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Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XVII 1931 Heft 3"

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XVII. BAND 


1931 


HEFT 3 


Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 

Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Herausgegeben von 


Sigm. Freud 


Unter Mitwirkung von 


Girindrashekhar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones Y. K. Yabe 

Kalkutta New York Wien London Tokio 

J. W. Kannabich G. Pardxeminey J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin 

Moskau Paris Haag Basel 

redigiert von 

M. Fitingon, S. Ferenczi, Sandor Ilado 


Berlin 


Budapest 


Berlin 


Sigm. Freud 
Über libidinöse Typen 

Sigm. Freud 

Über die weibliche Sexualität 

Benedek . . Todestrieb und Angst 
Schilder . . Über Neurasthenie 
Sharpe ... Sublimierung und Wahnbildung 
Zulliger. . . Alkoholismus als passageres Symptom 
Sterba .... Gleichstellung von Mutter und Dirne 

und andere Beiträge 


















Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 


Herausgegeben von Sigm. Freud 



Heft 3 


1931 


Über libidinöse 



Von 

Sigm. Freud 


Unsere Beobachtung zeigt uns, daß die einzelnen menschlichen Personen 
das allgemeine Bild des Menschen in einer kaum übersehbaren Mannig¬ 
faltigkeit verwirklichen. Wenn man dem berechtigten Bedürfnis nachgibt, 
in dieser Menge einzelne Typen zu unterscheiden, so wird man von vorne- 
herein die Wahl haben, nach welchen Merkmalen und von welchen 
Gesichtspunkten man diese Sonderung vornehmen soll. Körperliche Eigen¬ 
schaften werden für diesen Zweck gewiß nicht weniger brauchbar sein 
als psychische; am wertvollsten werden solche Unterscheidungen sein, die 
ein regelmäßiges Beisammensein von körperlichen und seelischen Merk¬ 
malen versprechen. 

Es ist fraglich, ob es uns bereits jetzt möglich ist, Typen von solcher 
Leistung herauszufinden, wie es später einmal auf einer noch unbekannten 
Basis gewiß gelingen wird. Beschränkt man sich auf die Bemühung, bloß 
psychologische Typen aufzustellen, so haben die Verhältnisse der Libido 
den ersten Anspruch, der Einteilung als Grundlage zu dienen. Man darf 
fordern, daß diese Einteilung nicht bloß aus unserem Wissen oder unseren 
Annahmen über die Libido abgeleitet sei, sondern daß sie sich auch in 
der Erfahrung leicht wiederfinden lasse und daß sie ihr Teil dazu bei¬ 
trage, die Masse unserer Beobachtungen für unsere Auffassung zu klären. 
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese libidinösen Typen auch auf 
psychischem Gebiet nicht die einzig möglichen zu sein brauchen, und daß 
man, von andern Eigenschaften ausgehend, vielleicht eine ganze Reihe 
anderer psychologischer Typen aufstellen kann. Für alle solche Typen muß 
gelten, daß sie nicht mit Krankheitsbildern zusammenfallen dürfen. Sie 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 21 



Ä B INTERNATIONAL 

DQVrunA M A I VTI 


PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 











314 


Sigm. Freud 


sollen im Gegenteil alle die Variationen umfassen, die nach unserer 
praktisch gerichteten Schätzung in die Breite des Normalen fallen. Wohl 
aber können sie sich in ihren extremen Ausbildungen den Krankheits¬ 
bildern annähern und solcherart die vermeintliche Kluft zwischen dem 
Normalen und dem Pathologischen ausfüllen helfen. 

Nun lassen sich je nach der vorwiegenden Unterbringung der Libido 
in den Provinzen des seelischen Apparats drei libidinöse Haupttypen unter¬ 
scheiden. Deren Namengebung ist nicht ganz leicht; in Anlehnung an 
unsere Tiefenpsychologie möchte ich sie als den erotischen, den narzi߬ 
tischen und den Zwangstypus bezeichnen. 

Der erotische Typus ist leicht zu charakterisieren. Die Erotiker 
sind Personen, deren Hauptinteresse — der relativ größte Betrag ihrer 
Libido — dem Liebesieben zugewendet ist. Lieben, besonders aber 
Geliebtwerden, ist ihnen das Wichtigste. Sie werden von der Angst vor 
dem Liebesverlust beherrscht und sind darum besonders abhängig von den 
anderen, die ihnen die Liebe versagen können. Dieser Typus ist auch in 
seiner reinen Form recht häufig. Variationen desselben ergeben sich je 
nach der Vermengung mit einem andern Typus und dem gleichzeitigen 
Ausmaß von Aggression. Sozial wie kulturell vertritt dieser Typus die 
elementaren Triebansprüche des Es, dem die andern psychischen Instanzen 
gefügig geworden sind. 

Der zweite Typus, dem ich den zunächst befremdlichen Namen 
Zwangs typus gegeben habe, zeichnet sich durch die Vorherrschaft des 
Über-Ichs aus, das sich unter hoher Spannung vom Ich absondert. Er 
wird von der Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst vor dem 
Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Abhängigkeit anstatt der äußeren, 
entfaltet ein hohes Maß von Selbständigkeit und wird sozial zum eigent¬ 
lichen, vorwiegend konservativen Träger der Kultur. 

Der dritte, mit gutem Recht narzißtisch geheißene Typus ist 
wesentlich negativ charakterisiert. Keine Spannung zwischen Ich und 
ÜberTch, — man würde von diesem Typus her kaum zur Aufstellung 
eines Über-Ichs gekommen sein, — keine Übermacht der erotischen 
Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung gerichtet, unabhängig 
und wenig eingeschüchtert. Dem Ich ist ein großes Maß von Aggression 
verfügbar, das sich auch in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im Liebes¬ 
ieben wird das Lieben vor dem Geliebtwerden bevorzugt. Menschen dieses 
Typus imponieren den anderen als „Persönlichkeiten“, sind besonders 
geeignet, anderen als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu über¬ 
nehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das 
Bestehende zu schädigen. 
























Über libidinöse Typen 


315 


Diese reinen Typen werden dem Verdacht der Ableitung aus der Theorie 
der Libido kaum entgehen. Man fühlt sich aber auf dem sicheren Boden 
der Erfahrung, wenn man sich nun den gemischten Typen zuwendet, die 
um so viel häufiger zur Beobachtung kommen als die reinen. Diese neuen 
Typen, der erotisch-zwanghafte, der e r o t i s c h - n a r z i ß t i s c h e 
und der narzißtische Zwangstypus, scheinen in der Tat eine 
gute Unterbringung der individuellen psychischen Strukturen, wie wir sie 
durch die Analyse kennen gelernt haben, zu gestatten. Es sind längst 
vertraute Charakterbilder, auf die man bei der Verfolgung dieser Misch¬ 
typen gerät. Beim erotischen Zwangstypus scheint die Über¬ 
macht des Trieblebens durch den Einfluß des Über-Ichs eingeschränkt; die 
Abhängigkeit gleichzeitig von rezenten menschlichen Objekten und ’von 
den Relikten der Eltern, Erzieher und Vorbilder erreicht bei diesem Typus 
den höchsten Grad. Der erotisch-narzißtische ist vielleicht jener, 
dem man die größte Häufigkeit zusprechen muß. Er vereinigt Gegensätze’ 
die sich in ihm gegenseitig ermäßigen können; man kann an ihm im 
Vergleich mit den beiden anderen erotischen Typen lernen, daß Aggression 
und Aktivität mit der Vorherrschaft des Narzißmus Zusammengehen. Der 
narzißtische Zwangstypus endlich ergibt die kulturell wertvollste 
Variation, indem er zur äußeren Unabhängigkeit und Beachtung der 
Gewissensforderung die Fähigkeit zur kraftvollen Betätigung hinzufügt und 
das Ich gegen das Über-Ich verstärkt. 

Man konnte meinen, einen Scherz zu machen, wenn man die Frage 
aufwirft, warum ein anderer theoretisch möglicher Mischtypus hier keine 
Erwähnung findet, nämlich der erotisch-zwanghaft-narzißtische. 
Aber die Antwort auf diesen Scherz ist ernsthaft: weil ein solcher Typus 
kein Typus mehr wäre, sondern die absolute Norm, die ideale Harmonie, 
bedeuten würde. Man wird dabei inne, daß das Phänomen des Typus eben 
dadurch entsteht, daß von den drei Hauptverwendungen der Libido im 
seelischen Haushalt eine oder zwei auf Kosten der anderen begünstigt 
worden sind. 

Man kann sich auch die Frage vorlegen, welches das Verhältnis dieser 
hbidinösen Typen zur Pathologie ist, ob einige von ihnen zum Übergang 
m die Neurose besonders disponiert sind, und dann, welche Typen zu 
welchen Formen führen. Die Antwort wird lauten, daß die Aufstellung 
ieser libidinösen Typen kein neues Licht auf die Genese der Neurosen 
wirft. Nach dem Zeugnis der Erfahrung sind alle diese Typen ohne Neu¬ 
rose lebensfähig. Die reinen Typen mit dem unbestrittenen Übergewicht 
einer einzelnen seelischen Instanz scheinen die größere Aussicht zu haben, 

reine Charakterbilder aufzutreten, während man von den gemischten 


21* 

















316 


Sigm. Freud: Über libidinöse Typen 


Typen erwarten könnte, daß sie für die Bedingungen der Neurose einen 
günstigeren Boden bieten. Doch meine ich, man sollte über diese Ver¬ 
hältnisse nicht ohne besonders gerichtete, sorgfältige Nachprüfung 
entscheiden. 

Daß die erotischen Typen im Falle der Erkrankung Hysterie ergeben, 
wie die Zwangstypen Zwangsneurose, scheint ja leicht zu erraten, ist aber 
auch an der zuletzt betonten Unsicherheit beteiligt. Die narzißtischen Typen, 
die bei ihrer sonstigen Unabhängigkeit der Versagung von seiten der 
Außenwelt ausgesetzt sind, enthalten eine besondere Disposition zur Psychose, 
wie sie auch wesentliche Bedingungen des Verbrechertums beistellen. 

Die ätiologischen Bedingungen der Neurose sind bekanntlich noch nicht 
sicher erkannt. Die Veranlassungen der Neurose sind Versagungen und 
innere Konflikte, Konflikte zwischen den drei großen psychischen Instanzen, 
Konflikte innerhalb des Libidohaushalts infolge der bisexuellen Anlage, 
zwischen den erotischen und aggressiven Triebkomponenten. Was diese 
dem normalen psychischen Ablauf zugehörigen Vorgänge pathogen macht, 
bemüht sich die Neurosenpsychologie zu ergründen. 

























f 


Über die weibliche Sexualität 

Von 

Sigm. Freud 

I 

In der Phase des normalen Ödipuskomplexes finden wir das Kind an 
den gegengeschlechtlichen Elternteil zärtlich gebunden, während im 
Verhältnis zum gleichgeschleehtlichen die Feindseligkeit vorwiegt. Es macht 
uns keine Schwierigkeiten, dieses Ergebnis für den Knaben abzuleiten. 
Die Mutter war sein erstes Liebesobjekt; sie bleibt es, mit der Verstärkung 
seiner verliebten Strebungen und der tieferen Einsicht in die Beziehung 
zwischen Vater und Mutter muß der Vater zum Rivalen werden. Anders 
für das kleine Mädchen. Ihr erstes Objekt war doch auch die Mutter; 
wie findet sie den Weg zum Vater? Wie, wann und warum macht sie 
sich von der Mutter los ? Wir haben längst verstanden, die Entwicklung 
der weiblichen Sexualität werde durch die Aufgabe kompliziert, die 

F ursprünglich leitende genitale Zone, die Klitoris, gegen eine neue, die 

Vagina, aufzugeben. Nun erscheint uns eine zweite solche Wandlung, der 
Umtausch des ursprünglichen Mutterobjekts gegen den Vater, nicht weniger 
charakteristisch und bedeutungsvoll für die Entwicklung des Weibes. In 
welcher Art die beiden Aufgaben mit einander verknüpft sind, können 
wir noch nicht erkennen. 

Frauen mit starker Vaterbindung sind bekanntlich sehr häufig; sie 
brauchen auch keineswegs neurotisch zu sein. An solchen Frauen habe 
ich die Beobachtungen gemacht, über die ich hier berichte und die mich 
zu einer gewissen Auffassung der weiblichen Sexualität veranlaßt haben. 
Zwei Tatsachen sind mir da vor allem aufgefallen. Die erste war: wo 
eine besonders intensive Vaterbindung bestand, da hatte es nach dem 
Zeugnis der Analyse vorher eine Phase von ausschließlicher Mutterbindung 
gegeben von gleicher Intensität und Leidenschaftlichkeit. Die zweite 
Phase hatte bis auf den Wechsel des Objekts dem Liebesieben kaum 
einen neuen Zug hinzugefügt. Die primäre Mutterbeziehung war sehr 
reich und vielseitig ausgebaut gewesen. 


1 












318 


Sigm. Freud 


Die zweite Tatsache lehrte, daß man auch die Zeitdauer dieser Mutter¬ 
bindung stark unterschätzt hatte. Sie reichte in mehreren Fällen bis weit 
ins vierte, in einem bis ins fünfte Jahr, nahm also den bei weitem 
längeren Anteil der sexuellen Frühblüte ein. Ja, man mußte die Möglich¬ 
keit gelten lassen, daß eine Anzahl von weiblichen Wesen in der 
ursprünglichen Mutterbindung stecken bleibt und es niemals zu einer 
richtigen Wendung zum Manne bringt. 

Die präödipale Phase des Weibes rückt hiemit zu einer Bedeutung auf 
die wir ihr bisher nicht zugeschrieben haben. 

Da sie für alle Fixierungen und Verdrängungen Raum hat, auf die wir 
die Entstehung der Neurosen zurückführen, scheint es erforderlich, die 
Allgemeinheit des Satzes, der Ödipuskomplex sei der Kern der Neurose, 
zurückzunehmen. Aber wer ein Sträuben gegen diese Korrektur verspürt, 
ist nicht genötigt, sie zu machen. Einerseits kann man dem Ödipus¬ 
komplex den weiteren Inhalt geben, daß er alle Beziehungen des Kindes 
zu beiden Eltern umfaßt, anderseits kann man den neuen Erfahrungen 
auch Rechnung tragen, indem man sagt, das Weib gelange zur normalen 
positiven Ödipussituation erst, nachdem es eine vom negativen Komplex 
beherrschte Vorzeit überwunden. Wirklich ist während dieser Phase der 
Vater für das Mädchen nicht viel anderes als ein lästiger Rivale, wenngleich 
die Feindseligkeit gegen ihn nie die für den Knaben charakterische Höhe 
erreicht. Alle Erwartungen eines glatten Parallelismus zwischen männlicher 
und weiblicher Sexualentwicklung haben wir ja längst aufgegeben. 

Die Einsicht in die präödipale Vorzeit des Mädchens wirkt als Über¬ 
raschung, ähnlich wie auf anderem Gebiet die Aufdeckung der minoisch- 
mykenischen Kultur hinter der griechischen. 

Alles auf dem Gebiet dieser ersten Mutterbindung erschien mir so 
schwer analytisch zu erfassen, so altersgrau, schattenhaft, kaum wieder 
belebbar, als ob es einer besonders unerbittlichen Verdrängung erlegen 
wäre. Vielleicht kam dieser Eindruck aber davon, daß die Frauen in der 
Analyse bei mir an der nämlichen Vaterbindung festhalten konnten, zu 
der sie sich aus der in Rede stehenden Vorzeit geflüchtet hatten. Es 
scheint wirklich, daß weibliche Analytiker, wie Jeanne Lampl-de Groot 
und Helene Deutsch, diese Tatbestände leichter und deutlicher wahr¬ 
nehmen konnten, weil ihnen bei ihren Gewährspersonen die Übertragung 
auf einen geeigneten Mutterersatz zur Hilfe kam. Ich habe es auch nicht 
dahin gebracht, einen Fall vollkommen zu durchschauen, beschränke mich 
daher auf die Mitteilung der allgemeinsten Ergebnisse und führe nur 
wenige Proben aus meinen neuen Einsichten an. Dahin gehört, daß diese 
Phase der Mutterbindung eine besonders intime Reziehung zur Ätiologie 





























Über die weibliche Sexualität 319 

der Hysterie vermuten läßt, was nicht überraschen kann, wenn man 
erwägt, daß beide, die Phase wie die Neurose, zu den besonderen 
Charakteren der Weiblichkeit gehören, ferner auch, daß man in dieser 
Mutterabhängigkeit den Keim der späteren Paranoia des Weibes findet . 1 
Denn dies scheint die überraschende, aber regelmäßig angetroffene Angst, 
von der Mutter umgebracht (aufgefressen ?) zu werden, wohl zu sein. Es 
liegt nahe, anzunehmen, daß diese Angst einer Feindseligkeit entspricht, 
die sich im Kind gegen die Mutter infolge der vielfachen Einschränkungen 
der Erziehung und Körperpflege entwickelt, und daß der Mechanismus der 
Projektion durch die Frühzeit der psychischen Organisation begünstigt wird. 

II 

Ich habe die beiden Tatsachen vorangestellt, die mir als neu aufge¬ 
fallen sind, daß die starke Vaterabhängigkeit des Weibes nur das Erbe 
einer ebenso starken Mutterbindung antritt und daß diese frühere Phase 
durch eine unerwartet lange Zeitdauer angehalten hat. Nun will ich 
zurückgreifen, um diese Ergebnisse in das uns bekannt gewordene Bild 
der weiblichen Sexualentwicklung einzureihen, wobei Wiederholungen nicht 
zu vermeiden sein werden. Die fortlaufende Vergleichung mit den Ver¬ 
hältnissen beim Manne kann unserer Darstellung nur förderlich sein. 

Zunächst ist es unverkennbar, daß die für die menschliche Anlage 
behauptete Bisexualität beim Weib viel deutlicher hervortritt als beim 
Mann. Der Mann hat doch nur eine leitende Geschlechtszone, ein Ge¬ 
schlechtsorgan, während das Weib deren zwei besitzt: die eigentlich 
weibliche Vagina und die dem männlichen Glied analoge Klitoris. Wir 
halten uns für berechtigt anzunehmen, daß die Vagina durch lange Jahre 
so gut wie nicht vorhanden ist, vielleicht erst zur Zeit der Pubertät 
Empfindungen liefert. In letzter Zeit mehren sich allerdings die Stimmen 
der Beobachter, die vaginale Regungen auch in diese frühen Jahre ver¬ 
legen. Das Wesentliche, was also an Genitalität in der Kindheit vorgeht, muß 
sich beim Weibe an der Klitoris abspielen. Das Geschlechtsleben des Weibes 
zerfällt regelmäßig in zwei Phasen, von denen die erste männlichen 
Charakter hat; erst die zweite ist die spezifisch weibliche. In der weib¬ 
lichen Entwicklung gibt es so einen Prozeß der Überführung der einen 
Phase in die andere, dem beim Manne nichts anolog ist. Eine weitere 
Komplikation entsteht daraus, daß sich die Funktion der virilen Klitoris 

0 In dem bekannten Fall von Ruth Mack-Brunswick (Die Analyse eines 
Eifersuchtswahnes, Int. Zeitschr. f. PsA. XIV, 1928) geht die Affektion direkt aus der prä- 
ödipalen (Schwester-) Fixierung hervor. 
















320 


Sigm. Freud 


in das spätere weibliche Geschlechtsleben fortsetzt in einer sehr wech¬ 
selnden und gewiß nicht befriedigend verstandenen Weise. Natürlich 
wissen wir nicht, wie sich diese Besonderheiten des Weibes biologisch 
begründen; noch weniger können wir ihnen teleologische Absicht unterlegen 

Parallel dieser ersten großen Differenz läuft die andere auf dem Gebiet 
der Objektfindung. Beim Manne wird die Mutter zum ersten Liebesobjekt 
infolge des Einflusses von Nahrungszufuhr und Körperpflege, und sie bleibt 
es, bis sie durch ein ihr wesensähnliches oder von ihr abgeleitetes ersetzt 
wird. Auch beim Weib muß die Mutter das erste Objekt sein. Die Ur- 
bedingungen der Objektwahl sind ja für alle Kinder gleich. Aber am 
Ende der Entwicklung soll der Mann—Vater das neue Liebesobjekt 
geworden sein, d. h. dem Geschlechtswechsel des Weibes muß ein Wechsel 
im Geschlecht des Objekts entsprechen. Als neue Aufgaben der Forschung 
entstehen hier die Fragen, auf welchen Wegen diese Wandlung vor 
sich geht, wie gründlich oder unvollkommen sie vollzogen wird, welche 
verschiedenen Möglichkeiten sich bei dieser Entwicklung ergeben. 

Wir haben auch bereits erkannt, daß eine weitere Differenz der 
Geschlechter sich auf das Verhältnis zum Ödipuskomplex bezieht. Unser 
Eindruck ist hier, daß unsere Aussagen über den Ödipuskomplex in voller 
Strenge nur für das männliche Kind passen, und daß wir Recht daran 
haben, den Namen Elektrakomplex abzulehnen, der die Analogie im Ver¬ 
halten beider Geschlechter betonen will. Die schicksalhafte Beziehung von 
gleichzeitiger Liebe zu dem einen und Rivalitätshaß gegen den anderen 
Elternteil stellt sich nur für das männliche Kind her. Bei diesem ist es 
dann die Entdeckung der Kastrationsmöglichkeit, wie sie durch den An¬ 
blick des weiblichen Genitales erwiesen wird, die die Umbildung des 
Ödipuskomplexes erzwingt, die Schaffung der Über-Ichs herbeiführt und 
so all die Vorgänge einleitet, die auf die Einreihung des Einzelwesens in 
die Kulturgemeinschaft abzielen. Nach der Verinnerlichung der Vater¬ 
instanz zum Über-Ich ist die weitere Aufgabe zu lösen, dies letztere von 
den Personen abzulösen, die es ursprünglich seelisch vertreten hat. Auf 
diesem merkwürdigen Entwicklungsweg ist gerade das narzißtische Genital¬ 
interesse, das an der Erhaltung des Penis, zur Einschränkung der infantilen 
‘Sexualität gewendet worden. 

Beim Manne erübrigt vom Einfluß des Kastrationskomplexes auch ein 
Maß von Geringschätzung für das als kastriert erkannte Weib. Aus dieser 
entwickelt sich im Extrem eine Hemmung der Objektwahl und bei 
Unterstützung durch organische Faktoren ausschließliche Homosexualität. 
Ganz andere sind die Wirkungen des Kastrationskomplexes beim Weib. 
Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die 




































Uber die weibliche Sexualität 


321 


Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es 
sträubt sich auch gegen diesen unliebsamen Sachverhalt. Aus dieser zwie¬ 
spältigen Einstellung leiten sich drei Entwicklungsrichtungen ab. Die erste 
führt zur allgemeinen Abwendung von der Sexualität. Das kleine Weib, 
durch den Vergleich mit dem Knaben geschreckt, wird mit seiner Klitoris 
unzufrieden, verzichtet auf seine phallische Betätigung und damit auf die 
Sexualität überhaupt wie auf ein gutes Stück seiner Männlichkeit auf 
anderen Gebieten. Die zweite Richtung hält in trotziger Selbstbehauptung 
an der bedrohten Männlichkeit fest ; die Hoffnung, noch einmal einen 
Penis zu bekommen, bleibt bis in unglaublich späte Zeiten aufrecht, wird 
zum Lebenszweck erhoben, und die Phantasie, trotz alledem ein Mann zu 
sein, bleibt oft gestaltend für lange Lebensperioden. Auch dieser „Männ¬ 
lichkeitskomplex “ des Weibes kann in manifest homosexuelle Objektwahl 
ausgehen. Erst eine dritte, recht umwegige Entwicklung mündet in die 
normal weibliche Endgestaltung aus, die den Vater als Objekt nimmt und 
so die weibliche Form des Ödipuskomplexes findet. Der Ödipuskomplex 
ist also beim Weib das Endergebnis einer längeren Entwicklung, er wird 
durch den Einfluß der Kastration nicht zerstört, sondern durch ihn ge¬ 
schaffen, er entgeht den starken feindlichen Einflüssen, die beim Mann 
zerstörend auf ihn einwirken, ja, er wird allzuhäufig vom Weib überhaupt 
nicht überwunden. Darum sind auch die kulturellen Ergebnisse seines 
Zerfalls geringfügiger und weniger belangreich. Man geht wahrscheinlich 
nicht fehl, wenn man aussagt, daß dieser Unterschied in der gegenseitigen 
Beziehung von Ödipus- und Kastrationskomplex den Charakter des 
Weibes als soziales Wesen prägt . 1 

Die Phase der ausschließlichen Mutterbindung, die präödipal genannt 
werden kann, beansprucht also beim Weib eine weitaus größere Bedeutung* 
als ihr beim Mann zukommen kann. Viele Erscheinungen des weiblichen 
Sexuallebens, die früher dem Verständnis nicht recht zugänglich waren, 
finden in der Zurückführung auf sie ihre volle Aufklärung. Wir haben 
z. B. längst bemerkt, daß viele Frauen, die ihren Mann nach dem Vater- 

i) Man kann vorhersehen, daß die Feministen unter den Männern, aber auch 
unsere weiblichen Analytiker mit diesen Ausführungen nicht einverstanden sein 
werden. Sie dürften kaum die Einwendung zurückhaiten, solche Lehren stammen 
aus dem „Männlichkeitskomplex“ des Mannes und sollen dazu dienen, seiner ange¬ 
borenen Neigung zur Herabsetzung und Unterdrückung des Weibes eine theoretische 
Rechtfertigung zu schaffen. Allein eine solche psychoanalytische Argumentation 
mahnt in diesem Falle, wie so häufig, an den berühmten „Stock mit zwei Enden“ 
Dostojewskis. Die Gegner werden es ihrerseits begreiflich finden, daß das Geschlecht 
der Frauen nicht annehmen will, was der heiß begehrten Gleichstellung mit dem 
Manne zu widersprechen scheint. Die agonale Verwendung der Analyse führt offen¬ 
bar nicht zur Entscheidung. 









322 


Sigm, 


Freud 


'Vorbild gewählt oder ihn an die Vaterstelle gesetzt haben, doch i n der 
Ehe an ihm ihr schlechtes Verhältnis zur Mutter wiederholen. Er sollte 
die Vaterbeziehung erben und in Wirklichkeit erbt er die Mutterbeziehun 6 
Das versteht man leicht als einen nahe liegenden Fall von Regression 
Die Mutterbeziehung war die ursprüngliche, auf sie war die Vaterbindun 
aufgebaut, und nun kommt in der Ehe das Ursprüngliche aus der Ver¬ 
drängung zum Vorschein. Die Überschreibung affektiver Bindungen vom 
Mutter- auf das Vaterobjekt bildete ja den Hauptinhalt der zum Weibtum 
führenden Entwicklung. 

Wenn vrir bei so vielen Frauen den Eindruck bekommen, daß ihre 
Reifezeit vom Kampf mit dem Ehemann ausgefüllt wird, wie ihre Jugend 
im Kampf mit der Mutter verbracht wurde, so werden wir im Licht der 
vorstehenden Bemerkungen den Schluß ziehen, daß deren feindselige Ein¬ 
stellung zur Mutter nicht eine Folge der Rivalität des Ödipuskomplexes 
ist, sondern aus der Phase vorher stammt und in der Ödipussituation nur 
Verstärkung und Verwendung erfahren hat. So wird es auch durch direkte 
analytische Untersuchung bestätigt. Unser Interesse muß sich den Mecha¬ 
nismen zuwenden, die bei der Abwendung von dem so intensiv und aus¬ 
schließlich geliebten Mutterobjekt wirksam geworden sind. Wir sind darauf 
vorbereitet, nicht ein einziges solches Moment, sondern eine ganze Reihe 
von solchen Momenten zu finden, die zum gleichen Endziel Zusammen¬ 
wirken. 

Unter ihnen treten einige hervor, die durch die Verhältnisse der in¬ 
fantilen Sexualität überhaupt bedingt sind, also in gleicher Weise für das 
Liebesieben des Knaben gelten. In erster Linie ist hier die Eifersucht auf 
andere Personen zu nennen, auf Geschwister, Rivalen, neben denen auch 
der Vater Platz findet. Die kindliche Liebe ist maßlos, verlangt Ausschlie߬ 
lichkeit, gibt sich nicht mit Anteilen zufrieden. Ein zweiter Charakter ist 
aber, daß diese Liebe auch eigentlich ziellos, einer vollen Befriedigung 
unfähig ist, und wesentlich darum ist sie dazu verurteilt, in Enttäuschung 
auszugehen und einer feindseligen Einstellung Platz zu machen. In späteren 
Lebenszeiten kann das Ausbleiben einer Endbefriedigung einen anderen 
Ausgang begünstigen. Dies Moment mag wie bei den zielgehemmten 
Liebesbeziehungen die ungestörte Fortdauer der Libidobesetzung versichern, 
aber im Drang der Entwicklungsvorgänge ereignet es sich regelmäßig, daß 
die Libido die unbefriedigende Position verläßt, um eine neue aufzu¬ 
suchen. 

Ein anderes weit mehr spezifisches Motiv zur Abwendung von der 
Mutter ergibt sich aus der Wirkung des Kastrationskomplexes auf das 
penislose Geschöpf. Irgend einmal macht das kleine Mädchen die Ent- 












































Über die weibliche Sexualität 


323 



deckung seiner organischen Minderwertigkeit, natürlich früher und leichter, 
wenn es Brüder hat oder andere Knaben in der Nähe sind. Wir haben 
schon gehört, welche drei Richtungen sich dann voneinander scheiden: 
a) die zur Einstellung des ganzen Sexuallebens; b) die zur trotzigen Über¬ 
betonung der Männlichkeit; c) die Ansätze zur endgültigen Weiblichkeit. 
Genauere Zeitangaben zu machen und typische Verlaufs weisen festzulegen, 
ist hier nicht leicht. Schon der Zeitpunkt der Entdeckung der Kastration 
ist wechselnd, manche andere Momente scheinen inkonstant und vom Zufall 
abhängig. Der Zustand der eigenen phallischen Betätigung kommt in 
Betracht, ebenso ob diese entdeckt wird oder nicht, und welches Maß von 
Verhinderung nach der Entdeckung erlebt wird. 

Die eigene phallische Betätigung, Masturbation an der Klitoris, wird 
vom kleinen Mädchen meist spontan gefunden, ist gewiß zunächst phantasie¬ 
los. Dem Einfluß der Körperpflege an ihrer Erweckung wird durch die 
so häufige Phantasie Rechnung getragen, die Mutter, Amme oder Kinder¬ 
frau zur Verführerin macht. Ob die Onanie der Mädchen seltener und von 
Anfang an weniger energisch ist als die der Knaben, bleibt dahingestellt; 
es wäre wohl möglich. Auch wirkliche Verführung ist häufig genug, sie 
geht entweder von anderen Kindern oder von Pflegepersonen aus, die das 
Kind beschwichtigen, einschläfern oder von sich abhängig machen wollen. 
Wo Verführung einwirkt, stört sie regelmäßig den natürlichen Ablauf der 
Entwicklungsvorgänge; oft hinterläßt sie weitgehende und andauernde 
Konsequenzen. 

Das Verbot der Masturbation wird, wie wir gehört haben, zum Anlaß, 
sie aufzugeben, aber auch zum Motiv der Auflehnung gegen die verbietende 
Person, also die Mutter oder den Mutterersatz, der später regelmäßig mit 
ihr verschmilzt. Die trotzige Behauptung der Masturbation scheint den 
Weg zur Männlichkeit zu eröffnen. Auch wo es dem Kind nicht gelungen 
ist, die Masturbation zu unterdrücken, zeigt sich die Wirkung des anscheinend 
machtlosen Verbots in seinem späteren Bestreben, sich mit allen Opfern 
von der ihm verleideten Befriedigung frei zu machen. Noch die Objektwahl 
des reifen Mädchens kann von dieser festgehaltenen Absicht beeinflußt 
werden. Der Groll wegen der Behinderung in der freien sexuellen Betätigung 
spielt eine große Rolle in der Ablösung von der Mutter. Dasselbe Motiv 
wird auch nach der Pubertät wieder zur Wirkung kommen, wenn die 
Mutter ihre .Pflicht erkennt, die Keuschheit der Tochter zu behüten. Wir 
werden natürlich nicht daran vergessen, daß die Mutter der Masturbation 
des Knaben in gleicher Weise entgegentritt und somit auch ihm ein 
starkes Motiv zur Auflehnung schafft. 

Wenn das kleine Mädchen durch den Anblick eines männlichen Geni- 









324 


Sigm. Freud 


tales seinen eigenen Defekt erfährt, nimmt sie die unerwünschte Beleh¬ 
rung nicht ohne Zögern und ohne Sträuben an. Wie wir gehört haben 
wird die Erwartung, auch einmal ein solches Genitale zu bekommen 
hartnäckig festgehalten, und der Wunsch danach überlebt die Hoffnung 
noch um lange Zeit. In allen Fällen hält das Kind die Kastration zu¬ 
nächst nur für ein individuelles Mißgeschick, erst später dehnt es dieselbe 
auch auf einzelne Kinder, endlich auf einzelne Erwachsene aus. Mit der 
Einsicht in die Allgemeinheit dieses negativen Charakters stellt sich eine 
große Entwertung der Weiblichkeit, also auch der Mutter, her. 

Es ist sehr wohl möglich, daß die vorstehende Schilderung, wie sich 
das kleine Mädchen gegen den Eindruck der Kastration und das Verbot 
der Onanie verhält, dem Leser einen verworrenen und widerspruchsvollen 
Eindruck macht. Das ist nicht ganz die Schuld des Autors. In Wirklichkeit 
ist eine allgemein zutreffende Darstellung kaum möglich. Bei verschiedenen 

Individuen findet man die verschiedensten Reaktionen, bei demselben Individuum 

bestehen die entgegengesetzten Einstellungen nebeneinander. Mit dem ersten 
Eingreifen des Verbots ist der Konflikt da, der von nun an die Entwicklung 
der Sexualfunktion begleiten wird. . Es bedeutet auch eine besondere 
Erschwerung der Einsicht, daß man so große Mühe hat, die seelischen 
Vorgänge dieser ersten Phase von späteren zu unterscheiden, durch die sie 
überdeckt und für die Erinnerung entstellt werden. So wird z. B. später 
einmal die Tatsache der Kastration als Strafe für die onanistische Betätigung 
aufgefaßt, deren Ausführung aber dem Vater zugeschoben, was beides 
gewiß nicht ursprünglich sein kann. Auch der Knabe befürchtet die 
Kastration regelmäßig von seiten des Vaters, obwohl auch bei ihm die 
Drohung zumeist von der Mutter ausgeht. 

Wie dem auch sein mag, am Ende dieser ersten Phase der Mutter¬ 
bindung taucht als das stärkste Motiv zur Abwendung von der Mutter 
der Vorwurf auf, daß sie dem Kind kein richtiges Genitale mitgegeben, 
d. h. es als Weib geboren hat. Nicht ohne Überraschung vernimmt man einen 
anderen Vorwurf, der etwas weniger weit zurückgreift: die Mutter hat 
dem Kind zu wenig Milch gegeben, es nicht lange genug genährt. Das 
mag in unseren kulturellen Verhältnissen recht oft zutreffen, aber gewiß 
nicht so oft, als es in der Analyse behauptet wird. Es scheint vielmehr, 
als sei diese Anklage ein Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit der 
Kinder, die unter den kulturellen Bedingungen der Monogamie nach 
sechs bis neun Monaten der Mutterbrust entwöhnt werden, während die 
primitive Mutter sich zwei bis drei Jahre lang ausschließlich ihrem Kinde 
widmet, als wären unsere Kinder für immer ungesättigt geblieben, als 
hätten sie nie lang genug an der Mutterbrust gesogen. Ich bin aber nicht 





























Über die weiblidie Sexualität 


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sicher, ob man nicht bei der Analyse von Kindern, die solange gesäugt 
worden sind wie die Kinder der Primitiven, auf dieselbe Klage stoßen 
würde. So groß ist die Gier der kindlichen Libido! Überblickt man die 
^anze Reihe der Motivierungen, welche die Analyse für die Abwendung 
von der Mutter aufdeckt, daß sie es unterlassen hat, das Mädchen mit 
dem einzig richtigen Genitale auszustatten, daß sie es ungenügend ernährt 
hat, es gezwungen hat, die Mutterliebe mit anderen zu teilen, daß sie nie 
alle Liebeserwartungen erfüllt, und endlich, daß sie die eigene Sexual¬ 
betätigung zuerst angeregt und dann verboten hat, so scheinen sie alle 
zur Rechtfertigung der endlichen Feindseligkeit unzureichend. Die einen 
von ihnen sind unvermeidliche Abfolgen aus der Natur der infantilen 
Sexualität, die anderen nehmen sich aus wie später zurechtgemachte 
Rationalisierungen der unverstandenen Gefühlswandlung. Vielleicht geht 
es eher so zu, daß die Mutterbindung zugrunde gehen muß, gerade darum, 
weil sie die erste und so intensiv ist, ähnlich wie man es so oft an den 
ersten, in stärkster Verliebtheit geschlossenen Ehen der jungen Frauen 
beobachten kann. Hier wie dort würde die Liebeseinstellung an den 
unausweichlichen Enttäuschungen und an der Anhäufung der Anlässe zur 
Aggression scheitern. Zweite Ehen gehen in der Regel weit besser aus. 

Wir können nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Ambivalenz 
der Gefühlsbesetzungen ein allgemein gültiges psychologisches Gesetz ist, 
daß es überhaupt unmöglich ist, große Liebe für eine Person zu emp¬ 
finden, ohne daß sich ein vielleicht ebenso großer Haß hinzugesellt oder 

umgekehrt. Dem Normalen und Erwachsenen gelingt es ohne Zweifel, 

beide Einstellungen von einander zu sondern, sein Liebesobjekt nicht zu 
hassen und seinen Feind nicht auch lieben zu müssen. Aber das scheint 
das Ergebnis späterer Entwicklungen. In den ersten Phasen des Liebes- 
lebens ist offenbar die Ambivalenz das Regelrechte. Bei vielen Menschen 
bleibt dieser archaische Zug über das ganze Leben erhalten, für die 
Zwangsneurotiker ist es charakteristisch, daß in ihren Objektbeziehungen 
Liebe und Haß einander die Waage halten. Auch für die Primitiven 
dürfen wir das Vorwiegen der Ambivalenz behaupten. Die intensive 
Bindung des kleinen Mädchens an seine Mutter müßte also eine stark 
ambivalente sein und unter der Mithilfe der anderen Momente gerade 

durch diese Ambivalenz zur Abwendung von ihr entschieden werden, also 
wiederum infolge eines allgemeinen Charakters der infantilen Sexualität. 

Gegen diesen Erklärungsversuch erhebt sich sofort die Frage: Wie 
wird es aber den Knaben möglich, ihre gewiß nicht weniger intensive 
Mutterbindung unangefochten festzuhalten? Ebenso rasch ist die Antwort 
bereit: Weil es ihnen ermöglicht ist, ihre Ambivalenz gegen die Mutter 





326 


Sigm. Freud 


zu erledigen, indem sie all ihre feindseligen Gefühle beim Vater unter¬ 
bringen. Aber erstens soll man diese Antwort nicht geben, ehe man die 
präödipale Phase der Knaben eingehend studiert hat, und zweitens ist es 
wahrscheinlich überhaupt vorsichtiger, sich einzugestehen, daß man diese 
Vorgänge, die man eben kennen gelernt hat, noch gar nicht gut durchschaut 

III 

Eine weitere Frage lautet: Was verlangt das kleine Mädchen von der 
Mutter? Welcher Art sind seine Sexualziele in jener Zeit der ausschließlichen 
Mutterbindung? Die Antwort, die man aus dem analytischen Material 
entnimmt, stimmt ganz mit unseren Erwartungen überein. Die Sexual¬ 
ziele des Mädchens bei der Mutter sind aktiver wie passiver Natur, und 
sie werden durch die Libidophasen bestimmt, die das Kind durchläuft. 
Das Verhältnis der Aktivität zur Passivität verdient hier unser besonderes 
Interesse. Es ist leicht zu beobachten, daß auf jedem Gebiet des seelischen 
Erlebens, nicht nur auf dem der Sexualität, ein passiv empfangener Ein¬ 
druck beim Kind die Tendenz zu einer aktiven Reaktion hervorruft. Es 
versucht das selbst zu machen, was vorhin an oder mit ihm gemacht 
worden ist. Es ist das ein Stück der Bewältigungsarbeit an der Außen¬ 
welt, die ihm auferlegt ist, und kann selbst dazu führen, daß es sich um 
die Wiederholung solcher Eindrücke bemüht, die es wegen ihres peinlichen 
Inhalts zu vermeiden Anlaß hätte. Auch das Kinderspiel wird in den 
Dienst dieser Absicht gestellt, ein passives Erlebnis durch eine aktive 
Handlung zu ergänzen und es gleichsam auf diese Art aufzuheben. Wenn 
der Doktor dem sich sträubenden Kind den Mund geöffnet hat, um ihm 
in den Hals zu schauen, so wird nach seinem Fortgehen das Kind den 
Doktor spielen und die gewalttätige Prozedur an einem kleinen Geschwister- 
chen wiederholen, das ebenso hilflos gegen es ist, wie es selbst gegen den 
Doktor war. Eine Auflehnung gegen die Passivität und eine Bevorzugung 
der aktiven Rolle ist dabei unverkennbar. Nicht bei allen Kindern wird 
diese Schwenkung von der Passivität zur Aktivität gleich regelmäßig und 
energisch ausfallen, bei manchen mag sie ausbleiben. Aus diesem Ver¬ 
halten des Kindes mag man einen Schluß auf die relative Stärke der 
Männlichkeit und Weiblichkeit ziehen, die das Kind in seiner Sexualität 
an den Tag legen wird. 

Die ersten sexuellen und sexuell mitbetonten Erlebnisse des Kindes bei 
der Mutter sind natürlich passiver Natur. Es wird von ihr gesäugt, ge¬ 
füttert, gereinigt, gekleidet und zu allen Verrichtungen angewiesen. Ein 
Teil der Libido des Kindes bleibt an diesen Erfahrungen haften und 





































Über die weibliche Sexualität 


327 


genießt die mit ihnen verbundenen Befriedigungen, ein anderer Teil 
versucht sich an ihrer Umwendung zur Aktivität. An der Mutterbrust 
wird zuerst das Gesäugtwerden durch das aktive Saugen abgelöst. In den 
anderen Beziehungen begnügt sich das Kind entweder mit der Selbständigkeit, 
d. h. mit dem Erfolg, daß es selbst ausführt, was bisher mit ihm geschehen 
ist, oder mit aktiver Wiederholung seiner passiven Erlebnisse im Spiel, 
oder es macht wirklich die IVIutter zum Objekt, gegen das es als tätiges 
Subjekt auftritt. Das letztere, was auf dem Gebiet der eigentlichen Be¬ 
tätigung vor sich geht, erschien mir lange Zeit hindurch unglaublich, bis 
die Erfahrung jeden Zweifel daran widerlegte. 

Man hört selten davon, daß das kleine Mädchen die Mutter waschen, 
ankleiden oder zur Verrichtung ihrer exkrementeilen Bedürfnisse mahnen 
will. Es sagt zwar gelegentlich : jetzt wollen wir spielen, daß ich die 
Mutter bin und du das Kind, — aber zumeist erfüllt es sich diese aktiven 
Wünsche in indirekter Weise im Spiel mit der Puppe, in dem es selbst 
die Mutter darstellt wie die Puppe das Kind. Die Bevorzugung des Spiels 
mit der Puppe beim Mädchen im Gegensatz zum Knaben wird gewöhnlich 
als Zeichen der früh erwachten Weiblichkeit aufgefaßt. Nicht mit Unrecht, 
allein man soll nicht übersehen, daß es die Aktivität der Weiblichkeit ist, 
die sich hier äußert, und daß diese Vorliebe des Mädchens wahrscheinlich 
die Ausschließlichkeit der Bindung an die Mutter bei voller Vernach¬ 
lässigung des Vaterobjekts bezeugt. 

Die so überraschende sexuelle Aktivität des Mädchens gegen die Mutter 
äußert sich der Zeitfolge nach in oralen, sadistischen und endlich selbst 
phallischen, auf die Mutter gerichteten Strebungen. Die Einzelheiten sind 
hier schwer zu berichten, denn es handelt sich häufig um dunkle Trieb- 
regungen, die das Kind nicht psychisch erfassen konnte zur Zeit, da sie 
vorfielen, die darum erst eine nachträgliche Interpretation erfahren haben 
und dann in der Analyse in Ausdrucksweisen auftreten, die ihnen 
ursprünglich gewiß nicht zukamen. Mitunter begegnen sie uns als Über- 
tragungen auf das spätere Vaterobjekt, wo sie nicht hingehören und das 
Verständnis empfindlich stören. Die aggressiven oralen und sadistischen 
Wünsche findet man in der Form, in welche sie durch frühzeitige 
Verdrängung genötigt werden, als Angst, von der Mutter umgebracht zu 
werden, die ihrerseits den Todes wünsch gegen die Mutter, wenn er bewußt 
wird, rechtfertigt. Wie oft diese Angst vor der Mutter sich an eine un¬ 
bewußte Feindseligkeit der Mutter anlehnt, die das Kind errät, läßt sich 
nicht angeben. (Die Angst, gefressen zu werden, habe ich bisher nur bei 
Männern gefunden, sie wird auf den Vater bezogen, ist aber wahrscheinlich das 
Verwandlungsprodukt der auf die Mutter gerichteten oralen Aggression. 
















328 


Sigm, Freud 


"1 


Man will die Mutter auffressen, von der man sich genährt hat; beim 
Vater fehlt für diesen Wunsch der nächste Anlaß.) 

Die weiblichen Personen mit starker Mutterbindung, an denen ich die 
präödipale Phase studieren konnte, haben übereinstimmend berichtet, daß 
sie den Klystieren und Darmeingießungen, die die Mutter bei ihnen vor¬ 
nahm, größten Widerstand entgegenzusetzen und mit Angst und Wut¬ 
geschrei darauf zu reagieren pflegten. Dies kann wohl ein sehr häufiges 
oder se]bst regelmäßiges Verhalten der Kinder sein. Die Einsicht in die 
Begründung dieses besonders heftigen Sträubens gewann ich erst durch eine 
Bemerkung von Ruth Mack - Brunswick, die sich gleichzeitig mit den 
nämlichen Problemen beschäftigte, sie möchte den Wutausbruch nach dem 
Klysma dem Orgasmus nach genitaler Reizung vergleichen. Die Angst dabei 
wäre als Umsetzung der rege gemachten Aggressionslust zu verstehen. Ich 
meine, daß es wirklich so ist, und daß auf der sadistisch-analen Stufe die 
intensive passive Reizung der Darmzone durch einen Ausbruch von Aggressions¬ 
lust beantwortet wird, die sich direkt als Wut oder infolge ihrer Unter¬ 
drückung als Angst kundgibt. Diese Reaktion scheint in späteren Jahren 
zu versiegen. 

Unter den passiven Regungen der phallischen Phase hebt sich hervor, 
daß das Mädchen regelmäßig die Mutter als Verführerin beschuldigt, weil 
sie die ersten oder doch die stärksten genitalen Empfindungen bei den 
Vornahmen der Reinigung und Körperpflege durch die Mutter (oder die sie 
vertretende Pflegeperson) verspüren mußte. Daß das Kind diese Empfin¬ 
dungen gerne mag und die Mutter auffordert, sie durch wiederholte 
Berührung und Reibung zu verstärken, ist mir oft von Müttern als 
Beobachtung an ihren zwei- bis dreijährigen Töchterchen mitgeteilt worden. 
Ich mache die Tatsache, daß die Mutter dem Kind so unvermeidlich die 
phallische Phase eröffnet, dafür verantwortlich, daß in den Phantasien 
späterer Jahre so regelmäßig der Vater als der sexuelle Verführer erscheint. 
Mit der Abwendung von der Mutter ist auch die Einführung ins Geschlechts¬ 
leben auf den Vater überschrieben worden. 

In der phallischen Phase kommen endlich auch intensive aktive Wunsch¬ 
regungen gegen die Mutter zustande. Die Sexualbetätigung dieser Zeit 
gipfelt in der Masturbation an der Klitoris, dabei wird wahrscheinlich die 
Mutter vorgestellt, aber ob es das Kind zur Vorstellung eines Sexualziels 
bringt und welches dies Ziel ist, ist aus meiner Erfahrung nicht zu 
erraten. Erst wenn alle Interessen des Kindes durch die Ankunft eines 
Geschwisterchens einen neuen Antrieb erhalten haben, läßt sich ein solches 
Ziel klar erkennen. Das kleine Mädchen will der Mutter dies neue Kind 
gemacht haben, ganz so wie der Knabe, und auch seine Reaktion auf dies 













































Über die weiblidie Sexualität 


329 



Ereignis und sein Benehmen gegen das Kind ist dasselbe. Das klingt 
ja absurd genug, aber vielleicht nur darum, weil es uns so ungewohnt 
klingt. 

Die Abwendung von der Mutter ist ein höchst bedeutsamer Schritt auf 
dem Entwicklungsweg des Mädchens, sie ist mehr als ein bloßer Objekt¬ 
wechsel. Wir haben ihren Hergang und die Häufung ihrer vorgeblichen 
Motivierungen bereits beschrieben, nun fügen wir hinzu, daß Hand in Hand 
mit ihr ein starkes Absinken der aktiven und ein Anstieg der passiven 
Sexualregungen zu beobachten ist. Gewiß sind die aktiven Strebungen 
stärker von der Versagung betroffen worden, sie haben sich als durchaus 
unausführbar erwiesen und werden darum auch leichter von der Libido 
verlassen, aber auch auf Seite der passiven Strebungen hat es an Ent¬ 
täuschungen nicht gefehlt. Häufig wird mit der Abwendung von der 
Mutter auch die klitoridische Masturbation eingestellt, oft genug wird mit der 
Verdrängung der bisherigen Männlichkeit des kleinen Mädchens ein gutes 
Stück ihres Sexualstrebens überhaupt dauernd geschädigt. Der Übergang 
zum Vaterobjekt wird mit Hilfe der passiven Strebungen vollzogen, soweit 
diese dem Umsturz entgangen sind. Der Weg zur Entwicklung der Weib¬ 
lichkeit ist nun dem Mädchen freigegeben, insoferne er nicht durch die 
Reste der überwundenen, präödipalen Mutterbindung eingeengt ist. 

Überblickt man nun das hier beschriebene Stück der weiblichen Sexual¬ 
entwicklung, so kann man ein bestimmtes Urteil über das Ganze der 
Weiblichkeit nicht zurückdrängen. Man hat die nämlichen libidinösen 
Kräfte wirksam gefunden wie beim männlichen Kind, konnte sich über¬ 
zeugen, daß sie eine Zeitlang hier wie dort dieselben Wege einschlagen 
und zu den gleichen Ergebnissen kommen. 

Es sind dann biologische Faktoren, die sie von ihren anfänglichen Zielen 
ablenken und selbst aktive, in jedem Sinne männliche, Strebungen in die 
Bahnen der Weiblichkeit leiten. Da wir die Zurückführung der Sexual¬ 
erregung auf die Wirkung bestimmter chemischer Stoffe nicht abweisen 
können, liegt zuerst die Erwartung nahe, daß uns die Biochemie eines 
Tages einen Stoff darstellen wird, dessen Gegenwart die männliche, und 
einen, der die weibliche Sexualerregung hervorruft. Aber diese Hoffnung 
scheint nicht weniger naiv als die andere, heute glücklich überwundene, 
unter dem Mikroskop die Erreger von Hysterie, Zwangsneurose, Melan¬ 
cholie usw. gesondert aufzufinden. 

Es muß auch in der Sexualchemie etwas komplizierter zugehen. Für 
die Psychologie ist es aber gleichgültig, ob es einen einzigen sexuell 
erregenden Stoff im Körper gibt, oder deren zwei, oder eine Unzahl 
davon. Die Psychoanalyse lehrt uns mit einer einzigen Libido auszukommen. 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 22 

| 











330 


Sigm. Freud 


die allerdings aktive und passive Ziele, also Befriedigungsarten, kennt. I n 
diesem Gegensatz, vor allem in der Existenz von Libidostrebungen mit 
passiven Zielen, ist der Rest des Problems enthalten. 


IV 

Wenn man die analytische Literatur unseres Gegenstandes einsieht, 
überzeugt man sich, daß alles, was ich hier ausgeführt habe, dort bereits 
gegeben ist. Es wäre unnötig gewesen, diese Arbeit zu veröffentlichen, 
wenn nicht auf einem so schwer zugänglichen Gebiet jeder Bericht über 
eigene Erfahrungen und persönliche Auffassungen wertvoll sein könnte. 
Auch habe ich manches schärfer gefaßt und sorgfältiger isoliert. In einigen 
der anderen Abhandlungen wird die Darstellung unübersichtlich infolge 
der gleichzeitigen Erörterung der Probleme des Über-Ichs und des Schuld¬ 
gefühls. Dem bin ich ausgewichen, ich habe bei der Beschreibung der 
verschiedenen Ausgänge dieser Entwicklungsphase auch nicht die Komplika¬ 
tionen behandelt, die sich ergeben, wenn das Kind infolge der Ent- 
* täuschung am Vater zur aufgelassenen Mutterbindung zurückkehrt oder 
nun im Laufe des Lebens wiederholt von einer Einstellung zur anderen 
herüberwechselt. Aber gerade, weil meine Arbeit nur ein Beitrag ist unter 
anderen, darf ich mir eine eingehende Würdigung der Literatur ersparen 
und kann mich darauf beschränken, bedeutsamere Übereinstimmungen mit 
einigen und wichtigere Abweichungen von anderen dieser Arbeiten 
hervorzuheben. 

In die eigentlich noch unübertroffene Schilderung Abrahams der 
„Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes“ (Internat. Zeitschr. 
f. PsA., VII, 1921) möchte man gerne das Moment der anfänglich aus¬ 
schließlichen Mutterbindung eingefügt wissen. Der wichtigen Arbeit von 
Jeanne 1 Lampl-de Groot 2 muß ich in den wesentlichen Punkten 
zustimmen. Hier wird die volle Identität der präödipalen Phase bei 
Knaben und Mädchen erkannt, die sexuelle (phallische) Aktivität des 
Mädchens gegen die Mutter behauptet und durch Beobachtung erwiesen. 
Die Abwendung von der Mutter wird auf den Einfluß der zur Kenntnis 
genommenen Kastration zurückgeführt, die das Kind dazu nötigt, das 
Sexualobjekt und damit auch oft die Onanie aufzugeben, für die ganze 
Entwicklung die Formel geprägt, daß das Mädchen eine Phase des 

1' Nach dem Wunsch der Autorin korrigiere ich so ihren Namen, der in der 
Zeitschrift als A. L. de Gr. angeführt ist. 

2) Zur Entwicklungsgeschichte des Ödipuskomplexes der Frau. Internat. Zeitschr. 
f. PsA. XIII (1927). 




































Uber die weibliche Sexualität 


331 



„negativen“ Ödipuskomplexes durchmacht, ehe sie in den positiven ein- 
treten kann. Eine Unzulänglichkeit dieser Arbeit finde ich darin, daß sie 
die Abwendung von der Mutter als bloßen Objektwechsel darstellt und 
nicht darauf eingeht, daß sie sich unter den deutlichsten Zeichen von 
Feindseligkeit vollzieht. Diese Feindseligkeit findet volle Würdigung in 
der letzten Arbeit von Helene Deutsch (Der feminine Masochismus 
und seine Beziehung zur Frigidität, Internat. Zeitschr. f. PsA., XVI, 1930), 
woselbst auch die phallische Aktivität des Mädchens und die Intensität 
seiner Mutterbindung anerkannt werden. H. Deutsch gibt auch an, 
daß die Wendung zum Vater auf dem Weg der (bereits bei der Mutter 
rege gewordenen) passiven Strebungen geschieht. In ihrem früher (1925) 
veröffentlichten Buch „Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen* 
hatte die Autorin sich von der Anwendung des Ödipusschemas auch auf 
die präödipale Phase noch nicht frei gemacht und darum die phallische 
Aktivität des Mädchens als Identifizierung mit dem Vater gedeutet. 

Fenichel (Zur prägenitalen Vorgeschichte des Ödipuskomplexes, Inter¬ 
nat. Zeitschr. f. PsA., XVI, 1930) betont mit Recht die Schwierigkeit, zu er¬ 
kennen, was von dem in der Analyse erhobenen Material unveränderter 
Inhalt der präödipalen Phase und was daran regressiv (oder anders) entstellt 
ist. Er anerkennt die phallische Aktivität des Mädchens nach Jeanne 
Lampl- de Groot nicht, verwahrt sich auch gegen die von Melanie 
Klein (Frühstadien des Ödipuskonfliktes, Internat. Zeitschr.f. PsA., XIV, 1928 
u. a. a. O.) vorgenommene „Vorverlegung“ des Ödipuskomplexes, dessen Be¬ 
ginn sie schon in den Anfang des zweiten Lebensjahres versetzt. Diese Zeit¬ 
bestimmung, die notwendigerweise auch die Auffassung aller anderen Ver¬ 
hältnisse der Entwicklung verändert, deckt sich in der Tat nicht mit den 
Ergebnissen der Analyse an Erwachsenen und ist besonders unvereinbar mit 
meinen Befunden von der langen Andauer der präödipalen Mutterbindung 
der Mädchen. Einen Weg zur Milderung dieses Widerspruches weist die 
Bemerkung, daß wir auf diesem Gebiet noch nicht zu unterscheiden vermögen, 
was durch biologische Gesetze starr festgelegt und was unter dem Einfluß 
akzidentellen Erlebens beweglich und veränderlich ist. Wie es von der 
Wirkung der Verführung längst bekannt ist, können auch andere Momente, 
der Zeitpunkt der Geburt von Geschwistern, der Zeitpunkt der Entdeckung 
des Geschlechtsunterschieds, die direkte Beobachtung des Geschlechtsverkehrs, 
das werbende oder abweisende Benehmen der Eltern u. a., eine Beschleuni¬ 
gung und Reifung der kindlichen Sexualentwicklung herbeiführen. 

Bei manchen Autoren zeigt sich die Neigung, die Bedeutung der ersten i| 

ursprünglichsten Libidoregungen des Kindes zugunsten späterer Entwicklungs¬ 
vorgänge herabzudrücken, so daß jenen — extrem ausgedrückt — die Rolle ver- 

22* , l 












332 


Sigm. Freud: Über die weibliche Sexualität 


bliebe, nur gewisse Richtungen anzugeben, während die Intensitäten, welche 
diese Wege einschlagen, von späteren Regressionen und Reaktionsbildungen 
bestritten werden. So z. R. wenn K. Horney (Flucht aus der Weiblichkeit, 
Internat. Zeitschr. f. PsA., XII, 1926) meint, daß der primäre Penisneid des 
Mädchens von uns weit überschätzt wird, während die Intensität des später 
entfalteten Männlichkeitsstrebens einem sekundären Penisneid zuzuschreiben 
ist, der zur Abwehr der weiblichen Regungen, speziell der weiblichen 
Rindung an den Vater, gebraucht wird. Das entspricht nicht meinen Ein¬ 
drücken. So sicher die Tatsache späterer Verstärkungen durch Regression und 
Reaktionsbildung ist, so schwierig es auch sein mag, die relative Abschätzung 
der zusammenströmenden Libidokomponenten vorzunehmen,so meine ich doch, 
wir sollen nicht übersehen, daß jenen ersten Libidoregungen eine Intensität 
eigen ist, die allen späteren überlegen bleibt, eigentlich inkommensurabel ge¬ 
nannt werden darf. Es ist gewiß richtig, daß zwischen der Vaterbin düng und dem 
Männlichkeitskomplex eine Gegensätzlichkeit besteht, — es ist der allgemeine 
Gegensatz zwischen Aktivität und Passivität, Männlichkeit und Weiblichkeit,— 
aber er gibt uns kein Recht, anzunehmen, nur das eine sei primär, das 
andere verdanke seine Stärke nur der Abwehr. Und wenn die Abwehr 
gegen die Weiblichkeit so energisch ausfällt, woher kann sie sonst ihre 
Kraft beziehen als aus dem Männlichkeitsstreben, das seinen ersten Aus¬ 
druck im Penisneid des Kindes gefunden hat und darum nach ihm benannt 
zu werden verdient? 

Ein ähnlicher Einwand ergibt sich gegen die Auffassung von Jones 
(Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität, Internat. Zeitschr. f. PsA., 
XIV, 1928), nach der das phallische Stadium bei Mädchen eher eine 
sekundäre Schutzreaktion sein soll als ein wirkliches Entwicklungstadium. 
Das entspricht weder den dynamischen noch den zeitlichen Verhältnissen. 
































Todestrieb und Angst 

Beitrag zu einer Todestriebdiskussion der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 

am 21. März 1931 

Von 

Therese Benedek 

Leipzig 

Ich weiß genau, daß es meinem Vortrag nicht gelingen kann, Sie alle 
zu überzeugen. Wenn man heute für die Annahme der Todestriebhypo¬ 
these eintritt, steht man noch auf schwankendem Boden. 

Wie sicher fühlen wir uns bereits, wenn wir vom Sexualtrieb und 
den Partialtrieben sprechen. Da ist es uns geläufig und klar, daß der 
Trieb „ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem“ ist, und 
daß wir darunter „die psychische Repräsentanz der aus dem Körperinnern 
in die Seele gelangenden Reize“ verstehen. Wir wissen einiges von den 
Quellen, dem Ablauf und den Schicksalen dieser Triebe. 

Ganz anders bei dem Begriff „Todestrieb“. Sofort taucht die Frage auf: 
Wo finden wir die Quelle des Todestriebes? Wollten wir dem Todestrieb 
den allgemeinen Begriff des „Lebenstriebes“ gegenüberstellen, dann würden 
wir für den Lebenstrieb auch keine andere Quelle feststellen können als 
den biologischen Lebenslauf der Zelle. Ob ein Drang zum Leben 
ursprünglich besteht oder nicht, läßt sich psychologisch nicht ergrün¬ 
den. Aber das erscheint uns „einfühlbar“. Das Leben erscheint uns so 
spannungsvoll, so drängend, seine Richtung auf Organisierung immer 
größerer Einheiten so einleuchtend, daß wir dem Leben gerne einen 
Triebcharakter zuerkennen möchten. 

Aber nicht allein Freud hatte — als Konsequenz seiner dynamischen 
Auffassung — die Frage aufgeworfen, ob die uns so drängend, wie er 
s agt, „lärmend“ erscheinenden Lebensäußerungen aus einem einheitlichen 
Triebablauf hervorgehen, oder ob sie die Wirkung zweier aufeinander 
stoßender Kräfte sind, bzw. wie es Ehrenberg ausdrückt, „eine Zwie- 
fältigkeit, deren aktuelles Sein die Einswerdung ist“. Physiologische und 






334 


Therese Benedek 


biologische Untersuchungen führten zu ganz ähnlichen Fragestellungen 
und auch zu ähnlichen Lösungen. Von den verschiedenen Meinungen, die 
Physiologen und Biologen über Leben und Tod äußerten, dürfte uns hier 
die Auffassung von Ehrenberg (Göttingen) besonders interessieren, da 
er von der Biologie und physiologischen Chemie her zu ähnlichen An¬ 
schauungen gekommen ist wie Freud. Sein Buch „Theoretische Biologie 
vom Standpunkte der Irreversibilität des elementaren Lebensvorganges“ 
wird auch in einem Aufsatz von Westerman Holstijn „Tendenzen 
des Toten, Todestriebe und Triebe zum Töten“ (Imago XVI, 1930) aus¬ 
führlich zitiert. Ich will hier nur kurz zusammenfassend folgendes anführen: 

Schon der Lebensprozeß des einfachsten einzelligen Wesens, also eines 
unstrukturierten Protoplasmatröpfchens, ist sehr kompliziert und besteht aus 
vielen enzymatischen und fermentativen Prozessen. Diese Vorgänge dienen 
nicht nur der Nahrungsaufnahme, Verdauung und der Assimilation, sondern 
sie führen zugleich zur Ausfällung bis dahin in Lösung befindlicher 
Stoffe. Diese Ausfällungen bilden die erste primitivste Struktur in der 
ZelJe und sind als solche irreversibel. Die Funktion des Protoplasmas ist 
Strukturbildung im weitesten Sinne. Struktur ist: alle Substanz, die ohne 
radikalen Eingriff irreversibel aus dem flüssigen und gelösten in den festen 
und unlöslichen Zustand übergegangen ist: Was assimiliert, ist im Leben 
begriffen, — was durch die Assimilation entsteht, ist eine Veränderung in 
der Zelle. Diese Veränderung, die wir als höhere Strukturierung, als 
Lebensäußerung erkennen, ist kein Leben mehr, sondern Tod. Aber sie ist 
weiter wirksam, weil die Formbildung, die Struktur, den weiteren Ablauf 
des Lebens mitbestimmt. Wir erfassen sie daher als „Leben“; daß sie aber 
auch etwas dem Leben Feindliches in sich birgt, erkennen wir erst, wenn 
das Unlösbare, Struktur-Gewordene überwiegt und die Lebensprozesse 
hemmt. So erkennt Ehrenberg eine von Anfang des Lebens an wirk¬ 
same, dem Leben Richtung gebende Kraftquelle, die sich in allen Lebens¬ 
erscheinungen der Zelle und der höheren Zellorganisationen manifestiert. 
Seine Beweisführung ist zu physiologisch-chemisch, als daß wir sie hier 
weiter gebrauchen könnten. Wesentlich für uns ist die von ihm vermittelte 
Einsicht, daß diese Probleme zunächst der Physiologie und Biologie an¬ 
gehören und mit den Forschungsmethoden dieser Wissensgebiete der Lösung 
näherzuführen sind. 

Ich möchte hier aus diesem für uns fremden Material nur auf einen ein¬ 
zigen Vorgang hinweisen, weil er zum phylogenetisch jüngsten Korrelations¬ 
apparat des Organismus gehört und unserem Interessenkreis am nächsten 
liegt. Dies ist ein fermentativer Prozeß des hormonalen Systems, und zwar 
die Produktion der Abwehrfermente gegen die eigenen Hormone. 









































Todestrieb und Angst 335 

Unter Abwehrfermenten verstand Abderhalden 1 ursprünglich die 
spezifischen Fermentstoffe, die im lebenden Organismus als Reaktion auf 
parenterale Zufuhr von artfremden Eiweißstoffen kurz nach derer Zufuhr 
auftreten und die Aufgabe haben, die zugeführten artfremden Stoffe abzubauen. 
Später stellte sich aber heraus, daß der Organismus Abbaufermente nicht nur 
gegen von außen zugeführte Stoffe, sondern auch gegen die eigenen Zellen 
produziert. Zuerst hatte man diese Tatsache während der Schwangerschaft und 
bei Tumoren festgestellt, wobei man aber sowohl die Stoffwechselprodukte 
der Schwangerschaft als auch die Tumoren als körperfremd ansehen 
konnte. Nachher wurde die Frage untersucht, ob auch die körpereigenen 
Inkretstoffe und Hormone abgebaut werden oder nicht. 

Zuerst hatte Abderhalden noch angenommen, daß die eigenen Hor¬ 
mone nur dann abgebaut werden, wenn eine Dysfunktion des betreffenden 
Organes besteht. Aber es hatte sich erwiesen, daß im Organismus immer, 
auch im gesunden, ungestörten Zustande, Abwehrfermente gegen die eigenen 
Hormone produziert werden. 

Zimmer, Länder und Feh low 2 haben Gesunde untersucht und 
aus den Resultaten eine sogenannte Normalkurve dargestellt. Bei aller 
Vorsicht, mit welcher solche Untersuchungen zu behandeln sind, beweisen 
sie doch, daß im Serum normalerweise spezifische Abwehrfermente in 
bestimmten Mengenverhältnissen vorhanden sind, die auf Zellen und Zell¬ 
produkte der eigenen Organe eingestellt sind. Von den Feststellungen, die 
sich aus diesen Normalkurven ergeben haben, ist noch zu erwähnen, daß 
verschiedene Personen verschieden hohe Abbauwerte liefern, aber wenn 
sie gesund sind, ist die Korrelation der verschiedenen Abbaufermente 
immer konstant. Ebenso können, wenn ein und dieselbe Person mehrmals 
untersucht wird, zwar die Abbauwerte verschieden sein, aber die Kurve 
zeigt trotzdem die gleiche Form, weil sich das gegenseitige Mengen¬ 
verhältnis der Fermente nicht ändert. Zwischen den Hormonorganen, deren 
fünf 3 besonders auf den Genitalapparat in Wechselbeziehung eingestellt 
sind, besteht im Zustand der Gesundheit eine gewisse typische Korrelation, 
die sich in pathologischen Zuständen sofort verändert. 

Es ist eine wichtige Frage, die uns auch vom Standpunkt unseres heutigen 
Themas aus interessiert, woher die Abwehrfermente stammen. Das ist noch 
nicht mit Sicherheit entschieden, aber „es spricht sehr vieles dafür“, meint 


1) Emil Abderhalden: Die Abderhalden sehe Reaktion. Verl. Springer, 1922. 

2^ Zimmer, Länder, F e h 1 o w: Fermentforschung. 10. Jg., 1928. Dieselben; 
Münchener Med. Wochenschrift, 1927. 

3) Mit Testes und Ovarien in enger Korrelation stehen; Hypophyse, Epiphyse, 
Thymus, Thyreoidea und Nebenniere. 













Therese Benedek 


336 


Abderhalden, „daß die Fermente, die im Blut nachgewiesen werden 
konnten, im allgemeinen und vielleicht überhaupt nicht neu gebildet worden 
sind, sondern offenbar mit den b 1 u t fremden, zelleigenen Stoffen zusammen 
aus denselben Zellen wie diese herstammen und ins Blut übergehen“. 1 

Wie es auch mit der Bildungsstätte der Abwehrfermente gegen die Hormone 
sein mag, eins ist heute schon klar: daß die im Organismus produzierten 
Hormone vom Organismus selbst abgebaut werden. 

Das Gesagte solJ nur als ein Beispiel dienen dafür, daß im Organismus 
außer den Stoffen, die die Libido vermitteln, zugleich auch entgegengesetzt 
wirkende Stoffe produziert werden, und was wir davon wahrnehmen, ist 
immer die Resultante der Wirksamkeit beider Stoffe. 

Die Psychoanalyse hat die Erscheinungen der Libidostauung aufgezeigt 
und untersucht. Wenn wir weiterhin die Triebphänomene biologisch er¬ 
forschen wollen, müssen wir uns die Frage vorlegen: Was geschieht eigent¬ 
lich im Organismus, wenn wir sagen: es ist eine Libidospannung vorhanden? 
Ist das wirklich eine Anhäufung von Stoffen, die die Libido vermitteln? 
Oder überwiegen dabei die Abbaustoffe? Oder sind beide Arten von Stoffen 
gleichzeitig dafür verantwortlich? Beruht vielleicht dieser Zustand auf einer 
Störung in der Korrelation verschiedener Stoffe und welcher? 

Diese und ähnliche Fragestellungen haben mich veranlaßt, bei gewissen 
Patienten, z. B. bei schweren hypochondrischen Anfällen, bei akuten Angst¬ 
zuständen oder bei solchen Angstzuständen, die mit Wahnideen einhergehen, 
usw. wiederholt Hormonuntersuchungen ausführen zu lassen und ihre Ver¬ 
änderungen während der psychoanalytischen Behandlung zu kontrollieren. Es 
ist hier keine Zeit und Veranlassung, diese Fälle ausführlich zu besprechen. 
Ich glaube durch einzelne dieser Untersuchungen doch eine vage Antwort 
bekommen zu haben, und so wäre es vielleicht richtiger gewesen, diese 
Fälle zuerst zu demonstrieren. Ich habe dies aber zunächst noch unterlassen, 
weil die Untersuchungen noch spärlich und unabgeschlossen sind. Nun bin 
ich in der mißlichen Lage, der Diskussion über den Todestrieb zuliebe 
auf Fälle zurückgreifen zu müssen, die noch nicht ausführlich demonstriert 
werden können. Wenn ich meinen Vermutungen Ausdruck geben darf, 
sprechen diese Beobachtungen dafür, daß eine starke „Libidostauung“ in 
psychoanalytisch-klinisch verschiedenen Fällen auch verschiedenen Hormon - 
ab bau zeigt, daß in der Korrelation gewisse Verschiebungen klar zu sehen 
s ind, und zwar besonders deutlich in der Bisexualität, die anscheinend in 
Stadien akuter Angst besonders stark zum Vorschein kommt. Wir wissen 
nicht, ob die libidoproduzierenden chemischen Stoffe oder ob ihre Abwehr- 


1 Abderhalden: a. a. O. 























































Todestrieb und Angst 


337 


fermente, oder, was wahrscheinlicher ist, ihr Gemisch, oder Verschiebungen 
in ihrer Korrelation die Zustände verursachen, die wir „Libidostauung“ nennen. 

Hier treffen sich meiner Ansicht nach die beiden Richtungen der Forschung 
wieder: die physiologische und die psychoanalytische. 

Der Zustand, der infolge der Wirkungen der verschiedenen Hormone 
und — wie wir nunmehr wohl hinzufügen dürfen — deren Abwehrfermente 
entsteht, reizt den Organismus zum Abstoßen von Zellenmassen, die die 
Qualität der Fortpflanzung, also die neue Strukturbildung in höchster Potenz, 
in sich tragen. Ist aber die Möglichkeit des Abstoßens mit der damit ver¬ 
knüpften Befriedigung auf irgendwelche Weise verhindert oder gestört, so 
entsteht im Organismus eine Bedürfnisspannung, die sich dem Bewußtsein 
als Angst bemerkbar macht, und die zugleich Reize zur Strukturbildung 
innerhalb des Organismus mit sich bringt. 

Es erschien mir seit der großartigen Konzeption des Todestriebes, daß 
das Problem der Angst mit dieser Konzeption auf das engste verknüpft ist. 

Seit Beginn der psychoanalytischen Forschung standen die Fragen über 
die Angst als Motor aller Symptome im Hintergründe aller psychoanalytischen 
Untersuchungen. Zusammenfassend hat Freud zuletzt in „Hemmung, 
Symptom und Angst“ (1926, Ges. Sehr., Bd.XI) die Angstprobleme besprochen. 
Demnach ist die Angst zunächst phänomenologisch ein „besonderer Unlust¬ 
zustand mit Abfuhraktionen auf bestimmte Bahnen“ (S. 73). Zu der Be¬ 
wältigung der Angst gehört also, daß sie auf vorgebildeten Bahnen abgeführt 
wird. Der Organismus „wirft“ die Angst „aus sich heraus“. Die Motorik 
übernimmt diese Aufgabe, sowohl die Vasomotoren und die gesamte glatte 
Muskulatur, als auch die quergestreiften Muskeln, die entweder vorüber¬ 
gehend gelähmt werden oder auf eine frühere Phase regredieren, indem sie 
sich der Herrschaft des Willens entziehen und sich mit feinen oder groben 
Bewegungen in den Dienst der Angstabfuhr stellen. Wir sagen dann: Der 
Reizschutz, der die lebenswichtigste Funktion des Organismus ist, ist durch¬ 
brochen. Der Organismus ist „überschüttet“. — Womit? — Der Organismus 
jedenfalls wehrt sich gegen irgendeinen Einbruch, und eine seiner Abwehr¬ 
methoden ist eben die Abfuhr durch die Motorik. Aber die Abfuhr der 
Angst ist nicht identisch mit dem Angst a f f e k t selbst. Ebenso wie durch 
Schmerz und Trauer die Funktion der Tränendrüsen beeinflußt wird und 
durch das Weinen Schmerz und Trauer abgeführt werden, aber das Weinen 
keinesfalls identisch mit diesen beiden Affekten ist, so ist auch die Angst¬ 
abfuhr dem Angstaffekt nicht gleichzusetzen. So wartet noch immer die 
Frage: „Wie ist die Angst dynamisch zu erklären?“ auf ihre Antwort. 

Nach der letzten Auffassung von Freud ist die Angst ein vom 
Ich abgegebenes Gefahrsignal. Unter den Gefahren, die vom Ich 






338 


Therese Benedek 


wahrgenommen werden, sind für uns diejenigen wichtig, die im Es entstehen 
„Im Es bereiten sich Vorgänge vor, die dem Ich Anlaß zur Angstentwicklung 
geben“ (S. 81), und Freud definiert die Angst als einen Affekt, der bei 
einer Bedürfnisspannung im Es entsteht. Das Bedürfnis, dessen Ansteigen 
gefürchtet wird, ist nun seinem speziellen Inhalt nach verschieden; in jeder 
Phase der individuellen Entwicklung kann die Bedürfnisspannung libido¬ 
dynamisch anderen Inhalt haben. (Angst vor allgemeinem Objekt Verlust, 
Angst vor analer, genitaler Libidostauung, Kastrationsangst, Angst vor dem 
Über-Ich usw.) 

Die Bedürfnisspannung selbst erklärt nun aber auch nicht restlos die 
Entstehung des Angstaffektes, sie ist nur ihre Vorbedingung. 
Freud selbst sagt, daß es viele Bedürfnisspannungen gibt, die anders 
wahrgenommen werden, z. B. als Schmerz, Traurigkeit, Trauer — oder 
dieselben ßedürfnisspannungen können bei verschiedenen Menschen oder 
unter verschiedenen Umständen einen verschiedenen Grad von Angst her¬ 
beiführen. So sagt der Umstand, daß die Angst ein Gefahrsignal des Ichs 
ist, nur etwas über ihren ökonomischen Sinn aus. Die Angst er¬ 
spart dem Ich, das sich mit ihr auf eine traumatische Situation vorbereitet, 
indem sie deren Erscheinungen in gelinder Weise vorwegnimmt, einen 
traumatischen Schock und schützt so das Ich vor plötzlicher Durchbrechung 
des Beizschutzes. Das ist ihr „Krankheitsgewinn“, und diese Betrachtung 
ist eine ökonomische und als solche noch keine Erklärung für die 
Dynamik des A n g s t a f f e k t e s. 

Für diese können wir nur dann bei Freud eine restlose Aufklärung 
finden, wenn wir die Triebbetrachtung, die er im „Jenseits des Lust¬ 
prinzips inauguriert und im „Ich und Es“ in ihrer klinischen Bedeutung 
das erste Mal ausführlicher untersucht hat, in Betracht ziehen. Hier be¬ 
tont Freud immer wieder, daß die beiden Triebarten, Eros und Todes¬ 
trieb, im Organismus nie allein, nie voneinander unabhängig, sondern 
immer nur miteinander verbunden, legiert Vorkommen. Und wenn man ihn 
und Ehrenberg richtig versteht, dann darf man wohl annehmen, daß 
diese Mischungen ein „labiles Gleichgewicht“ darstellen, welches 
unter bestimmten Umständen gestört werden kann. „In rascher Verall¬ 
gemeinerung möchten wir vermuten,“ sagt Freud (Ich und Es, Ges. Sehr., 
Bd. VI, S. 386), „daß das Wesen einer Libidoregression, z. B. von der genitalen 
zur sadistisch-analen Phase, auf einer Triebentmischung beruht.“ Diesen Vor¬ 
gang dürfen wir uns vielleicht folgendermaßen vorstellen: Es entsteht eine 
Bedürfnisspannung, die das bestehende labile Gleichgewicht stört, und 
unter diesem Druck vollzieht sich die Triebentmischung, derzufolge der 
im Organismus befindliche „Todestrieb“ vorübergehend überwiegt. Die 




































Todestrieb und Angst 


339 


Gefahrsituation, die entstand, ist das Freiwerden von „primärem Masochismus“, 
d. h. von Todestrieb Quantitäten, was zuerst als Angstaffekt wahrgenommen 
wird. Die Angst ist also keine „Todesangst“, sondern sie ist die 
Wahrnehmung des im Organismus f r e i g e w o r d e n en 
Todestriebes oder primären Masochismus . 1 

Freud wird auch dieser Auffassung bereits in „Hemmung, Symptom 
und Angst“ teilweise gerecht. In einer Fußnote auf S. m schreibt er: 
w Es mag auch oft genug Vorkommen, daß in einer Gefahrsituation, die 
als solche richtig geschätzt wird, zur Realangst ein Stück Triebangst hin¬ 
zukommt. Der Triebanspruch, vor dessen Befriedigung das Ich zurück¬ 
schreckt, wäre dann der masochistische, der gegen die eigene Person 
gewendete Destruktionstrieb.“ Ich verallgemeinere hier diese 
Auffassung zu einer dynamischen Erklärung der neu¬ 
rotischen Angst oder besser gesagt der Angst, die aus 
inneren Triebgründen entsteht, überhaupt. 

Diese Schlußfolgerung mag vielleicht übereilt und befremdend klingen. 
Es ist um so angebrachter, sie rückschauend nochmals zu überprüfen und 
zu fragen, ob sie notwendig und berechtigt sei. Wenn es uns wahrscheinlich 
scheint, daß die Libidostauung im Organismus als Resultat verschiedener 
hormonaler Prozesse entsteht — und wir hoffen sogar, daß dies mit der 
Vervollkommnung physiologischer Untersuchungstechnik in der Zukunft 
nachweisbar sein werde —, dann wäre es leicht verständlich, daß die 
hormonalen Prozesse direkt auf das vegetative System wirken und so die 
Erregung entstehen lassen, die wir als Angst wahrnehmen. 2 Wenn dies 
physiologisch so einfach erscheint, muß man dann weiter fragen, ob es 

1) Ähnliche Gedanken spricht Federn in seinem Aufsatz „Die Wirklichkeit 
des Todestriebes“ aus. Abgedruckt im Almanach der PsA. 1931. 

2) Wilhelm Reich meint in seinem Buche „Die Funktion des Orgasmus“, S. 66, 
daß die freiflottierende Angst eine Begleiterscheinung einer bestimmten Form 
vegetativer Irritation der Herztätigkeit sei. M. E. erklärt er damit nur die Angst¬ 
abfuhr. Ich glaube aber, daß meine Auffassung von der Angst der Aktualangst und 
der neurotischen Angst als Folge der somatischen Libidostauung ebenso gerecht 
wird wie die von Reich. Ebenso ergibt sich für Reich wie wahrscheinlich auch 
für alle anderen analytischen Beobachter, daß, wenn der Sexualtrieb nicht befriedigt 
wird, der Destruktionstrieb frei werden und zur Geltung kommen muß. Sicher hat 
Reich — unter gewissen Einschränkungen — recht, wenn er meint, daß die 
Intensität des Destruktionstriebes von der somatischen Stauung abhängt, und daß der 
Destruktionstrieb wächst, wenn die Libido nicht befriedigt wird. Aber dies sagt 
nichts aus über Ursprung und Zugehörigkeit des Destruktionstriebes, der bei diesen 
reaktiven Vorgängen abgeführt wird. Im Gegenteil. Mir erscheinen eben diese von 
Reich so glänzend beobachteten Fälle als Beweis dafür, daß die Libidostauung 
Triebentmischung verursacht, da es keinesfalls als eine genügende Erklärung gelten 
kann, daß „die unterdrückte Sexualerregung sich dem Destruktionstrieb mitteilt“. 
(Reich, 1 . c., S. 153.) 







340 Therese Benedek 


nicht unberechtigt ist, zur Erklärung nun noch den so schwer faßbaren 
Vorgang der „Triebentmischung“ heranzuziehen ? 

Ich halte die Annahme der Triebentmischung, so wie Freud sie im 
„Ich und Es“ (S. 386) dargestellt hat, aus zwei Gründen für unerläßlich • 
Erstens weil es uns ohne solche Annahme schwer fiele, eine Erklärung 
zu finden für die Tatsache, daß Angst nicht nur physiologisch abgeführt 
wird, sondern daß aus dem Physiologischen auch ein Weg zurück ins 
Psychologische führt und die Angst unter Umständen psychisch wieder 
gebunden werden kann, wie z. B. in der Zwangsneurose. Zweitens glaube 
ich, daß diese Auffassung notwendig wird, sobald wir den verschiedenen 
Grad der Angstbereitschaft und die verschiedene Art der Angstbewältigung 
bei verschiedenen Individuen schon von frühester Kindheit an in Betracht 
ziehen und erklären wollen. 

Freud hat den Todestrieb psychologisch zugleich mit dem Wieder¬ 
holungszwang in die Forschung eingeführt, 1 und er wählte dazu das 
schöne Beispiel des anderthalb Jahre alten Kindes, das „Fortsein“ spielt, 
um die Bedürfnisspannung oder Angst zu bewältigen, die es empfindet, 
wenn die Mutter fortgeht. Bei diesem lehrreichen Beispiel liel mir auf, 
daß offenbar nicht alle Kinder dazu fähig sind, auf solche Weise zu 
reagieren. Nicht alle Kinder können dem passiven Erleiden eines Verlustes 
genügend Aktivität entgegensetzen, um damit die angstverursachende 
Situation selbst neu zu schaffen. Dieses Kind hatte das Trauma verinnerlicht 
und durch seine Aktivität die selbst geschaffene Situation dem leidenden, 
passiven Teil der Persönlichkeit dargeboten, um gleichsam zu zeigen . 
„Siehe, es ist gar nicht so schlimm, ich kann es selbst machen und 
ertragen. Dieses Kind ist fähig, die innere Spannung zu ertragen. Diese 
Fähigkeit macht es ihm möglich, einen realen Verlust psychisch vor¬ 
zubereiten, der Angst entgegenzuarbeiten. So kann es sich den Schock 
ersparen, und zwar durch eine Leistung, die zugleich das Ich hebt und 
befriedigt. Dieses Spiel — sozusagen eine Urform der Sublimierung — 
wird aber nicht immer unter ähnlichen Umständen produziert. Viele 
Kinder werden die Vorstellung, daß die Mutter fortgeht, in der Phantasie 
nicht reproduzieren können, weil schon die V orstellung ihnen so viel 
Unlust bringt, daß sie mit Angst reagieren müßten. Deswegen beschäftigen 
sie sich mit dem unangenehmen Erlebnis nicht, sie lassen sich ab- 


1) Obwohl der Wiederholungszwang selbst schon aus der Notwendigkeit, eine 
bestehende, ev. verdrängte, gröbere psychische Besetzung abzureagieren, erklärt 
werden könnte; also die Annahme des Nirwanaprinzips allein würde zur Erklärung 
des Wiederholungszwanges genügen, wenn der lebendige Tonus überhaupt aus einer 
einzigen Triebrichtung ohne „Triebmischung“ erklärt werden konnte. 










































Todestrieb und Angst 


341 


lenken, um sich bei jeder Wiederholung wieder von einem neuen Schock 
erschüttern zu lassen. Sie schreien und strampeln jedesmal, oder ziehen 
sich, wenn sie noch passiver sind, jedesmal von neuem in sich selbst 
zurück und werden unlustig. Diese Kinder können sich die Angst nicht 
ersparen, weil sie die Teilspannung, die bei der Wiederholung in der 
Phantasie entstehen müßte, nicht ertragen können. Sie können die Teil¬ 
spannung aber nicht ertragen, weil das in dem lebendigen Tonus gebundene 
Gleichgewicht so labil ist, daß jede, auch die kleinste, auch die bloß 
phantasierte Bedürfnisspannung dieses Gleichgewicht stört. (Und zwar 
nicht in dem Sinne, wie es bei dem von Freud zitierten Kinde der Fall 
ist, daß die Aktivität mobilisiert und dadurch die Angst überwunden und 
gebunden würde, sondern es wird Passivität, das Gefühl der Ohnmacht 
und damit zusammen Angst, frei.) 

Nicht nur bei Säuglingen und kleinen Kindern können wir diesen 
labilen Tonus feststellen. Wir sehen dies oft genug in jedem Alter an 
unseren Patienten. Es gibt viele Menschen, die keinerlei Reizsteigerung 
ertragen können, weil bei ihnen jede Spannungssteigerung bewegliche 
Energie frei macht, die sofort umgesetzt werden muß. Es sind die 
Menschen, die sich immer gehen lassen, nie auf Befriedigung warten 
können, sofort Angst oder Aggression produzieren, die aber auch die Angst 
nicht, oder nur sehr schwer und vorübergehend binden können, die von 
einem Symptom ins andere fallen. Es sind die schweren Neurotiker par 
excellence, bei denen, wenn wir ihre unzähligen zwanghaften, perversen, 
organneurotischen Symptome analysiert haben, ihre Passivität, ihr primärer 
Masochismus zum Vorschein kommt und wir die größten therapeutischen 
Schwierigkeiten erst bei der Analyse dieses Zustandes haben. 

An dem Freud sehen Beispiel des spielenden Kindes sehen wir also 
ebenso wie an zahlreichen anderen Fällen der analytischen Praxis, daß die 
primäre Labilität des Gleichgewichtes , die primäre Angstbereitschaft , von 
dem nicht gebundenen , nicht verwendeten Anteil des Destruktionstriebes , von 
dem Anteil des primären Masochismus abhängt. So hat Freud durch die 
Entdeckung des primären Masochismus zu der Konstitutionslehre einen 
Beitrag geliefert, den in seiner ganzen Bedeutung erst die zukünftige 
Forschung auszuwerten und zu schätzen lernen wird. 

Kehren wir nun nochmals zu der Angst zurück. Wir wissen, daß die 
Angst abgeführt oder gebunden werden muß. Die Frage, auf welche Art 
und Weise dies geschieht, war das ursprüngliche und noch immer nicht 
ganz erschöpfte Arbeitsgebiet der Psychoanalyse. Es interessiert uns hier 
nur, zusammenfassend zu sagen, daß durch Bindung der Angst neue 
Strukturen entstehen. In dem obigen Fall des spielenden Kindes sehen wir 







342 


Therese Benedek 


schon die Vorstufe der Sublimierung; wir wissen, daß freigewordene Angst 
in Symptomen gebunden wird, die mit der Zeit in das Ich als dessen 
unlöslicher oder schwerlöslicher Bestandteil eingebaut werden. Ebenso 
entsteht durch die komplizierten Bindungen und Identifizierungen die 
Struktur des Über-Ichs, als phylo- und ontogenetisch letzte und vielleicht 
deswegen unserer beobachtenden Forschung noch zugänglichste Struktur¬ 
bildung durch das Zusammenwirken von Eros und Todestrieb. 

Ich habe hier nur an einem kleinen Abschnitt der Angstprobleme 
zeigen wollen, daß die Annahme des Todestriebes uns neue und wichtige 
Gesichtspunkte liefern kann. Das mit dem Todestrieb so eng verbundene 
Kapitel der Aggression habe ich nur im Vorbeigehen berührt, als ich 
erwähnte, daß die Angst, die m. E. frei gewordener Todestrieb ist, sofort 
den motorischen Apparat besetzt. Selbstverständlich habe ich keine Möglich¬ 
keit, die Probleme der Ambivalenz oder der Identifizierung nun noch vom 
Standpunkt des primären Destruktionstriebes aus zu behandeln. 

Ich hoffe, in den strukturbildenden Abbauprozessen der einzelligen wie 
der höchstkomplizierten Organismen einen Hinweis auf den echten 
Dualismus erblicken zu können. Die Abbauprozesse, die die libidobildenden 
Stoffe betreffen, dürften wahrscheinlich mit zur Reizsteigerung beitragen, 
die dann, durch das Nervensystem bewältigt, zur Entstehung von Struk¬ 
turen beiträgt. 

Wenn wir den Dualismus bis zu seiner letzten Konsequenz durchführen, 
dann so scheint es mir mindestens — ordnen sich die Einrichtungen 
der menschlichen Seele als höchste und letzte Strukturbildung naturgemäß 
ein. Wenn wir dies nicht tun wollen, wenn wir die dualistische Trieb¬ 
theorie nur in dem Sinne der alten Trieblehre gelten lassen, dann ent¬ 
steht eine Lücke. Dann bleibt die Frage unbeantwortet, weswegen sich im 
Menschen Einrichtungen ausgebildet haben, die sich als Gegensatz zum 
Sexualtrieb auswirken. Damit würden wir der menschlichen Seele wieder 
eine Ausnahmestellung im Natur^eschehen geben. Eben hier können wir 
uns aber auf biologische Tatsachen beziehen; in der langen Hilfsbedürftigkeit 
des menschlichen Kindes und in der Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung 
haben wir gut begründete Ansatzpunkte. Hier möchte ich Sie nur ganz 
kurz auf eine kleine Arbeit von Professor B o 1 k 1 aufmerksam machen. 
Die von ihm zitierten biologischen und anatomischen Befunde beweisen 
die Wichtigkeit und die Richtigkeit der Gesichtspunkte, die zuerst von 
Freud in die menschliche Psychologie eingeführt wurden: die Zwei-, 
bzw. die Dreizeitigkeit der Sexualentwicklung und damit zusammen die 


i) B o 1 k, Das Problem der Menschwerdung, Fischer, Jena, 1926. 







































Todestrieb und Angst 


343 


hormonale Beeinflussung. So sind wir wieder auf dem Gebiete der Physio¬ 
logie» die uns weitere Aufschlüsse geben soll. 

Freud hat selbst die Annahme des Todestriebes als „spekulativ“ be¬ 
zeichnet, aber ich glaube, daß biologische und triebdynamische Forschungen 
diese Spekulation bald rechtfertigen werden. 









Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 

Von 

Berta Bornstein 

Berlin 

Die kleine Lisa war zwei Jahre vier Monate alt, als sie nach einer 
bis dahin normal verlaufenen Entwicklung an schweren Angsterscheinungen 
erkrankte. Die Angst trat am Abend auf, wenn das Kind ins Bett nieder¬ 
gelegt werden sollte, und wurde so stark, daß das Kind nach vielen 
Stunden Weinens nur mit Hilfe von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zum 
Einschlafen gebracht werden konnte. Mehrere Nächte hindurch stand es 
angstvoll und vor Erregung zitternd in der Ecke des Bettes, immer nur 
die gleichen Worte wiederholend, „Nein, Mama, nein“, womit sie die Mutter 
bewegen wollte, nicht von ihrem Bette zu weichen. Fiel sie dann mit Hilfe 
der Schlafmittel doch in Schlaf, so geschah dies im Sitzen mit geballten 
Fäustchen und einem verkrampften Gesichtsausdruck. In dieser für ein 
schlafendes Kind ganz ungewöhnlichen Stellung fand man sie dann am 
Morgen. Die Kissen, die man ihr in der Hoffnung ins Bett legte, sie 
würde im Schlaf doch Umfallen, blieben unberührt. Im Verlauf der nächsten 
Zeit wurde es dann deutlich, daß die eigentliche Angst des Kindes das 
Liegen betraf. Sie wollte nicht einschlafen, weil sie fürchtete, sich im 
Schlaf hinzulegen. 

Tagsüber war das bis dahin muntere Kind verstimmt, appetitlos, wurde 
zunehmend apathisch und äußerte nur einen Wunsch, auf dem Schoß der 
Mutter zu sitzen. Dieser Zustand hatte ungefähr zehn Tage angehalten, 
als ich die Bekanntschaft des kleinen Mädchens machte. Sein intelligenter 
Gesichtsausdruck verriet, wie sehr es litt. Es war ein besonders gut gepflegtes 
Kind, in gutem körperlichen Allgemeinzustand; besonders gewandt und 
selbständig, auch manuell sehr geschickt. Dagegen schien es ein wenig in 
der Sprachentwicklung zurück zu sein, sprach noch in der dritten Person 
von sich, konnte noch keinen Satz formulieren, verständigte sich aber mit 
Hilfe einiger weniger Kinderworte gut mit seiner Umgebung, die ganz 
auf das Kind eingestellt war. 









































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


345 



Lisa war das einzige Kind intelligenter, fortschrittlich gesinnter Leute. 
Ihre Geburt war sehnsüchtig erwartet worden, nachdem die Ehe mehrere 
Jahre kinderlos geblieben war. 

Beide Eltern zeigten in bezug auf das Kind große Opferbereitschaft, die 
besonders bei der Mutter den Charakter der Überkompensierung einer 
entgegengesetzten Strebung hatte. Ihr Verhalten dem Kinde gegenüber war 
deutlich von Schuldgefühlen diktiert. Die Mutter, die sich bewußt, wie 
sie immer wieder betonte, ein kleines Mädchen gewünscht hatte, zeigte 
nach seiner Geburt dennoch eine heftige Enttäuschungsreaktion, konnte 
nicht glauben, daß das ganz gesunde Kind normal sei, sondern hielt ohne 
jeden objektiven Grund heimlich an der Idee fest, das Kind sei intellektuell 
zumindest zurück. Die Einstellung der Mutter änderte sich mit einem 
Schlage, nachdem sie die Kleine, als sie acht Wochen alt war, einmal 
hatte fallen lassen. Dem Kinde war nichts geschehen, der Mutter aber 
blieb die Sorge, das Kind möglicherweise ernsthaft geschädigt zu haben. 

Abraham hat in seiner Arbeit „Zum weiblichen Kastrationskomplex“ 
darauf hingewiesen, wie sich das unbewältigte Unbewußte der Mütter 
schädlich in der Erziehung der Kinder auswirken muß. Lisas Mutter hatte 
in einem weit größeren Maße, als es im allgemeinen üblich ist, Einsicht 
in die diesbezüglichen Konflikte ihrer Kinderzeit und hatte bewußt die 
beste Absicht, dem Kinde eine Erziehung zu geben, die solche Konflikte 
auf ein Minimum herabsetzt. Sie hat auch tatsächlich alle groben Ein¬ 
schüchterungen, die den Ausgang in solche Konflikte begünstigen, zu 
vermeiden gewußt. Die Krankengeschichte der Kleinen zeigt uns freilich, 
wie wenig die bewußte Einstellung genügt, um Erziehungsfehler zu ver¬ 
meiden, die die Mutter gegen ihren Willen, ganz ohne ihr Wissen, ge¬ 
trieben vom eigenen Unbewußten, beging, indem sie Anforderungen an 
das Kind stellte, denen es noch nicht gewachsen war. 

Aus der Anamnese sei folgendes mitgeteilt: Die Geburt verlief normal. 
Das Kind bekam nur zwei Wochen Brustnahrung, da die Mutter beim 
Anlegen des Kindes Ohnmachtsanfälle bekam. Das Kind gedieh gut bei 
der Flaschennahrung, zeigte besonders leichten Schlaf, wurde nach den 
Anforderungen der modernen Säuglingspflege sehr ruhig gehalten. 

Im sechsten Monat wurde mit der Reinlichkeitserziehung begonnen, 
indem das Kind regelmäßig abgehalten wurde. Im siebenten Monat machte 
das Kind eine Ruhrerkrankung durch, die es so schwächte, daß es das 
Sitzen wieder verlernte. Die Reinlichkeitsgewöhnung der Kleinen war mit 
dem ersten Jahr durchgeführt, angeblich war dieses Ziel ohne jede Strenge 
erreicht worden. Nur einige wenige Male geschah es in späterer Zeit, 
daß das Kind einnäßte. Wir werden später darüber noch hören. 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 ag 









346 


Berta Bornstein 


Das Kind soll von Beginn an sehr stark gelutscht haben, ebenfalls 
genau bis zu einem Jahre, wo die Reinlichkeitsgewöhnung durchgeführt 
war, und wo es das Lutschen gegen eine exzessiv ausgeübte Onanie ein» 
tauschte. Das Kind hat bestimmt nie ein direktes Onanieverbot bekommen, 
doch redete die Mutter ihm zu, wieder mit dem Lutschen zu beginnen, 
da ihr die Onanie zu verfrüht schien, was freilich ohne Erfolg blieb. 

Die Bewegungslust des Kindes war sehr früh und stark ausgeprägt 
und wurde durch die vielen gymnastischen Übungen, die bereits mit der 
Kleinen im Säuglingsalter vorgenommen wurden, weitgehend befriedigt. 

Das Kind hatte bis zum Ausbruch der Neurose eine gleichmäßig 
freundliche Beziehung zu seiner Umwelt, war sehr leicht lenkbar, immer 
vergnügt, hielt immer nach neuen Erfahrungen Ausschau. — Bemerkens¬ 
wert sind die frühen und starken Ekelreaktionen des Kindes, das über 
einen Fleck am Kleide unglücklich sein konnte, obwohl ihm angeblich 
nie ein Vorwurf wegen irgend einer Beschmutzung gemacht worden war. 
Diese Empfindlichkeit gegen Beschmutzung blieb nicht nur auf die eigene 
Person beschränkt, sondern bezog sich auch auf Fremde. 

Die Kleine hatte von Geburt an ein eigenes Schlafzimmer und hatte 
bis dahin niemals irgend welche Angsterscheinungen gezeigt. Sie ließ die 
Mutter ohne Schwierigkeit das Haus für Stunden verlassen und fand 
auch leicht mit Fremden Kontakt. 

Die Mutter wußte sich den Angstausbruch nicht zu erklären. Eine 
Bekannte, die am Tage des ersten Angstanfalles im Hause der kleinen 
Patientin gewesen war, wurde zunächst verdächtigt, die Angst durch ihr 
stürmisches Wesen ausgelöst zu haben. Die Kleine, die sonst besonders 
zutraulich war, soll sich sehr gesträubt haben, sich von dieser Bekannten 
auf den Schoß nehmen zu lassen. Es scheint nicht ganz unwahrscheinlich, 
daß diese kinderlose Frau bei einer Zärtlichkeit mit der Kleinen etwa den 
Ausspruch getan hat: „Ach, wenn ich doch so ein liebes Kind hätte“ 
oder: „Ich werde dich mit mir nehmen“, oder ähnliches. 

Warum sich aber aus diesem Erlebnis die Angst vor dem Liegen 
entwickelt haben soll, war in keinem Punkte klar. Mehr wußte die 
Mutter nicht anzugeben, und es blieb uns nichts anderes übrig, als das 
Kind sorgsam zu beobachten, seinen nun seit der Krankheit eingeschränkten 
Aktionen und seinen geringen sprachlichen Äußerungen unvoreingenommen 
entgegenzutreten, um den Sinn seiner Phobie zu verstehen und unsere 
therapeutischen Maßnahmen danach zu richten. 

Nur an einigen Stellen wurde es unerläßlich, den Boden der bloßen 
Beobachtung zu verlassen und an Stelle dessen etwas suggestiv vorzugehen, 
um das durch Schlaflosigkeit geschwächte Kind zur Ruhe zu bringen. 




















































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


347 



Allerdings haben diese Versuche, suggestiv auf das Kind einzuwirken, 
nicht sehr weit geführt, sie haben indessen dazu beigetragen, den Kontakt 
mit der Kleinen schnell zu gewinnen. Im folgenden soll die Behandlungs¬ 
geschichte der Kleinen möglichst chronologisch und ausführlich dargestellt 
werden. Die seltene Gelegenheit einer analytischen Beobachtung eines so 
jungen Kindes rechtfertigt diesen Versuch. Die Behandlung erstreckt sich 
über ungefähr zwei Monate mit dreißig Behandlungsstunden. 

Das Kind zeigte sich bei den ersten Zusammenkünften vollkommen 
apathisch, an der Außenwelt desinteressiert. Seine um jene Zeit einzige 
Beschäftigung bestand darin, sich von der Mutter sanft hin und her 
schaukeln zu lassen. Das Vertrauen des Kindes wurde gewonnen, indem 
ich in seiner Gegenwart mit der Mutter über die Unlust des Kindes, zu 
schlafen, resp. zu liegen, sprach, in für das Kind verständlichen 
Worten der Mutter riet, den Mittagsschlaf, der nun seit zehn Tagen unter 
den gleichen Angsterscheinungen verlief wie die Nächte, einzustellen. 
Die Angst des Kindes war um jene Zeit so stark, daß die Kleine, die nie 
irgend welche Schwierigkeiten gezeigt hatte, sich nun in Erweiterung des 
„phobischen Vorbaus“ auch weigerte, zu essen, weil Essen und Schlafen 
für sie zusammengehörige Akte waren. 

Ich verspreche weiter dem Kinde, daß in der Nacht eine Lampe brennen 
solle, bis es sich nicht mehr fürchtet, verdunkle dann im Spiel das Zimmer 
und lasse es mit großer Schnelligkeit wieder hell werden, wiederhole 
dieses viele Male, veranlasse das Kind, allein das Zimmer wieder hell 
und dunkel werden zu lassen, und vermittle ihm die Freude an der 
neugewonnenen Fähigkeit, die Vorhänge an den Fenstern zu regulieren, 
und an der neugewonnenen Erkenntnis, daß nach dem Dunkel das 
Hell folge. Ich hole mir dabei den Eindruck, daß die Angst des 
Kindes nicht in direktem Zusammenhang mit der Dunkelheit zu stehen 
scheint, erfahre dann auch, daß das Kind angstlos in dunkle Räume geht, 
ausgenommen ins eigene Schlafzimmer. Offenbar wird dieses ähnlich wie 
das Essen wegen der gedanklichen Verbindung mit dem Schlafengehen 
gemieden. (Ich esse nicht, ich gehe nicht in mein dunkles Schlafzimmer, 
weil man mich sonst in mein Bett legt.) 

Bei der vierten Besprechung im Hause des Kindes habe ich bei dessen 
Abendbrot Gelegenheit, die raffinierten Methoden kennenzulernen, mit 
denen die Kleine das Zubettgehen hinauszuschieben versucht. Sie werden 
ihr scherzend entwertet und die Kleine direkt um Auskunft gebeten, 
was sie denn im Bett eigentlich befürchte. Sie antwortet darauf mit der 
Aufzählung ihrer Missetaten, die den Charakter schwerer Selbstanklagen 
haben. Diese Selbstanklagen beziehen sich auf objektiv harmlose Aggres- 


23 * 






348 


Berta Bornstein 


sionen, die sie gegen Dinge und Menschen vorgenommen hatte, und für 
die sie weder irgendwie gestraft noch gescholten worden war. Das manuell 
besonders geschickte Kind soll von jeher auf irgendwelche kleine Schäden, 
die es anrichtete, mit besonderer Trauer reagiert haben, so daß es immer 
nötig war, die Kleine in solchen seltenen Situationen zu trösten und zu 
beruhigen. 

Ich bringe im folgenden die wörtlichen Äußerungen des Kindes: 
„Da Tasse aua“, was in die Sprache der Erwachsenen übersetzt 
heißt: „Da, die Tasse ist zerbrochen, hat Schmerzen, ,Aua‘, und 
ich bin schuld daran.“ Tatsächlich hatte sie mehrere Wochen zuvor 
einmal diese Tasse fallen lassen, wobei diese ein wenig beschädigt worden 
war. „Da auch aua.“ Sie zeigt auf ein Lätzchen, dem sie einmal beim 
Versuch, es selber aufzubinden, ein Band abgerissen hatte, das längst 
wieder befestigt war. Sie erwähnt dann in gleicher Weise noch mehrere 
Gegenstände, die sie beschädigt hatte, wobei es auffallen muß, daß diese 
Vorkommnisse schon mehrere Wochen zurücklagen. Sie erwähnt ferner, 
daß die Mutter „da Auge aua“ hat, womit sie sagen will, daß sich die 
Mutter selber am Auge wehe getan hatte; sie war bei einer Einträufelung, 
die sich die Mutter ins Auge machte, zugegen gewesen. Endlich weiß sie 
noch in ganz geknicktem Zustand mitzuteilen, daß sie selber der Mutter 
wehe getan hätte, woran sich weinerlich der mit Angst wiederholte Aus¬ 
spruch knüpfte: „Nein, Mama, nein!“, womit sie die Mutter zu bewegen 
suchte, bei ihr zu bleiben. 

Bringen wir die Angstvorstellung des Kindes, von der Mutter verlassen 
zu werden, mit den Selbstanklagen in Zusammenhang, so liegt die Ver¬ 
mutung nahe, daß die Kleine gefürchtet habe, sie könnte ihrer kleinen 
Missetaten wegen von der Mutter verlassen werden. 

Die wiederholte Versicherung, daß die Mutter sie trotzdem lieb habe, 
bewirkt, daß die Kleine auszuprobieren versucht, wie weit ihr die Wahr¬ 
heit gesagt wird, indem sie nun tatsächlich die Mutter wie im Scherz 
zu schlagen beginnt und glücklich vor sich hinlächelt, als diese das 
Schlagen als einen Scherz auffaßt, ja noch einmal versichert, daß sie die 
Kleine lieb habe. Das Kind läßt sich daraufhin zum ersten Male wieder 
ohne Schreierei ins Bett bringen, schläft bei Licht ein und bleibt bis zum 
Morgen in der eingangs beschriebenen Haltung, also im Schlaf sitzend 
mit verkrampften Händen. 

Wir müssen uns nun die Frage vorlegen: Woher stammt die Aggression 
des kleinen Mädchens gegen ihre Mutter, und wie hängt die Phobie des 
Kindes damit zusammen? 

Die Besprechung am folgenden Tage gibt uns darüber Auskunft. Die 















































1 




Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 349 

kleine Patientin nimmt von sich aus das „Aua“-Thema wieder auf. Sie 
wiederholt wortgetreu die schon einmal gemachten Selbstanklagen, nimmt 
wieder wie am Vortage die Beruhigung mit Befriedigung zur Kenntnis 
und behauptet plötzlich, sich auf ihrem Stühlchen wehe zu tun, eine Be¬ 
hauptung, auf die sie übrigens auch späterhin immer wieder zurückgreift, 
ohne daß ein objektiver Grund vorzuliegen scheint. Auf ihr Genitale 
deutend, sagt sie dann: „Da Lisa auch Aua“, was nach ihren bisherigen 
Mitteilungen so zu verstehen wäre, daß sie sich selber durch irgend eine 
Manipulation am Genitale verletzt hätte. Zu dieser Vermutung würde auch 
die Beobachtung der Mutter passen, nach der die Kleine in diesen Tagen 
eine Änderung in ihrer Onanietechnik hatte eintreten lassen. Während sie 
bis dahin, soweit beobachtet wurde, durch Zusammenpressen der Schenkel 
onanierte, preßt sie sich jetzt Windeln oder Servietten, deren sie habhaft 
wird, zwischen die Beine und scheint so demonstrieren zu wollen, daß sie 
am Genitale nicht „aua“, d. h. unverletzt ist, also ein männliches Geni¬ 
tale besitze. Stimmt unsere Vermutung, so muß Lisa Gelegenheit gehabt 
haben, ein männliches Genitale zu sehen, das ihrige damit verglichen und 
sofort den uns zwar aus Analysen bekannten, aber doch erstaunlichen 
Schluß gezogen haben, sie sei dem Knaben gegenüber durch eine Ver¬ 
letzung benachteiligt. 

Dem Kind gegenüber äußern wir nichts von unseren diesbezüglichen 
Vermutungen, um es in keiner Richtung in seinen weiteren Mitteilungen 
zu beeinflussen. Der weitere Verlauf der Behandlung der Kleinen zeigt 
uns, wie solche „Deutungen“ auch beim Kleinkind überflüssig sind, ja, 
daß sie ebenso wie in der Erwachsenenanalyse uns den Einblick in das 
weitere Material versperren können. Erst die genaue Kenntnis der indivi¬ 
duellen Erlebnisse des Patienten kann uns Aufschluß bringen. Allerdings 
war es auch uns überraschend, zu sehen, daß ein solches analytisches Vor¬ 
gehen in so zartem Alter bei so geringer Sprachfähigkeit möglich war. 

Lisa berichtete nämlich weiter, daß nicht sie allein „aua“ sei, sondern 
wiederholte immer wieder, daß auch „Dada“, die Köchin des Hauses, „aua“ 
sei. Ich lasse mich vom Kinde zu der Köchin führen, frage, wo diese „aua“ 
sei, worauf das Kind mehrere Male auf deren Genitale zeigt und äußert: 
„Da Dada aua baba“ (da ist die Dada verletzt und schmutzig, ekelerregend). 
Man versichert dem Kinde, daß diese weder verletzt noch schmutzig sei, 
und muß bei der Hartnäckigkeit, mit der die Kleine bei ihrer Behauptung 
bleibt, auf eine Beobachtung an der Köchin schließen, welche übrigens, 
befragt, ob sie sich je vor dem Kinde entkleidet habe, energisch verneint. 

Lisa wird nun darüber aufgeklärt, daß sie selbst gewiß nicht verletzt 
sei, sondern daß ihr Genitale so ausschauen müsse, ja, daß es gut und 









Berta Bornstein 


350 

schön sei, so wie es sei, worauf das Kind in seiner Sprache mitteilt, die 
Mutter habe sein Genitale so verletzt, weil es schlimm sei. „Da Mama Lisa 
aua, Lisa nein gut.“ 

Wir haben hier in der direkten Äußerung des kleinen Mädchens eine 
Bestätigung für den sonst nur aus Analysen erschlossenen Zusammenhang 
„daß am Ende fast immer die Mutter für den Penismangel verantwortlich 
gemacht wird, die das Kind mit so ungenügender Ausrüstung in die Welt 
geschickt, hat“. 1 Wir möchten gern erfahren, ob die Aggression der Kleinen 
gegen die Mutter Ausdruck ihrer Feindseligkeit wegen der Penislosigkeit 
ist, oder ob diese Feindseligkeit bereits aus früheren Motiven stammt, um 
bei der neuerlichen, vermeintlichen Zurücksetzung durch die Mutter neu 
aufzuflackern. 

In der Nacht nach der oben mitgeteilten Unterredung wacht Lisa 
weinend auf, nachdem sie sich abends wieder ohne Sträuben ins Bett 
hatte bringen lassen, und berichtet einen Traum: „Opa Du Du“, was be¬ 
deutet, der Großvater sei ihr im Traum erschienen, habe ihr gedroht oder 
sie geschlagen. 

Sie motiviert nun ihre Angst vordem Liegen und vor dem Einschlafen 
mit der Angst vor Träumen vom Großvater. Leider wird ihr, um sie wieder 
zum Insbettgehen zu bewegen, die Suggestion gegeben, den Großvater 
wieder fortzuschicken, falls er ihr wieder im Traum begegne; sie sei nicht 
schlimm und man brauche ihr nicht zu drohen. Die Kleine geht mit 
Vergnügen auf diesen Scherz ein, verlangt dann durch einige Zeit hin¬ 
durch vor dem Einschlafen die Wiederholung dieser Worte. Mit dieser 
rasch und gut wirkenden Suggestion haben wir das Verständnis für diesen 
wichtigen Traum unnötigerweise um mehrere Wochen hinausgeschoben. 

Es war vollkommen unverständlich, warum das Kind den besonders 
freundlichen und liebevollen Großvater im Traume zur drohenden und 
schlagenden Person werden läßt. Da der Traum in der Nacht nach 
jenem Gespräch über die „GenitalVerletzung“ geträumt war, drängte sich 
die Annahme auf, daß der Großvater vielleicht doch einmal die Kleine bei 
der Onanie ertappt und verwarnt hatte. Alle solche Annahmen führten uns 
aber nicht weiter; auch um Kinderträume in so zartem Alter zu verstehen, 
bedarf es in vielen Fällen der Mitteilungen des Träumers. Ich möchte 
schon an dieser Stelle die richtige Deutung des Traumes einfügen, obwohl 
sie sich erst später und in anderem Zusammenhänge ergab. 

Das Lieblingsspiel der Kleinen war in gesunden Tagen das „Kuckuck¬ 
spiel , welches darin bestand, sich zu verstecken und dann „Kuckuck“ zu 

1) Freud, Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes. 
Ges. Sehr., Bd. XI. 







































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


351 


rufen, was die Kleine, die ja noch sehr schlecht sprach, oft als „Duduk“ 
oder sogar auch fast wie „Dudu“ auszusprechen pflegte. Der Traum lautete 
also: „Der Großvater versteckt sich, ist weg.“ Wir wissen aber bereitsaus 
dem Ausruf des Kindes, daß es befürchtet, auch die Mutter werde fort- 
gehen, es beginnt auch in diesen Tagen zum ersten Male die Mutter auch 
tagsüber nicht fortgehen zu lassen. Nun hatte sich dieser Großvater neben 
seinen vielen Geschenken an die Kleine durch zweierlei Taten wirklich 
ausgezeichnet und die Enkelin in eine ambivalente Haltung zu sich ge¬ 
bracht, 1) dadurch, daß er, wie das Kind mir später im Spiel demon¬ 
strierte, sich tatsächlich beim Spaziergang hinter einen Baum versteckt 
hatte, um zu urinieren (also zwei erschreckende Tatsachen zugleich, erst 
das plötzliche Fortsein des Großvaters und dann das Erscheinen des 
Penis), 2) macht aber die Kleine den Großvater verantwortlich für das Ver¬ 
schwinden der Mutter. Diese wurde von dem Großvater mehrere Male 
gerade in jener Zeit vom Hause abgeholt, um bei der kranken Gro߬ 
mutter zu bleiben. Nun wird es uns verständlicher, warum der Traum 
„Opa Dudu“ in Angst ausgehen mußte. Er enthält zunächst „Dudu“ als 
Drohung aufgefaßt — den Angstinhalt der Kleinen: „Wenn ich nicht 
brav bin, wird die Mutter vom Großvater weggeholt.“ Darüber hinaus aber 
wohl den Wunsch, der Großvater möge wieder „Dudu“ spielen, verschwin¬ 
den und den Penis sehen lassen. Man versteht auch, daß ein solcher 
Wunsch für das Kind, das offenbar gerade im Beginn seiner Sexual¬ 
forschung stand und zum Vergleich mit dem eigenen Genitale angeregt 
wurde, keineswegs nur angenehm war. Da sie die Mutter für das Fehlen 
des Penis verantwortlich machte, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach 
gerade in einer solchen Situation eine feindselige Regung gegen die Mutter 
empfunden haben, was zur Folge haben könnte, daß sich nun die Mutter ihrer¬ 
seits von ihr abwenden, sie verlassen und so sie nicht mehr beschützen, 
sondern sich dem Großvater zuwenden würde. Diese Vorstellung erweist 
sich dann tatsächlich in der späteren Behandlung als im Mittelpunkte ihrer 
Angst stehend. Möglicherweise enthält die Idee, die Mutter werde sich 
dem penisbesitzenden Großvater zuwenden, sich und ihn so der Kleinen 
entziehen, schon die erste Andeutung des Ödipuskomplexes. 

Die nächsten Stunden führen zur gründlicheren Besprechung des Ge¬ 
schlechtsunterschiedes. Lisa bekommt von mir drei Bastpuppen, die sie so¬ 
fort als „Mama“, „Papa“ und „Baby“ bezeichnet. Nach monotonen Wieder¬ 
holungen, daß sie „aua“ sei, beginnt sie die Puppen zu untersuchen, 
äußert dann bald nicht mehr, daß sie selbst „aua“ sei, sondern die kleine 
Babypuppe sei es zwischen den Beinen. Auf Befragen gibt sie stets ganz 
richtig an, daß die ihr bekannten Buben, der Vater und der Großvater 







352 


Berta Bornstein 


nicht „aua“ seien, die Mutter sei auch nicht „aua“, die Köchin dagegen sei 
„aua baba“, wobei sie wieder die gleiche Ekelreaktion zeigt wie am Tage 
zuvor. Lisa beginnt nun seit neuestem sich auch zu weigern, sich auf 
das Töpfchen zu setzen, und macht verschiedentliche Versuche, im Stehen 
zu urinieren. (Wieder eine Bestätigung, daß Lisa Gelegenheit gehabt haben 
muß, einen urinierenden Mann oder Buben gesehen zu haben.) Im Spiel 
wird Lisa aufgefordert, ihre Puppen auf den Topf zu setzen, wobei sie 
sowohl die Vater- als auch die Mutter- und die Babypuppe beim Urinieren 
stehen läßt. Gegen die Erklärung, daß der Vater und die Buben stehen 
können, während sie und die Mutter sich bei dieser Gelegenheit besser 
niedersetzen, daß dies gut und schön so sei, daß es so sein müsse, es der 
Mutter und dem Vater auch gefalle, daß sie so ein Mädchen hätten usw., 
ist sie mißtrauisch. Vor allem kann sie es nicht glauben, daß die Mutter 
nicht ebenso wie der Vater ein Glied habe, nicht ebenso wie dieser 
beim Urinieren stehe. Sie verlangt in den nächsten Tagen, von der 
Mutter auf das Klosett mitgenommen zu werden, was aber nicht geschieht. 
Die Kleine scheint von diesem Spiel und Gespräch sehr erregt zu sein. 
Als ich eine kleine Puppe niederlege, beginnt sie voll Angst zu schreien 
und am ganzen Körper vor Erregung zu zittern. Die Phobie breitet sich 
nun in den nächsten Tagen zusehends aus. Während sie bisher nur selber 
nicht liegen durfte, kann jetzt kein Gegenstand in ihrer Gegenwart ins 
Liegen gebracht werden, ohne daß sie Angst und Unruhe zeigte. Auf das 
abendliche Bad, das die Kleine bis dahin besonders liebte, muß ebenfalls 
verzichtet werden. Sie fürchtet zu sehr, im Bade zum Liegen veranlaßt 
zu werden, und meidet darum die Badewanne. In den nächsten Tagen 
wacht sie weinend auf, verlangt auf den Topf gesetzt zu werden, beginnt 
danach das Angstgeschrei wieder. 

Lisa klagt nun nicht mehr, daß sie „aua“, penislos sei, sondern zeigt 
immer mit leidendem Gesicht auf ihr Köpfchen, dort hätte sie das „Aua“. 
Da die genaueste Beobachtung zeigt, daß Lisa keinerlei objektiven Grund 
hat, über Kopfschmerzen zu klagen, zieht man mit Erstaunen den Schluß, 
daß die Kleine, so wie wir es von Hysterien her gewohnt sind, eine 
Verschiebung von unten nach oben vorgenommen hat. Wir konnten auch 
erfahren, wie die Kleine dazu kam, eine solche Verschiebung vorzunehmen. 
Sie entdeckte bei ihrer „Babypuppe“ aus Bast eine Vertiefung, die sie 
dazu veranlaßte, anzunehmen, die Puppe sei ebenso „aua“ am Kopfe, wie 
sie am Geschlechtsteil. Die Tatsache, daß sie sich plötzlich nicht mehr 
kämmen ließ, und daß sie nun schwere Angstanfälle bekam, wenn in ihrer 
Anwesenheit sich jemand mit dem Föhnapparat die Haare trocknete, 
während dieser wie verschiedene andere elektrische Apparate bisher zu 










































Die Phobie eines zweieinhalb) ährigen Kindes 


353 


ihren Lieblingsspielzeugen gehörten, legt die Vermutung nahe, daß das am 
Kopf und Genitale Gemeinsame eben die Haare waren, die ihr am Genitale 
ebenso fehlten wie das Glied. Die Angst setzte beim Haartrocknen 
besonders stark ein, wenn die Kleine die Haare „wegfliegen“ sah, wahr¬ 
scheinlich weil dies eine Bestätigung für sie bedeutete, daß das Glied oder 
die Schambehaarung ebenso fortgenommen werden könnten. 

Lisa äußert wieder Eßunlust, und zwar dieses Mal nicht wie im Anfang 
der Phobie, um sich vor dem Insbettgehen zu schützen, sondern ihre E߬ 
unlust hängt mit einem deutlichen Ekel vor den Speisen zusammen. Sie 
speit die in den Mund genommenen Bissen voller Ekel wieder aus. Die 
Befragung des Kindes nach Motiven hierfür fällt negativ aus. Es erfolgt 
nur monoton „Baba“, ihr Ausdruck für Ekelgefühle und Exkremente 
zugleich. Möglicherweise ist also eine unbewußte Gleichsetzung der 
Exkremente mit den zu essenden Speisen bei der neu auftretenden starken 
Abwehr des Essens beteiligt. 

Einige Gespräche mit dem Kinde über den Weg, den das Essen in und 
aus ihrem Körper nimmt, interessieren sie sehr und lenken ihr Interesse 
vom bloßen Vergleich ihrer Genitalien mit denen anderer Personen ab 
und auf den übrigen Körper hin. Sie freut sich tagelang an der Fest¬ 
stellung, daß sie ebenso wie Vater und Mutter allerlei Organe habe, daß 
auch sie Brüste bekommen werde wie die Mutter. Fragt dabei wieder; 
„Lisa nein aua ?“ „Lisa auch Haare?“ Sie führt mich dann ins Schlaf¬ 
zimmer ihrer Eltern, zeigt auf das Bett des Vaters „Da Papa“, auf das 
Bett der Mutter zeigend „Da Mama, Bauch, Haare“. Lisa hat also bei 
ihren wenigen Besuchen, die sie zuweilen am Morgen im Schlafzimmer 
der Eltern machte, die Mutter entblößt gesehen und dabei deren Scham¬ 
behaarung bemerkt, die ihr ebenso imponiert haben muß wie der Penis 
des Großvaters, da sie sich diese so brennend wünscht. Daß sie irgendeine 
Beobachtung am Vater gemacht hätte, erwähnt sie nicht direkt, aber eine 
Handlung, die sie dann anschließend im Spiel vollzieht, macht eine 
Beobachtung auch beim Vater wahrscheinlich. 

Sie zieht mich vor den Spiegel im Schlafzimmer, streift ihr Höschen 
ab, betrachtet interessiert im Spiegel ihr Genitale, äußert wieder traurig: 
„Nein Lisa Haare, Lisa aua?“ Nochmalige Korrektur meinerseits, Ver¬ 
sprechen, daß sie Haare und Brüste bekommen werde wie die Mutter, 
ebenso schön usw. Sie scheint endlich zu glauben, atmet befreit auf, zieht 
das Höschen wieder über. Nach einigen Minuten zieht sie mich wieder 
vor den Spiegel, führt die gleiche Szene des Höschenabstreifens auf, nimmt 
ein Handtuch, das sie zwischen die Beine steckt, und äußert dazu voller 
Erregung: „Da Dada aua baba“, was wohl nichts anderes bedeuten kann 









354 


Berta Bornstein 


als die Wiederholung einer Szene, die die Kleine bei der Köchin erlebt 
haben muß. Wir vermuten, die Kleine war Zeugin bei einem Binden- 
Wechsel während der Menstruation des Mädchens, wobei wir nicht angeben 
können, ob die Kleine das Blut als solches perzipiert hat. Wahrscheinlicher 
erscheint es uns, daß sie das Blut, sicher aber die blutige Menstruations¬ 
binde eben als eine anale Beschmutzung aufgefaßt haben muß, eben als 
„baba“. Wir versichern nun der Kleinen, daß sie sich nicht zu fürchten 
brauche, daß die Köchin nun wieder schön und sauber sei wie sie selber 
daß diese keinerlei Schmerzen habe, eben durchaus nicht „aua“ sei. 

Aua-sein und Beschmutztsein scheinen also verwandte, noch nicht 
differenzierte Dinge. Wir werden so darauf hingewiesen, daß die Angst, 
durch die Schuld der Mutter „aua“ zu sein oder zu werden, die offenbar 
ihrer Aggression zugrunde liegt und sie in Schranken hält, ihre Wurzel 
schon in der besonders frühen Reinlichkeitserziehung haben muß, über 
die zunächst so wenig zu erfahren war. 

Das Kind läßt sich nun bestätigen, daß alle ihre Organe heil und 
„schön seien, sagt, wie erlöst auf den Kopf zeigend, „Da Haare, nein Aua“. 
Sie verlangt dann sofort eine Schere und versucht der Bastpuppe, die sie 
als „Papa“ bezeichnet, die „Haare“ abzuschneiden, zeigt also aktive Kastra¬ 
tionstendenzen. Wir dringen an diesem Tage nicht weiter in das Kind, 
das nach diesen Mitteilungen erschöpft scheint. Lisa beobachtet nun 
genauestens ihre Mutter beim Essen und fragt ununterbrochen, wohin der 
im Mund verschwundene Bissen gelange. Sie versucht der Mutter den 
Mund zu öffnen, ihr das Essen buchstäblich aus dem Munde herauszu¬ 
nehmen, wobei ihre Ekelreaktionen allmählich geringer werden. Diese 
Handlungen werden dem Kinde von der Mutter bald untersagt. Das Kind 
hat sowohl zu der symbolisch ausgeführten Kastration an der Puppe, die 
sie als „Vater bezeichnete, wie an diesem merkwürdigen Verhalten beim 
Essen der Mutter gegenüber keinerlei Aufklärungen gegeben. Unsere Frage, 
warum sie das täte, beantwortete sie nicht weiter. Beachtenswert ist, daß 
das Interesse für die Speisen, die im Mund der Mutter verschwinden, 
nur einige Stunden später nach dem Kastrationsspiel auftrat, möglicher¬ 
weise die Darstellung einer Phantasie ist, die so oft von Patienten in der 
Analyse gebracht wird, daß die Mutter den Penis des Vaters esse. Drei 
Arten des Verschwindenlassens scheint die Kleine begriffen zu haben und 
sich vor allen dreien zu fürchten: „Schneiden“, was sie zwar mit großer 
Lust an der „Papapuppe“ machte. (Von diesem Spiel an läßt sie sich 
nicht mehr die Nägel reinigen, weil sie fürchtet, man werde ihr dabei 
auch die Nägel schneiden.) „Wegfliegen“, was sie beim Trocknen der 
Haare am Föhnapparat erlebt, vor dem sie dann ebenfalls Angst entwickelt. 











































Die Phobie eines zweieinhaibjährigen Kindes 


355 


Und „Beißen“, „Essen“, gegen das sie dann selber einen kurz anhaltenden 
Abscheu entwickelt und was sie der Mutter nicht gestattet. Zwei- oder 
dreimal versucht das so besonders reinliche und appetitliche Kind den 
Bissen, den sie der Mutter tatsächlich aus dem Munde holt, in den eigenen 
Mund zu stecken. „Nein, nicht die Mutter soll es haben, sondern ich.“ 
Die Aggression gegen die Mutter ist hier also noch nicht geschieden von 
dem prägenitalen Objektziel der „Einverleibung“. 

Melanie Klein hat immer wieder auf die Beobachtung Gewicht gelegt, 
daß das erste als schuldvoll erlebte prägenitale Objektziel der Kinder lautet: 
Ich möchte das Körperinnere der Mutter rauben und mir einverleiben. Ob 
dieses Körperinnere, in unserem Fall die Speisen, schon irgendwie mit dem 
Penis des Vaters identifiziert werden, oder ob sich daran nur die Vor¬ 
stellung knüpft, „mir hat die Mutter den Penis beziehungsweise die Haare 
fortgegessen“, können wir leider nicht angeben. Vielleicht sind alle diese 
Gedanken miteinander noch undifferenziert verdichtet, wobei das „Essen“ 
gewiß außer Milch-, Penis- und Haarbedeutung auch die des Kotes hat, der 
ja in der frühen Reinlichkeitserziehung dem Kinde von der Mutter geraubt 
worden ist. 

Ein einziges Detail, das von der Umgebung des Kindes am gleichen 
Tage beobachtet wurde, spricht freilich für die Annahme, daß die Kleine 
sich bereits irgendwelche Gedanken über die Beziehungen zwischen Vater 
und Mutter gemacht haben muß. Sie ließ sich verschiedene Dinge aus 
ihren Bausteinen bauen, bezeichnete einen Baustein als das Bett des Vaters, 
einen andern als das Bett der Mutter, warf dann die „Papa“puppe aus 
dem Bett und legte die „Baby“puppe zur „Mama“puppe. Sie wird dann 
mehrere Male von der Mutter gefragt, ob sie gerne mit dem Papa im 
Zimmer schlafen wolle, worauf sie regelmäßig ablehnt, dagegen den 
Wunsch äußert, mit der Mutter beisammen zu schlafen. Es sieht wieder 
aus, als würde sie sagen: Der Vater = Großvater soll mir die Mutter nicht 
wegholen. 

Sie beginnt wieder etwas heiterer zu werden, aktiver, erlaubt, wenn 
auch noch mit Angst, daß irgend ein Gegenstand in ihrer Anwesenheit 
ins Liegen gebracht wird; kurz darauf demonstriert ihr die Mutter immer 
wieder, daß sie selbst sich zum Schlafen niederlege und jederzeit wieder 
aufstehen könne, wenn sie wolle. Die Kleine versucht nun auch im Spiele 
sich selber auf den Boden auszustrecken, wobei sie freilich einen schweren 
Angstanfall erlebt, so daß diese Spiele nun für einige Tage wieder unter¬ 
bleiben. 

Gegen die Mutter zeigt sie sich im Gegensatz zu früheren Zeiten 
besonders trotzig. Sie läßt sich weder von ihr an- noch auskleiden, ist in 







356 


Berta Bornstein 


jeder Weise unfolgsam, quält die Mutter während der Spaziergänge, indem 
sie darauf beharrt, unzählige Male immer wieder von der gleichen Stufe 
eines Hauses hinunterzuspringen und ähnliches. (Der Wunsch nach der 
Wiederholung solcher Spiele ist zwar für dieses Alter durchaus charakteri¬ 
stisch, aus der Art aber, in der die Kleine gerade der Mutter gegenüber 
auf der ununterbrochenen Wiederholung dieser Spiele bestand, war der 
Trotzcharakter gegen sie deutlich.) Während sie bis dahin gegen die Mutter 
besonders gefügig war, wird sie bei einer solchen Gelegenheit gegen die 
Mutter aggressiv, stößt sie mit Füßen, versucht zu beißen usw. Zugleich 
ist sie zum ersten Male in ihrem Leben obstipiert, und zwar mehrere 
Tage hindurch. Sie weigert sich entschieden, sich auf den Topf setzen zu 
lassen, und bestätigt damit unsere Vermutung von der Herkunft der der 
Mutter geltenden Aggression aus der Reinlichkeitserziehung. 

In den Unterhaltungen mit mir nimmt sie das Thema des Geschlechts¬ 
unterschieds wieder auf, demonstriert mir dabei die schon erwähnte Szene 
mit dem Großvater, der sich hinter dem Baume versteckte, um zu urinieren. 
Auf meine Frage, ob und wo sie noch Männer oder Buben gesehen hätte, 
gibt sie die Turnstunde an, die sie seit längerer Zeit mit gleichaltrigen 
Kindern besucht und sehr liebt. Es war zu Beginn der Phobie gleich 
auf gefallen, daß sie ihr Benehmen dort sehr stark geändert hatte. Da ja 
aber die Apathie des Kindes bald durchgängig wurde, hatte man dem 
keinerlei besondere Bedeutung geschenkt. In den Tagen der gesteigerten 
Aggression gegen die Mutter war sie dann auch ganz gegen ihre Gewohnheit 
in der Turnstunde andern Kindern gegenüber aggressiver und machte auf 
dem Hin- und Rückweg von und zur Turnstunde große Schwierigkeiten. 

Die Mutter meinte zunächst, daß das Kind in der Turnstunde wohl nie 
Gelegenheit gehabt hätte, ein Kind beim Urinieren zu beobachten, auch 
kaum beim Umkleiden, bis die Kleine wiederum im Spiele demonstrierte, 
was die Mutter vergessen und woran sie sich nun zu ihrem Erstaunen 
durch die Kleine erinnern lassen mußte: Es war dies die allmonatliche 
Untersuchung in der Gymnastikstunde, in der die Kleine zufällig mit 
einem kleinen, nackten Buben zusammen ins Zimmer gebracht wurde. 
Die Mutter konnte nun auch hinzufügen, daß diese Untersuchung einige 
Tage vor Ausbruch der Phobie stattgefunden hatte und, was bis dahin 
auch von der Familie vergessen worden war, daß die Kleine bereits mehrere 
Tage vor Ausbruch des ersten großen Angstanfalls während einiger Nächte 
ganz gegen ihre Gewohnheit aufgewacht sei, nach dem Töpfchen 
verlangt habe und nur weinend und etwas beunruhigt wieder ein¬ 
geschlafen war. 

Es scheint also, daß diese Beobachtung in der Turnstunde, ebenso wie 









































Die Phobie eines zweieinhalb)ährigen Kindes 


357 



die an der Köchin und die am Großvater, die Idee des Kindes, durch die 
Mutter benachteiligt zu sein, aktiviert habe. „Wenn du mich so benach¬ 
teiligt hast“, denkt sie gegen die Mutter, „so werde ich trotzen, schmutzig 
machen, dich beißen, schlagen, mir einverleiben . . . Aber nein, dann verläßt 
du mich, ich muß diese Versuchung ab wehren“ und so entsteht die Phobie. 

Dem Kinde wurde noch einmal beteuert, daß das Genitale der Mädchen 
zwar anders, aber auch sehr schön sei, daß die Mutter genau ein solches 
habe wie die kleine Patientin selber, daß ihr die Haare später mit Be¬ 
stimmtheit wachsen würden, und vor allem, daß die Mutter sowohl wie 
der Vater sie sogar besonders lieb hätten, weil sie ein kleines Mädchen 
sei. Die letzte Bemerkung entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, schien 
mir aber für das in seinem Narzißmus so gekränkte Kind gut. Es wird 
darauf ein Spiel mit den Puppen des Kindes inszeniert, wobei diese zum 
Urinieren und zum Defäzieren aufgefordert werden; die Kleine erlaubt 
dabei nicht, daß die Puppen auf den Topf gesetzt werden. Erst nachdem 
man dem Kinde versichert, daß der Kot immer wieder neu produziert 
werde, daß sowohl die Mutter als auch die Knaben ihren Kot ruhig her¬ 
geben, spielt das Kind „Defäkation“ und verlangt dann plötzlich nach 
dem eigenen Topf, in den sie nun ohne jede Schwierigkeit defäziert. Zum 
erstenmal betrachtet sie nun voller Erregung ihren Kot, interessiert sich 
für das Verschwinden des Kots im Klosett. Während der nächsten Tage 
ist sie damit beschäftigt, sich immer wieder vor Augen zu führen, daß 
sie selbst Dinge zum Verschwinden und zum Wiedererscheinen bringen 
kann, daß die vom Tisch abgeräumten und ihrem Blick entzogenen Teller 
weiter existieren, daß die Mutter ebenso wieder nach Hause komme, wie 
sie selbst von ihrem Spaziergang. 

Die Stuhlentleerung geht nun wieder wie früher ohne jede Schwierigkeit 
vor sich, ihr Interesse für die Exkremente wird immer deutlicher. Man 
gibt diesem Interesse nach, gestattet dem Kinde ohne ein Wort der Kritik 
die Exkremente zu betrachten, darüber zu sprechen usw. Diese Toleranz 
der Umgebung hat dann den Erfolg, daß die Kleine während dieser Tage 
auch andere Interessen äußert und auffallende Fortschritte in der Sprach¬ 
entwicklung macht, im Gegensatz zu ihrer früheren Sprechfaulheit fast 
als sprechlustig imponiert. Sie erwischt nun in jenen Tagen einen Aschen¬ 
becher mit Zigarettenasche, die sie sehr interessiert, ebenso wie die 
Zigarette, die in ihrer Gegenwart von der Mutter geraucht wird und die 
sie kleiner und kleiner werden sieht. 

Sie geht mit ihren Fingern in die Asche, zeigt dabei deutlich einen 
Gesichtsausdruck, aus dem zu entnehmen ist, daß sie sich bewußt ist, 
etwas Verbotenes zu tun, beginnt ihre Hände unter Lachen mit der Asche 


v 






358 


Berta Bornstein 


einzureiben, wozu sie „Wawa“ sagt, was heißen solle, sie wasche sich 
damit. Dann verlangt sie auf den Topf gesetzt zu werden, weigert sich 
aber, sich nach der Stuhlentleerung säubern zu lassen, erlaubt ebensowenig 
daß der Topf mit ihrem Stuhl von dem Mädchen herausgebracht werde 
ohne übrigens an diesem Tage ein besonderes Interesse an ihren Exkrementen 
zu verraten. Sie ist ganz in Anspruch genommen von dem Spiel mit der 
Asche, mit der sie sich nun lachend beschmiert, den Tisch damit „wäscht“ 
und den Versuch macht, sowohl der Mutter als auch mir Asche ins 
Gesicht zu schmieren. Dieser Versuch wird besonders freundlich abgewehrt 
mit der Erklärung, daß große Leute sich lieber mit Wasser und Seife 
waschen als mit Asche; auf ihre direkte Frage wird ihr aber gestattet 
mit der Asche zu tun, was sie wolle. 

Das Benehmen der Kleinen hatte stark provokatorischen Charakter. 
Sie wollte, ähnlich wie bei den Aggressionen gegen die Mutter, auspro¬ 
bieren, wie weit sie gehen dürfe, und wie weit dieser Toleranz zu trauen 
sei. Diese für die Umgebung des Kindes, das bis dahin so abnorm sauber 
gewesen war, erstaunlichen Durchbrüche seiner Schmutzlust mußten zu¬ 
nächst verstanden werden, ehe wieder ein neuer erzieherischer Eingriff 
das Kind zum Verzicht zwinge. Es schien uns die Beachtung dieses Grund¬ 
satzes für den Moment wichtiger als die hygienischer oder ästhetischer 
Rücksichten. Die Annahme, daß das Kind von dem Spiel mit der Asche 
sich seinen Exkrementen zuwenden und diese zu berühren versuchen 
würde, traf nicht ein. Es ließ im Gegenteil nach einiger Beschäftigung 
mit der Asche den Topf, ohne Widerstand zu leisten, aus dem Zimmer 
schaffen und sich von dem Mädchen reinigen. 

In der folgenden Nacht war die Kleine wie gewöhnlich sitzend mit 
verkrampften Fäustchen und verkrampftem Gesichtsausdruck eingeschlafen. 
Mitten in der Nacht rief sie nach ihrem Mädchen, ließ sich auf den 
Topf setzen, um zu urinieren, und weigerte sich danach, wie es öfter 
vorkam, sich überhaupt auch nur ins Bett zu setzen. Man ließ sie also, 
wie auch sonst in solchen Fällen, stehend im Bett, nachdem man sich 
sehr freundlich von ihr verabschiedete. Nach einiger Zeit hörte man sie 
sehr vergnügt durchs Haus rufen: „Heia baba, aner Heia“, was hieß, 
sie habe ihr Bett eingekotet und verlange nun ein neues. Die Umgebung 
der Kleinen verstand gut, daß die Provokation vom Tage hier fortgesetzt 
würde, und daß man konsequenterweise das freundliche Verhalten nicht 
aufgeben dürfe. Die Kleine verlangt von der Mutter, nachdem sie um¬ 
gebettet ist, gestreichelt zu werden, was auch geschieht, und legt sich dann 
zum Erstaunen der Mutter nach fast fünf Wochen zum ersten Male, und 
zwar lachend, nieder. 









































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


359 


Damit war klar, daß der Konflikt zwischen dem Trieb, einzukoten, und 
der Angst, die Liebe der Mutter zu verlieren, der Neurose zugrunde lag. 
Das Einkoten war der Kernpunkt der ganzen besprochenen prägenital- 
aggressiven gefürchteten Triebansprüche. 

Es sind nun noch dreierlei Fragen zu beantworten: 

i) Was ist der Zusammenhang zwischen diesem Triebkonflikt und dem 
Sitzen oder Liegen, um das sich die manifeste Neurose drehte? 

q) Was ist der Zusammenhang zwischen den mobilisierenden Genital¬ 
erlebnissen und den mobilisierten analen Triebkonflikten? 

3) Was ist die Vorgeschichte dieser mobilisierten Triebe und der gegen 
sie gerichteten Abwehr, der Angst vor Liebesverlust? 

Am nächsten Morgen begrüßt mich Lisa lachend mit den Worten: 
„Da guck“ und legt sich lang auf die Erde. Sie hatte offenbar also ganz 
genau gewußt, zu welchem Zweck unsere Gespräche und Spiele auf¬ 
geführt wurden. Ihre Angst vor dem Liegen war behoben. Sie brauchte mich 
nicht mehr. Sie war vergnügt im Beisammensein mit mir, aber sehr 
schweigsam, berührte die in den vorigen Wochen sie so beschäftigenden 
Themen des Geschlechtsunterschieds, der Nahrungsaufnahme und der Stuhl¬ 
entleerung nicht mehr. Auch im Umgang mit anderen Personen wurde 
sie wieder schweigsamer. Während sie in den letzten Wochen ihrer Phobie 
einen großen Fortschritt in ihrer Sprachentwicklung gemacht hatte, 
geradezu Freude am Sprechenlernen gewann, kam es nun zu einem sicht¬ 
lichen Stillstand darin. Es schien, als hätte sie die Sprache nur so lange 
benötigt, wie sie von ihren Problemen gequält war. 

Dagegen wurde sie in allen anderen Beziehungen noch selbständiger 
als bisher, zeigte ein großes Interesse für andere Kinder, Hunde und Autos 
und knüpfte mit ihnen allen Beziehungen an. Der Mutter gegenüber war 
sie zwar freundlich, aber im Gegensatz zu früher bestand sie jetzt energisch 
auf ihrem Willen. Im Zusammensein mit der Mutter mißbrauchte sie 
nun ihre wiedergewonnene Fähigkeit zu liegen, indem sie sich auf der 
Straße in den Straßenschmutz sogar niederlegte — nicht etwa in Wut, 
sondern lachend, wenn sie — nicht wie die Mutter — schon heimgehen 
wollte. Sie ließ die Mutter wieder das Haus verlassen, machte beim 
Schlafen, Essen und Defäzieren keinerlei Schwierigkeiten mehr. Sie 
näßte einige Male das Bett ein, zeigte aber niemals irgendwelche 
besondere Schuldgefühle dabei. Das Interesse für ihre Exkremente wurde 
wieder geringer, das Spiel mit der Asche dagegen blieb weiter beliebt. 
Das Waschen mit Wasser und Seife allerdings auch. Auch das Baden 
konnte wieder aufgenommen werden. Und zwar hat sie nach der Nacht. 










3öo 


Berta Bornstein 


in der sie zum ersten Male wieder gelegen hatte, nach ihrem Bade 
verlangt. Am gleichen Tage aber hat sie es fertig gebracht, zweimal in 
die sehr niedrige Badewanne, die mit Wasser gefüllt war, in Kleidern 
hineinzufallen, worüber sie sich stundenlang amüsierte. 

Es wurde ihr zum ersten Male Plastelin gebracht, das sie aber kaum 
zu berühren wagte. Sie führte es an die Nase, fand es „baba stinkt“ 
während sie gegen den Geruch der Exkremente gar nichts einzuwenden 
hatte. Der Versuch, sie im Kneten mit Plastelin ihre sicher bestehende 
Lust am Spielen mit den Exkrementen in sublimierter Weise ausleben 
zu lassen, mißlang noch. Sie war sichtlich noch gar nicht imstande, Pla¬ 
stelin und Kot auseinanderzuhalten. Impulse, den Kot zu berühren, waren 
auch in den Tagen, in denen sie ihre Exkremente so lebhaft betrachtete, 
nie beobachtet worden. Wir können nicht angeben, ob dies mit der noch 
nicht ganz aufgehobenen Verdrängung des Analen zusammenhängt. Mög¬ 
licherweise war das Kind, welches man infolge der zu frühen Reinlichkeits¬ 
gewöhnung und durch die etwas übertriebene Sorgsamkeit in der Körper¬ 
pflege um das Erleben der analen Lust überhaupt geprellt hatte, erst jetzt 
dabei, voll in die anale Phase einzutreten. Der Versuch, das Kind zu einer 
Sublimierung zu drängen, war verfrüht. Nach einigen wenigen Beobach¬ 
tungen scheinen Kinder nur dort zu einer Sublimierung bereit zu sein, 
wo die ursprüngliche Triebbefriedigung teilweise wenigstens bereits erlebt 
worden ist. Bei einer zu frühen Unterdrückung der Triebbefriedigung 
scheinen nur Reaktionsbildungen zustande zu kommen. 

Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Sublimierungen über den Weg 
der Identifizierung mit dem aufzugebenden Liebesobjekt gehen, begreifen 
wir, daß eine Sublimierung natürlich nicht zustande kommen kann, wo 
eine Triebbefriedigung aufgegeben werden muß, bevor sich eine positive 
Beziehung zum Objekt ausgebildet hat. 

Wenden wir uns nunmehr unserer ersten Frage zu, der nach dem 
Zusammenhang des der Phobie zugrundeliegenden unbewältigten, aus 
dem Analen stammenden Konflikts mit der horizontalen Lage, resp. ihrer 
Vermeidung, so glauben wir zu erkennen: Sie durfte sich das Liegen 
nicht erlauben, weil sie fürchtete, im Liegen und Schlafen den Wunsch, 
ins Bett zu defäzieren, nicht beherrschen zu können. In der angespannten 
Haltung des Sitzens, den geballten Fäustchen, dem Gesichtsausdruck war 
vor allem die verschobene krampfhafte Innervierung der Sphinkteren zu 
erkennen. Das Sitzen — nämlich das Sitzen auf dem Topf— war ja wohl 
auch seinerzeit die Situation gewesen, in der die Kleine sich in der 
Sphinkterenbeherrschung übte, die auch im Sitzen physiologisch leichter 
ist als im Liegen. Wir kennen übrigens außerdem ein historisches Moment, 











































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


361 



das bereits die Motive Inkontinenz und Nichtsitzen verbindet: nach der 
Ruhrerkrankung hatte das Kind das Sitzen verlernt. 

Die Erörterung der beiden anderen Fragen, nämlich der, warum diese 
Tendenzen gerade nach den drei auslösenden genitalen Erlebnissen mi 
solcher Starke auftraten, sowie die nach der Vorgeschichte des analen 
Triebkonfliktes, verlangt erst die Darstellung der Rezidive, welche die 
Kleine ungefähr nach vier Wochen erlebte. Diese Rezidive war zu aller 
Erstaunen durch die Abreise des Vaters der kleinen Patientin ausgelöst 
worden. Dies war um so erstaunlicher, als der Vater der Kleinen sehr viel 
auf Reisen war, was das Kind wußte und was von dem Kinde bisher 
ohne jede besondere Affektäußerung erlebt worden war. Sie war zufällig 
am Nachmittag vor der Abreise des Vaters dabei anwesend, als für diesen 
der Koffer gepackt wurde. Man beobachtete eine gewisse Beunruhigung an 
ihr, eine besondere Anhänglichkeit an die Mutter, von der sie erfuhr, für 
wen und warum der Koffer gepackt wurde. Am Abend weigerte sie sich, 
schlafen zu gehen, stand die halbe Nacht wie zu Anfang ihrer Phobie 
brüllend im Bett, immer wieder nur rufend: „Nein, Mama, nein.“ Als sie 
dann mit Hilfe von Schlafmitteln nach vielen Stunden einschlief, geschah es 
wieder in der anfangs beschriebenen Stellung im Sitzen. Am folgenden 
Abend wiederholte sich die gleiche Szene, nachdem sie tagsüber voll¬ 
kommen ruhig gewesen war und die Erklärungen über die Abreise des 
Vaters und seine bald in Aussicht gestellte Rückkehr desinteressiert über 
sich hatte ergehen lassen. Nur in einem Punkte zeigte sie während dieses 
ruhigen Tages und auch während des folgenden ein unerklärliches Ver¬ 
halten. Sie ließ sich nämlich nicht die Schuhe anziehen, behauptete, sobald 
man nur mit den Schuhen in ihre Nähe kam, in weinerlichem Tone, daß 
sie am Fuße Schmerzen habe, wobei sie sowohl vom Fuß sagte, daß er 
„aua“ sei, wie auch vom Stiefel, was heißen sollte, daß sie durch den 
Schuh Schmerzen am Fuße bekomme. Da sowohl der Fuß als auch der 
Schuh vollkommen in Ordnung waren, stand man der Behauptung des 
Kindes verständnislos gegenüber, bis die Mutter auf energisches Befragen 
hin sich erinnerte, daß die Kleine vor ungefähr einem halben Jahre, als 
sie selbst abwesend gewesen war, eine Zeitlang zu enge Schuhe getragen 
habe, wobei sie Schmerzen gehabt haben müsse. Die Mutter, die nach 
ihrer Rückkehr von der Reise sofort die Nachlässigkeit entdeckte, schalt 
die Pflegerin im Beisein des Kindes deswegen und brachte der Kleinen 
sofort neue Schuhe. 

Diese Mitteilung machte das Verhalten der Kleinen verständlich und 
warf ein neues Licht auf die nun wieder aufgetretene Weigerung der 
Kleinen, sich im Bett niederzulegen und zu schlafen. Die phobischen 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 24 







3Ö2 


Berta Bornstein 


Symptome schienen im Zusammenhang mit der damaligen Reise der 
Mutter zu stehen, die das Kind angeblich so gut verarbeitet hatte. Sie 
waren ja neu aufgetreten, als der Vater eine Reise unternahm, wobei die 
Kleine keineswegs Schmerz wegen des Fortseins des Vaters zeigte, sondern 
nur die durch Reisevorbereitungen allgemein mobilisierte Angst um das 
Verschwinden der Mutter. Das Kind hatte alle Tröstungen, daß der Vater 
bestimmt zurückkehren werde, desinteressiert über sich ergehen lassen 
immer wieder nur betont: „Nein, Mama, nein, nein, Heia, nein“ (die 
Mutter soll nicht fortfahren, ich will nicht ins Bett gehen, damit ich 
dieses Fortgehen verhindere). 

Die Idee, daß die Mutter sie, wie in Wahrheit der Vater, verlassen 
werde, war durch einen äußeren Umstand begünstigt, nämlich dadurch, 
daß für den Vater ein Koffer gepackt worden war, den das Kind von der 
letzten Reise der Mutter her wieder erkannte, woraus sie dann den Schluß 
zog, die Mutter werde genau wie damals fortgehen. (Da es zwei gleiche 
Koffer im Hause gab, war die Möglichkeit gegeben, die Kleine zu über¬ 
zeugen, daß dieses Mal die Reise der Mutter nicht zu befürchten sei.) 
Später half das Spiel mit diesem Koffer, das Ein- und Auspacken, das 
„Reise-Spielen“, bei der Bewältigung dieses schweren Traumas. 

Der Angstanfall des Kindes hatte in der zweiten Nacht nach der 
Abreise des Vaters, als sowohl dem Kinde als auch uns der Zusammenhang 
der Angst mit der Reise noch nicht bekannt war, eine so bedenkliche 
Intensität angenommen, daß der Mutter geraten wurde, das Kind zu beruhigen, 
indem sie sich zu ihm ins Zimmer schlafen legte. Die Angst ließ dann 
tatsächlich nach, aber das Kind blieb noch längere Zeit hindurch stehend 
im Bettchen und bewachte von dort aus die Mutter. 

Da bisher klar geworden war, daß das Kind das Liegen vermied, weil 
es befürchtete, im Liegen seinen Impuls, ins Bett zu defäzieren, nicht 
beherrschen zu können, sagte man ihm beruhigende, tröstende Worte in 
dieser Richtung. Das Kind reagierte darauf mit einem während dieser Nacht 
unzählige Male wiederholten Ausspruch: „Ein Haia baba, Mama nein.“ 
(Einmal habe ich das Bett schmutzig gemacht, aber die Mutter soll des¬ 
wegen nicht fortgehen.) 

Damit hatte das Kind das traumatische Erlebnis, das im Hintergrund 
seiner Phobie stand, selbst genannt und uns den Weg zur weiteren Behandlung 
gewiesen. Unsere Aufgabe bestand nun darin, ihm nachträglich bei der 
Verarbeitung jener unerledigten Erlebnisse zu helfen. Wir sprachen nun 
mit dem Kinde in den folgenden Tagen von der damaligen Reise der 
Mutter und lockten so das Kind zu Mitteilungen seiner Erinnerungen, die 
es an die mutterlose Zeit hatte. Interessant war, daß das Kind eine Anzahl 































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


363 



von Details aus der Zeit der Reise der Multer erinnerte, die den Eindruck 
von Deckerinnerungen machten: etwa, daß es im Garten nackt mit einer 
Gießkanne herumgegangen wäre und gespritzt hätte, daß einem Spieleimer, 
den sie mir in den ersten Stunden als verletzt demonstrierte, in jener Zeit der 
Boden ausgeschlagen worden war usw. Immer wieder berichtete sie die gleichen 
Geschichten, um sich immer wieder mit befriedigtem Gesichtsausdruck von 
mir und der Mutter versichern zu lassen, daß sie damals wegen diesem 
Erlebnisse Angst gehabt hätte, daß sie aber jetzt — groß wie sie sei — 
keine Angst zu haben brauchte, daß ihr selbst, wenn sie etwas beschmutzen 
oder zerbrechen würde, die Mutter nicht böse wäre und sie gewiß nie 
verlassen werde, ohne es ihr vorher zu sagen, und daß sie bestimmt immer 
wieder zurückkehren werde. Vor allem wurden ihr aber die Personen 
entwertet, die ihr die unwahren Drohungen gegeben haben mußten. Die 
Bewußtmachung und die ausgiebige Verarbeitung jener frühen Erlebnisse 
während der Abwesenheit der Mutter hat das Kind wieder instandgesetzt, 
seine Phobie aufzugeben. Bis heute — es sind seither fünf Monate ver¬ 
flossen — ist das Kind symptomfrei geblieben. Es hat seither wieder zweimal 
eine Trennung von geliebten Personen erfahren, aber nur mit einem 
bewußten und deutlich ausgesprochenen Bösesein reagiert. 

Die Mitteilungen des Kindes wurden dann späterhin von den Erwach¬ 
senen bestätigt, die sich daran erinnern lassen mußten, daß das Kind ein 
halbes Jahr zuvor, als die Mutter abwesend war, sich an dem Tage vor der 
Rückkehr mehrere Male naß gemacht hatte. Wir halten es nicht für aus¬ 
geschlossen, daß das Kind etwas von der Rückkehr der Mutter in jenen Tagen 
gehört und sich dabei erregt habe, wobei dieses Einnässen geschah. Die 
Umgebung der Kleinen hielt es mit uns für wahrscheinlich, daß man dem 
Kinde in einer solchen Situation etwa gesagt hätte: „Warte, wenn das die 
Mutter erfährt, daß du dich wieder naß machst, dann wird sie dich nicht 
lieb haben, wird gleich wieder von dir fortgehen, gar nicht zu dir zurück¬ 
kommen wollen.“ 

Die Rückkehr der Mutter spielte sich dann in einer Form ab, die 
das Kind mißverstehen mußte. Die Mutter, die mit einer Erkältung von 
der Reise heimkehrte, begrüßte das Kind nicht in der üblichen Art, sondern 
blieb — um es vor Infektion zu schützen — vom Bett des Kindes entfernt. 
Diese Haltung der Mutter muß das Kind als eine Folge des Einnässens 
aufgefaßt haben, was seine Angstvorstellungen vor dem Verlassen werden, 
vor dem Nichtgeliebtwerden durch die Mutter wegen Inkontinenz bestätigt 
und befestigt haben muß. Wir wissen, wie durch die tolerante Hahung der 
Umgebung das Kind es gewagt hatte, seinen bis dahin ängstlich beherrschten 
analen Impulsen nachzugeben. Die Abreise des Vaters konnte die Rezidive 

24* 








364 


Berta Bornstein 


eben deswegen einleiten, weil durch das Motiv „Reise“ das Kind an die 
Möglichkeit denken konnte, die Mutter werde es wie vor einem halben 
Jahre verlassen, weil es ja jetzt ebenso wie damals einzunässen und einzukoten 
beabsichtigte. Mit dem Sitzen im Bett verhinderte es das Einkoten. Mit 
dem Wachbleiben wollte es das Fortgehen der Mutter verhindern. Nachdem 
das Kind nun dieses Material geliefert hatte, das der Mutter bekannt 
geworden war, konnte diese jetzt erst die Anamnese ergänzen. 

Wir erfuhren jetzt erst den wahren Sachverhalt der Reinlichkeits- 
gewöhnung. Diese Reinlichkeitsgewöhnung, die angeblich so ohne jede 
Schwierigkeit vor sich gegangen war, war ebenfalls während der Ab¬ 
wesenheit der Mutter von der Großmutter vollzogen worden, und wie sie 
nun nachträglich zu berichten weiß, sicher nicht so ohne jede Strenge. 
Die Kleine war damals genau ein Jahr alt und die neugewonnene Fähigkeit, 
kontinent zu sein, wurde mit vielem Stolz der Mutter berichtet, von 
dieser mit Freude aufgenommen und mit der Abschaffung der Windeln 
belohnt. Die Kleine bekam damals die ersten Höschen, die ihr die Mutter 
voller Freude zeigte und deutlich als Belohnung brachte. 

Von dem Verhalten der Mutter nach der ersten Reise, Freude über die 
Kontinenz des Kindes, und deren Verhalten nach der zweiten Reise, das 
vom Kind mißverstanden war, ging die starke Wirkung aus, durch die das 
Kind sich jede anale Lust verbieten mußte, um sich die Mutter zu bewahren. 
Letzten Endes wird also die Neurose identisch mit der des eineinhalb¬ 
jährigen Kindes, von der Wulff berichtete, das ebenfalls am Konflikt 
zwischen Beschmutzungslust und entgegenstehender Angst vor Liebes- 
verlust erkrankte (Int, Z. f, PsA . 1927). 

Wir kennen nun die ganze Vorgeschichte der analen Triebkonflikte und 
verstehen, warum der Wunsch, ins Bett zu defäzieren, derart mit der 
Angst, von der Mutter verlassen zu werden, verlötet war, daß seine Ver¬ 
stärkung nicht mit einem Rückfall in Inkontinenz, sondern mit einer 
Phobie beantwortet werden mußte; nicht aber die Verstärkung selbst. 

Sie ist ausgelöst durch die Kenntnisnahme des Umstandes, daß Gro߬ 
vater und Turnkamerad einen Penis, große Frauen Schamhaare besitzen, 
sie aber nicht, ferner durch die Beobachtung an der Köchin, deren 
psychische Wertigkeit schwerer einzuschätzen ist, die aber etwa besagt, 
daß große Frauen auch einkoten, aber auch, daß sie verletzt („aua“) werden. 

Von den Anlässen, die Neurosen von Erwachsenen einleiten, wissen 
wir, daß sie entweder Verstärkungen der unbewußten infantilen Sexual¬ 
triebe auslösen (z. B. äußere Versagungen der erwachsenen Sexualität) oder 
Verstärkungen der ihnen entgegenwirkenden Angst (z. B. Unfälle, die die 
Kastrationsangst mobilisieren). Es fragt sich nun, ob wir in analoger 















































Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 


365 



Weise für unseren Fall annehmen sollen, daß die genitalen Beobachtungs¬ 
szenen die Beschmutzungslust direkt verstärkten oder die ihr entgegen¬ 
stehende Angst. Wenn wir daran denken, welche Rolle das „Aua“, die 
körperliche Beschädigung, spielte, wird die zweite Annahme nahe gerückt: 
Wenn es, wie die Beobachtungen lehren, reale Beschädigungen gibt, können 
weitere Beschädigungen drohen — und die Angst davor mag die alte 
Angst vor dem Verlassenwerden mobilisieren. Aber auch die direkte Trieb¬ 
mobilisierung durch diese Erlebnisse muß angenommen werden, und zwar 
auf zweierlei Weise. Einmal wurde bereits erwähnt, daß die Konstatierung 
der eigenen Minderwertigkeit eine Aggression gegen die Mutter auslöste 
— und der Drang zur Inkontinenz kommt einer Aggression gegen die 
kontinenzgebietende Mutter gleich. Wichtiger aber erscheint uns noch ein 
anderer Umstand: 

Sowohl das Kuckuckspiel mit dem Penis des Großvaters als auch die 
anderen beiden Szenen sind wohl geeignet, als Sexualreize zu wirken, 
das Kind in hohe sexuelle Erregung zu versetzen. Und der Trieb ein- 
zukoten ist dann in diesem Alter die organisationsgemäße Abfuhrtendenz 
für die Erregung. Daß Kinder in der analsadistischen Stufe auch auf aus 
genitaler Quelle stammende Sexualerregung mit analer Reaktion antworten, 
charakterisiert eben dieses Alter und ist uns aus der häufigen analogen 
Reaktion auf Urszenenerlebnisse gut bekannt. Offenbar konnte die durch 
den Einfluß der Angst vor dem Liebesverlust abgewehrte Beschmutzungs¬ 
lust nur in einer gewissen Stärke symptomlos ertragen werden. Die 
Schwelle wurde im Alter von zwei Jahren drei Monaten durch die Sexual¬ 
erregung der drei die Neurose veranlassenden Szenen überschritten, wodurch 
der seit der Reinlichkeitserziehung, besonders seit der Reise der Mutter 
latent vorhandene Triebkonflikt pathogen wurde. 

In der „gesunden“ Zeit, in der der Konflikt latent war, war ja das 
Kind nicht ganz ohne Erregungsabfuhr gewesen. Die Mutter weiß von 
der Schenkeldruckonanie im Säuglingsalter zu berichten, die dann nach 
vollzogener Reinlichkeitserziehung wieder aufgenommen wurde und bis 
zur Gegenwart anhält. Diese Onanie wurde im Gegensatz zur analen 
Betätigung nicht nur geduldet, sondern geradezu begünstigt, denn gerade 
für das Zurückhalten, das wie die Onanie durch Zusammenpressen der 
Schenkel geübt wird, wurde sie belobt. So wurde die Kleine durch die 
frühe Analverdrängung, die Folge der strengen Reinlichkeitserziehung, 
künstlich früh zur genitalen Abfuhr gedrängt. Aber offenbar konnte diese 
nicht organisationsgemäße Abfuhr nur eine gewisse Erregungsmenge be¬ 
wältigen und versagte nach den drei großen pathogenen Szenen, die nach 
der verpönten vollen analen Abfuhr verlangten. 








366 


Berta Bornstein 


Könnte es nicht auch so sein, daß die Onanie nicht aus grob quanti¬ 
tativen Gründen versagte, sondern weil der durch die Beobachtung ent¬ 
standene Kastrationskomplex zu einer Art Regression in eine bereits über¬ 
wundene anale Phase zwang? 

Gegen diese Annahme spricht (außer dem theoretischen Moment des 
Alters des Kindes) die Reaktion auf die Beobachtungen, die durchaus 
einer zwar auch genital erregbaren, aber vorwiegend analen Organisation 
der Libido entsprach. 

Objektiv genitale Momente werden offenbar subjektiv anal perzipiert, 
so wie wir eine anale Perzeption von Urszenen auch aus der Erwachsenen¬ 
analyse oft rekonstruieren müssen. Das schließt nicht aus, daß die Be¬ 
obachtungen richtig auf den Geschlechtsunterschied bezogen werden. In 
der Seele des Kindes ist eben später Getrenntes noch undifferenziert. 
Jedenfalls wurden die Binde und das Blut, wahrscheinlich auch die 
Haare, anal perzipiert. Schon die frühe Ruhrerkrankung mußte eine 
Erfahrung vom Zusammenhang von Blut und Exkrementellem („aua-baba“) 
gesetzt haben, die nun wohl aktiviert wurde. (Auch für die anale Fixierung 
überhaupt kann die frühe Darmerkrankung nicht ohne Bedeutung gewesen 
sein). Auch bei der Penisbeobachtung ist etwas Derartiges möglich. 
Während die Kleine mit den Problemen des Geschlechtsunterschiedes 
beschäftigt ist, ist sie obstipiert, läßt sich nach der Defäkation nicht 
reinigen, den Kot nicht fortschütten, als wollte sie sich durch Koiproduk- 
tion einen Penis verschaffen, was vielleicht als Motiv für die Erhöhung 
der Beschmutzungslust ebenfalls in Betracht kommt. Auch die Objekt¬ 
beziehungen scheinen von den Zielen des Festhaltens und Einverleibens 
beherrscht, also noch keineswegs einer phallischen Stufe entsprechend, 
vom Ödipuskomplex finden wir erste Andeutungen, aber nicht mehr — 
trotz der frühzeitigen und, wie eben die Neurose beweist, nicht gelungenen 
künstlichen „Genitalisierung“ der Sexualität der Kleinen, — denn die 
Aggressionen gegen die Mutter entstammen nicht einer Eifersucht, sondern 
der Idee, durch sie benachteiligt zu sein, der Idee, durch ihre Erziehung 
des Penis, des Kotes, bzw. der Kotlust beraubt worden zu sein. 

Fassen wir also zusammen: Eine frühe und strenge Reinlichkeits- 
•erziehung, später durch einen Zufall durch die Idee verstärkt, für Un¬ 
reinlichkeit werde man von der Mutter verlassen, erzwingt eine frühe 
Verdrängung der Beschmutzungs- und der mit ihr verbundenen, gerade 
durch die Versagung verstärkten Aggressionslust. 

Das Kind greift als Ersatz für die durch Verdrängung lahmgelegte 
organisationsgemäße Exekutive auf die genitale Onanie. Diese versagt, als 
durch das Zusammenfallen dreier erregender Erlebnisse Sexualerregung 






























Die Phobie eines zweieinhalb jährigen Kindes 367 

und Angst maximal gesteigert werden. Der alte Konflikt wird dadurch in 
pathogener Stärke wieder mobilisiert. 

Wir sahen zu unserer Überraschung, wie vielerlei verworrene Wege 
begangen werden mußten, um dieses relativ einfache Resultat wahrschein¬ 
lich zu machen, wie kompliziert bereits auch das Seelenleben der Zwei¬ 
jährigen ist, obwohl die Komplikationen der späteren Entwicklung hier 
noch keine Rolle spielen. Wir entnehmen daraus den Wink, die Kinder¬ 
analyse für nicht zu einfach zu halten, denn gerade die Einfühlung in 
die Denk- und Fühl weit der frühesten Lebensjahre ist eine außerordent¬ 
lich Schwierige Aufgabe. 

Wir werden aber auch davor gewarnt, zu früh auf Konstitution, 
Biologie und Phylogenie zu greifen, da wir lernen, daß wir, wenn es nur 
gelingt, genügend tiefe Einblicke in die Verhältnisse zu gewinnen, Er¬ 
lebnisse, Milieubedingungen und Ontogenie in immer noch höherem 
Maße als wir dachten, für die Produkte der seelischen Entwicklung ver¬ 
antwortlich machen können. Womit natürlich keinesfalls das konstitu¬ 
tionelle Moment als gänzlich bedeutungslos hingestellt werden soll. 



.. 








Über Neurasthenie 

Vortrag in der New Yorker psychoanalytischen Vereinigung am 24. Februar Ip}i 

Von 

Paul Schilder 

Clinical Director, Bellevue hospital, New York 

Freud rechnet die Neurasthenie den Aktualneurosen zu. Er macht 
die ungenügende Sexualfunktion und -befriedigung unmittelbar für das 
neurasthenische Symptom verantwortlich. Es gilt lediglich herauszufinden, 
in welcher Weise der unmittelbare Geschlechtsgenuß beeinträchtigt wird. 
Freud selbst ist diesem Problem nicht weiter nachgegangen. Die analytischen 
Beiträge sind spärlich. Landauer verneint ausdrücklich spezifisch 
seelische Konflikte. 

Erst W. Reich 1 nimmt das Problem wieder auf. Er berichtet über 
Zersplitterung des Orgasmus bei Patienten, die über akut aufgetretene 
neurasthenische Beschwerden klagen: Reizbarkeit, Arbeitsunlust, Ermüdungs¬ 
zustände, diffuse körperliche Beschwerden und Rückenschmerzen, Ziehen 
in den Beinen. Nach Freud sind sie auf exzessive Onanie oder gehäufte 
Pollutionen zurückzuführen. Reich selbst ist zwar der Ansicht, daß Freuds 
Auffassung zu Recht besteht, aber seine Beispiele zeigen, daß ein Konflikt 
seelischer Art die Onanie einleitet, und daß lediglich der seelische Konflikt 
der Onanie ihre krankmachende Wirkung gibt. In seinem ersten Falle ist 
offensichtlich der Inzestwunsch dafür maßgebend, daß exzessive Onanie 
betrieben wird, die schließlich zu neurotischen Beschwerden führt. In seinem 
zweiten Fall wird der Koitus durch den Gedanken gestört, das Glied 
sei zu klein. Mit der Beseitigung des störenden Gedankens wichen die 
Beschwerden. Reich meint, daß nur von Schuldgefühl gestörie Onanie Neur¬ 
asthenie erzeuge. Reich scheint der Ansicht zu sein, daß der seelische Konflikt 
die Onanie, resp. die Sexualbetätigung störe und daß dann das neurotische 
Symptom unmittelbar durch das gestörte Sexualtoxin erzeugt würde. Aber 

1) Gesamte Literatur in: R e i c h, Die Funktion des Orgasmus. Neue Arbeiten 
für ärztliche Psychoanalyse, Nr. VI, 1927. 





























Über Neurasthenie 


36? 


ist es nicht wahrscheinlicher, daß die gestörte Sexualfunktion nur dann 
Erscheinungen macht, wenn eben der seelische Konflikt da ist? Man kann 
ja das bei der Abstinenz am deutlichsten sehen. Oder mit anderen Worten: 
Die seelischen Vorgänge, die den Sexualakt unbefriedigend machen, be¬ 
wirken auch, daß der unbefriedigende Sexualakt krankmachend wirkt. 
Man sieht sogleich, daß der Aufbau der sogenannten Aktualneurose von 
dem Aufbau der Psychoneurose nun insoferne verschieden ist, als der 
Konflikt der Aktualneurose häufig oberflächlicher liegt. Denn auch in der 
Gestaltung der Psychoneurose erhalten die Symptome ihren vollen Wert 
und ihre volle Gestaltung erst aus den Energien, welche aus der nicht- 
abgeführten Libido stammen, und die aktuelle Schwierigkeit des Sexual¬ 
lebens macht auch das psychoneurotische Symptom zu dem, was es ist. 
Es hängt hiemit zusammen, daß Abstellung einer sexuellen Schädlichkeit 
oder Umgestaltung des Sexuallebens durch die Gewalt der Umstände so 
häufig auch das psychoneurotische Symptom günstig beeinflussen. Reich 
spricht in diesem Sinne mit Recht von dem aktualneurotischen Kern 
jeder Neurose. Oder mit anderen Worten: Die sogenannten Aktual- 
neurosen sind eine Form der Psychoneurosen, und im strengen Sinne gibt 
es keine Aktualneurosen. 

Reich hält es für ein Zeichen der chronischen (hypochondrischen) 
Neurasthenie, wenn chronische Obstipation, Meteorismus, Übelkeiten, Appetit¬ 
losigkeit, Kopfdruck, erektionslose Ejaculatio praecox, Harnträufeln und 
Spermatorrhoe bestehen. Er stellt die genitale Asthenie als wichtigstes 
Symptom in den Vordergrund. Maßgebend für diese sind urethrale und 
anale Fixierungen. Der Penis vertritt gleichzeitig die Brust, der Samen 
die Milch. Durch die prägenitale Betätigung des Genitales kommt es 
dazu, daß die Erregungsmengen, welche sonst abgeführt werden, einen 
ständigen Reizzustand im Genitale schaffen, der auch zur Hypertrophie der 
Prostata führen kann; aber auch im übrigen Körper wirkt sich die Libido¬ 
stauung in Form hypochondrischer Beschwerden aus. 

Reich berücksichtigt lediglich die akute und chronische Neurasthenie 
Jugendlicher, nicht aber die Neurasthenie des Mannes zwischen 40 und 50. 
Meistens trifft diese Männer von besonderer Energie, solche, die im 
allgemeinen erfolgreich waren und plötzlich irgend eine soziale Schwierig¬ 
keit treffen, sei es Verlust des Vermögens oder Verlust der sozialen Stellung. 
Sie galten vor ihrer Erkrankung als besonders normal, waren Arbeits¬ 
menschen. Vollständige Analyse ist der Sachlage nach meist nicht möglich. 
Aber man versteht diese Fälle, wenn man sich vor Augen hält, was diese 
enorme Steigerung der Arbeitsleistung bedeutet. Dahinter findet man 
starke Schuldgefühle. Die Arbeit entsühnt. Sie ist gleichzeitig sublimierter 






370 


Paul Schilder 


Sadismus. Ich habe den Zusammenhang zwischen Schuldgefühl und 
Arbeit besonders deutlich in einem Falle halluzinatorischer Psychose 
nach kortikaler Enzephalitis gesehen. Arbeit ist (natürlich neben den 
bewußten Motiven zur Arbeit) Selbstbestrafung für sexuelle Wünsche 
besonders aber für sadistische Regungen. Die Arbeit gestattet ein Beherr¬ 
schen und Vergewaltigen der Gegenstände. Sie ist aber auch ein Zwang, 
der vom Über-Ich gegen das Ich geübt wird, und dem das Ich (in psycho¬ 
analytischem Sinne) gehorcht. Es ist schwer, in dem Geldinteresse des 
Erfolgreichen die anale Komponente nachzuweisen, wenn man nicht die 
volle Analysentechnik anwendet. Aber wir haben das Recht, in dem 
Geldinteresse eine sublimierte Analität zu sehen. Der aktuelle Konflikt 
spiegelt diese infantilen Fixierungsstellen wider. Es ist sicher, daß diese 
Gruppe von Menschen im allgemeinen die phallische Ödipusstufe erreicht 
hat, der Ödipuskomplex ist sogar meist erfolgreich überwunden und die 
heterosexuellen Beziehungen erscheinen normal. Geht man tiefer ein, so 
sieht man häufig, daß mit der gesteigerten Arbeitsleistung eine Entwertung 
des Sexuallebens einhergeht. Obwohl keine manifeste Potenzstörung vor¬ 
handen ist, wird der eheliche Geschlechtsgenuß häufig mechanisiert, 
während außerhalb der Ehe das Kaufen des Liebesobjektes das Werben 
ersetzt. Das Liebesobjekt wird gleichzeitig auf eine niedrigere Stufe 
gedrückt. Mit der Entwertung der Genitalität ist der Boden für den 
Zusammenbruch vorbereitet. Es mag sein, daß der äußere Anlaß (mate¬ 
rielle oder soziale Enttäuschung) zu fehlen scheint. Dann sieht man, 
daß nach erreichtem Ziel eben die Sinnlosigkeit dieses Zieles aufdämmerte. 
Die Symptome des Zusammenbruchs sind dann Müdigkeit, Schwere in 
den Gliedern, Kopfdruck, Arbeitsunfähigkeit. Darmträgheit gesellt sich 
hinzu. Depression begleitet das ganze Bild; Schwindel ist häufig. 
Genitale Asthenie im Sinne Reichs kann, aber muß nicht hinzutreten. 
Zweifellos handelt es sich um Konversionssymptome, analog den Konver¬ 
sionssymptomen der Hysterie: In der Hysterie clavus hystericus, globus, 
in der Nurasthenie Kopfdruck, Appetitlosigkeit — der vaginalen 
Anästhesie entspricht die genitale Asthenie (ejaculatio praecox als führen¬ 
des Symptom); den zahlreichen Konversionssymptomen im Bereich der 
inneren Organe entsprechen die Obstipation und teilweise auch die hypo¬ 
chondrischen Beschwerden, dem hysterischen Anfall und der hysterischen 
Lähmung entspricht die neurasthenische Rastlosigkeit und Ermüdbarkeit, 
der hysterischen Amnesie und Bewußtseinstrübung die Konzentrations¬ 
unfähigkeit des Neurasthenikers. Man kann im allgemeinen sagen, daß 
die Symptome der Hysterie mehr genitalen, die Symptome der Neurasthenie 
mehr prägenitalen Charakter tragen. W. Reich betont mit Recht die 

































Über Neurasthenie 


371 


anale und urethrale Komponente in der neurasthenischen Symptombildung. 
Das steht scheinbar in Widerspruch zu der Tatsache, daß der Neur¬ 
astheniker so häufig eine gut entwickelte genitale Sexualität zeigte, bevor 
der Zusammenbruch erfolgte. Aber das Charakteristische der neurasthenischen 
\nalität ist, daß sie eingebaut ist in eine Sexualität, welche auch die 
heterosexuelle Ödipusstufe erreicht hat, ja sie sogar erfolgreich überwunden 
hat. Es ist in dieser Hinsicht vielleicht erlaubt, den Neurasthenischen 
mit dem Manisch-Depressiven zu vergleichen, der ja gleichfalls neben 
seiner primitiven Sexualität die vollentwickelte hat. Die Aktivität des 
Neurasthenischen vor seinem Zusammenbruch hat ja bedeutsame, nicht 
nur äußerliche Ähnlichkeiten mit der manischen Phase, die Neurasthenie 
mit der Depression. 

Aber man kann weder die Symptombildung der Neurasthenie noch die 
der Hysterie verstehen, wenn man nicht noch einen anderen bedeutsamen 
Faktor in Betracht zieht, und zwar das Verhältnis des Neurasthenischen 
und des Hysterischen zum eigenen Körper, resp. zu dem Bilde vom eigenen 
Körper, das er aus seinen Erlebnissen aufgebaut hat: zum Körperschema. 
Ich, Federn und Felix Deutsch haben darauf verwiesen, daß das 
Wissen vom eigenen Körper nicht nur die Basis narzißtischer Selbstliebe 
ist, sondern daß auch jeder Partialtrieb sich in der besonderen Betonung 
desjenigen Teiles des Körperbildes ausdrückt, der zu diesem Partialtrieb 
die engste Beziehung hat. Konversionssymptome spielen sich in Verschiebungen 
am Körperbilde ab. Man hat allen Grund anzunehmen, daß die Hysterie, 
produziere sie organische Symptome oder Symptome, welche nach dem gegen¬ 
wärtigen Stand unseres Wissens als „funktionell“ bezeichnet werden, eine 
besondere Beziehung zum Körperbild hat. Aber sollte nicht auch das 
Körperbild des Hysterischen eine besondere Struktur besitzen? Für die 
Neurasthenie habe ich bereits früher einmal eine besondere Labilität des 
Körperbildes postuliert. 1 Ein durch analysierter Fall juveniler Neurasthenie 
gibt mir Gelegenheit, näher auf dieses Problem einzugehen. 

Der zwanzigjährige E. M. klagt über Verlust des Gedächtnisses, 
Schwierigkeiten beim Einschlafen und beim Urinieren und Defäzieren; 
er kann es nicht, wenn ihn jemand beobachtet, ja auch nicht, wenn er 
jemanden in der Nähe weiß. Er onaniert zu seinem Entsetzen während 
des Schlafes. Sein Penis schrumpft; er hat einen Ausfluß, der ihn er¬ 
schreckt. Er wird von häufigen Erektionen gequält. Sein Gedächtnis ist 
schlecht. Seine Hände und Füße sind kalt. 

Seine sexuellen Erregungen kommen besonders, wenn er Füße sieht. 


1) Medical Review of Reviews, New York 1930. Psychopathology number. 







372 


Paul Schilder 


Dabei macht es keinen Unterschied, ob es Füße eines Mannes oder einer 
Frau sind; auch seine eigenen Füße erregen ihn. 

Sein Verhältnis zu den Eltern ist ausgesprochen schlecht. Er hat einen 
bewußten Haß gegen seine Mutter, die das Haus tyrannisiert; die Mutter 
spricht fortwährend vom Essen, es gibt ständig Zank und Streit. Vater 
und Mutter stehen sich fremd gegenüber. Aber er hat auch keine Zärt¬ 
lichkeiten für seine Schwestern übrig. Die eine, Martha, ist um vi er 
Jahre jünger. Adele ist um sechs Jahre jünger als er. 

An die Geburt der älteren Schwester schließen sich wichtige Er¬ 
innerungen, die zu Beginn der Analyse noch tief im Unbewußten 
waren. Während der Geburt hörte er die Mutter schreien; er stellte sich 
vor, die Mutter sei nackt und liege flach am Rücken, ihre Beine gespreizt- 
der Doktor quäle sie, er bürste ihre Nägel mit einer Bürste und reibe 
ihr Gesicht mit einem Schwamm ab. Das Ereignis der Geburt würde 
voraussichtlich keinen so starken Eindruck auf ihn gemacht haben, wenn 
nicht eine stark juckende Erkrankung vorausgegangen wäre; er erinnert 
auch, daß er etwa um dieselbe Zeit seinen Vater beobachtete, wie er 
wegen eines juckenden Ausschlags seinen Rücken mit einer Bürste rieb. 

Von dem Zeitpunkt der Geburt der älteren Schwester an onaniert der 
Patient genital. Er verkroch sich unter das Bett und hatte Angst, daß 
er entdeckt werden könnte. Das Interesse für Füße war durch den Vater 
geweckt worden, den er oft am Abend seine Füße abreiben sah. 

Noch ein anderes Moment hat zur Entwicklung seiner Sexualität bei¬ 
getragen. Er hatte eine Geschwulst am Genitale (offenbar eine Variko- 
kele). Seine Mutter pflegte ihn immer wieder zu untersuchen; er fürchtete 
diese Untersuchungen. In einer seiner Phantasien masturbiert ihn die 
Mutter. Er phantasiert aber auch, daß er selbst vom Doktor in ähnlicher 
Weise gequält wird wie die Mutter. Er ist also in einer passiv-femininen 
Identifizierung mit der Mutter, die gleichzeitig Kastration bedeutet. Daß 
diese Qual bei der Geburt zum Teil anal gedacht war, kam lediglich in 
Einfällen und Träumen, aber nicht als Erinnerung zum Vorschein. Er hatte 
stets Angst vor toten Hühnern, die Berührung von Hühnern, Katzen und 
Hunden verursachte ihm Ekel. Als er fünf Jahre alt war, hatte er auf 
der Toilette Angst, daß ein totes Huhn oder eine tote Ratte ihm in den 
After kriechen würde. 

Die erotische Betonung der Afterzone (welche hier mit negativen Vor¬ 
zeichen erscheint) kommt aber in einer anderen Episode aus dem siebenten 
Lebensjahr noch einmal zur Erscheinung. Ein anderer Knabe uriniert ihn 
an; sie spielen Doktor, der Patient steckt eine Nadel in den After des 
Knaben, brachte sie nicht gleich wieder heraus und geriet in große Angst. 




















Über Neurasthenie 


373 



(Aus dem vierten bis fünften Lebensjahr stammt die Erinnerung, daß er 
an den nackten Füßen eines Mädchens Interesse hatte und an ihnen 

operiert e“.) 

Pie Betonung der Afterzone wird verstärkt durch die besondere Beachtung, 
welche die Defäkation in der Familie findet. Weit zurückreichende und 
fortgesetzte Erinnerungen zeigen, daß die Defäkation des Knaben sorgfältig 
beachtet und inspiziert wurde. Er hatte auch regelmäßig zu berichten, ob 
er defäziert hatte, die Verabreichung von Bananen, die er liebte, erfolgte 
nur, wenn er Stuhl gehabt hatte. 

Aber die Kontrolle der Mutter ist auch besonders auf das Essen ge¬ 
richtet. Sie tyrannisiert ihn und (später) die Schwestern, sie sollen mehr 
essen. (Später in der Neurose widert ihn das Essen an und er entwickelt 
eine Reihe hypochondrischer Vorstellungen über das Essen: Schweres 
Essen lasse seinen Penis schrumpfen, Hände und Füße kalt werden und 
bewirke Jucken.) Der Vater, behefrscht von der Mutter, nötigt ihn 
gleichfalls. Er verspricht dem Knaben dies und jenes, wenn er essen 
würde, hält es dann aber nicht. 

Die Überfürsorge der Eltern drängt ihn neuerdings in die passiv¬ 
masochistische Haltung, welche offenbar in der Geburtsszene zur Iden¬ 
tifizierung mit der Mutter führt. Aber die passive Haltung meint zugleich 
Kastration, welche z. T. als an den Füßen vollzogen gedacht wird. 

Die Mutter inspiziert, wie gesagt, immer wieder sein krankes Genitale; 
er fürchtet diese Untersuchungen (die offenbar in ein sehr frühes Alter 
zurückreichen). Er wird auch vom Vater zu ärztlichen Untersuchungen 
und schließlich zur Operation mit List gelockt. 

Er hatte offenbar eine Varikokele oder Hydrokele. Die Beachtung der 
Mutter reicht vor das vierte Lebensjahr, die Operation findet zwischen 
dem sechsten und siebenten Jahre statt. Furcht vor dem Geschlagenwerden 
spielt eine große Rolle. Als er einmal mit etwa sechs Jahren raufen sollte, 
lief er weg und sagte, er müsse auf die Toilette gehen. Er hat auch 
Furcht vor Räubern, ferner könnte in dunklen Räumen eine Katze an 
sein Genick springen, besonders eine tote. 

Sehr früh finden grausame Akte statt: Er reißt Bienen und Ameisen 
die Beine aus ; mit sieben oder acht Jahren erzählt er seiner Tante, daß 
ihre beiden Kinder eben getötet worden seien. Mit zehn Jahren stopft er 
seiner jüngeren Schwester ein Kissen in den Mund, so daß sie fast erstickt. 

Parallel läuft kontinuierlich Onanie, wobei er sich unter dem Bett 
verbirgt; die Phantasien zeigen ihm, wie er gemartert werde wie die 
Mutter. Später spielen Phantasien grausamer Art eine sehr große Rolle: 
er ist nackt, gefesselt, Kot und Urin beschmutzen ihn. Fliegen quälen ihn. 







374 


Paul Sdiilder 


Oder jemand, auch er selbst, wird von Pferden gevierteilt, die Brüste und 
das Gesäß von Frauen werden weggeschnitten, man windet ein Seil u m 
seinen Penis und er wird so onaniert. Oder er und ein Mädchen sind 
nackt mit dem Rücken gegeneinander gefesselt, so daß trotz hefti ger 

Erregung keine Befriedigung möglich ist; grausame Geschichten erregen 
ihn stark. ® 

Zwischen dem sechsten und achten Lebensjahre sind mutuelle Masturbation 
und Urinspiele mit anderen Knaben häufig. Er schläft mit dem Vater in 
einem Raum. Ausgesprochen neurotische Symptome beginnen erst mit der 
Pubertät. Charakteristischerweise Darmsymptome. Häufiger Stuhldrang 
macht ihm große Beschwerden. Er wird unfähig, in Gegenwart anderer 
zu defäzieren; juckende Empfindungen am After und auch am Penis 
treten auf. Er fürchtet, daß es ihm unmöglich sein wird, zu heiraten 
Hände und Füße werden kalt und jucken. Hände und Füße werden ihm 
dabei in sexueller Hinsicht immer wichtiger. Er findet die Füße wichtiger 
als alles andere. Sie sind schön. Der Anblick seiner eigenen Füße erregt 
ihn. Er hat heftige Erektionen, die ihn beunruhigen. Die Nägel interessieren 
ihn. (Phantasien, die Füße von Vater und Mutter zu küssen, aber auch 
die eines vorübergehenden Negers.) Seit dem zwölften Lebensjahr besteht 
auch eine Fülle von unvollständigen heterosexuellen Beziehungen, Küssen, 
Abtasten u. dgl. Seine Beziehung zu Mädchen ist meist eine oberflächliche, 
sie bedeuten ihm nicht viel, gelegentlich gibt es auch Haßausbrüche. — 
Manche Phantasien (er liegt mit einem Mädchen im Bett, beide sind 
nackt; plötzlich liegen Leichen im Bett) lassen erkennen, daß er un¬ 
bewußt Geschlechtsverkehr und Mord gleichsetzt. 

Der Haß gegen die Mutter ist offenkundig: Er denkt, niemand wäre 
benachteiligt, wenn sie tot wäre; er denkt aber auch an den Tod des 
Vaters. Er fühlt sich scheu, weil er so oft Erektionen hat; alle würden 
es bemerken, vielleicht ist er minderwertig. Aber er ist klüger als die 
anderen. Er stellt sich dümmer, um dann die anderen plötzlich zu ver¬ 
blüffen. Phantasien treten auf, daß er fälschlich angeklagt ist und leidet; 
er wird unschuldig verurteilt. Eine Fülle hypochondrischer Beschwerden 
im Magendarmtrakt, er klagt über Gasabgänge. Er sei zu mager, habe 
hagere Gesichtszüge (jeder sehe es); er muß vorsichtig in der Diät sein. 
Er will alles rasch machen; Schnelligkeit gibt ihm das Gefühl, daß er 
etwas macht, und er bekommt Erektionen; er hat alle möglichen Bücher 
über Nervosität gelesen; der Ausfluß aus dem Glied werde ihn zugrunde 
richten. Er ist ein energischer Arbeiter, aber der Vater wollte nicht, daß 
er arbeite, jetzt ist er zu müde und hat die Schule verlassen, weil er 
sich nicht konzentrieren kann. Er ist nicht genug fett, seine Züge sind zu 

































Über Neurasthenie 


375 



scharf. Die Leute sehen ihm das an. Er findet, daß die Natur verbessert 
werden könnte. Defäkation und Urinieren sollten nicht existieren. Er 
fühlt sich schuldig und minderwertig. Er kompensiert auf intellektuellem 
Gebiete. Er ist eitel und selbstgefällig, besonders in intellektueller Hinsicht. 

Manche wichtige Stücke der Analyse kamen nicht unmittelbar als 
Erinnerungen zum Vorschein. Doch konnten sie auch für den Patienten 
aus Traummaterial und Einfällen abgeleitet werden. So kam ihm die 
infantile Sexualforschung nicht unmittelbar zu Bewußtsein. Aber einmal 
träumte er von einem Tier, das eine Kuh sein soll, aber ein Pferd ist; 
es uriniert mittels einer besonderen mechanischen Vorrichtung. Der Urin 
kommt wie aus einem Springbrunnen. (In einem anderen Traume 
masturbiert er, der Samen fällt auf ihn wie aus einer Fontäne zurück.) 
Das Pferd läßt gleichzeitig auch Gase ab. Einfall: Er hat Kühe oft bei 
der Defäkation beobachtet, er hat in der Kindheit die Milch als Urin 
angesehen. In einem anderen Traum sieht er das Genitale eines Mädchens: 
Es ist ein Penis und ein großer Testikel darüber. Er erinnert jedoch nur, 
daß er „auf einmal von geschlechtlichen Dingen wußte“. Er hat charakte¬ 
ristischerweise keine Erinnerungen an das Genitale der Schwestern, mit 
denen er oft zusammen gebadet wurde. 

Obwohl die Kindheitserinnerungen auf (wahrscheinlich anale) Kastrations¬ 
ideen überdeutlich anspielen, konnte die Kastrationsangst dennoch nicht 
zur unmittelbaren Erinnerung gebracht werden. Einmal träumte er von 
einem Mädchen, mit dem er Verkehr hat; an Stelle ihres Genitales ist 
aber ein leerer Raum. 

Um zu wiederholen: Daß er während der Geburt der Schwester anal 
erregt war, ist lediglich erschlossen und kam nicht zur unmittelbaren 
Erinnerung. Daß Geburt und Geschlechtsakt anal (wahrscheinlich nach 
vollzogener Kastration) gedacht sind, geht aus den Phantasien und Befürch¬ 
tungen am Klosett hervor. Bewußt gemachte Erinnerungen besagen, daß 
ihm die Mutter häufig (schon in sehr früher Zeit) Einläufe machte, die 
er fürchtete. 

Seine Beziehung zur Mutter ist von vorneherein eine passiv-masochi¬ 
stische (anal und genital). Gleichzeitig hat er die Tendenz, sich mit ihr zu 
identifizieren. Der Arzt (der Früherinnerung) vertritt den Vater, zu dem 
er gleichfalls in passiv-sexueller Beziehung steht. Doch besteht die Tendenz 
zur Identifizierung mit dem Arzt, insofern als er in seiner Phantasie mit 
toten Personen im Bette liegt. 

Der Vater ist übrigens nach der Phantasie des Patienten von der Mutter 
unterjocht und gleichfalls passiv-masochistisch zu ihr eingestellt. 

Die anfänglichen Schwierigkeiten bestanden in einer kräftigen negativen 


■ 










376 


Paul Schilder 


Übertragung, welche das Mißtrauen gegen die Eltern (besonders gegen den 
Vater) auf den Analytiker übertrug. Starke narzißtische Kräfte, welche ihn 
zum eigenen Körper immer wieder zurückführten, ließen ihn seine eigene 
Halbbildung überschätzen und machte die weitere Übertragung schwierig 
Nachdem diese hergestellt war, wurde der Analytiker nunmehr zum Träger 
aller Leiden, über die der Patient klagte, und auf dem Wege über die 
Projektion in den Analytiker, der anscheinend mit allen diesen Problemen 
fertig wurde, und durch Identifizierung mit ihm fand die endgültige 
Klärung statt. In einer Übertragungsphantasie boxt er z. B. mit dem 
Analytiker. Der Patient hat boxen gelernt und entwickelt die gewiß un¬ 
berechtigte Vorstellung, daß der Analytiker ein erfahrener Boxer sei; er glaubt 
auch, daß der Analytiker ebenso wie er sich furchtbar schämen würde 
den nackten Fuß zu zeigen, daß der Analytiker beim Stuhlgang Beschwer¬ 
den haben werde, nicht schlafen könne usw. Er entwickelt dann die 
Überzeugung von der Gesundheit des Analytikers und identifiziert sich 
nunmehr mit dem Analytiker. Ich wage nicht zu entscheiden, ob dieser 
Vorgang, den ich eine narzißtische Projektion nennen möchte, als typisch 
anzusehen ist. Er erscheint jedenfalls bedeutsam und er spricht für die 
starke narzißtische Komponente, welche es möglich macht, daß jeder Teil 
des eigenen Körpers eine solche Bedeutung für ihn gewinnt. Gewiß hat 
diese Projektion auch die Bedeutung, den Analytiker herabzusetzen und 
ihn als passiv-anal darzustellen. Aber gleichwohl ist es der Weg zur Heilung. 
Aber der Grund, weshalb ich diesen Fall hier mitteile, liegt vorwiegend 
darin, daß er mir Licht zu werfen scheint auf die Entwicklung der ero¬ 
tischen Überbetonung des eigenen Körpers. Wir hören zunächst von einer 
juckenden Erkrankung in früher Jugend. Nun müssen wir darüber klar 
sein, daß wir von unserem Körper zunächst nicht viel wissen. Besonders 
meine Untersuchungen mit Hartmann und Klein haben mir gezeigt, 
daß das Wissen vom eigenen Körper nur auf Grund einer immer erneuten 
Berührung mit der Außenwelt entwickelt wird. Ist eine juckende Erkran¬ 
kung vorhanden, so muß das Erlebnis des eigenen Körpers früher gefestigt 
werden. Aber hier ist noch eine anderere Komponente zu berücksichtigen. 
Die Mutter des Patienten untersuchte sein Genitale sehr frühzeitig. Sie 
hat ein Interesse an seinem Körper — und damit ist sein Interesse an 
Schmerz und Leiden geweckt. Der Schmerzensschrei der Mutter während 
der Geburt fiel daher auf vorbereiteten Boden. Der Fuß der Mutter ersetzt 
symbolisch ihr Genitale (Penis). Aber gleichzeitig mit dieser fetischisti¬ 
schen Regung besteht die genitale Erregung, die zur Masturbation und 
Überbetonung der Hand führt. (Wenn er sich krank fühlt, so treten 
an Fuß und Hand ebenso wie am Penis Juckempfindungen auf.) Das 


■ 






















Über Neurasthenie 


377 


Interesse am Fuß wird verstärkt durch die Beobachtung am Vater. 
£)j e weitere Verstärkung des Interesses am eigenen Körper erfolgt 
durch die Beobachtung und Betastung seines Körpers durch die Mutter, 
die frühe Operation, die Einläufe und schließlich durch das nimmer¬ 
müde Interesse, das von Vater und Mutter seinen Ausscheidungen 
entgegengebracht wird. Das Essen wird gleichfalls immer wieder be¬ 
tont. Man gewinnt jedoch den Eindruck, daß alle diese Erlebnisse 
nicht ausreichend wären, wenn nicht durch das Erlebnis der Geburt der 
Schwester die masochistische Komponente der Sexualität unterstrichen 
worden wäre. Das Jucken spielt in diesem Zusammenhang gleichfalls eine 
bedeutsame Rolle. Es mag sein, daß ein konstitutioneller oder durch 
die Analyse nicht aufgedeckter früher Faktor gleichfalls von Bedeutung 
ist. Die Familienchronik weiß zu berichten, daß der Patient seit 
jeher ein sehr schlimmes Kind war. Jedenfalls scheinen sadomasochistische 
und anale Frühfixierungen eine besondere Bedeutung für die Störung im 
Aufbau des Körperschemas zu haben. Sie machen die Erreichung der voll¬ 
ständigen positiven Einstellung im Sinne des Ödipuskomplexes unmöglich 
und bewirken, daß das Interesse am eigenen Körper fixiert bleibt. Der 
leidende Grundzug, die masochistische Einstellung, bleibt bestehen, wenn 
die Sublimierung in der Arbeit unmöglich wird. Wir müssen freilich 
eine teilweise Entwicklung der Ödipuseinstellung annehmen, anders ist 
es nicht zu verstehen, daß die Patienten ihren Sadismus entweder subli- 
mieren oder lediglich die masochistische Komponente zur Entwicklung 
bringen. Man darf auch nicht vergessen, daß der Patient mit Neurasthenie 
die narzißtische Überschätzung einzelner Teile seines Körpers oder des 
Körpers als ganzen keineswegs frei anstrebt, sondern mit seinem Ich und 
Über-Ich gegen jene Verteilung der Libido kämpft (mit anderen Worten 
die Neurasthenie ist eine „Neurose“ und keine Perversion). Jedenfalls zeigt 
meine Beobachtung den Weg, auf welchem die Anteile des Körperschemas 
ihre Besetzung verstärken oder verändern. Sie zeigt gleichzeitig, daß eine 
rein neurasthenische Symptomenbildung die Struktur einer Psychoneurose 
hat. Wir verstehen vielleicht auch, warum Halbbildung als narzißtische 
Selbstüberschätzung in der Neurasthenie eine so bedeutsame Rolle spielt. 
Es ist die Sublimierung des Interesses am eigenen Körper. Die Konzen¬ 
trationsunfähigkeit ist die Folge des mißglückten Sublimierungsversuches 
im Denken. Es ist das gleiche Versagen, das in den Stuhl- und Miktions¬ 
beschwerden als Kastration erlebt wird. Was die Spermatorrhoe resp. Pro¬ 
statorrhoe bewirkt, bleibt unklar. Man kann sie im Sinne der Abraham- 
schen Feststellungen als urethralerotische Äußerungen auffassen. Was 
macht jedoch die Prostata zum besonderen Organ der Konversion? Was 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 


25 









ist ihre Stellung im Körperschema? Macht sie ihre anatomische La 
zwischen Urethra und Darm geeignet zum Ausdruck urethro-analer Te^ 
denzen, wenn die Genitalität Schaden erleidet? Und schließlich als Schluß 
bemerkung: Wir sprachen von narzißtischer Projektion. Sie ist ermöglich' 
durch die von mir wiederholt betonte Erfahrung, daß die Körperschemt/ 
der Menschen besonders eng miteinander verbunden sind. Identifizierunge* 
gehen entlang der Körperschemata, und die narzißtische Besetzung de" 

Körpers wird so leicht als narzißtische Besetzung des fremden Körner! 
erlebt. 1 ™ rs 


welche T “' 5 "’ auf eine wichtige Arbeit M. Levys hinzuweisen, 

welche durch direkte Befragung von Kindern zu Resultaten kommt, welche den 

hl,trn y , g r° nn t nen Sehr verwandt si " d - Er konnte eine Gruppe von Kindern 
heraussteilen, die> ihrem Körper eine übergroße Beachtung schenkten. Der Grund 

?r^T^ et u° rge der Elter ”’ 6inem k^kerinteresse der Eltern an Fragen 
iour,Ür^ dhe ^it, Krankheit und körperlicher Sonderart des Kindes liegen. American 
Journal of psychiatry, Vol. 9, 1929. 6 


























Über Sublimierung und Wahnbildung 

Vortrag auf dem XI. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Oxford , Juli 1929 

Von 

Ella S h a r p e 

London 

/ 

Im Jahre 1879 beschäftigte sich ein Spanier, der sich für Probleme der 
Kulturentwicklung interessierte, mit der Erforschung einer Höhle auf 
seinem Gut in Altamira in Nordspanien. Er suchte nach neuen Funden 
von Feuersteinen und geschnitzten Knochen, von denen er einige schon 
früher entdeckt hatte. Seine kleine Tochter war mit ihm. In der Höhle 
war es dunkel und er arbeitete beim Licht einer Öllampe. Das Kind 
kletterte auf den Felsen herum. Plötzlich rief es laut: „Da sind Bisons, 
Vater.“ Es wies dabei auf die Decke, die an dieser Stelle so niedrig war, 
daß er mit der Hand hinauflangen konnte. Er hob die Lampe empor und 
sah auf der unebenen Oberfläche der Decke eine Anzahl von Bisons und 
anderen Tieren, mit großer Realistik gezeichnet und in leuchtenden Farben 
gemalt. Diese Zeichnungen werden jetzt für ein Werk eines Künstlers des 
Jägervolkes aus der sogenannten Renntierperiode gehalten und sind vor 
ungefähr 17.000 Jahren entstanden. 

Um diese Zeichnungen anzufertigen, drangen Menschen der paläolithischen 
Periode in die Höhle ein und verbrannten dort Tierfett in einer Steinlampe, 
um Licht zu haben. Es war dies also eine vorbedachte Handlung und auch 
das Aufsuchen der Höhle war wohl absichtlich geschehen, denn dieses 
Volk lebte sonst beim Eingang in die Höhle oder unter abschüssigen 
Felsen nahe dem Eingang. 

17.000 Jahre später dringt ein Mann mit Hilfe einer Lampe zu diesem 
abgeschiedenen Ort vor. Ein Kind erblickt die Tiere und macht den Vater 
auf sie aufmerksam. 

In dem dramatischen Augenblick der Wiedererkennung im Innern der 
Höhle ist bei dem modernen Wißbegierigen der gleiche Drang wirksam 
wie bei dem Künstler des alten Jägervolkes. Zwischen ihnen liegt die ganze 
Kulturentwicklung; aber die Entwicklung, die sie trennt, entspringt gerade 







380_ Ella Sharpe ‘— 

dem ihnen gemeinsamen Antriebe. Dieselbe innere Nötigung, die die 
Künstler des Jägervolkes in die entlegenen Winkel der Höhle führte, trieb 
auch den Spanier dorthin. Der Künstler des Jägervolkes ging hin, um 
ein Ding der Außenwelt lebenswahr darzustellen. Der Spanier ging hin 
um Feuersteine und geschnitzte Knochen zu finden, damit er sich aus 
diesen Stücken das Leben primitiver Völker veranschaulichen könne. Mit 
anderen Worten, um das, was vor langer Zeit geschehen war, zu rekon¬ 
struieren und sich lebendig vorzustellen. 

Es ist meine Absicht, in diesem kurzen Vortrag auf einige Seiten des 
vielseitigen Problems der Sublimierung, wie es sich im Tanzen, Singen, 
Malen und bei der Geschichtsforschung zeigt, einzugehen, da mir meine 
klinische Erfahrung gezeigt hat, daß alle diese Sublimierungen eine ge¬ 
meinsame Wurzel haben und einer inneren Notwendigkeit entspringen, 
die im wesentlichen sich nicht von der inneren Nötigung unterscheidet, 
die die ersten Künstler dazu trieb. Der Beginn der Kultur fällt mit dem 
Beginn der Kunst zusammen. Beide sind unzertrennlich verknüpft. In 
dem Augenblick, als der Mensch begann, seine Feuersteine zu bearbeiten 
und Zeichnungen an den Wänden seiner Höhle anzubringen, beginnt 
auch die Geschichtsschreibung, und die Kultur mit ihrer komplizierten 
Entwicklung setzt ein. 

Über das erste Auftauchen der Menschen, die wir als unsere Urahnen 
ansprechen, also der Künstler des Jägervolkes, hat sich ein lebhafter wissen¬ 
schaftlicher Streit entsponnen. Der Urmensch soll, wie Falaize in „Origins 
of civilisation“ sagt, vor 50.000 Jahren gelebt haben. Er sagt dort auch, 
daß durch die menschlichen Überreste, die man in Kroatien gefunden 
hat, der Beweis für den Kannibalismus der Urmenschen erbracht sei. Aus 
dem Auftreten der Einbalsamierungsgebräuche im alten Ägypten hat 
Flinders Petrie das Alter des Kannibalismus abgeleitet. Auf die Zer¬ 
stückelung der Leichen beim Kannibalismus kommt das Zeitalter des Ein- 
balsamierens in Ägypten, das Bauen der Gräber und die Bestattungs¬ 
zeremonien. E. Smith sieht in den Gräbern Ägyptens den Beginn der 
Architektur in Stein und den Beginn des Überseehandels auf der Suche 
nach Holz und Gewürzen zum Einbalsamieren. Aus dem Brauch in Ägypten, 
eine Totenmaske abzunehmen, entwickelt sich das Formen von Statuen. 

Sublimierung und Kultur sind miteinander verknüpft; Kannibalismus 
und Kultur schließen sich gegenseitig aus. Die Zivilisation beginnt mit den 
ersten Kunstbetätigungen und diese wiederum sind mit den Problemen 
von Nahrung und Tod untrennbar verknüpft. 

Die ersten Zeichnungen stellen Tiere dar, die das Jägervolk zu Nahrungs¬ 
zwecken erlegte. Man erklärt dies damit, daß man auf diesem magischen 


























Über Sublimierung und Wahnbildung 


381 


Weg die Nahrungsbeschaffung fördern und sichern wollte: „Zeichne einen 
Bison und es wird Bisons genug geben.“ Aber damit ist noch immer nicht 
erklärt, warum die ersten Künstler in die tiefsten Winkel der Höhle 
krochen, um dort ihre Zeichnungen anzubringen. Es kamen dann andere 
Künstler des Jägervolkes, getrieben von demselben Drang, und setzten 
ihre Zeichnung über die, die sie an diesen vorborgenen Plätzen gefunden 
hatten. Wir sehen hier also den inneren Antrieb, erstens eine lebendige 
realistische Zeichnung anzufertigen, und zweitens diese Zeichnung im 
Innern einer Höhle anzubringen. Die Probleme der Nahrung und des 
Todes sind in diesen Höhlenzeichnungen enthalten, denn die gezeichneten 
Tiere bildeten die Nahrung der Jäger. Die Zeichnungen sind lebenswahre 
Darstellungen. 

Ich möchte Sie weiter daran erinnern, daß die menschlichen Gestalten, 
die man in diesen Höhlenzeichnungen aus der paläolithischen Periode 
findet, oft eine Tiermaske tragen. Ich sehe in der Zeichnung der Primitiven, 
in den Tieren und in den Menschen mit Tiermasken, den ersten Versuch, 
in der Kunst einen Konflikt zu lösen, der sich um das Problem von 
Nahrung und Tod dreht. 

Der erste Tänzer Europas, vielleicht der ganzen Welt, war der Höhlen¬ 
bewohner. Die Höhlenzeichnungen der paläolithischen Menschen weisen 
solche Tänzer auf. Auf den ersten Steinzeichnungen, die einen rituellen 
Tanz darstellen, erscheinen die Gestalten in prozessionaler Ordnung, in 
Zusammenhang mit einem erschlagenen Bison. 

Das Tanzen war ebenso wie das Zeichnen eine magische Handlung. 
Beide waren ursprünglich mit den Problemen der Nahrung (des Lebens) 
und des Todes verknüpft. Der Tanz bildete auch einen Teil der altägyptischen 
Grabzeremonie. Der Höhlenbewohner, der eine Tiermaske trug, ahmte die 
Bewegungen des Tieres nach, das er getötet hatte. Die Verkörperung des 
Geistes, die Darstellung des Wiederauferstehens der toten Person im 
Tänzer weisen auf dieselben Motive als Ursprünge des Tanzes hin, die 
beim Zeichnen vorliegen. Die Toten werden durch eine magische Hand¬ 
lung zum Leben erweckt. 

Die dramatischen Tänze, die auf der ganzen Welt mit den Toten¬ 
zeremonien verknüpft sind, inaugurieren den Beginn des Dramas. Ridgeway 
behauptet, daß überall, wo man Tragödie und ernstes Drama findet, diese 
im weltverbreiteten Glauben an das Fortleben der Seele nach dem Tod 
ihre Wurzel haben. Im Anfang diente das Drama nicht dem Zeitvertreib, 
sondern es war eine feierliche Handlung. Diese Anschauung wird in 
unserer Zeit von Bernard Shaw vertreten, der die Kunst als Zweig der 
sozialen Hygiene bezeichnet. 







382 


Ella Sharpe 


„ The swaddling clothes of drama are the winding-sheets of the hero 
hing.“ („Die Grabtücher des Heldenkönigs sind die Windeln des Dramas “ 
Ivor Brown.) Die Masken, die die ersten Schauspieler trugen, sollten die 
Toten darstellen. Die Menschen, die die Masken trugen, waren in diesem 
Moment die Inkarnation der Geister der Toten. 

Ein moderner Schriftsteller hat gesagt: „Schließlich müssen wir nicht 
unseren Theaterbesuch mit der Unterhaltsbeschaffung in Beziehung bringen 
oder den Schauspieler für den geeignetsten Bürgen für unser Fortleben 
nach dem Tode halten.'“ Ich glaube, daß sich die Kunst nur dann zur 
vollsten Höhe erhebt, wenn sie — zuerst für den Schauspieler und un¬ 
bewußt für uns selbst — dieselbe Aufgabe erfüllt wie in alten Zeiten, 
die Aufgabe einer magischen Sicherung. Große Kunst hat eine selbsterhal¬ 
tende Funktion. In der Malerei, in der bildenden Kunst, im Drama, im 
Roman wird uns ein Stück Leben mitgeteilt. Es ist das Leben selbst, das 
getanzt wird. Eine Welt, die in der Musik geformt wird. Wenn aber diese 
Kunst groß, vollkommen wird, gibt uns ihre Betrachtung volle Befriedi¬ 
gung und wir entfliehen einer Welt der Sorge und der Angst, einer Welt 
der Vergänglichkeit, des Bösen und des Todes für eine Zeit. In diesen 
seltenen Augenblicken sind wir von unserer Unsterblichkeit überzeugt. 
„Weil ich lebe, wirst auch du leben.“ 

Das Wort „Drama“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „es 
ist etwas getan worden". Schaffen ist das Charakteristikum des Künstlers, 
zum Unterschied vom Philosophen, dessen Aufgabe das Denken ist. In 
alten Zeiten war dieses Schaffen von vitaler Bedeutung für das Gedeihen 
der Gemeinschaft. Komplizierter und subtiler ist es auch heute noch mit 
unserem Leben verwoben, auch für uns noch ebenso lebenswichtig. Der 
große Künstler muß „schaffen , getrieben von einer inneren Notwendigkeit. 
Es ist das Malen und das Schaffen, das für ihn lebenswichtig ist. 

Eine Analyse, in der eine Tanzhemmung behoben wurde, ergab folgendes: 
Die Patientin wußte genau in ihrem Innern, wie man tanzen müsse, wie 
man seine Muskeln dabei kontrollieren solle. Neue Schritte, einen neuen 
Tanz sehen, bedeutete für sie, mittels der Augen ein Bild ins Ich aufnehmen. 
Sie konnte es dann „in ihrem Kopf" durcharbeiten. Wie ein Negativ wurde 
das Bild aufgenommen. Dann konnte es wie ein vom Negativ abgezogenes 
Bild reproduziert werden. Sie war das Negativ und reproduzierte das Bild. 
Die Musik forderte zum Tanz auf, Ton und Bewegung gingen in natürlicher 
Ordnung zusammen. Der Körper bog sich hierhin und dorthin, neigte 
und bewegte sich, wie wenn er ein einheitliches Ganzes wäre, wie ein 
Vogel im Flug ein Ganzes ist. Sie selbst war wie ein Vogel, sie wurde 
zum Vogel. Sie war in ihm und er in ihr. Das heißt, sie war der magische 

























Über Sublimierung und Wahnbildung 


383 


Phallus. Das Tanzen war in ihr. Sie war zu dem geworden, was sie 
mit ihren Augen in ihrer Sehnsucht, in ihrer Liebe und in ihrem Haß 
erschaut hatte. Sie hatte es sich einverleibt und war nun nach kanni- 
balistischem Aberglauben mit den Fähigkeiten des ein verleibten Dinges 

ausgestattet. 

Der Tänzer der Vorzeit verkörperte den Toten, vor dem er sich fürchtete. 
Er ahmte die Bewegungen des Geschöpfes nach, das er selbst erschlagen 
und gegessen hatte. Der Leidtragende bei den Begräbnisfeierlichkeiten in 
Rom ahmte den Verstorbenen nach. Das weiß geschminkte Gesicht des 
Clowns mag als Erinnerung daran gelten, daß auch er einmal einen Geist 
verkörpern sollte. 

Der Wahnglaube an die Allmacht findet hier einen Ausweg in die Wirk¬ 
lichkeit. Die Augen haben gesehen und die Ohren haben gehört und der 
Körper hat empfunden und das Ich macht in manchen Fällen von seiner Funk¬ 
tion Gebrauch und sagt: „Ich kann das tun.“ Unter dem heftigen Ansturm der 
Angst verwandelt sich dieses „ich kann“ in ein „ich muß“. Die phallische 
Personifizierung beim Tanz ist ein „Sein-Müssen“, ein So-mächtig-Sein wie 
der Vater, ein psychisches „ich bin der Vater“, eine Wahnbildung und 
doch ein Ergebnis der Ichfunktion. 

Man muß aber noch weitergehen, um zu verstehen, warum diese 
magische Personifizierung für meine Patientin ein Talisman für ihr Wohl¬ 
ergehen war, ein Talisman gegen böses Schicksal, genau so wie in alten 
Zeiten der Tanz es für die Gemeinde ist. Ich konnte feststellen, daß 
Bewunderung und Beifall der Leute wohl eine Unterstützung für sie 
waren, aber es war mir klar, daß es nicht der Beifall war, der das 
Tanzen für sie zur Notwendigkeit machte. Denn diese Unterstützung 
gewährte ja keine Sicherheit vor der Angst. Sie brauchte diese Hilfeleistung 
und den Zoll an Bewunderung aus demselben Grunde, aus dem heraus 
sie sich mit dem Phallus des Vaters identifizieren mußte. Vollkommenes 
Tanzen befreite sie, weil sie dadurch einen Zustand erreichte, der ihr 
unerfüllbares Verlangen in ihrem Innern stillte und ihr Sicherheit gab. 
Indem sie diesen Zustand erreichte, war sie weitergekommen, als man von 
ihr erwartet hatte; das heißt, ihre Ballettmeisterin warmehr als zufrieden. 
In diesem Augenblick fühlte sie sich sorglos, konnte der Lehrerin, vor 
der sie sich sonst immer fürchtete, ein Schnippchen schlagen, bis sie dann 
ihre Meisterin in einem Zustand ekstatischer Begeisterung verließ. Es 
wurde mir so deutlich, daß es die Mutter war, vor der sie sich in ihrem 
Unbewußten fürchtete. Auf die Mutter waren alle ihre lebensbedrohenden 
Wünsche projiziert worden. Die ersehnten Dinge, die sie der Mutter ent¬ 
reißen wollte, waren die Milch, die Kinder und der Penis des Vaters. 







384 


Ella Sharpe 


Diese feindseligen Absichten aber wirkten in der Projektion auf sie selbst 
zerstörend zurück. 

Aus dieser Angstsituation wurde sie durch vollkommenes Tanzen errettet 
Sie wird im Tanz selbst zu einem magischen Phallus. Sie richtet wieder 
in sich selbst auf, was ihre eigene Feindseligkeit wegzunehmen und zu 
zerstören versucht hatte Es ist eine allmächtige Wiederherstellung, eine 
Sicherung des Lebens. Sie werden sich daran erinnern, daß die Bisons in den 
Tiefen der Höhle gezeichnet waren. Der Vater wird damit der Mutter 
wiedergegeben, der Penis, das Kind kehrt magisch in den Mutterleib zurück 

Das Tanzen verleiht eine magische Gewalt über die Eltern, weil man 
dadurch zum Vater wird. Die Notwendigkeit dazu entspringt aus der 
Angst, die wiederum aus der Feindseligkeit entstanden ist, die der Versagung 
entstammt. Mit Hilfe dieser wahnhaften Allmacht wird der Tänzer zum 
Vater, und das Tanzen wird zum Akt der Versöhnung, der Wiedererstattung. 
Leben wird getanzt und dadurch das Unheil, das die feindseligen Wünsche 
gegen die Mutter bringen könnten, abgewehrt. 

Bei einer Sängerin stellte sich folgendes heraus: Die Analyse machte 
sie fähig, schlechte Gewohnheiten beim Singen abzulegen, die sie beim 
Versuch, die Vorschriften verschiedener Gesangslehrerinnen zu befolgen, 
angenommen hatte. Sie vermag jetzt zu sagen: „Ich wußte selbst, wie 
ich die Töne ganz natürlich hervorbringen soll, die ganze Zeit seit meiner 
Kindheit wußte ich es. Lehrer haben mich immer auf den falschen Weg 
geführt. Ich wußte es gefühlsmäßig, aber die Lehrer glauben immer, 
daß man es nicht weiß; nur sie sind allwissend; man selbst weiß nichts 

wie wenn es falsch wäre, etwas zu wissen. Wenn sie gesagt haben: 
Ihre Stimme ist so groß, wir müssen aufpassen, daß wir sie nicht ver¬ 
patzen, so dachte ich, wie groß? Wie kann sie verdorben werden? Ist sie 
so groß, daß sie nicht heraus kann?“ 

Jetzt, wo sie die Mätzchen beim Singen verloren hat, sagt sie: „Die 
Stimme ist in einem drinnen. Du hast nichts anderes zu tun als dich zu 
entspannen. Das Atmen geht von selbst, wenn man nur das Zwerchfell 
auf und ab gehen läßt. Die Stimme fließt heraus wie Wasser, wie Sahne. 
Erinnere dich, daß du ja in Wirklichkeit nicht immer höher und höher 
kommst. Du bildest es dir nur ein, denn die Töne sind alle an der 
gleichen Stelle. Du gibst die Töne dorthin, wo du willst, du beherrschst 
sie. Du bist wie ein Vogel, der auf seiner Stimme aufwärts fliegt. Deine 
Stimme zieht die Menschen ,zu dir. Sie fühlen dann, was du fühlst, 
Trauriges oder Lustiges. Der Rattenfänger lockte die Kinder mit seiner 
Musik von daheim fort. Orpheus versetzte Felsblöcke und Steine. Die 
Sirenen lockten Männer ins Verderben.“ 


























Über Sublimierung und Wahnbildung 


385 


Sie stellt also in ihrem Gesang die mächtigen Eltern dar. Ihr eigent¬ 
licher Leib besteht aus Brust und Penis. Die Stimme ist Milch, Wasser, 
der befruchtende Samen. Sie hat sich durch Identifizierung die Macht 
beider Eltern einverleibt. Durch den magischen Akt des Singens schafft 
sie das neu und verlegt es nach außen, was sie sich einverleibt hatte. Es ist 
ein wahnhafter Glaube an die Gewalt über die, vor denen sie Angst hatte. 
So wie die Eltern in ihr Leid und Freude erweckten, hat sie jetzt die 
Macht, bei andern diese Gefühle zu erzeugen. 

Das Ich sichert sich Befreiung von der Angst vor den einverleibten, 
feindlich gesinnten Eltern dadurch, daß sie nach außen in eine Kunst¬ 
betätigung verlegt werden; diese Kunstbetätigung ist eine lebenspendende 
Allmacht, eine Wiederherstellung, Milch, Wasser, Samen, Kind. 

Die Arbeitsweise einer Malerin entpuppte sich folgendermaßen: Sie sagte 
wörtlich: „Es ist sonderbar, daß Leute Perspektive, Regeln für Zeichnen 
in der Verkürzung lernen müssen. Wenn man eine Blume erblickt, die 
so aussieht, als ob sie auf einen zukäme, zeichnet man sie so, wie 
man sie sieht. Das ist alles. Die Augen nehmen sie auf, wie sie ist. Das 
Bild ist in meinem Kopf, ich sehe es auf dem leeren Papier oder auf 
der Leinwand und ich mache nur Konturen darum und male.“ Das heißt, 
die Bilder waren einmal äußere Realität, die Bilder der Kindheit; sie sind 
jetzt ein verleibt. Dann werden sie auf weißes Papier projiziert wie die 
Bisons in der Höhle. 

Die Feindseligkeit des ein verleibten Objekts bedroht das künstlerisch 
tätige Ich nicht mehr, denn die Allmacht kommt, wird in den Dienst des 
Ichs gestellt. Sie leitet Augen und Hand. Jeder Pinselstrich bedeutet: Macht 
ausüben über die Eltern. Ein Bild malen bedeutet, ebenso wie der Besitz eines 
Stückchens Zehennagel, die wirkliche Person magisch in seiner Gewalt zu 
haben. Doch das Malen ist auch eine Wiederherstellung. Das leere Papier 
wird ausgefüllt. Alle die Dinge, die das Kind der Mutter entreißen wollte, 
werden zurückerstattet, die aufgegessene Nahrung, die Kinder, der Penis 
des Vaters. Die erste Zeichnung, die diese Patientin mit drei Jahren an¬ 
fertigte, sollte eine Mutter darstellen, die ein Baby in einer Rosenlaube 
auf dem Arm hält. 

Weiteres Beweismaterial will ich nur kurz zusammenfassen: Eine 
Patientin, die dem Verfolgungswahn nahe ist, wird von der Prophezeiung 
einer Chiromantin verfolgt, daß sie ein Kind bekommen werde, das 
sterben müsse. Sie kommt vom Gedanken an diese schreckliche Zu¬ 
kunft nicht los. Sie hegt ständig Rachepläne gegen die Chiromantin. In 
der Analyse übertrug sie bald die Gefühle gegen die Wahrsagerin auf die 
Analytikerin. Die Analytikerin, meint sie, möchte ihr auf magischem Wege 






386 


Ella Sharpe 


Böses zufügen. Die weitere Analyse ergab, daß sie der Meinung war, ihre 
Stimme sei von einer Gesangslehrerin verdorben worden. Die Patientin 
hatte früher die Malerei aufgegeben, weil sie glaubte, ihre Originalität 
sei ihr geraubt worden. Das Tanzen hatte sie in der späten Kindheit aufge¬ 
geben. Nach zwölfmonatigem Grübeln in der Analyse geriet sie i n 
hochgradige Erregungszustände, und allmählich wurde für sie Tätigkeit 
zur inneren Notwendigkeit. Es kam zum Durchbruch der Angst und z U 
Ausbrüchen von Haß, die besonders gegen eine Lehrerin gerichtet waren 
auf die sie ihre Feindseligkeit gegen die Mutter übertragen hatte. Dadurch 
wurde verdrängte Feindseligkeit gegen die Mutter in der Kindheit zugänglich. 
Inzwischen hatte sich ihre Stimme von allen erworbenen Fehlern befreit 
Der Verfolgungswahn war verschwunden und die Angst konnte bewältigt 
werden. Sie verschwindet gänzlich, wenn sie singt. Dann ist sie beschwerde- 
frei, das heißt, der Verfolgungswahn schwindet, wenn die Sublimierung 
einsetzt. Die Sublimierung hat denselben Ursprung wie der 
Verfolgungswahn. Der Konflikt wird nach außen verlegt und in der 
Kunstbetätigung verarbeitet. Diese Kunstbetätigung stellt ein Wiederbringen 
des Lebens, eine Wiederherstellung, eine Versöhnung, ein Ungültigmachen 
der Angst dar. Das Ganze ist eine Allmachtsphantasie von der Überwachung, 
von der Sicherung vor dem Bösen, und zwar in der Welt der Wirklich, 
keit, weil es ja in Form einer Ichfunktion zum Ausdruck kommt. 

Die Wahnbildung dient den Zwecken des Über-Ichs. Die Feindseligkeit 
wird als von einem andern ausgehend empfunden. Die Patientin fühlt 
sich verfolgt. Die verfolgende Person begeht das Unrecht, nicht die 
Patientin. Die Analyse macht die verdrängte Feindseligkeit gegen die Mutter 
bewußt. Das Über-Ich wird so weitgehend verändert, daß die verdrängte 
Feindseligkeit (und ihre Ursachen) bewußt wird. Der Wahn löst sich 
auf. An seine Stelle tritt die Sublimierung. Die Feindseligkeit wird nach 
außen verlegt und in der künstlerischen Tätigkeit verarbeitet. 

Eine psychotische Patientin erreichte ein Stadium labilen Gleichgewichts 
und vermochte es unter folgenden Bedingungen einige Jahre hindurch 
festzuhalten: 

1) unter Ausbildung einer Wahnidee, 

2) indem ihr ganzes übriges Leben unter der Herrschaft eines überaus 
strengen Über-Ichs stand, 

3) unter Durchführung von mechanischen Arbeiten, die deutlich Straf¬ 
charakter hatten; diese Arbeiten erforderten nur Fleiß und Ehrlichkeit; 
sie bedeuteten eine „Wiedergutmachung“ der Vergehen der Kindheit und 
stellten eine Sühne der Mutterimago gegenüber dar, 

4) der letzte Faktor, der für die Stabilisierung dieses Systems in Betracht 



















Über Sublimierung und Wahnbildung 


387 


kam, war der B esitz einer Puppe. Die Zeit vom 20. bis zum 29. Lebens¬ 
jahr stand unter der Herrschaft dieser Puppe. Es war eine weibliche 
Puppe, die ein Baby in Händen hielt. Während dieser Jahre wurde die 
puppe mit Ehrfurcht behandelt. Jede Woche wurde sie aus ihrer Lade 
hei ausgenommen und untersucht, ob sie unversehrt sei, ohne Schaden und 
ohne Fehler, dann wieder sorgfältig ein gewickelt und in die Lade zurück¬ 
gelegt. 

Die Wahnidee beinhaltete im wesentlichen eine Erfüllung der Odipus- 
situation und leitete sich von der Behauptung her, ein Arzt habe ihr 
sexuelle Anträge gemacht, die aber weder mit Affekt noch mit Schuld¬ 
gefühl verbunden waren. Das Über-Ich war befriedigt, weil diese Anträge 
wahnhaft auf den Arzt projiziert wurden. Mittels der Puppe wurde die 
Angst in Schach gehalten: die den Ödipuswünschen entsprechende Feind¬ 
seligkeit gegen die Mutter, den Wunsch, sie loszuwerden und ein Kind 
vom Vater zu erhalten, hatte die Patientin projiziert und sich dann vor 
der projizierten Drohung durch eine magische Sicherung geschützt. Die 
Puppe war die unverletzte und ungekränkte Mutter. 

Es brauchte sieben Jahre, um diese Wahnbildung aufzuklären und zu den 
dahinter verborgenen Erinnerungen und Kindheitswünschen vorzudringen. 
Es dauerte sieben Jahre, bis die Puppe zur* Bedeutung einer gewöhnlichen 
Puppe herabsank. Diese Puppe war der magische Talisman, die Maske, 
die Statue primitiver Zeiten. 

Die langsame Auflösung der Wahnbildung, die Einschränkung der 
Bedeutung der Puppe, der Verlust des Interesses an der mechanischen 

Arbeit, die Milderung der Strenge des Über-Ichs gingen Hand in Hand 
mit dem Auftauchen bisher verborgener Interessen, die seit der Kindheit 
latent gewesen waren. Am bedeutsamsten erwies sich das Eingeständnis 

eines lebhaften Interesses für Geschichte. Dieses wurde dann zum Haupt¬ 
faden für die folgende Analyse. Die ersten von ihr dargestellten 

Gestalten waren getreue Abbildungen ihrer infantilen Phantasien, die 
Vater, Mutter und sie selbst betrafen. Sie begann zu dramatisieren, 

ihre eigenen Identifizierungen auf die Gestalten zu übertragen, die in der 
Welt der Geschichte Vater und Mutter darstellen. Diese Gestalten nahmen 
wirkliches Leben an. Sie lebte deren Leben, und kein Suchen nach Quellen 
war ihr zu mühsam, um sie möglichst vollständig darstellen zu können. 
— Dies führte am Ende dazu, daß die Patientin die mechanische Arbeit 
aufgab und an der Universität Geschichte zu studieren begann. 

Es ist dabei interessant, was in der Analyse vorging. Ich glaube nicht, 
daß die Allmachtsphantasie eine Verminderung erfuhr, sie wurde nur 
verschoben. Ich möchte den Weg dieser Veränderung kurz skizzieren: 








388 


Ella Sharpe 



1) Äußerst intensive Angstzustände in der Kindheit infolge realer 
Versagung, hervorgerufen durch ein bestimmtes Trauma. 

2) Diese bewirkten heftige Aggressivität. Die Analyse zeigte, daß sie 
da ihre eigene Feindseligkeit durch die Versagung hervorgerufen worden 
war, ihre Sicherheit darin erblickte, den Eltern gegenüber allmächtig zu sein 
Dies wurde wahnhaft durch eine männliche Identifizierung durchgeführt 
indem sie zu einem Krieger wurde. Sie massakrierte ihre Puppen und 
wurde so symbolisch Herr über Leben und Tod ihrer Eltern. 

3) In der Pubertät brachte die Verstärkung des ÜberTchs eine völlige 
Veränderung ihres Verhaltens mit sich, völlige Unterdrückung und Ver¬ 
urteilung ihrer früheren Verfehlungen. Dies war wieder eine andere Form 
in der sie ihre Allmacht betätigte. „Ehre Vater und Mutter, auf daß du 
lange lebest! Durch ihr gutes Benehmen wurde dasselbe Resultat, näm¬ 
lich die Selbsterhaltung, auf dem Wege der Allmacht erreicht, wie durch 
die frühere Gewalttätigkeit. Gleichzeitig vollzieht sich hier nur ein Auf¬ 
schub der Triebwünsche, nicht ein Verzicht auf sie; sie werden erfüllt 
werden, eines Tages, wenn nicht jetzt; dort, wenn nicht hier; im Himmel, 
wenn nicht auf Erden. 

4) Dann tauchte in einer Wahnbildung die Erfüllung der Ödipus¬ 
wünsche auf. Diese Wahnbildung befriedigte sowohl das Es als auch das 
Über-Ich, denn die wahnhafte Erfüllung war ja auf den Arzt projiziert, 
der dadurch auch die Schuld auf sich nahm Daneben lief die Wahnidee 
mit der Puppe, eine magische Wiederbelebung der Mutter, die eine 
Garantie für ihre eigene Sicherheit bot. 

Die Auflösung der Wahnbildung enthüllte die Ödipuswünsche und 
brachte die Erinnerung an ihre gewalttätige Kindheit. Das bewirkte eine 
Abnahme der Strenge des Über-Ichs mit einer entsprechenden Stärkung 
des Ichs. Diese Ichstärkung erzeugte eine Zunahme der sozialen Beziehungen 
und des Selbstvertrauens. Im Zusammenhang damit wurde die mechanische 
Arbeit aufgegeben, und es erfolgte eine Sublimierung in Form des 
Geschichtsstudiums. Die Allmacht, die früher ihren Ausdruck in der 
Wahnbildung gefunden hatte und in der magischen Puppe zum Vorschein 
gekommen war, fand jetzt ihre Ausdrucksmöglichkeit in Mitteln, die der 
Realität angehörten, in einer dem Ich zugehörigen Sublimierung. Die ersten 
Gestalten aus der Geschichte waren Elternimagines. Von ihnen wurde das 
Interesse auf die Zeitperiode, in der sie lebten, übertragen; und in dem 
Maße, als die Angst sich verringerte, wurde der Umfang des historischen 
Interesses erweitert und vertieft. 

In der Geschichte sind ja alle Personen tot. Durch das lebendige Inter¬ 
esse, das man ihnen zuwendet, werden sie wieder lebendig. Ihr Leben 




















Über Sublimierung und Wahnbildung 


389 



wird neu gelebt, rekonstruiert. Ihr Leben wird zuerst vom Studierenden 
aufgenommen. Es ist dies ein Einsaugen von Wissen, symbolisch ein Eins¬ 
sein mit den Eltern. In den Essays und Aufsätzen findet ein Nachaußen¬ 
verlegen dessen statt, was man sich einverleibt hat, eine Wiedererschaffung 
und daher eine Unwirksammachung der Angst. 

Die Sublimierung hat dieselben Allmachtsphantasien zur Grundlage 
wie die Wahnbildung; nur ist sie zu einer Ichstärkung geworden und hat 
einen Ausweg in die Realität gefunden. Hinter der Bildung des Ichideals 
liegt nach Freud die erste und wichtigste Identifizierung, die Identi¬ 
fizierung mit dem Vater, verborgen; vielleicht, meint Freud, ist es vor¬ 
sichtiger zu sagen, die Identifizierung mit den Eltern. Weiter sagt Freud: 
„Am Beginn, in der primitiven oralen Phase der individuellen Entwicklung 
können Objektbesetzung und Identifizierung kaum unterschieden werden.“ 
Isaacs sagt treffend in ihrem Aufsatz „Entbehrung und Schuldgefühl“, 1 
„daß Freuds ,primäre Identifizierung 4 einen größeren Anteil an dem 
ganzen Drama hat, als man ursprünglich dachte“. Freud sagt, daß die 
Beziehung des Über-lchs zum Ich sich nicht erschöpfe in der Mahnung: 
so ^ie der Vater) sollst du sein, sie umfasse auch das Verbot: so (wie 
der Vater) darfst du nicht sein, d. h. nicht alles tun, was er tut, 
manches bleibt ihm Vorbehalten. Im mosaischen Gesetz lautet ein solches 
„Du sollst nicbt“-Verbot: ,Du sollst kein Bildnis noch irgend ein Gleich¬ 
nis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf 
Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde. Denn ich, dein Herr, 
dein Gott, bin ein eifriger Gott. 4 An dieses Verbot hat sich der Künstler 
nicht gehalten. Ich glaube, daß der Grund hiefür in der Uridentifizierung 
mit den Eltern zu suchen ist, von der Freud sagt, daß die Objekt¬ 
besetzung noch kaum von ihr zu unterscheiden sei. Diese Eltern sind die 
aktiven Sexualeltern, sie sind durchaus Menschen, sie gestatten sich viel 
in Gegenwart des Kindes, weil es ja noch klein ist. 

Es scheint mir, daß der Druck der Angst, die durch die Strenge des 
Über-lchs und durch die Forderungen des Es entsteht, zu folgenden drei 
Möglichkeiten führen kann: 

1) Das Ich kann von der Realität fortgerissen und vom Es überwältigt 
werden. 

2) Das Ich bleibt der Realität erhalten, aber seine Funktionen werden 
durch die Strenge des Über-lchs beeinträchtigt. Die Sublimierung wird 
durch ein „Du sollst nicht“ behindert. 

3) Der Ausweg des Künstlers. Hanns Sachs hat gesagt: „Trotz seines 


1) Int. Zeitschr. f. PsA., Bd. XV (1929), Heft 2/3. 








390 


Ella Sharpe 


besonders hohen Schuldgefühls hat der Künstler einen Weg gefunden der 
den meisten Menschen verschlossen ist, und der ihn mit seinem Über-lch 
versöhnt.“ Er meint, daß die Flucht vor der Strenge des Über-Ichs durch 
Vermittlung des Werkes vor sich geht. 

Die Kunst ist nach meiner Meinung eine Sublimierung, deren Grund¬ 
lage in der Uridentifizierung mit den Eltern zu suchen ist. Diese Identi¬ 
fizierung ist eine magische Einverleibung der Ellern, ein psychisches 
Geschehen, das eine Parallele zum Kannibalismus bildet. Im Sinne des 
kannibalistischen Glaubens ergeben sich auch auf psychischem Weg die¬ 
selben magischen Resultate, d. h. eine allmächtige Beherrschung der ein¬ 
verleibten Objekte und eine magische Ausstattung mit den Fähigkeiten 
der Einverleibten. 

Die Sicherheit des Ichs wird von seiner Fähigkeit abhängen, mit den 
ein verleibten Objekten fertig zu werden. Wir wissen vom Mechanismus 
der Melancholie her, wie der Sadismus des Über-Ichs durch den Sadismus 
des Es verstärkt und das Ich zerstört wird, wenn das Ich sich mit einem 
versagenden Liebesobjekt identifiziert. 

Auf der oralen Stufe muß das Ich in magischer Weise den scheinbar 
feindseligen Elternteil beherrschen, da das Kind von der Realität ja nur 
unzureichende Kenntnis besitzt. 

Es hängt dann alles von der Fähigkeit des Ichs ab, dieses feindselig 
gesinnte, einverleibte Objekt aus sich auszustoßen. Das bedeutet in Wirk¬ 
lichkeit eine Herrschaft des Ichs über irgend etwas in der Außenwelt, was 
das vorher introjizierte feindselige Objekt zu vertreten imstande ist. Der 
Künstler verlegt diese Feindseligkeit in einem Kunstwerk nach außen. 
In diesem Kunstwerk verfügt er, bestimmt er, hat er Macht — in Form 
einer Außenwirkung — über eine introjizierte Imago oder über introjizierte 
Imagines. Während der Schaffensperiode ist diese Allmacht als im Ich, nicht 
im Über-lch befindlich zu denken. Zur gleichen Zeit, zu der er die intro¬ 
jizierte feindselige Imago nach außen verlegt, indem er sie in ihrer defi¬ 
nitiven Form beherrscht, verändert, gestaltet, — erschafft er symbolisch die 
Imagines von neuem, die seine Feindseligkeit zerstört hatte. Wenn wir tief 
genug schauen, werden wir vielleicht finden, daß alle Sublimierung vom 
Vermögen des Ichs abhängt, die introjizierten Imagines in solcher konkreter 
oder abstrakter Form wieder nach außen zu verlegen, so daß sie vom Ich 
in der realen Welt gebildet und beherrscht werden können. Wenn für 
uns der Gedanke an die Toten von gröberem Aberglauben und von den 
Ängsten der Vorzeit frei ist, so kommt dies daher, daß wir uns durch eine 
magische Zunichtemachung der Angst durch die Sublimierung, die ja 
selbst das Wesen der Kultur ausmacht, allseitig gepanzert haben. Die Ver- 























Über Sublimierung und Wahnbildung 


391 


g an genheit lebt in unserem Wissen, in der Geschichte, — der lebendigen 
Vergangenheit, in der Anthropologie, in der Archäologie; die Musik, die 
Kunst, die schöpferische Literatur leistet uns diesen Dienst, den sie seit 
Zeitaltern leistet. Von allen Künsten ist die jüngste, die des Films, besonders 
bestimmt, auf die große Masse zu wirken. Die Hilfskräfte der Wissenschaft 
und der Kunst vereinigen sich hier, um die tiefe Not des Menschen zu 
lindern und ihm die beglückendsten Illusionen zu bieten, die die Welt 
je gekannt hat. Künftige Generationen werden imstande sein, die Ver¬ 
gangenheit so zu sehen, wie sie wirklich war. Die großen Gestalten der 
Vergangenheit werden lebendig werden und sich bewegen wie einst. Sie 
werden mit ihrer eigenen Stimme sprechen, und im dunklen Raum dieses 
Theaters werden wir trotz unserer Erkenntnisse und Einsichten nicht 
zögern, dem ersten Künstler, der in den dunklen Tiefen der Höhle die 
Bilder der Bisons schuf, die Hand zu reichen. 

”If the red slayer think he slay , 

If the slain think he is slain , 

They knoiu not well the subtle ways 
I keep, and pass and turn again” 

oder wie es der englische Magier ausdrückt: 

”Graves , at my command 

Have waked their sleepers , o’pd and let them forih 
By my so potent art. n 








KASUISTISCHE BEITRAGE 


Alkoholismus als passageres Symptom 

Ein Beitrag zur Diskussion der Südhtigkeit 
Von 

Hans Zu 11 iger 

Ittigen (Bern) 

Ein dreizehnjähriger Junge namens Haase, Vaterwaise seit seinem dritten 
Lebensmonate, wird von seiner Mutter wegen Erziehungsschwierigkeiten aus 
dem elterlichen Hause weggebracht und in Behandlung geschickt. 

Während dieser entwendete er dreimal seinem Pflegevater Geldbeträge, legte 
sie in Bier an und betrank sich. 

Er ist sehr alkokolempfindlich, nach drei Gläsern (9 dl) war er jeweilen 
so berauscht, daß er wohl noch gehen konnte, aber den Sinn für die Realität 
vollständig verloren hatte. Er prahlte, er fühle sich allmächtig und brauche 
beispielsweise nur einen Finger in einer besonderen Art zu drehen (ähnlich 
der Cäsarengeste bei den Gladiatorenspielen in Rom), damit eine bestimmte 
Person sterbe. Zwar verzichtete er auf den Mord, aber schon das Bewußtsein, 
ihn auf solche magische Art ausführen zu können und das Leben der ganzen 
Menschheit gleichsam in seinem Handgelenk zu wissen, ließ ihn wie einen 
primitiven Despoten posieren. 

Wiederum nüchtern, rationalisierte er seine Anfälle von Trunksucht als 
Trotzreaktion gegen seine Mutter und den Pflegevater. Er verzieh es der 
Mutter nicht, daß sie ihn weggegeben hatte, wollte wieder zu ihr zurück 
und suchte seinen Wünsch damit durchzusetzen, daß er stahl und sich betrank. 
Durch solche Aufführung hoffte er die Pflegeeltern dahin zu bringen, die 
Geduld mit ihm zu verlieren, und die Mutter zu veranlassen, ihn zurück - 
zuholen. Tn der Trunkenheit „vergesse er, daß er nicht zu Hause sei und 
daß man ihm am Pflegeorte strenger hielt als wie er es zu Hause gewohnt 
war. Dort befand er sich meist in Gesellschaft von Dienstboten oder beim 
Hausmeister, und der sehr intelligente Junge beherrschte seine ganze Umgebung. 
Auf den Hausmeister war er eifersüchtig, vermutete, die Mutter habe 
mit ihm sexuellen Umgang. Der Mann hatte dem Jungen gelegentlich Bier 
verabreicht und es als „M än n er trank“ bezeichnet. 

Es zeigte sich dann, daß die Rauschsucht ausgebrochen war, als der 




















Alkoholismus als passageres Symptom 


393 


Pflegevater ein Kaninchen getötet hatte. Der Junge nennt die Kaninchen 
Häschen“ und betrachtet sie als seine „Namensvettern“. Er hatte den Herrn, 
bei dem er untergebracht war, unter Anzeichen von Angst gebeten, er solle 
die Häschen am Leben lassen. Darauf konnte nicht eingegangen werden, man 
schickte den Knaben weg, damit er der Tötung nicht Zusehen könne, aber 
er wußte es dennoch einzurichten, daß er zum Zuschauer wurde. Die Prozedur 
regte ihn ungeheuer auf. U. a. empfand er den Drang, vom fließenden 
Blute zu trinken, doch widerstand er ihm. Dagegen beschmierte er sich 
die Hände damit (Ersatz für das Trinken). Der Geruch des Blutes habe ihn 
„ganz verrückt“ gemacht, so, als ob er betrunken gewesen wäre. Es 
scheint ihm, daß er „zu allem fähig“ gewesen wäre, falls er von dem 
Blute getrunken hätte. Er hätte ein Verbrechen begehen, jemanden töten 
können, den Pflegevater, den Analytiker, die eigene Mutter. Er hätte sie 
erschossen oder mit einem Messer erstochen. Als er das dritte Mal angetrunken 
in die Behandlungsstunde kam, zerschnitt er mit seinem Taschenmesser einen 
Bodenteppich. Vorher zertrampelte er in gleichem Zustande seinen Pflegeeltern 
ein frisch gerichtetes Gartenbeet. 

Ein weiterer Grund, weshalb er aufs Bluttrinken verzichtete, war die 
Anwesenheit des Pflegevaters. Der Junge dachte, der Mann würde es ihm 
nicht gestatten oder es verhindern. Doch machte er ihm gegenüber eine 
Bemerkung, seinen geheimen Wunsch betreffend, in der Form eines Witzes. 

In einer Dorfschlächterei, zu der er anläßlich seiner Schulferien einst 
Zutritt erhalten hatte, konnte er beobachten, wie ein Metzgerbursche von einem 
abgeschlachteten Stiere Blut trank; der junge Mann habe sich nachher übermütig, 
wie berauscht und ganz verrückt benommen. Die Beschreibung erinnerte an Szenen, 
wie sie im Blutrausch bei Derwischorden und Primitiven geschildert werden. 

Einmal brachte er eine Zeichnung: ein Wappen, /im grünen Felde saß ein 
Hase. Es sei dies sein Wappen, das Tier darin bedeute seinen Großvater (den 
er nie gekannt hatte), den er sich mit ebenso- einem dicken Leib und mit 
großen Ohren vorstelle. 

Es wurde ersichtlich, daß das Biertrinken einen erlaubten Ersatz für das 
Bluttrinken bedeutete. Der Alkoholrausch war ein Äquivalent für den Blut¬ 
rausch. Die triebmäßig gewünschte und aus Schuldgefühlen gefürchtete Folge 
des Rausches war die Vatertötung und -einverleibung (Kommunion). Die 
Schlachtung des Häschens (Wappentier-Totemtier-Ahne) brachte die gegen den 
Vater gerichteten Aggressionswünsche zum Durchbruch, die sich in der Rausch¬ 
sucht, dem Zertrampeln des Gartenbeetes und dem Zerschneiden des Teppichs 
deutlich äußerten, und die sich auch gegen die eifersüchtig geliebte Mutter richteten. 

Wir erhielten die Gleichung : Alkoholrausch = Blutrausch = orale Einver¬ 
leibung des Vaters = Identifikation mit dem Vater (Urvater) = Allmacht = Inzest. 
Und zwar Inzest auf der primären oralen Stufe mit beiden Elternteilen. 

Wir erinnern uns daran, daß der Vater des Jungen zu einer Zeit starb, 
als der Sohn in seiner Libidoentwicklung die primäre oral-sadistische Phase 
noch nicht überschritten hatte. Dazu kommt, daß zur selben Zeit die Ent¬ 
wöhnung stattfand, denn unter dem Eindrücke der Trauer blieb der Mutter 
die Milch zurück. Es macht den Anschein, daß damals bei dem Jungen eine 
Triebfixierung stattfand, deren Begründung darin zu suchen ist, daß das 
Knäblein zu gleicher Zeit entwöhnt wurde und zu doppeltem Verzichte — 

Int. Zeitschr f. Psychoanalyse, XVII/3 


26 








394 


Hans Zulliger 





auf die Mutterbrust und auf das irgendwie erhoffte Trinken des Vaters_ 

gezwungen war. Die Ödipuskonstellation konnte sich darum auch nur auf der 
primären oral-sadistischen Stufe abwickeln. 

Die Mitteilung dieses Falles von passagerem Alkoholismus erscheint mir 
deshalb gerechtfertigt, weil man über die Entstehung dieser Rauschsucht noch 
wenig Gesichertes weiß, und weil mein Beitrag bereits bestehende Ansichten be¬ 
stätigt und neue Aspekte eröffnet, deren allgemeine Gültigkeit nachzuprüfen wäre 

Jones 1 vermutet, daß bei Alkoholismus „wahrscheinlich bei beiden 
Geschlechtern immer verdrängte homosexuelle Regungen“ die wichtigsten 
Krankheitserreger seien, er stützt sich dabei auf Äußerungen von Freud 2 
Abraham 3 und Ferenczi. 4 

Im Falle Haase zeigen sich die homosexuellen Regungen sehr deutlich. 
Auch der Eifersuchtswahn bei Alkoholikern, die Beziehungen zu primitiver 
Religiosität (Totemismus) und dem Ursprung der Tragödie (Vatertötung und 
Sühne), wie sie Freud 5 und besonders Kielholz 6 und Blum 7 nach¬ 
wiesen, sind offensichtlich. 

Kielholz betont die Regression des Alkoholikers bis zur primären Oral¬ 
erotik und bezeichnet die Alkoholika als „das Gift der unbewußt Männlich- 
Homosexuellen“. Der Zweck des Alkoholrausches sei, die verdrängten Regungen 
zum Durchbruch kommen zu lassen und das Realitätsprinzip durch das Lust¬ 
prinzip zu ersetzen. Dieser Ansicht ist auch Freud. 8 Unser „allmächtig“ 
gewordene Knabe Haase bestätigt, daß er im Rausch „vergißt“, was ihn 
aktuell bedrückt, und daß er im Rausche zu kriminellen Triebregungen fähig 
ist. Hier kann darauf verwiesen werden, daß die Mehrzahl der Verbrechen 
im Alkoholrausch begangen wird. Es kommt zu einem Durchbruch der 
Destruktionstriebe, wie auch Blum 9 nachweist: „Durch den Gift¬ 
genuß tritt eine Entmischung der Lebens- und Todestriebe ein. Während 
durch die Gift Wirkung gewaltsam versucht wird, die Lebenstriebe irrealer 
Dauerbefriedigung zuzuführen, werden auf der andern Seite dem Destruktions¬ 
trieb die Fesseln gelöst, so daß derselbe sein Zerstörungswerk an den Süchtigen 
vollbringen kann.“ Der Destruktionstrieb zeigt sich jedoch auch in seiner 
„Wendung nach außen“ im allgemeinen Sadismus der Alkoholiker, der sich bei 

1) Jones, „Therapie der Neurosen“, I. P. Verlag, Wien, 1921. 

2) Freud, „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“, III. und IV. Folge, 
I. P. Verlag, Wien. 

5) Abraham, „Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und 
Alkoholismus“, und „Ansätze zur psa. Erforschung imd Behandlung des manisch- 
depressiven Irreseins“, beides in „Klinische Beiträge zur Psychoanalyse“, ebenda. 

4) Ferenczi, „Gontributions on Psycho-Analysis“, Ch. V. u. XI. 

5) Freud, „Die Zukunft einer Illusion“, I. P. Verlag, Wien. 

6 ) Kielholz, „Trunksucht und PsA.“, Schweizer Archiv für Neurologie und 
Psychiatrie, Bd. XVI, Hft. 1, S. 27, ferner in „Seelische Hintergründe der Trunk¬ 
sucht“ in „Die psa. Bewegung“, II, 2. 

7) Blum, „Rauschgifte und Süchtigkeit“, Vortrag, gehalten an der Conference 
Internationale de la Commission de l’Opium de la Ligue internat. des Femmes pour 
la Paix et la Liberte in Genf, April 1950. 

8) Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 22 u. 26. I. P. Verlag, Wien. 

9) op. cit. 


! 


































1 



Alkoholismus als passageres Symptom 395 


Haase in Mordäußerungen und Mord wünschen, aber auch im Zerstören des Garten¬ 
beetes und des Bodenteppichs austobt. Statt der verbotenen realen Befriedigung 
ist die „illusionistische toxische Ersatzbefriedigung“ (Radö 1 ) eingetreten. 

Wenn wir den Fall Haase überblicken, dann drängen sich uns die Fragen 
auf, ob bei den Narkotikern, speziell bei Alkoholikern, eine homosexuelle 
Vaterbindung auf primärer o r a 1 - s a d i s tisc h er Stufe und 
ein dementsprechender un erledigt er Ö dipuskomplex allgemein 
genetisch eine ausschlaggebende Rolle spielen, und ob der Rausch, den sich 
der Süchtige zu verschaffen versucht, immer und überhaupt einen Ersatz 
für den Blutrausch bedeute, ein Symbol für die innigste Identifikation 
mit dem Vater = Urvater sei und darum alle Hemmungen der Kultur lockere, 
den Wahn der Allmacht aufkommen lasse und den nach außen gerichteten 
Destruktionstrieb entfessle. 

In diesem Zusammenhänge sei daran erinnert, daß dem Wein im 
christlichen Abendmahle eine viel größere Bedeutung zukommt als 
dem Brote. Den das Blut des Gottes bedeutenden Wein darf in der römisch- 
katholischen Lehre nur der Priester trinken. Er erhält ihn zum erstenmal 
nach vollzogener Weihe. Der Wein ist gleichsam tabuierter als das Brot; die 
Hostie darf auch der Laie genießen, nachdem er sich von seinen Sünden 
durch Beichte und Sühne befreit hat, — doch darf er sie nicht beißen. 
Dem geweihten Mittler zwischen Gott und Mensch, dem Priester, einer fast 
noch magischen Gestalt, ist erlaubt, was dem gewöhnlichen Gläubigen nicht 
mehr gestattet werden kann; er steht Gott näher als der Laie, seine Identi¬ 
fikation ist vollkommener als die des Ungeweihten. 

Wenn das christliche Abendmahl, dabei insbesondere der Genuß des Weines, 
die innigste Identifikation mit dem vergöttlichten, idealisierten 
Urvater bedeutet, die durch die Einverleibung stattfindet, dann zeigt das 
Verhalten der Alkoholiker, daß die Einverleibung der Rauschgifte die Identi¬ 
fikation mit dem primitiven, triebhaft-groben und gewalt¬ 
tätigen Urvater zustande bringt, dessen Allmacht eher böse als gut wirkt, 
und der eher narzißtisch als sozial handelt. 

Schließlich reizt es, die Vermutung zu diskutieren, daß der letzte und 
tiefste Grund der männlichen Vatersehnsucht in der oralen 
Vaterbindung zu suchen sei. 

Das weibliche Kind ist dabei in günstigeren und einfacheren Verhältnissen 
als der Knabe: als Säugling verleibt es sich die Mutter oral und als 
erwachsenes Geschlechtswesen den Vater (Mann) im Geschlechtsakte genital 
ein. So wird seine auf oraler Basis begründete Sehnsucht nach Einverleibung 
beider Elternteile einesteils direkt, andemteils durch symbolische Übersetzung 
verhältnismäßig real gestillt. Dem männlichen Kinde jedoch ist, was seine 
diesbezüglichen Wünsche auf den Vater anbelangt, nur gegeben, diesen sich 
auf dem Wege der Identifizierung psychisch „einzuverleiben“, eine jede andere, 
der Realität nähere und plastischere Lösung des Konfliktes taxiert die Kultur 
als anormal. Der Knabe hat somit die größere seelische Leistung zu bewältigen 
als das Mädchen, und es ist nicht verwunderlich, wenn er häufig daran scheitert. 


l) Radö, Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte, I. Ztschr. f. PsA., Bd. XII, 
1926. 


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26* 














396 


Ridiard Sterba: Zur Gleidistellung von Mutter und Dirne 




Zur Gleichstellung von Mutter und Dirne 

Von 

Richard Sterba 

Wien 

„Die Liebesbedingung der Dirnenhaftigkeit des Objekts scheint einer 
Ableitung aus dem Ödipuskomplex energisch zu widerstreben“ (Freud, Bei¬ 
träge zur Psychologie des Liebeslebens, Ges. Sehr., V, 192). Das Paradoxon, 
daß Mutter und Dirne identisch sind, sucht Freud durch Vorgänge der 
Vorpubertät zu klären. Die Eröffnung und Erkenntnis, daß der Sexualverkehr 
auch zwischen den Eltern stattfinde, und die Aufnahme der Tatsache, daß 
Frauen den Geschlechtsverkehr gewerbsmäßig ausführen, werden in Zusammen¬ 
hang gebracht in der Formel: „Meine Mutter ist auch nicht besser.“ Der 
Knabe beginne dann die Mutter im neugewonnenen Sinne zu begehren und 
den Vater aufs neue zu hassen; er gerate unter die Herrschaft des Ödipus¬ 
komplexes. Soweit bei Freud. 

Ich meine nun, daß die Erkenntnis der Beziehung Mutter = Dirne einer 
Vertiefung fähig ist, und wurde durch folgendes klinische Material darauf 
aufmerksam. Ein Patient, der häufig Dirnen aufsuchte, hatte besonders in der 
Zeit nach der Pubertät während und nach dem Besuch eines Bordells folgende 
angsterfüllte Vorstellung: „Wie, wenn in der Zeit, die ich hier verbringe 
bzw. dort verbracht habe, ein Mord geschähe bzw. geschehen wäre, und ich, 
verdächtigt, müßte meine Unschuld durch ein Alibi beweisen! Ich könnte 
meine Unschuld niemals beweisen, weil ich doch nicht sagen darf, daß ich 
dort gewesen bin.“ Es war niemals ein anderes Verbrechen als ein Mord 
oder Raubmord. — Hier erscheinen deutlich die zwei Akte der Ödipustat in 
einem vereinigt. Während er mit der Mutter = Dirne verkehrt, geschieht ein 
Mord, wobei er keinen Beweis erbringen kann, unschuldig zu sein. Träume 
und anderes analytisches Material ließen den Ermordeten eindeutig als den 
Vater erkennen. Es enthielt also der Besuch bei der Dirne die Vatertötung 
in klassisch offener Weise. Und dieser paradigmatische Fall ließ mich denken, 
ob nicht regelmäßig in der phantasierten Dirnenhaftigkeit der Mutter und in 
der Mutterbedeutung der Dirne der Vatermord enthalten sei. Die Einführung 
eines konstruktiven Elementes läßt dann leicht folgenden Schluß zu: Wird 
die Phantasie von der Untreue der Mutter, die ja an sich schon die Möglich¬ 
keit gibt, selbst einer von denen zu werden, mit denen die Mutter dem Vater 
untreu wird, zur Dirnenhaftigkeit der Mutter erweitert, dann heißt dies 
nicht nur, auch ein anderer als der Vater kann die Mutter haben, sondern 
alle können sie haben. Dies aber ist die erhoffte Situation nach dem Tode 
des Urvaters. Denn die Tat am Vater ist eine gemeinsame der Söhne und 
soll die Mutter in den gemeinsamen Besitz aller Söhne bringen. Erhält die 
Frau, in deren Besitz jeder einzelne sich setzen kann, die Bedeutung der 
Mutter, so erscheint damit die Tat am Vater gleichzeitig vollzogen. Weitere 
Erfahrungen werden wohl geeignet sein, diese Vermutung zur Sicherheit zu 
erhärten. 


























Ein erlebtes Stück Traum Symbolik 


397 


Ein erlebtes Stück Traumsymbolik 

Von 

Herbert W o 11 e 

Dresden 

Ich berichte von einem Schlaftraum, der die symbolisch verhüllte Wieder¬ 
holung und Fortsetzung eines unmittelbar vorangegangenen Wachtraumes 
war . — Ich möchte vorausschicken, daß sich der Vorgang des Erwachens, 
wenn er nicht durch äußere Einflüsse (z. B. Wecker) beschleunigt wird, bei 
mir etwa in folgender Kurve spiegelt: 


liUcljzusta. ruL 



W und W 1 sind Wachplateaus. 

E , E‘ und E u bedeuten Erwachen (bei E / und E u ist das Erwachen ein 
vollständigeres als bei E) 

A und A J bedeuten Absinken in neuerlichen, weniger tiefen Schlaf. 

Ich beginne nun mit meinem Bericht. — Auf dem Wachplateau W mich 
befindend, stelle ich mir vor, daß ich neben einer mir bekannten Dame, an die 
ich Öfter denke , auf dem Sofa sitze. Ich mochte gern ihre Brust berühren , 
aber das Kleid ist so straff. Ich führe deshalb meine rechte Hand (ich sitze 
links von der Dame) nach ihrem Rücken und mache mir dort zu schaffen , 
um das Kleid zu Öffnen (es hat Druckknöpfe). — Bis hierher geht der 
Wachtraum. In diesem Augenblick findet ein Abgleiten in einen neuerlichen 
Schlafzustand statt (A). Ich verliere nämlich in meinem Wachtraum scheinbar 
den Faden, träume aber weiter, nunmehr im Schlaf. — Ich sehe mich vor 
einem mir wohlbekannten Gasthaus stehen , aber nicht vor dem Haupteingang , 
obwohl ich auch im Traum um diesen zu wissen scheine , denn ich will nach 
der Gaststube , die gleich hinter dem Haupteingang liegt — nein, ich sehe 
mich vor einem Hintereingang an der Rückwand des Hauses stehen. Ich ver¬ 
suche ., die Tür des Hinter eingangs aufzuziehen (nach außen) — doch nein , 
ietzt ist es ein Vorhang , den ich unter großen Schwierigkeiten und mit 













398 


Herbert Wotte 


Anstrengung zu durchdringen oder beiseitezuziehen trachte . — I n diesem 

Augenblick flammt wieder das Licht des Bewußtseins auf (E'). Ärgerlich sa 
ich mir noch: jetzt bist du vom Thema (des Wachtraums) abgekommen, ha^t 
den Faden verloren! Da ich aber wacher bin {f¥') als vorhin bei meinem 
Wachtraum {FF), fällt mir sofort der Zusammenhang auf, der — analytisch 
besehen zwischen dem Wachtraum und dem Schlaftraum besteht. Nunmehr 
durch diese überraschende Feststellung völlig erwacht, konstatiere ich daß 
beide im Grunde eines sind, der Schlaftraum nur die ins Symbolische über¬ 
setzte Fortsetzung des Wachtraums ist. 

Die Tendenz, die hier waltet, ist völlig klar, nämlich: Wunscherfüllung 
zu gewähren unter Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Schlaf¬ 
zustandes. Zur symbolischen Verkleidung dienten Tagesreste. Das im Traum 
erscheinende Gasthaus ist ein ganz bestimmtes, an dem ich oft vorbeigehe 
Sein Grundriß sieht etwa so aus: 


H 



H 


G ist die Gaststube. Der Haupteingang, der sich bei H befindet, ist abends 
hell erleuchtet. Ich war auch schon einmal in der Gaststube drin. Damals bin 
ich zu dem Haupteingang hineingegangen, hinter dem sich, wie in vielen 
Gaststätten, ein Vorhang befindet {F ~) 7 der den Gästen die Tür verbirgt und 
sie vor Zug schützen soll. Ich habe damals Zigaretten gekauft; eine Kellnerin 
bediente mich. Den Eingang, der im Traum vorkommt, den es aber an dem 
wirklichen Gasthaus gar nicht gibt, habe ich unter H' in die Zeichnung ein¬ 
getragen. — Warum wurde nun ein Gasthaus als Symbol gewählt — kein 
Haus, sondern gerade ein Gasthaus? Zunächst war dieses Gasthaus ein leicht 
erreichbarer Tagesrest. Ferner wies es Eigenschaften auf, die es gerade für 
diesen Traum besonders geeignet machten: die betonte Vorderseite mit dem 
eigentlichen Eingang und dem Vorhang als Verkleidung; die unbetonte Rück¬ 
seite, die eine Verschiebung des Haupteingangs zuläßt — eine Verschiebung, 
die nur aus dem (im Wachtraum offenkundigen) latenten Gedanken überhaupt 
verständlich wird. Auch der Hintereingang führt ja zu demselben Ziel wie 
der Haupteingang: in die Gaststube nämlich. Ob bei der Symbolwahl mit¬ 
spricht, daß die Dame älter war als ich und sehr „ erfahren a , wage ich nicht 
zu entscheiden. Ebenso muß unentschieden bleiben, wie weit der Tagesrest 
der bedienenden Kellnerin bei der W^ahl der Verhüllung mitgewirkt hat. 

Nur eine Frage von prinzipieller Bedeutung ist noch zu diskutieren: Wozu 
wurde der latente Gedanke symbolisch verkleidet im Schlaftraum, wenn er 
im Wachtraum doch schon an sich, unverhüllt, aufgetreten war ? Sigm. Freud 




































Ein erlebtes Stück Traum Symbolik 399 


schrieb mir dazu: „Ihre berechtigte Frage, warum Sie die Phantasie eines 
Wachtraums im darauffolgenden Schlaftraum symbolisch wiederholen, beant¬ 
wortet sich dahin, daß Sie im letzteren eine Anspielung auf die Person der 
Mutter anbringen konnten (Gasthaus, Kellnerin), die Sie im Wachen doch 
nicht zustande gebracht hätten. Was Sie über das Alter der Dame angeben, 
stimmt ja dazu.“ 

Ich möchte noch bemerken, daß sich der ganze Vorgang in seinen drei 
Stadien innerhalb weniger Sekunden abgespielt hat. Ich habe sowohl von 
dem Wach- wie von dem Schlaftraum und erst recht von der Bewußtwerdung 
ihrer Sinngleichheit eine unmittelbare und völlig klare und lückenlose 
Kenntnis noch gehabt, als ich schon vollständig wach war. Ich habe nicht 
ein Tüpfelchen zu rekonstruieren brauchen. 














DISKUSSIONEN 


„Nachtrag zu Freuds ,Geschichte einer infantilen 

Neurose 4 “ 

(Der erste und zweite Teil dieser Diskussion sind im Band XVI [1930] S. 123 ff. erschienen.) 

III 

Erwiderung auf Mack Brunswicks Entgegnung 

Von 

J. H a r n i k 

Berlin 

Es täte mir leid, wenn wir und Mack Brunswick aneinander vorbei¬ 
reden würden und auf diese Weise eine seltene, vielleicht einzigartige Ge¬ 
legenheit, für eine wichtige Problematik wirkliches Neues aus einem Fall zu 
lernen, nicht in vollem Maße ausgenützt werden könnte. Daher will ich 
gleich den einzigen Punkt in den Vordergrund schieben, in dem wir, bei 
allen theoretischen Differenzen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade über¬ 
einstimmen, allerdings mir auch die Freiheit nehmen, Einwendungen gegen 
die Bewertung dieses Punktes durch Mack Brunswick zu machen. Der¬ 
selbe ist enthalten in dem Schlußsatz ihrer Entgegnung: „Ich glaube, daß 
der Patient jetzt seine Angst vor dem , Angeschaut werden* deshalb erinnerte, 
weil im Moment, wo seine Passivität so gesteigert worden war, daß sie sich 
einen Ausweg in paranoischen Bahnen suchen mußte, die für die Passivität 
pathogene Urszene mit all ihren mannigfachen Folgen und Auswirkungen 
zur Erinnerung kam.“ Was ich — sonst Nuancen in Formulierung und 
Auffassung einfach aus dem Wege gehend — neuerlich werde anzweifeln müssen, 
ist gerade die Annahme, daß in der Analyse sämtliche Folgen und Aus¬ 
wirkungen der Urszene, nach welchen hätte nachgespürt werden können 
(ich meine insbesondere die frühinfantilen), zum Vorschein kamen. 

Bevor ich aber darauf komme, soll expressis verbis betont werden, daß 
ich selbstverständlich das Symptom des „Angeschautwerdens“ als Folge¬ 
erscheinung der Koitusbeobachtung — im Sinne der Darstellung Freuds, 
die ja die Urszene im Wolfstraum aktuell wirksam sein läßt — begriffen 
habe. Trotzdem glaubte ich die Beziehungen zum Onaniethema hervorheben 
zu dürfen, aus zwei Gründen. Erstens wegen der eminenten Bedeutung, 



































Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose' 


401 


die der Heimlichtuerei in der neuen Erkrankung des Wolfsmannes zu¬ 
kommt, und der so zu vermutenden Zusammenhänge mit dem Onanie¬ 
geheimnis. Auch hierüber möchte ich nicht mit Mack Brunswick 
streiten. So viel wird sie doch konzedieren, daß der Wolfsmann seine Mastur¬ 
bation in der Kindheit (oder gar in der Pubertät) nicht gerade ge¬ 
wohnheitsgemäß zur Schau getragen hat. Man vergleiche im Gegenteil F r e u d s 
Bemerkung zur verwegenen Exhibition der Nanja gegenüber im Alter von 
5V4 Jahren (Ges. Sehr., Bd. VIII., S. 458). So aber konnte zweitens damit 
die Brücke geschlagen werden zur tieferen Analyse der Kindheitsepoche, 
die vor dem Wolfstraum lag — wo die Analytikerin einen Ansatz dazu 
gemacht hat, das habe ich in meiner Kritik (s. diese Zschr., Bd. XVI (1930), 
S. 126, Anmkg.) voll Anerkennung zitiert. In diesem Lichte erscheint die 
nun umstrittene Onanie in Gegenwart von Prostituierten einfach als Zeichen 
einer partiellen Libidoregression auf die Reifestufe der Nanjaszene; die Be¬ 
kräftigung unseres Glaubens an die Tatsächlichkeit der Urszene, wie es Mack 
Brunswick hierbei will (a. a. O., S. 128), nehmen wir wieder gerne 
mit in Kauf. 

Zwar scheint mir die Einstellung der Autorin zur Brauchbarkeit der Ur¬ 
szene als Erklärungsfaktor nach ihrer Antwort weniger unbedenklich als je. 
Sie betont einerseits die Realität der Koitusbeobachtung, operiert andrerseits 
damit wie mit einer feststehenden Größe, ohne jede historische, geschweige 
denn chronologische Differenzierung im Sinne der Lehre von den spezifischen 
(durch spezifische Dispositionen bedingten) Regressionen. Ich brauche nicht 
mißverstanden zu werden. Hat sie sich einmal entschlossen, zu glauben, daß 
sie nur die Aufgabe hatte, einen ungelösten Übertragungsrest therapeutisch 
zu bewältigen, so war ihr auf das Durcharbeiten dieses einen Moments gerich¬ 
tetes Vorgehen überaus konsequent und erzielte auch den Erfolg, der seither 
bekanntlich auch sonstige rühmende Erwähnung fand. Doch vermochte und 
vermag sie auch weiterhin nicht unsere Neugierde zu befriedigen, die hier 
Antworten auf brennend interessante Fragen (hoffentlich nicht nur übereifrig) 
vermutet. Diese mehr forschende Betrachtungsweise kann sich nämlich auf 
sehr wohlbegründete Voraussetzungen stützen. Sie akzeptiert eventuell — schon 
um die Diskussion nicht zu komplizieren — die analytischen Befunde über 
die aktuellen Verursachungen dieser Rezidive, so wie sie vorliegen, doch ohne 
den Sinn dafür zu verlieren, was das heißt, daß die neuerliche Erkrankung 
wirklich Symptome einer anderen Krankheit aufweist. Sie muß aus der 
Theorie folgern — es sei denn, daß das Gegenteil sonnenklar nachgewiesen 
würde —, daß die andersartige Psychoneurose ihre Entstehung der Libido¬ 
regression zu ganz neuen, möglicherweise völlig unbekannten disponierenden 
Momenten verdankt. Sie erhebt die Forderung, daß nach solchen gesucht werde, 
und begrüßt wie einen wissenschaftlichen Fortschritt — ohne das technisch¬ 
therapeutische Interesse daran schmälern zu wollen — auch den kleinsten 
Anfang, der in dieser Richtung gemacht wurde, als welcher meiner un¬ 
veränderten Ansicht nach die Entdeckung des „Angeschautwerdens“ gilt. 

Gesetzt den Fall, daß eine weitere Suche in der Tiefendimension möglich 
gowesen wäre, wo könnte man glauben, noch auf solche Fixierungspunkte 
gestoßen zu sein? Ich kann nur ausführlicher wiederholen, was ich in meinen 
abschließenden Bemerkungen (a. a. O., S. 127) angedeutet habe: bei den Stö- 









402 Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose“ 


rungen der oralen Phase. In einem inzwischen erschienenen Aufsatz 1 habe * h 
ja die frühe Eßunlust des Wolfsmannes herangezogen, und was ich von deren 
unerkannter Bedeutung glaubte erraten zu haben, zu begründen versucht. Nun 
war jene Eßstörung eine eben mit einiger Sicherheit erkennbare Reaktion 
des Kindes auf die Urszene selbst (nicht etwa auf ihre Neubelebung i^ 
Wolfstraum) gewesen. Die regressive Wiederholung von Konflikten aus dies^ 
Lebenszeit an der psychotischen Symptomatik wäre wohl irgendwie wieder¬ 
zufinden, wenn man sich entschließen würde, den doch unhaltbaren Stand¬ 
punkt aufzugeben, daß in der Analyse bei Mack Brunswick die für die 
Passivität des Patienten „pathogene Urszene mit all ihren mannigfachen Folgen 
und Auswirkungen zur Erinnerung kam“. Beispielsweise könnte man die 
Erwartungsvorstellung hegen, daß der Knabe damals — wie das so häufig 
vorkommt wenigstens gelegentlich zwangsweise gefüttert wurde. Daß ihm 
vielleicht mal die Nase zugedrückt wurde, damit er zu schlucken genötigt 
war. Wobei die von mir gewürdigte Erstickungsangst und sonstige subjektive 
Sensationen die primäre (durch die bereits hervorgehobenen Neuauflagen mehr¬ 
fach verstärkte) Grundlage geschaffen haben mögen für den späteren Wahn 
an der Nase geschädigt worden zu sein. Man kann es nicht wissen, aber auch 
die Richtigkeit oder bloße Wahrscheinlichkeit dieser und ähnlicher Annahmen 
nicht ausschließen. Jedenfalls scheint die ganze paranoide Erkrankung gewisser¬ 
maßen aus Nahrungssorgen heraus (analog wie die Teufelsneurose des Malers 
Haitzmann) entstanden zu sein, und das Verhalten des Wolfsmannes bis 
zur Analyse eine Deutung vom Gesichtspunkte der Oralität (Begehrlichkeit 
usw.) zuzulassen. 


IV 

Schlußwort 


von 

Ruth Mack Brunswick 

Wien 

Daß die Ursachen der paranoischen Erkrankung des Wolfsmannes sowohl 
wie auch der früheren Neurose nicht ausschließlich durch die Urszene zu 
erklären sind, gebe ich gerne zu. Damit die Urszene eine so heftige Wirkung 
nach sich ziehen konnte, mußten selbstverständlich in früheren Phasen der 
Libido-Entwicklung Störungen vorhanden gewesen sein. In der Analyse selbst 
finde ich keinen Beweis für die Annahme H ä r n i k s, daß man vielleicht 
dem Wolfsmann die Nase zugedrückt habe, damit er zu schlucken genötigt 
war. Ich stelle mir die Sache auch nicht ganz so einfach vor, obwohl man 
die Möglichkeit eines solchen Erlebnisses nicht ausschließen kann. Ich bin 
überzeugt, daß schwere Störungen der oralen Phase sehr oft die Grundlage 
für den späteren negativen Ödipuskomplex sein können, aber hier hat uns 
die Analyse selbst kein weiteres Material geliefert Es wäre höchst interessant, 
diese Annahme Harniks durch weitere Beobachtungen zu untersuchen. 


1) „Über eine Komponente der frühkindlichen Todesangst“, diese Zschr., Bd. XVI 

(i93°)> S. 242. 



































REFERATE 


Aus den Grenzgebieten 

Malinowski, Bronislav: Das Geschlechtsleben der Wilden 
in Nordwestmelanesien (Grethlein & Co., Leipzig). 

Das vorliegende neueste Werk Malinowskis stellt eine ausführliche 
und unschätzbar wertvolle Ergänzung seiner bisherigen bekannten Arbeiten 
über die Organisation der mutterrechtlichen Stämme in Nordwestmelanesien 
dar. Es widersetzt sich infolge seiner Fülle an Material und fruchtbaren 
Gesichtspunkten einer kurzen inhaltlichen Besprechung. Das Studium dieses 
Werkes ist für jeden, der fachlich mit Sexualfragen klinisch oder soziologisch 
beschäftigt ist, unerläßlich. Wir wollen nur kurz die Komplexe von Tat¬ 
beständen herausheben, die unserer Ansicht nach dem Buche den Charakter 
eines Standardwerkes aufprägen. 

Zunächst ist es das erste Werk in der ethnologischen Literatur, das über 
den Charakter des Sexualerlebens der Primitiven brauchbare Aufschlüsse gibt. 
Nicht zuletzt ist das dem Umstande zu danken, daß Malinowski von der 
in der ethnologischen Literatur sonst sehr häufigen moralischen Betrachtungs¬ 
weise gründlich abrückt und den Primitiven durch volle Einfühlung zu 
begreifen sucht. Das intime Zusammenleben nicht mit — „Gewährsleuten“, 
sondern mit der Masse der trobriandrischen Bevölkerung eröffnete Malinowski 
Einblicke über die innere sexuelle Organisation hinaus in deren Zusammen¬ 
hang mit der wirtschaftlichen Organisation der mutterrechtlichen Gesellschaft, 
und dies ist der zweite Punkt, der sein Werk aus der Masse der ethno¬ 
graphischen Literatur heraushebt. Die wirtschaftliche Organisation wird mit 
einer Gründlichkeit beschrieben, die klar erkennen läßt, daß der Autor sich 
der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft und der gesellschaftlichen 
Organisation für das Verständnis der Bräuche und moralischen Satzungen voll 
bewußt war. Ohne zu wissen, wie sich der Autor zur Mutterrechtstheorie 
von Morgan und Engels stellt, darf man behaupten, daß sein Werk eine 
direkte Fortsetzung und Bestätigung dieser Theorie darstellt. 

Das Buch wird zweifellos auch die psychoanalytischen Versuche in der 
Ethnologie entscheidend beeinflussen, indem es zu einer Kritik der reinen 
Deutungstechnik in der Ethnologie und der Außerachtlassung der wirtschaft¬ 
lichen Organisationsformen bei der Beurteilung der gesetzlichen, moralischen 








404 


Referate 


und ideologischen Struktur primitiver Volksgemeinschaften anregt und darüber 
hinaus neue Wege zur Anwendung der Psychoanalyse in der Ethnologie 
weist. Gegenüber den vielen positiven Werten dieses Buches kommt nicht 
sehr in Betracht, daß der Autor gelegentlich bei der Besprechung der Moral 
der Trobriander Exkurse zur Rettung und Rechtfertigung der Familien¬ 
institution unternimmt. 

Für die psychoanalytische Libidotheorie und Neurosenlehre ergibt sich aus 
Malinowskis Forschungen ein unwiderlegbarer Beweis ihrer Richtigkeit 
Malinowski konnte nämlich feststellen, daß die mutterrechtliche Organisation 
der Trobriander, die, abgesehen vom Inzestverbot, frei ist von moralischen 
Einschränkungen des Sexuallebens, keine Neurosen und Perversionen aufweist- 
Homosexualität ist selten und Onanie spielt eine nebensächliche Rolle. Dagegen 
zeigten Nachbarstämme, die bereits eine ausgesprochen patriarchalische Organi¬ 
sation mit dem Zubehör der strengen Familienordnung und der moralischen 
Einschränkung des jugendlichen Geschlechtslebens haben, eine Fülle von 
Tics, nervösen Erscheinungen und Zwangssymptomen. Für die Einschätzung 
der Kirche als Neurosen und Perversionen erzeugenden Faktors ist Mal i- 
nowskis Feststellung wesentlich, daß sich in den primitiven Organisationen 
die Homosexualität und alle bekannten Erscheinungen des sexuellen Elends in 
dem Maße zu entwickeln beginnen, als der Einfluß der Kirche in Form von 
Einschränkungen des Genitallebens, Trennung der Geschlechter usw. sich 
durchsetzt. — Malinowski selbst gelangt auf Grund seiner Forschungen 
zu keiner Kritik unserer Sexualordnung. Reich (Berli ) 

Reich, Wilhelm: Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, 
Eh emoral, Münsterverlag, Wien. 

„Eine Kritik der bürgerlichen Sexualmoral“ nennt sich Reichs Buch im 
Untertitel. Diese Kritik wird gründlich besorgt. Alle Reformbestrebungen 
wurzeln in Notständen, die sich aus Konflikten zwischen Triebverlangen und 
äußeren, wirtschaftlich bedingten, oder inneren, „moralisch“ bedingten Faktoren 
ergeben. Aber keine von ihnen geht der Herkunft dieser Wirtschaft und 
dieser Moral so weit konsequent nach, wie es nötig wäre, um zu ver¬ 
stehen, unter welchen Umständen wirksame Änderungen in sexualibus möglich 
wären und unter welchen nicht. Es ist das Verdienst des Reichschen Buches, 
daß es gerade das feststellt. 

Für den Psychoanalytiker ist dabei die Bedeutung der gesellschaftlichen 
(wirtschaftlichen und moralischen) Faktoren für die Ätiologie der Neurosen 
wichtig. Denn als eigentliche Ursache der pathogenen Verdrängungen kommen 
ja neben gewissen physiologischen Eigenschaften des menschlichen Kindes und 
einer vielleicht schon phylogenetisch vorgezeichneten Neigung, Erziehungs¬ 
einflüsse in sich aufzunehmen, vor allem und am weitaus wichtigsten trieb¬ 
feindliche Erziehungseinflüsse in Betracht, die im Kind die Auffassung, die Befrie- 
digung sei eine Gefahr, entstehen lassen oder festigen. Reich untersucht nicht viel 
die akademische Frage, ob nicht eine gewisse Triebeinschränkung für jede Gesell¬ 
schaft unumgänglich sei, sondern bescheidet sich mit der sehr konkreten Frage 
nach den realen heutigen Erziehungseinflüssen, ihrer Herkunft, Funktion und 






































Referate 


405 


Zweckmäßigkeit. Wie weit die bürgerliche Moral für die Neurosen verantwortlich 
ist hat Freud schon vor langer Zeit betont. Woher aber diese Moral kommt, 
das ist eine unpsychologische, rein soziologische Problemstellung, deren Beant¬ 
wortung erst zusammen mit den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung 
das Neurosenproblem ganz lösen könnte. 

Ihr geht Reich mit der scharfen soziologischen Methodik des Marxismus 
z u Leibe. Es ist der erste Versuch, psychoanalytische Erkenntnisse zur marxis¬ 
tischen Kritik der gesellschaftlichen Sexualordnung heranzuziehen. Der Marxis¬ 
mus lehrt, die Ideen einer Gesellschaft seien das Wider spiel der herrschenden 
Produktionsverhältnisse. Die herrschenden Ideen seien die der herrschenden Klasse. 
.— Die ganze bürgerliche Sexualmoral ziele auf Festigung der Institutionen 
Ehe und Familie. Und diese Institutionen dienen der Verankerung der herr¬ 
schenden Produktionsweise. Reich bemüht sich deshalb, zunächst dreierlei 
zu zeigen: Erstens daß Ehe und Familie der kapitalistischen Wirtschafts¬ 
ordnung dienen, zweitens daß alle Sexualmoral aus der Ideologie der Ehe und 
Familie abzuleiten ist, so daß sich die früher erwähnten „äußeren wirtschaft¬ 
lichen“ und „inneren moralischen“ Faktoren als identisch erweisen, drittens 
daß deshalb keine Sexualreform etwas Wesentliches ändern kann, solange an 
der kapitalistischen Produktionsweise nichts geändert wird. 

Ad 1) und 2): „Die eheliche Moral ist der äußerste ideologische 
Exponent des Privateigentums im ideologischen Überbau der Gesellschaft . 
Sie diene mit Hilfe des Erbrechts zur Erhaltung des Eigentums an Produk¬ 
tionsmitteln. Die Ehe habe weiter den sozialen Sinn, Frau und Kinder, deren 
materielle Abhängigkeit ein integrierender Bestandteil der patriarchalischen 
Gesellschaft sei, zu schützen. Deshalb verlange die kapitalistische Gesellschafts¬ 
ordnung die Ehe. Die Ehe aber verlange die Ideologie der vorehelichen 
Keuschheit uud innerehelichen Treue, vor allem der Frau. Diese Ideologie 
aber gerate in Widerspruch mit dem natürlichen Sexualtrieb und schaffe 
deshalb einerseits Verdrängungen und Neurosen, andrerseits Ehebruch und 
Prostitution. Auch Moralanschauungen wie die von der Verwerflichkeit der 
Abtreibung dienen letzten Endes dem Schutz der Ehe, da andernfalls der 
Zwang zur Heirat nach Schwängerung wegfiele. Deshalb dürfe der Sexualakt 
kein „von der Fortpflanzung unabhängiger Bedürfnis- und Lustakt sein , 
wie er es de facto ist, was aber zu leugnen zum Wesen der bürgerlichen Sexual¬ 
moral gehört. — Die Familie sei nicht „die ,Zelle 4 der menschlichen 
Gesellschaft überhaupt“, sondern „ein Ergebnis bestimmter ökonomischer Struk¬ 
turen“. Sie sei ökonomisch zunächst die Stätte des wirtschaftlichen Klein¬ 
betriebs gewesen, mit dem Aufkommen der Großbetriebe sei dann ein Funk¬ 
tionswechsel eingetreten, die Familie habe ihre Hauptbedeutung als „Fabrik 
bürgerlicher Ideologien“ gewonnen. Das leuchtet besonders dem Psychoana¬ 
lytiker ein, der weiß, daß das Über-Ich und damit die Ideale aus dem 
Ödipuskomplex, d. h. der Verarbeitung der realen im Elternhaus erlebten 
Fakten, entstehen, also dank der Familiensituation einen konservativen Charakter 
(Identifizierung) annehmen. So verschieden bürgerliche, kleinbürgerliche und 
proletarische Familien auch seien, sie gleichen sich in der Atmosphäre der 
Sexualmoral, die von der herrschenden Klasse bestimmt sei. Der patriar¬ 
chalische Vater sei „der Exponent und Vertreter der staatlichen Autorität" 
und müsse die dauermonogame Ehe schützen, weil er damit sich selbst schütze. 








406 


Referate 


Das geschehe durch prägenitale Fixierungen (Überbetonung der Eß- und Exkr 
tionsfunktionen) und Verdrängung der Genitalität (Onanie). — Gleichzeit* 
erhöhe dennoch das Miterleben sexueller Vorgänge der Eltern die sexuell 
Erregung. Der Ödipuskomplex ist nach Reich in soziologischer Betrach tun 
die Folge des Umstandes, daß die Kinder in der Blütezeit der infantilen 
Sexualität gezwungen sind, neben (nur wenigen Geschwistern und) zwd 
Erwachsenen verschiedenen Geschlechts zu leben, die miteinander ein Sexual¬ 
verhältnis haben. Über ev. Konflikte in einer nicht familiengebundenen Gesell¬ 
schaft können wir nichts vorauswissen; sicher müßten in ihr die uns heute 
bekannten Mißstände wegfallen. 

Ad 3): So ergibt sich dem Autor, daß sowohl die sexuelle Misere als auch 
die Unlösbarkeit des sexuellen Problems zum Bestand dieser Gesellschafts¬ 
ordnung gehören. Die Sexualreform enthalte künftige Ideen höchstens in dem 
gleichen Sinne, wie etwa die bürgerliche Sozialpolitik schon sozialistische 
Tendenzen keimhaft in sich trägt: sie können sich nicht entfalten, solange 
der Kapitalismus herrscht. Erstaunlich und für die Reichschen Gedanken¬ 
gänge uberzeugend sind die von ihm mitgeteilten Proben der „bürgerlich¬ 
ethischen Voreingenommenheit der angeblich objektiven Sexualwissenschaft“. 
Am weitesten geht Grub er, der die Atrophie des Sexualapparats im Namen 
der Kultur predigt. Aber auch die reformerisch eingestellten Autoren, die 
richtig Tatsachen beschreiben und Not und Unmöglichkeit der heutigen Ver¬ 
hältnisse feststellen, verfallen dann immer wieder, anstatt Konsequenzen zu 
ziehen, in Phrasen, die das eben als unmöglich Beschriebene im Namen der 
Kultur dennoch verlangen. Die Satzungen des „Bundes für Mutterschutz“ 
und Zitate aus dem so fortschrittlich gesinnten Forel sind dafür die treffend¬ 
sten Beispiele. Ein in diesem Zusammenhänge fallender Satz scheint uns 
auch für manche Theorien von Psychoanalytikern von Belang, die das Über- 
Ich und die zu Neurosen führenden Konflikte zwischen Ich und Es einzig 
in der biologischen Unzulänglichkeit des Kleinkindes wurzeln lassen wollen: 
„Die vorwiegende oder ausschließliche biologische Auffassung des Geschlechts¬ 
triebes im Sinne der Arterhaltung ist eine der Verdrängungsmethoden der 
bürgerlichen Sexualwissenschaft. “ 

Das bisher Entwickelte wird dann noch an zwei Problemen im Detail 
exemplifiziert: an Pubertät und Ehe. 

Die Pubertät ist die Zeit der Sexualreife — und überall ertönt die For¬ 
derung, man solle in und nach dieser Zeit asketisch leben. Warum eigent¬ 
lich? Die Primitiven tun es nicht. Auch hier meint Reich: Die Forderung 
nach jugendlicher Askese sei eine gesellschaftliche Forderung, einer bestimmten 
Gesellschaftsstruktur zugeordnet. Der Kern der Pubertätsschwierigkeiten sei die 
einfache Formel Sexualtrieb kein Sexual verkehr, denn die Aufgabe der 
„endgültigen Überwindung des Ödipuskomplexes“ würde ja viel leichter zu 
lösen sein, zwänge nicht Askese bei erhöhtem Sexualverlangen zur Regression 
* n die Infantilität. Die dadurch bedingte Fixierung an die infantile Sexualität 
sei auch die Gefahr der heute schon vielfach als Rettung gepriesenen Pubertäts¬ 
onanie, die zwar etwas entlasten, aber nicht auf die Dauer helfen kann. 
Die Behauptung, daß Jugendliche, die früh zum Verkehr kämen, sublimierungs¬ 
unfähig würden, sei durchaus unbewiesen und unwahrscheinlich. In Wahrheit 
leben die Jugendlichen auch gar nicht asketisch. Sie sind auf die eine oder 













































Referate 


407 


andere Weise sexuell tätig, nur widersprochen, gehemmt, unbefriedigt. Das 
aelte für alle Klassen, wenn auch die Art der Schwierigkeiten beim Proletarier 
und beim Bürgerlichen sehr verschieden seien. So werden durch Reichs Schil¬ 
derungen erst die Komplikationen klar, die Wohnungsnot und Präventivfrage 
für den jugendlichen Proletarier bedeuten. Zur Schilderung der großbürger¬ 
lichen Verhältnisse dienen Reich die Ausführungen Lindseys, der sich 
dabei übrigens auch als Beispiel für die Diskrepanz zwischen kühner Tat¬ 
sachenbeschreibung und moralischer Befangenheit erweist. — Daß die Ideo¬ 
logie der jugendlichen Askese der Herstellung der Ehefähigkeit der Jugend¬ 
lichen, also nicht allgemein kulturellen Zwecken dienen soll, belegt Reich 
mit einer Statistik von Barash, derzufolge von Menschen, die den Geschlechts¬ 
verkehr vor dem 17. Lebensjahr aufnahmen, 61‘6% in der Ehe untreu 
wurden, von denen, die zwischen dem 17. und dem 21. Lebensjahr geschlecht¬ 
lich zu verkehren anfingen, 47*6°^ und vom Rest i7*2°/o. 

Die Ehe sei nur im Zusammenhang mit dem Kapitalismus verständlich. 
Vom Wirtschaftlichen losgetrennt, gäbe es gewiß auch einen sexuellen Dauer¬ 
willen, aber eine auf freier Vereinigung und Befriedigung (nicht Zwang) 
beruhende, jederzeit trennbare Beziehung mit materieller Selbständigkeit der 
Frau, bei Versorgung und Aufzucht der Kinder durch die Gesellschaft wäre 
eben keine Ehe mehr. Reich nennt sie „sexuelle Dauerbeziehung“ und bespricht, 
welche sexualökonomischen Vorteile eine solche Verbindung gegenüber der 
Promiskuität hätte, was man zum Teil gerade heute studieren könne, denn 
nie sei die reale Promiskuität so groß gewesen wie im Zeitalter der bürger¬ 
lichen Ehe: der größte Vorteil sei die gegenseitige Anpassung, die höchste 
Befriedigung ermögliche. Die Voraussetzungen hierfür, orgastische Potenz, 
Zusammenklingen von Sinnlichkeit und Zärtlichkeit, Überwindung der Inzest¬ 
bindungen usw., gebe es allerdings in der bürgerlichen Gesellschaft nicht. 
Aber auch für eine solche Verbindung ergebe sich das Problem der Abstump¬ 
fung, das bei der Dauermonogamie mit naturgesetzlicher Notwendigkeit endlich 
eintrete. Dann sei es möglich, daß der Sexualverkehr mit einem andern die 
Bindung an den Partner wieder stärke; es sei auch möglich, daß die Ver¬ 
bindung damit ihr Ende finde. Beides sei besser als Treue aus Gewissen. 
Reich vermutet, daß solche Dauerbeziehungen selten lebenslang sein würden, 
am seltensten wenn die Verbindung vor dem dreißigsten Lebensjahr einge¬ 
gangen wurde. Der Jugendliche wolle wahrscheinlich sein Objekt viel häufiger 
wechseln, obwohl auch solche flüchtige Beziehungen der Zärtlichkeit keines¬ 
wegs entbehren. — Die wirtschaftlichen Komplikationen erschweren den 
Sachverhalt bei der Ehe gewaltig. Nicht nur daß die wirtschaftlich determi¬ 
nierte Eheideologie die lebenslängliche Treue fordern muß; es kann ja auch 
keine Erleichterung der Scheidung helfen, solange die wirtschaftliche Unab¬ 
hängigkeit von Frau und Kindern nicht garantiert ist. Denn wie recht hat 
Reich, wenn er von der heutigen Frau sagt, sie sei nicht nur „Gebärmaschine 
des Staates“, sondern ihre unbezahlte Arbeit in der Hauswirtschaft erhöht in¬ 
direkt die Profitrate des Unternehmers. Denn der Mann kann nur unter 
der Bedingung zum üblichen niedrigen Stundenlohn Mehrwert erzeugen, daß 
ihm zu Hause soundso viel Arbeit unbezahlt abgenommen wird. — Die 
reformerische Literatur muß den Standpunkt vertreten: „Die Ehen sind schlecht, 
aber die Eheinstitution muß gepflegt und erhalten werden.“ Dafür werden 







408 


Referate 


die absurdesten Argumente ins Treffen geführt — bis zur Verfälschung ethno 
logischer Befunde. Die durch den fortschreitenden Kapitalismus bedingte wirt 
schaftliche Arbeit der Frau zerstört in dialektischer Weise die Eheinstitution 
deren der fortschreitende Kapitalismus bedarf. Reich bespricht dann noch die 
psychologische Bedeutung der Eheideologie für das einzelne Individuum und 
zeigt, daß Bestrebungen, die Ehe zu „erotisieren“, zwar an sich helfen könnten 
aber undurchführbar sind, weil sie der bürgerlichen Eheideologie widersprechen 
— Den Beweis für seine Ausführungen sieht Reich in der Sowjetunion 
erbracht, wo die Ehe praktisch aufgehoben ist (die Registrierung ist frei¬ 
gestellt und hat keine rechtlichen Konsequenzen). Man ersehe daraus, wenn 
man sich auch nicht überall darüber klar sei, daß die sozialistische Änderung 
der Wirtschaftsform die ökonomischen Grundlagen der Ehe aufhebe. 

Das sehr lesens- und nachdenkenswerte Buch von Reich scheint für den 
Psychoanalytiker bedeutungsvoll, nicht nur, weil es von einem Psychoanaly¬ 
tiker geschrieben ist und psychoanalytische Einsichten überall heranzieht, 
sondern auch, weil es dazu anregt, einen grundlegenden Faktor in der Ätio¬ 
logie der Neurosen, der den Arzt, der Einzelindividuen behandelt, sonst nur 
wenig beschäftigt, in dem Maße zu würdigen, wie er es verdient. 

F e n i c h e 1 (Berlin) 


R eich, Wilhelm: Die Sexualnot derwerktätigen Massen 
und die Schwierigkeiten der sexuellen Beratung. 
„Sexualnot und Sexualreform", Verh. d. IV. Kongr. der Weltliga 
für Sexualreform, Wien, l6.— 23 . IX. IQ 30 . 

Eine knappe, präzise, sehr lesens- und beherzigenswerte Übersicht über die 
Zusammenhänge zwischen den Sexualproblemen unserer Zeit und den gesell¬ 
schaftlichen, besonders wirtschaftlichen Zuständen und Institutionen. Daß 
die materielle Daseinsweise der Massen ihr Sexualleben mannigfach ungünstig 
beeinflußt, daß und wie Wohnungsnot, Geburtenregelungs- und Prostitutions¬ 
fragen die gesunde Sexualregelung stören und ihrerseits in der gegenwärtigen 
Gesellschaftsordnung verankert sind, ist bekannt. (Die Herausarbeitung dieser 
Einflüsse und Verankerungen durch Reich ist aber sehr dankenswert.) Viel 
bedeutungsvoller für den Psychoanalytiker erscheint der zweite Teil der 
Reichschen Ausführungen, der Analoges für die Neurosen nachweist, deren Zu¬ 
sammenhang mit der Sexualität erst durch die Psychoanalyse klargestellt 
wurde. Was veranlaßt die pathogenen Verdrängungen und was verleiht ihnen 
pathogene Kraft? Die jeweilige „Moral“ und die gesellschaftlichen Institutionen, 
die die Sexualbefriedigung als gefährlich perzipieren lassen und so Angst und 
Schuldgefühle erzeugen, und die im Dienste der herrschenden Klasse stehen. 
Sie werden wirksam durch Ehe und Familienerziehung. Die bürgerliche Ge¬ 
sellschaft braucht Ehe und Familie aus Erbrechtsinteressen, zum Schutz von 
Frau und Kindern, die Familie früher als Produktionseinheit, jetzt als „Ideo¬ 
logiefabrik“. Deshalb ist sie zu sexualverneinenden Ideologien und pädagogi¬ 
schen Praktiken gezwungen, um die Fähigkeit zur Ehe herzustellen. — Die 
Neurosen der Massen können in ausgiebigem Maße nicht durch Einzeltherapie, 







































Referate 


409 


sondern nur prophylaktisch bekämpft werden. Die Prophylaxe aber, nach 
Reich die vornehmste praktische Aufgabe der psychoanalytischen Wissen¬ 
schaft, könne nicht aussichtsvoll sein vor einer „radikalen Änderung der Wirt- 
schafts- und Gesellschaftsordnung“. F e n i c h e 1 (Berlin) 


Baege, Prof. Dr. M. H.: Naturgeschichte des Traumes. 
Hesse & Becker Verlag, Leipzig IQ 28 . 

Baege wendet sich gegen alle Spekulation, gegen jede psychologische 
Hypothese, gegen jede andere als p hys i ol o gis ch e Deutung und Erklärung 
des Traumes. Er leitet seine Arbeit mit einem geschichtlichen Abriß der 
mehr spekulativen Ansichten früherer Autoritäten über Schlaf und Traum 
ein, um zu zeigen, wie verwerflich sie seien. 

Die vom Verfasser vorgebrachten physiologischen Ansichten über Schlaf, 
Schlafstellung oder Traumentstehung sind gewiß recht interessant, aber 
sie sind weit davon entfernt, uns irgendwie einen Aufschluß über das Wesen 
des Traumes, über Traumarbeit, Trauminhalt usw. zu bieten. 

Wenn der Verfasser die Entstehung des Traumes auf körperliche Reize 
(innere und äußere) zurückführt, so basiert er dabei lediglich auf V o 1 d, der 
eingehende Experimente gemacht hat. 

Bei dem Versuch der Traumanalyse und Traumdeutung, wo es sich darum 
handelte, auf den zu erfassenden Sinn des Traumes und auf die eigentliche 
Traumarbeit einzugehen, versagt Baege vollständig, obwohl er versichert, die 
einzig „wirklich exakte und auf Erfahrung begründete Traumanalyse“ zu bringen. 
Denn Körperlage und Körperreiz können in jedem Falle ebensogut irgend¬ 
einen anderen Trauminhalt erwählen, der entsprechen würde. Es erübrigt 
sich, auf Beispiele naivster Art einzugehen. Baege verwirft auch die 
Annahme eines Unbewußten und verschließt sich damit das Verständnis des 

Traumes. ^ , /r» i- \ 

Gräber (Berlin) 


J e Z o w e r, Ignaz: DasBuchderTräume. Ernst Rowohlt Verlag, 
Berlin IQ 28 . 

Traumbücher und Bücher über Träume scheinen die große Mode zu werden. 

Jezower gibt eine reiche Sammlung von Träumen, deren Auswahl, von 
einem kulturhistorischen Gesichtspunkt gesehen, sehr wertvolles Material 
zusammenstellt, in psychologischer, vor allem psychoanalytischer Hinsicht sich 
aber meist als recht uninteressant erweist. 

Daß die geschichtliche Überlieferung natürlich unter dem Gesetze der 
Verdrängung nur eine „stubenreine“ Auswahl treffen konnte, ist begreiflich, 
weniger begreiflich ist, daß der Herausgeber sie womöglich noch „stuben¬ 
reiner macht — ich meine für unser Zeitalter weniger begreiflich —, denn 
nicht nur „über Träume muß man umlernen“, wie Nietzsche sagte, 
sondern auch über unser gesamtes psychisches Erleben, vor allem über seine 
Verknotung mit dem Triebleben. 

J e 2 o w e r erzählt Träume von den Erzvätern, den alten Ägyptern, 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse XVII/3 27 

/ 








4io 


Referate 


Assyrern, Babyloniern, Medern, Persern, Griechen, Römern, den ersten Christen 
Mohammedanern, Chinesen, aus dem Mittelalter, der Reformationszeit, der 
Romantik, erzählt Träume der Dichter, der Gelehrten usw. Von den eigent 
liehen Traumproblemen interessieren den Verfasser besonders die intellek 
tuellen Leistungen im Traum, die Zeitdauer im Traum, die experimentell 
erregten Traumbilder, die Wunscherfüllung und etwa noch die okkulten 
Fähigkeiten des Traumes. 

Besondere Aufmerksamkeit schenkt Jezower dem Traum als Orakel 
Die im zweiten Teil des Buches durchgeführten Analysen von Träumen 
stellen einen ernsthaften Versuch dar, Traumelemente auf Wachreminiszenzen 
zurückzuführen, eine Arbeit, die, wohl von der Psychoanalyse beeinflußt, von 
großem Fleiß zeugt und auch wertvolle Zusammenhänge aufzeigt — mit 
einer eigentlichen Traumdeutung im psychoanalytischen Sinne jedoch wenig 

zu tun hat. „ _ _ 

Gräber (Berlin) 


Schneider, Ernst, Prof. Dr.: Die Bedeutung des Ror- 
schach sehen Formdeutversuches zur Ermittlung 
intellektuell gehemmter Schüler. Sonderdruck aus 
„Zeitschrift für angewandte Psychologie“, herausgegeben von 
William Stern und Otto Lipmann, Bd. 32 , Heft I bis 3- 

Man hört gelegentlich von seiten amtlicher Prüfstellen, bei denen neben 
anderen Prüfungsverfahren auch die R o r s c h a c h sehe Psychodiagnostik bei¬ 
gezogen wird, gerade sie eigne sich zur Ermittlung des Intelligenzbefundes 
weniger als andere Verfahren. Ich denke dabei besonders an Schulen und 
Erziehungs- und Berufsberatungsstellen. 

Daß Rorschach nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder 
verwendbar ist, darüber besteht kein Zweifel mehr, seitdem Behn- 
Eschenburg, der den Versuch an 209 Kindern zur Anwendung brachte, 
seine Resultate in der Schrift: „Psychische Schüleruntersuchungen mit 
dem Formdeutversuch“ (Bircher, Bern 1921) veröffentlichte. (Eine weitere 
diesbezügliche Arbeit: Adolf Loepfe: Über Rorschachsche Formdeut¬ 
versuche mit zehn- bis dreizehnjährigen Knaben. Diss., Zürich 1925). 

Mit seiner wertvollen Arbeit hat nun Schneider das Problem der 
Verwendbarkeit des R o r s c h a c h sehen Form deutversuch es zur Ermittlung 
der Intelligenz der Schüler um ein wesentliches Stück der Lösung entgegen¬ 
geführt. Schneider wandte verschiedene Verfahren zur Bestimmung der 
Intelligenz seiner Prüflinge an: Bobertag-Hylla, Doering, Binet-Simon und 
Rorschach. Dazu zog er auch das Schätzungsverfahren der Schule (und teil¬ 
weise auch dasjenige des Elternhauses) bei. 

Der Vergleich der Resultate ergab die höchsten Korrelationskoeffizienten 
beim Schätzungsverfahren durch die Schule und bei Rorschach. Das ruft 
Überlegungen wach: Oft hört man gerade in Lehrerkreisen noch schimpfen 
über die Testverfahren bei Schülerauslesen, da oft differierende, ja, sogar 
gegenteilige Resultate gegenüber den Befunden manchmal langjähriger Be- 






































Referate 


411 


obachtung und Zusammenarbeit sich ergaben. Aber nicht nur diese Tatsache 
sollte Prüfstellen bewegen, Rorschach vermehrt beizuziehen, sondern vor 
allem auch jene andere, daß der Rorschach sehe Formdeutversuch sich 
bei den Experimenten Schneiders als brauchbar zur Feststellung 
intellektuell gehemmter Schüler erwies. 

Die bei Prüfstellen im allgemeinen gebräuchlichen Verfahren zur Intelligenz¬ 
ermittlung vermögen Intelligenzhemmungen (Affektverklemmung, Introversion, 
Depression, Neurose, Psychose) nicht oder kaum zu ermitteln und geben 
jedenfalls keinen Aufschluß über deren Art und ßildung. Bei Rorschach 
wird aber die Intelligenz nicht isoliert, sondern ihre Anzeichen „sind eine 
Abstraktion aus einem allgemeinen Befund“ (Schneider), der auch über 
Begabungsart und Begabungsrichtung Aufschluß geben kann. 

Die Versuche, die Schneider durchführte, sind nicht nur deshalb 
besonders zu schätzen, weil sie uns über die Verwendbarkeit des Ror- 
sch ach sehen Formdeutversuches belehren, sondern auch, weil die damit 
verbundenen Vergleiche und Gegenüberstellungen ein Urteil optimaler Richtig¬ 
keit erlauben. 

Gräber (Berlin) 


Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur 

Steyerthal, A., Dr.: Pathologie des Unbewußten. 
Ferd. Enke, Stuttgart IQ2Q. 

Stolze Gebäude müssen es sich gefallen lassen, daß an ihrer Ecke Notdurft 
verrichtet wird. Auch das stolze Gebäude der Psychoanalyse ist nicht dagegen 
geschützt. So lesen wir hier: „Das ganze Lehrgebäude in seinem innersten 
Kerne einschließlich des Baumeisters erscheint durchaus pathologisch ... Es 
ist ein Wahnsystem, das aus lauter Fehlschlüssen aufgebaut ist ... Das 
Erstaunlichste bei all den psychoanalytischen Wahngebilden ist die Kritik¬ 
losigkeit, mit der sie in ärztlichen Kreisen aufgenommen und verwertet 
worden sind ... Freud suchte nach einem sexuellen Trauma, und wenn es 
in der Psyche nicht zu finden war, so mußte es hineingeblasen werden ..." 
Außer der Polemik gegen die Psychoanalyse finden wir faule Lesefrüchte aus 
der Schulpsychologie und Philosophie sowie Banales aus der Nervenpraxis. 

Hitschmann (Wien) 

\ 

Moll, Albert: Psychologie und Charakterologie der 
Okkultisten. Ferd. Enke, Stuttgart IQ2Q. 

Moll setzt hier seinen energischen Kampf gegen die erschreckende Ober 
flächlichkeit und den Mangel an wissenschaftlichem Geist der Okkultisten 
fort. Niemals ist nach Moll bis heute auch nur ein einziges okkultes 
Phänomen zwingend bewiesen worden. Insbesondere Schrenck-Notzing 
sei ein unverläßlicher, eitler, leicht zu täuschender Mann gewesen, der die 











412 


Referate 


Faschingsvermummungen hysterischer Weiber und anderer Medien als Trans¬ 
figuration oder als Teleplasma und als Produkt des Unbewußten der Welt 
aufoktroyieren wollte. 

Ehrgeiz, Sensationslust, Suggestibilität, Opposition gegen „Schulwissenschaft“ 
genügen doch wohl nicht als Ergebnis der Psychopathologie der Okkultisten- 
der „okkultistische Komplex“ mit seiner Ähnlichkeit mit paranoischen Wahn¬ 
gebilden bleibt hier dunkel. Erst systematische Psychoanalyse von Medien und 

Okkultisten könnte Aufklärung bringen. tt . x , , T1Ti v 

& & Hitschmann (Wien) 


Morgenthaler, Dr. W.: Die Pflege der Gemüts- und 
Geisteskrankheiten. Hans Huber Verlag. Bern-Berlin 1930. 

Dieses Buch wurde im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für 
Psychiatrie geschrieben. Es interessiert uns aus zwei Gründen, die letzten 
Endes einer sind: es stützt sich beinahe eindeutig auf die von der Psycho¬ 
analyse vertretene Psychologie und es ist von Anfang bis Ende klar durch¬ 
geführt. Ein Minimum von Theorie verbindet sich mit einem Maximum an 
gesundem Menschenverstand. Eine gründliche praktisch-ärztliche Kenntnis der 
Anstaltsatmosphäre und eine Sachlichkeit, die ihm wohl so schnell niemand 
nachmacht, ermöglichen es dem Verfasser, ein Idealbild des unverbildeten 
Pflegers zu entwerfen, und machen die Schrift wohl zum bisher besten Lehr¬ 
buch dieser Art. r» n sn N 

Bai ly (Berlm) 


Aus der psychoanalytischen Literatur 

Medical Review of Reviews, 4 U, März 1930» „Psycho- 
pathology Number“, herausgegeben von D. Feigenbaum. 

In der in Heft 1 dieses Jahrgangs dieser Zeitschrift auf Seite 150 ff. 
erfolgten Besprechung der „Psychopathology Number“ von D. Feigenbaum 
hieß es als Zitat aus der darin enthaltenen Arbeit von Wittels: 

„Meine Beobachtungen . . . haben mich zu dem Schluß geführt, daß die 
Entwicklungslinie vom Kind über das Weib zum Manne geht und über ihn 
zum desexualisierten intelligenten Schöpfer . . .“ Dieser letzte Ausdruck ist 
falsch wiedergegeben. Es heißt im englischen Text „intellectual creator“, was 
mit „geistiger Schöpfer“ zu übersetzen wäre. Es heißt dort weiter, daß nach 
Wittels der Hysterie das „männliche schöpferische“ Prinzip fehle. In 
Wahrheit sagt Wittels direkt nur, daß ihr das „männliche zwanghafte“ 
(coercive) Prinzip fehle; da aber nach Wittels der Weg vom Weibe über 
den Mann zum Schöpfer geht, muß logischerweise dem weiblichen mit dem 
männlichen auch das schöpferische Prinzip abgehen. 

Die Arbeit von Wittels ist inzwischen in erweiterter Form in der 
„Psychoanalytischen Bewegung“ erschienen, so daß der deutsche Leser 
Gelegenheit hat, dort selbst nachzuprüfen, ob mein Urteil über diese Arbeit 
gerechtfertigt ist oder nicht. Fenichel (Berlin) 











































Referate 


413 


Berkeley-Hill, Owen: Flatus and Aggression. Internat. 
Journal of PsA., XI, 3 * 

Eine Patientin verband mit ihrem Flatus bewußte feindselig-zerstörerische 
Tagträume. F e n i c h e 1 (Berlin) 

Roellenbleck, Ewald: Psychoanalytische Literatur. Das 
deutsche Buch, XI, 5 —6, Juni IQ 3 I- 

„Zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag“ hat Roellenbleck „eine Auswahl“ \ 
der psychoanalytischen Literatur „bibliographisch zusammengestellt“ und den 
Inhalt der wichtigeren Werke in kurzen und prägnanten Erläuterungs- 
bemerkungen angedeutet. Bei dem bekannten psychoanalytischen Verständnis und 
der ausgezeichneten Literaturkenntnis des Verfassers braucht kaum hinzuge¬ 
fügt zu werden, daß ihm seine Absicht sehr gut gelungen ist. Die Arbeit ist 
auch als Sonderdruck erschienen. Fenichel (Berlin) 

Kunz, H.: D ie existentie Ile Bedeutung der Psycho¬ 
analyse in ihrer Konsequenz für deren Kritik. Der 
Nervenarzt, 3- Jg-, H. 11. 

Seit Freud seine ersten epochalen Entdeckungen publiziert hat, seitdem 
die Psychoanalyse der Öffentlichkeit zugänglich ist, war die neue Wissenschaft 
unaufhörlich Kritik und Angriffen ausgesetzt. In der Polemik gegen die 
Psychoanalyse sind alle Tonarten vertreten, von der wissenschaftlichen Sach¬ 
lichkeit bis zum weltanschaulichen „Ärgernis“ und affektiver Ablehnung. 
Allmählich wurden die Einwände in der Diskussion erschöpft, neue Gesichts¬ 
punkte traf man immer seltener. Kunz gebührt das unzweifelhafte Verdienst, 
in die verödende Diskussion neue Aspekte hineingebracht zu haben. 

Er betrachtet und kritisiert die Psychoanalyse aus der Perspektive eines 
philosophischen Lebensgefühls. Seine Terminologie, seine Begriffe sind stark 
beeinflußt von einer philosophischen Richtung, die durch die Namen 
Heidegger und Jaspers repräsentiert ist. Um es gleich vorwegzunehmen : 
nach der Überzeugung des Referenten mißversteht Kunz die Existential¬ 
philosophie, wenigstens jene Form, die im Werk Heideggers niedergelegt 
ist. Kunz fühlt sich selber offenbar nicht ganz sicher in der Rolle des 
berufenen Interpreten der Existentialphilosophie, 

Kunz stellt fest, daß in der Psychoanalyse „. . . die „Menschlichkeit“ des 
Menschen methodisch in einer Weise in Frage gestellt (wird), wie es bislang 
nur indirekt und unsystematisch in den Schriften eines Kierkegaard und 
Nietzsche geschah“. An der Wahrheit und Evidenz der Selbstbesinnung 
wird grundsätzlich gezweifelt und an ihre Stelle das gerückt, was man die 
„existentielle Bewährung“ nennen könnte: „Es geht nicht um das, was einer 
von sich weiß und aussagt und wie er sich selbst ,deutet 4 , — ... sondern 
um das, was er ,ist‘.“ Kunz fragt sich, ob er mit diesen Andeutungen nicht 
der Psychoanalyse Intentionen unterschiebt, die ihr selbst fremd sind. Und er 
glaubt, diese Frage bejahen zu müssen, denn „. . . von v. Hattingberg 







414 


Referate 


abgesehen..., haben weder Freud noch seine Schüler das in der analytischen 
Situation sich faktisch vollziehende Geschehen explizit und zureichend ver 
standen...“. Eine einigermaßen erstaunliche Feststellung! Die Gründe fü r 
dieses „Unverständnis“ sind nach Kunz die folgenden: „Zunächst ist es die 
verborgene Befangenheit in der Tradition, insonderheit im traditionellen 
Denk- und Wissenschaftsstil, ... die ein adäquates Verstehen der Psycho¬ 
analyse durch ihre Anhänger ... bis heute verhindert." Aber das sei nicht 
einmal das Wesentliche. Der tiefste Grund, warum Freud und seine Schüler 
„das in der analytischen Situation sich faktisch vollziehende Geschehen“ nicht 
verstehen, ist: „Sie vermögen nicht ausdrücklich und im bewußten Zugriff 
das Faktum zu ertragen, das sich in jeder Analyse vollzieht: die Auflockerung 
der ganzen menschlichen Existenz." Und weil sie diese existentielle Erschütterung 
scheuen, flüchten sie sich in die falsche Sicherheit der Theorie. 

Die Begrenztheit der Lehre besteht nach Kunz in der alleinigen Betonung 
der sexuellen Triebhaftigkeit als ausschließlichen Horizonts der psychoanalyti¬ 
schen Interpretation des menschlichen Seins. Die Triebhaftigkeit allein macht 
aber das Menschsein nicht fragwürdig. Sondern erst das konkrete Zusammen 
von Trieb und Geist . begründet die menschliche Existenz in ihrer 
ständigen Bedrohtheit und Gebrochenheit". „Geist“ bedeutet für Kunz aller¬ 
dings etwas anderes als sonst in der modernen Philosophie, er meint nicht 
den objektiven Geist, der sich in Kulturschöpfungen objektiviert, nicht den 
Geist als eine spezifisch menschliche Verhaltungsweise (Sehe ler), sondern 
Geist ist „... der Durchbruch des Nichts, des vorlaufenden Todes (Heidegger) 
innerhalb des menschlichen Daseins". 

Wenn die Analyse sich selbst richtig verstünde, dann müßte sie „...ihre 
angemaßte, nur scheinbare Sicherheit fallen lassen und jene Bewegung des 
Sich-selbst-in-Frage-Stellens . . . erneut und mit radikalerem Impetus wieder¬ 
holen . „Erst dann wird der analytische Prozeß zum würdigen Kampf um die 
Existenz des Menschen, zum restlosen Sich-aufschließen und Ver-halten, zu 
einem ungewissen Schweben über dem Nichts, — d. h. zu einer Art, 
menschliches Schicksal zu erfüllen und sich der Erfüllung zugleich bewußt 
zu versichern.“ 

Freilich meint Kunz skeptisch, eine solche „Reform“ ist von den in ihren 
Dogmen befangenen, unfreien Schulanalytikern nicht zu erwarten. Wir teilen 
seine Skepsis. 

Mir will es scheinen : was in der Kunzschen Kritik nicht auf sachlichen 
Irrtümern und Mißverständnissen beruht, ist der Ausdruck eines Lebens¬ 
gefühls. Mit einem Lebensgefühl kann man aber nicht polemisieren, man kann 
ihm höchstens ein anderes entgegensetzen. Nur das eine läßt sich sagen, daß 
es nicht einzusehen ist, wie es in das Bereich der Analyse gehören könnte, 
die Fragwürdigkeit, Bodenlosigkeit der menschlichen Existenz zu vermitteln. 
Die Analyse ist zweifellos eine „existentielle Erschütterung“. Aber eine meta¬ 
physische Haltung dem Kranken, der bei uns Heilung sucht und nicht 
Philosophie, aufzuzwingen, ist nicht ihre Aufgabe. Sollte aber trotzdem, vielleicht 
ungewollt, die menschliche Existenz durch den analytischen Prozeß eine 
Erhellung erfahren, so würde diese sicher nicht als ein — „ungewisses 
Schweben über dem Nichts“ — erscheinen, sondern als Zuwendung zu 
der Welt. Gero (Berlin) 














































1 



Referate 


415 


Bernfeld, Siegfried: Das „Widerstandsargument“ der 
Psychoanalyse. Der Nervenarzt, IV, 5 . 

Die Arbeit stellt eine klare Erwiderung auf die von Kunz in der gleichen 
Zeitschrift veröffentlichte existentialphilosophische Kritik der Psychoanalyse 
dar. Kunz meinte u. a. wieder einmal, der Analytiker begegne allen Ein¬ 
wänden mit dem Argument, es handle sich um „Widerstände“, und meine, 
dadurch der Aufgabe der sachlichen Prüfung der Einwände enthoben zu sein. 
(„Widerstandsargument“.) Bernfeld zeigt nun, wie ungerechtfertigt ein solcher 
Vorwurf ist. Die Psychoanalyse habe Einwände immer geprüft und oft aner¬ 
kannt. Andere Male mußte Nachprüfung manche Einwände auch ablehnen, 
ja, sie als besonders dumm, widerspruchsvoll oder dgl. erkennen. „Wenn wir 
angesichts der unbegreiflichen Unbelehrbark eit eines gelehrten Mannes, ange¬ 
sichts der krassesten Widersprüche, in die wir manchen klugen und geschätzten 
Forscher verfangen sehen, angesichts häßlichsten Hasses, dem sich mancher 
sonst ruhige und freundliche Arzt hingibt, von Widerstand reden, so ist dies 
nicht zuletzt ein Versuch, Intellekt und Charakter des Gegners zu ent¬ 
schuldigen.“ — Außerdem verwechselt Kunz den Widerstand der Gesell¬ 
schaft gegen die psychoanalytische Wissenschaft mit dem Widerstand des 
Patienten in der psychoanalytischen Kur. Demgegenüber belehrt ihn Bernfeld, 
daß es in der Kur nicht darum geht, den Patienten intellektuell von der 
Richtigkeit unserer Theorien zu überzeugen, sondern darum, ihm Erlebnisse 
seiner eigenen Seele zugänglich zu machen, gegen die er sich sträubt. Begei¬ 
sterung für die psychoanalytische Lehre trete in der Kur als zu überwinden¬ 
der Widerstand mindestens ebenso oft auf wie Argumente gegen sie. Das 
gelte auch für die Lehranalyse, die ebenfalls nichts „einhämmern“, sondern 
die Fähigkeit des Schülers zum selbständigen Denken erhöhen will. Die ana¬ 
lytische Deutung sei nicht eine Diagnose, von deren Richtigkeit der Patient 
überzeugt werden müßte, sondern ein Mittel, gerade in diesem Moment sich 
meldende Erlebnisse völlig bzw. in ihrer „Bedeutung“ bewußt werden zu 
lassen. Dafür, ob man die Verneinung einer solchen Deutung durch den 
Patienten als Bestätigung ansehen dürfe oder nicht, gebe es bestimmte 

Kriterien. „ . „ 

F e n 1 c h e 1 (Berlin) 


Kaplan Leo: Grundzüge der Psychoanalyse, Merlin- 
Verlag, Baden-Baden, IQ2Q. 

Diese zweite Auflage des vor sechzehn Jahren erschienenen Buches hat 
bedeutend an Umfang gewonnen und enthält reichlich neues Material an 
Kasuistik und Beispielen aus der Mythologie, Ethnologie usw. Für den Psycho¬ 
analytiker ist es eine interessante Lektüre trotz mancher tieferer Differenz 
gegenüber der Lehre Freuds. Manches Eigenartige muß wohl dem Wesen 
des Autors zugeschrieben werden; so heißt es in der Einleitung: „Meine 
eigenen Überlegungen führten mich zur Einsicht, daß die Verdrängung nur 
auf der Grundlage einer dynamischen Auffassung der Seelentätigkeit begriffen 
werden kann. Außerdem zeigte mir meine Beschäftigung mit dem Problem 
der Magie, daß viele Momente in der Verdrängung durch die magische 











416 


Referate 


Denkweise (die ihrerseits vom „Narzißmus“ abzuleiten ist) bedingt sind K 
Der Autor ist immerhin an anderen Stellen als selbständiger Denker zu 
kennen; der Satz scheint wichtig: „In der infantilen, inzestuösen Erotik li e£ t 
die Quelle verborgen, aus der eine kulturelle Forderung, nämlich die mono¬ 
gamische Tendenz, die zu ihrer Verwirklichung nötige Energie schöpft.“ Aus 
der Tradition der Familie ergebe sich also die Einehe als natürliche Folge, das 
Ledigbleiben aber als neurotische Einstellung. — Referent muß als Autor der ersten 
zusammen fassenden Darstellung von „Freud’s Neurosenlehre“ (1911), Kaplan 
berichtigen, der angibt, daß es zur Zeit, als er das Manuskript zu seiner 
ersten Auflage schrieb (erschienen 1914), „noch keine systematische Dar¬ 
stellung der Psychoanalyse gegeben habe“. TT . . 

J J 8 6 Hitschmann (Wien) 

Binswanger, L.: Traum und Existenz. Neue Schweizer 
Rundschau IQ 30 . 

Diese subtile Studie von Binswanger versucht den Ort des Traumes 
innerhalb der Existenz aufzuzeigen. Traum ist nach ihm eine bestimmte Art 
des Menschseins. Der träumende Mensch „. . . lebt ganz und gar in seiner 
eigenen Welt, und das ganz allein heißt, psychologisch gesprochen, träumen, 
ob wir dabei physiologisch schlafen oder wachen.“ Träumen ist ein Verhalten, 
das keineswegs nur im Schlafzustand realisiert werden kann. Den Träumen 
ist das Eingesponnensein in nur dem Ich zugängliche Gefühle, das Aufgehen 
in Bilder, mit einem Wort das Überwiegen der psychischen Realität auf 
Kosten der objektiven, also gemeinsamen, einer Gemeinschaft erfahrbaren 
Welt. Ein solches Verhalten aber kommt nicht nur im Traum vor, sondern 
ist auch in der Neurose, erst recht in der Psychose zu finden. Deshalb sagt 
Binswanger: „...in jeder ernsten seelischen Behandlung, z. B. und zumeist 
gerade in der Psychoanalyse, kommen Augenblicke, wo der Mensch sich 
entscheiden muß, ob er seine Privatmeinung, seine ,Privattheater, wie eine 
Kranke sagte, seinen Übermut, Stolz und Trotz behalten will, oder ob er an 
der Hand des Arztes als des wissenden Mittlers zwischen Eigenwelt und 
gemeinsamer Welt, zwischen Täuschung und Wahrheit, aus seinem Traum 
erwachen und teilnehmen will an dem Leben der Allgemeinheit . . .“ 

Eine weitere existentielle Eigenart des Traumes zeigt sich, wenn die 
Ichgegebenheit, die Weise, wie das Ich im Traum lebt, in den Blick gefaßt 
wird. Im Traum geschieht etwas mit dem Ich, und es weiß nicht, wie und 
was ihm geschieht. Träumen heißt auch: ich weiß nicht, wie mir geschieht. 
In dem „Ich und „Mir“ kommt zwar der einzelne zum Vorschein, aber 
keineswegs als derjenige, der den Traum macht, sondern als der, dem er 
„er weiß nicht wie geschieht. „. . . aus dem Träumer (wird) ein Wacher 
in dem unergründlichen Augenblick, wo er sich entscheidet, nicht nur wissen 
zu wollen, wie ihm geschieht, sondern auch ,selber* einzugreifen in die 
Bewegung des Geschehens, wo er sich entschließt, in das bald steigende, bald 
fallende Leben Kontinuierlichkeit hineinzubringen oder Konsequenz.“ Auch 
diese Eigenart des Traumes, können wir hinzufügen, finden wir in der 
Neurose, denn jenes Moment der Passivität, des Ausgeliefertseins, ist ja gerade 
der Ausdruck für die Überwältigung des Ichs durch das Es. 












































Referate 


417 


Das ist der Grundgedanke der Binswangerschen Arbeit. Was an ihr 

fasziniert, ist der künstlerische Blick für die Welt des Traumes und das 

tiefe Wissen um die Geheimnisse der Sprache. ^ .. /ri N 

r Gero (Berlin) 


Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften 

Bericht über den VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psycho¬ 
therapie in Dresden 
(Vom 14. bis 17. Mai 1931) 

Der diesjährige Psychotherapeutenkongreß in Dresden hatte zwei Haupt¬ 
themen gestellt: 1) die Beziehungen zwischen Somato- und Psychotherapie 
und 2) die Psychologie des Traumes. 

Die modernen Bestrebungen, Soma und Psyche als Ganzheit zu sehen, die 
der Einführungsvortrag von H e y e r (München) unterstrich, veranlassen offenbar 
viele Psychotherapeuten, sich wieder stärker den vom Soma her angreifenden 
Behandlungsmethoden anzuvertrauen und Gymnastik, Massage, Bäder, Er¬ 
nährung zur Unterstützung der Psychotherapie heranzuziehen. Aus einzelnen 
Referaten glaubte man die Losung herauszuhören: Zurück zur Somatotherapie, 
als wenn man sich schon allzu lange und allzu einseitig mit der Psycho¬ 
therapie befaßt hätte. Diese Sorge vor einer nicht mehr überparteilichen 
Einseitigkeit, die alle Vorschläge aus den differentesten Schulen zum Worte 
kommen läßt, drohte gelegentlich den Kongreß in das Fahrwasser flacher 
Banalitäten zu lenken. Auf der anderen Seite erscheinen Grundtatsachen der 
psychoanalytischen Forschung wie das Phänomen der Übertragung noch nicht 
in ihrer Bedeutung für die Therapie voll erfaßt zu sein, wenigstens schien 
es, als ob Hey er (München) die Tragweite des differenten Effektes der 
Massage im Rahmen der Psychotherapie nicht ganz abzuschätzen wisse. 
Cimbal (Altona) machte die körperliche Schwächung, „die Ausmergelung“, 
weitgehend verantwortlich für die Entstehung der Neurosen. Römer 
(Stuttgart) wies an der Hand von pneumographischen Demonstrationen auf 
den Parallelismus zwischen krankhaftem Atemtypus und psychopathologischer 
Verfassung hin. H a 11 i n g b e r g (München) beschrieb als „Atemkorsett“ eine 
Zwerchfellneurose, in der psychische Widerstände durch verkrampfte Atem¬ 
technik zum Ausdruck kommen. Mehr allgemein gehaltene Vorträge, wie der 
von Weinberg (Groningen) über „den Einfluß des vegetativen Systems 
auf das psychische Geschehen“ und das Referat von Meng (Frankfurt a. 
Main) über „Konstitutionsumstellung durch Arznei, Hormon, Psyche“, zeigten 
in großen Zügen, was die Forschung auf diesen Gebieten bisher erreicht hat, 
und wie weit wir noch von einer Beherrschung der psychosomatischen Zu¬ 
sammenhänge entfernt sind. Die Beeinflußbarkeit des Soma durch die Psyche 
wurde von Simmel (Berlin) behandelt, der die kathartisch heilende Konflikt¬ 
lösung eines Schwer-Kreislauf-Erkrankten in eindrucksvoller Gedrängtheit dar¬ 
stellte. Das Bild, das I. H. Schultz (Berlin) von seinem „Organtraining“ 
gab, zeigte eine Möglichkeit psychischer Beeinflussung des Körpers auf auto- 











418 


Referate 


suggestivem Weg durch Konzentrationsübungen, die nach Ansicht des Referenten 
weitgehend geeignet seien, die Grenzen zwischen willkürlicher und unwill- 
kürlicher Innervation aufzuheben. 

Im Mittelpunkt des zweiten Hauptthemas, der Traumpsychologie, stand 
das Referat von Jung (Küßnacht): „Die praktische Verwertbarkeit der 
Traumanalysen in der Psychotherapie.“ Jung polemisierte gegen eine seiner 
Ansicht nach zu rationale Auffassung der Traumsymbolik in der Freud sehen 
Schule und gegen eine Vertiefung in die kausalistischen Zusammenhänge des 
Traums. Er bevorzugt eine prospektive Deutung, „die ethische Persönlich- 
keit zu neuen Entscheidungen zu provozieren“. Er schreibt speziell den 
Initialträumen eine weitgehend prognostische Bedeutung zu und vertraut sich 
dabei offenbar einer manchmal überraschenden Intuition an. Jung behauptete 
daß der F r e u d-Schüler dem Patienten das Unbewußte als ein „Monstrum“ 
darstelle, vor dem das Gewissen des Kranken erschrecken müsse, während 
die konstruktiven Spekulationen der Jung sehen Symbollehre, die sublimen 
und allgemeingültigen Abstraktionen seiner „Archetypen“, alle Schrecken ver¬ 
loren haben, die der Freud sehen Lehre vom Unbewußten anhaften sollen. 
Dabei hat Jung wohl vergessen, daß Freud darauf hingewiesen hat, wie 
nicht nur der normale Mensch viel unmoralischer ist, als er glaubt, sondern 
auch viel moralischer, als er weiß. Zweifellos hatte das Jung sehe Referat 
ein großes Format, aber das karikierte Bild des einseitig intellektualistisch 
und doktrinär gebundenen Freud-Schülers, das man aus seinem Vortrag 
gewinnen mußte, entspricht wohl mehr einem affektiv bedingten Widerspruch 
gegen die „orthodoxen Freudianer“, als einer sachlichen Verarbeitung wissen¬ 
schaftlicher Differenzen. 

Kretschmer (Marburg) schlug vor, Träume statistisch auszuwerten. Er 
stellt das Selbstwertproblem des Träumers stärker in den Vordergrund als 
das Sexualproblem; so sieht er in allen typischen Hemmungsträumen, die er 
schilderte, das Ressentiment als treibende Kraft. Jolo wicz (Leipzig) schilderte 
den Traum im Traume als Symptom der Distanzierung des Träumers gegen¬ 
über dem Trauminhalt. Kirsch (Berlin) sprach über Körperreizträume. Diese 
und weitere Referate brachten nicht viel Neues, wenn man absieht von dem 
zweifelnden Erstaunen, das Tremmel (Heidelberg) auslöste, als er aus 
Phantasiebildern das Geburtsdatum des Zeichners erriet. 

In den Abendstunden wurden dem Kongreß öffentliche Vorträge über 
Seelsorge und Psychotherapie angegliedert, in denen protestantische Theologen, 
Vetter (St, Georgen) und T i 11 i c h (Frankfurt a. Main), ein katholischer 
Theologe, Przywara (München), und Hattingberg (München) als Arzt 
zu Worte kamen. Aus der größeren Distanz, die diese Theologen gegenüber 
den Problemen der Psychotherapie haben, würdigen sie in mancher Hinsicht 
die Bedeutung der Psychoanalyse in ihrer Wirkung auf die weltanschauliche 
Situation des modernen Menschen stärker, als es von seiten mancher Ärzte 
und Psychotherapeuten geschieht, die geneigt sind, die umwälzende Bedeutung 
der Psychoanalyse einzuschränken, indem sie sie als eine therapeutische Ma߬ 
nahme neben anderen darstellen. 

Vowinckel (Berlin) 







































KORRESPONDENZBLATT 

DER 

INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN 

VEREINIGUNG 


Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud 


I) Mitteilungen des Zentralvorstandes 

Kongreß 

In Berücksichtigung der schweren wirtschaftlichen Situation Deutschlands, 
deren Dauer und Auswirkung nicht zu ermessen sind, hat der Zentralvorstand 
beschlossen, den für den 7. bis 11. September d. J. nach Interlaken (Schweiz) 
einberufenen XII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß auf nächstes Jahr 
zu verschieben. 

Das genauere Datum desselben wird nach Beratung mit den Zweigvereini¬ 
gungen seinerzeit bekanntgegeben werden. 

Berlin, den 24. Juli 1931. 

M. Eitingon Anna Freud 

Zentralpräsident Zentralsekretärin 


Josef K. Friedjung zum ÖO. Geburtstag 

6. Mai 1931 

Der Dozent für Kinderheilkunde an der Wiener Universität, der Psycho¬ 
analytiker Fried jung, der eben die Feier seines sechzigsten Geburtstages 
hinter sich hat, verdient eine besondere Würdigung seiner wissenschaftlichen 
Tätigkeit auch in unserem Blatte. War er doch der erste Kinderarzt, der 
durch zahlreiche Publikationen jene Feststellungen über ein frühkindliches 
Sexualleben bestätigte, welche die Psychoanalyse zum Teil nur aus den Ana¬ 
lysen Erwachsener erschloß. Seine scharfe Beobachtungsgabe, die vertrauen- 








420 


Korrespondenzblatt 


erweckende, humorvolle und gütig-väterliche Art des Umganges mit groß und 
klein unterstützten ihn darin besonders, und die Treue, die ihm bewahrt 
wird, gestatteten ihm, seine Beobachtungen bis zum Heranwachsen der ihm 
Anbefohlenen und oft darüber hinaus fortzusetzen. Konnte er so die Ubiquität 
der Erscheinungen kindlicher Sexualität und zugleich vielfach deren Harm¬ 
losigkeit nachweisen, so wurde ihm andrerseits der Zusammenhang mit der 
Pathologie und dem Verhalten der Erwachsenen so klar, daß er auch uner¬ 
müdlich in Vorträgen vor allen Klassen der Bevölkerung für sexuelle Erziehung 
und Aufklärung eintrat. 

Den angesehenen Praktiker drängt sein soziales Fühlen nicht nur dazu, in 
seinem Ambulatorium und in Versammlungen in der genannten Richtung auf¬ 
klärend zu wirken, sondern er tritt auch mit Wort und Tat für Alkohol¬ 
abstinenz usw. ein. Seine Humanität drängte ihn auch in die Politik, wo er 
als sozialdemokratischer Gemeinderat und in städtischen Funktionen manch 
segensreiche Wirkung, auch für unsere psychoanalytischen Interessen, entfaltet. 

Der aufrechte und üb er zeugungstreue Mann, der so viel Liebe ausstrahlt 
und erntet, ist unter den Vorkämpfern für die Psychoanalyse in der ersten 
Reihe zu nennen, und unsere herzlichen Wünsche für eine weitere Reihe von 
Jahren unermüdlicher Tätigkeit Friedjungs — sind nicht eben unegoistische! 

Von seinen Publikationen sei speziell erwähnt das ausgezeichnete Buch 
„Erlebte Kinderheilkunde“, das neben vielem Wichtigen über seine originelle 
Diplomatie berichtet, mit der es ihm so leicht gelingt, auch ungebärdige 
Kinder untersuchungsfähig zu machen; ferner seine Arbeit über die „Pathologie 
des einzigen Kindes“ (Ergehn, inn. Med. 1917), über „Milieuerkrankungen 
des Kindes“ und „Kindliche Milieutypen“ (Z. f. Kinderh., Bd. 57) und die 
Broschüre „Sexuelle Erziehung“ (Springer 1927). Friedjung behandelte 
ferner die „Akuten Psychoneurosen des Kindes“ in der Z. f. Kinderh. (Bd. 40), 
die „Psychoanalyse im Kindesalter“ (W. kl. Wochenschr. 1929); ebendort das 
„Normale und krankhafte Triebleben des Kindes“ (1951). „Zur Frage des 
Kinderselbstmordes“ berichtet der Autor in der Z. f. Kinderforschung (1950), 
über „Krankhafte Triebabweichungen im Kindesalter“ in der Z. f. Kinderh. 
1931. „Das Recht des Kindes“ hat Friedjung auf dem 4. Kongreß der Welt¬ 
liga für Sexualreform (1931) erörtert. Endlich sei der zusammenfassenden 
Arbeit gedacht: „Was hat Sigm. Freud der Kinderheilkunde gebracht?“ 
(„Kinderärztl. Praxis“, 1931). 

Alle diese Arbeiten und andere hier nicht besonders angeführte beweisen, 
daß ein Arzt mit vorurteilsloser Beobachtung, auch wenn er selbst die Zeit für 
länger dauernde Psychoanalysen nicht erübrigen kann, die Ergebnisse der 
Psychoanalyse über das Seelenleben der Kinder voll bestätigen muß. 

E. Hitschmann 

Eduard Hitschmann zum ÖO. Geburtstag 

(28. Juli i 31 

In diesem Jahre haben drei ärztliche Mitglieder der Wiener Gruppe der 
I. P. V. das siebente Jahrzehnt ihres Lebens erreicht. Alle drei, Friedjung, 
Hitschmann und Federn, waren seit der Mittelschule Jahrgangskollegen 













































Korrespondenzblatt 


421 


und Freunde, so daß Interesse und Begeisterung des einen auch die beiden 
andern beeinflußte. Dieser Anhängerschaft ist eine gewisse lokale Bedeutung 
zugekommen, weil die drei als gut ausgebildet und in der Praxis bereits 
erfolgreich bei den Ärzten einen guten Ruf genossen. Der wissenschaftliche 
Kreis von Dozenten und Kandidaten für die Dozentur, in dem sie verkehrten, 
konnte wohl spötteln. Es gab ihm doch zu denken, daß drei so brav-natur¬ 
wissenschaftlich geschulte Männer sich einer angeblich so unexakten, ja 
phantastischen Methode wie der Psychoanalyse zuwendeten. 

Vor allem wunderten sie sich über Hitschmann, diesem Muster an 
Ordnung und Exaktheit, in all seinem Tun und Können; denn während seiner 
Dienstzeit im Allgemeinen Krankenhause, diesem großen, klinisch-religiösen 
Ärztedorfe inmitten Wiens, hatte er sich einen Ruf als Diagnostiker erworben, 
dem das Alltägliche wie selbstverständlich gelang und die Ausnahmsfälle nie 
entgingen. Dies und sein Witz, von dem manche Schöpfungen anonymes 
Allgemeingut wurden, haben ihn mit Recht populär gemacht. Nur die ihm 
Nahestehenden kannten auch seine künstlerische Begabung und seine philo¬ 
sophische und literarische Bildung. So gab er zugunsten der Psychoanalyse ein 
wohlbestelltes Arbeitsfeld auf, oder vielmehr er mußte es neu bestellen. 

Anfangs fiel ihm das schwer. Er hatte sich trainiert, recht logisch und 
bewußt zu arbeiten, und sollte nun neuerdings Eindrücke sammeln und gar 
sich ganz auf sein Unbewußtes verlassen. Oft wird behauptet, die große 
Diagnostik sei so wie die Neuentdeckung Sache der Divination, d. h. des 
telepathischen Miterlebens mit dem zu erkennenden Objekte. Nach den 
Mitteilungen der paar exzeptionellen Diagnostiker, die ich kannte, und danach, 
was ich an ihrem Arbeiten als charakteristisch bemerkte, bedarf es nicht 
solcher halbmystischer Fähigkeit. Allen großen Diagnostikern gemeinsam ist 
die Schärfe, Präzision und gleichbeibende Verläßlichkeit aller Sinnesorgane ; 
dazu kommt deren feine Empfindlichkeit bei großer Ausdauer und großer 
Ausdehnung des Reizgebietes; bei Diagnostikern habe ich nie kompensierte 
Minderwertigkeit gesehen, immer ein Plus an Sinnesbegabung und Überbau. 
Weil die Aufnahme so mühelos geschieht, nehmen sie ständig alle sich bietenden 
Eindrücke auf; das reibungslos Aufgenommene wird mit seltener Treue und 
guter Sonderung im Gedächtnis gewahrt (ich habe N e u s s e r noch vor der 
erreichten Professur einmal zugehört, als er sagte : „Das ist so wie der Fall 
vor sechs Jahren im Saale N auf Bett soundso“, und dann stellte er in Analogie 
die Diagnose, die er in allen Details sodann erörterte); aus den automatisch 
richtig gespeicherten und rubrizierten Bildern wird das mit dem vorliegenden 
ähnlichste automatisch in das Bewußtsein gehoben. Ermöglicht wird aber 
dieses präzise Speichern und Rubrizieren durch die kunstgerecht geübte, 
ziselierende Logik der absichtlich geübten Differentialdiagnostik; vice versa 
gibt es erst das Material für das Üben solcher Denkpräzision. Dank den 
lebhaften Vorstellungen des Krankenmaterials lesen diese Art Köpfe Kranken¬ 
geschichten, Monographien und selbst Lehrbücher, wie wenn sie die Kranken 
selbst und das Innere ihres Körpers ständig vor sich hätten. Sie alle sind mit 
Liebe und Hingebung Ärzte, weil all ihr Arbeiten dabei von der Freude des 
Erfolgs und von der Organlust der richtigen Funktion begleitet ist; sie haben 
ihre Berufswahl aus richtigen Gründen der eigenen Begabung getroffen und 
nicht aus Übertragungs- oder Identifizierungsmotiven. 







422 


Korr es pondenzblatt 


Dies führt uns zur Psychoanalyse: Solch ein Präzisionsmechanismus der 
Sinne und des Verstandes darf nicht neurotisch oder sonst libidinös gestört 
sein, sonst bringt er nur ein launenhaftes, vom Privatschicksal abhängiges 
periodisch richtiges Funktionieren zustande. Man kann in der Richtung der 
Libidoökonomie die conditio sine qua non für die diagnostische Perfektion 
dahin definieren, daß narzißtische und objektlibidinöse Besetzungen völlig 
geradezu exakt, getrennt sein müssen, soweit die Berufstätigkeit in Frage 
kommt. Z. B. darf der auf seine Kunst noch so Eitle in ihrer Ausübung g ar 
nicht eitel sein. Der narzißtisch Eingestellte wäre nicht zum richtigen 
Aufnehmen des Materials geeignet, geschweige zur guten Verwendung 
Hitschmann war also, wie wir damals sagten, Reinkultur solcher 
Fähigkeit und Fertigkeit und hatte sie zu fehlerloser Präsizion entwickelt. 
Als Arzt wurde er Psychoanalytiker und ist Arzt und Psychoanalytiker 
geblieben. Das ist seine Stärke und entschuldigt auch seine Schwäche, auch 
die in seinem Verhalten gegenüber der Laienanalyse, deren Notwendigkeit 
ihm erst spät klar wurde. Sein seit den Knabenjahren reges psychologisches 
Interesse hatte ihn auch im ärztlichen Tun stets das Schicksal der Kranken 
und der Ärzte mitbeachten lassen. Die Neurosen zogen ihn an, und da hat 
die klinische Medizin ihm nichts geboten. Zu diesem Gebiete fand er die 
richtigen Zugänge durch die Psychoanalyse, und vielleicht noch mehr wurde 
das lebhafteste Privatinteresse seiner Jugendjahre neu geweckt und gestillt, 
als mehr und mehr auch die Determinierung der Charaktere durch die 

Erkenntnisse Freuds verständlich wurde. Immer drängte es ihn, wie auf 
dem Gebiete der internen Medizin, das Gelernte zu rubrizieren und differential¬ 
diagnostisch zu verwenden] Theoretisch gab er unserm Meister recht, daß 
vorzeitiges Systematisieren unnütz ist und leicht zum Widerstande wird; 
praktisch zwang ihn Begabung und Gewohnheit immer wieder dazu. So 

stammt das erste Lehrbuch der Neurosenlehre von ihm, im Jahre 1911 kein 
geringes Wagnis und eine sehr gut gelungene Leistung. Der Fortschritt der 
Psychoanalyse war aber zu rasch, um schon eine Systemisierung zu gestatten. 
Seit 1913 ist keine neue Auflage erschienen; jeder gewissenhafte Autor muß 
eben warten, bis er genug Erfahrungen und Eindrücke selbst gewinnen konnte, 
um sie aus eigener Fülle wiederzugeben. Was noch undurchsichtig ist, vermeidet 
dieser so klare Kopf; das ihm klar Gewordene stellte er aber in zahlreichen 
lesenswerten Arbeiten dar. Seine Stärke ist das Finden und Belegen bestimmter 
typischer Zusammenhänge zwischen Konstellationen und Einzelsymptom, oder 
die Zusammenstellung aller Folgen einer bestimmten Konstellation in der 

Kindheit oder eines bestimmten Symptomkomplexes. So hat er auch als 

Psychoanalytiker den Weg zur Klinik gefunden. Als Lehrer und Lehranalytiker 
hat er ihn den Jüngeren gewiesen. Darüber verlor er aber nie sein Interesse 
für Literatur und Dichter; mehrere biographische Arbeiten auf Grund der 
Psychoanalyse, besonders die über Keller und Knut Hamsun, bringen übersehene 
Zusammenhänge zur Evidenz. Die Tendenz und den Wert dieser Arbeitsrichtung 
vertrat er in seinem Vortrage über „Pathographie und Psychoanalyse“. 

Als Arzt, Psychoanalytiker und Neurologe war Hitschmann dazu berufen 
und wurde dazu gewählt, das Psychoanalytische Ambulatorium zu leiten. 
Inmitten einer, lange Zeit feindlich gesinnten, ärztlichen Umwelt war die 
Verläßlichkeit der Diagnosen für den Ruf des Instituts primäre Notwendigkeit. 


































K orrespondenzblatt 


423 


r 


Sie ist aber auch die Vorbedingung für die richtige Indikation und Auswahl 
der Falle. Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung dankt ihrem geschätzten 
Ausschußmitglied und Ambulatoriumsleiter für die von ihm geleistete Hilfe 
und Arbeit und wünscht ihm weitere erfolgreiche Wirksamkeit, die auch 
ihm, dem nicht leicht zufrieden Gestellten, wie bisher Freude und Genugtuung 
bringen sollen. 

Paul Federn 

Dr. Paul Federn 

Der hochverdiente und allgemein verehrte Obmannstellvertreter unserer 
Wiener Vereinigung, Dr. Paul Federn, vollendete am 13. Oktober 1931 
sein sechzigstes Lebensjahr. Wir sehen auf seinen ausdrücklichen Wunsch 
von jeder ausführlicheren Würdigung ab und werden, dieser Anregung 
folgend, alle ähnlichen Anlässe von nun an in unserem Korrespondenzblatt in 
ähnlicher Weise behandeln. 

Die Redaktion 


II) Mitteilungen der Internationalen Unterrichts¬ 
kommission 

Berliner Psychoanalytisches Institut 

Im I. Quartal 1951 (Januar—März) fanden folgende Kurse statt: 

a) Vorlesungen 

1) Sandor Radö: Einführung in die Psychoanalyse, II. Teil: Allgemeine 
Neurosenlehre. 7 Stunden, Hörerzahl 62. 

2) Jenö Harnik: Trieblehre. 7 Stunden, Hörerzahl 31. 

3) Karen Horney: Indikationen und Technik der analytischen Therapie, 
II. Teil: Nur für Ausbildungskandidaten. 7 Stunden, Hörerzahl 14. 

b) Seminare , Übungen , Kolloquien 

4) Hanns Sachs: Freud-Seminar: Krankengeschichten, I. Teil: 5 Doppel¬ 
stunden, Hörerzahl 34. 

5) Otto Fenichel: Freud-Seminar: Theoretische Schriften, II. Teil: 
7 Doppelstunden, Hörerzahl 21. 

6) Siegfried Bernfeld: Seminar: Praktische Fragen der psychoanaly¬ 
tischen Pädagogik. Für Vorgeschrittene. Hörerzahl 24. 

7) Boehm, Harnik, Simmel: Technisches Seminar. Nur für Aus¬ 
bildungskandidaten. 

8) E i t i n g o n u. a.: Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen). 
Nur für Ausbildungskandidaten. 

9) Sandor Radö: Referatenabende (Kolloquium über Neuerscheinungen 
der Psychoanalyse und ihrer Grenzgebiete). 4 Doppelstunden, 31 Teilnehmer. 











424 


Korrespondenzblatt 


c) Arbeitsgemeinschaften 

10) Klinische Studiengemeinschaft (Sandor Rad 6). 

11) Pädagogische Arbeitsgemeinschaft (M üller-Braunschweig, 
B e r n f e 1 d). 

12) Kriminalistische Arbeitsgemeinschaft (Staub, Simmel). 

* 

Im II. Quartal 1931 (April—Juni) fanden folgende Kurse statt: 


a) Vorlesungen 

1) Otto Fenichel: Spezielle Neurosenlehre, I. Teil: Übertragungs¬ 
neurosen und Verwandtes. 7 Stunden, Hörerzahl 33. 

2) Hanns Sachs: Lustgewinn als ästhetisches Problem. 4 Stunden, 
Hörerzahl 46. 

3) Sandor Radö: Verstimmungs- und Rauschzustände in der Neurose und 
in der Sucht. 4 Stunden, Hörerzahl 39. 

4) Wilhelm Reich (a. G.): Triebpsychologie und Charakterlehre. 
4 Stunden, Hörerzahl 46. 

5) Karen Horney: Einige Probleme der weiblichen Psychologie. 
4 Stunden, Hörerzahl 48. 


b) Seminare , Übungen , Kolloquien 

6) Carl Müller-Braunsch w e i g: Freud-Seminar: Krankengeschichten, 
II. Teil. 4 Doppelstunden, Hörerzahl 17. 

7) Jenö Härnik: Freud-Seminar: Schriften zur Technik. 5 Doppel¬ 
stunden, Hörerzahl 8. 

8) Siegfried Bernfeld: Seminar: Praktische Fragen der psychoanaly¬ 
tischen Pädagogik. Für Vorgeschrittene. 7 Stunden. 

9) Boehm, Härnik: Technisches Seminar. Nur für Ausbildungs¬ 
kandidaten. 

10) E i t i n g o n u. a.: Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen). 
Nur für Ausbildungskandidaten. 

11) Ernst Simmel: Probleme klinisch-psychoanalytischer Therapie (Indi¬ 
kation, Prognose, Modifikationen der Methodik). Für ausübende Analytiker. 

12) Sandor Radö: Referentenabende (Kolloquium über Neuerscheinungen 
der Psychoanalyse und ihrer Grenzgebiete). 2 Doppelstunden, 21 Teilnehmer. 


c) Arbeitsgemeinschaften 

13) Klinische Studiengemeinschaft (Sandor Radö). 

14) Pädagogische Arbeitsgemeinschaft (Müller-Braunschweig, 
B e r n f e 1 d). 

15) Kriminalistische Arbeitsgemeinschaft (Staub, Simmel). 






































Korrespondenzblatt 


425 


Lehrinstitut der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung, 

Budapest 

l m Winterquartal (Januar—März) 1931 wurden folgende Seminare abgehalten: 

1) Frau Vilma Kovacs: Technisches Seminar. Nur für Ausbildungs¬ 
kandidaten. 6 Stunden, 8 Teilnehmer. 

2) Frau Dr. Margit Dubovitz: Kinderanalytisches Seminar. Nur für 
Praktiker. 6 Stunden, 4 Teilnehmer. 


Nederlandsch Instituut voor Psychoanalyse, Haag 

Im Frühjahr 1931 veranstaltete der Unterrichtsausschuß im „ Spinozahuis “ 
(Paviljoensgracht 72/74, Haag) nachfolgende Kurse: 

1) Besprechungen über die psychoanalytische Therapie. Nur für Mitglieder 
der Vereinigung und der „Leidsche Vereeniging voor Psychoanalyse en Psycho¬ 
pathologie". Laufend 14tägig. Leiter: J. H. W. van Ophuijsen. 

2) Dr. H. C. Jelgersma: Psychoanalyse der Dementia senilis. Nur für 
Ärzte. 2 Stunden. 

3) J. H. W. van Ophuijsen: Suggestion und Hypnose in der allge¬ 
meinen Praxis. Nur für Ärzte. 5 Stunden. 

4) J. H. W. van Ophuijsen: Psychoanalyse des Traumes. 6 Stunden. 

5) Dr. F. P. Müller: Psychoanalyse der Neurosen. 6 Stunden. 

6) Dr. A. J. Westerman Holstijn: Psychoanalyse von Beeinträch- 
tigungs- und Verfolgungswahn. 5 Stunden 

7) J. H. W. van Ophuijsen: Psychoanalytische Betrachtungen über das 
schwererziehbare Kind. 5 Stunden. 


Institute of Psycho-Analysis, London 

Im I. Quartal 1931 fanden folgende Kurse statt: 

Dr. Sylvia Payne: Die Theorie der Neurosen. Sechsstündig. Für Aus¬ 
bildungskandidaten. 

Dr. Jones, Miß Searl, Miß Sharpe: Seminarien zur Technik der 
Psychoanalyse. 

Dr. E. G 1 o v e r : Seminar über psychoanalytische Theorie. 

Lehrtätigkeit der New York Psychoanalytic Society 

Die Vereinigung ist erfreulicherweise im Begriff, ein Heim für das neu¬ 
zugründende psychoanalytische Institut zu suchen und das Institut zu organi¬ 
sieren. Das Komitee, das mit der Ausarbeitung der Pläne für das Institut 
betraut ist, befindet sich in voller Tätigkeit. 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 2 g 












426 


Korrespondenzblatt 


Im ersten Quartal wurden zwei Kurse für Mitglieder und Kandidaten 
abgehalten: 

a) Seminar über Krankengeschichten, abwechselnd geleitet von Dr. Feigen¬ 
baum und Dr. Zilb oorg. Zweimal wöchentlich. 

b) Referate über Freuds klinische Schriften, abwechselnd geleitet von 
Dr. Lewin und Dr. Meyer. Zweimal wöchentlich. 

Die Vereinigung schätzte sich glücklich, drei Vorlesungen von Dr. Röheim 
über seine Erfahrungen in Zentralaustralien und Melanesien veranstalten 
zu können. 


Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 

Veranstaltungen im Sommersemester 1951: 
a) Seminare : 

Dr. E. Hitschmann: Seminar für psychoanalytische Therapie (am 
Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung). 

Dr. P. Federn: Seminar zur Lektüre Freudscher Schriften. (Für Anfänger.) 

Dr. H. Nunberg: Seminar über ausgewählte Themen aus der Psycho¬ 
analyse. (Für Fortgeschrittene.) 

Anna Freud: Seminar für Technik der Kinderanalyse. (Für ausübende 
Kinderanalytiker.) 

b) Arbeitsgemeinschaften: 

Dr. Helene Deutsch: Praktisch-therapeutische Übungen für ausübende 
Analytiker (Kontrollseminar). 

Dr. E. Bibring: Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytische Charakterologie. 
(Für ausübende Analytiker.) 

Dr. Ruth Mack Brunswick: Arbeitsgemeinschaft für Psychosenforschung. 

c) Pädagogie : 

A. Aichhorn: Praktikum in Horten, Tagesheimstätten und Kinder¬ 
heimen mit Besprechung der sich ergebenden Schwierigkeiten. 

Dr. W. H o f f e r : Seminar für Pädagogen. 

Dr. Editha S t e r b a: Mitteilungen aus der psychoanalytischen Erziehungs¬ 
beratung. 


III) Berichte der Zweigvereinigungen 

The American Psycho-Analytical Association 

Die 26. Jahresversammlung der American Psycho-Analytical Association 
wurde am 4. und 5. Juni in Toronto, Canada, The Royal York Hotel, 
abgehalten. 




























































Korrespondenzblatt 


427 


4 - Juni: Der Präsident, Dr. A. A. Brill, führte den Vorsitz. Das Protokoll 
der letzten Jahresversammlung und der Bericht des Kassiers wurden verlesen 
und zur Kenntnis genommen. Dr. R. H. Hutchings gab den Bericht des 
Vorstands und machte verschiedene Vorschläge. Dr. Ernest Jones wurde in 
Anerkennung seiner Bemühungen für die Organisation der American Psycho- 
Analytical Association und seiner Verdienste auf dem Gebiete der Psycho¬ 
analyse zum Ehrenmitglied gewählt. Zu Mitgliedern wurden gewählt: Dr. Leo 
Bartemeier, Detroit, Dr. Thomas M. French, White Plains, N. Y., Dr. Lewis 
B. Hill, Baltimore, Dr. David Levy, New York City, Dr. Eleanora Saunders, 
The Sheppard and Enoch Pratt Hospital, Towson, Maryland, und Dr. Stewart 
Sniffen, New York City. Zum außerordentlichen Mitglied wurde gewählt: 
Professor Harold D. Laßwell, University of Chicago. Aus der Mitgliederliste 
wurde gestrichen: Dr. John Holland Cassity. Zu Funktionären für das 
kommende Jahr wurden gewählt: A. A. Brill, Präsident; Smith Ely Jelliffe, 
Vizepräsident; Ernest E. Hadley, Sekretär und Kassier; Harry Stack Sullivan 
als Vorstandsmitglied für drei Jahre. 

Wissenschaftliches Programm: 

1) Dr. Gregory Stragnell: Über die Vorstellungen betreffs Zeit, Raum 
und Energie. 

2) Dr. Paul Schilder: Bemerkungen zur Psychoanalyse der psychogenen 
Depression und der Melancholie. 

5. Juni: In der gemeinsamen Sitzung mit der American Psychiatric 
Association übernahm Dr. AValter M. English den Vorsitz. 

Wissenschaftliches Programm: 

x) Dr. A. A. Brill: Abraham Lincolns Humor. 

2) Dr. C. P. Oberndorf: Psychoanalyse von Ehepaaren. 

5) Dr. Harry Stack Sullivan: Die modifiziert-psychoanalytische 
Behandlung der Schizophrenie. 

4) Dr. Clinton P. McCord: Der Stand der Kinderanalyse in Amerika. Ihre 
Bedeutung für den Psychiater. 

Die Zuhörerschaft war trotz der vorhergegangenen vier Sitzungstage der 
American Psychiatric Association ungewöhnlich groß. Ein nicht der Vereinigung 
angehöriger Zuhörer legte vor Beginn der Versammlung gegen den . Vortrag 
Dr. Brills über Abraham Lincoln Verwahrung ein. Der Zwischenfall wurde 
von den Zeitungen überall als Sensation aufgegriffen. Der Vorstand beschränkte 
sich aber darauf, den Protest formell zur Kenntnis zu nehmen, und ließ den 
Vortrag unverändert abhalten, wobei sich zeigte, daß die Arbeit nicht nur 
eine ausgezeichnete psychiatrische Studie, sondern auch eine volle Würdigung 
des großen amerikanischen Emanzipators bedeutete. 

Ernest Hadley 

Sekretär 


British Psydio-Analytical Society 

II. Quartal 1931 

30. April. Barbara Low: „Gegenwärtige psychoanalytische Tätigkeit in 
Deutschland.“ Miß Low berichtet über ihren Aufenthalt in Berlin und 
beschreibt die wissenschaftliche und praktische Tätigkeit der Berliner Vereinigung, 












428 


Korrespondenzblatt 


besonders die Organisation des Lehrinstitutes und die spezielle öffentliche 
Betätigung verschiedener Mitglieder. Sie schließt mit einem Ausblick auf 
die soziologische und pädagogische Seite der psychoanalytischen Arbeit in 
Deutschland. 

6. Mai. Symposium über „Die akuten Anlässe bei neurotischen Störungen.“ 

a) Eröffnung der Diskussion durch Mr. Strachey mit einem kurzen 
Referat über die historische Entwicklung der diesbezüglichen Ansichten Freuds. 

b) Miß Chadwick: Als Krankheitsanlaß kommt nur das Zusammen¬ 
wirken innerer und äußerer Faktoren in Betracht. Die inneren sind die vom 
Es einerseits, vom Über-Ich andrerseits ausgehenden Ansprüche, denen das 
Individuum nicht gewachsen ist, sei es infolge genuiner, sei es infolge durch 
Verdrängung in die Höhe getriebener besonderer Triebstärke; die äußeren 
sind allgemeine kulturelle Forderungen oder spezielle der zufälligen Umwelt, 
eventuell selbst aus unbewußten Triebbedürfnissen von Personen dieser Umwelt 
gestellt. — Wechsel in der Symptombildung, der den Eindruck eines plötzlichen 
Ausbruchs von Neurose erweckt, kann durch plötzliche unerträgliche Entziehung 
einer Triebbefriedigung hervorgerufen werden, wenn sie durch keine Ersatz¬ 
befriedigung wettgemacht werden kann oder die ursprüngliche Befriedigung 
besonders hartnäckig wieder verlangt wird. 

c) Dr. C ulpin: Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Symptom¬ 
neurosen und einem Zusammenbruch mit Arbeitsunfähigkeit. Forschungen an 
Personen, die in Berufstätigkeit stehen, haben schon bei oberflächlicher 
Beobachtung gezeigt, daß weniger als die Hälfte der Bevölkerung symptomfrei 
ist. Im Krieg wie auch in den Industriebetrieben (bei Bergleuten, Tauchern, 
Telegraphisten usw.) läßt sich das Auftreten von Arbeitsunfähigkeit als die 
Folge einer umgekehrten Verhältnisreihe zwischen Disposition und Druck 
von der Außenwelt her nach weisen. Wenn ein Symptom Raum finden kann, 
ohne die Genußfähigkeit und Arbeitsfähigkeit zu stören (wie etwa bei einem 
Wissenschaftler ein krankhafter Drang nach Genauigkeit und immer wieder¬ 
holter Nachprüfung), dann braucht keine Arbeitsunfähigkeit aufzutreten; bei 
einem Telegraphisten etwa würde die gleiche Tendenz unbedingt zu einem 
Schreibkrampf führen. In sogenannt „traumatischen“ Fällen fand Referent 
häufig Verdrängung des unlustvollen Erlebnisses und konnte die alte Methode 
der Katharsis anwenden. Wenn ein sexuelles Trauma den sofortigen Ausbruch 
einer Neurose herbeiführt, ergibt oft schon die oberflächliche Befragung 
Material von tiefer Bedeutung; im Fall eines Telegraphisten, bei dem ein 
Schreibkrampf wenige Stunden nach einem grobsexuellen Erlebnis auftrat, lag 
die symbolische Bedeutung auf der Hand, und bei jedem derartigen Krampf 
zeigte die Analyse eine tiefgehende Bedeutung des spezifischen Symptoms. 
Viele plötzlich entstandene Neurosen konnten durch Behandlung sistiert 
werden, die wenigsten Patienten haben aber das Glück, in eine solche 
Behandlung zu gelangen. Die Unwissenheit der Ärzte, die sich mit diagnostischen 
Phrasen, wie etwa „traumatische Neurasthenie“, begnügen, dient nur dazu, 
den Zustand der Patienten zu verschlechtern. 

d) Frau Klein: Die äußeren Faktoren, die die Neurose herbeiführen, 
sowohl die allgemein disponierenden Einflüsse als auch die eigentlichen 
auslösenden Momente, erhalten ihre Bedeutung durch ihr Verhältnis zu den 
frühesten und wichtigsten Angstsituationen des kleinen Kindes und den sie 











































Korrespondenzblatt 


429 



begleitenden Phantasien; diese Angstsituationen selber sind konstitutionell 
bedingt, vor allem durch die destruktiven Komponenten der an die einzelnen 
erogenen Zonen gebundenen Partialtriebe. Zwei Fälle zur Erläuterung. (1) Ein 
vierjähriger Knabe, a) der nicht an der Brust genährt worden war, wodurch 
seine oralen und urethralen sadistischen Tendenzen gesteigert wurden, ohne 
daß eine helfende Mutterimago entstand, und der b) von seinem älteren 
Bruder zur Fellation gezwungen wurde, wobei seine Angst vor dem sadistischen 
Penis Bestätigung fand. Dieses waren die disponierenden Faktoren. Auslösende 
Ursache war der erste Schulgang, bei dem die Anwesenheit einer Menge 
Knaben die tiefste Angst vor dem gefährlichen Penis zur Äußerung brachte. 
(2) Ein Mann, dessen Neurose nach Überwindung einer Dysenterie ausbrach, 
während der er von der Pflegerin vernachlässigt und grausam behandelt 
worden war; vorhergegangen war eine lange Kriegsdienstleistung im vordersten 
Schützengraben. Die Dysenterie bedeutete ihm die Bestätigung seiner Angst 
vor dem verinnerlichten Penis (Urin und Fäzes), die durch die Erlebnisse 
im Schützengraben schon angerührt worden war; und die Unfreundlichkeit 
der Pflegerin wiederholte frühe Versagungen an der Mutterbrust, reaktivierte 
also seine „böse“ Mutterimago. 

e) Miß Sharp e: Bei Erwachsenen, bei denen eine plötzliche Verschlimmerung 
im klinischen Bild ein trat, ließ sich eine Beziehung zwischen psychischen 
Faktoren und speziellen Umweltsfaktoren vor oder während des Zusammenbruchs 
hersteilen. Bei einigen Fällen glich die Umweltssituation zur kritischen Zeit 
in spezifischer Weise einer Situation der frühen Kindheit. — Die „Es“wünsche 
finden sich in allen Fällen. Der quantitative Faktor in der endopsychischen 
Situation ist unberechenbar und individuell. Die Umwelt, in der und auf die 
diese unberechenbare endopsychische Situation einwirkt, ist eine spezifische. 
Wenn die Umwelt anders ist und sich psychische Schwierigkeiten aus 
Eswünschen ergeben, so wären die unberechenbaren quantitativen Faktoren 
vielleicht nicht weniger schwierig, aber doch andere. Die Verschiedenheiten, 
welche die Individualität ausmachen, lassen sich aus der Korrelation zwischen 
diesen endopsychischen Faktoren und der individuellen Umwelt verstehen. 
Am schwersten haben es in der Analyse diejenigen Individuen, deren Trieb¬ 
spannung in den frühesten Jahren durch ungünstige Umweltseinflüsse erhöht 
wurde. 

f) Dr. I n m a n: In der ophthalmologischen Praxis findet man als die 
häufigste auslösende Ursache von Neurosen den tatsächlichen oder drohenden 
Verlust eines geliebten oder gehaßten Objektes Der Einfluß dieses Verlustes 
muß sich nicht sofort geltend machen. Jahrestage oder ähnliche Erinnerungen 
an gefühlsmäßig betonte Daten, besonders solche, die sich auf wichtige 
biologische Vorgänge, wie Geburt, Heirat und Tod beziehen, sind besonders 
geeignet, Anlaß zum Ausbruch von Symptomen zu bieten. Man bekommt hier 
einen Hinweis darauf, daß in der Deutung das Zeitelement eine Rolle spielt, 
wie Freud im „Jenseits des Lustprinzips u erwähnt. 

20. Mai. Kleine Mitteilungen, a) Dr. Payne: „Angstäußerungen in 
Verbindung mit dem weiblichen Kastrationskomplex und verwandten narzi߬ 
tischen Gefahrsituationen.“ Schwangerschaft kann solche Angstanfälle verstärken 
oder mildern, je nach der mit der Konzeption verbundenen unbewußten 
Phantasie. 














430 


Korrespondenzblatt 


b) Dr. Glover: „Therapeutische Wirkung trotz unexakter Deutung.“ 
Diskussion der Mechanismen, durch die möglicherweise therapeutische Resultate 
in der Analyse auch zustande kommen, wenn eine spezifische Phantasienreihe 
verdrängt bleibt. Eine Theorie, daß durch inkorrekte Deutung eine Ersatz¬ 
bildung zustande kommt, i. e. eine „ ego-syntonic phobia,“; Einschätzung der 
pseudo-analytischen Suggestion auf dieser Basis. Pseudo-analytische Suggestion 
(ego syntonic hysteria) verglichen mit reiner Suggestion, durch die ein „ego- 
syntonic“ zwangsneurotisches System zustande kommt. 

3. Juni. Dr. Schmideberg: „Die Psychologie von wahnhaften Verfolgungs¬ 
ideen.“ (Erscheint im Journal.) 

17. Juni. Miß Chadwick: „Bemerkungen über die psychische Bedeutung 
der Menstruation.“ Historischer Überblick; Tabus, Aberglauben, frühe medizi¬ 
nische Beobachtungen, astronomische Theorien und besonders die Beziehung 
zur Zauberei. Der menstruelle Zyklus in der Kindheit a) vom Standpunkt 
der Symptomatologie, b) das früheste Datum des Verständnisses für den 
menstruellen Vorgang, c) Wirkung der Pubertät. Die Rolle der Menstruation 
in den psychischen Störungen junger weiblicher Personen und bei den 
Störungen vor und während des Klimakteriums. 

Edward Glover 
wissenschaftlicher Sekretär 


Generalversammlung 


8. Juli. Die Berichte des wissenschaftlichen und geschäftlichen Sekretärs 
werden vorgelegt und zur Kenntnis genommen, ebenso der Kassenbericht. 
Die Funktionäre für das kommende Vereinsjahr werden wie folgt gewählt: 
Vorstand: Dr. Ernest Jones, Präsident; Dr. Edward Glover, wissenschaftlicher 
Sekretär; Dr. Sylvia Payne, geschäftlicher Sekretär; Dr. Douglas Bryan, Kassier; 
Dr. Eder, Mrs. Riviere, Dr. Stoddart, Vorstandsmitglieder. Bibliothekarin: 
Miß Barbara Low; Lehrkomitee: Dr. Glover, Dr. Jones, Mrs. Klein, Dr. Payne, 
Mrs. Riviere, Miß Sharpe. Es wird beschlossen, daß das Library-Sub-Committee 
von nun an aus vier, statt aus drei Mitgliedern bestehen soll: Miß Chadwick, 
Miß Low, Dr. Stoddart, Mr. Strachey. 

Die vom Vorstand ernannten außerordentlichen Mitglieder werden wieder¬ 
gewählt. Dr. Fairbairn wird zum neuen außerordentlichen Mitglied gewählt. 

Die a. o. Mitglieder Dr. Franklin und Dr. Karin Stephen werden zu 
ordentlichen Mitgliedern gewählt. 

Der Bibliotheksfonds erhält vom Fonds der Vereinigung eine Spende von 
60 Pfund. 

S. M. Payne 

geschäftlicher Sekretär 


Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 

11. Quartal 1931 

18. April 1931. Dr. Eitingon widmet dem frühzeitig verstorbenen 
Kollegen Dr. Liebermann einen warmen Nachruf. 

Vortrag Dr. Haas: Zur Behandlung von Schizophrenien, — Diskussion: 
Reich, Fenichel, Simmel, Rado, Schultz-Hencke, Boehm, Vowinckel. 



































Korrespondenzblatt 


431 


25., 24., 25. und 27. April 1931. Dr. Roh ei m berichtet über die 
Resultate seiner Forschungsreise in die Südsee und in das Innere von 
Australien, 

28. April 1931. Dr. Eitingon verliest ein Kondolenzschreiben der 
Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft zum Tode von Dr. Liebermann. 

Dr. Sachs gratuliert Dr. Müller-Braunschweig zu seinem 
50. Geburtstag. 

Dr. Bernfeld referiert über den Psychologenkongreß in Hamburg. 

Vortrag Dr. Schultz-Hencke: Zur Frage der unbewußten Fixierung. 
— Diskussion: Fenichel, Bernfeld, Radö, Müller-Braunschweig. 

5. Mai 1931. Dr. Sachs gibt eine kurze Würdigung von Freuds 
Schaffen zu seinem 75. Geburtstag. — Dr. Reik verliest einen Aufsatz: 
Nachdenkliche Gratulation zum 75. Geburtstag Prof. Sigm. Freuds am 
6. Mai 1931. 

Vortrag Dr. Simmel: Über Zwang und Kriminalität; ein Beitrag zur 
Psychologie des Lustmordes. 

19. Mai 1931. Dr. Sachs berichtet über seinen Aufenthalt in Wien aus 
Anlaß des 75. Geburtstages von Prof. Freud. — Dr. Lampl berichtet 
über die Sitzung des Wiener „Akademischen Vereins für medizinische Psycho¬ 
logie“ aus diesem Anlaß. — Dr. Simmel berichtet über den Kongreß 
der ärztlichen psychotherapeutischen Gesellschaft in Dresden. 

Kleine Mitteilungen: Dr. Liebeck-Kirschner: a) Über eine Kinder¬ 
beobachtung. Diskussion : Sachs, Boehm, Lantos, Kempner, Fenichel, Vowinckel, 
Jacobssohn; b) Sextanerzeichnungen zum Thema „Angsttraum“. — Diskussion: 
Radö, Reich, Bernfeld, Frl. Pinkus (a. G.). — Boehm: Über eine Perversion 
(Fetischismus). — Diskussion: Sachs, Fenichel, Groß. 

9. Juni 1931. Vortrag Miß Grant Duff: Elisabeth und Essex. — 
Diskussion: Benedek, Härnik, Spitz, Sachs. 

16. Juni 1931. Vortrag Dr. Boehm: Über einen Fall von chronischem 
Alkoholismus. — Diskussion: Reich, Simmel, Schultz-Hencke, Radö, Sachs, 
Horney, Groß, Fenichel. 

27. Juni 1931. Außerordentliche Generalversammlung. — Vor der Tages¬ 
ordnung begrüßt Dr. Simmel im Namen der Gesellschaft Dr. Eitingon 
anläßlich seines 50. Geburtstages. — Dr. Boehm wird zu seinem 50. Ge- 
burstage telegraphisch gratuliert. — Da Dr. Boehm abwesend ist, wird 
beschlossen, Dr. Radö mit der Führung des Protokolls der Generalversammlung 
zu beauftragen. 

Dr. Radö legt im Namen des Redaktionskomitees den vom Vorstand 
genehmigten Entwurf der neuen Statuten vor. Paragraph 13 des Entwurfes 
wird gestrichen; im übrigen wird der Entwurf unverändert und einstimmig 
angenommen. 

Es wird beschlossen, den im abgelehnten Paragraphen 13 des Entwurfes 
behandelten Gegenstand in der Geschäftsordnung zu regeln. Die Regelung in 
der Geschäftsordnung soll dem Sinne nach vollkommen dem Inhalt des 
abgelehnten Paragraphen 13 entsprechen, aber in Form von Vorschriften 
erfolgen, die den einschlägigen behördlichen Bestimmungen angepaßt sind. 

Der von Dr. Eitingon erstattete Bericht des Unterrichtsausschusses 
wird einstimmig angenommen. 







432 


Korrespondenzblatt 


Auf Antrag des Vorstandes werden einstimmig folgende Übergangs 
bestimmungen zu den neuen Statuten beschlossen: 

1) Der jetzige Vorstand und alle anderen Funktionäre bleiben bis zur 
nächsten Generalversammlung im Amt. 

2) Die nächste Generalversammlung findet im Oktober 1932 statt. 

3) Im Januar 1932 wird eine Nachzahlung zum diesjährigen Mitglieds¬ 
beitrag zu entrichten sein. Diese Nachzahlung umfaßt a) den Beitrag für die 
„Internationale Psychoanalytische Vereinigung“ und b) den Bezugspreis fü r 
die „Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse“ und für die „Imago“. 

Dr. Felix Boehm 
Schriftführer 

Tätigkeitsbericht der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Psychoanalytischen 
Gesellschaft, 1930, I—IV. Quartal 

Die Arbeitsgemeinschaft (AG) hielt in diesem Jahr wöchentlich eine 
Sitzung ab (ausgenommen die Sommermonate Juli und August). Diese 
Sitzungen waren teils Kolloquien und dienten dazu, einigen der Teilnehmer 
die Kontrolle der von ihnen geführten Analysen zu ersetzen; teils waren sie 
der Diskussion theoretischer Probleme gewidmet. Zu den Kolloquien waren 
keine Gäste eingeladen; da monatlich mindestens zwei solche Sitzungen statt¬ 
finden, geben sie Gelegenheit, über einige Analysen fortlaufend zu berichten. 
Zu den Sitzungen, die theoretische Themata behandelten, waren nur solche 
Gäste eingeladen, die sich schon mehrere Semester intensiv mit Psychoanalyse 
beschäftigt haben. Das Programm dieser Sitzungen war: 

1) Metapsychologisches Seminar (das wir noch im Jahre 1929 begonnen 
hatten); 

2) Diskussion der Neuerscheinungen über analytische Technik; 

3) Theorie und Technik der Kinderanalyse, deren Diskussion zu den 
Problemen der Angst und Sublimierung hinüberleitete. 

Unser noch immer kleiner Kreis lädt ferner von Zeit zu Zeit einige 
Interessenten der Psychoanalyse ein und bietet ihnen den Vortrag eines 
Berliner Kollegen. Im Jahre 1930 sprachen: 

am 15. Februar Fenichel: Über Hemmungen; 

am 8. März Alexander: Ein krimineller Fall in psychoanalytischer 
Betrachtung; 

am 5. April Boehm: Der Weiblichkeitskomplex des Mannes; 

am 3. September Reik: Über Indizienbeweise; 

am 3. Dezember Härnik: Sexualentwicklung eines Mädchens, dargestellt 
an der Hand von in der Erwachsenenanalyse gedeuteten Kindheitsträumen. 

Die Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft haben im Jahre 1930 außerhalb 
der AG folgende Referate über psychoanalytische Themata gehalten : 

Frau Dr. Therese B e n e d e k referierte über das „Unbehagen in der Kultur“ 
im Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig auf Ein¬ 
ladung von Prof. Sigerist. 

Herr E k m a n hielt folgende Vorträge : 

25. Oktober, Vortrag über „Psychoanalyse“ im Bildungsbund der Arbeiter 
in Göteborg. 




































Korrespondenzblatt 


433 


29. Oktober, Öffentlicher Vortrag über „Psychoanalytische Gesichtspunkte 
über Krieg und Frieden“ im Volkshaus zu Göteborg. 

31. Oktober, Vortrag über „Die allgemeinsten Mißverständnisse der 
psychoanalytischen Theorie“ im Philosophischen Verein (Vorsitz Prof. Malte 
Jacobson), Göteborg. 

Herr Ranft sprach im Institut für experimentelle Psychologie und Päd- 
agogik des Leipziger Lehrervereins; „Über Kinderangst“ (auf Grund einer 
statistischen Untersuchung an Schulkindern). Er berichtete dort auch über 
die Dresdener Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft Außer¬ 
dem leitet Herr Ranft auch eine Arbeitsgemeinschaft für Lehrer. Diese 
Arbeitsgemeinschaft behandelte in 17 Sitzungen zunächst Freuds Traum¬ 
deutung, dann führte er in die psychoanalytische Charakterlehre ein und 
besprach Fälle von Schwererziehbarkeit aus der Schulpraxis. 


T eilnehmerliste 


1) Benedek, Dr. med. Therese, Obmann, Leipzig, Brüderstraße 7, II. 

2) Ekman, Tore, Lektor für schwedische Sprache an der Universität 
Leipzig, p. A. Frau Dr. Benedek. 

3) Ranft, Herman, Lehrer, Leipzig, Holsteinstraße 15. 

4) V a u c k, Dr. med. Otto, Nervenheilanstalt Bergmannswohl, Schkeuditz 
bei Leipzig. 

5) Weigel, Dr. med. Herbert, Schriftführer, Leipzig, Philipp-Rosenthal- 
Straße 12. 

Psychoanalytisdie Bewegung in Leipzig 


Die Juristisch-Medizinische Gesellschaft hatte Th. Reik zu einem Vortrag 
„Über das Strafbedürfnis“ eingeladen, den er am 2. November 1930 hielt. 

Der Mitteldeutsche Rundfunk veranstaltete eine Vortragsreihe von sechs 
Vorträgen über Tiefenpsychologie, in deren Rahmen Ref. über Fehlleistungen 
sprach. Außerdem hatte Ref. Gelegenheit, im Mitteldeutschen Rundfunk über 
die Dresdener Tagung zu berichten. 

Prof. Carsum Chang, Professor für Philosophie in China, z. Z. Gastprofessor 
in Jena, hielt auf Einladung des deutschen Kulturbundes einen Vortrag über: 
„Chinesische Philosophie in psychoanalytischer Beleuchtung“. Im Institut für 
Geschichte der Medizin veranstaltete Prof. Sigerist zusammen mit der 
Mitteldeutschen Ortsgruppe der Gesellschaft für Psychotherapie eine Vortrags¬ 
reihe aus sechs Vorträgen über „Das Unbehagen in der Kultur“. 

In dieser Vortragsreihe nahmen Prof. Wach, Kronfeld, Jolowicz, 
K. H o r n e y und Prof. Driesch Stellung zu den verschiedenen Problemen 

dieses Werkes von Freud. r\ 1 t 

Dr. Benedek 


Magyarorszägi Pszidioanalitikai Egyesület 

II. und III. Quartal 1931 

11. April 1951- Frau Dr. Jenny Wälder-Pollak (Wien): Aus der 
Analyse eines Falles von Pa vor nocturnus. (Mit besonderen Hinweisen auf die 
angewandte Behandlungstechnik.) 









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Korrespondenzblatt 


24. April 1931. Frau Alice Balint: Referat über das Buch von Margaret 
Mead, „Coming of Age in Samoa“. Hinweise auf eine zukünftige vergleichende 
Pädagogik. 

29. Mai 1931. Dr. Geza Röheim: Psychologie einer totemistischen 
Gemeinschaft. 

5. Juni 1931. Dr. Geza Röheim: Fortsetzung des Vortrages vom 29. Mai. 

26. Juni 1931. Dr. Sändor Ferenczi: Kinderanalyse an Erwachsenen. 

Geschäftliches: 

Nach vielem Ringen mit den offiziellen Behörden wurde der Vereinigung 
die Errichtung einer Poliklinik unter dem Namen „Allgemeines Ambulatorium 
für Nerven- und Gemütskranke“ gestattet. Die Poliklinik nahm ihre Tätigkeit 
in für analytische Zwecke gut angepaßten und eingerichteten Räumlichkeiten 
(I. Meszaros u. 12) bereits auf. Die Vereinigung forderte Dr. Ferenczi zur 
Leitung der Poliklinik auf. Sein Stellvertreter wurde Dr. M. Balint. Außer 
ihnen ordinieren an der Poliklinik Dr. Hermann, Dr. Hollös, Dr. Pfeifer 
und Dr. Revesz. Als Assistent wirkt Dr. Almasy, der den größten Teil 
seiner Tätigkeit dem Institut widmet. 

Ihre Adresse haben geändert: Dr. Endre Almasy, Budapest,! Meszaros 
u. 12; Dr. Fanny Hann-Kende, Budapest, V. Zrinyi u. 14; Dr. Imre 
Hermann, Budapest, II. Filler u. 25. 

Dr. Imre Hermann 

Sekretär 


Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse 

I. und II. Quartal 1931 

24. Januar (Amsterdam). Geschäftliche Sitzung. In den Vorstand werden 
wiedergewählt: J. H. W. van Ophuijsen (Präsident), A. Endtz (Sekretär) und 
Dr. F. P. Müller (Kassier). Prof. Dr. G. Jelgersma zog sich aus dem Unter¬ 
richtsausschuß zurück, welcher um zwei Mitglieder erweitert wurde und sich 
wie folgt zusammensetzt: J. H. W. van Ophuijsen, F. P. Müller, Dr. S. Weyl, 
Dr. A. J. Westerman Holstijn und A. Endtz. 

Dr. S. Weyl: Melancholie und Selbstbestrafung. In einem Falle von 
Melancholie wird an Hand verschiedener Träume deutlich gezeigt, wie 
die Tendenz zur Selbstbestrafung eine große Rolle spielt. Die Introjektions- 
mechanismen waren von geringerer Bedeutung. 

28. Februar (Haag). J. H. W. van Ophuijsen: Psychoanalytische 
Bemerkungen zur Frauenmode. Der Vortragende versucht die Eigentümlich¬ 
keiten der Frauenmode — schneller Wechsel, rasche Nachahmung nach 
anfänglichem Widerstand, Beeinflussung der Beziehungen der Frauen zu einander, 
Wahl des Materials, Einfluß auf den Mann — zu erklären als Äußerungen 
des unbewußten narzißtischen Wunsches, sich in den Besitz des vermißten 
Phallus zu setzen. Der für die Frauenmode empfindliche Mann benimmt 
sich der modischen Kleidung gegenüber wie ein Fetischist. 

A. Endtz: Kasuistische Mitteilungen. Die heutige psychiatrische Einteilung 
in immer wechselnde, mehr oder minder willkürliche klinische Krankheits- 



































Korrespondenzblatt 


einheiten soll ersetzt werden durch eine Beschreibung der Geisteskranken 
nach der Regressionsstufe ihrer Libido im Anschluß an die Form ihrer Straf¬ 
befriedigung und an die Entwicklungsstufe ihres Wirklichkeitssinnes. Unter 
dieser Voraussetzung wird eine klinische Krankengeschichte mitgeteilt, wobei 
die Diagnose „Angsthysterie gestellt wurde, und zwar auf Grund einer genitalen 
Fixierung an die Eltern, mit Befriedigung des Strafbedürfnisses im selben Symptom, 
das die Wunschbefriedigung des Es darstellt. Der Wirklichkeitssinn war bis zur 
Projektionsphase regrediert. Äußerlich machte die Kranke klinisch den Ein¬ 
druck einer Schizophrenie, heilte aber in einigen Tagen. Die Projektion wird 
besprochen gemäß dem von Robert Wälder beschriebenen „Prinzip der 
mehrfachen Funktion“ (Int. Zeitschr. f. PsA., XVI, 1930, S. 285). Wie 
Freud es für den Wahn gezeigt hat, so erscheinen auch die Halluzinationen 
als eine verfehlte Bemühung, mit der Außenwelt wieder in Kontakt zu kommen, 
nachdem vorher ein Abzug der Libido von ihr stattgefunden hat. Auch die 
Halluzination ist also, wie Freud in seiner Analyse des Falles Schreber schon 
sagte, einem Heilungsversuch gleichzustellen. Dies wird an dem Fall erläutert. 

18. April (Oegstgeest). A. Endtz: Kasuistische Mitteilungen (Fortsetzung). 
Bei einem zweiten Fall wird auf psychoanalytischer Grundlage eine Konversions¬ 
hysterie mit guter Prognose angenommen, obwohl das klinische Bild schizo¬ 
phrenieähnlich aussah. Auch hier ist eine baldige Heilung eingetreten. Bei 
dieser Kranken wurden zwei Behauptungen von Helene Deutsch (Psycho¬ 
analyse der Neurosen, S. 73 und 75) bestätigt gefunden: nämlich daß bei 
der Verschiebung der Libidobesetzung vom verdrängten Genitale auf einen 
anderen Körperteil auch die Kastrationsangst vom Genitale auf das neue 
Organ mitverschoben wird, die dann in der hypochondrischen Angst zum 
Ausdruck kommt, und zweitens die Bedeutung, welche traumatisch sich 
auswirkende Erlebnisse der Kindheit für die Wahl der genitalisierten Organe 
haben. 

Dr. F. P. Müller: Verschiedenes über Regression. Die Psychoanalyse hat 
uns gelehrt, die Psychoneurosen nach der Lage ihrer Fixierungsstellen zu 
ordnen. Es entsteht dabei jedoch die Schwierigkeit, daß in bezug auf die 
psychosexueile Entwicklung die Regression bei der Zwangsneurose eine tiefere 
ist als bei der Hysterie, während in anderen Hinsichten die Regression sich 
gerade bei der Hysterie als eine tiefere zeigt: So hat Freud uns auf einen 
hysterischen Untergrund bei manchen Zwangsneurosen hingewiesen, der seinen 
Ursprung in einer früheren Entwicklungsphase hat als die eigentlichen 
Symptome der Zwangsneurose. In bezug auf die Entwicklungsstufen des 
Wirklichkeitssinnes (F e r e n c z i) regredieren die Zwangsneurotiker auf die 
Periode der magischen Gedanken und der magischen Worte, die Hysteriker 
dagegen auf Perioden, welche jener anderen Periode vorangehen. Auch aus 
den Übergangsformen zwischen Hysterie und Melancholie, aus der Kombination 
von Hysterie mit einem starken Narzißmus, die man öfter vorfindet, geht 
hervor, daß die Regression bei der Hysterie die tiefere ist. Während z. B. 
die Zwangsneurotiker auf ein Stadium regredieren, in welchem man zwischen 
Möglichkeit und Sicherheit schon unterscheidet, regredieren die Hysteriker 
auf ein Stadium, in dem nur mangelhaft zwischen Wirklichkeit und Phantasie 
unterschieden wird. Freud hat bereits ein zeitliches Voraneilen der Ich- 
entwicklung vor der Libidoentwicklung bei der Zwangsneurose angenommen. 














436 


Korrespondenzblatt 


15. Juni (Haag). Dr. S. J. R. de M o n c h y. Analyse eines dreizehnjährigen 
Knaben unter besonderer Berücksichtigung des Heimwehgefühls. — Der Knabe 
leidet an Phobien und Zwangshandlungen, welche mit dem Tod des Vaters 
Zusammenhängen. Bewußt besteht eine außerordentlich starke Bindung an den 
Vater; unbewußt aber wird dieser bekämpft und totgewünscht. Der Knabe 
fürchtet und haßt bewußt seine psychisch abnorme Mutter, unbewußt ist er 
sehr an sie gebunden. Dieser Sachverhalt geht aus den Träumen besonders 
klar hervor. Die Eltern sind geschieden, und der Knabe lebt im Hause seines 
Vaters, an dessen Person und Haus er durch ein starkes Heimweh gebunden 
ist. Dieses Heimweh stellt sich als die Folge der ambivalenten Gefühlshaltung 
dem Vater gegenüber heraus. Es wird die Hypothese aufgestellt, daß die 
Ambivalenz der typische Boden sei, worin das Heimweh wurzelt. Der Unter¬ 
schied zwischen „Sehnsucht“ und „Heimweh“ besteht darin, daß bei „Sehn¬ 
sucht“ eine vorwiegend positive Bindung an das Liebesobjekt besteht, während 
das Gefühl des zwangsmäßigen Zurückgezogenwerdens nach bestimmten Personen 
oder einer bestimmten Umgebung, das man bei einzelnen Kindern findet und 
das wir „Heimweh“ nennen, nur entsteht, wenn neben einer bewußten 
positiven Bindung starke negative Gefühle im Unbewußten bestehen. An 
anderen Beispielen von Kindern mit Heimweh wird zu zeigen versucht, daß 
ein ähnlicher Sachverhalt tatsächlich vorliegt. In den bis jetzt untersuchten 
Fällen von Heimweh wurde immer eine gestörte Entwicklung des Ödipus¬ 
komplexes gefunden. Wenn das Heimweh hauptsächlich an den gleich¬ 
geschlechtlichen Elternteil gebunden war, so lag der gewöhnliche Ödipushaß 
vor; wenn die Hauptperson des Heimwehgefühls eher der gegengeschlechtliche 
Elternteil war, fanden sich bei Knaben negative Gefühle, weil sie sich als 
von der Mutter vernachlässigt betrachteten. Es mag ein Zufall sein, daß sich 
bis jetzt das „gegengeschlechtliche Heimweh“ heim Mädchen noch nicht 
beobachten ließ. 

Neue Mitglieder: Dr. H. G. Rümke, Albrecht Dürerstraat 6, Amsterdam; 
Dr. P. H. Versteeg, Javastraat 3, Haag; Dr. A. M. Blök, Wassenaarsche weg 39, 
Haag. 

A. E n d t z 

Sekretär 


New York Psychoanalytic Society 

II. Quartal 1931 

28. April: Dr. Gregory Zilboorg: Probleme der Pathogenese der 
Schizophrenie. Der Autor referiert Freuds Schriften über das Thema der 
Schizophrenie mit besonderem Hinweis auf die Analyse des Wolfsmannes, 
inklusive des Nachtrags von Ruth Mack-Bruns w ick. Auf Grund 
seiner eigenen Erfahrung in der Analyse Schizophrener postuliert er das 
Vorhandensein einer infantilen Hysterie in diesen Fällen, mit späteren Ver¬ 
suchen, durch neurotische Konstruktionen zu einer Lösung des Ödipuskomplexes 
zu gelangen. Die Unmöglichkeit einer Lösung mit Hilfe neurotischer Mecha¬ 
nismen macht schließlich eine Konfliktlösung auf psychotischer Basis notwendig. 



















































Korrespondenzblatt 


437 


26. Mai. Dr. David M. Levy: Kindliche Hypochondrie. Beobachtungen 
an einer Anzahl von Kindern im Alter von fünf Jahren bis zur Pubertät. 
Beschreibung der neurotischen Mechanismen in diesen Krankheitsfällen wie 
auch des sozialen Hintergrunds, auf dem sich die Konflikte abspielten. 

Bertram D. Lewin 

Sekretär 


Societe Psychanalytique de Paris 

II. Quartal 1931 

21. April. Dr. G. Roheim: Über die Resultate meiner Beobachtungen 
bei den Aruntas in Australien. — Die Diskussion beschäftigte sich haupt¬ 
sächlich mit der Bedeutung der Pubertätsriten. 

19. Mai. Mme Odier : Beitrag zum Studium des weiblichen Über-Ichs. — 
Bericht über zwei charakteristische Fälle, mit der Schlußfolgerung, daß das 
Mädchen schwerer unter der Rivalität mit der Mutter leidet als der Knabe 
unter der mit dem Vater, weil sie sich nicht leicht von ihrem ersten 
libidinösen Objekt ablöst. — Diskussion. 

4. Juni. Dr. Hesnard: Der Mechanismus der Hypochondrie. 

16. Juni. Dr. R. de Saussure: Muß man in der Analyse normative 

Gesichtspunkte anwenden ? _ _, 

Dr. Aliendy 

Sekretär 

Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse 

II. Quartal 1931 

2. Mai. Pfarrer Dr. Pfister (Zürich): „Aus der Analyse eines Bud¬ 
dhisten “, „Hamlet am Schachbrett“. Beide Arbeiten erschienen in der „Psycho¬ 
analytischen Bewegung “. 

Diskussion: Sarasin, Blum, Geiser, Pfister. 

9. Mai. H. Zulliger (Ittigen): „Teufelsdreck, die Arzenei“, Erschienen 
in der „Psychoanalytischen Bewegung“. 

Diskussion: Sarasin, Kielholz, Pfenninger, Frau Behn-Eschenburg, Furrer, 
Behn-Eschenburg, Prof. v. Gonzenbach (a. G.), Schultz (a. G.), Zulliger. 

6. bis 7. Juni. Dir. Dr. R e p o n d (Malevoz): „Le Service medico-pedagogique 
ä Malevoz. — Ref. gibt einen Bericht über Entstehung, Organisation, 
Zweck und Ziel des „Service medico-pedagogique“, einer durch ihn veran- 
laßten Institution des Kanton Wallis, die unter psa. Gesichtspunkten geleitet 
wird. Dissoziale und Kriminelle im jugendlichen Alter sollen nicht einfach 
nur administrativ oder richterlich „versorgt“ oder bestraft werden. Man will 
sie behandeln, und es zeigten sich bereits Erfolge. 

Frl. G. Guex (a. G.): „Aus der Praxis des Service medico-pedagogique“. — 
Von den siebzig Jugendlichen, die bis heute der jungen Institution zugeführt, von 
psa. orientierten Ärzten untersucht und unter ihrer Leitung nacherzogen wurden, 
war nur ein geringer Prozentsatz Neurotiker. Es handelte sich in der Mehrzahl 
um Verwahrlosungsfälle. Im einzelnen berichtet Ref. über eine Diebsbande 
und einen dissozialen Jungen, dessen Behandlung und Heilung. 















438 Korrespondenzblatt 


Diskussion: Sarasin, Repond, Nunberg (a. G.), Zulliger, Frau Behn-Eschen- 
burg, Flournoy, Blum, Benoziglio (a. G.), Frl. Guex (a. G.). 

2 7. Juni. Dr.H. Behn-Eschenburg (Zürich): „F. Hodlers Parallelismus“ 
Erschienen in der „Psychoanalytischen Bewegung“. 

Diskussion: Sarasin, Pfister, Blum, Furrer, Behn-Eschenburg. 

Geschäftliche Sitzung : Der bevorstehende Kongreß wird in seiner Organisation 
durch b espr o ch en. 

Als Ehrenmitglieder wurden einstimmig gewählt: 

Dr. Eit i n g o n, Berlin, 

Dr. J o n e s, London. 

7. Juli. Dr. H. Schultz (Zürich): „Zur Analyse einer Chorea minor“. 

An einem Krankheitsfalle wird gezeigt, wie dieser vorerst nicht analysier¬ 
bare Fall durch pädagogische, von psa. Einsicht geleitete Maßnahmen unter 
Ausnutzung eines Milieuwechsels und der homosexuellen Tendenzen der 
Patientin nach und nach dermaßen verändert wurde, daß man ihn mit einer 
PsA. angehen konnte. 

Diskussion: Sarasin, Pfister, Blum, Furrer, Kielholz, Frau Behn-Eschenburg, 
Schultz. 

Geschäftliche Sitzung: Es werden einstimmig in die Gesellschaft aufgenommen: 

Frau M. Zulliger, Ittigen, 

Dr. H. Schultz, Zürich, 

Dr. H. N u n b e r g, Lausanne. 

Hans Zulliger 

Sekretär 


Wiener Psychoanalytische Vereinigung 

II. Quartal 1931 

15. April 1931. Vortrag Frl. Berta Born stein (Berlin, a. G.): Phobie 
und Behandlungsgeschichte eines zweieinhalb]ährigen Kindes. Diskussion: Frau 
Deutsch, Federn, Frl. Freud, Hoffer, Jekels, Nunberg, Schur (a. G.), Steiner, 
Stenge]. 

29. April 1931. Kleine Mitteilungen und Referate. 

1) Frau Estelle Levy (a. G.): Eine Phobie vor Nachtfaltern. Diskussion: 
Frl. Bornstein (a. G.), Federn, Jekels, Sterba. 

2) Dr. Hit sch mann: Die Angst um den geliebten Nächsten. Diskussion: 
Federn, Hartmann, Hoffmann, Jekels, Steiner. 

3) Frau Dr. Buxbaum: Reaktion auf Fragestunden in der Klasse. 
Diskussion: Frl. Bornstein (a. G.), Federn, Hitschmann, Hoffer, Hoffmann, 
Jekels, Prof. Pappenheim, Frau Reich. 

6. Mai 1931. Festsitzung zur Feier des 75. Geburtstages von Prof. F r eud 
Dr. Fe de r n: Begrüßung und Einführung. 

Festvortrag Dr. S. Ferenczi (Budapest, a. G.): Die Kinderanalyse beim 
Erwachsenen. Diskussion: Angel, Frau Deutsch, Federn, Frl. Freud. 

Nachwort: Dr. Federn. 

20. Mai 1931. Kleine Mitteilungen und Referate. 















































Korrespondenzblatt 


439 


1) Dr. Federn: Dank Prof. F r e u d s für die Feier seines 75. Geburts¬ 

tages. Bericht über die Festsitzung des Akad. Ver. f. med. Psychologie zu 
Freuds 75. Geburtstag. Beglückwünschung Doz. Dr. Fried j ungs 

zum 60. Geburtstag. Bekanntgabe des Ablebens des Gastes der Vereinigung, 
Oberstabsarzt Dr. Raimund Hofbauer, und Würdigung. 

2) Dr. Bi bring: Beiträge zur Sexual-Psychopathologie. Diskussion: Frau 
Deutsch, Federn, Hitschmann, Nunberg. 

27. Mai 1931. Vortrag Pfarrer Dr. Oskar Pfister (Zürich, a. G.): Zur 
Analyse eines Buddhisten. Diskussion: Eidelberg, Federn, Hartmann, Jekels, 
Wälder. 

17. Juni 1931. Kleine Mitteilungen und Referate. 

1) Dr. Ullrich (Philadelphia, a. G.): Eine typische Art von Verschreiben 
in der englischen Sprache. Diskussion: Federn, Wälder. 

2) Dr Federn: Beispiele für Mechanismen des Wortwitzes im Traum. 

Diskussion: Frl. Freud, Jokl, Frau Reich. 

3) Dr. Bibring: Eine Rettungsphantasie mit feindseliger Bedeutung. 
Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Hitschmann, Stengel. 

4) Dr. Hitschmann: Die Festrede eines Neurotikers. Diskussion : Doz. 
Friedjung. 

5) Dr. Steiner: Ein anerkanntes psychoanalytisches Gutachten über 
einen Kriminalfall. 

Dr. Jokl 
Schriftführer 


Brasilien 

Im Jahre 1927 wurde, wie bereits berichtet, in Sao Paulo auf die Initiative 
von Durval Marcondes hin die „Societe Bresilienne de Psychanalyse“ 
gegründet. Herr Porto Carrero teilt uns nun über die Schicksale der 
psychoanalytischen Bewegung in Brasilien seit 1927 folgendes mit: 

1928: Kurse über Psychoanalyse (23 Sitzungen), gehalten von J. P. Porto- 
Car r e r o und Deodato M o r a e s in der Association Bresilienne pour 
l’Education in Rio de Janeiro. 

Veröffentlichung „Psychanalyse Educarao“, ein kleines Buch für Erzieher, 
von D. M o r a e s. 

Ausdehnung der Societe Bresilienne de Psychanalyse, die nunmehr zwei 
Zweigvereinigungen umfaßt, eine in Rio, die andere in Sao Paulo. Präsident 
für zwei Jahre: Herr Professor Franco da Rocha, Sao Paulo. 

Veröffentlichung der ersten Nummer der „Revista Brasileira de 
Psychanalyse“. 

1929: Kurse über Psychoanalyse in Sao Paulo, gehalten von D. Marcondes. 

Vier Sitzungen über Psychoanalyse im Kursus über neuropsychiatrische 
Fortbildung der medizinischen Fakultät an der Universität Rio von C. Ayrosa 
und Porto-Carrero über die Themen: Einführung in die Psychoanalyse; 
Psychoanalyse und gerichtliche Medizin; Psychoanalyse der Neurosen. 














440 


Korrespondenzblatt 



— Latein-amerikanischer Kongreß für Neuropsychiatrie und Gerichts¬ 
medizin: Es gab eine Abteilung für Psychoanalyse, in der Berichte gegeben 
wurden von D. Marcondes (Sao Paulo), Artur Ramos (Bahia), Murillo 
C a m p o s (Rio) und von Porto-Carrero. 

— Veröffentlichung meiner Bücher „Ensaios de Psychanalyse“ und 
„Psychanalyse et des applications medico-legales“, Rio, 1929. 

1930: Psychoanalytisches Seminar (Besprechung der Werke Freuds durch 
Murillo C a m p o s und C. A y r o s a. 

Zusammenstellung eines brasilianischen psychoanalytischen Lexikons. 

Außerdem hatten wir: 

Brasilianischer Kongreß für Neuropsychiatrie: Berichte von D. Marcondes 
(Sao Paulo), Murillo Campos (Rio), C. Ayrosa (Rio) und von mir. 

Publikationen von Porto-Carrero: 

„Ce que nous attendons de nos fils“ — Schola, Nr. 3, 1930, Rio. 

„Education sexuelle“ — Archive d’Hygiene mentale, Rio, Nr. 3, 1930. 

Ich habe außerdem einen Vortrag gehalten in der Association Chrdtienne 
Feminine über das Thema „Ratschläge für Mütter“ (sexuelle Erziehung), einen 
Vortrag im Institut des Avocats, Rio, über „Psychoanalytischer Beitrag zum 
Strafrecht“. Seit Oktober 1929 habe ich den Lehrstuhl für gerichtliche 

Medizin an der Juristischen Fakultät der Universität Rio als Professeur 

Substitut; ich habe die Psychoanalyse in mein Lehrprogramm aufgenommen 
und halte meine Kollegs über gerichtliche Medizin vom Standpunkt der 
Psychoanalyse aus. 

Im Jahre 1930 habe ich außerdem an den „Congres d’Hygiene Mentale“ 
in Washington meinen Bericht über „Geschlecht und Kultur“ geschickt. 

193 1 : Herr Prof. B r i q u e t, Sao Paulo, hat das Werk von Jones 
„Über Psychoanalyse“ ins Portugiesische übersetzt. Herr Prof. Franco 

da Rocha hat „Die Lehre Freuds“ veröffentlicht. Porto-Carrero hat auf 

Aufforderung der „Societe Bresilienne de Psychanalyse“ und der „Ligue 
Bresilienne d’Hygiene Mentale“ einen Kurs über Psychoanalyse abgehalten. 
In dem neuen Gesetz über den Unterricht an den Universitäten ist an den 
Medizinischen Fakultäten ein Kurs über Psychoanalyse vorgesehen. 

Es ist leider nicht möglich gewesen, die Veröffentlichung unserer 
Zeitschrift fortzusetzen. 


ZU- 


A 



























Mitteilung der Redaktion 


Dr. Sandor Radö, Schriftleiter der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ 
und der „Imago“, wurde von der „New York Psydioanalytic Society“ für die Dauer 
eines Jahres an das neu errichtete Psychoanalytische Institut nach New York berufen. 
Während seines New Yorker Aufenthaltes wird ihn in der Redaktion beider Zeit¬ 
schriften Dr. Fenichel vertreten. 

Es wird gebeten, bis auf weiteres alle für die genannten Zeitschriften bestimmten 
redaktionellen Zuschriften und Sendungen 

von den europäischen Ländern aus an Dr. Otto Fenichel, Berlin 
W50, Nürnberger Platz 6 

von den überseeischen Ländern aus an Dr. Sandor Rado, 12 East 86 th Str., 
New York City (U. S. A.), zu richten. 


1) Die in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ veröffentlichten Beiträge werden 
mit Mark 50.— pro sedizehnseitigem Druckbogen honoriert. 

2) Die Autoren von Originalbeiträgen, sowie von Mitteilungen und Referaten im Umfange 
über zwei Druckseiten erhalten zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes. 

3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache 
zur Verfügung stellen, trägt der Verlag; die Autoren solcher Beiträge erhalten kein Honorar. 

4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenschrift (nicht eng 
geschrieben). Es ist erwünsdit, daß die Autoren eine Kopie ihres Manuskriptes behalten. Zeichnungen 
und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Die Zeichnungen sollen 
tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst reproduziert werden kann. 

5) Mehrkosten, die durch Autorkorrekturen, d. h. durch Textänderungen, Einschaltungen, 
Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursacht werden, werden vom Autoren¬ 
honorar in Abzug gebracht. 

6) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch und auf Kosten des Autors angefertigt. 
Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge 

bis 8 Seiten für 25 Exemplare Mark 15.—, für 50 Exemplare Mark 20.— 


von 9 

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» 45.-, 

» 50 

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» 65 .-. 


Mehr als 5 ° Separata werden nicht angefertigt. 

7) Alle obigen Bedingungen gelten auch lür die Zeitschrift „Imago“. 




Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XVII, Heft 3 


(Ausgegeben Ende November 1931 ) 


Seite 

Sigm. Freud: Über libidinöse Typen.315 

Sigm. Freud: Über die weibliche Sexualität...317 

Therese Benedek: Todestrieb und Angst ..333 

Berta Bornstein: Die Phobie eines zweieinhalb jährigen Kindes.. 344 

Paul Schilder: Über Neurasthenie.368 

Ella Sharpe: Über Sublimierung und Wahnbildung.57g 

KASUISTISCHE BEITRÄGE 

Hans Zulliger: Alkoholismus als passageres Symptom ..392 

Richard Sterba: Zur Gleichstellung von Mutter und Dirne.396 

Herbert Wotte: Ein erlebtes Stück Traum Symbolik .397 

DISKUSSIONEN 


„Nachtrag zu Freuds ,Geschichte einer infantilen Neurose 4 “. III) J. Härnik: Erwiderung 
auf Mack Brunswicks Entgegnung 400. — Ruth Mack Brunswick: Schlußwort 402. 

REFERATE 

Aus den Grenzgebieten: 

Malino wski: Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien (Reich) 403. — 
Reich: Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral ( Fenicliel) 404. — Reich: Die 

Sexualnot der werktätigen Massen ( FenicheL) 408. — Baege: Naturgeschichte des Traumes 
(Grober) 409. — Jezower: Das Buch der Träume ( Gräber ) 409. — Schneider: Die 
Bedeutung des Rorschachschen Formdeutungsversuches zur Ermittlung intellektuell ge¬ 
hemmter Schüler (Grober ) 410. 

Aus der psychiatrisch-neurologisehen Literatur: 

Steyerthal: Pathologie des Unbewußten ( Hitschmann) 411. — Moll: Psychologie und 
Charakterologie der Okkultisten ( Hitschmann ) 411. — Morgenthaler: Die Pflege der 
Gemüts- und Geisteskrankheiten (Bally) 412. 

Aus der psychoanalytischen Literatur: 

Medical Review of Reviews, „Psychopathology Number“ hg. von D. Feigenbaum 
( Fenichel) 412. — Berkeley-Hill: Flatus and Aggression ( Fenichel) 413. — 

Roellenbleck: Psychoanalytische Literatur (Fenichel) 413. — Kunz: Die existentielle 
Bedeutung der Psychoanalyse usw. (Gero) 413. — Bernfeld: Das Widerstandsargument 
der Psychoanalyse (Fenichel) 415. — Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse (Hitsch¬ 

mann) 415. — Binswanger: Traum und Existenz (Gero) 416. 

Tagungen wissen sch aft lieber Gesellschaften: 

Bericht über den VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psychotherapie in Dresden 
(14. bis 17. Mai 1931) (Vowinckel) 417. 

KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG 

I) Mitteilungen des Zentralvorstandes: Kongreß 419. — Josef K. Friedjung zum 

60. Geburtstag (Hitschmann) 419. — Eduard Hitschmann zum 60. Geburtstag (Federn) 420. 
— Dr. Paul Federn (Die Redaktion) 423. — II) Mitteilungen der Internationalen Unterrichts¬ 
kommission 423. — III) Berichte der Zweigvereinigungen 426. 


Alle diese Zeitschrift betreffenden redaktionellen Zuschriften und Sendungen bitte zu richten 

von den europäischen Ländern aus: an Dr. Otto Fenichel, Berlin W50, 
Nürnberger Platz 6, von den überseeischen Ländern aus: an Dr. Sändor 
R a d 6, 12 East 86 th Street, New York City (U. S. A.), 

alle geschäftlichen Zuschriften und Sendungen an: 

Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, In der Börse. 


Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, 1 „ Börsegasse 11 . — Herausgeber: 
Prof. Dr. Sigm. Freud. Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Adolf Josef Storfer, Wien, I., Börsegasse 11. — Druck: 
Elbemühl Papierfabriken und Graphische Industrie A. G., Wien, III., Rüdengasse 11. (Verantwortlicher Druckereileiter: 

Karl Wrba, Wien.)