes Stück heraus-
greifen, anderes aber vollkommen ignorieren. Herzbergs eigene Theorie ist
viel weniger befriedigend als seine Analyse der zugrundeliegenden Phänomene;
u. zw. deshalb, weil er eine Reihe von Faktoren unvereinheitlicht nebenein-
anderstellt, ohne den Versuch zu machen, sie nach ihrem strukturellen Stellen-
wert oder dynamischen Wirkungswert zu ordnen. Aber erst eine derartige
Vereinheitlichung würde etwas ergeben, das man mit Recht als eine Theorie
der Suggestion bezeichnen könnte. Die Ablehnung einer strafferen Zusammen-
schau oder Zusammenfassung der Phänomene läßt den Autor auch der streng
genetisch-dynamischen Theorie der Psychoanalyse fremd gegenüberstehen
(wobei noch im besonderen zu bemerken wäre, daß er den Begriff der
Sexualtriebe, wie ihn Freuds Theorie der massenpsychologischen Erscheinun-
gen und der Hypnose zugrundelegt, offenbar nicht in dem Sinne verstanden
hat, wie die Psychoanalyse ihn umgrenzt). h_ Hartmann (Wien)