XVII. BAND
1931
HEFT 3
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Girindrashekhar Bose A. A. Brill Paul Federn Ernest Jones Y. K. Yabe
Kalkutta New York Wien London Tokio
J. W. Kannabich G. Pardxeminey J. H. W. van Ophuijsen Philipp Sarasin
Moskau Paris Haag Basel
redigiert von
M. Fitingon, S. Ferenczi, Sandor Ilado
Berlin
Budapest
Berlin
Sigm. Freud
Über libidinöse Typen
Sigm. Freud
Über die weibliche Sexualität
Benedek . . Todestrieb und Angst
Schilder . . Über Neurasthenie
Sharpe ... Sublimierung und Wahnbildung
Zulliger. . . Alkoholismus als passageres Symptom
Sterba .... Gleichstellung von Mutter und Dirne
und andere Beiträge
Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
Heft 3
1931
Über libidinöse
Von
Sigm. Freud
Unsere Beobachtung zeigt uns, daß die einzelnen menschlichen Personen
das allgemeine Bild des Menschen in einer kaum übersehbaren Mannig¬
faltigkeit verwirklichen. Wenn man dem berechtigten Bedürfnis nachgibt,
in dieser Menge einzelne Typen zu unterscheiden, so wird man von vorne-
herein die Wahl haben, nach welchen Merkmalen und von welchen
Gesichtspunkten man diese Sonderung vornehmen soll. Körperliche Eigen¬
schaften werden für diesen Zweck gewiß nicht weniger brauchbar sein
als psychische; am wertvollsten werden solche Unterscheidungen sein, die
ein regelmäßiges Beisammensein von körperlichen und seelischen Merk¬
malen versprechen.
Es ist fraglich, ob es uns bereits jetzt möglich ist, Typen von solcher
Leistung herauszufinden, wie es später einmal auf einer noch unbekannten
Basis gewiß gelingen wird. Beschränkt man sich auf die Bemühung, bloß
psychologische Typen aufzustellen, so haben die Verhältnisse der Libido
den ersten Anspruch, der Einteilung als Grundlage zu dienen. Man darf
fordern, daß diese Einteilung nicht bloß aus unserem Wissen oder unseren
Annahmen über die Libido abgeleitet sei, sondern daß sie sich auch in
der Erfahrung leicht wiederfinden lasse und daß sie ihr Teil dazu bei¬
trage, die Masse unserer Beobachtungen für unsere Auffassung zu klären.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese libidinösen Typen auch auf
psychischem Gebiet nicht die einzig möglichen zu sein brauchen, und daß
man, von andern Eigenschaften ausgehend, vielleicht eine ganze Reihe
anderer psychologischer Typen aufstellen kann. Für alle solche Typen muß
gelten, daß sie nicht mit Krankheitsbildern zusammenfallen dürfen. Sie
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 21
Ä B INTERNATIONAL
DQVrunA M A I VTI
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
314
Sigm. Freud
sollen im Gegenteil alle die Variationen umfassen, die nach unserer
praktisch gerichteten Schätzung in die Breite des Normalen fallen. Wohl
aber können sie sich in ihren extremen Ausbildungen den Krankheits¬
bildern annähern und solcherart die vermeintliche Kluft zwischen dem
Normalen und dem Pathologischen ausfüllen helfen.
Nun lassen sich je nach der vorwiegenden Unterbringung der Libido
in den Provinzen des seelischen Apparats drei libidinöse Haupttypen unter¬
scheiden. Deren Namengebung ist nicht ganz leicht; in Anlehnung an
unsere Tiefenpsychologie möchte ich sie als den erotischen, den narzi߬
tischen und den Zwangstypus bezeichnen.
Der erotische Typus ist leicht zu charakterisieren. Die Erotiker
sind Personen, deren Hauptinteresse — der relativ größte Betrag ihrer
Libido — dem Liebesieben zugewendet ist. Lieben, besonders aber
Geliebtwerden, ist ihnen das Wichtigste. Sie werden von der Angst vor
dem Liebesverlust beherrscht und sind darum besonders abhängig von den
anderen, die ihnen die Liebe versagen können. Dieser Typus ist auch in
seiner reinen Form recht häufig. Variationen desselben ergeben sich je
nach der Vermengung mit einem andern Typus und dem gleichzeitigen
Ausmaß von Aggression. Sozial wie kulturell vertritt dieser Typus die
elementaren Triebansprüche des Es, dem die andern psychischen Instanzen
gefügig geworden sind.
Der zweite Typus, dem ich den zunächst befremdlichen Namen
Zwangs typus gegeben habe, zeichnet sich durch die Vorherrschaft des
Über-Ichs aus, das sich unter hoher Spannung vom Ich absondert. Er
wird von der Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst vor dem
Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Abhängigkeit anstatt der äußeren,
entfaltet ein hohes Maß von Selbständigkeit und wird sozial zum eigent¬
lichen, vorwiegend konservativen Träger der Kultur.
Der dritte, mit gutem Recht narzißtisch geheißene Typus ist
wesentlich negativ charakterisiert. Keine Spannung zwischen Ich und
ÜberTch, — man würde von diesem Typus her kaum zur Aufstellung
eines Über-Ichs gekommen sein, — keine Übermacht der erotischen
Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung gerichtet, unabhängig
und wenig eingeschüchtert. Dem Ich ist ein großes Maß von Aggression
verfügbar, das sich auch in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im Liebes¬
ieben wird das Lieben vor dem Geliebtwerden bevorzugt. Menschen dieses
Typus imponieren den anderen als „Persönlichkeiten“, sind besonders
geeignet, anderen als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu über¬
nehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das
Bestehende zu schädigen.
Über libidinöse Typen
315
Diese reinen Typen werden dem Verdacht der Ableitung aus der Theorie
der Libido kaum entgehen. Man fühlt sich aber auf dem sicheren Boden
der Erfahrung, wenn man sich nun den gemischten Typen zuwendet, die
um so viel häufiger zur Beobachtung kommen als die reinen. Diese neuen
Typen, der erotisch-zwanghafte, der e r o t i s c h - n a r z i ß t i s c h e
und der narzißtische Zwangstypus, scheinen in der Tat eine
gute Unterbringung der individuellen psychischen Strukturen, wie wir sie
durch die Analyse kennen gelernt haben, zu gestatten. Es sind längst
vertraute Charakterbilder, auf die man bei der Verfolgung dieser Misch¬
typen gerät. Beim erotischen Zwangstypus scheint die Über¬
macht des Trieblebens durch den Einfluß des Über-Ichs eingeschränkt; die
Abhängigkeit gleichzeitig von rezenten menschlichen Objekten und ’von
den Relikten der Eltern, Erzieher und Vorbilder erreicht bei diesem Typus
den höchsten Grad. Der erotisch-narzißtische ist vielleicht jener,
dem man die größte Häufigkeit zusprechen muß. Er vereinigt Gegensätze’
die sich in ihm gegenseitig ermäßigen können; man kann an ihm im
Vergleich mit den beiden anderen erotischen Typen lernen, daß Aggression
und Aktivität mit der Vorherrschaft des Narzißmus Zusammengehen. Der
narzißtische Zwangstypus endlich ergibt die kulturell wertvollste
Variation, indem er zur äußeren Unabhängigkeit und Beachtung der
Gewissensforderung die Fähigkeit zur kraftvollen Betätigung hinzufügt und
das Ich gegen das Über-Ich verstärkt.
Man konnte meinen, einen Scherz zu machen, wenn man die Frage
aufwirft, warum ein anderer theoretisch möglicher Mischtypus hier keine
Erwähnung findet, nämlich der erotisch-zwanghaft-narzißtische.
Aber die Antwort auf diesen Scherz ist ernsthaft: weil ein solcher Typus
kein Typus mehr wäre, sondern die absolute Norm, die ideale Harmonie,
bedeuten würde. Man wird dabei inne, daß das Phänomen des Typus eben
dadurch entsteht, daß von den drei Hauptverwendungen der Libido im
seelischen Haushalt eine oder zwei auf Kosten der anderen begünstigt
worden sind.
Man kann sich auch die Frage vorlegen, welches das Verhältnis dieser
hbidinösen Typen zur Pathologie ist, ob einige von ihnen zum Übergang
m die Neurose besonders disponiert sind, und dann, welche Typen zu
welchen Formen führen. Die Antwort wird lauten, daß die Aufstellung
ieser libidinösen Typen kein neues Licht auf die Genese der Neurosen
wirft. Nach dem Zeugnis der Erfahrung sind alle diese Typen ohne Neu¬
rose lebensfähig. Die reinen Typen mit dem unbestrittenen Übergewicht
einer einzelnen seelischen Instanz scheinen die größere Aussicht zu haben,
reine Charakterbilder aufzutreten, während man von den gemischten
21*
316
Sigm. Freud: Über libidinöse Typen
Typen erwarten könnte, daß sie für die Bedingungen der Neurose einen
günstigeren Boden bieten. Doch meine ich, man sollte über diese Ver¬
hältnisse nicht ohne besonders gerichtete, sorgfältige Nachprüfung
entscheiden.
Daß die erotischen Typen im Falle der Erkrankung Hysterie ergeben,
wie die Zwangstypen Zwangsneurose, scheint ja leicht zu erraten, ist aber
auch an der zuletzt betonten Unsicherheit beteiligt. Die narzißtischen Typen,
die bei ihrer sonstigen Unabhängigkeit der Versagung von seiten der
Außenwelt ausgesetzt sind, enthalten eine besondere Disposition zur Psychose,
wie sie auch wesentliche Bedingungen des Verbrechertums beistellen.
Die ätiologischen Bedingungen der Neurose sind bekanntlich noch nicht
sicher erkannt. Die Veranlassungen der Neurose sind Versagungen und
innere Konflikte, Konflikte zwischen den drei großen psychischen Instanzen,
Konflikte innerhalb des Libidohaushalts infolge der bisexuellen Anlage,
zwischen den erotischen und aggressiven Triebkomponenten. Was diese
dem normalen psychischen Ablauf zugehörigen Vorgänge pathogen macht,
bemüht sich die Neurosenpsychologie zu ergründen.
f
Über die weibliche Sexualität
Von
Sigm. Freud
I
In der Phase des normalen Ödipuskomplexes finden wir das Kind an
den gegengeschlechtlichen Elternteil zärtlich gebunden, während im
Verhältnis zum gleichgeschleehtlichen die Feindseligkeit vorwiegt. Es macht
uns keine Schwierigkeiten, dieses Ergebnis für den Knaben abzuleiten.
Die Mutter war sein erstes Liebesobjekt; sie bleibt es, mit der Verstärkung
seiner verliebten Strebungen und der tieferen Einsicht in die Beziehung
zwischen Vater und Mutter muß der Vater zum Rivalen werden. Anders
für das kleine Mädchen. Ihr erstes Objekt war doch auch die Mutter;
wie findet sie den Weg zum Vater? Wie, wann und warum macht sie
sich von der Mutter los ? Wir haben längst verstanden, die Entwicklung
der weiblichen Sexualität werde durch die Aufgabe kompliziert, die
F ursprünglich leitende genitale Zone, die Klitoris, gegen eine neue, die
Vagina, aufzugeben. Nun erscheint uns eine zweite solche Wandlung, der
Umtausch des ursprünglichen Mutterobjekts gegen den Vater, nicht weniger
charakteristisch und bedeutungsvoll für die Entwicklung des Weibes. In
welcher Art die beiden Aufgaben mit einander verknüpft sind, können
wir noch nicht erkennen.
Frauen mit starker Vaterbindung sind bekanntlich sehr häufig; sie
brauchen auch keineswegs neurotisch zu sein. An solchen Frauen habe
ich die Beobachtungen gemacht, über die ich hier berichte und die mich
zu einer gewissen Auffassung der weiblichen Sexualität veranlaßt haben.
Zwei Tatsachen sind mir da vor allem aufgefallen. Die erste war: wo
eine besonders intensive Vaterbindung bestand, da hatte es nach dem
Zeugnis der Analyse vorher eine Phase von ausschließlicher Mutterbindung
gegeben von gleicher Intensität und Leidenschaftlichkeit. Die zweite
Phase hatte bis auf den Wechsel des Objekts dem Liebesieben kaum
einen neuen Zug hinzugefügt. Die primäre Mutterbeziehung war sehr
reich und vielseitig ausgebaut gewesen.
1
318
Sigm. Freud
Die zweite Tatsache lehrte, daß man auch die Zeitdauer dieser Mutter¬
bindung stark unterschätzt hatte. Sie reichte in mehreren Fällen bis weit
ins vierte, in einem bis ins fünfte Jahr, nahm also den bei weitem
längeren Anteil der sexuellen Frühblüte ein. Ja, man mußte die Möglich¬
keit gelten lassen, daß eine Anzahl von weiblichen Wesen in der
ursprünglichen Mutterbindung stecken bleibt und es niemals zu einer
richtigen Wendung zum Manne bringt.
Die präödipale Phase des Weibes rückt hiemit zu einer Bedeutung auf
die wir ihr bisher nicht zugeschrieben haben.
Da sie für alle Fixierungen und Verdrängungen Raum hat, auf die wir
die Entstehung der Neurosen zurückführen, scheint es erforderlich, die
Allgemeinheit des Satzes, der Ödipuskomplex sei der Kern der Neurose,
zurückzunehmen. Aber wer ein Sträuben gegen diese Korrektur verspürt,
ist nicht genötigt, sie zu machen. Einerseits kann man dem Ödipus¬
komplex den weiteren Inhalt geben, daß er alle Beziehungen des Kindes
zu beiden Eltern umfaßt, anderseits kann man den neuen Erfahrungen
auch Rechnung tragen, indem man sagt, das Weib gelange zur normalen
positiven Ödipussituation erst, nachdem es eine vom negativen Komplex
beherrschte Vorzeit überwunden. Wirklich ist während dieser Phase der
Vater für das Mädchen nicht viel anderes als ein lästiger Rivale, wenngleich
die Feindseligkeit gegen ihn nie die für den Knaben charakterische Höhe
erreicht. Alle Erwartungen eines glatten Parallelismus zwischen männlicher
und weiblicher Sexualentwicklung haben wir ja längst aufgegeben.
Die Einsicht in die präödipale Vorzeit des Mädchens wirkt als Über¬
raschung, ähnlich wie auf anderem Gebiet die Aufdeckung der minoisch-
mykenischen Kultur hinter der griechischen.
Alles auf dem Gebiet dieser ersten Mutterbindung erschien mir so
schwer analytisch zu erfassen, so altersgrau, schattenhaft, kaum wieder
belebbar, als ob es einer besonders unerbittlichen Verdrängung erlegen
wäre. Vielleicht kam dieser Eindruck aber davon, daß die Frauen in der
Analyse bei mir an der nämlichen Vaterbindung festhalten konnten, zu
der sie sich aus der in Rede stehenden Vorzeit geflüchtet hatten. Es
scheint wirklich, daß weibliche Analytiker, wie Jeanne Lampl-de Groot
und Helene Deutsch, diese Tatbestände leichter und deutlicher wahr¬
nehmen konnten, weil ihnen bei ihren Gewährspersonen die Übertragung
auf einen geeigneten Mutterersatz zur Hilfe kam. Ich habe es auch nicht
dahin gebracht, einen Fall vollkommen zu durchschauen, beschränke mich
daher auf die Mitteilung der allgemeinsten Ergebnisse und führe nur
wenige Proben aus meinen neuen Einsichten an. Dahin gehört, daß diese
Phase der Mutterbindung eine besonders intime Reziehung zur Ätiologie
Über die weibliche Sexualität 319
der Hysterie vermuten läßt, was nicht überraschen kann, wenn man
erwägt, daß beide, die Phase wie die Neurose, zu den besonderen
Charakteren der Weiblichkeit gehören, ferner auch, daß man in dieser
Mutterabhängigkeit den Keim der späteren Paranoia des Weibes findet . 1
Denn dies scheint die überraschende, aber regelmäßig angetroffene Angst,
von der Mutter umgebracht (aufgefressen ?) zu werden, wohl zu sein. Es
liegt nahe, anzunehmen, daß diese Angst einer Feindseligkeit entspricht,
die sich im Kind gegen die Mutter infolge der vielfachen Einschränkungen
der Erziehung und Körperpflege entwickelt, und daß der Mechanismus der
Projektion durch die Frühzeit der psychischen Organisation begünstigt wird.
II
Ich habe die beiden Tatsachen vorangestellt, die mir als neu aufge¬
fallen sind, daß die starke Vaterabhängigkeit des Weibes nur das Erbe
einer ebenso starken Mutterbindung antritt und daß diese frühere Phase
durch eine unerwartet lange Zeitdauer angehalten hat. Nun will ich
zurückgreifen, um diese Ergebnisse in das uns bekannt gewordene Bild
der weiblichen Sexualentwicklung einzureihen, wobei Wiederholungen nicht
zu vermeiden sein werden. Die fortlaufende Vergleichung mit den Ver¬
hältnissen beim Manne kann unserer Darstellung nur förderlich sein.
Zunächst ist es unverkennbar, daß die für die menschliche Anlage
behauptete Bisexualität beim Weib viel deutlicher hervortritt als beim
Mann. Der Mann hat doch nur eine leitende Geschlechtszone, ein Ge¬
schlechtsorgan, während das Weib deren zwei besitzt: die eigentlich
weibliche Vagina und die dem männlichen Glied analoge Klitoris. Wir
halten uns für berechtigt anzunehmen, daß die Vagina durch lange Jahre
so gut wie nicht vorhanden ist, vielleicht erst zur Zeit der Pubertät
Empfindungen liefert. In letzter Zeit mehren sich allerdings die Stimmen
der Beobachter, die vaginale Regungen auch in diese frühen Jahre ver¬
legen. Das Wesentliche, was also an Genitalität in der Kindheit vorgeht, muß
sich beim Weibe an der Klitoris abspielen. Das Geschlechtsleben des Weibes
zerfällt regelmäßig in zwei Phasen, von denen die erste männlichen
Charakter hat; erst die zweite ist die spezifisch weibliche. In der weib¬
lichen Entwicklung gibt es so einen Prozeß der Überführung der einen
Phase in die andere, dem beim Manne nichts anolog ist. Eine weitere
Komplikation entsteht daraus, daß sich die Funktion der virilen Klitoris
0 In dem bekannten Fall von Ruth Mack-Brunswick (Die Analyse eines
Eifersuchtswahnes, Int. Zeitschr. f. PsA. XIV, 1928) geht die Affektion direkt aus der prä-
ödipalen (Schwester-) Fixierung hervor.
320
Sigm. Freud
in das spätere weibliche Geschlechtsleben fortsetzt in einer sehr wech¬
selnden und gewiß nicht befriedigend verstandenen Weise. Natürlich
wissen wir nicht, wie sich diese Besonderheiten des Weibes biologisch
begründen; noch weniger können wir ihnen teleologische Absicht unterlegen
Parallel dieser ersten großen Differenz läuft die andere auf dem Gebiet
der Objektfindung. Beim Manne wird die Mutter zum ersten Liebesobjekt
infolge des Einflusses von Nahrungszufuhr und Körperpflege, und sie bleibt
es, bis sie durch ein ihr wesensähnliches oder von ihr abgeleitetes ersetzt
wird. Auch beim Weib muß die Mutter das erste Objekt sein. Die Ur-
bedingungen der Objektwahl sind ja für alle Kinder gleich. Aber am
Ende der Entwicklung soll der Mann—Vater das neue Liebesobjekt
geworden sein, d. h. dem Geschlechtswechsel des Weibes muß ein Wechsel
im Geschlecht des Objekts entsprechen. Als neue Aufgaben der Forschung
entstehen hier die Fragen, auf welchen Wegen diese Wandlung vor
sich geht, wie gründlich oder unvollkommen sie vollzogen wird, welche
verschiedenen Möglichkeiten sich bei dieser Entwicklung ergeben.
Wir haben auch bereits erkannt, daß eine weitere Differenz der
Geschlechter sich auf das Verhältnis zum Ödipuskomplex bezieht. Unser
Eindruck ist hier, daß unsere Aussagen über den Ödipuskomplex in voller
Strenge nur für das männliche Kind passen, und daß wir Recht daran
haben, den Namen Elektrakomplex abzulehnen, der die Analogie im Ver¬
halten beider Geschlechter betonen will. Die schicksalhafte Beziehung von
gleichzeitiger Liebe zu dem einen und Rivalitätshaß gegen den anderen
Elternteil stellt sich nur für das männliche Kind her. Bei diesem ist es
dann die Entdeckung der Kastrationsmöglichkeit, wie sie durch den An¬
blick des weiblichen Genitales erwiesen wird, die die Umbildung des
Ödipuskomplexes erzwingt, die Schaffung der Über-Ichs herbeiführt und
so all die Vorgänge einleitet, die auf die Einreihung des Einzelwesens in
die Kulturgemeinschaft abzielen. Nach der Verinnerlichung der Vater¬
instanz zum Über-Ich ist die weitere Aufgabe zu lösen, dies letztere von
den Personen abzulösen, die es ursprünglich seelisch vertreten hat. Auf
diesem merkwürdigen Entwicklungsweg ist gerade das narzißtische Genital¬
interesse, das an der Erhaltung des Penis, zur Einschränkung der infantilen
‘Sexualität gewendet worden.
Beim Manne erübrigt vom Einfluß des Kastrationskomplexes auch ein
Maß von Geringschätzung für das als kastriert erkannte Weib. Aus dieser
entwickelt sich im Extrem eine Hemmung der Objektwahl und bei
Unterstützung durch organische Faktoren ausschließliche Homosexualität.
Ganz andere sind die Wirkungen des Kastrationskomplexes beim Weib.
Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die
Uber die weibliche Sexualität
321
Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es
sträubt sich auch gegen diesen unliebsamen Sachverhalt. Aus dieser zwie¬
spältigen Einstellung leiten sich drei Entwicklungsrichtungen ab. Die erste
führt zur allgemeinen Abwendung von der Sexualität. Das kleine Weib,
durch den Vergleich mit dem Knaben geschreckt, wird mit seiner Klitoris
unzufrieden, verzichtet auf seine phallische Betätigung und damit auf die
Sexualität überhaupt wie auf ein gutes Stück seiner Männlichkeit auf
anderen Gebieten. Die zweite Richtung hält in trotziger Selbstbehauptung
an der bedrohten Männlichkeit fest ; die Hoffnung, noch einmal einen
Penis zu bekommen, bleibt bis in unglaublich späte Zeiten aufrecht, wird
zum Lebenszweck erhoben, und die Phantasie, trotz alledem ein Mann zu
sein, bleibt oft gestaltend für lange Lebensperioden. Auch dieser „Männ¬
lichkeitskomplex “ des Weibes kann in manifest homosexuelle Objektwahl
ausgehen. Erst eine dritte, recht umwegige Entwicklung mündet in die
normal weibliche Endgestaltung aus, die den Vater als Objekt nimmt und
so die weibliche Form des Ödipuskomplexes findet. Der Ödipuskomplex
ist also beim Weib das Endergebnis einer längeren Entwicklung, er wird
durch den Einfluß der Kastration nicht zerstört, sondern durch ihn ge¬
schaffen, er entgeht den starken feindlichen Einflüssen, die beim Mann
zerstörend auf ihn einwirken, ja, er wird allzuhäufig vom Weib überhaupt
nicht überwunden. Darum sind auch die kulturellen Ergebnisse seines
Zerfalls geringfügiger und weniger belangreich. Man geht wahrscheinlich
nicht fehl, wenn man aussagt, daß dieser Unterschied in der gegenseitigen
Beziehung von Ödipus- und Kastrationskomplex den Charakter des
Weibes als soziales Wesen prägt . 1
Die Phase der ausschließlichen Mutterbindung, die präödipal genannt
werden kann, beansprucht also beim Weib eine weitaus größere Bedeutung*
als ihr beim Mann zukommen kann. Viele Erscheinungen des weiblichen
Sexuallebens, die früher dem Verständnis nicht recht zugänglich waren,
finden in der Zurückführung auf sie ihre volle Aufklärung. Wir haben
z. B. längst bemerkt, daß viele Frauen, die ihren Mann nach dem Vater-
i) Man kann vorhersehen, daß die Feministen unter den Männern, aber auch
unsere weiblichen Analytiker mit diesen Ausführungen nicht einverstanden sein
werden. Sie dürften kaum die Einwendung zurückhaiten, solche Lehren stammen
aus dem „Männlichkeitskomplex“ des Mannes und sollen dazu dienen, seiner ange¬
borenen Neigung zur Herabsetzung und Unterdrückung des Weibes eine theoretische
Rechtfertigung zu schaffen. Allein eine solche psychoanalytische Argumentation
mahnt in diesem Falle, wie so häufig, an den berühmten „Stock mit zwei Enden“
Dostojewskis. Die Gegner werden es ihrerseits begreiflich finden, daß das Geschlecht
der Frauen nicht annehmen will, was der heiß begehrten Gleichstellung mit dem
Manne zu widersprechen scheint. Die agonale Verwendung der Analyse führt offen¬
bar nicht zur Entscheidung.
322
Sigm,
Freud
'Vorbild gewählt oder ihn an die Vaterstelle gesetzt haben, doch i n der
Ehe an ihm ihr schlechtes Verhältnis zur Mutter wiederholen. Er sollte
die Vaterbeziehung erben und in Wirklichkeit erbt er die Mutterbeziehun 6
Das versteht man leicht als einen nahe liegenden Fall von Regression
Die Mutterbeziehung war die ursprüngliche, auf sie war die Vaterbindun
aufgebaut, und nun kommt in der Ehe das Ursprüngliche aus der Ver¬
drängung zum Vorschein. Die Überschreibung affektiver Bindungen vom
Mutter- auf das Vaterobjekt bildete ja den Hauptinhalt der zum Weibtum
führenden Entwicklung.
Wenn vrir bei so vielen Frauen den Eindruck bekommen, daß ihre
Reifezeit vom Kampf mit dem Ehemann ausgefüllt wird, wie ihre Jugend
im Kampf mit der Mutter verbracht wurde, so werden wir im Licht der
vorstehenden Bemerkungen den Schluß ziehen, daß deren feindselige Ein¬
stellung zur Mutter nicht eine Folge der Rivalität des Ödipuskomplexes
ist, sondern aus der Phase vorher stammt und in der Ödipussituation nur
Verstärkung und Verwendung erfahren hat. So wird es auch durch direkte
analytische Untersuchung bestätigt. Unser Interesse muß sich den Mecha¬
nismen zuwenden, die bei der Abwendung von dem so intensiv und aus¬
schließlich geliebten Mutterobjekt wirksam geworden sind. Wir sind darauf
vorbereitet, nicht ein einziges solches Moment, sondern eine ganze Reihe
von solchen Momenten zu finden, die zum gleichen Endziel Zusammen¬
wirken.
Unter ihnen treten einige hervor, die durch die Verhältnisse der in¬
fantilen Sexualität überhaupt bedingt sind, also in gleicher Weise für das
Liebesieben des Knaben gelten. In erster Linie ist hier die Eifersucht auf
andere Personen zu nennen, auf Geschwister, Rivalen, neben denen auch
der Vater Platz findet. Die kindliche Liebe ist maßlos, verlangt Ausschlie߬
lichkeit, gibt sich nicht mit Anteilen zufrieden. Ein zweiter Charakter ist
aber, daß diese Liebe auch eigentlich ziellos, einer vollen Befriedigung
unfähig ist, und wesentlich darum ist sie dazu verurteilt, in Enttäuschung
auszugehen und einer feindseligen Einstellung Platz zu machen. In späteren
Lebenszeiten kann das Ausbleiben einer Endbefriedigung einen anderen
Ausgang begünstigen. Dies Moment mag wie bei den zielgehemmten
Liebesbeziehungen die ungestörte Fortdauer der Libidobesetzung versichern,
aber im Drang der Entwicklungsvorgänge ereignet es sich regelmäßig, daß
die Libido die unbefriedigende Position verläßt, um eine neue aufzu¬
suchen.
Ein anderes weit mehr spezifisches Motiv zur Abwendung von der
Mutter ergibt sich aus der Wirkung des Kastrationskomplexes auf das
penislose Geschöpf. Irgend einmal macht das kleine Mädchen die Ent-
Über die weibliche Sexualität
323
deckung seiner organischen Minderwertigkeit, natürlich früher und leichter,
wenn es Brüder hat oder andere Knaben in der Nähe sind. Wir haben
schon gehört, welche drei Richtungen sich dann voneinander scheiden:
a) die zur Einstellung des ganzen Sexuallebens; b) die zur trotzigen Über¬
betonung der Männlichkeit; c) die Ansätze zur endgültigen Weiblichkeit.
Genauere Zeitangaben zu machen und typische Verlaufs weisen festzulegen,
ist hier nicht leicht. Schon der Zeitpunkt der Entdeckung der Kastration
ist wechselnd, manche andere Momente scheinen inkonstant und vom Zufall
abhängig. Der Zustand der eigenen phallischen Betätigung kommt in
Betracht, ebenso ob diese entdeckt wird oder nicht, und welches Maß von
Verhinderung nach der Entdeckung erlebt wird.
Die eigene phallische Betätigung, Masturbation an der Klitoris, wird
vom kleinen Mädchen meist spontan gefunden, ist gewiß zunächst phantasie¬
los. Dem Einfluß der Körperpflege an ihrer Erweckung wird durch die
so häufige Phantasie Rechnung getragen, die Mutter, Amme oder Kinder¬
frau zur Verführerin macht. Ob die Onanie der Mädchen seltener und von
Anfang an weniger energisch ist als die der Knaben, bleibt dahingestellt;
es wäre wohl möglich. Auch wirkliche Verführung ist häufig genug, sie
geht entweder von anderen Kindern oder von Pflegepersonen aus, die das
Kind beschwichtigen, einschläfern oder von sich abhängig machen wollen.
Wo Verführung einwirkt, stört sie regelmäßig den natürlichen Ablauf der
Entwicklungsvorgänge; oft hinterläßt sie weitgehende und andauernde
Konsequenzen.
Das Verbot der Masturbation wird, wie wir gehört haben, zum Anlaß,
sie aufzugeben, aber auch zum Motiv der Auflehnung gegen die verbietende
Person, also die Mutter oder den Mutterersatz, der später regelmäßig mit
ihr verschmilzt. Die trotzige Behauptung der Masturbation scheint den
Weg zur Männlichkeit zu eröffnen. Auch wo es dem Kind nicht gelungen
ist, die Masturbation zu unterdrücken, zeigt sich die Wirkung des anscheinend
machtlosen Verbots in seinem späteren Bestreben, sich mit allen Opfern
von der ihm verleideten Befriedigung frei zu machen. Noch die Objektwahl
des reifen Mädchens kann von dieser festgehaltenen Absicht beeinflußt
werden. Der Groll wegen der Behinderung in der freien sexuellen Betätigung
spielt eine große Rolle in der Ablösung von der Mutter. Dasselbe Motiv
wird auch nach der Pubertät wieder zur Wirkung kommen, wenn die
Mutter ihre .Pflicht erkennt, die Keuschheit der Tochter zu behüten. Wir
werden natürlich nicht daran vergessen, daß die Mutter der Masturbation
des Knaben in gleicher Weise entgegentritt und somit auch ihm ein
starkes Motiv zur Auflehnung schafft.
Wenn das kleine Mädchen durch den Anblick eines männlichen Geni-
324
Sigm. Freud
tales seinen eigenen Defekt erfährt, nimmt sie die unerwünschte Beleh¬
rung nicht ohne Zögern und ohne Sträuben an. Wie wir gehört haben
wird die Erwartung, auch einmal ein solches Genitale zu bekommen
hartnäckig festgehalten, und der Wunsch danach überlebt die Hoffnung
noch um lange Zeit. In allen Fällen hält das Kind die Kastration zu¬
nächst nur für ein individuelles Mißgeschick, erst später dehnt es dieselbe
auch auf einzelne Kinder, endlich auf einzelne Erwachsene aus. Mit der
Einsicht in die Allgemeinheit dieses negativen Charakters stellt sich eine
große Entwertung der Weiblichkeit, also auch der Mutter, her.
Es ist sehr wohl möglich, daß die vorstehende Schilderung, wie sich
das kleine Mädchen gegen den Eindruck der Kastration und das Verbot
der Onanie verhält, dem Leser einen verworrenen und widerspruchsvollen
Eindruck macht. Das ist nicht ganz die Schuld des Autors. In Wirklichkeit
ist eine allgemein zutreffende Darstellung kaum möglich. Bei verschiedenen
Individuen findet man die verschiedensten Reaktionen, bei demselben Individuum
bestehen die entgegengesetzten Einstellungen nebeneinander. Mit dem ersten
Eingreifen des Verbots ist der Konflikt da, der von nun an die Entwicklung
der Sexualfunktion begleiten wird. . Es bedeutet auch eine besondere
Erschwerung der Einsicht, daß man so große Mühe hat, die seelischen
Vorgänge dieser ersten Phase von späteren zu unterscheiden, durch die sie
überdeckt und für die Erinnerung entstellt werden. So wird z. B. später
einmal die Tatsache der Kastration als Strafe für die onanistische Betätigung
aufgefaßt, deren Ausführung aber dem Vater zugeschoben, was beides
gewiß nicht ursprünglich sein kann. Auch der Knabe befürchtet die
Kastration regelmäßig von seiten des Vaters, obwohl auch bei ihm die
Drohung zumeist von der Mutter ausgeht.
Wie dem auch sein mag, am Ende dieser ersten Phase der Mutter¬
bindung taucht als das stärkste Motiv zur Abwendung von der Mutter
der Vorwurf auf, daß sie dem Kind kein richtiges Genitale mitgegeben,
d. h. es als Weib geboren hat. Nicht ohne Überraschung vernimmt man einen
anderen Vorwurf, der etwas weniger weit zurückgreift: die Mutter hat
dem Kind zu wenig Milch gegeben, es nicht lange genug genährt. Das
mag in unseren kulturellen Verhältnissen recht oft zutreffen, aber gewiß
nicht so oft, als es in der Analyse behauptet wird. Es scheint vielmehr,
als sei diese Anklage ein Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit der
Kinder, die unter den kulturellen Bedingungen der Monogamie nach
sechs bis neun Monaten der Mutterbrust entwöhnt werden, während die
primitive Mutter sich zwei bis drei Jahre lang ausschließlich ihrem Kinde
widmet, als wären unsere Kinder für immer ungesättigt geblieben, als
hätten sie nie lang genug an der Mutterbrust gesogen. Ich bin aber nicht
Über die weiblidie Sexualität
325
sicher, ob man nicht bei der Analyse von Kindern, die solange gesäugt
worden sind wie die Kinder der Primitiven, auf dieselbe Klage stoßen
würde. So groß ist die Gier der kindlichen Libido! Überblickt man die
^anze Reihe der Motivierungen, welche die Analyse für die Abwendung
von der Mutter aufdeckt, daß sie es unterlassen hat, das Mädchen mit
dem einzig richtigen Genitale auszustatten, daß sie es ungenügend ernährt
hat, es gezwungen hat, die Mutterliebe mit anderen zu teilen, daß sie nie
alle Liebeserwartungen erfüllt, und endlich, daß sie die eigene Sexual¬
betätigung zuerst angeregt und dann verboten hat, so scheinen sie alle
zur Rechtfertigung der endlichen Feindseligkeit unzureichend. Die einen
von ihnen sind unvermeidliche Abfolgen aus der Natur der infantilen
Sexualität, die anderen nehmen sich aus wie später zurechtgemachte
Rationalisierungen der unverstandenen Gefühlswandlung. Vielleicht geht
es eher so zu, daß die Mutterbindung zugrunde gehen muß, gerade darum,
weil sie die erste und so intensiv ist, ähnlich wie man es so oft an den
ersten, in stärkster Verliebtheit geschlossenen Ehen der jungen Frauen
beobachten kann. Hier wie dort würde die Liebeseinstellung an den
unausweichlichen Enttäuschungen und an der Anhäufung der Anlässe zur
Aggression scheitern. Zweite Ehen gehen in der Regel weit besser aus.
Wir können nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Ambivalenz
der Gefühlsbesetzungen ein allgemein gültiges psychologisches Gesetz ist,
daß es überhaupt unmöglich ist, große Liebe für eine Person zu emp¬
finden, ohne daß sich ein vielleicht ebenso großer Haß hinzugesellt oder
umgekehrt. Dem Normalen und Erwachsenen gelingt es ohne Zweifel,
beide Einstellungen von einander zu sondern, sein Liebesobjekt nicht zu
hassen und seinen Feind nicht auch lieben zu müssen. Aber das scheint
das Ergebnis späterer Entwicklungen. In den ersten Phasen des Liebes-
lebens ist offenbar die Ambivalenz das Regelrechte. Bei vielen Menschen
bleibt dieser archaische Zug über das ganze Leben erhalten, für die
Zwangsneurotiker ist es charakteristisch, daß in ihren Objektbeziehungen
Liebe und Haß einander die Waage halten. Auch für die Primitiven
dürfen wir das Vorwiegen der Ambivalenz behaupten. Die intensive
Bindung des kleinen Mädchens an seine Mutter müßte also eine stark
ambivalente sein und unter der Mithilfe der anderen Momente gerade
durch diese Ambivalenz zur Abwendung von ihr entschieden werden, also
wiederum infolge eines allgemeinen Charakters der infantilen Sexualität.
Gegen diesen Erklärungsversuch erhebt sich sofort die Frage: Wie
wird es aber den Knaben möglich, ihre gewiß nicht weniger intensive
Mutterbindung unangefochten festzuhalten? Ebenso rasch ist die Antwort
bereit: Weil es ihnen ermöglicht ist, ihre Ambivalenz gegen die Mutter
326
Sigm. Freud
zu erledigen, indem sie all ihre feindseligen Gefühle beim Vater unter¬
bringen. Aber erstens soll man diese Antwort nicht geben, ehe man die
präödipale Phase der Knaben eingehend studiert hat, und zweitens ist es
wahrscheinlich überhaupt vorsichtiger, sich einzugestehen, daß man diese
Vorgänge, die man eben kennen gelernt hat, noch gar nicht gut durchschaut
III
Eine weitere Frage lautet: Was verlangt das kleine Mädchen von der
Mutter? Welcher Art sind seine Sexualziele in jener Zeit der ausschließlichen
Mutterbindung? Die Antwort, die man aus dem analytischen Material
entnimmt, stimmt ganz mit unseren Erwartungen überein. Die Sexual¬
ziele des Mädchens bei der Mutter sind aktiver wie passiver Natur, und
sie werden durch die Libidophasen bestimmt, die das Kind durchläuft.
Das Verhältnis der Aktivität zur Passivität verdient hier unser besonderes
Interesse. Es ist leicht zu beobachten, daß auf jedem Gebiet des seelischen
Erlebens, nicht nur auf dem der Sexualität, ein passiv empfangener Ein¬
druck beim Kind die Tendenz zu einer aktiven Reaktion hervorruft. Es
versucht das selbst zu machen, was vorhin an oder mit ihm gemacht
worden ist. Es ist das ein Stück der Bewältigungsarbeit an der Außen¬
welt, die ihm auferlegt ist, und kann selbst dazu führen, daß es sich um
die Wiederholung solcher Eindrücke bemüht, die es wegen ihres peinlichen
Inhalts zu vermeiden Anlaß hätte. Auch das Kinderspiel wird in den
Dienst dieser Absicht gestellt, ein passives Erlebnis durch eine aktive
Handlung zu ergänzen und es gleichsam auf diese Art aufzuheben. Wenn
der Doktor dem sich sträubenden Kind den Mund geöffnet hat, um ihm
in den Hals zu schauen, so wird nach seinem Fortgehen das Kind den
Doktor spielen und die gewalttätige Prozedur an einem kleinen Geschwister-
chen wiederholen, das ebenso hilflos gegen es ist, wie es selbst gegen den
Doktor war. Eine Auflehnung gegen die Passivität und eine Bevorzugung
der aktiven Rolle ist dabei unverkennbar. Nicht bei allen Kindern wird
diese Schwenkung von der Passivität zur Aktivität gleich regelmäßig und
energisch ausfallen, bei manchen mag sie ausbleiben. Aus diesem Ver¬
halten des Kindes mag man einen Schluß auf die relative Stärke der
Männlichkeit und Weiblichkeit ziehen, die das Kind in seiner Sexualität
an den Tag legen wird.
Die ersten sexuellen und sexuell mitbetonten Erlebnisse des Kindes bei
der Mutter sind natürlich passiver Natur. Es wird von ihr gesäugt, ge¬
füttert, gereinigt, gekleidet und zu allen Verrichtungen angewiesen. Ein
Teil der Libido des Kindes bleibt an diesen Erfahrungen haften und
Über die weibliche Sexualität
327
genießt die mit ihnen verbundenen Befriedigungen, ein anderer Teil
versucht sich an ihrer Umwendung zur Aktivität. An der Mutterbrust
wird zuerst das Gesäugtwerden durch das aktive Saugen abgelöst. In den
anderen Beziehungen begnügt sich das Kind entweder mit der Selbständigkeit,
d. h. mit dem Erfolg, daß es selbst ausführt, was bisher mit ihm geschehen
ist, oder mit aktiver Wiederholung seiner passiven Erlebnisse im Spiel,
oder es macht wirklich die IVIutter zum Objekt, gegen das es als tätiges
Subjekt auftritt. Das letztere, was auf dem Gebiet der eigentlichen Be¬
tätigung vor sich geht, erschien mir lange Zeit hindurch unglaublich, bis
die Erfahrung jeden Zweifel daran widerlegte.
Man hört selten davon, daß das kleine Mädchen die Mutter waschen,
ankleiden oder zur Verrichtung ihrer exkrementeilen Bedürfnisse mahnen
will. Es sagt zwar gelegentlich : jetzt wollen wir spielen, daß ich die
Mutter bin und du das Kind, — aber zumeist erfüllt es sich diese aktiven
Wünsche in indirekter Weise im Spiel mit der Puppe, in dem es selbst
die Mutter darstellt wie die Puppe das Kind. Die Bevorzugung des Spiels
mit der Puppe beim Mädchen im Gegensatz zum Knaben wird gewöhnlich
als Zeichen der früh erwachten Weiblichkeit aufgefaßt. Nicht mit Unrecht,
allein man soll nicht übersehen, daß es die Aktivität der Weiblichkeit ist,
die sich hier äußert, und daß diese Vorliebe des Mädchens wahrscheinlich
die Ausschließlichkeit der Bindung an die Mutter bei voller Vernach¬
lässigung des Vaterobjekts bezeugt.
Die so überraschende sexuelle Aktivität des Mädchens gegen die Mutter
äußert sich der Zeitfolge nach in oralen, sadistischen und endlich selbst
phallischen, auf die Mutter gerichteten Strebungen. Die Einzelheiten sind
hier schwer zu berichten, denn es handelt sich häufig um dunkle Trieb-
regungen, die das Kind nicht psychisch erfassen konnte zur Zeit, da sie
vorfielen, die darum erst eine nachträgliche Interpretation erfahren haben
und dann in der Analyse in Ausdrucksweisen auftreten, die ihnen
ursprünglich gewiß nicht zukamen. Mitunter begegnen sie uns als Über-
tragungen auf das spätere Vaterobjekt, wo sie nicht hingehören und das
Verständnis empfindlich stören. Die aggressiven oralen und sadistischen
Wünsche findet man in der Form, in welche sie durch frühzeitige
Verdrängung genötigt werden, als Angst, von der Mutter umgebracht zu
werden, die ihrerseits den Todes wünsch gegen die Mutter, wenn er bewußt
wird, rechtfertigt. Wie oft diese Angst vor der Mutter sich an eine un¬
bewußte Feindseligkeit der Mutter anlehnt, die das Kind errät, läßt sich
nicht angeben. (Die Angst, gefressen zu werden, habe ich bisher nur bei
Männern gefunden, sie wird auf den Vater bezogen, ist aber wahrscheinlich das
Verwandlungsprodukt der auf die Mutter gerichteten oralen Aggression.
328
Sigm, Freud
"1
Man will die Mutter auffressen, von der man sich genährt hat; beim
Vater fehlt für diesen Wunsch der nächste Anlaß.)
Die weiblichen Personen mit starker Mutterbindung, an denen ich die
präödipale Phase studieren konnte, haben übereinstimmend berichtet, daß
sie den Klystieren und Darmeingießungen, die die Mutter bei ihnen vor¬
nahm, größten Widerstand entgegenzusetzen und mit Angst und Wut¬
geschrei darauf zu reagieren pflegten. Dies kann wohl ein sehr häufiges
oder se]bst regelmäßiges Verhalten der Kinder sein. Die Einsicht in die
Begründung dieses besonders heftigen Sträubens gewann ich erst durch eine
Bemerkung von Ruth Mack - Brunswick, die sich gleichzeitig mit den
nämlichen Problemen beschäftigte, sie möchte den Wutausbruch nach dem
Klysma dem Orgasmus nach genitaler Reizung vergleichen. Die Angst dabei
wäre als Umsetzung der rege gemachten Aggressionslust zu verstehen. Ich
meine, daß es wirklich so ist, und daß auf der sadistisch-analen Stufe die
intensive passive Reizung der Darmzone durch einen Ausbruch von Aggressions¬
lust beantwortet wird, die sich direkt als Wut oder infolge ihrer Unter¬
drückung als Angst kundgibt. Diese Reaktion scheint in späteren Jahren
zu versiegen.
Unter den passiven Regungen der phallischen Phase hebt sich hervor,
daß das Mädchen regelmäßig die Mutter als Verführerin beschuldigt, weil
sie die ersten oder doch die stärksten genitalen Empfindungen bei den
Vornahmen der Reinigung und Körperpflege durch die Mutter (oder die sie
vertretende Pflegeperson) verspüren mußte. Daß das Kind diese Empfin¬
dungen gerne mag und die Mutter auffordert, sie durch wiederholte
Berührung und Reibung zu verstärken, ist mir oft von Müttern als
Beobachtung an ihren zwei- bis dreijährigen Töchterchen mitgeteilt worden.
Ich mache die Tatsache, daß die Mutter dem Kind so unvermeidlich die
phallische Phase eröffnet, dafür verantwortlich, daß in den Phantasien
späterer Jahre so regelmäßig der Vater als der sexuelle Verführer erscheint.
Mit der Abwendung von der Mutter ist auch die Einführung ins Geschlechts¬
leben auf den Vater überschrieben worden.
In der phallischen Phase kommen endlich auch intensive aktive Wunsch¬
regungen gegen die Mutter zustande. Die Sexualbetätigung dieser Zeit
gipfelt in der Masturbation an der Klitoris, dabei wird wahrscheinlich die
Mutter vorgestellt, aber ob es das Kind zur Vorstellung eines Sexualziels
bringt und welches dies Ziel ist, ist aus meiner Erfahrung nicht zu
erraten. Erst wenn alle Interessen des Kindes durch die Ankunft eines
Geschwisterchens einen neuen Antrieb erhalten haben, läßt sich ein solches
Ziel klar erkennen. Das kleine Mädchen will der Mutter dies neue Kind
gemacht haben, ganz so wie der Knabe, und auch seine Reaktion auf dies
Über die weiblidie Sexualität
329
Ereignis und sein Benehmen gegen das Kind ist dasselbe. Das klingt
ja absurd genug, aber vielleicht nur darum, weil es uns so ungewohnt
klingt.
Die Abwendung von der Mutter ist ein höchst bedeutsamer Schritt auf
dem Entwicklungsweg des Mädchens, sie ist mehr als ein bloßer Objekt¬
wechsel. Wir haben ihren Hergang und die Häufung ihrer vorgeblichen
Motivierungen bereits beschrieben, nun fügen wir hinzu, daß Hand in Hand
mit ihr ein starkes Absinken der aktiven und ein Anstieg der passiven
Sexualregungen zu beobachten ist. Gewiß sind die aktiven Strebungen
stärker von der Versagung betroffen worden, sie haben sich als durchaus
unausführbar erwiesen und werden darum auch leichter von der Libido
verlassen, aber auch auf Seite der passiven Strebungen hat es an Ent¬
täuschungen nicht gefehlt. Häufig wird mit der Abwendung von der
Mutter auch die klitoridische Masturbation eingestellt, oft genug wird mit der
Verdrängung der bisherigen Männlichkeit des kleinen Mädchens ein gutes
Stück ihres Sexualstrebens überhaupt dauernd geschädigt. Der Übergang
zum Vaterobjekt wird mit Hilfe der passiven Strebungen vollzogen, soweit
diese dem Umsturz entgangen sind. Der Weg zur Entwicklung der Weib¬
lichkeit ist nun dem Mädchen freigegeben, insoferne er nicht durch die
Reste der überwundenen, präödipalen Mutterbindung eingeengt ist.
Überblickt man nun das hier beschriebene Stück der weiblichen Sexual¬
entwicklung, so kann man ein bestimmtes Urteil über das Ganze der
Weiblichkeit nicht zurückdrängen. Man hat die nämlichen libidinösen
Kräfte wirksam gefunden wie beim männlichen Kind, konnte sich über¬
zeugen, daß sie eine Zeitlang hier wie dort dieselben Wege einschlagen
und zu den gleichen Ergebnissen kommen.
Es sind dann biologische Faktoren, die sie von ihren anfänglichen Zielen
ablenken und selbst aktive, in jedem Sinne männliche, Strebungen in die
Bahnen der Weiblichkeit leiten. Da wir die Zurückführung der Sexual¬
erregung auf die Wirkung bestimmter chemischer Stoffe nicht abweisen
können, liegt zuerst die Erwartung nahe, daß uns die Biochemie eines
Tages einen Stoff darstellen wird, dessen Gegenwart die männliche, und
einen, der die weibliche Sexualerregung hervorruft. Aber diese Hoffnung
scheint nicht weniger naiv als die andere, heute glücklich überwundene,
unter dem Mikroskop die Erreger von Hysterie, Zwangsneurose, Melan¬
cholie usw. gesondert aufzufinden.
Es muß auch in der Sexualchemie etwas komplizierter zugehen. Für
die Psychologie ist es aber gleichgültig, ob es einen einzigen sexuell
erregenden Stoff im Körper gibt, oder deren zwei, oder eine Unzahl
davon. Die Psychoanalyse lehrt uns mit einer einzigen Libido auszukommen.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 22
|
330
Sigm. Freud
die allerdings aktive und passive Ziele, also Befriedigungsarten, kennt. I n
diesem Gegensatz, vor allem in der Existenz von Libidostrebungen mit
passiven Zielen, ist der Rest des Problems enthalten.
IV
Wenn man die analytische Literatur unseres Gegenstandes einsieht,
überzeugt man sich, daß alles, was ich hier ausgeführt habe, dort bereits
gegeben ist. Es wäre unnötig gewesen, diese Arbeit zu veröffentlichen,
wenn nicht auf einem so schwer zugänglichen Gebiet jeder Bericht über
eigene Erfahrungen und persönliche Auffassungen wertvoll sein könnte.
Auch habe ich manches schärfer gefaßt und sorgfältiger isoliert. In einigen
der anderen Abhandlungen wird die Darstellung unübersichtlich infolge
der gleichzeitigen Erörterung der Probleme des Über-Ichs und des Schuld¬
gefühls. Dem bin ich ausgewichen, ich habe bei der Beschreibung der
verschiedenen Ausgänge dieser Entwicklungsphase auch nicht die Komplika¬
tionen behandelt, die sich ergeben, wenn das Kind infolge der Ent-
* täuschung am Vater zur aufgelassenen Mutterbindung zurückkehrt oder
nun im Laufe des Lebens wiederholt von einer Einstellung zur anderen
herüberwechselt. Aber gerade, weil meine Arbeit nur ein Beitrag ist unter
anderen, darf ich mir eine eingehende Würdigung der Literatur ersparen
und kann mich darauf beschränken, bedeutsamere Übereinstimmungen mit
einigen und wichtigere Abweichungen von anderen dieser Arbeiten
hervorzuheben.
In die eigentlich noch unübertroffene Schilderung Abrahams der
„Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes“ (Internat. Zeitschr.
f. PsA., VII, 1921) möchte man gerne das Moment der anfänglich aus¬
schließlichen Mutterbindung eingefügt wissen. Der wichtigen Arbeit von
Jeanne 1 Lampl-de Groot 2 muß ich in den wesentlichen Punkten
zustimmen. Hier wird die volle Identität der präödipalen Phase bei
Knaben und Mädchen erkannt, die sexuelle (phallische) Aktivität des
Mädchens gegen die Mutter behauptet und durch Beobachtung erwiesen.
Die Abwendung von der Mutter wird auf den Einfluß der zur Kenntnis
genommenen Kastration zurückgeführt, die das Kind dazu nötigt, das
Sexualobjekt und damit auch oft die Onanie aufzugeben, für die ganze
Entwicklung die Formel geprägt, daß das Mädchen eine Phase des
1' Nach dem Wunsch der Autorin korrigiere ich so ihren Namen, der in der
Zeitschrift als A. L. de Gr. angeführt ist.
2) Zur Entwicklungsgeschichte des Ödipuskomplexes der Frau. Internat. Zeitschr.
f. PsA. XIII (1927).
Uber die weibliche Sexualität
331
„negativen“ Ödipuskomplexes durchmacht, ehe sie in den positiven ein-
treten kann. Eine Unzulänglichkeit dieser Arbeit finde ich darin, daß sie
die Abwendung von der Mutter als bloßen Objektwechsel darstellt und
nicht darauf eingeht, daß sie sich unter den deutlichsten Zeichen von
Feindseligkeit vollzieht. Diese Feindseligkeit findet volle Würdigung in
der letzten Arbeit von Helene Deutsch (Der feminine Masochismus
und seine Beziehung zur Frigidität, Internat. Zeitschr. f. PsA., XVI, 1930),
woselbst auch die phallische Aktivität des Mädchens und die Intensität
seiner Mutterbindung anerkannt werden. H. Deutsch gibt auch an,
daß die Wendung zum Vater auf dem Weg der (bereits bei der Mutter
rege gewordenen) passiven Strebungen geschieht. In ihrem früher (1925)
veröffentlichten Buch „Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen*
hatte die Autorin sich von der Anwendung des Ödipusschemas auch auf
die präödipale Phase noch nicht frei gemacht und darum die phallische
Aktivität des Mädchens als Identifizierung mit dem Vater gedeutet.
Fenichel (Zur prägenitalen Vorgeschichte des Ödipuskomplexes, Inter¬
nat. Zeitschr. f. PsA., XVI, 1930) betont mit Recht die Schwierigkeit, zu er¬
kennen, was von dem in der Analyse erhobenen Material unveränderter
Inhalt der präödipalen Phase und was daran regressiv (oder anders) entstellt
ist. Er anerkennt die phallische Aktivität des Mädchens nach Jeanne
Lampl- de Groot nicht, verwahrt sich auch gegen die von Melanie
Klein (Frühstadien des Ödipuskonfliktes, Internat. Zeitschr.f. PsA., XIV, 1928
u. a. a. O.) vorgenommene „Vorverlegung“ des Ödipuskomplexes, dessen Be¬
ginn sie schon in den Anfang des zweiten Lebensjahres versetzt. Diese Zeit¬
bestimmung, die notwendigerweise auch die Auffassung aller anderen Ver¬
hältnisse der Entwicklung verändert, deckt sich in der Tat nicht mit den
Ergebnissen der Analyse an Erwachsenen und ist besonders unvereinbar mit
meinen Befunden von der langen Andauer der präödipalen Mutterbindung
der Mädchen. Einen Weg zur Milderung dieses Widerspruches weist die
Bemerkung, daß wir auf diesem Gebiet noch nicht zu unterscheiden vermögen,
was durch biologische Gesetze starr festgelegt und was unter dem Einfluß
akzidentellen Erlebens beweglich und veränderlich ist. Wie es von der
Wirkung der Verführung längst bekannt ist, können auch andere Momente,
der Zeitpunkt der Geburt von Geschwistern, der Zeitpunkt der Entdeckung
des Geschlechtsunterschieds, die direkte Beobachtung des Geschlechtsverkehrs,
das werbende oder abweisende Benehmen der Eltern u. a., eine Beschleuni¬
gung und Reifung der kindlichen Sexualentwicklung herbeiführen.
Bei manchen Autoren zeigt sich die Neigung, die Bedeutung der ersten i|
ursprünglichsten Libidoregungen des Kindes zugunsten späterer Entwicklungs¬
vorgänge herabzudrücken, so daß jenen — extrem ausgedrückt — die Rolle ver-
22* , l
332
Sigm. Freud: Über die weibliche Sexualität
bliebe, nur gewisse Richtungen anzugeben, während die Intensitäten, welche
diese Wege einschlagen, von späteren Regressionen und Reaktionsbildungen
bestritten werden. So z. R. wenn K. Horney (Flucht aus der Weiblichkeit,
Internat. Zeitschr. f. PsA., XII, 1926) meint, daß der primäre Penisneid des
Mädchens von uns weit überschätzt wird, während die Intensität des später
entfalteten Männlichkeitsstrebens einem sekundären Penisneid zuzuschreiben
ist, der zur Abwehr der weiblichen Regungen, speziell der weiblichen
Rindung an den Vater, gebraucht wird. Das entspricht nicht meinen Ein¬
drücken. So sicher die Tatsache späterer Verstärkungen durch Regression und
Reaktionsbildung ist, so schwierig es auch sein mag, die relative Abschätzung
der zusammenströmenden Libidokomponenten vorzunehmen,so meine ich doch,
wir sollen nicht übersehen, daß jenen ersten Libidoregungen eine Intensität
eigen ist, die allen späteren überlegen bleibt, eigentlich inkommensurabel ge¬
nannt werden darf. Es ist gewiß richtig, daß zwischen der Vaterbin düng und dem
Männlichkeitskomplex eine Gegensätzlichkeit besteht, — es ist der allgemeine
Gegensatz zwischen Aktivität und Passivität, Männlichkeit und Weiblichkeit,—
aber er gibt uns kein Recht, anzunehmen, nur das eine sei primär, das
andere verdanke seine Stärke nur der Abwehr. Und wenn die Abwehr
gegen die Weiblichkeit so energisch ausfällt, woher kann sie sonst ihre
Kraft beziehen als aus dem Männlichkeitsstreben, das seinen ersten Aus¬
druck im Penisneid des Kindes gefunden hat und darum nach ihm benannt
zu werden verdient?
Ein ähnlicher Einwand ergibt sich gegen die Auffassung von Jones
(Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität, Internat. Zeitschr. f. PsA.,
XIV, 1928), nach der das phallische Stadium bei Mädchen eher eine
sekundäre Schutzreaktion sein soll als ein wirkliches Entwicklungstadium.
Das entspricht weder den dynamischen noch den zeitlichen Verhältnissen.
Todestrieb und Angst
Beitrag zu einer Todestriebdiskussion der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
am 21. März 1931
Von
Therese Benedek
Leipzig
Ich weiß genau, daß es meinem Vortrag nicht gelingen kann, Sie alle
zu überzeugen. Wenn man heute für die Annahme der Todestriebhypo¬
these eintritt, steht man noch auf schwankendem Boden.
Wie sicher fühlen wir uns bereits, wenn wir vom Sexualtrieb und
den Partialtrieben sprechen. Da ist es uns geläufig und klar, daß der
Trieb „ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem“ ist, und
daß wir darunter „die psychische Repräsentanz der aus dem Körperinnern
in die Seele gelangenden Reize“ verstehen. Wir wissen einiges von den
Quellen, dem Ablauf und den Schicksalen dieser Triebe.
Ganz anders bei dem Begriff „Todestrieb“. Sofort taucht die Frage auf:
Wo finden wir die Quelle des Todestriebes? Wollten wir dem Todestrieb
den allgemeinen Begriff des „Lebenstriebes“ gegenüberstellen, dann würden
wir für den Lebenstrieb auch keine andere Quelle feststellen können als
den biologischen Lebenslauf der Zelle. Ob ein Drang zum Leben
ursprünglich besteht oder nicht, läßt sich psychologisch nicht ergrün¬
den. Aber das erscheint uns „einfühlbar“. Das Leben erscheint uns so
spannungsvoll, so drängend, seine Richtung auf Organisierung immer
größerer Einheiten so einleuchtend, daß wir dem Leben gerne einen
Triebcharakter zuerkennen möchten.
Aber nicht allein Freud hatte — als Konsequenz seiner dynamischen
Auffassung — die Frage aufgeworfen, ob die uns so drängend, wie er
s agt, „lärmend“ erscheinenden Lebensäußerungen aus einem einheitlichen
Triebablauf hervorgehen, oder ob sie die Wirkung zweier aufeinander
stoßender Kräfte sind, bzw. wie es Ehrenberg ausdrückt, „eine Zwie-
fältigkeit, deren aktuelles Sein die Einswerdung ist“. Physiologische und
334
Therese Benedek
biologische Untersuchungen führten zu ganz ähnlichen Fragestellungen
und auch zu ähnlichen Lösungen. Von den verschiedenen Meinungen, die
Physiologen und Biologen über Leben und Tod äußerten, dürfte uns hier
die Auffassung von Ehrenberg (Göttingen) besonders interessieren, da
er von der Biologie und physiologischen Chemie her zu ähnlichen An¬
schauungen gekommen ist wie Freud. Sein Buch „Theoretische Biologie
vom Standpunkte der Irreversibilität des elementaren Lebensvorganges“
wird auch in einem Aufsatz von Westerman Holstijn „Tendenzen
des Toten, Todestriebe und Triebe zum Töten“ (Imago XVI, 1930) aus¬
führlich zitiert. Ich will hier nur kurz zusammenfassend folgendes anführen:
Schon der Lebensprozeß des einfachsten einzelligen Wesens, also eines
unstrukturierten Protoplasmatröpfchens, ist sehr kompliziert und besteht aus
vielen enzymatischen und fermentativen Prozessen. Diese Vorgänge dienen
nicht nur der Nahrungsaufnahme, Verdauung und der Assimilation, sondern
sie führen zugleich zur Ausfällung bis dahin in Lösung befindlicher
Stoffe. Diese Ausfällungen bilden die erste primitivste Struktur in der
ZelJe und sind als solche irreversibel. Die Funktion des Protoplasmas ist
Strukturbildung im weitesten Sinne. Struktur ist: alle Substanz, die ohne
radikalen Eingriff irreversibel aus dem flüssigen und gelösten in den festen
und unlöslichen Zustand übergegangen ist: Was assimiliert, ist im Leben
begriffen, — was durch die Assimilation entsteht, ist eine Veränderung in
der Zelle. Diese Veränderung, die wir als höhere Strukturierung, als
Lebensäußerung erkennen, ist kein Leben mehr, sondern Tod. Aber sie ist
weiter wirksam, weil die Formbildung, die Struktur, den weiteren Ablauf
des Lebens mitbestimmt. Wir erfassen sie daher als „Leben“; daß sie aber
auch etwas dem Leben Feindliches in sich birgt, erkennen wir erst, wenn
das Unlösbare, Struktur-Gewordene überwiegt und die Lebensprozesse
hemmt. So erkennt Ehrenberg eine von Anfang des Lebens an wirk¬
same, dem Leben Richtung gebende Kraftquelle, die sich in allen Lebens¬
erscheinungen der Zelle und der höheren Zellorganisationen manifestiert.
Seine Beweisführung ist zu physiologisch-chemisch, als daß wir sie hier
weiter gebrauchen könnten. Wesentlich für uns ist die von ihm vermittelte
Einsicht, daß diese Probleme zunächst der Physiologie und Biologie an¬
gehören und mit den Forschungsmethoden dieser Wissensgebiete der Lösung
näherzuführen sind.
Ich möchte hier aus diesem für uns fremden Material nur auf einen ein¬
zigen Vorgang hinweisen, weil er zum phylogenetisch jüngsten Korrelations¬
apparat des Organismus gehört und unserem Interessenkreis am nächsten
liegt. Dies ist ein fermentativer Prozeß des hormonalen Systems, und zwar
die Produktion der Abwehrfermente gegen die eigenen Hormone.
Todestrieb und Angst 335
Unter Abwehrfermenten verstand Abderhalden 1 ursprünglich die
spezifischen Fermentstoffe, die im lebenden Organismus als Reaktion auf
parenterale Zufuhr von artfremden Eiweißstoffen kurz nach derer Zufuhr
auftreten und die Aufgabe haben, die zugeführten artfremden Stoffe abzubauen.
Später stellte sich aber heraus, daß der Organismus Abbaufermente nicht nur
gegen von außen zugeführte Stoffe, sondern auch gegen die eigenen Zellen
produziert. Zuerst hatte man diese Tatsache während der Schwangerschaft und
bei Tumoren festgestellt, wobei man aber sowohl die Stoffwechselprodukte
der Schwangerschaft als auch die Tumoren als körperfremd ansehen
konnte. Nachher wurde die Frage untersucht, ob auch die körpereigenen
Inkretstoffe und Hormone abgebaut werden oder nicht.
Zuerst hatte Abderhalden noch angenommen, daß die eigenen Hor¬
mone nur dann abgebaut werden, wenn eine Dysfunktion des betreffenden
Organes besteht. Aber es hatte sich erwiesen, daß im Organismus immer,
auch im gesunden, ungestörten Zustande, Abwehrfermente gegen die eigenen
Hormone produziert werden.
Zimmer, Länder und Feh low 2 haben Gesunde untersucht und
aus den Resultaten eine sogenannte Normalkurve dargestellt. Bei aller
Vorsicht, mit welcher solche Untersuchungen zu behandeln sind, beweisen
sie doch, daß im Serum normalerweise spezifische Abwehrfermente in
bestimmten Mengenverhältnissen vorhanden sind, die auf Zellen und Zell¬
produkte der eigenen Organe eingestellt sind. Von den Feststellungen, die
sich aus diesen Normalkurven ergeben haben, ist noch zu erwähnen, daß
verschiedene Personen verschieden hohe Abbauwerte liefern, aber wenn
sie gesund sind, ist die Korrelation der verschiedenen Abbaufermente
immer konstant. Ebenso können, wenn ein und dieselbe Person mehrmals
untersucht wird, zwar die Abbauwerte verschieden sein, aber die Kurve
zeigt trotzdem die gleiche Form, weil sich das gegenseitige Mengen¬
verhältnis der Fermente nicht ändert. Zwischen den Hormonorganen, deren
fünf 3 besonders auf den Genitalapparat in Wechselbeziehung eingestellt
sind, besteht im Zustand der Gesundheit eine gewisse typische Korrelation,
die sich in pathologischen Zuständen sofort verändert.
Es ist eine wichtige Frage, die uns auch vom Standpunkt unseres heutigen
Themas aus interessiert, woher die Abwehrfermente stammen. Das ist noch
nicht mit Sicherheit entschieden, aber „es spricht sehr vieles dafür“, meint
1) Emil Abderhalden: Die Abderhalden sehe Reaktion. Verl. Springer, 1922.
2^ Zimmer, Länder, F e h 1 o w: Fermentforschung. 10. Jg., 1928. Dieselben;
Münchener Med. Wochenschrift, 1927.
3) Mit Testes und Ovarien in enger Korrelation stehen; Hypophyse, Epiphyse,
Thymus, Thyreoidea und Nebenniere.
Therese Benedek
336
Abderhalden, „daß die Fermente, die im Blut nachgewiesen werden
konnten, im allgemeinen und vielleicht überhaupt nicht neu gebildet worden
sind, sondern offenbar mit den b 1 u t fremden, zelleigenen Stoffen zusammen
aus denselben Zellen wie diese herstammen und ins Blut übergehen“. 1
Wie es auch mit der Bildungsstätte der Abwehrfermente gegen die Hormone
sein mag, eins ist heute schon klar: daß die im Organismus produzierten
Hormone vom Organismus selbst abgebaut werden.
Das Gesagte solJ nur als ein Beispiel dienen dafür, daß im Organismus
außer den Stoffen, die die Libido vermitteln, zugleich auch entgegengesetzt
wirkende Stoffe produziert werden, und was wir davon wahrnehmen, ist
immer die Resultante der Wirksamkeit beider Stoffe.
Die Psychoanalyse hat die Erscheinungen der Libidostauung aufgezeigt
und untersucht. Wenn wir weiterhin die Triebphänomene biologisch er¬
forschen wollen, müssen wir uns die Frage vorlegen: Was geschieht eigent¬
lich im Organismus, wenn wir sagen: es ist eine Libidospannung vorhanden?
Ist das wirklich eine Anhäufung von Stoffen, die die Libido vermitteln?
Oder überwiegen dabei die Abbaustoffe? Oder sind beide Arten von Stoffen
gleichzeitig dafür verantwortlich? Beruht vielleicht dieser Zustand auf einer
Störung in der Korrelation verschiedener Stoffe und welcher?
Diese und ähnliche Fragestellungen haben mich veranlaßt, bei gewissen
Patienten, z. B. bei schweren hypochondrischen Anfällen, bei akuten Angst¬
zuständen oder bei solchen Angstzuständen, die mit Wahnideen einhergehen,
usw. wiederholt Hormonuntersuchungen ausführen zu lassen und ihre Ver¬
änderungen während der psychoanalytischen Behandlung zu kontrollieren. Es
ist hier keine Zeit und Veranlassung, diese Fälle ausführlich zu besprechen.
Ich glaube durch einzelne dieser Untersuchungen doch eine vage Antwort
bekommen zu haben, und so wäre es vielleicht richtiger gewesen, diese
Fälle zuerst zu demonstrieren. Ich habe dies aber zunächst noch unterlassen,
weil die Untersuchungen noch spärlich und unabgeschlossen sind. Nun bin
ich in der mißlichen Lage, der Diskussion über den Todestrieb zuliebe
auf Fälle zurückgreifen zu müssen, die noch nicht ausführlich demonstriert
werden können. Wenn ich meinen Vermutungen Ausdruck geben darf,
sprechen diese Beobachtungen dafür, daß eine starke „Libidostauung“ in
psychoanalytisch-klinisch verschiedenen Fällen auch verschiedenen Hormon -
ab bau zeigt, daß in der Korrelation gewisse Verschiebungen klar zu sehen
s ind, und zwar besonders deutlich in der Bisexualität, die anscheinend in
Stadien akuter Angst besonders stark zum Vorschein kommt. Wir wissen
nicht, ob die libidoproduzierenden chemischen Stoffe oder ob ihre Abwehr-
1 Abderhalden: a. a. O.
Todestrieb und Angst
337
fermente, oder, was wahrscheinlicher ist, ihr Gemisch, oder Verschiebungen
in ihrer Korrelation die Zustände verursachen, die wir „Libidostauung“ nennen.
Hier treffen sich meiner Ansicht nach die beiden Richtungen der Forschung
wieder: die physiologische und die psychoanalytische.
Der Zustand, der infolge der Wirkungen der verschiedenen Hormone
und — wie wir nunmehr wohl hinzufügen dürfen — deren Abwehrfermente
entsteht, reizt den Organismus zum Abstoßen von Zellenmassen, die die
Qualität der Fortpflanzung, also die neue Strukturbildung in höchster Potenz,
in sich tragen. Ist aber die Möglichkeit des Abstoßens mit der damit ver¬
knüpften Befriedigung auf irgendwelche Weise verhindert oder gestört, so
entsteht im Organismus eine Bedürfnisspannung, die sich dem Bewußtsein
als Angst bemerkbar macht, und die zugleich Reize zur Strukturbildung
innerhalb des Organismus mit sich bringt.
Es erschien mir seit der großartigen Konzeption des Todestriebes, daß
das Problem der Angst mit dieser Konzeption auf das engste verknüpft ist.
Seit Beginn der psychoanalytischen Forschung standen die Fragen über
die Angst als Motor aller Symptome im Hintergründe aller psychoanalytischen
Untersuchungen. Zusammenfassend hat Freud zuletzt in „Hemmung,
Symptom und Angst“ (1926, Ges. Sehr., Bd.XI) die Angstprobleme besprochen.
Demnach ist die Angst zunächst phänomenologisch ein „besonderer Unlust¬
zustand mit Abfuhraktionen auf bestimmte Bahnen“ (S. 73). Zu der Be¬
wältigung der Angst gehört also, daß sie auf vorgebildeten Bahnen abgeführt
wird. Der Organismus „wirft“ die Angst „aus sich heraus“. Die Motorik
übernimmt diese Aufgabe, sowohl die Vasomotoren und die gesamte glatte
Muskulatur, als auch die quergestreiften Muskeln, die entweder vorüber¬
gehend gelähmt werden oder auf eine frühere Phase regredieren, indem sie
sich der Herrschaft des Willens entziehen und sich mit feinen oder groben
Bewegungen in den Dienst der Angstabfuhr stellen. Wir sagen dann: Der
Reizschutz, der die lebenswichtigste Funktion des Organismus ist, ist durch¬
brochen. Der Organismus ist „überschüttet“. — Womit? — Der Organismus
jedenfalls wehrt sich gegen irgendeinen Einbruch, und eine seiner Abwehr¬
methoden ist eben die Abfuhr durch die Motorik. Aber die Abfuhr der
Angst ist nicht identisch mit dem Angst a f f e k t selbst. Ebenso wie durch
Schmerz und Trauer die Funktion der Tränendrüsen beeinflußt wird und
durch das Weinen Schmerz und Trauer abgeführt werden, aber das Weinen
keinesfalls identisch mit diesen beiden Affekten ist, so ist auch die Angst¬
abfuhr dem Angstaffekt nicht gleichzusetzen. So wartet noch immer die
Frage: „Wie ist die Angst dynamisch zu erklären?“ auf ihre Antwort.
Nach der letzten Auffassung von Freud ist die Angst ein vom
Ich abgegebenes Gefahrsignal. Unter den Gefahren, die vom Ich
338
Therese Benedek
wahrgenommen werden, sind für uns diejenigen wichtig, die im Es entstehen
„Im Es bereiten sich Vorgänge vor, die dem Ich Anlaß zur Angstentwicklung
geben“ (S. 81), und Freud definiert die Angst als einen Affekt, der bei
einer Bedürfnisspannung im Es entsteht. Das Bedürfnis, dessen Ansteigen
gefürchtet wird, ist nun seinem speziellen Inhalt nach verschieden; in jeder
Phase der individuellen Entwicklung kann die Bedürfnisspannung libido¬
dynamisch anderen Inhalt haben. (Angst vor allgemeinem Objekt Verlust,
Angst vor analer, genitaler Libidostauung, Kastrationsangst, Angst vor dem
Über-Ich usw.)
Die Bedürfnisspannung selbst erklärt nun aber auch nicht restlos die
Entstehung des Angstaffektes, sie ist nur ihre Vorbedingung.
Freud selbst sagt, daß es viele Bedürfnisspannungen gibt, die anders
wahrgenommen werden, z. B. als Schmerz, Traurigkeit, Trauer — oder
dieselben ßedürfnisspannungen können bei verschiedenen Menschen oder
unter verschiedenen Umständen einen verschiedenen Grad von Angst her¬
beiführen. So sagt der Umstand, daß die Angst ein Gefahrsignal des Ichs
ist, nur etwas über ihren ökonomischen Sinn aus. Die Angst er¬
spart dem Ich, das sich mit ihr auf eine traumatische Situation vorbereitet,
indem sie deren Erscheinungen in gelinder Weise vorwegnimmt, einen
traumatischen Schock und schützt so das Ich vor plötzlicher Durchbrechung
des Beizschutzes. Das ist ihr „Krankheitsgewinn“, und diese Betrachtung
ist eine ökonomische und als solche noch keine Erklärung für die
Dynamik des A n g s t a f f e k t e s.
Für diese können wir nur dann bei Freud eine restlose Aufklärung
finden, wenn wir die Triebbetrachtung, die er im „Jenseits des Lust¬
prinzips inauguriert und im „Ich und Es“ in ihrer klinischen Bedeutung
das erste Mal ausführlicher untersucht hat, in Betracht ziehen. Hier be¬
tont Freud immer wieder, daß die beiden Triebarten, Eros und Todes¬
trieb, im Organismus nie allein, nie voneinander unabhängig, sondern
immer nur miteinander verbunden, legiert Vorkommen. Und wenn man ihn
und Ehrenberg richtig versteht, dann darf man wohl annehmen, daß
diese Mischungen ein „labiles Gleichgewicht“ darstellen, welches
unter bestimmten Umständen gestört werden kann. „In rascher Verall¬
gemeinerung möchten wir vermuten,“ sagt Freud (Ich und Es, Ges. Sehr.,
Bd. VI, S. 386), „daß das Wesen einer Libidoregression, z. B. von der genitalen
zur sadistisch-analen Phase, auf einer Triebentmischung beruht.“ Diesen Vor¬
gang dürfen wir uns vielleicht folgendermaßen vorstellen: Es entsteht eine
Bedürfnisspannung, die das bestehende labile Gleichgewicht stört, und
unter diesem Druck vollzieht sich die Triebentmischung, derzufolge der
im Organismus befindliche „Todestrieb“ vorübergehend überwiegt. Die
Todestrieb und Angst
339
Gefahrsituation, die entstand, ist das Freiwerden von „primärem Masochismus“,
d. h. von Todestrieb Quantitäten, was zuerst als Angstaffekt wahrgenommen
wird. Die Angst ist also keine „Todesangst“, sondern sie ist die
Wahrnehmung des im Organismus f r e i g e w o r d e n en
Todestriebes oder primären Masochismus . 1
Freud wird auch dieser Auffassung bereits in „Hemmung, Symptom
und Angst“ teilweise gerecht. In einer Fußnote auf S. m schreibt er:
w Es mag auch oft genug Vorkommen, daß in einer Gefahrsituation, die
als solche richtig geschätzt wird, zur Realangst ein Stück Triebangst hin¬
zukommt. Der Triebanspruch, vor dessen Befriedigung das Ich zurück¬
schreckt, wäre dann der masochistische, der gegen die eigene Person
gewendete Destruktionstrieb.“ Ich verallgemeinere hier diese
Auffassung zu einer dynamischen Erklärung der neu¬
rotischen Angst oder besser gesagt der Angst, die aus
inneren Triebgründen entsteht, überhaupt.
Diese Schlußfolgerung mag vielleicht übereilt und befremdend klingen.
Es ist um so angebrachter, sie rückschauend nochmals zu überprüfen und
zu fragen, ob sie notwendig und berechtigt sei. Wenn es uns wahrscheinlich
scheint, daß die Libidostauung im Organismus als Resultat verschiedener
hormonaler Prozesse entsteht — und wir hoffen sogar, daß dies mit der
Vervollkommnung physiologischer Untersuchungstechnik in der Zukunft
nachweisbar sein werde —, dann wäre es leicht verständlich, daß die
hormonalen Prozesse direkt auf das vegetative System wirken und so die
Erregung entstehen lassen, die wir als Angst wahrnehmen. 2 Wenn dies
physiologisch so einfach erscheint, muß man dann weiter fragen, ob es
1) Ähnliche Gedanken spricht Federn in seinem Aufsatz „Die Wirklichkeit
des Todestriebes“ aus. Abgedruckt im Almanach der PsA. 1931.
2) Wilhelm Reich meint in seinem Buche „Die Funktion des Orgasmus“, S. 66,
daß die freiflottierende Angst eine Begleiterscheinung einer bestimmten Form
vegetativer Irritation der Herztätigkeit sei. M. E. erklärt er damit nur die Angst¬
abfuhr. Ich glaube aber, daß meine Auffassung von der Angst der Aktualangst und
der neurotischen Angst als Folge der somatischen Libidostauung ebenso gerecht
wird wie die von Reich. Ebenso ergibt sich für Reich wie wahrscheinlich auch
für alle anderen analytischen Beobachter, daß, wenn der Sexualtrieb nicht befriedigt
wird, der Destruktionstrieb frei werden und zur Geltung kommen muß. Sicher hat
Reich — unter gewissen Einschränkungen — recht, wenn er meint, daß die
Intensität des Destruktionstriebes von der somatischen Stauung abhängt, und daß der
Destruktionstrieb wächst, wenn die Libido nicht befriedigt wird. Aber dies sagt
nichts aus über Ursprung und Zugehörigkeit des Destruktionstriebes, der bei diesen
reaktiven Vorgängen abgeführt wird. Im Gegenteil. Mir erscheinen eben diese von
Reich so glänzend beobachteten Fälle als Beweis dafür, daß die Libidostauung
Triebentmischung verursacht, da es keinesfalls als eine genügende Erklärung gelten
kann, daß „die unterdrückte Sexualerregung sich dem Destruktionstrieb mitteilt“.
(Reich, 1 . c., S. 153.)
340 Therese Benedek
nicht unberechtigt ist, zur Erklärung nun noch den so schwer faßbaren
Vorgang der „Triebentmischung“ heranzuziehen ?
Ich halte die Annahme der Triebentmischung, so wie Freud sie im
„Ich und Es“ (S. 386) dargestellt hat, aus zwei Gründen für unerläßlich •
Erstens weil es uns ohne solche Annahme schwer fiele, eine Erklärung
zu finden für die Tatsache, daß Angst nicht nur physiologisch abgeführt
wird, sondern daß aus dem Physiologischen auch ein Weg zurück ins
Psychologische führt und die Angst unter Umständen psychisch wieder
gebunden werden kann, wie z. B. in der Zwangsneurose. Zweitens glaube
ich, daß diese Auffassung notwendig wird, sobald wir den verschiedenen
Grad der Angstbereitschaft und die verschiedene Art der Angstbewältigung
bei verschiedenen Individuen schon von frühester Kindheit an in Betracht
ziehen und erklären wollen.
Freud hat den Todestrieb psychologisch zugleich mit dem Wieder¬
holungszwang in die Forschung eingeführt, 1 und er wählte dazu das
schöne Beispiel des anderthalb Jahre alten Kindes, das „Fortsein“ spielt,
um die Bedürfnisspannung oder Angst zu bewältigen, die es empfindet,
wenn die Mutter fortgeht. Bei diesem lehrreichen Beispiel liel mir auf,
daß offenbar nicht alle Kinder dazu fähig sind, auf solche Weise zu
reagieren. Nicht alle Kinder können dem passiven Erleiden eines Verlustes
genügend Aktivität entgegensetzen, um damit die angstverursachende
Situation selbst neu zu schaffen. Dieses Kind hatte das Trauma verinnerlicht
und durch seine Aktivität die selbst geschaffene Situation dem leidenden,
passiven Teil der Persönlichkeit dargeboten, um gleichsam zu zeigen .
„Siehe, es ist gar nicht so schlimm, ich kann es selbst machen und
ertragen. Dieses Kind ist fähig, die innere Spannung zu ertragen. Diese
Fähigkeit macht es ihm möglich, einen realen Verlust psychisch vor¬
zubereiten, der Angst entgegenzuarbeiten. So kann es sich den Schock
ersparen, und zwar durch eine Leistung, die zugleich das Ich hebt und
befriedigt. Dieses Spiel — sozusagen eine Urform der Sublimierung —
wird aber nicht immer unter ähnlichen Umständen produziert. Viele
Kinder werden die Vorstellung, daß die Mutter fortgeht, in der Phantasie
nicht reproduzieren können, weil schon die V orstellung ihnen so viel
Unlust bringt, daß sie mit Angst reagieren müßten. Deswegen beschäftigen
sie sich mit dem unangenehmen Erlebnis nicht, sie lassen sich ab-
1) Obwohl der Wiederholungszwang selbst schon aus der Notwendigkeit, eine
bestehende, ev. verdrängte, gröbere psychische Besetzung abzureagieren, erklärt
werden könnte; also die Annahme des Nirwanaprinzips allein würde zur Erklärung
des Wiederholungszwanges genügen, wenn der lebendige Tonus überhaupt aus einer
einzigen Triebrichtung ohne „Triebmischung“ erklärt werden konnte.
Todestrieb und Angst
341
lenken, um sich bei jeder Wiederholung wieder von einem neuen Schock
erschüttern zu lassen. Sie schreien und strampeln jedesmal, oder ziehen
sich, wenn sie noch passiver sind, jedesmal von neuem in sich selbst
zurück und werden unlustig. Diese Kinder können sich die Angst nicht
ersparen, weil sie die Teilspannung, die bei der Wiederholung in der
Phantasie entstehen müßte, nicht ertragen können. Sie können die Teil¬
spannung aber nicht ertragen, weil das in dem lebendigen Tonus gebundene
Gleichgewicht so labil ist, daß jede, auch die kleinste, auch die bloß
phantasierte Bedürfnisspannung dieses Gleichgewicht stört. (Und zwar
nicht in dem Sinne, wie es bei dem von Freud zitierten Kinde der Fall
ist, daß die Aktivität mobilisiert und dadurch die Angst überwunden und
gebunden würde, sondern es wird Passivität, das Gefühl der Ohnmacht
und damit zusammen Angst, frei.)
Nicht nur bei Säuglingen und kleinen Kindern können wir diesen
labilen Tonus feststellen. Wir sehen dies oft genug in jedem Alter an
unseren Patienten. Es gibt viele Menschen, die keinerlei Reizsteigerung
ertragen können, weil bei ihnen jede Spannungssteigerung bewegliche
Energie frei macht, die sofort umgesetzt werden muß. Es sind die
Menschen, die sich immer gehen lassen, nie auf Befriedigung warten
können, sofort Angst oder Aggression produzieren, die aber auch die Angst
nicht, oder nur sehr schwer und vorübergehend binden können, die von
einem Symptom ins andere fallen. Es sind die schweren Neurotiker par
excellence, bei denen, wenn wir ihre unzähligen zwanghaften, perversen,
organneurotischen Symptome analysiert haben, ihre Passivität, ihr primärer
Masochismus zum Vorschein kommt und wir die größten therapeutischen
Schwierigkeiten erst bei der Analyse dieses Zustandes haben.
An dem Freud sehen Beispiel des spielenden Kindes sehen wir also
ebenso wie an zahlreichen anderen Fällen der analytischen Praxis, daß die
primäre Labilität des Gleichgewichtes , die primäre Angstbereitschaft , von
dem nicht gebundenen , nicht verwendeten Anteil des Destruktionstriebes , von
dem Anteil des primären Masochismus abhängt. So hat Freud durch die
Entdeckung des primären Masochismus zu der Konstitutionslehre einen
Beitrag geliefert, den in seiner ganzen Bedeutung erst die zukünftige
Forschung auszuwerten und zu schätzen lernen wird.
Kehren wir nun nochmals zu der Angst zurück. Wir wissen, daß die
Angst abgeführt oder gebunden werden muß. Die Frage, auf welche Art
und Weise dies geschieht, war das ursprüngliche und noch immer nicht
ganz erschöpfte Arbeitsgebiet der Psychoanalyse. Es interessiert uns hier
nur, zusammenfassend zu sagen, daß durch Bindung der Angst neue
Strukturen entstehen. In dem obigen Fall des spielenden Kindes sehen wir
342
Therese Benedek
schon die Vorstufe der Sublimierung; wir wissen, daß freigewordene Angst
in Symptomen gebunden wird, die mit der Zeit in das Ich als dessen
unlöslicher oder schwerlöslicher Bestandteil eingebaut werden. Ebenso
entsteht durch die komplizierten Bindungen und Identifizierungen die
Struktur des Über-Ichs, als phylo- und ontogenetisch letzte und vielleicht
deswegen unserer beobachtenden Forschung noch zugänglichste Struktur¬
bildung durch das Zusammenwirken von Eros und Todestrieb.
Ich habe hier nur an einem kleinen Abschnitt der Angstprobleme
zeigen wollen, daß die Annahme des Todestriebes uns neue und wichtige
Gesichtspunkte liefern kann. Das mit dem Todestrieb so eng verbundene
Kapitel der Aggression habe ich nur im Vorbeigehen berührt, als ich
erwähnte, daß die Angst, die m. E. frei gewordener Todestrieb ist, sofort
den motorischen Apparat besetzt. Selbstverständlich habe ich keine Möglich¬
keit, die Probleme der Ambivalenz oder der Identifizierung nun noch vom
Standpunkt des primären Destruktionstriebes aus zu behandeln.
Ich hoffe, in den strukturbildenden Abbauprozessen der einzelligen wie
der höchstkomplizierten Organismen einen Hinweis auf den echten
Dualismus erblicken zu können. Die Abbauprozesse, die die libidobildenden
Stoffe betreffen, dürften wahrscheinlich mit zur Reizsteigerung beitragen,
die dann, durch das Nervensystem bewältigt, zur Entstehung von Struk¬
turen beiträgt.
Wenn wir den Dualismus bis zu seiner letzten Konsequenz durchführen,
dann so scheint es mir mindestens — ordnen sich die Einrichtungen
der menschlichen Seele als höchste und letzte Strukturbildung naturgemäß
ein. Wenn wir dies nicht tun wollen, wenn wir die dualistische Trieb¬
theorie nur in dem Sinne der alten Trieblehre gelten lassen, dann ent¬
steht eine Lücke. Dann bleibt die Frage unbeantwortet, weswegen sich im
Menschen Einrichtungen ausgebildet haben, die sich als Gegensatz zum
Sexualtrieb auswirken. Damit würden wir der menschlichen Seele wieder
eine Ausnahmestellung im Natur^eschehen geben. Eben hier können wir
uns aber auf biologische Tatsachen beziehen; in der langen Hilfsbedürftigkeit
des menschlichen Kindes und in der Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung
haben wir gut begründete Ansatzpunkte. Hier möchte ich Sie nur ganz
kurz auf eine kleine Arbeit von Professor B o 1 k 1 aufmerksam machen.
Die von ihm zitierten biologischen und anatomischen Befunde beweisen
die Wichtigkeit und die Richtigkeit der Gesichtspunkte, die zuerst von
Freud in die menschliche Psychologie eingeführt wurden: die Zwei-,
bzw. die Dreizeitigkeit der Sexualentwicklung und damit zusammen die
i) B o 1 k, Das Problem der Menschwerdung, Fischer, Jena, 1926.
Todestrieb und Angst
343
hormonale Beeinflussung. So sind wir wieder auf dem Gebiete der Physio¬
logie» die uns weitere Aufschlüsse geben soll.
Freud hat selbst die Annahme des Todestriebes als „spekulativ“ be¬
zeichnet, aber ich glaube, daß biologische und triebdynamische Forschungen
diese Spekulation bald rechtfertigen werden.
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
Von
Berta Bornstein
Berlin
Die kleine Lisa war zwei Jahre vier Monate alt, als sie nach einer
bis dahin normal verlaufenen Entwicklung an schweren Angsterscheinungen
erkrankte. Die Angst trat am Abend auf, wenn das Kind ins Bett nieder¬
gelegt werden sollte, und wurde so stark, daß das Kind nach vielen
Stunden Weinens nur mit Hilfe von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zum
Einschlafen gebracht werden konnte. Mehrere Nächte hindurch stand es
angstvoll und vor Erregung zitternd in der Ecke des Bettes, immer nur
die gleichen Worte wiederholend, „Nein, Mama, nein“, womit sie die Mutter
bewegen wollte, nicht von ihrem Bette zu weichen. Fiel sie dann mit Hilfe
der Schlafmittel doch in Schlaf, so geschah dies im Sitzen mit geballten
Fäustchen und einem verkrampften Gesichtsausdruck. In dieser für ein
schlafendes Kind ganz ungewöhnlichen Stellung fand man sie dann am
Morgen. Die Kissen, die man ihr in der Hoffnung ins Bett legte, sie
würde im Schlaf doch Umfallen, blieben unberührt. Im Verlauf der nächsten
Zeit wurde es dann deutlich, daß die eigentliche Angst des Kindes das
Liegen betraf. Sie wollte nicht einschlafen, weil sie fürchtete, sich im
Schlaf hinzulegen.
Tagsüber war das bis dahin muntere Kind verstimmt, appetitlos, wurde
zunehmend apathisch und äußerte nur einen Wunsch, auf dem Schoß der
Mutter zu sitzen. Dieser Zustand hatte ungefähr zehn Tage angehalten,
als ich die Bekanntschaft des kleinen Mädchens machte. Sein intelligenter
Gesichtsausdruck verriet, wie sehr es litt. Es war ein besonders gut gepflegtes
Kind, in gutem körperlichen Allgemeinzustand; besonders gewandt und
selbständig, auch manuell sehr geschickt. Dagegen schien es ein wenig in
der Sprachentwicklung zurück zu sein, sprach noch in der dritten Person
von sich, konnte noch keinen Satz formulieren, verständigte sich aber mit
Hilfe einiger weniger Kinderworte gut mit seiner Umgebung, die ganz
auf das Kind eingestellt war.
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
345
Lisa war das einzige Kind intelligenter, fortschrittlich gesinnter Leute.
Ihre Geburt war sehnsüchtig erwartet worden, nachdem die Ehe mehrere
Jahre kinderlos geblieben war.
Beide Eltern zeigten in bezug auf das Kind große Opferbereitschaft, die
besonders bei der Mutter den Charakter der Überkompensierung einer
entgegengesetzten Strebung hatte. Ihr Verhalten dem Kinde gegenüber war
deutlich von Schuldgefühlen diktiert. Die Mutter, die sich bewußt, wie
sie immer wieder betonte, ein kleines Mädchen gewünscht hatte, zeigte
nach seiner Geburt dennoch eine heftige Enttäuschungsreaktion, konnte
nicht glauben, daß das ganz gesunde Kind normal sei, sondern hielt ohne
jeden objektiven Grund heimlich an der Idee fest, das Kind sei intellektuell
zumindest zurück. Die Einstellung der Mutter änderte sich mit einem
Schlage, nachdem sie die Kleine, als sie acht Wochen alt war, einmal
hatte fallen lassen. Dem Kinde war nichts geschehen, der Mutter aber
blieb die Sorge, das Kind möglicherweise ernsthaft geschädigt zu haben.
Abraham hat in seiner Arbeit „Zum weiblichen Kastrationskomplex“
darauf hingewiesen, wie sich das unbewältigte Unbewußte der Mütter
schädlich in der Erziehung der Kinder auswirken muß. Lisas Mutter hatte
in einem weit größeren Maße, als es im allgemeinen üblich ist, Einsicht
in die diesbezüglichen Konflikte ihrer Kinderzeit und hatte bewußt die
beste Absicht, dem Kinde eine Erziehung zu geben, die solche Konflikte
auf ein Minimum herabsetzt. Sie hat auch tatsächlich alle groben Ein¬
schüchterungen, die den Ausgang in solche Konflikte begünstigen, zu
vermeiden gewußt. Die Krankengeschichte der Kleinen zeigt uns freilich,
wie wenig die bewußte Einstellung genügt, um Erziehungsfehler zu ver¬
meiden, die die Mutter gegen ihren Willen, ganz ohne ihr Wissen, ge¬
trieben vom eigenen Unbewußten, beging, indem sie Anforderungen an
das Kind stellte, denen es noch nicht gewachsen war.
Aus der Anamnese sei folgendes mitgeteilt: Die Geburt verlief normal.
Das Kind bekam nur zwei Wochen Brustnahrung, da die Mutter beim
Anlegen des Kindes Ohnmachtsanfälle bekam. Das Kind gedieh gut bei
der Flaschennahrung, zeigte besonders leichten Schlaf, wurde nach den
Anforderungen der modernen Säuglingspflege sehr ruhig gehalten.
Im sechsten Monat wurde mit der Reinlichkeitserziehung begonnen,
indem das Kind regelmäßig abgehalten wurde. Im siebenten Monat machte
das Kind eine Ruhrerkrankung durch, die es so schwächte, daß es das
Sitzen wieder verlernte. Die Reinlichkeitsgewöhnung der Kleinen war mit
dem ersten Jahr durchgeführt, angeblich war dieses Ziel ohne jede Strenge
erreicht worden. Nur einige wenige Male geschah es in späterer Zeit,
daß das Kind einnäßte. Wir werden später darüber noch hören.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 ag
346
Berta Bornstein
Das Kind soll von Beginn an sehr stark gelutscht haben, ebenfalls
genau bis zu einem Jahre, wo die Reinlichkeitsgewöhnung durchgeführt
war, und wo es das Lutschen gegen eine exzessiv ausgeübte Onanie ein»
tauschte. Das Kind hat bestimmt nie ein direktes Onanieverbot bekommen,
doch redete die Mutter ihm zu, wieder mit dem Lutschen zu beginnen,
da ihr die Onanie zu verfrüht schien, was freilich ohne Erfolg blieb.
Die Bewegungslust des Kindes war sehr früh und stark ausgeprägt
und wurde durch die vielen gymnastischen Übungen, die bereits mit der
Kleinen im Säuglingsalter vorgenommen wurden, weitgehend befriedigt.
Das Kind hatte bis zum Ausbruch der Neurose eine gleichmäßig
freundliche Beziehung zu seiner Umwelt, war sehr leicht lenkbar, immer
vergnügt, hielt immer nach neuen Erfahrungen Ausschau. — Bemerkens¬
wert sind die frühen und starken Ekelreaktionen des Kindes, das über
einen Fleck am Kleide unglücklich sein konnte, obwohl ihm angeblich
nie ein Vorwurf wegen irgend einer Beschmutzung gemacht worden war.
Diese Empfindlichkeit gegen Beschmutzung blieb nicht nur auf die eigene
Person beschränkt, sondern bezog sich auch auf Fremde.
Die Kleine hatte von Geburt an ein eigenes Schlafzimmer und hatte
bis dahin niemals irgend welche Angsterscheinungen gezeigt. Sie ließ die
Mutter ohne Schwierigkeit das Haus für Stunden verlassen und fand
auch leicht mit Fremden Kontakt.
Die Mutter wußte sich den Angstausbruch nicht zu erklären. Eine
Bekannte, die am Tage des ersten Angstanfalles im Hause der kleinen
Patientin gewesen war, wurde zunächst verdächtigt, die Angst durch ihr
stürmisches Wesen ausgelöst zu haben. Die Kleine, die sonst besonders
zutraulich war, soll sich sehr gesträubt haben, sich von dieser Bekannten
auf den Schoß nehmen zu lassen. Es scheint nicht ganz unwahrscheinlich,
daß diese kinderlose Frau bei einer Zärtlichkeit mit der Kleinen etwa den
Ausspruch getan hat: „Ach, wenn ich doch so ein liebes Kind hätte“
oder: „Ich werde dich mit mir nehmen“, oder ähnliches.
Warum sich aber aus diesem Erlebnis die Angst vor dem Liegen
entwickelt haben soll, war in keinem Punkte klar. Mehr wußte die
Mutter nicht anzugeben, und es blieb uns nichts anderes übrig, als das
Kind sorgsam zu beobachten, seinen nun seit der Krankheit eingeschränkten
Aktionen und seinen geringen sprachlichen Äußerungen unvoreingenommen
entgegenzutreten, um den Sinn seiner Phobie zu verstehen und unsere
therapeutischen Maßnahmen danach zu richten.
Nur an einigen Stellen wurde es unerläßlich, den Boden der bloßen
Beobachtung zu verlassen und an Stelle dessen etwas suggestiv vorzugehen,
um das durch Schlaflosigkeit geschwächte Kind zur Ruhe zu bringen.
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
347
Allerdings haben diese Versuche, suggestiv auf das Kind einzuwirken,
nicht sehr weit geführt, sie haben indessen dazu beigetragen, den Kontakt
mit der Kleinen schnell zu gewinnen. Im folgenden soll die Behandlungs¬
geschichte der Kleinen möglichst chronologisch und ausführlich dargestellt
werden. Die seltene Gelegenheit einer analytischen Beobachtung eines so
jungen Kindes rechtfertigt diesen Versuch. Die Behandlung erstreckt sich
über ungefähr zwei Monate mit dreißig Behandlungsstunden.
Das Kind zeigte sich bei den ersten Zusammenkünften vollkommen
apathisch, an der Außenwelt desinteressiert. Seine um jene Zeit einzige
Beschäftigung bestand darin, sich von der Mutter sanft hin und her
schaukeln zu lassen. Das Vertrauen des Kindes wurde gewonnen, indem
ich in seiner Gegenwart mit der Mutter über die Unlust des Kindes, zu
schlafen, resp. zu liegen, sprach, in für das Kind verständlichen
Worten der Mutter riet, den Mittagsschlaf, der nun seit zehn Tagen unter
den gleichen Angsterscheinungen verlief wie die Nächte, einzustellen.
Die Angst des Kindes war um jene Zeit so stark, daß die Kleine, die nie
irgend welche Schwierigkeiten gezeigt hatte, sich nun in Erweiterung des
„phobischen Vorbaus“ auch weigerte, zu essen, weil Essen und Schlafen
für sie zusammengehörige Akte waren.
Ich verspreche weiter dem Kinde, daß in der Nacht eine Lampe brennen
solle, bis es sich nicht mehr fürchtet, verdunkle dann im Spiel das Zimmer
und lasse es mit großer Schnelligkeit wieder hell werden, wiederhole
dieses viele Male, veranlasse das Kind, allein das Zimmer wieder hell
und dunkel werden zu lassen, und vermittle ihm die Freude an der
neugewonnenen Fähigkeit, die Vorhänge an den Fenstern zu regulieren,
und an der neugewonnenen Erkenntnis, daß nach dem Dunkel das
Hell folge. Ich hole mir dabei den Eindruck, daß die Angst des
Kindes nicht in direktem Zusammenhang mit der Dunkelheit zu stehen
scheint, erfahre dann auch, daß das Kind angstlos in dunkle Räume geht,
ausgenommen ins eigene Schlafzimmer. Offenbar wird dieses ähnlich wie
das Essen wegen der gedanklichen Verbindung mit dem Schlafengehen
gemieden. (Ich esse nicht, ich gehe nicht in mein dunkles Schlafzimmer,
weil man mich sonst in mein Bett legt.)
Bei der vierten Besprechung im Hause des Kindes habe ich bei dessen
Abendbrot Gelegenheit, die raffinierten Methoden kennenzulernen, mit
denen die Kleine das Zubettgehen hinauszuschieben versucht. Sie werden
ihr scherzend entwertet und die Kleine direkt um Auskunft gebeten,
was sie denn im Bett eigentlich befürchte. Sie antwortet darauf mit der
Aufzählung ihrer Missetaten, die den Charakter schwerer Selbstanklagen
haben. Diese Selbstanklagen beziehen sich auf objektiv harmlose Aggres-
23 *
348
Berta Bornstein
sionen, die sie gegen Dinge und Menschen vorgenommen hatte, und für
die sie weder irgendwie gestraft noch gescholten worden war. Das manuell
besonders geschickte Kind soll von jeher auf irgendwelche kleine Schäden,
die es anrichtete, mit besonderer Trauer reagiert haben, so daß es immer
nötig war, die Kleine in solchen seltenen Situationen zu trösten und zu
beruhigen.
Ich bringe im folgenden die wörtlichen Äußerungen des Kindes:
„Da Tasse aua“, was in die Sprache der Erwachsenen übersetzt
heißt: „Da, die Tasse ist zerbrochen, hat Schmerzen, ,Aua‘, und
ich bin schuld daran.“ Tatsächlich hatte sie mehrere Wochen zuvor
einmal diese Tasse fallen lassen, wobei diese ein wenig beschädigt worden
war. „Da auch aua.“ Sie zeigt auf ein Lätzchen, dem sie einmal beim
Versuch, es selber aufzubinden, ein Band abgerissen hatte, das längst
wieder befestigt war. Sie erwähnt dann in gleicher Weise noch mehrere
Gegenstände, die sie beschädigt hatte, wobei es auffallen muß, daß diese
Vorkommnisse schon mehrere Wochen zurücklagen. Sie erwähnt ferner,
daß die Mutter „da Auge aua“ hat, womit sie sagen will, daß sich die
Mutter selber am Auge wehe getan hatte; sie war bei einer Einträufelung,
die sich die Mutter ins Auge machte, zugegen gewesen. Endlich weiß sie
noch in ganz geknicktem Zustand mitzuteilen, daß sie selber der Mutter
wehe getan hätte, woran sich weinerlich der mit Angst wiederholte Aus¬
spruch knüpfte: „Nein, Mama, nein!“, womit sie die Mutter zu bewegen
suchte, bei ihr zu bleiben.
Bringen wir die Angstvorstellung des Kindes, von der Mutter verlassen
zu werden, mit den Selbstanklagen in Zusammenhang, so liegt die Ver¬
mutung nahe, daß die Kleine gefürchtet habe, sie könnte ihrer kleinen
Missetaten wegen von der Mutter verlassen werden.
Die wiederholte Versicherung, daß die Mutter sie trotzdem lieb habe,
bewirkt, daß die Kleine auszuprobieren versucht, wie weit ihr die Wahr¬
heit gesagt wird, indem sie nun tatsächlich die Mutter wie im Scherz
zu schlagen beginnt und glücklich vor sich hinlächelt, als diese das
Schlagen als einen Scherz auffaßt, ja noch einmal versichert, daß sie die
Kleine lieb habe. Das Kind läßt sich daraufhin zum ersten Male wieder
ohne Schreierei ins Bett bringen, schläft bei Licht ein und bleibt bis zum
Morgen in der eingangs beschriebenen Haltung, also im Schlaf sitzend
mit verkrampften Händen.
Wir müssen uns nun die Frage vorlegen: Woher stammt die Aggression
des kleinen Mädchens gegen ihre Mutter, und wie hängt die Phobie des
Kindes damit zusammen?
Die Besprechung am folgenden Tage gibt uns darüber Auskunft. Die
1
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes 349
kleine Patientin nimmt von sich aus das „Aua“-Thema wieder auf. Sie
wiederholt wortgetreu die schon einmal gemachten Selbstanklagen, nimmt
wieder wie am Vortage die Beruhigung mit Befriedigung zur Kenntnis
und behauptet plötzlich, sich auf ihrem Stühlchen wehe zu tun, eine Be¬
hauptung, auf die sie übrigens auch späterhin immer wieder zurückgreift,
ohne daß ein objektiver Grund vorzuliegen scheint. Auf ihr Genitale
deutend, sagt sie dann: „Da Lisa auch Aua“, was nach ihren bisherigen
Mitteilungen so zu verstehen wäre, daß sie sich selber durch irgend eine
Manipulation am Genitale verletzt hätte. Zu dieser Vermutung würde auch
die Beobachtung der Mutter passen, nach der die Kleine in diesen Tagen
eine Änderung in ihrer Onanietechnik hatte eintreten lassen. Während sie
bis dahin, soweit beobachtet wurde, durch Zusammenpressen der Schenkel
onanierte, preßt sie sich jetzt Windeln oder Servietten, deren sie habhaft
wird, zwischen die Beine und scheint so demonstrieren zu wollen, daß sie
am Genitale nicht „aua“, d. h. unverletzt ist, also ein männliches Geni¬
tale besitze. Stimmt unsere Vermutung, so muß Lisa Gelegenheit gehabt
haben, ein männliches Genitale zu sehen, das ihrige damit verglichen und
sofort den uns zwar aus Analysen bekannten, aber doch erstaunlichen
Schluß gezogen haben, sie sei dem Knaben gegenüber durch eine Ver¬
letzung benachteiligt.
Dem Kind gegenüber äußern wir nichts von unseren diesbezüglichen
Vermutungen, um es in keiner Richtung in seinen weiteren Mitteilungen
zu beeinflussen. Der weitere Verlauf der Behandlung der Kleinen zeigt
uns, wie solche „Deutungen“ auch beim Kleinkind überflüssig sind, ja,
daß sie ebenso wie in der Erwachsenenanalyse uns den Einblick in das
weitere Material versperren können. Erst die genaue Kenntnis der indivi¬
duellen Erlebnisse des Patienten kann uns Aufschluß bringen. Allerdings
war es auch uns überraschend, zu sehen, daß ein solches analytisches Vor¬
gehen in so zartem Alter bei so geringer Sprachfähigkeit möglich war.
Lisa berichtete nämlich weiter, daß nicht sie allein „aua“ sei, sondern
wiederholte immer wieder, daß auch „Dada“, die Köchin des Hauses, „aua“
sei. Ich lasse mich vom Kinde zu der Köchin führen, frage, wo diese „aua“
sei, worauf das Kind mehrere Male auf deren Genitale zeigt und äußert:
„Da Dada aua baba“ (da ist die Dada verletzt und schmutzig, ekelerregend).
Man versichert dem Kinde, daß diese weder verletzt noch schmutzig sei,
und muß bei der Hartnäckigkeit, mit der die Kleine bei ihrer Behauptung
bleibt, auf eine Beobachtung an der Köchin schließen, welche übrigens,
befragt, ob sie sich je vor dem Kinde entkleidet habe, energisch verneint.
Lisa wird nun darüber aufgeklärt, daß sie selbst gewiß nicht verletzt
sei, sondern daß ihr Genitale so ausschauen müsse, ja, daß es gut und
Berta Bornstein
350
schön sei, so wie es sei, worauf das Kind in seiner Sprache mitteilt, die
Mutter habe sein Genitale so verletzt, weil es schlimm sei. „Da Mama Lisa
aua, Lisa nein gut.“
Wir haben hier in der direkten Äußerung des kleinen Mädchens eine
Bestätigung für den sonst nur aus Analysen erschlossenen Zusammenhang
„daß am Ende fast immer die Mutter für den Penismangel verantwortlich
gemacht wird, die das Kind mit so ungenügender Ausrüstung in die Welt
geschickt, hat“. 1 Wir möchten gern erfahren, ob die Aggression der Kleinen
gegen die Mutter Ausdruck ihrer Feindseligkeit wegen der Penislosigkeit
ist, oder ob diese Feindseligkeit bereits aus früheren Motiven stammt, um
bei der neuerlichen, vermeintlichen Zurücksetzung durch die Mutter neu
aufzuflackern.
In der Nacht nach der oben mitgeteilten Unterredung wacht Lisa
weinend auf, nachdem sie sich abends wieder ohne Sträuben ins Bett
hatte bringen lassen, und berichtet einen Traum: „Opa Du Du“, was be¬
deutet, der Großvater sei ihr im Traum erschienen, habe ihr gedroht oder
sie geschlagen.
Sie motiviert nun ihre Angst vordem Liegen und vor dem Einschlafen
mit der Angst vor Träumen vom Großvater. Leider wird ihr, um sie wieder
zum Insbettgehen zu bewegen, die Suggestion gegeben, den Großvater
wieder fortzuschicken, falls er ihr wieder im Traum begegne; sie sei nicht
schlimm und man brauche ihr nicht zu drohen. Die Kleine geht mit
Vergnügen auf diesen Scherz ein, verlangt dann durch einige Zeit hin¬
durch vor dem Einschlafen die Wiederholung dieser Worte. Mit dieser
rasch und gut wirkenden Suggestion haben wir das Verständnis für diesen
wichtigen Traum unnötigerweise um mehrere Wochen hinausgeschoben.
Es war vollkommen unverständlich, warum das Kind den besonders
freundlichen und liebevollen Großvater im Traume zur drohenden und
schlagenden Person werden läßt. Da der Traum in der Nacht nach
jenem Gespräch über die „GenitalVerletzung“ geträumt war, drängte sich
die Annahme auf, daß der Großvater vielleicht doch einmal die Kleine bei
der Onanie ertappt und verwarnt hatte. Alle solche Annahmen führten uns
aber nicht weiter; auch um Kinderträume in so zartem Alter zu verstehen,
bedarf es in vielen Fällen der Mitteilungen des Träumers. Ich möchte
schon an dieser Stelle die richtige Deutung des Traumes einfügen, obwohl
sie sich erst später und in anderem Zusammenhänge ergab.
Das Lieblingsspiel der Kleinen war in gesunden Tagen das „Kuckuck¬
spiel , welches darin bestand, sich zu verstecken und dann „Kuckuck“ zu
1) Freud, Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes.
Ges. Sehr., Bd. XI.
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
351
rufen, was die Kleine, die ja noch sehr schlecht sprach, oft als „Duduk“
oder sogar auch fast wie „Dudu“ auszusprechen pflegte. Der Traum lautete
also: „Der Großvater versteckt sich, ist weg.“ Wir wissen aber bereitsaus
dem Ausruf des Kindes, daß es befürchtet, auch die Mutter werde fort-
gehen, es beginnt auch in diesen Tagen zum ersten Male die Mutter auch
tagsüber nicht fortgehen zu lassen. Nun hatte sich dieser Großvater neben
seinen vielen Geschenken an die Kleine durch zweierlei Taten wirklich
ausgezeichnet und die Enkelin in eine ambivalente Haltung zu sich ge¬
bracht, 1) dadurch, daß er, wie das Kind mir später im Spiel demon¬
strierte, sich tatsächlich beim Spaziergang hinter einen Baum versteckt
hatte, um zu urinieren (also zwei erschreckende Tatsachen zugleich, erst
das plötzliche Fortsein des Großvaters und dann das Erscheinen des
Penis), 2) macht aber die Kleine den Großvater verantwortlich für das Ver¬
schwinden der Mutter. Diese wurde von dem Großvater mehrere Male
gerade in jener Zeit vom Hause abgeholt, um bei der kranken Gro߬
mutter zu bleiben. Nun wird es uns verständlicher, warum der Traum
„Opa Dudu“ in Angst ausgehen mußte. Er enthält zunächst „Dudu“ als
Drohung aufgefaßt — den Angstinhalt der Kleinen: „Wenn ich nicht
brav bin, wird die Mutter vom Großvater weggeholt.“ Darüber hinaus aber
wohl den Wunsch, der Großvater möge wieder „Dudu“ spielen, verschwin¬
den und den Penis sehen lassen. Man versteht auch, daß ein solcher
Wunsch für das Kind, das offenbar gerade im Beginn seiner Sexual¬
forschung stand und zum Vergleich mit dem eigenen Genitale angeregt
wurde, keineswegs nur angenehm war. Da sie die Mutter für das Fehlen
des Penis verantwortlich machte, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach
gerade in einer solchen Situation eine feindselige Regung gegen die Mutter
empfunden haben, was zur Folge haben könnte, daß sich nun die Mutter ihrer¬
seits von ihr abwenden, sie verlassen und so sie nicht mehr beschützen,
sondern sich dem Großvater zuwenden würde. Diese Vorstellung erweist
sich dann tatsächlich in der späteren Behandlung als im Mittelpunkte ihrer
Angst stehend. Möglicherweise enthält die Idee, die Mutter werde sich
dem penisbesitzenden Großvater zuwenden, sich und ihn so der Kleinen
entziehen, schon die erste Andeutung des Ödipuskomplexes.
Die nächsten Stunden führen zur gründlicheren Besprechung des Ge¬
schlechtsunterschiedes. Lisa bekommt von mir drei Bastpuppen, die sie so¬
fort als „Mama“, „Papa“ und „Baby“ bezeichnet. Nach monotonen Wieder¬
holungen, daß sie „aua“ sei, beginnt sie die Puppen zu untersuchen,
äußert dann bald nicht mehr, daß sie selbst „aua“ sei, sondern die kleine
Babypuppe sei es zwischen den Beinen. Auf Befragen gibt sie stets ganz
richtig an, daß die ihr bekannten Buben, der Vater und der Großvater
352
Berta Bornstein
nicht „aua“ seien, die Mutter sei auch nicht „aua“, die Köchin dagegen sei
„aua baba“, wobei sie wieder die gleiche Ekelreaktion zeigt wie am Tage
zuvor. Lisa beginnt nun seit neuestem sich auch zu weigern, sich auf
das Töpfchen zu setzen, und macht verschiedentliche Versuche, im Stehen
zu urinieren. (Wieder eine Bestätigung, daß Lisa Gelegenheit gehabt haben
muß, einen urinierenden Mann oder Buben gesehen zu haben.) Im Spiel
wird Lisa aufgefordert, ihre Puppen auf den Topf zu setzen, wobei sie
sowohl die Vater- als auch die Mutter- und die Babypuppe beim Urinieren
stehen läßt. Gegen die Erklärung, daß der Vater und die Buben stehen
können, während sie und die Mutter sich bei dieser Gelegenheit besser
niedersetzen, daß dies gut und schön so sei, daß es so sein müsse, es der
Mutter und dem Vater auch gefalle, daß sie so ein Mädchen hätten usw.,
ist sie mißtrauisch. Vor allem kann sie es nicht glauben, daß die Mutter
nicht ebenso wie der Vater ein Glied habe, nicht ebenso wie dieser
beim Urinieren stehe. Sie verlangt in den nächsten Tagen, von der
Mutter auf das Klosett mitgenommen zu werden, was aber nicht geschieht.
Die Kleine scheint von diesem Spiel und Gespräch sehr erregt zu sein.
Als ich eine kleine Puppe niederlege, beginnt sie voll Angst zu schreien
und am ganzen Körper vor Erregung zu zittern. Die Phobie breitet sich
nun in den nächsten Tagen zusehends aus. Während sie bisher nur selber
nicht liegen durfte, kann jetzt kein Gegenstand in ihrer Gegenwart ins
Liegen gebracht werden, ohne daß sie Angst und Unruhe zeigte. Auf das
abendliche Bad, das die Kleine bis dahin besonders liebte, muß ebenfalls
verzichtet werden. Sie fürchtet zu sehr, im Bade zum Liegen veranlaßt
zu werden, und meidet darum die Badewanne. In den nächsten Tagen
wacht sie weinend auf, verlangt auf den Topf gesetzt zu werden, beginnt
danach das Angstgeschrei wieder.
Lisa klagt nun nicht mehr, daß sie „aua“, penislos sei, sondern zeigt
immer mit leidendem Gesicht auf ihr Köpfchen, dort hätte sie das „Aua“.
Da die genaueste Beobachtung zeigt, daß Lisa keinerlei objektiven Grund
hat, über Kopfschmerzen zu klagen, zieht man mit Erstaunen den Schluß,
daß die Kleine, so wie wir es von Hysterien her gewohnt sind, eine
Verschiebung von unten nach oben vorgenommen hat. Wir konnten auch
erfahren, wie die Kleine dazu kam, eine solche Verschiebung vorzunehmen.
Sie entdeckte bei ihrer „Babypuppe“ aus Bast eine Vertiefung, die sie
dazu veranlaßte, anzunehmen, die Puppe sei ebenso „aua“ am Kopfe, wie
sie am Geschlechtsteil. Die Tatsache, daß sie sich plötzlich nicht mehr
kämmen ließ, und daß sie nun schwere Angstanfälle bekam, wenn in ihrer
Anwesenheit sich jemand mit dem Föhnapparat die Haare trocknete,
während dieser wie verschiedene andere elektrische Apparate bisher zu
Die Phobie eines zweieinhalb) ährigen Kindes
353
ihren Lieblingsspielzeugen gehörten, legt die Vermutung nahe, daß das am
Kopf und Genitale Gemeinsame eben die Haare waren, die ihr am Genitale
ebenso fehlten wie das Glied. Die Angst setzte beim Haartrocknen
besonders stark ein, wenn die Kleine die Haare „wegfliegen“ sah, wahr¬
scheinlich weil dies eine Bestätigung für sie bedeutete, daß das Glied oder
die Schambehaarung ebenso fortgenommen werden könnten.
Lisa äußert wieder Eßunlust, und zwar dieses Mal nicht wie im Anfang
der Phobie, um sich vor dem Insbettgehen zu schützen, sondern ihre E߬
unlust hängt mit einem deutlichen Ekel vor den Speisen zusammen. Sie
speit die in den Mund genommenen Bissen voller Ekel wieder aus. Die
Befragung des Kindes nach Motiven hierfür fällt negativ aus. Es erfolgt
nur monoton „Baba“, ihr Ausdruck für Ekelgefühle und Exkremente
zugleich. Möglicherweise ist also eine unbewußte Gleichsetzung der
Exkremente mit den zu essenden Speisen bei der neu auftretenden starken
Abwehr des Essens beteiligt.
Einige Gespräche mit dem Kinde über den Weg, den das Essen in und
aus ihrem Körper nimmt, interessieren sie sehr und lenken ihr Interesse
vom bloßen Vergleich ihrer Genitalien mit denen anderer Personen ab
und auf den übrigen Körper hin. Sie freut sich tagelang an der Fest¬
stellung, daß sie ebenso wie Vater und Mutter allerlei Organe habe, daß
auch sie Brüste bekommen werde wie die Mutter. Fragt dabei wieder;
„Lisa nein aua ?“ „Lisa auch Haare?“ Sie führt mich dann ins Schlaf¬
zimmer ihrer Eltern, zeigt auf das Bett des Vaters „Da Papa“, auf das
Bett der Mutter zeigend „Da Mama, Bauch, Haare“. Lisa hat also bei
ihren wenigen Besuchen, die sie zuweilen am Morgen im Schlafzimmer
der Eltern machte, die Mutter entblößt gesehen und dabei deren Scham¬
behaarung bemerkt, die ihr ebenso imponiert haben muß wie der Penis
des Großvaters, da sie sich diese so brennend wünscht. Daß sie irgendeine
Beobachtung am Vater gemacht hätte, erwähnt sie nicht direkt, aber eine
Handlung, die sie dann anschließend im Spiel vollzieht, macht eine
Beobachtung auch beim Vater wahrscheinlich.
Sie zieht mich vor den Spiegel im Schlafzimmer, streift ihr Höschen
ab, betrachtet interessiert im Spiegel ihr Genitale, äußert wieder traurig:
„Nein Lisa Haare, Lisa aua?“ Nochmalige Korrektur meinerseits, Ver¬
sprechen, daß sie Haare und Brüste bekommen werde wie die Mutter,
ebenso schön usw. Sie scheint endlich zu glauben, atmet befreit auf, zieht
das Höschen wieder über. Nach einigen Minuten zieht sie mich wieder
vor den Spiegel, führt die gleiche Szene des Höschenabstreifens auf, nimmt
ein Handtuch, das sie zwischen die Beine steckt, und äußert dazu voller
Erregung: „Da Dada aua baba“, was wohl nichts anderes bedeuten kann
354
Berta Bornstein
als die Wiederholung einer Szene, die die Kleine bei der Köchin erlebt
haben muß. Wir vermuten, die Kleine war Zeugin bei einem Binden-
Wechsel während der Menstruation des Mädchens, wobei wir nicht angeben
können, ob die Kleine das Blut als solches perzipiert hat. Wahrscheinlicher
erscheint es uns, daß sie das Blut, sicher aber die blutige Menstruations¬
binde eben als eine anale Beschmutzung aufgefaßt haben muß, eben als
„baba“. Wir versichern nun der Kleinen, daß sie sich nicht zu fürchten
brauche, daß die Köchin nun wieder schön und sauber sei wie sie selber
daß diese keinerlei Schmerzen habe, eben durchaus nicht „aua“ sei.
Aua-sein und Beschmutztsein scheinen also verwandte, noch nicht
differenzierte Dinge. Wir werden so darauf hingewiesen, daß die Angst,
durch die Schuld der Mutter „aua“ zu sein oder zu werden, die offenbar
ihrer Aggression zugrunde liegt und sie in Schranken hält, ihre Wurzel
schon in der besonders frühen Reinlichkeitserziehung haben muß, über
die zunächst so wenig zu erfahren war.
Das Kind läßt sich nun bestätigen, daß alle ihre Organe heil und
„schön seien, sagt, wie erlöst auf den Kopf zeigend, „Da Haare, nein Aua“.
Sie verlangt dann sofort eine Schere und versucht der Bastpuppe, die sie
als „Papa“ bezeichnet, die „Haare“ abzuschneiden, zeigt also aktive Kastra¬
tionstendenzen. Wir dringen an diesem Tage nicht weiter in das Kind,
das nach diesen Mitteilungen erschöpft scheint. Lisa beobachtet nun
genauestens ihre Mutter beim Essen und fragt ununterbrochen, wohin der
im Mund verschwundene Bissen gelange. Sie versucht der Mutter den
Mund zu öffnen, ihr das Essen buchstäblich aus dem Munde herauszu¬
nehmen, wobei ihre Ekelreaktionen allmählich geringer werden. Diese
Handlungen werden dem Kinde von der Mutter bald untersagt. Das Kind
hat sowohl zu der symbolisch ausgeführten Kastration an der Puppe, die
sie als „Vater bezeichnete, wie an diesem merkwürdigen Verhalten beim
Essen der Mutter gegenüber keinerlei Aufklärungen gegeben. Unsere Frage,
warum sie das täte, beantwortete sie nicht weiter. Beachtenswert ist, daß
das Interesse für die Speisen, die im Mund der Mutter verschwinden,
nur einige Stunden später nach dem Kastrationsspiel auftrat, möglicher¬
weise die Darstellung einer Phantasie ist, die so oft von Patienten in der
Analyse gebracht wird, daß die Mutter den Penis des Vaters esse. Drei
Arten des Verschwindenlassens scheint die Kleine begriffen zu haben und
sich vor allen dreien zu fürchten: „Schneiden“, was sie zwar mit großer
Lust an der „Papapuppe“ machte. (Von diesem Spiel an läßt sie sich
nicht mehr die Nägel reinigen, weil sie fürchtet, man werde ihr dabei
auch die Nägel schneiden.) „Wegfliegen“, was sie beim Trocknen der
Haare am Föhnapparat erlebt, vor dem sie dann ebenfalls Angst entwickelt.
Die Phobie eines zweieinhaibjährigen Kindes
355
Und „Beißen“, „Essen“, gegen das sie dann selber einen kurz anhaltenden
Abscheu entwickelt und was sie der Mutter nicht gestattet. Zwei- oder
dreimal versucht das so besonders reinliche und appetitliche Kind den
Bissen, den sie der Mutter tatsächlich aus dem Munde holt, in den eigenen
Mund zu stecken. „Nein, nicht die Mutter soll es haben, sondern ich.“
Die Aggression gegen die Mutter ist hier also noch nicht geschieden von
dem prägenitalen Objektziel der „Einverleibung“.
Melanie Klein hat immer wieder auf die Beobachtung Gewicht gelegt,
daß das erste als schuldvoll erlebte prägenitale Objektziel der Kinder lautet:
Ich möchte das Körperinnere der Mutter rauben und mir einverleiben. Ob
dieses Körperinnere, in unserem Fall die Speisen, schon irgendwie mit dem
Penis des Vaters identifiziert werden, oder ob sich daran nur die Vor¬
stellung knüpft, „mir hat die Mutter den Penis beziehungsweise die Haare
fortgegessen“, können wir leider nicht angeben. Vielleicht sind alle diese
Gedanken miteinander noch undifferenziert verdichtet, wobei das „Essen“
gewiß außer Milch-, Penis- und Haarbedeutung auch die des Kotes hat, der
ja in der frühen Reinlichkeitserziehung dem Kinde von der Mutter geraubt
worden ist.
Ein einziges Detail, das von der Umgebung des Kindes am gleichen
Tage beobachtet wurde, spricht freilich für die Annahme, daß die Kleine
sich bereits irgendwelche Gedanken über die Beziehungen zwischen Vater
und Mutter gemacht haben muß. Sie ließ sich verschiedene Dinge aus
ihren Bausteinen bauen, bezeichnete einen Baustein als das Bett des Vaters,
einen andern als das Bett der Mutter, warf dann die „Papa“puppe aus
dem Bett und legte die „Baby“puppe zur „Mama“puppe. Sie wird dann
mehrere Male von der Mutter gefragt, ob sie gerne mit dem Papa im
Zimmer schlafen wolle, worauf sie regelmäßig ablehnt, dagegen den
Wunsch äußert, mit der Mutter beisammen zu schlafen. Es sieht wieder
aus, als würde sie sagen: Der Vater = Großvater soll mir die Mutter nicht
wegholen.
Sie beginnt wieder etwas heiterer zu werden, aktiver, erlaubt, wenn
auch noch mit Angst, daß irgend ein Gegenstand in ihrer Anwesenheit
ins Liegen gebracht wird; kurz darauf demonstriert ihr die Mutter immer
wieder, daß sie selbst sich zum Schlafen niederlege und jederzeit wieder
aufstehen könne, wenn sie wolle. Die Kleine versucht nun auch im Spiele
sich selber auf den Boden auszustrecken, wobei sie freilich einen schweren
Angstanfall erlebt, so daß diese Spiele nun für einige Tage wieder unter¬
bleiben.
Gegen die Mutter zeigt sie sich im Gegensatz zu früheren Zeiten
besonders trotzig. Sie läßt sich weder von ihr an- noch auskleiden, ist in
356
Berta Bornstein
jeder Weise unfolgsam, quält die Mutter während der Spaziergänge, indem
sie darauf beharrt, unzählige Male immer wieder von der gleichen Stufe
eines Hauses hinunterzuspringen und ähnliches. (Der Wunsch nach der
Wiederholung solcher Spiele ist zwar für dieses Alter durchaus charakteri¬
stisch, aus der Art aber, in der die Kleine gerade der Mutter gegenüber
auf der ununterbrochenen Wiederholung dieser Spiele bestand, war der
Trotzcharakter gegen sie deutlich.) Während sie bis dahin gegen die Mutter
besonders gefügig war, wird sie bei einer solchen Gelegenheit gegen die
Mutter aggressiv, stößt sie mit Füßen, versucht zu beißen usw. Zugleich
ist sie zum ersten Male in ihrem Leben obstipiert, und zwar mehrere
Tage hindurch. Sie weigert sich entschieden, sich auf den Topf setzen zu
lassen, und bestätigt damit unsere Vermutung von der Herkunft der der
Mutter geltenden Aggression aus der Reinlichkeitserziehung.
In den Unterhaltungen mit mir nimmt sie das Thema des Geschlechts¬
unterschieds wieder auf, demonstriert mir dabei die schon erwähnte Szene
mit dem Großvater, der sich hinter dem Baume versteckte, um zu urinieren.
Auf meine Frage, ob und wo sie noch Männer oder Buben gesehen hätte,
gibt sie die Turnstunde an, die sie seit längerer Zeit mit gleichaltrigen
Kindern besucht und sehr liebt. Es war zu Beginn der Phobie gleich
auf gefallen, daß sie ihr Benehmen dort sehr stark geändert hatte. Da ja
aber die Apathie des Kindes bald durchgängig wurde, hatte man dem
keinerlei besondere Bedeutung geschenkt. In den Tagen der gesteigerten
Aggression gegen die Mutter war sie dann auch ganz gegen ihre Gewohnheit
in der Turnstunde andern Kindern gegenüber aggressiver und machte auf
dem Hin- und Rückweg von und zur Turnstunde große Schwierigkeiten.
Die Mutter meinte zunächst, daß das Kind in der Turnstunde wohl nie
Gelegenheit gehabt hätte, ein Kind beim Urinieren zu beobachten, auch
kaum beim Umkleiden, bis die Kleine wiederum im Spiele demonstrierte,
was die Mutter vergessen und woran sie sich nun zu ihrem Erstaunen
durch die Kleine erinnern lassen mußte: Es war dies die allmonatliche
Untersuchung in der Gymnastikstunde, in der die Kleine zufällig mit
einem kleinen, nackten Buben zusammen ins Zimmer gebracht wurde.
Die Mutter konnte nun auch hinzufügen, daß diese Untersuchung einige
Tage vor Ausbruch der Phobie stattgefunden hatte und, was bis dahin
auch von der Familie vergessen worden war, daß die Kleine bereits mehrere
Tage vor Ausbruch des ersten großen Angstanfalls während einiger Nächte
ganz gegen ihre Gewohnheit aufgewacht sei, nach dem Töpfchen
verlangt habe und nur weinend und etwas beunruhigt wieder ein¬
geschlafen war.
Es scheint also, daß diese Beobachtung in der Turnstunde, ebenso wie
Die Phobie eines zweieinhalb)ährigen Kindes
357
die an der Köchin und die am Großvater, die Idee des Kindes, durch die
Mutter benachteiligt zu sein, aktiviert habe. „Wenn du mich so benach¬
teiligt hast“, denkt sie gegen die Mutter, „so werde ich trotzen, schmutzig
machen, dich beißen, schlagen, mir einverleiben . . . Aber nein, dann verläßt
du mich, ich muß diese Versuchung ab wehren“ und so entsteht die Phobie.
Dem Kinde wurde noch einmal beteuert, daß das Genitale der Mädchen
zwar anders, aber auch sehr schön sei, daß die Mutter genau ein solches
habe wie die kleine Patientin selber, daß ihr die Haare später mit Be¬
stimmtheit wachsen würden, und vor allem, daß die Mutter sowohl wie
der Vater sie sogar besonders lieb hätten, weil sie ein kleines Mädchen
sei. Die letzte Bemerkung entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, schien
mir aber für das in seinem Narzißmus so gekränkte Kind gut. Es wird
darauf ein Spiel mit den Puppen des Kindes inszeniert, wobei diese zum
Urinieren und zum Defäzieren aufgefordert werden; die Kleine erlaubt
dabei nicht, daß die Puppen auf den Topf gesetzt werden. Erst nachdem
man dem Kinde versichert, daß der Kot immer wieder neu produziert
werde, daß sowohl die Mutter als auch die Knaben ihren Kot ruhig her¬
geben, spielt das Kind „Defäkation“ und verlangt dann plötzlich nach
dem eigenen Topf, in den sie nun ohne jede Schwierigkeit defäziert. Zum
erstenmal betrachtet sie nun voller Erregung ihren Kot, interessiert sich
für das Verschwinden des Kots im Klosett. Während der nächsten Tage
ist sie damit beschäftigt, sich immer wieder vor Augen zu führen, daß
sie selbst Dinge zum Verschwinden und zum Wiedererscheinen bringen
kann, daß die vom Tisch abgeräumten und ihrem Blick entzogenen Teller
weiter existieren, daß die Mutter ebenso wieder nach Hause komme, wie
sie selbst von ihrem Spaziergang.
Die Stuhlentleerung geht nun wieder wie früher ohne jede Schwierigkeit
vor sich, ihr Interesse für die Exkremente wird immer deutlicher. Man
gibt diesem Interesse nach, gestattet dem Kinde ohne ein Wort der Kritik
die Exkremente zu betrachten, darüber zu sprechen usw. Diese Toleranz
der Umgebung hat dann den Erfolg, daß die Kleine während dieser Tage
auch andere Interessen äußert und auffallende Fortschritte in der Sprach¬
entwicklung macht, im Gegensatz zu ihrer früheren Sprechfaulheit fast
als sprechlustig imponiert. Sie erwischt nun in jenen Tagen einen Aschen¬
becher mit Zigarettenasche, die sie sehr interessiert, ebenso wie die
Zigarette, die in ihrer Gegenwart von der Mutter geraucht wird und die
sie kleiner und kleiner werden sieht.
Sie geht mit ihren Fingern in die Asche, zeigt dabei deutlich einen
Gesichtsausdruck, aus dem zu entnehmen ist, daß sie sich bewußt ist,
etwas Verbotenes zu tun, beginnt ihre Hände unter Lachen mit der Asche
v
358
Berta Bornstein
einzureiben, wozu sie „Wawa“ sagt, was heißen solle, sie wasche sich
damit. Dann verlangt sie auf den Topf gesetzt zu werden, weigert sich
aber, sich nach der Stuhlentleerung säubern zu lassen, erlaubt ebensowenig
daß der Topf mit ihrem Stuhl von dem Mädchen herausgebracht werde
ohne übrigens an diesem Tage ein besonderes Interesse an ihren Exkrementen
zu verraten. Sie ist ganz in Anspruch genommen von dem Spiel mit der
Asche, mit der sie sich nun lachend beschmiert, den Tisch damit „wäscht“
und den Versuch macht, sowohl der Mutter als auch mir Asche ins
Gesicht zu schmieren. Dieser Versuch wird besonders freundlich abgewehrt
mit der Erklärung, daß große Leute sich lieber mit Wasser und Seife
waschen als mit Asche; auf ihre direkte Frage wird ihr aber gestattet
mit der Asche zu tun, was sie wolle.
Das Benehmen der Kleinen hatte stark provokatorischen Charakter.
Sie wollte, ähnlich wie bei den Aggressionen gegen die Mutter, auspro¬
bieren, wie weit sie gehen dürfe, und wie weit dieser Toleranz zu trauen
sei. Diese für die Umgebung des Kindes, das bis dahin so abnorm sauber
gewesen war, erstaunlichen Durchbrüche seiner Schmutzlust mußten zu¬
nächst verstanden werden, ehe wieder ein neuer erzieherischer Eingriff
das Kind zum Verzicht zwinge. Es schien uns die Beachtung dieses Grund¬
satzes für den Moment wichtiger als die hygienischer oder ästhetischer
Rücksichten. Die Annahme, daß das Kind von dem Spiel mit der Asche
sich seinen Exkrementen zuwenden und diese zu berühren versuchen
würde, traf nicht ein. Es ließ im Gegenteil nach einiger Beschäftigung
mit der Asche den Topf, ohne Widerstand zu leisten, aus dem Zimmer
schaffen und sich von dem Mädchen reinigen.
In der folgenden Nacht war die Kleine wie gewöhnlich sitzend mit
verkrampften Fäustchen und verkrampftem Gesichtsausdruck eingeschlafen.
Mitten in der Nacht rief sie nach ihrem Mädchen, ließ sich auf den
Topf setzen, um zu urinieren, und weigerte sich danach, wie es öfter
vorkam, sich überhaupt auch nur ins Bett zu setzen. Man ließ sie also,
wie auch sonst in solchen Fällen, stehend im Bett, nachdem man sich
sehr freundlich von ihr verabschiedete. Nach einiger Zeit hörte man sie
sehr vergnügt durchs Haus rufen: „Heia baba, aner Heia“, was hieß,
sie habe ihr Bett eingekotet und verlange nun ein neues. Die Umgebung
der Kleinen verstand gut, daß die Provokation vom Tage hier fortgesetzt
würde, und daß man konsequenterweise das freundliche Verhalten nicht
aufgeben dürfe. Die Kleine verlangt von der Mutter, nachdem sie um¬
gebettet ist, gestreichelt zu werden, was auch geschieht, und legt sich dann
zum Erstaunen der Mutter nach fast fünf Wochen zum ersten Male, und
zwar lachend, nieder.
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
359
Damit war klar, daß der Konflikt zwischen dem Trieb, einzukoten, und
der Angst, die Liebe der Mutter zu verlieren, der Neurose zugrunde lag.
Das Einkoten war der Kernpunkt der ganzen besprochenen prägenital-
aggressiven gefürchteten Triebansprüche.
Es sind nun noch dreierlei Fragen zu beantworten:
i) Was ist der Zusammenhang zwischen diesem Triebkonflikt und dem
Sitzen oder Liegen, um das sich die manifeste Neurose drehte?
q) Was ist der Zusammenhang zwischen den mobilisierenden Genital¬
erlebnissen und den mobilisierten analen Triebkonflikten?
3) Was ist die Vorgeschichte dieser mobilisierten Triebe und der gegen
sie gerichteten Abwehr, der Angst vor Liebesverlust?
Am nächsten Morgen begrüßt mich Lisa lachend mit den Worten:
„Da guck“ und legt sich lang auf die Erde. Sie hatte offenbar also ganz
genau gewußt, zu welchem Zweck unsere Gespräche und Spiele auf¬
geführt wurden. Ihre Angst vor dem Liegen war behoben. Sie brauchte mich
nicht mehr. Sie war vergnügt im Beisammensein mit mir, aber sehr
schweigsam, berührte die in den vorigen Wochen sie so beschäftigenden
Themen des Geschlechtsunterschieds, der Nahrungsaufnahme und der Stuhl¬
entleerung nicht mehr. Auch im Umgang mit anderen Personen wurde
sie wieder schweigsamer. Während sie in den letzten Wochen ihrer Phobie
einen großen Fortschritt in ihrer Sprachentwicklung gemacht hatte,
geradezu Freude am Sprechenlernen gewann, kam es nun zu einem sicht¬
lichen Stillstand darin. Es schien, als hätte sie die Sprache nur so lange
benötigt, wie sie von ihren Problemen gequält war.
Dagegen wurde sie in allen anderen Beziehungen noch selbständiger
als bisher, zeigte ein großes Interesse für andere Kinder, Hunde und Autos
und knüpfte mit ihnen allen Beziehungen an. Der Mutter gegenüber war
sie zwar freundlich, aber im Gegensatz zu früher bestand sie jetzt energisch
auf ihrem Willen. Im Zusammensein mit der Mutter mißbrauchte sie
nun ihre wiedergewonnene Fähigkeit zu liegen, indem sie sich auf der
Straße in den Straßenschmutz sogar niederlegte — nicht etwa in Wut,
sondern lachend, wenn sie — nicht wie die Mutter — schon heimgehen
wollte. Sie ließ die Mutter wieder das Haus verlassen, machte beim
Schlafen, Essen und Defäzieren keinerlei Schwierigkeiten mehr. Sie
näßte einige Male das Bett ein, zeigte aber niemals irgendwelche
besondere Schuldgefühle dabei. Das Interesse für ihre Exkremente wurde
wieder geringer, das Spiel mit der Asche dagegen blieb weiter beliebt.
Das Waschen mit Wasser und Seife allerdings auch. Auch das Baden
konnte wieder aufgenommen werden. Und zwar hat sie nach der Nacht.
3öo
Berta Bornstein
in der sie zum ersten Male wieder gelegen hatte, nach ihrem Bade
verlangt. Am gleichen Tage aber hat sie es fertig gebracht, zweimal in
die sehr niedrige Badewanne, die mit Wasser gefüllt war, in Kleidern
hineinzufallen, worüber sie sich stundenlang amüsierte.
Es wurde ihr zum ersten Male Plastelin gebracht, das sie aber kaum
zu berühren wagte. Sie führte es an die Nase, fand es „baba stinkt“
während sie gegen den Geruch der Exkremente gar nichts einzuwenden
hatte. Der Versuch, sie im Kneten mit Plastelin ihre sicher bestehende
Lust am Spielen mit den Exkrementen in sublimierter Weise ausleben
zu lassen, mißlang noch. Sie war sichtlich noch gar nicht imstande, Pla¬
stelin und Kot auseinanderzuhalten. Impulse, den Kot zu berühren, waren
auch in den Tagen, in denen sie ihre Exkremente so lebhaft betrachtete,
nie beobachtet worden. Wir können nicht angeben, ob dies mit der noch
nicht ganz aufgehobenen Verdrängung des Analen zusammenhängt. Mög¬
licherweise war das Kind, welches man infolge der zu frühen Reinlichkeits¬
gewöhnung und durch die etwas übertriebene Sorgsamkeit in der Körper¬
pflege um das Erleben der analen Lust überhaupt geprellt hatte, erst jetzt
dabei, voll in die anale Phase einzutreten. Der Versuch, das Kind zu einer
Sublimierung zu drängen, war verfrüht. Nach einigen wenigen Beobach¬
tungen scheinen Kinder nur dort zu einer Sublimierung bereit zu sein,
wo die ursprüngliche Triebbefriedigung teilweise wenigstens bereits erlebt
worden ist. Bei einer zu frühen Unterdrückung der Triebbefriedigung
scheinen nur Reaktionsbildungen zustande zu kommen.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Sublimierungen über den Weg
der Identifizierung mit dem aufzugebenden Liebesobjekt gehen, begreifen
wir, daß eine Sublimierung natürlich nicht zustande kommen kann, wo
eine Triebbefriedigung aufgegeben werden muß, bevor sich eine positive
Beziehung zum Objekt ausgebildet hat.
Wenden wir uns nunmehr unserer ersten Frage zu, der nach dem
Zusammenhang des der Phobie zugrundeliegenden unbewältigten, aus
dem Analen stammenden Konflikts mit der horizontalen Lage, resp. ihrer
Vermeidung, so glauben wir zu erkennen: Sie durfte sich das Liegen
nicht erlauben, weil sie fürchtete, im Liegen und Schlafen den Wunsch,
ins Bett zu defäzieren, nicht beherrschen zu können. In der angespannten
Haltung des Sitzens, den geballten Fäustchen, dem Gesichtsausdruck war
vor allem die verschobene krampfhafte Innervierung der Sphinkteren zu
erkennen. Das Sitzen — nämlich das Sitzen auf dem Topf— war ja wohl
auch seinerzeit die Situation gewesen, in der die Kleine sich in der
Sphinkterenbeherrschung übte, die auch im Sitzen physiologisch leichter
ist als im Liegen. Wir kennen übrigens außerdem ein historisches Moment,
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
361
das bereits die Motive Inkontinenz und Nichtsitzen verbindet: nach der
Ruhrerkrankung hatte das Kind das Sitzen verlernt.
Die Erörterung der beiden anderen Fragen, nämlich der, warum diese
Tendenzen gerade nach den drei auslösenden genitalen Erlebnissen mi
solcher Starke auftraten, sowie die nach der Vorgeschichte des analen
Triebkonfliktes, verlangt erst die Darstellung der Rezidive, welche die
Kleine ungefähr nach vier Wochen erlebte. Diese Rezidive war zu aller
Erstaunen durch die Abreise des Vaters der kleinen Patientin ausgelöst
worden. Dies war um so erstaunlicher, als der Vater der Kleinen sehr viel
auf Reisen war, was das Kind wußte und was von dem Kinde bisher
ohne jede besondere Affektäußerung erlebt worden war. Sie war zufällig
am Nachmittag vor der Abreise des Vaters dabei anwesend, als für diesen
der Koffer gepackt wurde. Man beobachtete eine gewisse Beunruhigung an
ihr, eine besondere Anhänglichkeit an die Mutter, von der sie erfuhr, für
wen und warum der Koffer gepackt wurde. Am Abend weigerte sie sich,
schlafen zu gehen, stand die halbe Nacht wie zu Anfang ihrer Phobie
brüllend im Bett, immer wieder nur rufend: „Nein, Mama, nein.“ Als sie
dann mit Hilfe von Schlafmitteln nach vielen Stunden einschlief, geschah es
wieder in der anfangs beschriebenen Stellung im Sitzen. Am folgenden
Abend wiederholte sich die gleiche Szene, nachdem sie tagsüber voll¬
kommen ruhig gewesen war und die Erklärungen über die Abreise des
Vaters und seine bald in Aussicht gestellte Rückkehr desinteressiert über
sich hatte ergehen lassen. Nur in einem Punkte zeigte sie während dieses
ruhigen Tages und auch während des folgenden ein unerklärliches Ver¬
halten. Sie ließ sich nämlich nicht die Schuhe anziehen, behauptete, sobald
man nur mit den Schuhen in ihre Nähe kam, in weinerlichem Tone, daß
sie am Fuße Schmerzen habe, wobei sie sowohl vom Fuß sagte, daß er
„aua“ sei, wie auch vom Stiefel, was heißen sollte, daß sie durch den
Schuh Schmerzen am Fuße bekomme. Da sowohl der Fuß als auch der
Schuh vollkommen in Ordnung waren, stand man der Behauptung des
Kindes verständnislos gegenüber, bis die Mutter auf energisches Befragen
hin sich erinnerte, daß die Kleine vor ungefähr einem halben Jahre, als
sie selbst abwesend gewesen war, eine Zeitlang zu enge Schuhe getragen
habe, wobei sie Schmerzen gehabt haben müsse. Die Mutter, die nach
ihrer Rückkehr von der Reise sofort die Nachlässigkeit entdeckte, schalt
die Pflegerin im Beisein des Kindes deswegen und brachte der Kleinen
sofort neue Schuhe.
Diese Mitteilung machte das Verhalten der Kleinen verständlich und
warf ein neues Licht auf die nun wieder aufgetretene Weigerung der
Kleinen, sich im Bett niederzulegen und zu schlafen. Die phobischen
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 24
3Ö2
Berta Bornstein
Symptome schienen im Zusammenhang mit der damaligen Reise der
Mutter zu stehen, die das Kind angeblich so gut verarbeitet hatte. Sie
waren ja neu aufgetreten, als der Vater eine Reise unternahm, wobei die
Kleine keineswegs Schmerz wegen des Fortseins des Vaters zeigte, sondern
nur die durch Reisevorbereitungen allgemein mobilisierte Angst um das
Verschwinden der Mutter. Das Kind hatte alle Tröstungen, daß der Vater
bestimmt zurückkehren werde, desinteressiert über sich ergehen lassen
immer wieder nur betont: „Nein, Mama, nein, nein, Heia, nein“ (die
Mutter soll nicht fortfahren, ich will nicht ins Bett gehen, damit ich
dieses Fortgehen verhindere).
Die Idee, daß die Mutter sie, wie in Wahrheit der Vater, verlassen
werde, war durch einen äußeren Umstand begünstigt, nämlich dadurch,
daß für den Vater ein Koffer gepackt worden war, den das Kind von der
letzten Reise der Mutter her wieder erkannte, woraus sie dann den Schluß
zog, die Mutter werde genau wie damals fortgehen. (Da es zwei gleiche
Koffer im Hause gab, war die Möglichkeit gegeben, die Kleine zu über¬
zeugen, daß dieses Mal die Reise der Mutter nicht zu befürchten sei.)
Später half das Spiel mit diesem Koffer, das Ein- und Auspacken, das
„Reise-Spielen“, bei der Bewältigung dieses schweren Traumas.
Der Angstanfall des Kindes hatte in der zweiten Nacht nach der
Abreise des Vaters, als sowohl dem Kinde als auch uns der Zusammenhang
der Angst mit der Reise noch nicht bekannt war, eine so bedenkliche
Intensität angenommen, daß der Mutter geraten wurde, das Kind zu beruhigen,
indem sie sich zu ihm ins Zimmer schlafen legte. Die Angst ließ dann
tatsächlich nach, aber das Kind blieb noch längere Zeit hindurch stehend
im Bettchen und bewachte von dort aus die Mutter.
Da bisher klar geworden war, daß das Kind das Liegen vermied, weil
es befürchtete, im Liegen seinen Impuls, ins Bett zu defäzieren, nicht
beherrschen zu können, sagte man ihm beruhigende, tröstende Worte in
dieser Richtung. Das Kind reagierte darauf mit einem während dieser Nacht
unzählige Male wiederholten Ausspruch: „Ein Haia baba, Mama nein.“
(Einmal habe ich das Bett schmutzig gemacht, aber die Mutter soll des¬
wegen nicht fortgehen.)
Damit hatte das Kind das traumatische Erlebnis, das im Hintergrund
seiner Phobie stand, selbst genannt und uns den Weg zur weiteren Behandlung
gewiesen. Unsere Aufgabe bestand nun darin, ihm nachträglich bei der
Verarbeitung jener unerledigten Erlebnisse zu helfen. Wir sprachen nun
mit dem Kinde in den folgenden Tagen von der damaligen Reise der
Mutter und lockten so das Kind zu Mitteilungen seiner Erinnerungen, die
es an die mutterlose Zeit hatte. Interessant war, daß das Kind eine Anzahl
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
363
von Details aus der Zeit der Reise der Multer erinnerte, die den Eindruck
von Deckerinnerungen machten: etwa, daß es im Garten nackt mit einer
Gießkanne herumgegangen wäre und gespritzt hätte, daß einem Spieleimer,
den sie mir in den ersten Stunden als verletzt demonstrierte, in jener Zeit der
Boden ausgeschlagen worden war usw. Immer wieder berichtete sie die gleichen
Geschichten, um sich immer wieder mit befriedigtem Gesichtsausdruck von
mir und der Mutter versichern zu lassen, daß sie damals wegen diesem
Erlebnisse Angst gehabt hätte, daß sie aber jetzt — groß wie sie sei —
keine Angst zu haben brauchte, daß ihr selbst, wenn sie etwas beschmutzen
oder zerbrechen würde, die Mutter nicht böse wäre und sie gewiß nie
verlassen werde, ohne es ihr vorher zu sagen, und daß sie bestimmt immer
wieder zurückkehren werde. Vor allem wurden ihr aber die Personen
entwertet, die ihr die unwahren Drohungen gegeben haben mußten. Die
Bewußtmachung und die ausgiebige Verarbeitung jener frühen Erlebnisse
während der Abwesenheit der Mutter hat das Kind wieder instandgesetzt,
seine Phobie aufzugeben. Bis heute — es sind seither fünf Monate ver¬
flossen — ist das Kind symptomfrei geblieben. Es hat seither wieder zweimal
eine Trennung von geliebten Personen erfahren, aber nur mit einem
bewußten und deutlich ausgesprochenen Bösesein reagiert.
Die Mitteilungen des Kindes wurden dann späterhin von den Erwach¬
senen bestätigt, die sich daran erinnern lassen mußten, daß das Kind ein
halbes Jahr zuvor, als die Mutter abwesend war, sich an dem Tage vor der
Rückkehr mehrere Male naß gemacht hatte. Wir halten es nicht für aus¬
geschlossen, daß das Kind etwas von der Rückkehr der Mutter in jenen Tagen
gehört und sich dabei erregt habe, wobei dieses Einnässen geschah. Die
Umgebung der Kleinen hielt es mit uns für wahrscheinlich, daß man dem
Kinde in einer solchen Situation etwa gesagt hätte: „Warte, wenn das die
Mutter erfährt, daß du dich wieder naß machst, dann wird sie dich nicht
lieb haben, wird gleich wieder von dir fortgehen, gar nicht zu dir zurück¬
kommen wollen.“
Die Rückkehr der Mutter spielte sich dann in einer Form ab, die
das Kind mißverstehen mußte. Die Mutter, die mit einer Erkältung von
der Reise heimkehrte, begrüßte das Kind nicht in der üblichen Art, sondern
blieb — um es vor Infektion zu schützen — vom Bett des Kindes entfernt.
Diese Haltung der Mutter muß das Kind als eine Folge des Einnässens
aufgefaßt haben, was seine Angstvorstellungen vor dem Verlassen werden,
vor dem Nichtgeliebtwerden durch die Mutter wegen Inkontinenz bestätigt
und befestigt haben muß. Wir wissen, wie durch die tolerante Hahung der
Umgebung das Kind es gewagt hatte, seinen bis dahin ängstlich beherrschten
analen Impulsen nachzugeben. Die Abreise des Vaters konnte die Rezidive
24*
364
Berta Bornstein
eben deswegen einleiten, weil durch das Motiv „Reise“ das Kind an die
Möglichkeit denken konnte, die Mutter werde es wie vor einem halben
Jahre verlassen, weil es ja jetzt ebenso wie damals einzunässen und einzukoten
beabsichtigte. Mit dem Sitzen im Bett verhinderte es das Einkoten. Mit
dem Wachbleiben wollte es das Fortgehen der Mutter verhindern. Nachdem
das Kind nun dieses Material geliefert hatte, das der Mutter bekannt
geworden war, konnte diese jetzt erst die Anamnese ergänzen.
Wir erfuhren jetzt erst den wahren Sachverhalt der Reinlichkeits-
gewöhnung. Diese Reinlichkeitsgewöhnung, die angeblich so ohne jede
Schwierigkeit vor sich gegangen war, war ebenfalls während der Ab¬
wesenheit der Mutter von der Großmutter vollzogen worden, und wie sie
nun nachträglich zu berichten weiß, sicher nicht so ohne jede Strenge.
Die Kleine war damals genau ein Jahr alt und die neugewonnene Fähigkeit,
kontinent zu sein, wurde mit vielem Stolz der Mutter berichtet, von
dieser mit Freude aufgenommen und mit der Abschaffung der Windeln
belohnt. Die Kleine bekam damals die ersten Höschen, die ihr die Mutter
voller Freude zeigte und deutlich als Belohnung brachte.
Von dem Verhalten der Mutter nach der ersten Reise, Freude über die
Kontinenz des Kindes, und deren Verhalten nach der zweiten Reise, das
vom Kind mißverstanden war, ging die starke Wirkung aus, durch die das
Kind sich jede anale Lust verbieten mußte, um sich die Mutter zu bewahren.
Letzten Endes wird also die Neurose identisch mit der des eineinhalb¬
jährigen Kindes, von der Wulff berichtete, das ebenfalls am Konflikt
zwischen Beschmutzungslust und entgegenstehender Angst vor Liebes-
verlust erkrankte (Int, Z. f, PsA . 1927).
Wir kennen nun die ganze Vorgeschichte der analen Triebkonflikte und
verstehen, warum der Wunsch, ins Bett zu defäzieren, derart mit der
Angst, von der Mutter verlassen zu werden, verlötet war, daß seine Ver¬
stärkung nicht mit einem Rückfall in Inkontinenz, sondern mit einer
Phobie beantwortet werden mußte; nicht aber die Verstärkung selbst.
Sie ist ausgelöst durch die Kenntnisnahme des Umstandes, daß Gro߬
vater und Turnkamerad einen Penis, große Frauen Schamhaare besitzen,
sie aber nicht, ferner durch die Beobachtung an der Köchin, deren
psychische Wertigkeit schwerer einzuschätzen ist, die aber etwa besagt,
daß große Frauen auch einkoten, aber auch, daß sie verletzt („aua“) werden.
Von den Anlässen, die Neurosen von Erwachsenen einleiten, wissen
wir, daß sie entweder Verstärkungen der unbewußten infantilen Sexual¬
triebe auslösen (z. B. äußere Versagungen der erwachsenen Sexualität) oder
Verstärkungen der ihnen entgegenwirkenden Angst (z. B. Unfälle, die die
Kastrationsangst mobilisieren). Es fragt sich nun, ob wir in analoger
Die Phobie eines zweieinhalbjährigen Kindes
365
Weise für unseren Fall annehmen sollen, daß die genitalen Beobachtungs¬
szenen die Beschmutzungslust direkt verstärkten oder die ihr entgegen¬
stehende Angst. Wenn wir daran denken, welche Rolle das „Aua“, die
körperliche Beschädigung, spielte, wird die zweite Annahme nahe gerückt:
Wenn es, wie die Beobachtungen lehren, reale Beschädigungen gibt, können
weitere Beschädigungen drohen — und die Angst davor mag die alte
Angst vor dem Verlassenwerden mobilisieren. Aber auch die direkte Trieb¬
mobilisierung durch diese Erlebnisse muß angenommen werden, und zwar
auf zweierlei Weise. Einmal wurde bereits erwähnt, daß die Konstatierung
der eigenen Minderwertigkeit eine Aggression gegen die Mutter auslöste
— und der Drang zur Inkontinenz kommt einer Aggression gegen die
kontinenzgebietende Mutter gleich. Wichtiger aber erscheint uns noch ein
anderer Umstand:
Sowohl das Kuckuckspiel mit dem Penis des Großvaters als auch die
anderen beiden Szenen sind wohl geeignet, als Sexualreize zu wirken,
das Kind in hohe sexuelle Erregung zu versetzen. Und der Trieb ein-
zukoten ist dann in diesem Alter die organisationsgemäße Abfuhrtendenz
für die Erregung. Daß Kinder in der analsadistischen Stufe auch auf aus
genitaler Quelle stammende Sexualerregung mit analer Reaktion antworten,
charakterisiert eben dieses Alter und ist uns aus der häufigen analogen
Reaktion auf Urszenenerlebnisse gut bekannt. Offenbar konnte die durch
den Einfluß der Angst vor dem Liebesverlust abgewehrte Beschmutzungs¬
lust nur in einer gewissen Stärke symptomlos ertragen werden. Die
Schwelle wurde im Alter von zwei Jahren drei Monaten durch die Sexual¬
erregung der drei die Neurose veranlassenden Szenen überschritten, wodurch
der seit der Reinlichkeitserziehung, besonders seit der Reise der Mutter
latent vorhandene Triebkonflikt pathogen wurde.
In der „gesunden“ Zeit, in der der Konflikt latent war, war ja das
Kind nicht ganz ohne Erregungsabfuhr gewesen. Die Mutter weiß von
der Schenkeldruckonanie im Säuglingsalter zu berichten, die dann nach
vollzogener Reinlichkeitserziehung wieder aufgenommen wurde und bis
zur Gegenwart anhält. Diese Onanie wurde im Gegensatz zur analen
Betätigung nicht nur geduldet, sondern geradezu begünstigt, denn gerade
für das Zurückhalten, das wie die Onanie durch Zusammenpressen der
Schenkel geübt wird, wurde sie belobt. So wurde die Kleine durch die
frühe Analverdrängung, die Folge der strengen Reinlichkeitserziehung,
künstlich früh zur genitalen Abfuhr gedrängt. Aber offenbar konnte diese
nicht organisationsgemäße Abfuhr nur eine gewisse Erregungsmenge be¬
wältigen und versagte nach den drei großen pathogenen Szenen, die nach
der verpönten vollen analen Abfuhr verlangten.
366
Berta Bornstein
Könnte es nicht auch so sein, daß die Onanie nicht aus grob quanti¬
tativen Gründen versagte, sondern weil der durch die Beobachtung ent¬
standene Kastrationskomplex zu einer Art Regression in eine bereits über¬
wundene anale Phase zwang?
Gegen diese Annahme spricht (außer dem theoretischen Moment des
Alters des Kindes) die Reaktion auf die Beobachtungen, die durchaus
einer zwar auch genital erregbaren, aber vorwiegend analen Organisation
der Libido entsprach.
Objektiv genitale Momente werden offenbar subjektiv anal perzipiert,
so wie wir eine anale Perzeption von Urszenen auch aus der Erwachsenen¬
analyse oft rekonstruieren müssen. Das schließt nicht aus, daß die Be¬
obachtungen richtig auf den Geschlechtsunterschied bezogen werden. In
der Seele des Kindes ist eben später Getrenntes noch undifferenziert.
Jedenfalls wurden die Binde und das Blut, wahrscheinlich auch die
Haare, anal perzipiert. Schon die frühe Ruhrerkrankung mußte eine
Erfahrung vom Zusammenhang von Blut und Exkrementellem („aua-baba“)
gesetzt haben, die nun wohl aktiviert wurde. (Auch für die anale Fixierung
überhaupt kann die frühe Darmerkrankung nicht ohne Bedeutung gewesen
sein). Auch bei der Penisbeobachtung ist etwas Derartiges möglich.
Während die Kleine mit den Problemen des Geschlechtsunterschiedes
beschäftigt ist, ist sie obstipiert, läßt sich nach der Defäkation nicht
reinigen, den Kot nicht fortschütten, als wollte sie sich durch Koiproduk-
tion einen Penis verschaffen, was vielleicht als Motiv für die Erhöhung
der Beschmutzungslust ebenfalls in Betracht kommt. Auch die Objekt¬
beziehungen scheinen von den Zielen des Festhaltens und Einverleibens
beherrscht, also noch keineswegs einer phallischen Stufe entsprechend,
vom Ödipuskomplex finden wir erste Andeutungen, aber nicht mehr —
trotz der frühzeitigen und, wie eben die Neurose beweist, nicht gelungenen
künstlichen „Genitalisierung“ der Sexualität der Kleinen, — denn die
Aggressionen gegen die Mutter entstammen nicht einer Eifersucht, sondern
der Idee, durch sie benachteiligt zu sein, der Idee, durch ihre Erziehung
des Penis, des Kotes, bzw. der Kotlust beraubt worden zu sein.
Fassen wir also zusammen: Eine frühe und strenge Reinlichkeits-
•erziehung, später durch einen Zufall durch die Idee verstärkt, für Un¬
reinlichkeit werde man von der Mutter verlassen, erzwingt eine frühe
Verdrängung der Beschmutzungs- und der mit ihr verbundenen, gerade
durch die Versagung verstärkten Aggressionslust.
Das Kind greift als Ersatz für die durch Verdrängung lahmgelegte
organisationsgemäße Exekutive auf die genitale Onanie. Diese versagt, als
durch das Zusammenfallen dreier erregender Erlebnisse Sexualerregung
Die Phobie eines zweieinhalb jährigen Kindes 367
und Angst maximal gesteigert werden. Der alte Konflikt wird dadurch in
pathogener Stärke wieder mobilisiert.
Wir sahen zu unserer Überraschung, wie vielerlei verworrene Wege
begangen werden mußten, um dieses relativ einfache Resultat wahrschein¬
lich zu machen, wie kompliziert bereits auch das Seelenleben der Zwei¬
jährigen ist, obwohl die Komplikationen der späteren Entwicklung hier
noch keine Rolle spielen. Wir entnehmen daraus den Wink, die Kinder¬
analyse für nicht zu einfach zu halten, denn gerade die Einfühlung in
die Denk- und Fühl weit der frühesten Lebensjahre ist eine außerordent¬
lich Schwierige Aufgabe.
Wir werden aber auch davor gewarnt, zu früh auf Konstitution,
Biologie und Phylogenie zu greifen, da wir lernen, daß wir, wenn es nur
gelingt, genügend tiefe Einblicke in die Verhältnisse zu gewinnen, Er¬
lebnisse, Milieubedingungen und Ontogenie in immer noch höherem
Maße als wir dachten, für die Produkte der seelischen Entwicklung ver¬
antwortlich machen können. Womit natürlich keinesfalls das konstitu¬
tionelle Moment als gänzlich bedeutungslos hingestellt werden soll.
..
Über Neurasthenie
Vortrag in der New Yorker psychoanalytischen Vereinigung am 24. Februar Ip}i
Von
Paul Schilder
Clinical Director, Bellevue hospital, New York
Freud rechnet die Neurasthenie den Aktualneurosen zu. Er macht
die ungenügende Sexualfunktion und -befriedigung unmittelbar für das
neurasthenische Symptom verantwortlich. Es gilt lediglich herauszufinden,
in welcher Weise der unmittelbare Geschlechtsgenuß beeinträchtigt wird.
Freud selbst ist diesem Problem nicht weiter nachgegangen. Die analytischen
Beiträge sind spärlich. Landauer verneint ausdrücklich spezifisch
seelische Konflikte.
Erst W. Reich 1 nimmt das Problem wieder auf. Er berichtet über
Zersplitterung des Orgasmus bei Patienten, die über akut aufgetretene
neurasthenische Beschwerden klagen: Reizbarkeit, Arbeitsunlust, Ermüdungs¬
zustände, diffuse körperliche Beschwerden und Rückenschmerzen, Ziehen
in den Beinen. Nach Freud sind sie auf exzessive Onanie oder gehäufte
Pollutionen zurückzuführen. Reich selbst ist zwar der Ansicht, daß Freuds
Auffassung zu Recht besteht, aber seine Beispiele zeigen, daß ein Konflikt
seelischer Art die Onanie einleitet, und daß lediglich der seelische Konflikt
der Onanie ihre krankmachende Wirkung gibt. In seinem ersten Falle ist
offensichtlich der Inzestwunsch dafür maßgebend, daß exzessive Onanie
betrieben wird, die schließlich zu neurotischen Beschwerden führt. In seinem
zweiten Fall wird der Koitus durch den Gedanken gestört, das Glied
sei zu klein. Mit der Beseitigung des störenden Gedankens wichen die
Beschwerden. Reich meint, daß nur von Schuldgefühl gestörie Onanie Neur¬
asthenie erzeuge. Reich scheint der Ansicht zu sein, daß der seelische Konflikt
die Onanie, resp. die Sexualbetätigung störe und daß dann das neurotische
Symptom unmittelbar durch das gestörte Sexualtoxin erzeugt würde. Aber
1) Gesamte Literatur in: R e i c h, Die Funktion des Orgasmus. Neue Arbeiten
für ärztliche Psychoanalyse, Nr. VI, 1927.
Über Neurasthenie
36?
ist es nicht wahrscheinlicher, daß die gestörte Sexualfunktion nur dann
Erscheinungen macht, wenn eben der seelische Konflikt da ist? Man kann
ja das bei der Abstinenz am deutlichsten sehen. Oder mit anderen Worten:
Die seelischen Vorgänge, die den Sexualakt unbefriedigend machen, be¬
wirken auch, daß der unbefriedigende Sexualakt krankmachend wirkt.
Man sieht sogleich, daß der Aufbau der sogenannten Aktualneurose von
dem Aufbau der Psychoneurose nun insoferne verschieden ist, als der
Konflikt der Aktualneurose häufig oberflächlicher liegt. Denn auch in der
Gestaltung der Psychoneurose erhalten die Symptome ihren vollen Wert
und ihre volle Gestaltung erst aus den Energien, welche aus der nicht-
abgeführten Libido stammen, und die aktuelle Schwierigkeit des Sexual¬
lebens macht auch das psychoneurotische Symptom zu dem, was es ist.
Es hängt hiemit zusammen, daß Abstellung einer sexuellen Schädlichkeit
oder Umgestaltung des Sexuallebens durch die Gewalt der Umstände so
häufig auch das psychoneurotische Symptom günstig beeinflussen. Reich
spricht in diesem Sinne mit Recht von dem aktualneurotischen Kern
jeder Neurose. Oder mit anderen Worten: Die sogenannten Aktual-
neurosen sind eine Form der Psychoneurosen, und im strengen Sinne gibt
es keine Aktualneurosen.
Reich hält es für ein Zeichen der chronischen (hypochondrischen)
Neurasthenie, wenn chronische Obstipation, Meteorismus, Übelkeiten, Appetit¬
losigkeit, Kopfdruck, erektionslose Ejaculatio praecox, Harnträufeln und
Spermatorrhoe bestehen. Er stellt die genitale Asthenie als wichtigstes
Symptom in den Vordergrund. Maßgebend für diese sind urethrale und
anale Fixierungen. Der Penis vertritt gleichzeitig die Brust, der Samen
die Milch. Durch die prägenitale Betätigung des Genitales kommt es
dazu, daß die Erregungsmengen, welche sonst abgeführt werden, einen
ständigen Reizzustand im Genitale schaffen, der auch zur Hypertrophie der
Prostata führen kann; aber auch im übrigen Körper wirkt sich die Libido¬
stauung in Form hypochondrischer Beschwerden aus.
Reich berücksichtigt lediglich die akute und chronische Neurasthenie
Jugendlicher, nicht aber die Neurasthenie des Mannes zwischen 40 und 50.
Meistens trifft diese Männer von besonderer Energie, solche, die im
allgemeinen erfolgreich waren und plötzlich irgend eine soziale Schwierig¬
keit treffen, sei es Verlust des Vermögens oder Verlust der sozialen Stellung.
Sie galten vor ihrer Erkrankung als besonders normal, waren Arbeits¬
menschen. Vollständige Analyse ist der Sachlage nach meist nicht möglich.
Aber man versteht diese Fälle, wenn man sich vor Augen hält, was diese
enorme Steigerung der Arbeitsleistung bedeutet. Dahinter findet man
starke Schuldgefühle. Die Arbeit entsühnt. Sie ist gleichzeitig sublimierter
370
Paul Schilder
Sadismus. Ich habe den Zusammenhang zwischen Schuldgefühl und
Arbeit besonders deutlich in einem Falle halluzinatorischer Psychose
nach kortikaler Enzephalitis gesehen. Arbeit ist (natürlich neben den
bewußten Motiven zur Arbeit) Selbstbestrafung für sexuelle Wünsche
besonders aber für sadistische Regungen. Die Arbeit gestattet ein Beherr¬
schen und Vergewaltigen der Gegenstände. Sie ist aber auch ein Zwang,
der vom Über-Ich gegen das Ich geübt wird, und dem das Ich (in psycho¬
analytischem Sinne) gehorcht. Es ist schwer, in dem Geldinteresse des
Erfolgreichen die anale Komponente nachzuweisen, wenn man nicht die
volle Analysentechnik anwendet. Aber wir haben das Recht, in dem
Geldinteresse eine sublimierte Analität zu sehen. Der aktuelle Konflikt
spiegelt diese infantilen Fixierungsstellen wider. Es ist sicher, daß diese
Gruppe von Menschen im allgemeinen die phallische Ödipusstufe erreicht
hat, der Ödipuskomplex ist sogar meist erfolgreich überwunden und die
heterosexuellen Beziehungen erscheinen normal. Geht man tiefer ein, so
sieht man häufig, daß mit der gesteigerten Arbeitsleistung eine Entwertung
des Sexuallebens einhergeht. Obwohl keine manifeste Potenzstörung vor¬
handen ist, wird der eheliche Geschlechtsgenuß häufig mechanisiert,
während außerhalb der Ehe das Kaufen des Liebesobjektes das Werben
ersetzt. Das Liebesobjekt wird gleichzeitig auf eine niedrigere Stufe
gedrückt. Mit der Entwertung der Genitalität ist der Boden für den
Zusammenbruch vorbereitet. Es mag sein, daß der äußere Anlaß (mate¬
rielle oder soziale Enttäuschung) zu fehlen scheint. Dann sieht man,
daß nach erreichtem Ziel eben die Sinnlosigkeit dieses Zieles aufdämmerte.
Die Symptome des Zusammenbruchs sind dann Müdigkeit, Schwere in
den Gliedern, Kopfdruck, Arbeitsunfähigkeit. Darmträgheit gesellt sich
hinzu. Depression begleitet das ganze Bild; Schwindel ist häufig.
Genitale Asthenie im Sinne Reichs kann, aber muß nicht hinzutreten.
Zweifellos handelt es sich um Konversionssymptome, analog den Konver¬
sionssymptomen der Hysterie: In der Hysterie clavus hystericus, globus,
in der Nurasthenie Kopfdruck, Appetitlosigkeit — der vaginalen
Anästhesie entspricht die genitale Asthenie (ejaculatio praecox als führen¬
des Symptom); den zahlreichen Konversionssymptomen im Bereich der
inneren Organe entsprechen die Obstipation und teilweise auch die hypo¬
chondrischen Beschwerden, dem hysterischen Anfall und der hysterischen
Lähmung entspricht die neurasthenische Rastlosigkeit und Ermüdbarkeit,
der hysterischen Amnesie und Bewußtseinstrübung die Konzentrations¬
unfähigkeit des Neurasthenikers. Man kann im allgemeinen sagen, daß
die Symptome der Hysterie mehr genitalen, die Symptome der Neurasthenie
mehr prägenitalen Charakter tragen. W. Reich betont mit Recht die
Über Neurasthenie
371
anale und urethrale Komponente in der neurasthenischen Symptombildung.
Das steht scheinbar in Widerspruch zu der Tatsache, daß der Neur¬
astheniker so häufig eine gut entwickelte genitale Sexualität zeigte, bevor
der Zusammenbruch erfolgte. Aber das Charakteristische der neurasthenischen
\nalität ist, daß sie eingebaut ist in eine Sexualität, welche auch die
heterosexuelle Ödipusstufe erreicht hat, ja sie sogar erfolgreich überwunden
hat. Es ist in dieser Hinsicht vielleicht erlaubt, den Neurasthenischen
mit dem Manisch-Depressiven zu vergleichen, der ja gleichfalls neben
seiner primitiven Sexualität die vollentwickelte hat. Die Aktivität des
Neurasthenischen vor seinem Zusammenbruch hat ja bedeutsame, nicht
nur äußerliche Ähnlichkeiten mit der manischen Phase, die Neurasthenie
mit der Depression.
Aber man kann weder die Symptombildung der Neurasthenie noch die
der Hysterie verstehen, wenn man nicht noch einen anderen bedeutsamen
Faktor in Betracht zieht, und zwar das Verhältnis des Neurasthenischen
und des Hysterischen zum eigenen Körper, resp. zu dem Bilde vom eigenen
Körper, das er aus seinen Erlebnissen aufgebaut hat: zum Körperschema.
Ich, Federn und Felix Deutsch haben darauf verwiesen, daß das
Wissen vom eigenen Körper nicht nur die Basis narzißtischer Selbstliebe
ist, sondern daß auch jeder Partialtrieb sich in der besonderen Betonung
desjenigen Teiles des Körperbildes ausdrückt, der zu diesem Partialtrieb
die engste Beziehung hat. Konversionssymptome spielen sich in Verschiebungen
am Körperbilde ab. Man hat allen Grund anzunehmen, daß die Hysterie,
produziere sie organische Symptome oder Symptome, welche nach dem gegen¬
wärtigen Stand unseres Wissens als „funktionell“ bezeichnet werden, eine
besondere Beziehung zum Körperbild hat. Aber sollte nicht auch das
Körperbild des Hysterischen eine besondere Struktur besitzen? Für die
Neurasthenie habe ich bereits früher einmal eine besondere Labilität des
Körperbildes postuliert. 1 Ein durch analysierter Fall juveniler Neurasthenie
gibt mir Gelegenheit, näher auf dieses Problem einzugehen.
Der zwanzigjährige E. M. klagt über Verlust des Gedächtnisses,
Schwierigkeiten beim Einschlafen und beim Urinieren und Defäzieren;
er kann es nicht, wenn ihn jemand beobachtet, ja auch nicht, wenn er
jemanden in der Nähe weiß. Er onaniert zu seinem Entsetzen während
des Schlafes. Sein Penis schrumpft; er hat einen Ausfluß, der ihn er¬
schreckt. Er wird von häufigen Erektionen gequält. Sein Gedächtnis ist
schlecht. Seine Hände und Füße sind kalt.
Seine sexuellen Erregungen kommen besonders, wenn er Füße sieht.
1) Medical Review of Reviews, New York 1930. Psychopathology number.
372
Paul Schilder
Dabei macht es keinen Unterschied, ob es Füße eines Mannes oder einer
Frau sind; auch seine eigenen Füße erregen ihn.
Sein Verhältnis zu den Eltern ist ausgesprochen schlecht. Er hat einen
bewußten Haß gegen seine Mutter, die das Haus tyrannisiert; die Mutter
spricht fortwährend vom Essen, es gibt ständig Zank und Streit. Vater
und Mutter stehen sich fremd gegenüber. Aber er hat auch keine Zärt¬
lichkeiten für seine Schwestern übrig. Die eine, Martha, ist um vi er
Jahre jünger. Adele ist um sechs Jahre jünger als er.
An die Geburt der älteren Schwester schließen sich wichtige Er¬
innerungen, die zu Beginn der Analyse noch tief im Unbewußten
waren. Während der Geburt hörte er die Mutter schreien; er stellte sich
vor, die Mutter sei nackt und liege flach am Rücken, ihre Beine gespreizt-
der Doktor quäle sie, er bürste ihre Nägel mit einer Bürste und reibe
ihr Gesicht mit einem Schwamm ab. Das Ereignis der Geburt würde
voraussichtlich keinen so starken Eindruck auf ihn gemacht haben, wenn
nicht eine stark juckende Erkrankung vorausgegangen wäre; er erinnert
auch, daß er etwa um dieselbe Zeit seinen Vater beobachtete, wie er
wegen eines juckenden Ausschlags seinen Rücken mit einer Bürste rieb.
Von dem Zeitpunkt der Geburt der älteren Schwester an onaniert der
Patient genital. Er verkroch sich unter das Bett und hatte Angst, daß
er entdeckt werden könnte. Das Interesse für Füße war durch den Vater
geweckt worden, den er oft am Abend seine Füße abreiben sah.
Noch ein anderes Moment hat zur Entwicklung seiner Sexualität bei¬
getragen. Er hatte eine Geschwulst am Genitale (offenbar eine Variko-
kele). Seine Mutter pflegte ihn immer wieder zu untersuchen; er fürchtete
diese Untersuchungen. In einer seiner Phantasien masturbiert ihn die
Mutter. Er phantasiert aber auch, daß er selbst vom Doktor in ähnlicher
Weise gequält wird wie die Mutter. Er ist also in einer passiv-femininen
Identifizierung mit der Mutter, die gleichzeitig Kastration bedeutet. Daß
diese Qual bei der Geburt zum Teil anal gedacht war, kam lediglich in
Einfällen und Träumen, aber nicht als Erinnerung zum Vorschein. Er hatte
stets Angst vor toten Hühnern, die Berührung von Hühnern, Katzen und
Hunden verursachte ihm Ekel. Als er fünf Jahre alt war, hatte er auf
der Toilette Angst, daß ein totes Huhn oder eine tote Ratte ihm in den
After kriechen würde.
Die erotische Betonung der Afterzone (welche hier mit negativen Vor¬
zeichen erscheint) kommt aber in einer anderen Episode aus dem siebenten
Lebensjahr noch einmal zur Erscheinung. Ein anderer Knabe uriniert ihn
an; sie spielen Doktor, der Patient steckt eine Nadel in den After des
Knaben, brachte sie nicht gleich wieder heraus und geriet in große Angst.
Über Neurasthenie
373
(Aus dem vierten bis fünften Lebensjahr stammt die Erinnerung, daß er
an den nackten Füßen eines Mädchens Interesse hatte und an ihnen
operiert e“.)
Pie Betonung der Afterzone wird verstärkt durch die besondere Beachtung,
welche die Defäkation in der Familie findet. Weit zurückreichende und
fortgesetzte Erinnerungen zeigen, daß die Defäkation des Knaben sorgfältig
beachtet und inspiziert wurde. Er hatte auch regelmäßig zu berichten, ob
er defäziert hatte, die Verabreichung von Bananen, die er liebte, erfolgte
nur, wenn er Stuhl gehabt hatte.
Aber die Kontrolle der Mutter ist auch besonders auf das Essen ge¬
richtet. Sie tyrannisiert ihn und (später) die Schwestern, sie sollen mehr
essen. (Später in der Neurose widert ihn das Essen an und er entwickelt
eine Reihe hypochondrischer Vorstellungen über das Essen: Schweres
Essen lasse seinen Penis schrumpfen, Hände und Füße kalt werden und
bewirke Jucken.) Der Vater, behefrscht von der Mutter, nötigt ihn
gleichfalls. Er verspricht dem Knaben dies und jenes, wenn er essen
würde, hält es dann aber nicht.
Die Überfürsorge der Eltern drängt ihn neuerdings in die passiv¬
masochistische Haltung, welche offenbar in der Geburtsszene zur Iden¬
tifizierung mit der Mutter führt. Aber die passive Haltung meint zugleich
Kastration, welche z. T. als an den Füßen vollzogen gedacht wird.
Die Mutter inspiziert, wie gesagt, immer wieder sein krankes Genitale;
er fürchtet diese Untersuchungen (die offenbar in ein sehr frühes Alter
zurückreichen). Er wird auch vom Vater zu ärztlichen Untersuchungen
und schließlich zur Operation mit List gelockt.
Er hatte offenbar eine Varikokele oder Hydrokele. Die Beachtung der
Mutter reicht vor das vierte Lebensjahr, die Operation findet zwischen
dem sechsten und siebenten Jahre statt. Furcht vor dem Geschlagenwerden
spielt eine große Rolle. Als er einmal mit etwa sechs Jahren raufen sollte,
lief er weg und sagte, er müsse auf die Toilette gehen. Er hat auch
Furcht vor Räubern, ferner könnte in dunklen Räumen eine Katze an
sein Genick springen, besonders eine tote.
Sehr früh finden grausame Akte statt: Er reißt Bienen und Ameisen
die Beine aus ; mit sieben oder acht Jahren erzählt er seiner Tante, daß
ihre beiden Kinder eben getötet worden seien. Mit zehn Jahren stopft er
seiner jüngeren Schwester ein Kissen in den Mund, so daß sie fast erstickt.
Parallel läuft kontinuierlich Onanie, wobei er sich unter dem Bett
verbirgt; die Phantasien zeigen ihm, wie er gemartert werde wie die
Mutter. Später spielen Phantasien grausamer Art eine sehr große Rolle:
er ist nackt, gefesselt, Kot und Urin beschmutzen ihn. Fliegen quälen ihn.
374
Paul Sdiilder
Oder jemand, auch er selbst, wird von Pferden gevierteilt, die Brüste und
das Gesäß von Frauen werden weggeschnitten, man windet ein Seil u m
seinen Penis und er wird so onaniert. Oder er und ein Mädchen sind
nackt mit dem Rücken gegeneinander gefesselt, so daß trotz hefti ger
Erregung keine Befriedigung möglich ist; grausame Geschichten erregen
ihn stark. ®
Zwischen dem sechsten und achten Lebensjahre sind mutuelle Masturbation
und Urinspiele mit anderen Knaben häufig. Er schläft mit dem Vater in
einem Raum. Ausgesprochen neurotische Symptome beginnen erst mit der
Pubertät. Charakteristischerweise Darmsymptome. Häufiger Stuhldrang
macht ihm große Beschwerden. Er wird unfähig, in Gegenwart anderer
zu defäzieren; juckende Empfindungen am After und auch am Penis
treten auf. Er fürchtet, daß es ihm unmöglich sein wird, zu heiraten
Hände und Füße werden kalt und jucken. Hände und Füße werden ihm
dabei in sexueller Hinsicht immer wichtiger. Er findet die Füße wichtiger
als alles andere. Sie sind schön. Der Anblick seiner eigenen Füße erregt
ihn. Er hat heftige Erektionen, die ihn beunruhigen. Die Nägel interessieren
ihn. (Phantasien, die Füße von Vater und Mutter zu küssen, aber auch
die eines vorübergehenden Negers.) Seit dem zwölften Lebensjahr besteht
auch eine Fülle von unvollständigen heterosexuellen Beziehungen, Küssen,
Abtasten u. dgl. Seine Beziehung zu Mädchen ist meist eine oberflächliche,
sie bedeuten ihm nicht viel, gelegentlich gibt es auch Haßausbrüche. —
Manche Phantasien (er liegt mit einem Mädchen im Bett, beide sind
nackt; plötzlich liegen Leichen im Bett) lassen erkennen, daß er un¬
bewußt Geschlechtsverkehr und Mord gleichsetzt.
Der Haß gegen die Mutter ist offenkundig: Er denkt, niemand wäre
benachteiligt, wenn sie tot wäre; er denkt aber auch an den Tod des
Vaters. Er fühlt sich scheu, weil er so oft Erektionen hat; alle würden
es bemerken, vielleicht ist er minderwertig. Aber er ist klüger als die
anderen. Er stellt sich dümmer, um dann die anderen plötzlich zu ver¬
blüffen. Phantasien treten auf, daß er fälschlich angeklagt ist und leidet;
er wird unschuldig verurteilt. Eine Fülle hypochondrischer Beschwerden
im Magendarmtrakt, er klagt über Gasabgänge. Er sei zu mager, habe
hagere Gesichtszüge (jeder sehe es); er muß vorsichtig in der Diät sein.
Er will alles rasch machen; Schnelligkeit gibt ihm das Gefühl, daß er
etwas macht, und er bekommt Erektionen; er hat alle möglichen Bücher
über Nervosität gelesen; der Ausfluß aus dem Glied werde ihn zugrunde
richten. Er ist ein energischer Arbeiter, aber der Vater wollte nicht, daß
er arbeite, jetzt ist er zu müde und hat die Schule verlassen, weil er
sich nicht konzentrieren kann. Er ist nicht genug fett, seine Züge sind zu
Über Neurasthenie
375
scharf. Die Leute sehen ihm das an. Er findet, daß die Natur verbessert
werden könnte. Defäkation und Urinieren sollten nicht existieren. Er
fühlt sich schuldig und minderwertig. Er kompensiert auf intellektuellem
Gebiete. Er ist eitel und selbstgefällig, besonders in intellektueller Hinsicht.
Manche wichtige Stücke der Analyse kamen nicht unmittelbar als
Erinnerungen zum Vorschein. Doch konnten sie auch für den Patienten
aus Traummaterial und Einfällen abgeleitet werden. So kam ihm die
infantile Sexualforschung nicht unmittelbar zu Bewußtsein. Aber einmal
träumte er von einem Tier, das eine Kuh sein soll, aber ein Pferd ist;
es uriniert mittels einer besonderen mechanischen Vorrichtung. Der Urin
kommt wie aus einem Springbrunnen. (In einem anderen Traume
masturbiert er, der Samen fällt auf ihn wie aus einer Fontäne zurück.)
Das Pferd läßt gleichzeitig auch Gase ab. Einfall: Er hat Kühe oft bei
der Defäkation beobachtet, er hat in der Kindheit die Milch als Urin
angesehen. In einem anderen Traum sieht er das Genitale eines Mädchens:
Es ist ein Penis und ein großer Testikel darüber. Er erinnert jedoch nur,
daß er „auf einmal von geschlechtlichen Dingen wußte“. Er hat charakte¬
ristischerweise keine Erinnerungen an das Genitale der Schwestern, mit
denen er oft zusammen gebadet wurde.
Obwohl die Kindheitserinnerungen auf (wahrscheinlich anale) Kastrations¬
ideen überdeutlich anspielen, konnte die Kastrationsangst dennoch nicht
zur unmittelbaren Erinnerung gebracht werden. Einmal träumte er von
einem Mädchen, mit dem er Verkehr hat; an Stelle ihres Genitales ist
aber ein leerer Raum.
Um zu wiederholen: Daß er während der Geburt der Schwester anal
erregt war, ist lediglich erschlossen und kam nicht zur unmittelbaren
Erinnerung. Daß Geburt und Geschlechtsakt anal (wahrscheinlich nach
vollzogener Kastration) gedacht sind, geht aus den Phantasien und Befürch¬
tungen am Klosett hervor. Bewußt gemachte Erinnerungen besagen, daß
ihm die Mutter häufig (schon in sehr früher Zeit) Einläufe machte, die
er fürchtete.
Seine Beziehung zur Mutter ist von vorneherein eine passiv-masochi¬
stische (anal und genital). Gleichzeitig hat er die Tendenz, sich mit ihr zu
identifizieren. Der Arzt (der Früherinnerung) vertritt den Vater, zu dem
er gleichfalls in passiv-sexueller Beziehung steht. Doch besteht die Tendenz
zur Identifizierung mit dem Arzt, insofern als er in seiner Phantasie mit
toten Personen im Bette liegt.
Der Vater ist übrigens nach der Phantasie des Patienten von der Mutter
unterjocht und gleichfalls passiv-masochistisch zu ihr eingestellt.
Die anfänglichen Schwierigkeiten bestanden in einer kräftigen negativen
■
376
Paul Schilder
Übertragung, welche das Mißtrauen gegen die Eltern (besonders gegen den
Vater) auf den Analytiker übertrug. Starke narzißtische Kräfte, welche ihn
zum eigenen Körper immer wieder zurückführten, ließen ihn seine eigene
Halbbildung überschätzen und machte die weitere Übertragung schwierig
Nachdem diese hergestellt war, wurde der Analytiker nunmehr zum Träger
aller Leiden, über die der Patient klagte, und auf dem Wege über die
Projektion in den Analytiker, der anscheinend mit allen diesen Problemen
fertig wurde, und durch Identifizierung mit ihm fand die endgültige
Klärung statt. In einer Übertragungsphantasie boxt er z. B. mit dem
Analytiker. Der Patient hat boxen gelernt und entwickelt die gewiß un¬
berechtigte Vorstellung, daß der Analytiker ein erfahrener Boxer sei; er glaubt
auch, daß der Analytiker ebenso wie er sich furchtbar schämen würde
den nackten Fuß zu zeigen, daß der Analytiker beim Stuhlgang Beschwer¬
den haben werde, nicht schlafen könne usw. Er entwickelt dann die
Überzeugung von der Gesundheit des Analytikers und identifiziert sich
nunmehr mit dem Analytiker. Ich wage nicht zu entscheiden, ob dieser
Vorgang, den ich eine narzißtische Projektion nennen möchte, als typisch
anzusehen ist. Er erscheint jedenfalls bedeutsam und er spricht für die
starke narzißtische Komponente, welche es möglich macht, daß jeder Teil
des eigenen Körpers eine solche Bedeutung für ihn gewinnt. Gewiß hat
diese Projektion auch die Bedeutung, den Analytiker herabzusetzen und
ihn als passiv-anal darzustellen. Aber gleichwohl ist es der Weg zur Heilung.
Aber der Grund, weshalb ich diesen Fall hier mitteile, liegt vorwiegend
darin, daß er mir Licht zu werfen scheint auf die Entwicklung der ero¬
tischen Überbetonung des eigenen Körpers. Wir hören zunächst von einer
juckenden Erkrankung in früher Jugend. Nun müssen wir darüber klar
sein, daß wir von unserem Körper zunächst nicht viel wissen. Besonders
meine Untersuchungen mit Hartmann und Klein haben mir gezeigt,
daß das Wissen vom eigenen Körper nur auf Grund einer immer erneuten
Berührung mit der Außenwelt entwickelt wird. Ist eine juckende Erkran¬
kung vorhanden, so muß das Erlebnis des eigenen Körpers früher gefestigt
werden. Aber hier ist noch eine anderere Komponente zu berücksichtigen.
Die Mutter des Patienten untersuchte sein Genitale sehr frühzeitig. Sie
hat ein Interesse an seinem Körper — und damit ist sein Interesse an
Schmerz und Leiden geweckt. Der Schmerzensschrei der Mutter während
der Geburt fiel daher auf vorbereiteten Boden. Der Fuß der Mutter ersetzt
symbolisch ihr Genitale (Penis). Aber gleichzeitig mit dieser fetischisti¬
schen Regung besteht die genitale Erregung, die zur Masturbation und
Überbetonung der Hand führt. (Wenn er sich krank fühlt, so treten
an Fuß und Hand ebenso wie am Penis Juckempfindungen auf.) Das
■
Über Neurasthenie
377
Interesse am Fuß wird verstärkt durch die Beobachtung am Vater.
£)j e weitere Verstärkung des Interesses am eigenen Körper erfolgt
durch die Beobachtung und Betastung seines Körpers durch die Mutter,
die frühe Operation, die Einläufe und schließlich durch das nimmer¬
müde Interesse, das von Vater und Mutter seinen Ausscheidungen
entgegengebracht wird. Das Essen wird gleichfalls immer wieder be¬
tont. Man gewinnt jedoch den Eindruck, daß alle diese Erlebnisse
nicht ausreichend wären, wenn nicht durch das Erlebnis der Geburt der
Schwester die masochistische Komponente der Sexualität unterstrichen
worden wäre. Das Jucken spielt in diesem Zusammenhang gleichfalls eine
bedeutsame Rolle. Es mag sein, daß ein konstitutioneller oder durch
die Analyse nicht aufgedeckter früher Faktor gleichfalls von Bedeutung
ist. Die Familienchronik weiß zu berichten, daß der Patient seit
jeher ein sehr schlimmes Kind war. Jedenfalls scheinen sadomasochistische
und anale Frühfixierungen eine besondere Bedeutung für die Störung im
Aufbau des Körperschemas zu haben. Sie machen die Erreichung der voll¬
ständigen positiven Einstellung im Sinne des Ödipuskomplexes unmöglich
und bewirken, daß das Interesse am eigenen Körper fixiert bleibt. Der
leidende Grundzug, die masochistische Einstellung, bleibt bestehen, wenn
die Sublimierung in der Arbeit unmöglich wird. Wir müssen freilich
eine teilweise Entwicklung der Ödipuseinstellung annehmen, anders ist
es nicht zu verstehen, daß die Patienten ihren Sadismus entweder subli-
mieren oder lediglich die masochistische Komponente zur Entwicklung
bringen. Man darf auch nicht vergessen, daß der Patient mit Neurasthenie
die narzißtische Überschätzung einzelner Teile seines Körpers oder des
Körpers als ganzen keineswegs frei anstrebt, sondern mit seinem Ich und
Über-Ich gegen jene Verteilung der Libido kämpft (mit anderen Worten
die Neurasthenie ist eine „Neurose“ und keine Perversion). Jedenfalls zeigt
meine Beobachtung den Weg, auf welchem die Anteile des Körperschemas
ihre Besetzung verstärken oder verändern. Sie zeigt gleichzeitig, daß eine
rein neurasthenische Symptomenbildung die Struktur einer Psychoneurose
hat. Wir verstehen vielleicht auch, warum Halbbildung als narzißtische
Selbstüberschätzung in der Neurasthenie eine so bedeutsame Rolle spielt.
Es ist die Sublimierung des Interesses am eigenen Körper. Die Konzen¬
trationsunfähigkeit ist die Folge des mißglückten Sublimierungsversuches
im Denken. Es ist das gleiche Versagen, das in den Stuhl- und Miktions¬
beschwerden als Kastration erlebt wird. Was die Spermatorrhoe resp. Pro¬
statorrhoe bewirkt, bleibt unklar. Man kann sie im Sinne der Abraham-
schen Feststellungen als urethralerotische Äußerungen auffassen. Was
macht jedoch die Prostata zum besonderen Organ der Konversion? Was
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3
25
ist ihre Stellung im Körperschema? Macht sie ihre anatomische La
zwischen Urethra und Darm geeignet zum Ausdruck urethro-analer Te^
denzen, wenn die Genitalität Schaden erleidet? Und schließlich als Schluß
bemerkung: Wir sprachen von narzißtischer Projektion. Sie ist ermöglich'
durch die von mir wiederholt betonte Erfahrung, daß die Körperschemt/
der Menschen besonders eng miteinander verbunden sind. Identifizierunge*
gehen entlang der Körperschemata, und die narzißtische Besetzung de"
Körpers wird so leicht als narzißtische Besetzung des fremden Körner!
erlebt. 1 ™ rs
welche T “' 5 "’ auf eine wichtige Arbeit M. Levys hinzuweisen,
welche durch direkte Befragung von Kindern zu Resultaten kommt, welche den
hl,trn y , g r° nn t nen Sehr verwandt si " d - Er konnte eine Gruppe von Kindern
heraussteilen, die> ihrem Körper eine übergroße Beachtung schenkten. Der Grund
?r^T^ et u° rge der Elter ”’ 6inem k^kerinteresse der Eltern an Fragen
iour,Ür^ dhe ^it, Krankheit und körperlicher Sonderart des Kindes liegen. American
Journal of psychiatry, Vol. 9, 1929. 6
Über Sublimierung und Wahnbildung
Vortrag auf dem XI. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß zu Oxford , Juli 1929
Von
Ella S h a r p e
London
/
Im Jahre 1879 beschäftigte sich ein Spanier, der sich für Probleme der
Kulturentwicklung interessierte, mit der Erforschung einer Höhle auf
seinem Gut in Altamira in Nordspanien. Er suchte nach neuen Funden
von Feuersteinen und geschnitzten Knochen, von denen er einige schon
früher entdeckt hatte. Seine kleine Tochter war mit ihm. In der Höhle
war es dunkel und er arbeitete beim Licht einer Öllampe. Das Kind
kletterte auf den Felsen herum. Plötzlich rief es laut: „Da sind Bisons,
Vater.“ Es wies dabei auf die Decke, die an dieser Stelle so niedrig war,
daß er mit der Hand hinauflangen konnte. Er hob die Lampe empor und
sah auf der unebenen Oberfläche der Decke eine Anzahl von Bisons und
anderen Tieren, mit großer Realistik gezeichnet und in leuchtenden Farben
gemalt. Diese Zeichnungen werden jetzt für ein Werk eines Künstlers des
Jägervolkes aus der sogenannten Renntierperiode gehalten und sind vor
ungefähr 17.000 Jahren entstanden.
Um diese Zeichnungen anzufertigen, drangen Menschen der paläolithischen
Periode in die Höhle ein und verbrannten dort Tierfett in einer Steinlampe,
um Licht zu haben. Es war dies also eine vorbedachte Handlung und auch
das Aufsuchen der Höhle war wohl absichtlich geschehen, denn dieses
Volk lebte sonst beim Eingang in die Höhle oder unter abschüssigen
Felsen nahe dem Eingang.
17.000 Jahre später dringt ein Mann mit Hilfe einer Lampe zu diesem
abgeschiedenen Ort vor. Ein Kind erblickt die Tiere und macht den Vater
auf sie aufmerksam.
In dem dramatischen Augenblick der Wiedererkennung im Innern der
Höhle ist bei dem modernen Wißbegierigen der gleiche Drang wirksam
wie bei dem Künstler des alten Jägervolkes. Zwischen ihnen liegt die ganze
Kulturentwicklung; aber die Entwicklung, die sie trennt, entspringt gerade
380_ Ella Sharpe ‘—
dem ihnen gemeinsamen Antriebe. Dieselbe innere Nötigung, die die
Künstler des Jägervolkes in die entlegenen Winkel der Höhle führte, trieb
auch den Spanier dorthin. Der Künstler des Jägervolkes ging hin, um
ein Ding der Außenwelt lebenswahr darzustellen. Der Spanier ging hin
um Feuersteine und geschnitzte Knochen zu finden, damit er sich aus
diesen Stücken das Leben primitiver Völker veranschaulichen könne. Mit
anderen Worten, um das, was vor langer Zeit geschehen war, zu rekon¬
struieren und sich lebendig vorzustellen.
Es ist meine Absicht, in diesem kurzen Vortrag auf einige Seiten des
vielseitigen Problems der Sublimierung, wie es sich im Tanzen, Singen,
Malen und bei der Geschichtsforschung zeigt, einzugehen, da mir meine
klinische Erfahrung gezeigt hat, daß alle diese Sublimierungen eine ge¬
meinsame Wurzel haben und einer inneren Notwendigkeit entspringen,
die im wesentlichen sich nicht von der inneren Nötigung unterscheidet,
die die ersten Künstler dazu trieb. Der Beginn der Kultur fällt mit dem
Beginn der Kunst zusammen. Beide sind unzertrennlich verknüpft. In
dem Augenblick, als der Mensch begann, seine Feuersteine zu bearbeiten
und Zeichnungen an den Wänden seiner Höhle anzubringen, beginnt
auch die Geschichtsschreibung, und die Kultur mit ihrer komplizierten
Entwicklung setzt ein.
Über das erste Auftauchen der Menschen, die wir als unsere Urahnen
ansprechen, also der Künstler des Jägervolkes, hat sich ein lebhafter wissen¬
schaftlicher Streit entsponnen. Der Urmensch soll, wie Falaize in „Origins
of civilisation“ sagt, vor 50.000 Jahren gelebt haben. Er sagt dort auch,
daß durch die menschlichen Überreste, die man in Kroatien gefunden
hat, der Beweis für den Kannibalismus der Urmenschen erbracht sei. Aus
dem Auftreten der Einbalsamierungsgebräuche im alten Ägypten hat
Flinders Petrie das Alter des Kannibalismus abgeleitet. Auf die Zer¬
stückelung der Leichen beim Kannibalismus kommt das Zeitalter des Ein-
balsamierens in Ägypten, das Bauen der Gräber und die Bestattungs¬
zeremonien. E. Smith sieht in den Gräbern Ägyptens den Beginn der
Architektur in Stein und den Beginn des Überseehandels auf der Suche
nach Holz und Gewürzen zum Einbalsamieren. Aus dem Brauch in Ägypten,
eine Totenmaske abzunehmen, entwickelt sich das Formen von Statuen.
Sublimierung und Kultur sind miteinander verknüpft; Kannibalismus
und Kultur schließen sich gegenseitig aus. Die Zivilisation beginnt mit den
ersten Kunstbetätigungen und diese wiederum sind mit den Problemen
von Nahrung und Tod untrennbar verknüpft.
Die ersten Zeichnungen stellen Tiere dar, die das Jägervolk zu Nahrungs¬
zwecken erlegte. Man erklärt dies damit, daß man auf diesem magischen
Über Sublimierung und Wahnbildung
381
Weg die Nahrungsbeschaffung fördern und sichern wollte: „Zeichne einen
Bison und es wird Bisons genug geben.“ Aber damit ist noch immer nicht
erklärt, warum die ersten Künstler in die tiefsten Winkel der Höhle
krochen, um dort ihre Zeichnungen anzubringen. Es kamen dann andere
Künstler des Jägervolkes, getrieben von demselben Drang, und setzten
ihre Zeichnung über die, die sie an diesen vorborgenen Plätzen gefunden
hatten. Wir sehen hier also den inneren Antrieb, erstens eine lebendige
realistische Zeichnung anzufertigen, und zweitens diese Zeichnung im
Innern einer Höhle anzubringen. Die Probleme der Nahrung und des
Todes sind in diesen Höhlenzeichnungen enthalten, denn die gezeichneten
Tiere bildeten die Nahrung der Jäger. Die Zeichnungen sind lebenswahre
Darstellungen.
Ich möchte Sie weiter daran erinnern, daß die menschlichen Gestalten,
die man in diesen Höhlenzeichnungen aus der paläolithischen Periode
findet, oft eine Tiermaske tragen. Ich sehe in der Zeichnung der Primitiven,
in den Tieren und in den Menschen mit Tiermasken, den ersten Versuch,
in der Kunst einen Konflikt zu lösen, der sich um das Problem von
Nahrung und Tod dreht.
Der erste Tänzer Europas, vielleicht der ganzen Welt, war der Höhlen¬
bewohner. Die Höhlenzeichnungen der paläolithischen Menschen weisen
solche Tänzer auf. Auf den ersten Steinzeichnungen, die einen rituellen
Tanz darstellen, erscheinen die Gestalten in prozessionaler Ordnung, in
Zusammenhang mit einem erschlagenen Bison.
Das Tanzen war ebenso wie das Zeichnen eine magische Handlung.
Beide waren ursprünglich mit den Problemen der Nahrung (des Lebens)
und des Todes verknüpft. Der Tanz bildete auch einen Teil der altägyptischen
Grabzeremonie. Der Höhlenbewohner, der eine Tiermaske trug, ahmte die
Bewegungen des Tieres nach, das er getötet hatte. Die Verkörperung des
Geistes, die Darstellung des Wiederauferstehens der toten Person im
Tänzer weisen auf dieselben Motive als Ursprünge des Tanzes hin, die
beim Zeichnen vorliegen. Die Toten werden durch eine magische Hand¬
lung zum Leben erweckt.
Die dramatischen Tänze, die auf der ganzen Welt mit den Toten¬
zeremonien verknüpft sind, inaugurieren den Beginn des Dramas. Ridgeway
behauptet, daß überall, wo man Tragödie und ernstes Drama findet, diese
im weltverbreiteten Glauben an das Fortleben der Seele nach dem Tod
ihre Wurzel haben. Im Anfang diente das Drama nicht dem Zeitvertreib,
sondern es war eine feierliche Handlung. Diese Anschauung wird in
unserer Zeit von Bernard Shaw vertreten, der die Kunst als Zweig der
sozialen Hygiene bezeichnet.
382
Ella Sharpe
„ The swaddling clothes of drama are the winding-sheets of the hero
hing.“ („Die Grabtücher des Heldenkönigs sind die Windeln des Dramas “
Ivor Brown.) Die Masken, die die ersten Schauspieler trugen, sollten die
Toten darstellen. Die Menschen, die die Masken trugen, waren in diesem
Moment die Inkarnation der Geister der Toten.
Ein moderner Schriftsteller hat gesagt: „Schließlich müssen wir nicht
unseren Theaterbesuch mit der Unterhaltsbeschaffung in Beziehung bringen
oder den Schauspieler für den geeignetsten Bürgen für unser Fortleben
nach dem Tode halten.'“ Ich glaube, daß sich die Kunst nur dann zur
vollsten Höhe erhebt, wenn sie — zuerst für den Schauspieler und un¬
bewußt für uns selbst — dieselbe Aufgabe erfüllt wie in alten Zeiten,
die Aufgabe einer magischen Sicherung. Große Kunst hat eine selbsterhal¬
tende Funktion. In der Malerei, in der bildenden Kunst, im Drama, im
Roman wird uns ein Stück Leben mitgeteilt. Es ist das Leben selbst, das
getanzt wird. Eine Welt, die in der Musik geformt wird. Wenn aber diese
Kunst groß, vollkommen wird, gibt uns ihre Betrachtung volle Befriedi¬
gung und wir entfliehen einer Welt der Sorge und der Angst, einer Welt
der Vergänglichkeit, des Bösen und des Todes für eine Zeit. In diesen
seltenen Augenblicken sind wir von unserer Unsterblichkeit überzeugt.
„Weil ich lebe, wirst auch du leben.“
Das Wort „Drama“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „es
ist etwas getan worden". Schaffen ist das Charakteristikum des Künstlers,
zum Unterschied vom Philosophen, dessen Aufgabe das Denken ist. In
alten Zeiten war dieses Schaffen von vitaler Bedeutung für das Gedeihen
der Gemeinschaft. Komplizierter und subtiler ist es auch heute noch mit
unserem Leben verwoben, auch für uns noch ebenso lebenswichtig. Der
große Künstler muß „schaffen , getrieben von einer inneren Notwendigkeit.
Es ist das Malen und das Schaffen, das für ihn lebenswichtig ist.
Eine Analyse, in der eine Tanzhemmung behoben wurde, ergab folgendes:
Die Patientin wußte genau in ihrem Innern, wie man tanzen müsse, wie
man seine Muskeln dabei kontrollieren solle. Neue Schritte, einen neuen
Tanz sehen, bedeutete für sie, mittels der Augen ein Bild ins Ich aufnehmen.
Sie konnte es dann „in ihrem Kopf" durcharbeiten. Wie ein Negativ wurde
das Bild aufgenommen. Dann konnte es wie ein vom Negativ abgezogenes
Bild reproduziert werden. Sie war das Negativ und reproduzierte das Bild.
Die Musik forderte zum Tanz auf, Ton und Bewegung gingen in natürlicher
Ordnung zusammen. Der Körper bog sich hierhin und dorthin, neigte
und bewegte sich, wie wenn er ein einheitliches Ganzes wäre, wie ein
Vogel im Flug ein Ganzes ist. Sie selbst war wie ein Vogel, sie wurde
zum Vogel. Sie war in ihm und er in ihr. Das heißt, sie war der magische
Über Sublimierung und Wahnbildung
383
Phallus. Das Tanzen war in ihr. Sie war zu dem geworden, was sie
mit ihren Augen in ihrer Sehnsucht, in ihrer Liebe und in ihrem Haß
erschaut hatte. Sie hatte es sich einverleibt und war nun nach kanni-
balistischem Aberglauben mit den Fähigkeiten des ein verleibten Dinges
ausgestattet.
Der Tänzer der Vorzeit verkörperte den Toten, vor dem er sich fürchtete.
Er ahmte die Bewegungen des Geschöpfes nach, das er selbst erschlagen
und gegessen hatte. Der Leidtragende bei den Begräbnisfeierlichkeiten in
Rom ahmte den Verstorbenen nach. Das weiß geschminkte Gesicht des
Clowns mag als Erinnerung daran gelten, daß auch er einmal einen Geist
verkörpern sollte.
Der Wahnglaube an die Allmacht findet hier einen Ausweg in die Wirk¬
lichkeit. Die Augen haben gesehen und die Ohren haben gehört und der
Körper hat empfunden und das Ich macht in manchen Fällen von seiner Funk¬
tion Gebrauch und sagt: „Ich kann das tun.“ Unter dem heftigen Ansturm der
Angst verwandelt sich dieses „ich kann“ in ein „ich muß“. Die phallische
Personifizierung beim Tanz ist ein „Sein-Müssen“, ein So-mächtig-Sein wie
der Vater, ein psychisches „ich bin der Vater“, eine Wahnbildung und
doch ein Ergebnis der Ichfunktion.
Man muß aber noch weitergehen, um zu verstehen, warum diese
magische Personifizierung für meine Patientin ein Talisman für ihr Wohl¬
ergehen war, ein Talisman gegen böses Schicksal, genau so wie in alten
Zeiten der Tanz es für die Gemeinde ist. Ich konnte feststellen, daß
Bewunderung und Beifall der Leute wohl eine Unterstützung für sie
waren, aber es war mir klar, daß es nicht der Beifall war, der das
Tanzen für sie zur Notwendigkeit machte. Denn diese Unterstützung
gewährte ja keine Sicherheit vor der Angst. Sie brauchte diese Hilfeleistung
und den Zoll an Bewunderung aus demselben Grunde, aus dem heraus
sie sich mit dem Phallus des Vaters identifizieren mußte. Vollkommenes
Tanzen befreite sie, weil sie dadurch einen Zustand erreichte, der ihr
unerfüllbares Verlangen in ihrem Innern stillte und ihr Sicherheit gab.
Indem sie diesen Zustand erreichte, war sie weitergekommen, als man von
ihr erwartet hatte; das heißt, ihre Ballettmeisterin warmehr als zufrieden.
In diesem Augenblick fühlte sie sich sorglos, konnte der Lehrerin, vor
der sie sich sonst immer fürchtete, ein Schnippchen schlagen, bis sie dann
ihre Meisterin in einem Zustand ekstatischer Begeisterung verließ. Es
wurde mir so deutlich, daß es die Mutter war, vor der sie sich in ihrem
Unbewußten fürchtete. Auf die Mutter waren alle ihre lebensbedrohenden
Wünsche projiziert worden. Die ersehnten Dinge, die sie der Mutter ent¬
reißen wollte, waren die Milch, die Kinder und der Penis des Vaters.
384
Ella Sharpe
Diese feindseligen Absichten aber wirkten in der Projektion auf sie selbst
zerstörend zurück.
Aus dieser Angstsituation wurde sie durch vollkommenes Tanzen errettet
Sie wird im Tanz selbst zu einem magischen Phallus. Sie richtet wieder
in sich selbst auf, was ihre eigene Feindseligkeit wegzunehmen und zu
zerstören versucht hatte Es ist eine allmächtige Wiederherstellung, eine
Sicherung des Lebens. Sie werden sich daran erinnern, daß die Bisons in den
Tiefen der Höhle gezeichnet waren. Der Vater wird damit der Mutter
wiedergegeben, der Penis, das Kind kehrt magisch in den Mutterleib zurück
Das Tanzen verleiht eine magische Gewalt über die Eltern, weil man
dadurch zum Vater wird. Die Notwendigkeit dazu entspringt aus der
Angst, die wiederum aus der Feindseligkeit entstanden ist, die der Versagung
entstammt. Mit Hilfe dieser wahnhaften Allmacht wird der Tänzer zum
Vater, und das Tanzen wird zum Akt der Versöhnung, der Wiedererstattung.
Leben wird getanzt und dadurch das Unheil, das die feindseligen Wünsche
gegen die Mutter bringen könnten, abgewehrt.
Bei einer Sängerin stellte sich folgendes heraus: Die Analyse machte
sie fähig, schlechte Gewohnheiten beim Singen abzulegen, die sie beim
Versuch, die Vorschriften verschiedener Gesangslehrerinnen zu befolgen,
angenommen hatte. Sie vermag jetzt zu sagen: „Ich wußte selbst, wie
ich die Töne ganz natürlich hervorbringen soll, die ganze Zeit seit meiner
Kindheit wußte ich es. Lehrer haben mich immer auf den falschen Weg
geführt. Ich wußte es gefühlsmäßig, aber die Lehrer glauben immer,
daß man es nicht weiß; nur sie sind allwissend; man selbst weiß nichts
wie wenn es falsch wäre, etwas zu wissen. Wenn sie gesagt haben:
Ihre Stimme ist so groß, wir müssen aufpassen, daß wir sie nicht ver¬
patzen, so dachte ich, wie groß? Wie kann sie verdorben werden? Ist sie
so groß, daß sie nicht heraus kann?“
Jetzt, wo sie die Mätzchen beim Singen verloren hat, sagt sie: „Die
Stimme ist in einem drinnen. Du hast nichts anderes zu tun als dich zu
entspannen. Das Atmen geht von selbst, wenn man nur das Zwerchfell
auf und ab gehen läßt. Die Stimme fließt heraus wie Wasser, wie Sahne.
Erinnere dich, daß du ja in Wirklichkeit nicht immer höher und höher
kommst. Du bildest es dir nur ein, denn die Töne sind alle an der
gleichen Stelle. Du gibst die Töne dorthin, wo du willst, du beherrschst
sie. Du bist wie ein Vogel, der auf seiner Stimme aufwärts fliegt. Deine
Stimme zieht die Menschen ,zu dir. Sie fühlen dann, was du fühlst,
Trauriges oder Lustiges. Der Rattenfänger lockte die Kinder mit seiner
Musik von daheim fort. Orpheus versetzte Felsblöcke und Steine. Die
Sirenen lockten Männer ins Verderben.“
Über Sublimierung und Wahnbildung
385
Sie stellt also in ihrem Gesang die mächtigen Eltern dar. Ihr eigent¬
licher Leib besteht aus Brust und Penis. Die Stimme ist Milch, Wasser,
der befruchtende Samen. Sie hat sich durch Identifizierung die Macht
beider Eltern einverleibt. Durch den magischen Akt des Singens schafft
sie das neu und verlegt es nach außen, was sie sich einverleibt hatte. Es ist
ein wahnhafter Glaube an die Gewalt über die, vor denen sie Angst hatte.
So wie die Eltern in ihr Leid und Freude erweckten, hat sie jetzt die
Macht, bei andern diese Gefühle zu erzeugen.
Das Ich sichert sich Befreiung von der Angst vor den einverleibten,
feindlich gesinnten Eltern dadurch, daß sie nach außen in eine Kunst¬
betätigung verlegt werden; diese Kunstbetätigung ist eine lebenspendende
Allmacht, eine Wiederherstellung, Milch, Wasser, Samen, Kind.
Die Arbeitsweise einer Malerin entpuppte sich folgendermaßen: Sie sagte
wörtlich: „Es ist sonderbar, daß Leute Perspektive, Regeln für Zeichnen
in der Verkürzung lernen müssen. Wenn man eine Blume erblickt, die
so aussieht, als ob sie auf einen zukäme, zeichnet man sie so, wie
man sie sieht. Das ist alles. Die Augen nehmen sie auf, wie sie ist. Das
Bild ist in meinem Kopf, ich sehe es auf dem leeren Papier oder auf
der Leinwand und ich mache nur Konturen darum und male.“ Das heißt,
die Bilder waren einmal äußere Realität, die Bilder der Kindheit; sie sind
jetzt ein verleibt. Dann werden sie auf weißes Papier projiziert wie die
Bisons in der Höhle.
Die Feindseligkeit des ein verleibten Objekts bedroht das künstlerisch
tätige Ich nicht mehr, denn die Allmacht kommt, wird in den Dienst des
Ichs gestellt. Sie leitet Augen und Hand. Jeder Pinselstrich bedeutet: Macht
ausüben über die Eltern. Ein Bild malen bedeutet, ebenso wie der Besitz eines
Stückchens Zehennagel, die wirkliche Person magisch in seiner Gewalt zu
haben. Doch das Malen ist auch eine Wiederherstellung. Das leere Papier
wird ausgefüllt. Alle die Dinge, die das Kind der Mutter entreißen wollte,
werden zurückerstattet, die aufgegessene Nahrung, die Kinder, der Penis
des Vaters. Die erste Zeichnung, die diese Patientin mit drei Jahren an¬
fertigte, sollte eine Mutter darstellen, die ein Baby in einer Rosenlaube
auf dem Arm hält.
Weiteres Beweismaterial will ich nur kurz zusammenfassen: Eine
Patientin, die dem Verfolgungswahn nahe ist, wird von der Prophezeiung
einer Chiromantin verfolgt, daß sie ein Kind bekommen werde, das
sterben müsse. Sie kommt vom Gedanken an diese schreckliche Zu¬
kunft nicht los. Sie hegt ständig Rachepläne gegen die Chiromantin. In
der Analyse übertrug sie bald die Gefühle gegen die Wahrsagerin auf die
Analytikerin. Die Analytikerin, meint sie, möchte ihr auf magischem Wege
386
Ella Sharpe
Böses zufügen. Die weitere Analyse ergab, daß sie der Meinung war, ihre
Stimme sei von einer Gesangslehrerin verdorben worden. Die Patientin
hatte früher die Malerei aufgegeben, weil sie glaubte, ihre Originalität
sei ihr geraubt worden. Das Tanzen hatte sie in der späten Kindheit aufge¬
geben. Nach zwölfmonatigem Grübeln in der Analyse geriet sie i n
hochgradige Erregungszustände, und allmählich wurde für sie Tätigkeit
zur inneren Notwendigkeit. Es kam zum Durchbruch der Angst und z U
Ausbrüchen von Haß, die besonders gegen eine Lehrerin gerichtet waren
auf die sie ihre Feindseligkeit gegen die Mutter übertragen hatte. Dadurch
wurde verdrängte Feindseligkeit gegen die Mutter in der Kindheit zugänglich.
Inzwischen hatte sich ihre Stimme von allen erworbenen Fehlern befreit
Der Verfolgungswahn war verschwunden und die Angst konnte bewältigt
werden. Sie verschwindet gänzlich, wenn sie singt. Dann ist sie beschwerde-
frei, das heißt, der Verfolgungswahn schwindet, wenn die Sublimierung
einsetzt. Die Sublimierung hat denselben Ursprung wie der
Verfolgungswahn. Der Konflikt wird nach außen verlegt und in der
Kunstbetätigung verarbeitet. Diese Kunstbetätigung stellt ein Wiederbringen
des Lebens, eine Wiederherstellung, eine Versöhnung, ein Ungültigmachen
der Angst dar. Das Ganze ist eine Allmachtsphantasie von der Überwachung,
von der Sicherung vor dem Bösen, und zwar in der Welt der Wirklich,
keit, weil es ja in Form einer Ichfunktion zum Ausdruck kommt.
Die Wahnbildung dient den Zwecken des Über-Ichs. Die Feindseligkeit
wird als von einem andern ausgehend empfunden. Die Patientin fühlt
sich verfolgt. Die verfolgende Person begeht das Unrecht, nicht die
Patientin. Die Analyse macht die verdrängte Feindseligkeit gegen die Mutter
bewußt. Das Über-Ich wird so weitgehend verändert, daß die verdrängte
Feindseligkeit (und ihre Ursachen) bewußt wird. Der Wahn löst sich
auf. An seine Stelle tritt die Sublimierung. Die Feindseligkeit wird nach
außen verlegt und in der künstlerischen Tätigkeit verarbeitet.
Eine psychotische Patientin erreichte ein Stadium labilen Gleichgewichts
und vermochte es unter folgenden Bedingungen einige Jahre hindurch
festzuhalten:
1) unter Ausbildung einer Wahnidee,
2) indem ihr ganzes übriges Leben unter der Herrschaft eines überaus
strengen Über-Ichs stand,
3) unter Durchführung von mechanischen Arbeiten, die deutlich Straf¬
charakter hatten; diese Arbeiten erforderten nur Fleiß und Ehrlichkeit;
sie bedeuteten eine „Wiedergutmachung“ der Vergehen der Kindheit und
stellten eine Sühne der Mutterimago gegenüber dar,
4) der letzte Faktor, der für die Stabilisierung dieses Systems in Betracht
Über Sublimierung und Wahnbildung
387
kam, war der B esitz einer Puppe. Die Zeit vom 20. bis zum 29. Lebens¬
jahr stand unter der Herrschaft dieser Puppe. Es war eine weibliche
Puppe, die ein Baby in Händen hielt. Während dieser Jahre wurde die
puppe mit Ehrfurcht behandelt. Jede Woche wurde sie aus ihrer Lade
hei ausgenommen und untersucht, ob sie unversehrt sei, ohne Schaden und
ohne Fehler, dann wieder sorgfältig ein gewickelt und in die Lade zurück¬
gelegt.
Die Wahnidee beinhaltete im wesentlichen eine Erfüllung der Odipus-
situation und leitete sich von der Behauptung her, ein Arzt habe ihr
sexuelle Anträge gemacht, die aber weder mit Affekt noch mit Schuld¬
gefühl verbunden waren. Das Über-Ich war befriedigt, weil diese Anträge
wahnhaft auf den Arzt projiziert wurden. Mittels der Puppe wurde die
Angst in Schach gehalten: die den Ödipuswünschen entsprechende Feind¬
seligkeit gegen die Mutter, den Wunsch, sie loszuwerden und ein Kind
vom Vater zu erhalten, hatte die Patientin projiziert und sich dann vor
der projizierten Drohung durch eine magische Sicherung geschützt. Die
Puppe war die unverletzte und ungekränkte Mutter.
Es brauchte sieben Jahre, um diese Wahnbildung aufzuklären und zu den
dahinter verborgenen Erinnerungen und Kindheitswünschen vorzudringen.
Es dauerte sieben Jahre, bis die Puppe zur* Bedeutung einer gewöhnlichen
Puppe herabsank. Diese Puppe war der magische Talisman, die Maske,
die Statue primitiver Zeiten.
Die langsame Auflösung der Wahnbildung, die Einschränkung der
Bedeutung der Puppe, der Verlust des Interesses an der mechanischen
Arbeit, die Milderung der Strenge des Über-Ichs gingen Hand in Hand
mit dem Auftauchen bisher verborgener Interessen, die seit der Kindheit
latent gewesen waren. Am bedeutsamsten erwies sich das Eingeständnis
eines lebhaften Interesses für Geschichte. Dieses wurde dann zum Haupt¬
faden für die folgende Analyse. Die ersten von ihr dargestellten
Gestalten waren getreue Abbildungen ihrer infantilen Phantasien, die
Vater, Mutter und sie selbst betrafen. Sie begann zu dramatisieren,
ihre eigenen Identifizierungen auf die Gestalten zu übertragen, die in der
Welt der Geschichte Vater und Mutter darstellen. Diese Gestalten nahmen
wirkliches Leben an. Sie lebte deren Leben, und kein Suchen nach Quellen
war ihr zu mühsam, um sie möglichst vollständig darstellen zu können.
— Dies führte am Ende dazu, daß die Patientin die mechanische Arbeit
aufgab und an der Universität Geschichte zu studieren begann.
Es ist dabei interessant, was in der Analyse vorging. Ich glaube nicht,
daß die Allmachtsphantasie eine Verminderung erfuhr, sie wurde nur
verschoben. Ich möchte den Weg dieser Veränderung kurz skizzieren:
388
Ella Sharpe
1) Äußerst intensive Angstzustände in der Kindheit infolge realer
Versagung, hervorgerufen durch ein bestimmtes Trauma.
2) Diese bewirkten heftige Aggressivität. Die Analyse zeigte, daß sie
da ihre eigene Feindseligkeit durch die Versagung hervorgerufen worden
war, ihre Sicherheit darin erblickte, den Eltern gegenüber allmächtig zu sein
Dies wurde wahnhaft durch eine männliche Identifizierung durchgeführt
indem sie zu einem Krieger wurde. Sie massakrierte ihre Puppen und
wurde so symbolisch Herr über Leben und Tod ihrer Eltern.
3) In der Pubertät brachte die Verstärkung des ÜberTchs eine völlige
Veränderung ihres Verhaltens mit sich, völlige Unterdrückung und Ver¬
urteilung ihrer früheren Verfehlungen. Dies war wieder eine andere Form
in der sie ihre Allmacht betätigte. „Ehre Vater und Mutter, auf daß du
lange lebest! Durch ihr gutes Benehmen wurde dasselbe Resultat, näm¬
lich die Selbsterhaltung, auf dem Wege der Allmacht erreicht, wie durch
die frühere Gewalttätigkeit. Gleichzeitig vollzieht sich hier nur ein Auf¬
schub der Triebwünsche, nicht ein Verzicht auf sie; sie werden erfüllt
werden, eines Tages, wenn nicht jetzt; dort, wenn nicht hier; im Himmel,
wenn nicht auf Erden.
4) Dann tauchte in einer Wahnbildung die Erfüllung der Ödipus¬
wünsche auf. Diese Wahnbildung befriedigte sowohl das Es als auch das
Über-Ich, denn die wahnhafte Erfüllung war ja auf den Arzt projiziert,
der dadurch auch die Schuld auf sich nahm Daneben lief die Wahnidee
mit der Puppe, eine magische Wiederbelebung der Mutter, die eine
Garantie für ihre eigene Sicherheit bot.
Die Auflösung der Wahnbildung enthüllte die Ödipuswünsche und
brachte die Erinnerung an ihre gewalttätige Kindheit. Das bewirkte eine
Abnahme der Strenge des Über-Ichs mit einer entsprechenden Stärkung
des Ichs. Diese Ichstärkung erzeugte eine Zunahme der sozialen Beziehungen
und des Selbstvertrauens. Im Zusammenhang damit wurde die mechanische
Arbeit aufgegeben, und es erfolgte eine Sublimierung in Form des
Geschichtsstudiums. Die Allmacht, die früher ihren Ausdruck in der
Wahnbildung gefunden hatte und in der magischen Puppe zum Vorschein
gekommen war, fand jetzt ihre Ausdrucksmöglichkeit in Mitteln, die der
Realität angehörten, in einer dem Ich zugehörigen Sublimierung. Die ersten
Gestalten aus der Geschichte waren Elternimagines. Von ihnen wurde das
Interesse auf die Zeitperiode, in der sie lebten, übertragen; und in dem
Maße, als die Angst sich verringerte, wurde der Umfang des historischen
Interesses erweitert und vertieft.
In der Geschichte sind ja alle Personen tot. Durch das lebendige Inter¬
esse, das man ihnen zuwendet, werden sie wieder lebendig. Ihr Leben
Über Sublimierung und Wahnbildung
389
wird neu gelebt, rekonstruiert. Ihr Leben wird zuerst vom Studierenden
aufgenommen. Es ist dies ein Einsaugen von Wissen, symbolisch ein Eins¬
sein mit den Eltern. In den Essays und Aufsätzen findet ein Nachaußen¬
verlegen dessen statt, was man sich einverleibt hat, eine Wiedererschaffung
und daher eine Unwirksammachung der Angst.
Die Sublimierung hat dieselben Allmachtsphantasien zur Grundlage
wie die Wahnbildung; nur ist sie zu einer Ichstärkung geworden und hat
einen Ausweg in die Realität gefunden. Hinter der Bildung des Ichideals
liegt nach Freud die erste und wichtigste Identifizierung, die Identi¬
fizierung mit dem Vater, verborgen; vielleicht, meint Freud, ist es vor¬
sichtiger zu sagen, die Identifizierung mit den Eltern. Weiter sagt Freud:
„Am Beginn, in der primitiven oralen Phase der individuellen Entwicklung
können Objektbesetzung und Identifizierung kaum unterschieden werden.“
Isaacs sagt treffend in ihrem Aufsatz „Entbehrung und Schuldgefühl“, 1
„daß Freuds ,primäre Identifizierung 4 einen größeren Anteil an dem
ganzen Drama hat, als man ursprünglich dachte“. Freud sagt, daß die
Beziehung des Über-lchs zum Ich sich nicht erschöpfe in der Mahnung:
so ^ie der Vater) sollst du sein, sie umfasse auch das Verbot: so (wie
der Vater) darfst du nicht sein, d. h. nicht alles tun, was er tut,
manches bleibt ihm Vorbehalten. Im mosaischen Gesetz lautet ein solches
„Du sollst nicbt“-Verbot: ,Du sollst kein Bildnis noch irgend ein Gleich¬
nis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf
Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde. Denn ich, dein Herr,
dein Gott, bin ein eifriger Gott. 4 An dieses Verbot hat sich der Künstler
nicht gehalten. Ich glaube, daß der Grund hiefür in der Uridentifizierung
mit den Eltern zu suchen ist, von der Freud sagt, daß die Objekt¬
besetzung noch kaum von ihr zu unterscheiden sei. Diese Eltern sind die
aktiven Sexualeltern, sie sind durchaus Menschen, sie gestatten sich viel
in Gegenwart des Kindes, weil es ja noch klein ist.
Es scheint mir, daß der Druck der Angst, die durch die Strenge des
Über-lchs und durch die Forderungen des Es entsteht, zu folgenden drei
Möglichkeiten führen kann:
1) Das Ich kann von der Realität fortgerissen und vom Es überwältigt
werden.
2) Das Ich bleibt der Realität erhalten, aber seine Funktionen werden
durch die Strenge des Über-lchs beeinträchtigt. Die Sublimierung wird
durch ein „Du sollst nicht“ behindert.
3) Der Ausweg des Künstlers. Hanns Sachs hat gesagt: „Trotz seines
1) Int. Zeitschr. f. PsA., Bd. XV (1929), Heft 2/3.
390
Ella Sharpe
besonders hohen Schuldgefühls hat der Künstler einen Weg gefunden der
den meisten Menschen verschlossen ist, und der ihn mit seinem Über-lch
versöhnt.“ Er meint, daß die Flucht vor der Strenge des Über-Ichs durch
Vermittlung des Werkes vor sich geht.
Die Kunst ist nach meiner Meinung eine Sublimierung, deren Grund¬
lage in der Uridentifizierung mit den Eltern zu suchen ist. Diese Identi¬
fizierung ist eine magische Einverleibung der Ellern, ein psychisches
Geschehen, das eine Parallele zum Kannibalismus bildet. Im Sinne des
kannibalistischen Glaubens ergeben sich auch auf psychischem Weg die¬
selben magischen Resultate, d. h. eine allmächtige Beherrschung der ein¬
verleibten Objekte und eine magische Ausstattung mit den Fähigkeiten
der Einverleibten.
Die Sicherheit des Ichs wird von seiner Fähigkeit abhängen, mit den
ein verleibten Objekten fertig zu werden. Wir wissen vom Mechanismus
der Melancholie her, wie der Sadismus des Über-Ichs durch den Sadismus
des Es verstärkt und das Ich zerstört wird, wenn das Ich sich mit einem
versagenden Liebesobjekt identifiziert.
Auf der oralen Stufe muß das Ich in magischer Weise den scheinbar
feindseligen Elternteil beherrschen, da das Kind von der Realität ja nur
unzureichende Kenntnis besitzt.
Es hängt dann alles von der Fähigkeit des Ichs ab, dieses feindselig
gesinnte, einverleibte Objekt aus sich auszustoßen. Das bedeutet in Wirk¬
lichkeit eine Herrschaft des Ichs über irgend etwas in der Außenwelt, was
das vorher introjizierte feindselige Objekt zu vertreten imstande ist. Der
Künstler verlegt diese Feindseligkeit in einem Kunstwerk nach außen.
In diesem Kunstwerk verfügt er, bestimmt er, hat er Macht — in Form
einer Außenwirkung — über eine introjizierte Imago oder über introjizierte
Imagines. Während der Schaffensperiode ist diese Allmacht als im Ich, nicht
im Über-lch befindlich zu denken. Zur gleichen Zeit, zu der er die intro¬
jizierte feindselige Imago nach außen verlegt, indem er sie in ihrer defi¬
nitiven Form beherrscht, verändert, gestaltet, — erschafft er symbolisch die
Imagines von neuem, die seine Feindseligkeit zerstört hatte. Wenn wir tief
genug schauen, werden wir vielleicht finden, daß alle Sublimierung vom
Vermögen des Ichs abhängt, die introjizierten Imagines in solcher konkreter
oder abstrakter Form wieder nach außen zu verlegen, so daß sie vom Ich
in der realen Welt gebildet und beherrscht werden können. Wenn für
uns der Gedanke an die Toten von gröberem Aberglauben und von den
Ängsten der Vorzeit frei ist, so kommt dies daher, daß wir uns durch eine
magische Zunichtemachung der Angst durch die Sublimierung, die ja
selbst das Wesen der Kultur ausmacht, allseitig gepanzert haben. Die Ver-
Über Sublimierung und Wahnbildung
391
g an genheit lebt in unserem Wissen, in der Geschichte, — der lebendigen
Vergangenheit, in der Anthropologie, in der Archäologie; die Musik, die
Kunst, die schöpferische Literatur leistet uns diesen Dienst, den sie seit
Zeitaltern leistet. Von allen Künsten ist die jüngste, die des Films, besonders
bestimmt, auf die große Masse zu wirken. Die Hilfskräfte der Wissenschaft
und der Kunst vereinigen sich hier, um die tiefe Not des Menschen zu
lindern und ihm die beglückendsten Illusionen zu bieten, die die Welt
je gekannt hat. Künftige Generationen werden imstande sein, die Ver¬
gangenheit so zu sehen, wie sie wirklich war. Die großen Gestalten der
Vergangenheit werden lebendig werden und sich bewegen wie einst. Sie
werden mit ihrer eigenen Stimme sprechen, und im dunklen Raum dieses
Theaters werden wir trotz unserer Erkenntnisse und Einsichten nicht
zögern, dem ersten Künstler, der in den dunklen Tiefen der Höhle die
Bilder der Bisons schuf, die Hand zu reichen.
”If the red slayer think he slay ,
If the slain think he is slain ,
They knoiu not well the subtle ways
I keep, and pass and turn again”
oder wie es der englische Magier ausdrückt:
”Graves , at my command
Have waked their sleepers , o’pd and let them forih
By my so potent art. n
KASUISTISCHE BEITRAGE
Alkoholismus als passageres Symptom
Ein Beitrag zur Diskussion der Südhtigkeit
Von
Hans Zu 11 iger
Ittigen (Bern)
Ein dreizehnjähriger Junge namens Haase, Vaterwaise seit seinem dritten
Lebensmonate, wird von seiner Mutter wegen Erziehungsschwierigkeiten aus
dem elterlichen Hause weggebracht und in Behandlung geschickt.
Während dieser entwendete er dreimal seinem Pflegevater Geldbeträge, legte
sie in Bier an und betrank sich.
Er ist sehr alkokolempfindlich, nach drei Gläsern (9 dl) war er jeweilen
so berauscht, daß er wohl noch gehen konnte, aber den Sinn für die Realität
vollständig verloren hatte. Er prahlte, er fühle sich allmächtig und brauche
beispielsweise nur einen Finger in einer besonderen Art zu drehen (ähnlich
der Cäsarengeste bei den Gladiatorenspielen in Rom), damit eine bestimmte
Person sterbe. Zwar verzichtete er auf den Mord, aber schon das Bewußtsein,
ihn auf solche magische Art ausführen zu können und das Leben der ganzen
Menschheit gleichsam in seinem Handgelenk zu wissen, ließ ihn wie einen
primitiven Despoten posieren.
Wiederum nüchtern, rationalisierte er seine Anfälle von Trunksucht als
Trotzreaktion gegen seine Mutter und den Pflegevater. Er verzieh es der
Mutter nicht, daß sie ihn weggegeben hatte, wollte wieder zu ihr zurück
und suchte seinen Wünsch damit durchzusetzen, daß er stahl und sich betrank.
Durch solche Aufführung hoffte er die Pflegeeltern dahin zu bringen, die
Geduld mit ihm zu verlieren, und die Mutter zu veranlassen, ihn zurück -
zuholen. Tn der Trunkenheit „vergesse er, daß er nicht zu Hause sei und
daß man ihm am Pflegeorte strenger hielt als wie er es zu Hause gewohnt
war. Dort befand er sich meist in Gesellschaft von Dienstboten oder beim
Hausmeister, und der sehr intelligente Junge beherrschte seine ganze Umgebung.
Auf den Hausmeister war er eifersüchtig, vermutete, die Mutter habe
mit ihm sexuellen Umgang. Der Mann hatte dem Jungen gelegentlich Bier
verabreicht und es als „M än n er trank“ bezeichnet.
Es zeigte sich dann, daß die Rauschsucht ausgebrochen war, als der
Alkoholismus als passageres Symptom
393
Pflegevater ein Kaninchen getötet hatte. Der Junge nennt die Kaninchen
Häschen“ und betrachtet sie als seine „Namensvettern“. Er hatte den Herrn,
bei dem er untergebracht war, unter Anzeichen von Angst gebeten, er solle
die Häschen am Leben lassen. Darauf konnte nicht eingegangen werden, man
schickte den Knaben weg, damit er der Tötung nicht Zusehen könne, aber
er wußte es dennoch einzurichten, daß er zum Zuschauer wurde. Die Prozedur
regte ihn ungeheuer auf. U. a. empfand er den Drang, vom fließenden
Blute zu trinken, doch widerstand er ihm. Dagegen beschmierte er sich
die Hände damit (Ersatz für das Trinken). Der Geruch des Blutes habe ihn
„ganz verrückt“ gemacht, so, als ob er betrunken gewesen wäre. Es
scheint ihm, daß er „zu allem fähig“ gewesen wäre, falls er von dem
Blute getrunken hätte. Er hätte ein Verbrechen begehen, jemanden töten
können, den Pflegevater, den Analytiker, die eigene Mutter. Er hätte sie
erschossen oder mit einem Messer erstochen. Als er das dritte Mal angetrunken
in die Behandlungsstunde kam, zerschnitt er mit seinem Taschenmesser einen
Bodenteppich. Vorher zertrampelte er in gleichem Zustande seinen Pflegeeltern
ein frisch gerichtetes Gartenbeet.
Ein weiterer Grund, weshalb er aufs Bluttrinken verzichtete, war die
Anwesenheit des Pflegevaters. Der Junge dachte, der Mann würde es ihm
nicht gestatten oder es verhindern. Doch machte er ihm gegenüber eine
Bemerkung, seinen geheimen Wunsch betreffend, in der Form eines Witzes.
In einer Dorfschlächterei, zu der er anläßlich seiner Schulferien einst
Zutritt erhalten hatte, konnte er beobachten, wie ein Metzgerbursche von einem
abgeschlachteten Stiere Blut trank; der junge Mann habe sich nachher übermütig,
wie berauscht und ganz verrückt benommen. Die Beschreibung erinnerte an Szenen,
wie sie im Blutrausch bei Derwischorden und Primitiven geschildert werden.
Einmal brachte er eine Zeichnung: ein Wappen, /im grünen Felde saß ein
Hase. Es sei dies sein Wappen, das Tier darin bedeute seinen Großvater (den
er nie gekannt hatte), den er sich mit ebenso- einem dicken Leib und mit
großen Ohren vorstelle.
Es wurde ersichtlich, daß das Biertrinken einen erlaubten Ersatz für das
Bluttrinken bedeutete. Der Alkoholrausch war ein Äquivalent für den Blut¬
rausch. Die triebmäßig gewünschte und aus Schuldgefühlen gefürchtete Folge
des Rausches war die Vatertötung und -einverleibung (Kommunion). Die
Schlachtung des Häschens (Wappentier-Totemtier-Ahne) brachte die gegen den
Vater gerichteten Aggressionswünsche zum Durchbruch, die sich in der Rausch¬
sucht, dem Zertrampeln des Gartenbeetes und dem Zerschneiden des Teppichs
deutlich äußerten, und die sich auch gegen die eifersüchtig geliebte Mutter richteten.
Wir erhielten die Gleichung : Alkoholrausch = Blutrausch = orale Einver¬
leibung des Vaters = Identifikation mit dem Vater (Urvater) = Allmacht = Inzest.
Und zwar Inzest auf der primären oralen Stufe mit beiden Elternteilen.
Wir erinnern uns daran, daß der Vater des Jungen zu einer Zeit starb,
als der Sohn in seiner Libidoentwicklung die primäre oral-sadistische Phase
noch nicht überschritten hatte. Dazu kommt, daß zur selben Zeit die Ent¬
wöhnung stattfand, denn unter dem Eindrücke der Trauer blieb der Mutter
die Milch zurück. Es macht den Anschein, daß damals bei dem Jungen eine
Triebfixierung stattfand, deren Begründung darin zu suchen ist, daß das
Knäblein zu gleicher Zeit entwöhnt wurde und zu doppeltem Verzichte —
Int. Zeitschr f. Psychoanalyse, XVII/3
26
394
Hans Zulliger
auf die Mutterbrust und auf das irgendwie erhoffte Trinken des Vaters_
gezwungen war. Die Ödipuskonstellation konnte sich darum auch nur auf der
primären oral-sadistischen Stufe abwickeln.
Die Mitteilung dieses Falles von passagerem Alkoholismus erscheint mir
deshalb gerechtfertigt, weil man über die Entstehung dieser Rauschsucht noch
wenig Gesichertes weiß, und weil mein Beitrag bereits bestehende Ansichten be¬
stätigt und neue Aspekte eröffnet, deren allgemeine Gültigkeit nachzuprüfen wäre
Jones 1 vermutet, daß bei Alkoholismus „wahrscheinlich bei beiden
Geschlechtern immer verdrängte homosexuelle Regungen“ die wichtigsten
Krankheitserreger seien, er stützt sich dabei auf Äußerungen von Freud 2
Abraham 3 und Ferenczi. 4
Im Falle Haase zeigen sich die homosexuellen Regungen sehr deutlich.
Auch der Eifersuchtswahn bei Alkoholikern, die Beziehungen zu primitiver
Religiosität (Totemismus) und dem Ursprung der Tragödie (Vatertötung und
Sühne), wie sie Freud 5 und besonders Kielholz 6 und Blum 7 nach¬
wiesen, sind offensichtlich.
Kielholz betont die Regression des Alkoholikers bis zur primären Oral¬
erotik und bezeichnet die Alkoholika als „das Gift der unbewußt Männlich-
Homosexuellen“. Der Zweck des Alkoholrausches sei, die verdrängten Regungen
zum Durchbruch kommen zu lassen und das Realitätsprinzip durch das Lust¬
prinzip zu ersetzen. Dieser Ansicht ist auch Freud. 8 Unser „allmächtig“
gewordene Knabe Haase bestätigt, daß er im Rausch „vergißt“, was ihn
aktuell bedrückt, und daß er im Rausche zu kriminellen Triebregungen fähig
ist. Hier kann darauf verwiesen werden, daß die Mehrzahl der Verbrechen
im Alkoholrausch begangen wird. Es kommt zu einem Durchbruch der
Destruktionstriebe, wie auch Blum 9 nachweist: „Durch den Gift¬
genuß tritt eine Entmischung der Lebens- und Todestriebe ein. Während
durch die Gift Wirkung gewaltsam versucht wird, die Lebenstriebe irrealer
Dauerbefriedigung zuzuführen, werden auf der andern Seite dem Destruktions¬
trieb die Fesseln gelöst, so daß derselbe sein Zerstörungswerk an den Süchtigen
vollbringen kann.“ Der Destruktionstrieb zeigt sich jedoch auch in seiner
„Wendung nach außen“ im allgemeinen Sadismus der Alkoholiker, der sich bei
1) Jones, „Therapie der Neurosen“, I. P. Verlag, Wien, 1921.
2) Freud, „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“, III. und IV. Folge,
I. P. Verlag, Wien.
5) Abraham, „Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und
Alkoholismus“, und „Ansätze zur psa. Erforschung imd Behandlung des manisch-
depressiven Irreseins“, beides in „Klinische Beiträge zur Psychoanalyse“, ebenda.
4) Ferenczi, „Gontributions on Psycho-Analysis“, Ch. V. u. XI.
5) Freud, „Die Zukunft einer Illusion“, I. P. Verlag, Wien.
6 ) Kielholz, „Trunksucht und PsA.“, Schweizer Archiv für Neurologie und
Psychiatrie, Bd. XVI, Hft. 1, S. 27, ferner in „Seelische Hintergründe der Trunk¬
sucht“ in „Die psa. Bewegung“, II, 2.
7) Blum, „Rauschgifte und Süchtigkeit“, Vortrag, gehalten an der Conference
Internationale de la Commission de l’Opium de la Ligue internat. des Femmes pour
la Paix et la Liberte in Genf, April 1950.
8) Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 22 u. 26. I. P. Verlag, Wien.
9) op. cit.
!
1
Alkoholismus als passageres Symptom 395
Haase in Mordäußerungen und Mord wünschen, aber auch im Zerstören des Garten¬
beetes und des Bodenteppichs austobt. Statt der verbotenen realen Befriedigung
ist die „illusionistische toxische Ersatzbefriedigung“ (Radö 1 ) eingetreten.
Wenn wir den Fall Haase überblicken, dann drängen sich uns die Fragen
auf, ob bei den Narkotikern, speziell bei Alkoholikern, eine homosexuelle
Vaterbindung auf primärer o r a 1 - s a d i s tisc h er Stufe und
ein dementsprechender un erledigt er Ö dipuskomplex allgemein
genetisch eine ausschlaggebende Rolle spielen, und ob der Rausch, den sich
der Süchtige zu verschaffen versucht, immer und überhaupt einen Ersatz
für den Blutrausch bedeute, ein Symbol für die innigste Identifikation
mit dem Vater = Urvater sei und darum alle Hemmungen der Kultur lockere,
den Wahn der Allmacht aufkommen lasse und den nach außen gerichteten
Destruktionstrieb entfessle.
In diesem Zusammenhänge sei daran erinnert, daß dem Wein im
christlichen Abendmahle eine viel größere Bedeutung zukommt als
dem Brote. Den das Blut des Gottes bedeutenden Wein darf in der römisch-
katholischen Lehre nur der Priester trinken. Er erhält ihn zum erstenmal
nach vollzogener Weihe. Der Wein ist gleichsam tabuierter als das Brot; die
Hostie darf auch der Laie genießen, nachdem er sich von seinen Sünden
durch Beichte und Sühne befreit hat, — doch darf er sie nicht beißen.
Dem geweihten Mittler zwischen Gott und Mensch, dem Priester, einer fast
noch magischen Gestalt, ist erlaubt, was dem gewöhnlichen Gläubigen nicht
mehr gestattet werden kann; er steht Gott näher als der Laie, seine Identi¬
fikation ist vollkommener als die des Ungeweihten.
Wenn das christliche Abendmahl, dabei insbesondere der Genuß des Weines,
die innigste Identifikation mit dem vergöttlichten, idealisierten
Urvater bedeutet, die durch die Einverleibung stattfindet, dann zeigt das
Verhalten der Alkoholiker, daß die Einverleibung der Rauschgifte die Identi¬
fikation mit dem primitiven, triebhaft-groben und gewalt¬
tätigen Urvater zustande bringt, dessen Allmacht eher böse als gut wirkt,
und der eher narzißtisch als sozial handelt.
Schließlich reizt es, die Vermutung zu diskutieren, daß der letzte und
tiefste Grund der männlichen Vatersehnsucht in der oralen
Vaterbindung zu suchen sei.
Das weibliche Kind ist dabei in günstigeren und einfacheren Verhältnissen
als der Knabe: als Säugling verleibt es sich die Mutter oral und als
erwachsenes Geschlechtswesen den Vater (Mann) im Geschlechtsakte genital
ein. So wird seine auf oraler Basis begründete Sehnsucht nach Einverleibung
beider Elternteile einesteils direkt, andemteils durch symbolische Übersetzung
verhältnismäßig real gestillt. Dem männlichen Kinde jedoch ist, was seine
diesbezüglichen Wünsche auf den Vater anbelangt, nur gegeben, diesen sich
auf dem Wege der Identifizierung psychisch „einzuverleiben“, eine jede andere,
der Realität nähere und plastischere Lösung des Konfliktes taxiert die Kultur
als anormal. Der Knabe hat somit die größere seelische Leistung zu bewältigen
als das Mädchen, und es ist nicht verwunderlich, wenn er häufig daran scheitert.
l) Radö, Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte, I. Ztschr. f. PsA., Bd. XII,
1926.
■
;!
-I
;!
26*
396
Ridiard Sterba: Zur Gleidistellung von Mutter und Dirne
Zur Gleichstellung von Mutter und Dirne
Von
Richard Sterba
Wien
„Die Liebesbedingung der Dirnenhaftigkeit des Objekts scheint einer
Ableitung aus dem Ödipuskomplex energisch zu widerstreben“ (Freud, Bei¬
träge zur Psychologie des Liebeslebens, Ges. Sehr., V, 192). Das Paradoxon,
daß Mutter und Dirne identisch sind, sucht Freud durch Vorgänge der
Vorpubertät zu klären. Die Eröffnung und Erkenntnis, daß der Sexualverkehr
auch zwischen den Eltern stattfinde, und die Aufnahme der Tatsache, daß
Frauen den Geschlechtsverkehr gewerbsmäßig ausführen, werden in Zusammen¬
hang gebracht in der Formel: „Meine Mutter ist auch nicht besser.“ Der
Knabe beginne dann die Mutter im neugewonnenen Sinne zu begehren und
den Vater aufs neue zu hassen; er gerate unter die Herrschaft des Ödipus¬
komplexes. Soweit bei Freud.
Ich meine nun, daß die Erkenntnis der Beziehung Mutter = Dirne einer
Vertiefung fähig ist, und wurde durch folgendes klinische Material darauf
aufmerksam. Ein Patient, der häufig Dirnen aufsuchte, hatte besonders in der
Zeit nach der Pubertät während und nach dem Besuch eines Bordells folgende
angsterfüllte Vorstellung: „Wie, wenn in der Zeit, die ich hier verbringe
bzw. dort verbracht habe, ein Mord geschähe bzw. geschehen wäre, und ich,
verdächtigt, müßte meine Unschuld durch ein Alibi beweisen! Ich könnte
meine Unschuld niemals beweisen, weil ich doch nicht sagen darf, daß ich
dort gewesen bin.“ Es war niemals ein anderes Verbrechen als ein Mord
oder Raubmord. — Hier erscheinen deutlich die zwei Akte der Ödipustat in
einem vereinigt. Während er mit der Mutter = Dirne verkehrt, geschieht ein
Mord, wobei er keinen Beweis erbringen kann, unschuldig zu sein. Träume
und anderes analytisches Material ließen den Ermordeten eindeutig als den
Vater erkennen. Es enthielt also der Besuch bei der Dirne die Vatertötung
in klassisch offener Weise. Und dieser paradigmatische Fall ließ mich denken,
ob nicht regelmäßig in der phantasierten Dirnenhaftigkeit der Mutter und in
der Mutterbedeutung der Dirne der Vatermord enthalten sei. Die Einführung
eines konstruktiven Elementes läßt dann leicht folgenden Schluß zu: Wird
die Phantasie von der Untreue der Mutter, die ja an sich schon die Möglich¬
keit gibt, selbst einer von denen zu werden, mit denen die Mutter dem Vater
untreu wird, zur Dirnenhaftigkeit der Mutter erweitert, dann heißt dies
nicht nur, auch ein anderer als der Vater kann die Mutter haben, sondern
alle können sie haben. Dies aber ist die erhoffte Situation nach dem Tode
des Urvaters. Denn die Tat am Vater ist eine gemeinsame der Söhne und
soll die Mutter in den gemeinsamen Besitz aller Söhne bringen. Erhält die
Frau, in deren Besitz jeder einzelne sich setzen kann, die Bedeutung der
Mutter, so erscheint damit die Tat am Vater gleichzeitig vollzogen. Weitere
Erfahrungen werden wohl geeignet sein, diese Vermutung zur Sicherheit zu
erhärten.
Ein erlebtes Stück Traum Symbolik
397
Ein erlebtes Stück Traumsymbolik
Von
Herbert W o 11 e
Dresden
Ich berichte von einem Schlaftraum, der die symbolisch verhüllte Wieder¬
holung und Fortsetzung eines unmittelbar vorangegangenen Wachtraumes
war . — Ich möchte vorausschicken, daß sich der Vorgang des Erwachens,
wenn er nicht durch äußere Einflüsse (z. B. Wecker) beschleunigt wird, bei
mir etwa in folgender Kurve spiegelt:
liUcljzusta. ruL
W und W 1 sind Wachplateaus.
E , E‘ und E u bedeuten Erwachen (bei E / und E u ist das Erwachen ein
vollständigeres als bei E)
A und A J bedeuten Absinken in neuerlichen, weniger tiefen Schlaf.
Ich beginne nun mit meinem Bericht. — Auf dem Wachplateau W mich
befindend, stelle ich mir vor, daß ich neben einer mir bekannten Dame, an die
ich Öfter denke , auf dem Sofa sitze. Ich mochte gern ihre Brust berühren ,
aber das Kleid ist so straff. Ich führe deshalb meine rechte Hand (ich sitze
links von der Dame) nach ihrem Rücken und mache mir dort zu schaffen ,
um das Kleid zu Öffnen (es hat Druckknöpfe). — Bis hierher geht der
Wachtraum. In diesem Augenblick findet ein Abgleiten in einen neuerlichen
Schlafzustand statt (A). Ich verliere nämlich in meinem Wachtraum scheinbar
den Faden, träume aber weiter, nunmehr im Schlaf. — Ich sehe mich vor
einem mir wohlbekannten Gasthaus stehen , aber nicht vor dem Haupteingang ,
obwohl ich auch im Traum um diesen zu wissen scheine , denn ich will nach
der Gaststube , die gleich hinter dem Haupteingang liegt — nein, ich sehe
mich vor einem Hintereingang an der Rückwand des Hauses stehen. Ich ver¬
suche ., die Tür des Hinter eingangs aufzuziehen (nach außen) — doch nein ,
ietzt ist es ein Vorhang , den ich unter großen Schwierigkeiten und mit
398
Herbert Wotte
Anstrengung zu durchdringen oder beiseitezuziehen trachte . — I n diesem
Augenblick flammt wieder das Licht des Bewußtseins auf (E'). Ärgerlich sa
ich mir noch: jetzt bist du vom Thema (des Wachtraums) abgekommen, ha^t
den Faden verloren! Da ich aber wacher bin {f¥') als vorhin bei meinem
Wachtraum {FF), fällt mir sofort der Zusammenhang auf, der — analytisch
besehen zwischen dem Wachtraum und dem Schlaftraum besteht. Nunmehr
durch diese überraschende Feststellung völlig erwacht, konstatiere ich daß
beide im Grunde eines sind, der Schlaftraum nur die ins Symbolische über¬
setzte Fortsetzung des Wachtraums ist.
Die Tendenz, die hier waltet, ist völlig klar, nämlich: Wunscherfüllung
zu gewähren unter Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Schlaf¬
zustandes. Zur symbolischen Verkleidung dienten Tagesreste. Das im Traum
erscheinende Gasthaus ist ein ganz bestimmtes, an dem ich oft vorbeigehe
Sein Grundriß sieht etwa so aus:
H
H
G ist die Gaststube. Der Haupteingang, der sich bei H befindet, ist abends
hell erleuchtet. Ich war auch schon einmal in der Gaststube drin. Damals bin
ich zu dem Haupteingang hineingegangen, hinter dem sich, wie in vielen
Gaststätten, ein Vorhang befindet {F ~) 7 der den Gästen die Tür verbirgt und
sie vor Zug schützen soll. Ich habe damals Zigaretten gekauft; eine Kellnerin
bediente mich. Den Eingang, der im Traum vorkommt, den es aber an dem
wirklichen Gasthaus gar nicht gibt, habe ich unter H' in die Zeichnung ein¬
getragen. — Warum wurde nun ein Gasthaus als Symbol gewählt — kein
Haus, sondern gerade ein Gasthaus? Zunächst war dieses Gasthaus ein leicht
erreichbarer Tagesrest. Ferner wies es Eigenschaften auf, die es gerade für
diesen Traum besonders geeignet machten: die betonte Vorderseite mit dem
eigentlichen Eingang und dem Vorhang als Verkleidung; die unbetonte Rück¬
seite, die eine Verschiebung des Haupteingangs zuläßt — eine Verschiebung,
die nur aus dem (im Wachtraum offenkundigen) latenten Gedanken überhaupt
verständlich wird. Auch der Hintereingang führt ja zu demselben Ziel wie
der Haupteingang: in die Gaststube nämlich. Ob bei der Symbolwahl mit¬
spricht, daß die Dame älter war als ich und sehr „ erfahren a , wage ich nicht
zu entscheiden. Ebenso muß unentschieden bleiben, wie weit der Tagesrest
der bedienenden Kellnerin bei der W^ahl der Verhüllung mitgewirkt hat.
Nur eine Frage von prinzipieller Bedeutung ist noch zu diskutieren: Wozu
wurde der latente Gedanke symbolisch verkleidet im Schlaftraum, wenn er
im Wachtraum doch schon an sich, unverhüllt, aufgetreten war ? Sigm. Freud
Ein erlebtes Stück Traum Symbolik 399
schrieb mir dazu: „Ihre berechtigte Frage, warum Sie die Phantasie eines
Wachtraums im darauffolgenden Schlaftraum symbolisch wiederholen, beant¬
wortet sich dahin, daß Sie im letzteren eine Anspielung auf die Person der
Mutter anbringen konnten (Gasthaus, Kellnerin), die Sie im Wachen doch
nicht zustande gebracht hätten. Was Sie über das Alter der Dame angeben,
stimmt ja dazu.“
Ich möchte noch bemerken, daß sich der ganze Vorgang in seinen drei
Stadien innerhalb weniger Sekunden abgespielt hat. Ich habe sowohl von
dem Wach- wie von dem Schlaftraum und erst recht von der Bewußtwerdung
ihrer Sinngleichheit eine unmittelbare und völlig klare und lückenlose
Kenntnis noch gehabt, als ich schon vollständig wach war. Ich habe nicht
ein Tüpfelchen zu rekonstruieren brauchen.
DISKUSSIONEN
„Nachtrag zu Freuds ,Geschichte einer infantilen
Neurose 4 “
(Der erste und zweite Teil dieser Diskussion sind im Band XVI [1930] S. 123 ff. erschienen.)
III
Erwiderung auf Mack Brunswicks Entgegnung
Von
J. H a r n i k
Berlin
Es täte mir leid, wenn wir und Mack Brunswick aneinander vorbei¬
reden würden und auf diese Weise eine seltene, vielleicht einzigartige Ge¬
legenheit, für eine wichtige Problematik wirkliches Neues aus einem Fall zu
lernen, nicht in vollem Maße ausgenützt werden könnte. Daher will ich
gleich den einzigen Punkt in den Vordergrund schieben, in dem wir, bei
allen theoretischen Differenzen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade über¬
einstimmen, allerdings mir auch die Freiheit nehmen, Einwendungen gegen
die Bewertung dieses Punktes durch Mack Brunswick zu machen. Der¬
selbe ist enthalten in dem Schlußsatz ihrer Entgegnung: „Ich glaube, daß
der Patient jetzt seine Angst vor dem , Angeschaut werden* deshalb erinnerte,
weil im Moment, wo seine Passivität so gesteigert worden war, daß sie sich
einen Ausweg in paranoischen Bahnen suchen mußte, die für die Passivität
pathogene Urszene mit all ihren mannigfachen Folgen und Auswirkungen
zur Erinnerung kam.“ Was ich — sonst Nuancen in Formulierung und
Auffassung einfach aus dem Wege gehend — neuerlich werde anzweifeln müssen,
ist gerade die Annahme, daß in der Analyse sämtliche Folgen und Aus¬
wirkungen der Urszene, nach welchen hätte nachgespürt werden können
(ich meine insbesondere die frühinfantilen), zum Vorschein kamen.
Bevor ich aber darauf komme, soll expressis verbis betont werden, daß
ich selbstverständlich das Symptom des „Angeschautwerdens“ als Folge¬
erscheinung der Koitusbeobachtung — im Sinne der Darstellung Freuds,
die ja die Urszene im Wolfstraum aktuell wirksam sein läßt — begriffen
habe. Trotzdem glaubte ich die Beziehungen zum Onaniethema hervorheben
zu dürfen, aus zwei Gründen. Erstens wegen der eminenten Bedeutung,
Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose'
401
die der Heimlichtuerei in der neuen Erkrankung des Wolfsmannes zu¬
kommt, und der so zu vermutenden Zusammenhänge mit dem Onanie¬
geheimnis. Auch hierüber möchte ich nicht mit Mack Brunswick
streiten. So viel wird sie doch konzedieren, daß der Wolfsmann seine Mastur¬
bation in der Kindheit (oder gar in der Pubertät) nicht gerade ge¬
wohnheitsgemäß zur Schau getragen hat. Man vergleiche im Gegenteil F r e u d s
Bemerkung zur verwegenen Exhibition der Nanja gegenüber im Alter von
5V4 Jahren (Ges. Sehr., Bd. VIII., S. 458). So aber konnte zweitens damit
die Brücke geschlagen werden zur tieferen Analyse der Kindheitsepoche,
die vor dem Wolfstraum lag — wo die Analytikerin einen Ansatz dazu
gemacht hat, das habe ich in meiner Kritik (s. diese Zschr., Bd. XVI (1930),
S. 126, Anmkg.) voll Anerkennung zitiert. In diesem Lichte erscheint die
nun umstrittene Onanie in Gegenwart von Prostituierten einfach als Zeichen
einer partiellen Libidoregression auf die Reifestufe der Nanjaszene; die Be¬
kräftigung unseres Glaubens an die Tatsächlichkeit der Urszene, wie es Mack
Brunswick hierbei will (a. a. O., S. 128), nehmen wir wieder gerne
mit in Kauf.
Zwar scheint mir die Einstellung der Autorin zur Brauchbarkeit der Ur¬
szene als Erklärungsfaktor nach ihrer Antwort weniger unbedenklich als je.
Sie betont einerseits die Realität der Koitusbeobachtung, operiert andrerseits
damit wie mit einer feststehenden Größe, ohne jede historische, geschweige
denn chronologische Differenzierung im Sinne der Lehre von den spezifischen
(durch spezifische Dispositionen bedingten) Regressionen. Ich brauche nicht
mißverstanden zu werden. Hat sie sich einmal entschlossen, zu glauben, daß
sie nur die Aufgabe hatte, einen ungelösten Übertragungsrest therapeutisch
zu bewältigen, so war ihr auf das Durcharbeiten dieses einen Moments gerich¬
tetes Vorgehen überaus konsequent und erzielte auch den Erfolg, der seither
bekanntlich auch sonstige rühmende Erwähnung fand. Doch vermochte und
vermag sie auch weiterhin nicht unsere Neugierde zu befriedigen, die hier
Antworten auf brennend interessante Fragen (hoffentlich nicht nur übereifrig)
vermutet. Diese mehr forschende Betrachtungsweise kann sich nämlich auf
sehr wohlbegründete Voraussetzungen stützen. Sie akzeptiert eventuell — schon
um die Diskussion nicht zu komplizieren — die analytischen Befunde über
die aktuellen Verursachungen dieser Rezidive, so wie sie vorliegen, doch ohne
den Sinn dafür zu verlieren, was das heißt, daß die neuerliche Erkrankung
wirklich Symptome einer anderen Krankheit aufweist. Sie muß aus der
Theorie folgern — es sei denn, daß das Gegenteil sonnenklar nachgewiesen
würde —, daß die andersartige Psychoneurose ihre Entstehung der Libido¬
regression zu ganz neuen, möglicherweise völlig unbekannten disponierenden
Momenten verdankt. Sie erhebt die Forderung, daß nach solchen gesucht werde,
und begrüßt wie einen wissenschaftlichen Fortschritt — ohne das technisch¬
therapeutische Interesse daran schmälern zu wollen — auch den kleinsten
Anfang, der in dieser Richtung gemacht wurde, als welcher meiner un¬
veränderten Ansicht nach die Entdeckung des „Angeschautwerdens“ gilt.
Gesetzt den Fall, daß eine weitere Suche in der Tiefendimension möglich
gowesen wäre, wo könnte man glauben, noch auf solche Fixierungspunkte
gestoßen zu sein? Ich kann nur ausführlicher wiederholen, was ich in meinen
abschließenden Bemerkungen (a. a. O., S. 127) angedeutet habe: bei den Stö-
402 Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose“
rungen der oralen Phase. In einem inzwischen erschienenen Aufsatz 1 habe * h
ja die frühe Eßunlust des Wolfsmannes herangezogen, und was ich von deren
unerkannter Bedeutung glaubte erraten zu haben, zu begründen versucht. Nun
war jene Eßstörung eine eben mit einiger Sicherheit erkennbare Reaktion
des Kindes auf die Urszene selbst (nicht etwa auf ihre Neubelebung i^
Wolfstraum) gewesen. Die regressive Wiederholung von Konflikten aus dies^
Lebenszeit an der psychotischen Symptomatik wäre wohl irgendwie wieder¬
zufinden, wenn man sich entschließen würde, den doch unhaltbaren Stand¬
punkt aufzugeben, daß in der Analyse bei Mack Brunswick die für die
Passivität des Patienten „pathogene Urszene mit all ihren mannigfachen Folgen
und Auswirkungen zur Erinnerung kam“. Beispielsweise könnte man die
Erwartungsvorstellung hegen, daß der Knabe damals — wie das so häufig
vorkommt wenigstens gelegentlich zwangsweise gefüttert wurde. Daß ihm
vielleicht mal die Nase zugedrückt wurde, damit er zu schlucken genötigt
war. Wobei die von mir gewürdigte Erstickungsangst und sonstige subjektive
Sensationen die primäre (durch die bereits hervorgehobenen Neuauflagen mehr¬
fach verstärkte) Grundlage geschaffen haben mögen für den späteren Wahn
an der Nase geschädigt worden zu sein. Man kann es nicht wissen, aber auch
die Richtigkeit oder bloße Wahrscheinlichkeit dieser und ähnlicher Annahmen
nicht ausschließen. Jedenfalls scheint die ganze paranoide Erkrankung gewisser¬
maßen aus Nahrungssorgen heraus (analog wie die Teufelsneurose des Malers
Haitzmann) entstanden zu sein, und das Verhalten des Wolfsmannes bis
zur Analyse eine Deutung vom Gesichtspunkte der Oralität (Begehrlichkeit
usw.) zuzulassen.
IV
Schlußwort
von
Ruth Mack Brunswick
Wien
Daß die Ursachen der paranoischen Erkrankung des Wolfsmannes sowohl
wie auch der früheren Neurose nicht ausschließlich durch die Urszene zu
erklären sind, gebe ich gerne zu. Damit die Urszene eine so heftige Wirkung
nach sich ziehen konnte, mußten selbstverständlich in früheren Phasen der
Libido-Entwicklung Störungen vorhanden gewesen sein. In der Analyse selbst
finde ich keinen Beweis für die Annahme H ä r n i k s, daß man vielleicht
dem Wolfsmann die Nase zugedrückt habe, damit er zu schlucken genötigt
war. Ich stelle mir die Sache auch nicht ganz so einfach vor, obwohl man
die Möglichkeit eines solchen Erlebnisses nicht ausschließen kann. Ich bin
überzeugt, daß schwere Störungen der oralen Phase sehr oft die Grundlage
für den späteren negativen Ödipuskomplex sein können, aber hier hat uns
die Analyse selbst kein weiteres Material geliefert Es wäre höchst interessant,
diese Annahme Harniks durch weitere Beobachtungen zu untersuchen.
1) „Über eine Komponente der frühkindlichen Todesangst“, diese Zschr., Bd. XVI
(i93°)> S. 242.
REFERATE
Aus den Grenzgebieten
Malinowski, Bronislav: Das Geschlechtsleben der Wilden
in Nordwestmelanesien (Grethlein & Co., Leipzig).
Das vorliegende neueste Werk Malinowskis stellt eine ausführliche
und unschätzbar wertvolle Ergänzung seiner bisherigen bekannten Arbeiten
über die Organisation der mutterrechtlichen Stämme in Nordwestmelanesien
dar. Es widersetzt sich infolge seiner Fülle an Material und fruchtbaren
Gesichtspunkten einer kurzen inhaltlichen Besprechung. Das Studium dieses
Werkes ist für jeden, der fachlich mit Sexualfragen klinisch oder soziologisch
beschäftigt ist, unerläßlich. Wir wollen nur kurz die Komplexe von Tat¬
beständen herausheben, die unserer Ansicht nach dem Buche den Charakter
eines Standardwerkes aufprägen.
Zunächst ist es das erste Werk in der ethnologischen Literatur, das über
den Charakter des Sexualerlebens der Primitiven brauchbare Aufschlüsse gibt.
Nicht zuletzt ist das dem Umstande zu danken, daß Malinowski von der
in der ethnologischen Literatur sonst sehr häufigen moralischen Betrachtungs¬
weise gründlich abrückt und den Primitiven durch volle Einfühlung zu
begreifen sucht. Das intime Zusammenleben nicht mit — „Gewährsleuten“,
sondern mit der Masse der trobriandrischen Bevölkerung eröffnete Malinowski
Einblicke über die innere sexuelle Organisation hinaus in deren Zusammen¬
hang mit der wirtschaftlichen Organisation der mutterrechtlichen Gesellschaft,
und dies ist der zweite Punkt, der sein Werk aus der Masse der ethno¬
graphischen Literatur heraushebt. Die wirtschaftliche Organisation wird mit
einer Gründlichkeit beschrieben, die klar erkennen läßt, daß der Autor sich
der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft und der gesellschaftlichen
Organisation für das Verständnis der Bräuche und moralischen Satzungen voll
bewußt war. Ohne zu wissen, wie sich der Autor zur Mutterrechtstheorie
von Morgan und Engels stellt, darf man behaupten, daß sein Werk eine
direkte Fortsetzung und Bestätigung dieser Theorie darstellt.
Das Buch wird zweifellos auch die psychoanalytischen Versuche in der
Ethnologie entscheidend beeinflussen, indem es zu einer Kritik der reinen
Deutungstechnik in der Ethnologie und der Außerachtlassung der wirtschaft¬
lichen Organisationsformen bei der Beurteilung der gesetzlichen, moralischen
404
Referate
und ideologischen Struktur primitiver Volksgemeinschaften anregt und darüber
hinaus neue Wege zur Anwendung der Psychoanalyse in der Ethnologie
weist. Gegenüber den vielen positiven Werten dieses Buches kommt nicht
sehr in Betracht, daß der Autor gelegentlich bei der Besprechung der Moral
der Trobriander Exkurse zur Rettung und Rechtfertigung der Familien¬
institution unternimmt.
Für die psychoanalytische Libidotheorie und Neurosenlehre ergibt sich aus
Malinowskis Forschungen ein unwiderlegbarer Beweis ihrer Richtigkeit
Malinowski konnte nämlich feststellen, daß die mutterrechtliche Organisation
der Trobriander, die, abgesehen vom Inzestverbot, frei ist von moralischen
Einschränkungen des Sexuallebens, keine Neurosen und Perversionen aufweist-
Homosexualität ist selten und Onanie spielt eine nebensächliche Rolle. Dagegen
zeigten Nachbarstämme, die bereits eine ausgesprochen patriarchalische Organi¬
sation mit dem Zubehör der strengen Familienordnung und der moralischen
Einschränkung des jugendlichen Geschlechtslebens haben, eine Fülle von
Tics, nervösen Erscheinungen und Zwangssymptomen. Für die Einschätzung
der Kirche als Neurosen und Perversionen erzeugenden Faktors ist Mal i-
nowskis Feststellung wesentlich, daß sich in den primitiven Organisationen
die Homosexualität und alle bekannten Erscheinungen des sexuellen Elends in
dem Maße zu entwickeln beginnen, als der Einfluß der Kirche in Form von
Einschränkungen des Genitallebens, Trennung der Geschlechter usw. sich
durchsetzt. — Malinowski selbst gelangt auf Grund seiner Forschungen
zu keiner Kritik unserer Sexualordnung. Reich (Berli )
Reich, Wilhelm: Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit,
Eh emoral, Münsterverlag, Wien.
„Eine Kritik der bürgerlichen Sexualmoral“ nennt sich Reichs Buch im
Untertitel. Diese Kritik wird gründlich besorgt. Alle Reformbestrebungen
wurzeln in Notständen, die sich aus Konflikten zwischen Triebverlangen und
äußeren, wirtschaftlich bedingten, oder inneren, „moralisch“ bedingten Faktoren
ergeben. Aber keine von ihnen geht der Herkunft dieser Wirtschaft und
dieser Moral so weit konsequent nach, wie es nötig wäre, um zu ver¬
stehen, unter welchen Umständen wirksame Änderungen in sexualibus möglich
wären und unter welchen nicht. Es ist das Verdienst des Reichschen Buches,
daß es gerade das feststellt.
Für den Psychoanalytiker ist dabei die Bedeutung der gesellschaftlichen
(wirtschaftlichen und moralischen) Faktoren für die Ätiologie der Neurosen
wichtig. Denn als eigentliche Ursache der pathogenen Verdrängungen kommen
ja neben gewissen physiologischen Eigenschaften des menschlichen Kindes und
einer vielleicht schon phylogenetisch vorgezeichneten Neigung, Erziehungs¬
einflüsse in sich aufzunehmen, vor allem und am weitaus wichtigsten trieb¬
feindliche Erziehungseinflüsse in Betracht, die im Kind die Auffassung, die Befrie-
digung sei eine Gefahr, entstehen lassen oder festigen. Reich untersucht nicht viel
die akademische Frage, ob nicht eine gewisse Triebeinschränkung für jede Gesell¬
schaft unumgänglich sei, sondern bescheidet sich mit der sehr konkreten Frage
nach den realen heutigen Erziehungseinflüssen, ihrer Herkunft, Funktion und
Referate
405
Zweckmäßigkeit. Wie weit die bürgerliche Moral für die Neurosen verantwortlich
ist hat Freud schon vor langer Zeit betont. Woher aber diese Moral kommt,
das ist eine unpsychologische, rein soziologische Problemstellung, deren Beant¬
wortung erst zusammen mit den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung
das Neurosenproblem ganz lösen könnte.
Ihr geht Reich mit der scharfen soziologischen Methodik des Marxismus
z u Leibe. Es ist der erste Versuch, psychoanalytische Erkenntnisse zur marxis¬
tischen Kritik der gesellschaftlichen Sexualordnung heranzuziehen. Der Marxis¬
mus lehrt, die Ideen einer Gesellschaft seien das Wider spiel der herrschenden
Produktionsverhältnisse. Die herrschenden Ideen seien die der herrschenden Klasse.
.— Die ganze bürgerliche Sexualmoral ziele auf Festigung der Institutionen
Ehe und Familie. Und diese Institutionen dienen der Verankerung der herr¬
schenden Produktionsweise. Reich bemüht sich deshalb, zunächst dreierlei
zu zeigen: Erstens daß Ehe und Familie der kapitalistischen Wirtschafts¬
ordnung dienen, zweitens daß alle Sexualmoral aus der Ideologie der Ehe und
Familie abzuleiten ist, so daß sich die früher erwähnten „äußeren wirtschaft¬
lichen“ und „inneren moralischen“ Faktoren als identisch erweisen, drittens
daß deshalb keine Sexualreform etwas Wesentliches ändern kann, solange an
der kapitalistischen Produktionsweise nichts geändert wird.
Ad 1) und 2): „Die eheliche Moral ist der äußerste ideologische
Exponent des Privateigentums im ideologischen Überbau der Gesellschaft .
Sie diene mit Hilfe des Erbrechts zur Erhaltung des Eigentums an Produk¬
tionsmitteln. Die Ehe habe weiter den sozialen Sinn, Frau und Kinder, deren
materielle Abhängigkeit ein integrierender Bestandteil der patriarchalischen
Gesellschaft sei, zu schützen. Deshalb verlange die kapitalistische Gesellschafts¬
ordnung die Ehe. Die Ehe aber verlange die Ideologie der vorehelichen
Keuschheit uud innerehelichen Treue, vor allem der Frau. Diese Ideologie
aber gerate in Widerspruch mit dem natürlichen Sexualtrieb und schaffe
deshalb einerseits Verdrängungen und Neurosen, andrerseits Ehebruch und
Prostitution. Auch Moralanschauungen wie die von der Verwerflichkeit der
Abtreibung dienen letzten Endes dem Schutz der Ehe, da andernfalls der
Zwang zur Heirat nach Schwängerung wegfiele. Deshalb dürfe der Sexualakt
kein „von der Fortpflanzung unabhängiger Bedürfnis- und Lustakt sein ,
wie er es de facto ist, was aber zu leugnen zum Wesen der bürgerlichen Sexual¬
moral gehört. — Die Familie sei nicht „die ,Zelle 4 der menschlichen
Gesellschaft überhaupt“, sondern „ein Ergebnis bestimmter ökonomischer Struk¬
turen“. Sie sei ökonomisch zunächst die Stätte des wirtschaftlichen Klein¬
betriebs gewesen, mit dem Aufkommen der Großbetriebe sei dann ein Funk¬
tionswechsel eingetreten, die Familie habe ihre Hauptbedeutung als „Fabrik
bürgerlicher Ideologien“ gewonnen. Das leuchtet besonders dem Psychoana¬
lytiker ein, der weiß, daß das Über-Ich und damit die Ideale aus dem
Ödipuskomplex, d. h. der Verarbeitung der realen im Elternhaus erlebten
Fakten, entstehen, also dank der Familiensituation einen konservativen Charakter
(Identifizierung) annehmen. So verschieden bürgerliche, kleinbürgerliche und
proletarische Familien auch seien, sie gleichen sich in der Atmosphäre der
Sexualmoral, die von der herrschenden Klasse bestimmt sei. Der patriar¬
chalische Vater sei „der Exponent und Vertreter der staatlichen Autorität"
und müsse die dauermonogame Ehe schützen, weil er damit sich selbst schütze.
406
Referate
Das geschehe durch prägenitale Fixierungen (Überbetonung der Eß- und Exkr
tionsfunktionen) und Verdrängung der Genitalität (Onanie). — Gleichzeit*
erhöhe dennoch das Miterleben sexueller Vorgänge der Eltern die sexuell
Erregung. Der Ödipuskomplex ist nach Reich in soziologischer Betrach tun
die Folge des Umstandes, daß die Kinder in der Blütezeit der infantilen
Sexualität gezwungen sind, neben (nur wenigen Geschwistern und) zwd
Erwachsenen verschiedenen Geschlechts zu leben, die miteinander ein Sexual¬
verhältnis haben. Über ev. Konflikte in einer nicht familiengebundenen Gesell¬
schaft können wir nichts vorauswissen; sicher müßten in ihr die uns heute
bekannten Mißstände wegfallen.
Ad 3): So ergibt sich dem Autor, daß sowohl die sexuelle Misere als auch
die Unlösbarkeit des sexuellen Problems zum Bestand dieser Gesellschafts¬
ordnung gehören. Die Sexualreform enthalte künftige Ideen höchstens in dem
gleichen Sinne, wie etwa die bürgerliche Sozialpolitik schon sozialistische
Tendenzen keimhaft in sich trägt: sie können sich nicht entfalten, solange
der Kapitalismus herrscht. Erstaunlich und für die Reichschen Gedanken¬
gänge uberzeugend sind die von ihm mitgeteilten Proben der „bürgerlich¬
ethischen Voreingenommenheit der angeblich objektiven Sexualwissenschaft“.
Am weitesten geht Grub er, der die Atrophie des Sexualapparats im Namen
der Kultur predigt. Aber auch die reformerisch eingestellten Autoren, die
richtig Tatsachen beschreiben und Not und Unmöglichkeit der heutigen Ver¬
hältnisse feststellen, verfallen dann immer wieder, anstatt Konsequenzen zu
ziehen, in Phrasen, die das eben als unmöglich Beschriebene im Namen der
Kultur dennoch verlangen. Die Satzungen des „Bundes für Mutterschutz“
und Zitate aus dem so fortschrittlich gesinnten Forel sind dafür die treffend¬
sten Beispiele. Ein in diesem Zusammenhänge fallender Satz scheint uns
auch für manche Theorien von Psychoanalytikern von Belang, die das Über-
Ich und die zu Neurosen führenden Konflikte zwischen Ich und Es einzig
in der biologischen Unzulänglichkeit des Kleinkindes wurzeln lassen wollen:
„Die vorwiegende oder ausschließliche biologische Auffassung des Geschlechts¬
triebes im Sinne der Arterhaltung ist eine der Verdrängungsmethoden der
bürgerlichen Sexualwissenschaft. “
Das bisher Entwickelte wird dann noch an zwei Problemen im Detail
exemplifiziert: an Pubertät und Ehe.
Die Pubertät ist die Zeit der Sexualreife — und überall ertönt die For¬
derung, man solle in und nach dieser Zeit asketisch leben. Warum eigent¬
lich? Die Primitiven tun es nicht. Auch hier meint Reich: Die Forderung
nach jugendlicher Askese sei eine gesellschaftliche Forderung, einer bestimmten
Gesellschaftsstruktur zugeordnet. Der Kern der Pubertätsschwierigkeiten sei die
einfache Formel Sexualtrieb kein Sexual verkehr, denn die Aufgabe der
„endgültigen Überwindung des Ödipuskomplexes“ würde ja viel leichter zu
lösen sein, zwänge nicht Askese bei erhöhtem Sexualverlangen zur Regression
* n die Infantilität. Die dadurch bedingte Fixierung an die infantile Sexualität
sei auch die Gefahr der heute schon vielfach als Rettung gepriesenen Pubertäts¬
onanie, die zwar etwas entlasten, aber nicht auf die Dauer helfen kann.
Die Behauptung, daß Jugendliche, die früh zum Verkehr kämen, sublimierungs¬
unfähig würden, sei durchaus unbewiesen und unwahrscheinlich. In Wahrheit
leben die Jugendlichen auch gar nicht asketisch. Sie sind auf die eine oder
Referate
407
andere Weise sexuell tätig, nur widersprochen, gehemmt, unbefriedigt. Das
aelte für alle Klassen, wenn auch die Art der Schwierigkeiten beim Proletarier
und beim Bürgerlichen sehr verschieden seien. So werden durch Reichs Schil¬
derungen erst die Komplikationen klar, die Wohnungsnot und Präventivfrage
für den jugendlichen Proletarier bedeuten. Zur Schilderung der großbürger¬
lichen Verhältnisse dienen Reich die Ausführungen Lindseys, der sich
dabei übrigens auch als Beispiel für die Diskrepanz zwischen kühner Tat¬
sachenbeschreibung und moralischer Befangenheit erweist. — Daß die Ideo¬
logie der jugendlichen Askese der Herstellung der Ehefähigkeit der Jugend¬
lichen, also nicht allgemein kulturellen Zwecken dienen soll, belegt Reich
mit einer Statistik von Barash, derzufolge von Menschen, die den Geschlechts¬
verkehr vor dem 17. Lebensjahr aufnahmen, 61‘6% in der Ehe untreu
wurden, von denen, die zwischen dem 17. und dem 21. Lebensjahr geschlecht¬
lich zu verkehren anfingen, 47*6°^ und vom Rest i7*2°/o.
Die Ehe sei nur im Zusammenhang mit dem Kapitalismus verständlich.
Vom Wirtschaftlichen losgetrennt, gäbe es gewiß auch einen sexuellen Dauer¬
willen, aber eine auf freier Vereinigung und Befriedigung (nicht Zwang)
beruhende, jederzeit trennbare Beziehung mit materieller Selbständigkeit der
Frau, bei Versorgung und Aufzucht der Kinder durch die Gesellschaft wäre
eben keine Ehe mehr. Reich nennt sie „sexuelle Dauerbeziehung“ und bespricht,
welche sexualökonomischen Vorteile eine solche Verbindung gegenüber der
Promiskuität hätte, was man zum Teil gerade heute studieren könne, denn
nie sei die reale Promiskuität so groß gewesen wie im Zeitalter der bürger¬
lichen Ehe: der größte Vorteil sei die gegenseitige Anpassung, die höchste
Befriedigung ermögliche. Die Voraussetzungen hierfür, orgastische Potenz,
Zusammenklingen von Sinnlichkeit und Zärtlichkeit, Überwindung der Inzest¬
bindungen usw., gebe es allerdings in der bürgerlichen Gesellschaft nicht.
Aber auch für eine solche Verbindung ergebe sich das Problem der Abstump¬
fung, das bei der Dauermonogamie mit naturgesetzlicher Notwendigkeit endlich
eintrete. Dann sei es möglich, daß der Sexualverkehr mit einem andern die
Bindung an den Partner wieder stärke; es sei auch möglich, daß die Ver¬
bindung damit ihr Ende finde. Beides sei besser als Treue aus Gewissen.
Reich vermutet, daß solche Dauerbeziehungen selten lebenslang sein würden,
am seltensten wenn die Verbindung vor dem dreißigsten Lebensjahr einge¬
gangen wurde. Der Jugendliche wolle wahrscheinlich sein Objekt viel häufiger
wechseln, obwohl auch solche flüchtige Beziehungen der Zärtlichkeit keines¬
wegs entbehren. — Die wirtschaftlichen Komplikationen erschweren den
Sachverhalt bei der Ehe gewaltig. Nicht nur daß die wirtschaftlich determi¬
nierte Eheideologie die lebenslängliche Treue fordern muß; es kann ja auch
keine Erleichterung der Scheidung helfen, solange die wirtschaftliche Unab¬
hängigkeit von Frau und Kindern nicht garantiert ist. Denn wie recht hat
Reich, wenn er von der heutigen Frau sagt, sie sei nicht nur „Gebärmaschine
des Staates“, sondern ihre unbezahlte Arbeit in der Hauswirtschaft erhöht in¬
direkt die Profitrate des Unternehmers. Denn der Mann kann nur unter
der Bedingung zum üblichen niedrigen Stundenlohn Mehrwert erzeugen, daß
ihm zu Hause soundso viel Arbeit unbezahlt abgenommen wird. — Die
reformerische Literatur muß den Standpunkt vertreten: „Die Ehen sind schlecht,
aber die Eheinstitution muß gepflegt und erhalten werden.“ Dafür werden
408
Referate
die absurdesten Argumente ins Treffen geführt — bis zur Verfälschung ethno
logischer Befunde. Die durch den fortschreitenden Kapitalismus bedingte wirt
schaftliche Arbeit der Frau zerstört in dialektischer Weise die Eheinstitution
deren der fortschreitende Kapitalismus bedarf. Reich bespricht dann noch die
psychologische Bedeutung der Eheideologie für das einzelne Individuum und
zeigt, daß Bestrebungen, die Ehe zu „erotisieren“, zwar an sich helfen könnten
aber undurchführbar sind, weil sie der bürgerlichen Eheideologie widersprechen
— Den Beweis für seine Ausführungen sieht Reich in der Sowjetunion
erbracht, wo die Ehe praktisch aufgehoben ist (die Registrierung ist frei¬
gestellt und hat keine rechtlichen Konsequenzen). Man ersehe daraus, wenn
man sich auch nicht überall darüber klar sei, daß die sozialistische Änderung
der Wirtschaftsform die ökonomischen Grundlagen der Ehe aufhebe.
Das sehr lesens- und nachdenkenswerte Buch von Reich scheint für den
Psychoanalytiker bedeutungsvoll, nicht nur, weil es von einem Psychoanaly¬
tiker geschrieben ist und psychoanalytische Einsichten überall heranzieht,
sondern auch, weil es dazu anregt, einen grundlegenden Faktor in der Ätio¬
logie der Neurosen, der den Arzt, der Einzelindividuen behandelt, sonst nur
wenig beschäftigt, in dem Maße zu würdigen, wie er es verdient.
F e n i c h e 1 (Berlin)
R eich, Wilhelm: Die Sexualnot derwerktätigen Massen
und die Schwierigkeiten der sexuellen Beratung.
„Sexualnot und Sexualreform", Verh. d. IV. Kongr. der Weltliga
für Sexualreform, Wien, l6.— 23 . IX. IQ 30 .
Eine knappe, präzise, sehr lesens- und beherzigenswerte Übersicht über die
Zusammenhänge zwischen den Sexualproblemen unserer Zeit und den gesell¬
schaftlichen, besonders wirtschaftlichen Zuständen und Institutionen. Daß
die materielle Daseinsweise der Massen ihr Sexualleben mannigfach ungünstig
beeinflußt, daß und wie Wohnungsnot, Geburtenregelungs- und Prostitutions¬
fragen die gesunde Sexualregelung stören und ihrerseits in der gegenwärtigen
Gesellschaftsordnung verankert sind, ist bekannt. (Die Herausarbeitung dieser
Einflüsse und Verankerungen durch Reich ist aber sehr dankenswert.) Viel
bedeutungsvoller für den Psychoanalytiker erscheint der zweite Teil der
Reichschen Ausführungen, der Analoges für die Neurosen nachweist, deren Zu¬
sammenhang mit der Sexualität erst durch die Psychoanalyse klargestellt
wurde. Was veranlaßt die pathogenen Verdrängungen und was verleiht ihnen
pathogene Kraft? Die jeweilige „Moral“ und die gesellschaftlichen Institutionen,
die die Sexualbefriedigung als gefährlich perzipieren lassen und so Angst und
Schuldgefühle erzeugen, und die im Dienste der herrschenden Klasse stehen.
Sie werden wirksam durch Ehe und Familienerziehung. Die bürgerliche Ge¬
sellschaft braucht Ehe und Familie aus Erbrechtsinteressen, zum Schutz von
Frau und Kindern, die Familie früher als Produktionseinheit, jetzt als „Ideo¬
logiefabrik“. Deshalb ist sie zu sexualverneinenden Ideologien und pädagogi¬
schen Praktiken gezwungen, um die Fähigkeit zur Ehe herzustellen. — Die
Neurosen der Massen können in ausgiebigem Maße nicht durch Einzeltherapie,
Referate
409
sondern nur prophylaktisch bekämpft werden. Die Prophylaxe aber, nach
Reich die vornehmste praktische Aufgabe der psychoanalytischen Wissen¬
schaft, könne nicht aussichtsvoll sein vor einer „radikalen Änderung der Wirt-
schafts- und Gesellschaftsordnung“. F e n i c h e 1 (Berlin)
Baege, Prof. Dr. M. H.: Naturgeschichte des Traumes.
Hesse & Becker Verlag, Leipzig IQ 28 .
Baege wendet sich gegen alle Spekulation, gegen jede psychologische
Hypothese, gegen jede andere als p hys i ol o gis ch e Deutung und Erklärung
des Traumes. Er leitet seine Arbeit mit einem geschichtlichen Abriß der
mehr spekulativen Ansichten früherer Autoritäten über Schlaf und Traum
ein, um zu zeigen, wie verwerflich sie seien.
Die vom Verfasser vorgebrachten physiologischen Ansichten über Schlaf,
Schlafstellung oder Traumentstehung sind gewiß recht interessant, aber
sie sind weit davon entfernt, uns irgendwie einen Aufschluß über das Wesen
des Traumes, über Traumarbeit, Trauminhalt usw. zu bieten.
Wenn der Verfasser die Entstehung des Traumes auf körperliche Reize
(innere und äußere) zurückführt, so basiert er dabei lediglich auf V o 1 d, der
eingehende Experimente gemacht hat.
Bei dem Versuch der Traumanalyse und Traumdeutung, wo es sich darum
handelte, auf den zu erfassenden Sinn des Traumes und auf die eigentliche
Traumarbeit einzugehen, versagt Baege vollständig, obwohl er versichert, die
einzig „wirklich exakte und auf Erfahrung begründete Traumanalyse“ zu bringen.
Denn Körperlage und Körperreiz können in jedem Falle ebensogut irgend¬
einen anderen Trauminhalt erwählen, der entsprechen würde. Es erübrigt
sich, auf Beispiele naivster Art einzugehen. Baege verwirft auch die
Annahme eines Unbewußten und verschließt sich damit das Verständnis des
Traumes. ^ , /r» i- \
Gräber (Berlin)
J e Z o w e r, Ignaz: DasBuchderTräume. Ernst Rowohlt Verlag,
Berlin IQ 28 .
Traumbücher und Bücher über Träume scheinen die große Mode zu werden.
Jezower gibt eine reiche Sammlung von Träumen, deren Auswahl, von
einem kulturhistorischen Gesichtspunkt gesehen, sehr wertvolles Material
zusammenstellt, in psychologischer, vor allem psychoanalytischer Hinsicht sich
aber meist als recht uninteressant erweist.
Daß die geschichtliche Überlieferung natürlich unter dem Gesetze der
Verdrängung nur eine „stubenreine“ Auswahl treffen konnte, ist begreiflich,
weniger begreiflich ist, daß der Herausgeber sie womöglich noch „stuben¬
reiner macht — ich meine für unser Zeitalter weniger begreiflich —, denn
nicht nur „über Träume muß man umlernen“, wie Nietzsche sagte,
sondern auch über unser gesamtes psychisches Erleben, vor allem über seine
Verknotung mit dem Triebleben.
J e 2 o w e r erzählt Träume von den Erzvätern, den alten Ägyptern,
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse XVII/3 27
/
4io
Referate
Assyrern, Babyloniern, Medern, Persern, Griechen, Römern, den ersten Christen
Mohammedanern, Chinesen, aus dem Mittelalter, der Reformationszeit, der
Romantik, erzählt Träume der Dichter, der Gelehrten usw. Von den eigent
liehen Traumproblemen interessieren den Verfasser besonders die intellek
tuellen Leistungen im Traum, die Zeitdauer im Traum, die experimentell
erregten Traumbilder, die Wunscherfüllung und etwa noch die okkulten
Fähigkeiten des Traumes.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Jezower dem Traum als Orakel
Die im zweiten Teil des Buches durchgeführten Analysen von Träumen
stellen einen ernsthaften Versuch dar, Traumelemente auf Wachreminiszenzen
zurückzuführen, eine Arbeit, die, wohl von der Psychoanalyse beeinflußt, von
großem Fleiß zeugt und auch wertvolle Zusammenhänge aufzeigt — mit
einer eigentlichen Traumdeutung im psychoanalytischen Sinne jedoch wenig
zu tun hat. „ _ _
Gräber (Berlin)
Schneider, Ernst, Prof. Dr.: Die Bedeutung des Ror-
schach sehen Formdeutversuches zur Ermittlung
intellektuell gehemmter Schüler. Sonderdruck aus
„Zeitschrift für angewandte Psychologie“, herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann, Bd. 32 , Heft I bis 3-
Man hört gelegentlich von seiten amtlicher Prüfstellen, bei denen neben
anderen Prüfungsverfahren auch die R o r s c h a c h sehe Psychodiagnostik bei¬
gezogen wird, gerade sie eigne sich zur Ermittlung des Intelligenzbefundes
weniger als andere Verfahren. Ich denke dabei besonders an Schulen und
Erziehungs- und Berufsberatungsstellen.
Daß Rorschach nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder
verwendbar ist, darüber besteht kein Zweifel mehr, seitdem Behn-
Eschenburg, der den Versuch an 209 Kindern zur Anwendung brachte,
seine Resultate in der Schrift: „Psychische Schüleruntersuchungen mit
dem Formdeutversuch“ (Bircher, Bern 1921) veröffentlichte. (Eine weitere
diesbezügliche Arbeit: Adolf Loepfe: Über Rorschachsche Formdeut¬
versuche mit zehn- bis dreizehnjährigen Knaben. Diss., Zürich 1925).
Mit seiner wertvollen Arbeit hat nun Schneider das Problem der
Verwendbarkeit des R o r s c h a c h sehen Form deutversuch es zur Ermittlung
der Intelligenz der Schüler um ein wesentliches Stück der Lösung entgegen¬
geführt. Schneider wandte verschiedene Verfahren zur Bestimmung der
Intelligenz seiner Prüflinge an: Bobertag-Hylla, Doering, Binet-Simon und
Rorschach. Dazu zog er auch das Schätzungsverfahren der Schule (und teil¬
weise auch dasjenige des Elternhauses) bei.
Der Vergleich der Resultate ergab die höchsten Korrelationskoeffizienten
beim Schätzungsverfahren durch die Schule und bei Rorschach. Das ruft
Überlegungen wach: Oft hört man gerade in Lehrerkreisen noch schimpfen
über die Testverfahren bei Schülerauslesen, da oft differierende, ja, sogar
gegenteilige Resultate gegenüber den Befunden manchmal langjähriger Be-
Referate
411
obachtung und Zusammenarbeit sich ergaben. Aber nicht nur diese Tatsache
sollte Prüfstellen bewegen, Rorschach vermehrt beizuziehen, sondern vor
allem auch jene andere, daß der Rorschach sehe Formdeutversuch sich
bei den Experimenten Schneiders als brauchbar zur Feststellung
intellektuell gehemmter Schüler erwies.
Die bei Prüfstellen im allgemeinen gebräuchlichen Verfahren zur Intelligenz¬
ermittlung vermögen Intelligenzhemmungen (Affektverklemmung, Introversion,
Depression, Neurose, Psychose) nicht oder kaum zu ermitteln und geben
jedenfalls keinen Aufschluß über deren Art und ßildung. Bei Rorschach
wird aber die Intelligenz nicht isoliert, sondern ihre Anzeichen „sind eine
Abstraktion aus einem allgemeinen Befund“ (Schneider), der auch über
Begabungsart und Begabungsrichtung Aufschluß geben kann.
Die Versuche, die Schneider durchführte, sind nicht nur deshalb
besonders zu schätzen, weil sie uns über die Verwendbarkeit des Ror-
sch ach sehen Formdeutversuches belehren, sondern auch, weil die damit
verbundenen Vergleiche und Gegenüberstellungen ein Urteil optimaler Richtig¬
keit erlauben.
Gräber (Berlin)
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Steyerthal, A., Dr.: Pathologie des Unbewußten.
Ferd. Enke, Stuttgart IQ2Q.
Stolze Gebäude müssen es sich gefallen lassen, daß an ihrer Ecke Notdurft
verrichtet wird. Auch das stolze Gebäude der Psychoanalyse ist nicht dagegen
geschützt. So lesen wir hier: „Das ganze Lehrgebäude in seinem innersten
Kerne einschließlich des Baumeisters erscheint durchaus pathologisch ... Es
ist ein Wahnsystem, das aus lauter Fehlschlüssen aufgebaut ist ... Das
Erstaunlichste bei all den psychoanalytischen Wahngebilden ist die Kritik¬
losigkeit, mit der sie in ärztlichen Kreisen aufgenommen und verwertet
worden sind ... Freud suchte nach einem sexuellen Trauma, und wenn es
in der Psyche nicht zu finden war, so mußte es hineingeblasen werden ..."
Außer der Polemik gegen die Psychoanalyse finden wir faule Lesefrüchte aus
der Schulpsychologie und Philosophie sowie Banales aus der Nervenpraxis.
Hitschmann (Wien)
\
Moll, Albert: Psychologie und Charakterologie der
Okkultisten. Ferd. Enke, Stuttgart IQ2Q.
Moll setzt hier seinen energischen Kampf gegen die erschreckende Ober
flächlichkeit und den Mangel an wissenschaftlichem Geist der Okkultisten
fort. Niemals ist nach Moll bis heute auch nur ein einziges okkultes
Phänomen zwingend bewiesen worden. Insbesondere Schrenck-Notzing
sei ein unverläßlicher, eitler, leicht zu täuschender Mann gewesen, der die
412
Referate
Faschingsvermummungen hysterischer Weiber und anderer Medien als Trans¬
figuration oder als Teleplasma und als Produkt des Unbewußten der Welt
aufoktroyieren wollte.
Ehrgeiz, Sensationslust, Suggestibilität, Opposition gegen „Schulwissenschaft“
genügen doch wohl nicht als Ergebnis der Psychopathologie der Okkultisten-
der „okkultistische Komplex“ mit seiner Ähnlichkeit mit paranoischen Wahn¬
gebilden bleibt hier dunkel. Erst systematische Psychoanalyse von Medien und
Okkultisten könnte Aufklärung bringen. tt . x , , T1Ti v
& & Hitschmann (Wien)
Morgenthaler, Dr. W.: Die Pflege der Gemüts- und
Geisteskrankheiten. Hans Huber Verlag. Bern-Berlin 1930.
Dieses Buch wurde im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für
Psychiatrie geschrieben. Es interessiert uns aus zwei Gründen, die letzten
Endes einer sind: es stützt sich beinahe eindeutig auf die von der Psycho¬
analyse vertretene Psychologie und es ist von Anfang bis Ende klar durch¬
geführt. Ein Minimum von Theorie verbindet sich mit einem Maximum an
gesundem Menschenverstand. Eine gründliche praktisch-ärztliche Kenntnis der
Anstaltsatmosphäre und eine Sachlichkeit, die ihm wohl so schnell niemand
nachmacht, ermöglichen es dem Verfasser, ein Idealbild des unverbildeten
Pflegers zu entwerfen, und machen die Schrift wohl zum bisher besten Lehr¬
buch dieser Art. r» n sn N
Bai ly (Berlm)
Aus der psychoanalytischen Literatur
Medical Review of Reviews, 4 U, März 1930» „Psycho-
pathology Number“, herausgegeben von D. Feigenbaum.
In der in Heft 1 dieses Jahrgangs dieser Zeitschrift auf Seite 150 ff.
erfolgten Besprechung der „Psychopathology Number“ von D. Feigenbaum
hieß es als Zitat aus der darin enthaltenen Arbeit von Wittels:
„Meine Beobachtungen . . . haben mich zu dem Schluß geführt, daß die
Entwicklungslinie vom Kind über das Weib zum Manne geht und über ihn
zum desexualisierten intelligenten Schöpfer . . .“ Dieser letzte Ausdruck ist
falsch wiedergegeben. Es heißt im englischen Text „intellectual creator“, was
mit „geistiger Schöpfer“ zu übersetzen wäre. Es heißt dort weiter, daß nach
Wittels der Hysterie das „männliche schöpferische“ Prinzip fehle. In
Wahrheit sagt Wittels direkt nur, daß ihr das „männliche zwanghafte“
(coercive) Prinzip fehle; da aber nach Wittels der Weg vom Weibe über
den Mann zum Schöpfer geht, muß logischerweise dem weiblichen mit dem
männlichen auch das schöpferische Prinzip abgehen.
Die Arbeit von Wittels ist inzwischen in erweiterter Form in der
„Psychoanalytischen Bewegung“ erschienen, so daß der deutsche Leser
Gelegenheit hat, dort selbst nachzuprüfen, ob mein Urteil über diese Arbeit
gerechtfertigt ist oder nicht. Fenichel (Berlin)
Referate
413
Berkeley-Hill, Owen: Flatus and Aggression. Internat.
Journal of PsA., XI, 3 *
Eine Patientin verband mit ihrem Flatus bewußte feindselig-zerstörerische
Tagträume. F e n i c h e 1 (Berlin)
Roellenbleck, Ewald: Psychoanalytische Literatur. Das
deutsche Buch, XI, 5 —6, Juni IQ 3 I-
„Zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag“ hat Roellenbleck „eine Auswahl“ \
der psychoanalytischen Literatur „bibliographisch zusammengestellt“ und den
Inhalt der wichtigeren Werke in kurzen und prägnanten Erläuterungs-
bemerkungen angedeutet. Bei dem bekannten psychoanalytischen Verständnis und
der ausgezeichneten Literaturkenntnis des Verfassers braucht kaum hinzuge¬
fügt zu werden, daß ihm seine Absicht sehr gut gelungen ist. Die Arbeit ist
auch als Sonderdruck erschienen. Fenichel (Berlin)
Kunz, H.: D ie existentie Ile Bedeutung der Psycho¬
analyse in ihrer Konsequenz für deren Kritik. Der
Nervenarzt, 3- Jg-, H. 11.
Seit Freud seine ersten epochalen Entdeckungen publiziert hat, seitdem
die Psychoanalyse der Öffentlichkeit zugänglich ist, war die neue Wissenschaft
unaufhörlich Kritik und Angriffen ausgesetzt. In der Polemik gegen die
Psychoanalyse sind alle Tonarten vertreten, von der wissenschaftlichen Sach¬
lichkeit bis zum weltanschaulichen „Ärgernis“ und affektiver Ablehnung.
Allmählich wurden die Einwände in der Diskussion erschöpft, neue Gesichts¬
punkte traf man immer seltener. Kunz gebührt das unzweifelhafte Verdienst,
in die verödende Diskussion neue Aspekte hineingebracht zu haben.
Er betrachtet und kritisiert die Psychoanalyse aus der Perspektive eines
philosophischen Lebensgefühls. Seine Terminologie, seine Begriffe sind stark
beeinflußt von einer philosophischen Richtung, die durch die Namen
Heidegger und Jaspers repräsentiert ist. Um es gleich vorwegzunehmen :
nach der Überzeugung des Referenten mißversteht Kunz die Existential¬
philosophie, wenigstens jene Form, die im Werk Heideggers niedergelegt
ist. Kunz fühlt sich selber offenbar nicht ganz sicher in der Rolle des
berufenen Interpreten der Existentialphilosophie,
Kunz stellt fest, daß in der Psychoanalyse „. . . die „Menschlichkeit“ des
Menschen methodisch in einer Weise in Frage gestellt (wird), wie es bislang
nur indirekt und unsystematisch in den Schriften eines Kierkegaard und
Nietzsche geschah“. An der Wahrheit und Evidenz der Selbstbesinnung
wird grundsätzlich gezweifelt und an ihre Stelle das gerückt, was man die
„existentielle Bewährung“ nennen könnte: „Es geht nicht um das, was einer
von sich weiß und aussagt und wie er sich selbst ,deutet 4 , — ... sondern
um das, was er ,ist‘.“ Kunz fragt sich, ob er mit diesen Andeutungen nicht
der Psychoanalyse Intentionen unterschiebt, die ihr selbst fremd sind. Und er
glaubt, diese Frage bejahen zu müssen, denn „. . . von v. Hattingberg
414
Referate
abgesehen..., haben weder Freud noch seine Schüler das in der analytischen
Situation sich faktisch vollziehende Geschehen explizit und zureichend ver
standen...“. Eine einigermaßen erstaunliche Feststellung! Die Gründe fü r
dieses „Unverständnis“ sind nach Kunz die folgenden: „Zunächst ist es die
verborgene Befangenheit in der Tradition, insonderheit im traditionellen
Denk- und Wissenschaftsstil, ... die ein adäquates Verstehen der Psycho¬
analyse durch ihre Anhänger ... bis heute verhindert." Aber das sei nicht
einmal das Wesentliche. Der tiefste Grund, warum Freud und seine Schüler
„das in der analytischen Situation sich faktisch vollziehende Geschehen“ nicht
verstehen, ist: „Sie vermögen nicht ausdrücklich und im bewußten Zugriff
das Faktum zu ertragen, das sich in jeder Analyse vollzieht: die Auflockerung
der ganzen menschlichen Existenz." Und weil sie diese existentielle Erschütterung
scheuen, flüchten sie sich in die falsche Sicherheit der Theorie.
Die Begrenztheit der Lehre besteht nach Kunz in der alleinigen Betonung
der sexuellen Triebhaftigkeit als ausschließlichen Horizonts der psychoanalyti¬
schen Interpretation des menschlichen Seins. Die Triebhaftigkeit allein macht
aber das Menschsein nicht fragwürdig. Sondern erst das konkrete Zusammen
von Trieb und Geist . begründet die menschliche Existenz in ihrer
ständigen Bedrohtheit und Gebrochenheit". „Geist“ bedeutet für Kunz aller¬
dings etwas anderes als sonst in der modernen Philosophie, er meint nicht
den objektiven Geist, der sich in Kulturschöpfungen objektiviert, nicht den
Geist als eine spezifisch menschliche Verhaltungsweise (Sehe ler), sondern
Geist ist „... der Durchbruch des Nichts, des vorlaufenden Todes (Heidegger)
innerhalb des menschlichen Daseins".
Wenn die Analyse sich selbst richtig verstünde, dann müßte sie „...ihre
angemaßte, nur scheinbare Sicherheit fallen lassen und jene Bewegung des
Sich-selbst-in-Frage-Stellens . . . erneut und mit radikalerem Impetus wieder¬
holen . „Erst dann wird der analytische Prozeß zum würdigen Kampf um die
Existenz des Menschen, zum restlosen Sich-aufschließen und Ver-halten, zu
einem ungewissen Schweben über dem Nichts, — d. h. zu einer Art,
menschliches Schicksal zu erfüllen und sich der Erfüllung zugleich bewußt
zu versichern.“
Freilich meint Kunz skeptisch, eine solche „Reform“ ist von den in ihren
Dogmen befangenen, unfreien Schulanalytikern nicht zu erwarten. Wir teilen
seine Skepsis.
Mir will es scheinen : was in der Kunzschen Kritik nicht auf sachlichen
Irrtümern und Mißverständnissen beruht, ist der Ausdruck eines Lebens¬
gefühls. Mit einem Lebensgefühl kann man aber nicht polemisieren, man kann
ihm höchstens ein anderes entgegensetzen. Nur das eine läßt sich sagen, daß
es nicht einzusehen ist, wie es in das Bereich der Analyse gehören könnte,
die Fragwürdigkeit, Bodenlosigkeit der menschlichen Existenz zu vermitteln.
Die Analyse ist zweifellos eine „existentielle Erschütterung“. Aber eine meta¬
physische Haltung dem Kranken, der bei uns Heilung sucht und nicht
Philosophie, aufzuzwingen, ist nicht ihre Aufgabe. Sollte aber trotzdem, vielleicht
ungewollt, die menschliche Existenz durch den analytischen Prozeß eine
Erhellung erfahren, so würde diese sicher nicht als ein — „ungewisses
Schweben über dem Nichts“ — erscheinen, sondern als Zuwendung zu
der Welt. Gero (Berlin)
1
Referate
415
Bernfeld, Siegfried: Das „Widerstandsargument“ der
Psychoanalyse. Der Nervenarzt, IV, 5 .
Die Arbeit stellt eine klare Erwiderung auf die von Kunz in der gleichen
Zeitschrift veröffentlichte existentialphilosophische Kritik der Psychoanalyse
dar. Kunz meinte u. a. wieder einmal, der Analytiker begegne allen Ein¬
wänden mit dem Argument, es handle sich um „Widerstände“, und meine,
dadurch der Aufgabe der sachlichen Prüfung der Einwände enthoben zu sein.
(„Widerstandsargument“.) Bernfeld zeigt nun, wie ungerechtfertigt ein solcher
Vorwurf ist. Die Psychoanalyse habe Einwände immer geprüft und oft aner¬
kannt. Andere Male mußte Nachprüfung manche Einwände auch ablehnen,
ja, sie als besonders dumm, widerspruchsvoll oder dgl. erkennen. „Wenn wir
angesichts der unbegreiflichen Unbelehrbark eit eines gelehrten Mannes, ange¬
sichts der krassesten Widersprüche, in die wir manchen klugen und geschätzten
Forscher verfangen sehen, angesichts häßlichsten Hasses, dem sich mancher
sonst ruhige und freundliche Arzt hingibt, von Widerstand reden, so ist dies
nicht zuletzt ein Versuch, Intellekt und Charakter des Gegners zu ent¬
schuldigen.“ — Außerdem verwechselt Kunz den Widerstand der Gesell¬
schaft gegen die psychoanalytische Wissenschaft mit dem Widerstand des
Patienten in der psychoanalytischen Kur. Demgegenüber belehrt ihn Bernfeld,
daß es in der Kur nicht darum geht, den Patienten intellektuell von der
Richtigkeit unserer Theorien zu überzeugen, sondern darum, ihm Erlebnisse
seiner eigenen Seele zugänglich zu machen, gegen die er sich sträubt. Begei¬
sterung für die psychoanalytische Lehre trete in der Kur als zu überwinden¬
der Widerstand mindestens ebenso oft auf wie Argumente gegen sie. Das
gelte auch für die Lehranalyse, die ebenfalls nichts „einhämmern“, sondern
die Fähigkeit des Schülers zum selbständigen Denken erhöhen will. Die ana¬
lytische Deutung sei nicht eine Diagnose, von deren Richtigkeit der Patient
überzeugt werden müßte, sondern ein Mittel, gerade in diesem Moment sich
meldende Erlebnisse völlig bzw. in ihrer „Bedeutung“ bewußt werden zu
lassen. Dafür, ob man die Verneinung einer solchen Deutung durch den
Patienten als Bestätigung ansehen dürfe oder nicht, gebe es bestimmte
Kriterien. „ . „
F e n 1 c h e 1 (Berlin)
Kaplan Leo: Grundzüge der Psychoanalyse, Merlin-
Verlag, Baden-Baden, IQ2Q.
Diese zweite Auflage des vor sechzehn Jahren erschienenen Buches hat
bedeutend an Umfang gewonnen und enthält reichlich neues Material an
Kasuistik und Beispielen aus der Mythologie, Ethnologie usw. Für den Psycho¬
analytiker ist es eine interessante Lektüre trotz mancher tieferer Differenz
gegenüber der Lehre Freuds. Manches Eigenartige muß wohl dem Wesen
des Autors zugeschrieben werden; so heißt es in der Einleitung: „Meine
eigenen Überlegungen führten mich zur Einsicht, daß die Verdrängung nur
auf der Grundlage einer dynamischen Auffassung der Seelentätigkeit begriffen
werden kann. Außerdem zeigte mir meine Beschäftigung mit dem Problem
der Magie, daß viele Momente in der Verdrängung durch die magische
416
Referate
Denkweise (die ihrerseits vom „Narzißmus“ abzuleiten ist) bedingt sind K
Der Autor ist immerhin an anderen Stellen als selbständiger Denker zu
kennen; der Satz scheint wichtig: „In der infantilen, inzestuösen Erotik li e£ t
die Quelle verborgen, aus der eine kulturelle Forderung, nämlich die mono¬
gamische Tendenz, die zu ihrer Verwirklichung nötige Energie schöpft.“ Aus
der Tradition der Familie ergebe sich also die Einehe als natürliche Folge, das
Ledigbleiben aber als neurotische Einstellung. — Referent muß als Autor der ersten
zusammen fassenden Darstellung von „Freud’s Neurosenlehre“ (1911), Kaplan
berichtigen, der angibt, daß es zur Zeit, als er das Manuskript zu seiner
ersten Auflage schrieb (erschienen 1914), „noch keine systematische Dar¬
stellung der Psychoanalyse gegeben habe“. TT . .
J J 8 6 Hitschmann (Wien)
Binswanger, L.: Traum und Existenz. Neue Schweizer
Rundschau IQ 30 .
Diese subtile Studie von Binswanger versucht den Ort des Traumes
innerhalb der Existenz aufzuzeigen. Traum ist nach ihm eine bestimmte Art
des Menschseins. Der träumende Mensch „. . . lebt ganz und gar in seiner
eigenen Welt, und das ganz allein heißt, psychologisch gesprochen, träumen,
ob wir dabei physiologisch schlafen oder wachen.“ Träumen ist ein Verhalten,
das keineswegs nur im Schlafzustand realisiert werden kann. Den Träumen
ist das Eingesponnensein in nur dem Ich zugängliche Gefühle, das Aufgehen
in Bilder, mit einem Wort das Überwiegen der psychischen Realität auf
Kosten der objektiven, also gemeinsamen, einer Gemeinschaft erfahrbaren
Welt. Ein solches Verhalten aber kommt nicht nur im Traum vor, sondern
ist auch in der Neurose, erst recht in der Psychose zu finden. Deshalb sagt
Binswanger: „...in jeder ernsten seelischen Behandlung, z. B. und zumeist
gerade in der Psychoanalyse, kommen Augenblicke, wo der Mensch sich
entscheiden muß, ob er seine Privatmeinung, seine ,Privattheater, wie eine
Kranke sagte, seinen Übermut, Stolz und Trotz behalten will, oder ob er an
der Hand des Arztes als des wissenden Mittlers zwischen Eigenwelt und
gemeinsamer Welt, zwischen Täuschung und Wahrheit, aus seinem Traum
erwachen und teilnehmen will an dem Leben der Allgemeinheit . . .“
Eine weitere existentielle Eigenart des Traumes zeigt sich, wenn die
Ichgegebenheit, die Weise, wie das Ich im Traum lebt, in den Blick gefaßt
wird. Im Traum geschieht etwas mit dem Ich, und es weiß nicht, wie und
was ihm geschieht. Träumen heißt auch: ich weiß nicht, wie mir geschieht.
In dem „Ich und „Mir“ kommt zwar der einzelne zum Vorschein, aber
keineswegs als derjenige, der den Traum macht, sondern als der, dem er
„er weiß nicht wie geschieht. „. . . aus dem Träumer (wird) ein Wacher
in dem unergründlichen Augenblick, wo er sich entscheidet, nicht nur wissen
zu wollen, wie ihm geschieht, sondern auch ,selber* einzugreifen in die
Bewegung des Geschehens, wo er sich entschließt, in das bald steigende, bald
fallende Leben Kontinuierlichkeit hineinzubringen oder Konsequenz.“ Auch
diese Eigenart des Traumes, können wir hinzufügen, finden wir in der
Neurose, denn jenes Moment der Passivität, des Ausgeliefertseins, ist ja gerade
der Ausdruck für die Überwältigung des Ichs durch das Es.
Referate
417
Das ist der Grundgedanke der Binswangerschen Arbeit. Was an ihr
fasziniert, ist der künstlerische Blick für die Welt des Traumes und das
tiefe Wissen um die Geheimnisse der Sprache. ^ .. /ri N
r Gero (Berlin)
Tagungen wissenschaftlicher Gesellschaften
Bericht über den VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psycho¬
therapie in Dresden
(Vom 14. bis 17. Mai 1931)
Der diesjährige Psychotherapeutenkongreß in Dresden hatte zwei Haupt¬
themen gestellt: 1) die Beziehungen zwischen Somato- und Psychotherapie
und 2) die Psychologie des Traumes.
Die modernen Bestrebungen, Soma und Psyche als Ganzheit zu sehen, die
der Einführungsvortrag von H e y e r (München) unterstrich, veranlassen offenbar
viele Psychotherapeuten, sich wieder stärker den vom Soma her angreifenden
Behandlungsmethoden anzuvertrauen und Gymnastik, Massage, Bäder, Er¬
nährung zur Unterstützung der Psychotherapie heranzuziehen. Aus einzelnen
Referaten glaubte man die Losung herauszuhören: Zurück zur Somatotherapie,
als wenn man sich schon allzu lange und allzu einseitig mit der Psycho¬
therapie befaßt hätte. Diese Sorge vor einer nicht mehr überparteilichen
Einseitigkeit, die alle Vorschläge aus den differentesten Schulen zum Worte
kommen läßt, drohte gelegentlich den Kongreß in das Fahrwasser flacher
Banalitäten zu lenken. Auf der anderen Seite erscheinen Grundtatsachen der
psychoanalytischen Forschung wie das Phänomen der Übertragung noch nicht
in ihrer Bedeutung für die Therapie voll erfaßt zu sein, wenigstens schien
es, als ob Hey er (München) die Tragweite des differenten Effektes der
Massage im Rahmen der Psychotherapie nicht ganz abzuschätzen wisse.
Cimbal (Altona) machte die körperliche Schwächung, „die Ausmergelung“,
weitgehend verantwortlich für die Entstehung der Neurosen. Römer
(Stuttgart) wies an der Hand von pneumographischen Demonstrationen auf
den Parallelismus zwischen krankhaftem Atemtypus und psychopathologischer
Verfassung hin. H a 11 i n g b e r g (München) beschrieb als „Atemkorsett“ eine
Zwerchfellneurose, in der psychische Widerstände durch verkrampfte Atem¬
technik zum Ausdruck kommen. Mehr allgemein gehaltene Vorträge, wie der
von Weinberg (Groningen) über „den Einfluß des vegetativen Systems
auf das psychische Geschehen“ und das Referat von Meng (Frankfurt a.
Main) über „Konstitutionsumstellung durch Arznei, Hormon, Psyche“, zeigten
in großen Zügen, was die Forschung auf diesen Gebieten bisher erreicht hat,
und wie weit wir noch von einer Beherrschung der psychosomatischen Zu¬
sammenhänge entfernt sind. Die Beeinflußbarkeit des Soma durch die Psyche
wurde von Simmel (Berlin) behandelt, der die kathartisch heilende Konflikt¬
lösung eines Schwer-Kreislauf-Erkrankten in eindrucksvoller Gedrängtheit dar¬
stellte. Das Bild, das I. H. Schultz (Berlin) von seinem „Organtraining“
gab, zeigte eine Möglichkeit psychischer Beeinflussung des Körpers auf auto-
418
Referate
suggestivem Weg durch Konzentrationsübungen, die nach Ansicht des Referenten
weitgehend geeignet seien, die Grenzen zwischen willkürlicher und unwill-
kürlicher Innervation aufzuheben.
Im Mittelpunkt des zweiten Hauptthemas, der Traumpsychologie, stand
das Referat von Jung (Küßnacht): „Die praktische Verwertbarkeit der
Traumanalysen in der Psychotherapie.“ Jung polemisierte gegen eine seiner
Ansicht nach zu rationale Auffassung der Traumsymbolik in der Freud sehen
Schule und gegen eine Vertiefung in die kausalistischen Zusammenhänge des
Traums. Er bevorzugt eine prospektive Deutung, „die ethische Persönlich-
keit zu neuen Entscheidungen zu provozieren“. Er schreibt speziell den
Initialträumen eine weitgehend prognostische Bedeutung zu und vertraut sich
dabei offenbar einer manchmal überraschenden Intuition an. Jung behauptete
daß der F r e u d-Schüler dem Patienten das Unbewußte als ein „Monstrum“
darstelle, vor dem das Gewissen des Kranken erschrecken müsse, während
die konstruktiven Spekulationen der Jung sehen Symbollehre, die sublimen
und allgemeingültigen Abstraktionen seiner „Archetypen“, alle Schrecken ver¬
loren haben, die der Freud sehen Lehre vom Unbewußten anhaften sollen.
Dabei hat Jung wohl vergessen, daß Freud darauf hingewiesen hat, wie
nicht nur der normale Mensch viel unmoralischer ist, als er glaubt, sondern
auch viel moralischer, als er weiß. Zweifellos hatte das Jung sehe Referat
ein großes Format, aber das karikierte Bild des einseitig intellektualistisch
und doktrinär gebundenen Freud-Schülers, das man aus seinem Vortrag
gewinnen mußte, entspricht wohl mehr einem affektiv bedingten Widerspruch
gegen die „orthodoxen Freudianer“, als einer sachlichen Verarbeitung wissen¬
schaftlicher Differenzen.
Kretschmer (Marburg) schlug vor, Träume statistisch auszuwerten. Er
stellt das Selbstwertproblem des Träumers stärker in den Vordergrund als
das Sexualproblem; so sieht er in allen typischen Hemmungsträumen, die er
schilderte, das Ressentiment als treibende Kraft. Jolo wicz (Leipzig) schilderte
den Traum im Traume als Symptom der Distanzierung des Träumers gegen¬
über dem Trauminhalt. Kirsch (Berlin) sprach über Körperreizträume. Diese
und weitere Referate brachten nicht viel Neues, wenn man absieht von dem
zweifelnden Erstaunen, das Tremmel (Heidelberg) auslöste, als er aus
Phantasiebildern das Geburtsdatum des Zeichners erriet.
In den Abendstunden wurden dem Kongreß öffentliche Vorträge über
Seelsorge und Psychotherapie angegliedert, in denen protestantische Theologen,
Vetter (St, Georgen) und T i 11 i c h (Frankfurt a. Main), ein katholischer
Theologe, Przywara (München), und Hattingberg (München) als Arzt
zu Worte kamen. Aus der größeren Distanz, die diese Theologen gegenüber
den Problemen der Psychotherapie haben, würdigen sie in mancher Hinsicht
die Bedeutung der Psychoanalyse in ihrer Wirkung auf die weltanschauliche
Situation des modernen Menschen stärker, als es von seiten mancher Ärzte
und Psychotherapeuten geschieht, die geneigt sind, die umwälzende Bedeutung
der Psychoanalyse einzuschränken, indem sie sie als eine therapeutische Ma߬
nahme neben anderen darstellen.
Vowinckel (Berlin)
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
I) Mitteilungen des Zentralvorstandes
Kongreß
In Berücksichtigung der schweren wirtschaftlichen Situation Deutschlands,
deren Dauer und Auswirkung nicht zu ermessen sind, hat der Zentralvorstand
beschlossen, den für den 7. bis 11. September d. J. nach Interlaken (Schweiz)
einberufenen XII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß auf nächstes Jahr
zu verschieben.
Das genauere Datum desselben wird nach Beratung mit den Zweigvereini¬
gungen seinerzeit bekanntgegeben werden.
Berlin, den 24. Juli 1931.
M. Eitingon Anna Freud
Zentralpräsident Zentralsekretärin
Josef K. Friedjung zum ÖO. Geburtstag
6. Mai 1931
Der Dozent für Kinderheilkunde an der Wiener Universität, der Psycho¬
analytiker Fried jung, der eben die Feier seines sechzigsten Geburtstages
hinter sich hat, verdient eine besondere Würdigung seiner wissenschaftlichen
Tätigkeit auch in unserem Blatte. War er doch der erste Kinderarzt, der
durch zahlreiche Publikationen jene Feststellungen über ein frühkindliches
Sexualleben bestätigte, welche die Psychoanalyse zum Teil nur aus den Ana¬
lysen Erwachsener erschloß. Seine scharfe Beobachtungsgabe, die vertrauen-
420
Korrespondenzblatt
erweckende, humorvolle und gütig-väterliche Art des Umganges mit groß und
klein unterstützten ihn darin besonders, und die Treue, die ihm bewahrt
wird, gestatteten ihm, seine Beobachtungen bis zum Heranwachsen der ihm
Anbefohlenen und oft darüber hinaus fortzusetzen. Konnte er so die Ubiquität
der Erscheinungen kindlicher Sexualität und zugleich vielfach deren Harm¬
losigkeit nachweisen, so wurde ihm andrerseits der Zusammenhang mit der
Pathologie und dem Verhalten der Erwachsenen so klar, daß er auch uner¬
müdlich in Vorträgen vor allen Klassen der Bevölkerung für sexuelle Erziehung
und Aufklärung eintrat.
Den angesehenen Praktiker drängt sein soziales Fühlen nicht nur dazu, in
seinem Ambulatorium und in Versammlungen in der genannten Richtung auf¬
klärend zu wirken, sondern er tritt auch mit Wort und Tat für Alkohol¬
abstinenz usw. ein. Seine Humanität drängte ihn auch in die Politik, wo er
als sozialdemokratischer Gemeinderat und in städtischen Funktionen manch
segensreiche Wirkung, auch für unsere psychoanalytischen Interessen, entfaltet.
Der aufrechte und üb er zeugungstreue Mann, der so viel Liebe ausstrahlt
und erntet, ist unter den Vorkämpfern für die Psychoanalyse in der ersten
Reihe zu nennen, und unsere herzlichen Wünsche für eine weitere Reihe von
Jahren unermüdlicher Tätigkeit Friedjungs — sind nicht eben unegoistische!
Von seinen Publikationen sei speziell erwähnt das ausgezeichnete Buch
„Erlebte Kinderheilkunde“, das neben vielem Wichtigen über seine originelle
Diplomatie berichtet, mit der es ihm so leicht gelingt, auch ungebärdige
Kinder untersuchungsfähig zu machen; ferner seine Arbeit über die „Pathologie
des einzigen Kindes“ (Ergehn, inn. Med. 1917), über „Milieuerkrankungen
des Kindes“ und „Kindliche Milieutypen“ (Z. f. Kinderh., Bd. 57) und die
Broschüre „Sexuelle Erziehung“ (Springer 1927). Friedjung behandelte
ferner die „Akuten Psychoneurosen des Kindes“ in der Z. f. Kinderh. (Bd. 40),
die „Psychoanalyse im Kindesalter“ (W. kl. Wochenschr. 1929); ebendort das
„Normale und krankhafte Triebleben des Kindes“ (1951). „Zur Frage des
Kinderselbstmordes“ berichtet der Autor in der Z. f. Kinderforschung (1950),
über „Krankhafte Triebabweichungen im Kindesalter“ in der Z. f. Kinderh.
1931. „Das Recht des Kindes“ hat Friedjung auf dem 4. Kongreß der Welt¬
liga für Sexualreform (1931) erörtert. Endlich sei der zusammenfassenden
Arbeit gedacht: „Was hat Sigm. Freud der Kinderheilkunde gebracht?“
(„Kinderärztl. Praxis“, 1931).
Alle diese Arbeiten und andere hier nicht besonders angeführte beweisen,
daß ein Arzt mit vorurteilsloser Beobachtung, auch wenn er selbst die Zeit für
länger dauernde Psychoanalysen nicht erübrigen kann, die Ergebnisse der
Psychoanalyse über das Seelenleben der Kinder voll bestätigen muß.
E. Hitschmann
Eduard Hitschmann zum ÖO. Geburtstag
(28. Juli i 31
In diesem Jahre haben drei ärztliche Mitglieder der Wiener Gruppe der
I. P. V. das siebente Jahrzehnt ihres Lebens erreicht. Alle drei, Friedjung,
Hitschmann und Federn, waren seit der Mittelschule Jahrgangskollegen
Korrespondenzblatt
421
und Freunde, so daß Interesse und Begeisterung des einen auch die beiden
andern beeinflußte. Dieser Anhängerschaft ist eine gewisse lokale Bedeutung
zugekommen, weil die drei als gut ausgebildet und in der Praxis bereits
erfolgreich bei den Ärzten einen guten Ruf genossen. Der wissenschaftliche
Kreis von Dozenten und Kandidaten für die Dozentur, in dem sie verkehrten,
konnte wohl spötteln. Es gab ihm doch zu denken, daß drei so brav-natur¬
wissenschaftlich geschulte Männer sich einer angeblich so unexakten, ja
phantastischen Methode wie der Psychoanalyse zuwendeten.
Vor allem wunderten sie sich über Hitschmann, diesem Muster an
Ordnung und Exaktheit, in all seinem Tun und Können; denn während seiner
Dienstzeit im Allgemeinen Krankenhause, diesem großen, klinisch-religiösen
Ärztedorfe inmitten Wiens, hatte er sich einen Ruf als Diagnostiker erworben,
dem das Alltägliche wie selbstverständlich gelang und die Ausnahmsfälle nie
entgingen. Dies und sein Witz, von dem manche Schöpfungen anonymes
Allgemeingut wurden, haben ihn mit Recht populär gemacht. Nur die ihm
Nahestehenden kannten auch seine künstlerische Begabung und seine philo¬
sophische und literarische Bildung. So gab er zugunsten der Psychoanalyse ein
wohlbestelltes Arbeitsfeld auf, oder vielmehr er mußte es neu bestellen.
Anfangs fiel ihm das schwer. Er hatte sich trainiert, recht logisch und
bewußt zu arbeiten, und sollte nun neuerdings Eindrücke sammeln und gar
sich ganz auf sein Unbewußtes verlassen. Oft wird behauptet, die große
Diagnostik sei so wie die Neuentdeckung Sache der Divination, d. h. des
telepathischen Miterlebens mit dem zu erkennenden Objekte. Nach den
Mitteilungen der paar exzeptionellen Diagnostiker, die ich kannte, und danach,
was ich an ihrem Arbeiten als charakteristisch bemerkte, bedarf es nicht
solcher halbmystischer Fähigkeit. Allen großen Diagnostikern gemeinsam ist
die Schärfe, Präzision und gleichbeibende Verläßlichkeit aller Sinnesorgane ;
dazu kommt deren feine Empfindlichkeit bei großer Ausdauer und großer
Ausdehnung des Reizgebietes; bei Diagnostikern habe ich nie kompensierte
Minderwertigkeit gesehen, immer ein Plus an Sinnesbegabung und Überbau.
Weil die Aufnahme so mühelos geschieht, nehmen sie ständig alle sich bietenden
Eindrücke auf; das reibungslos Aufgenommene wird mit seltener Treue und
guter Sonderung im Gedächtnis gewahrt (ich habe N e u s s e r noch vor der
erreichten Professur einmal zugehört, als er sagte : „Das ist so wie der Fall
vor sechs Jahren im Saale N auf Bett soundso“, und dann stellte er in Analogie
die Diagnose, die er in allen Details sodann erörterte); aus den automatisch
richtig gespeicherten und rubrizierten Bildern wird das mit dem vorliegenden
ähnlichste automatisch in das Bewußtsein gehoben. Ermöglicht wird aber
dieses präzise Speichern und Rubrizieren durch die kunstgerecht geübte,
ziselierende Logik der absichtlich geübten Differentialdiagnostik; vice versa
gibt es erst das Material für das Üben solcher Denkpräzision. Dank den
lebhaften Vorstellungen des Krankenmaterials lesen diese Art Köpfe Kranken¬
geschichten, Monographien und selbst Lehrbücher, wie wenn sie die Kranken
selbst und das Innere ihres Körpers ständig vor sich hätten. Sie alle sind mit
Liebe und Hingebung Ärzte, weil all ihr Arbeiten dabei von der Freude des
Erfolgs und von der Organlust der richtigen Funktion begleitet ist; sie haben
ihre Berufswahl aus richtigen Gründen der eigenen Begabung getroffen und
nicht aus Übertragungs- oder Identifizierungsmotiven.
422
Korr es pondenzblatt
Dies führt uns zur Psychoanalyse: Solch ein Präzisionsmechanismus der
Sinne und des Verstandes darf nicht neurotisch oder sonst libidinös gestört
sein, sonst bringt er nur ein launenhaftes, vom Privatschicksal abhängiges
periodisch richtiges Funktionieren zustande. Man kann in der Richtung der
Libidoökonomie die conditio sine qua non für die diagnostische Perfektion
dahin definieren, daß narzißtische und objektlibidinöse Besetzungen völlig
geradezu exakt, getrennt sein müssen, soweit die Berufstätigkeit in Frage
kommt. Z. B. darf der auf seine Kunst noch so Eitle in ihrer Ausübung g ar
nicht eitel sein. Der narzißtisch Eingestellte wäre nicht zum richtigen
Aufnehmen des Materials geeignet, geschweige zur guten Verwendung
Hitschmann war also, wie wir damals sagten, Reinkultur solcher
Fähigkeit und Fertigkeit und hatte sie zu fehlerloser Präsizion entwickelt.
Als Arzt wurde er Psychoanalytiker und ist Arzt und Psychoanalytiker
geblieben. Das ist seine Stärke und entschuldigt auch seine Schwäche, auch
die in seinem Verhalten gegenüber der Laienanalyse, deren Notwendigkeit
ihm erst spät klar wurde. Sein seit den Knabenjahren reges psychologisches
Interesse hatte ihn auch im ärztlichen Tun stets das Schicksal der Kranken
und der Ärzte mitbeachten lassen. Die Neurosen zogen ihn an, und da hat
die klinische Medizin ihm nichts geboten. Zu diesem Gebiete fand er die
richtigen Zugänge durch die Psychoanalyse, und vielleicht noch mehr wurde
das lebhafteste Privatinteresse seiner Jugendjahre neu geweckt und gestillt,
als mehr und mehr auch die Determinierung der Charaktere durch die
Erkenntnisse Freuds verständlich wurde. Immer drängte es ihn, wie auf
dem Gebiete der internen Medizin, das Gelernte zu rubrizieren und differential¬
diagnostisch zu verwenden] Theoretisch gab er unserm Meister recht, daß
vorzeitiges Systematisieren unnütz ist und leicht zum Widerstande wird;
praktisch zwang ihn Begabung und Gewohnheit immer wieder dazu. So
stammt das erste Lehrbuch der Neurosenlehre von ihm, im Jahre 1911 kein
geringes Wagnis und eine sehr gut gelungene Leistung. Der Fortschritt der
Psychoanalyse war aber zu rasch, um schon eine Systemisierung zu gestatten.
Seit 1913 ist keine neue Auflage erschienen; jeder gewissenhafte Autor muß
eben warten, bis er genug Erfahrungen und Eindrücke selbst gewinnen konnte,
um sie aus eigener Fülle wiederzugeben. Was noch undurchsichtig ist, vermeidet
dieser so klare Kopf; das ihm klar Gewordene stellte er aber in zahlreichen
lesenswerten Arbeiten dar. Seine Stärke ist das Finden und Belegen bestimmter
typischer Zusammenhänge zwischen Konstellationen und Einzelsymptom, oder
die Zusammenstellung aller Folgen einer bestimmten Konstellation in der
Kindheit oder eines bestimmten Symptomkomplexes. So hat er auch als
Psychoanalytiker den Weg zur Klinik gefunden. Als Lehrer und Lehranalytiker
hat er ihn den Jüngeren gewiesen. Darüber verlor er aber nie sein Interesse
für Literatur und Dichter; mehrere biographische Arbeiten auf Grund der
Psychoanalyse, besonders die über Keller und Knut Hamsun, bringen übersehene
Zusammenhänge zur Evidenz. Die Tendenz und den Wert dieser Arbeitsrichtung
vertrat er in seinem Vortrage über „Pathographie und Psychoanalyse“.
Als Arzt, Psychoanalytiker und Neurologe war Hitschmann dazu berufen
und wurde dazu gewählt, das Psychoanalytische Ambulatorium zu leiten.
Inmitten einer, lange Zeit feindlich gesinnten, ärztlichen Umwelt war die
Verläßlichkeit der Diagnosen für den Ruf des Instituts primäre Notwendigkeit.
K orrespondenzblatt
423
r
Sie ist aber auch die Vorbedingung für die richtige Indikation und Auswahl
der Falle. Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung dankt ihrem geschätzten
Ausschußmitglied und Ambulatoriumsleiter für die von ihm geleistete Hilfe
und Arbeit und wünscht ihm weitere erfolgreiche Wirksamkeit, die auch
ihm, dem nicht leicht zufrieden Gestellten, wie bisher Freude und Genugtuung
bringen sollen.
Paul Federn
Dr. Paul Federn
Der hochverdiente und allgemein verehrte Obmannstellvertreter unserer
Wiener Vereinigung, Dr. Paul Federn, vollendete am 13. Oktober 1931
sein sechzigstes Lebensjahr. Wir sehen auf seinen ausdrücklichen Wunsch
von jeder ausführlicheren Würdigung ab und werden, dieser Anregung
folgend, alle ähnlichen Anlässe von nun an in unserem Korrespondenzblatt in
ähnlicher Weise behandeln.
Die Redaktion
II) Mitteilungen der Internationalen Unterrichts¬
kommission
Berliner Psychoanalytisches Institut
Im I. Quartal 1951 (Januar—März) fanden folgende Kurse statt:
a) Vorlesungen
1) Sandor Radö: Einführung in die Psychoanalyse, II. Teil: Allgemeine
Neurosenlehre. 7 Stunden, Hörerzahl 62.
2) Jenö Harnik: Trieblehre. 7 Stunden, Hörerzahl 31.
3) Karen Horney: Indikationen und Technik der analytischen Therapie,
II. Teil: Nur für Ausbildungskandidaten. 7 Stunden, Hörerzahl 14.
b) Seminare , Übungen , Kolloquien
4) Hanns Sachs: Freud-Seminar: Krankengeschichten, I. Teil: 5 Doppel¬
stunden, Hörerzahl 34.
5) Otto Fenichel: Freud-Seminar: Theoretische Schriften, II. Teil:
7 Doppelstunden, Hörerzahl 21.
6) Siegfried Bernfeld: Seminar: Praktische Fragen der psychoanaly¬
tischen Pädagogik. Für Vorgeschrittene. Hörerzahl 24.
7) Boehm, Harnik, Simmel: Technisches Seminar. Nur für Aus¬
bildungskandidaten.
8) E i t i n g o n u. a.: Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen).
Nur für Ausbildungskandidaten.
9) Sandor Radö: Referatenabende (Kolloquium über Neuerscheinungen
der Psychoanalyse und ihrer Grenzgebiete). 4 Doppelstunden, 31 Teilnehmer.
424
Korrespondenzblatt
c) Arbeitsgemeinschaften
10) Klinische Studiengemeinschaft (Sandor Rad 6).
11) Pädagogische Arbeitsgemeinschaft (M üller-Braunschweig,
B e r n f e 1 d).
12) Kriminalistische Arbeitsgemeinschaft (Staub, Simmel).
*
Im II. Quartal 1931 (April—Juni) fanden folgende Kurse statt:
a) Vorlesungen
1) Otto Fenichel: Spezielle Neurosenlehre, I. Teil: Übertragungs¬
neurosen und Verwandtes. 7 Stunden, Hörerzahl 33.
2) Hanns Sachs: Lustgewinn als ästhetisches Problem. 4 Stunden,
Hörerzahl 46.
3) Sandor Radö: Verstimmungs- und Rauschzustände in der Neurose und
in der Sucht. 4 Stunden, Hörerzahl 39.
4) Wilhelm Reich (a. G.): Triebpsychologie und Charakterlehre.
4 Stunden, Hörerzahl 46.
5) Karen Horney: Einige Probleme der weiblichen Psychologie.
4 Stunden, Hörerzahl 48.
b) Seminare , Übungen , Kolloquien
6) Carl Müller-Braunsch w e i g: Freud-Seminar: Krankengeschichten,
II. Teil. 4 Doppelstunden, Hörerzahl 17.
7) Jenö Härnik: Freud-Seminar: Schriften zur Technik. 5 Doppel¬
stunden, Hörerzahl 8.
8) Siegfried Bernfeld: Seminar: Praktische Fragen der psychoanaly¬
tischen Pädagogik. Für Vorgeschrittene. 7 Stunden.
9) Boehm, Härnik: Technisches Seminar. Nur für Ausbildungs¬
kandidaten.
10) E i t i n g o n u. a.: Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen).
Nur für Ausbildungskandidaten.
11) Ernst Simmel: Probleme klinisch-psychoanalytischer Therapie (Indi¬
kation, Prognose, Modifikationen der Methodik). Für ausübende Analytiker.
12) Sandor Radö: Referentenabende (Kolloquium über Neuerscheinungen
der Psychoanalyse und ihrer Grenzgebiete). 2 Doppelstunden, 21 Teilnehmer.
c) Arbeitsgemeinschaften
13) Klinische Studiengemeinschaft (Sandor Radö).
14) Pädagogische Arbeitsgemeinschaft (Müller-Braunschweig,
B e r n f e 1 d).
15) Kriminalistische Arbeitsgemeinschaft (Staub, Simmel).
Korrespondenzblatt
425
Lehrinstitut der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung,
Budapest
l m Winterquartal (Januar—März) 1931 wurden folgende Seminare abgehalten:
1) Frau Vilma Kovacs: Technisches Seminar. Nur für Ausbildungs¬
kandidaten. 6 Stunden, 8 Teilnehmer.
2) Frau Dr. Margit Dubovitz: Kinderanalytisches Seminar. Nur für
Praktiker. 6 Stunden, 4 Teilnehmer.
Nederlandsch Instituut voor Psychoanalyse, Haag
Im Frühjahr 1931 veranstaltete der Unterrichtsausschuß im „ Spinozahuis “
(Paviljoensgracht 72/74, Haag) nachfolgende Kurse:
1) Besprechungen über die psychoanalytische Therapie. Nur für Mitglieder
der Vereinigung und der „Leidsche Vereeniging voor Psychoanalyse en Psycho¬
pathologie". Laufend 14tägig. Leiter: J. H. W. van Ophuijsen.
2) Dr. H. C. Jelgersma: Psychoanalyse der Dementia senilis. Nur für
Ärzte. 2 Stunden.
3) J. H. W. van Ophuijsen: Suggestion und Hypnose in der allge¬
meinen Praxis. Nur für Ärzte. 5 Stunden.
4) J. H. W. van Ophuijsen: Psychoanalyse des Traumes. 6 Stunden.
5) Dr. F. P. Müller: Psychoanalyse der Neurosen. 6 Stunden.
6) Dr. A. J. Westerman Holstijn: Psychoanalyse von Beeinträch-
tigungs- und Verfolgungswahn. 5 Stunden
7) J. H. W. van Ophuijsen: Psychoanalytische Betrachtungen über das
schwererziehbare Kind. 5 Stunden.
Institute of Psycho-Analysis, London
Im I. Quartal 1931 fanden folgende Kurse statt:
Dr. Sylvia Payne: Die Theorie der Neurosen. Sechsstündig. Für Aus¬
bildungskandidaten.
Dr. Jones, Miß Searl, Miß Sharpe: Seminarien zur Technik der
Psychoanalyse.
Dr. E. G 1 o v e r : Seminar über psychoanalytische Theorie.
Lehrtätigkeit der New York Psychoanalytic Society
Die Vereinigung ist erfreulicherweise im Begriff, ein Heim für das neu¬
zugründende psychoanalytische Institut zu suchen und das Institut zu organi¬
sieren. Das Komitee, das mit der Ausarbeitung der Pläne für das Institut
betraut ist, befindet sich in voller Tätigkeit.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVII/3 2 g
426
Korrespondenzblatt
Im ersten Quartal wurden zwei Kurse für Mitglieder und Kandidaten
abgehalten:
a) Seminar über Krankengeschichten, abwechselnd geleitet von Dr. Feigen¬
baum und Dr. Zilb oorg. Zweimal wöchentlich.
b) Referate über Freuds klinische Schriften, abwechselnd geleitet von
Dr. Lewin und Dr. Meyer. Zweimal wöchentlich.
Die Vereinigung schätzte sich glücklich, drei Vorlesungen von Dr. Röheim
über seine Erfahrungen in Zentralaustralien und Melanesien veranstalten
zu können.
Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung
Veranstaltungen im Sommersemester 1951:
a) Seminare :
Dr. E. Hitschmann: Seminar für psychoanalytische Therapie (am
Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung).
Dr. P. Federn: Seminar zur Lektüre Freudscher Schriften. (Für Anfänger.)
Dr. H. Nunberg: Seminar über ausgewählte Themen aus der Psycho¬
analyse. (Für Fortgeschrittene.)
Anna Freud: Seminar für Technik der Kinderanalyse. (Für ausübende
Kinderanalytiker.)
b) Arbeitsgemeinschaften:
Dr. Helene Deutsch: Praktisch-therapeutische Übungen für ausübende
Analytiker (Kontrollseminar).
Dr. E. Bibring: Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytische Charakterologie.
(Für ausübende Analytiker.)
Dr. Ruth Mack Brunswick: Arbeitsgemeinschaft für Psychosenforschung.
c) Pädagogie :
A. Aichhorn: Praktikum in Horten, Tagesheimstätten und Kinder¬
heimen mit Besprechung der sich ergebenden Schwierigkeiten.
Dr. W. H o f f e r : Seminar für Pädagogen.
Dr. Editha S t e r b a: Mitteilungen aus der psychoanalytischen Erziehungs¬
beratung.
III) Berichte der Zweigvereinigungen
The American Psycho-Analytical Association
Die 26. Jahresversammlung der American Psycho-Analytical Association
wurde am 4. und 5. Juni in Toronto, Canada, The Royal York Hotel,
abgehalten.
Korrespondenzblatt
427
4 - Juni: Der Präsident, Dr. A. A. Brill, führte den Vorsitz. Das Protokoll
der letzten Jahresversammlung und der Bericht des Kassiers wurden verlesen
und zur Kenntnis genommen. Dr. R. H. Hutchings gab den Bericht des
Vorstands und machte verschiedene Vorschläge. Dr. Ernest Jones wurde in
Anerkennung seiner Bemühungen für die Organisation der American Psycho-
Analytical Association und seiner Verdienste auf dem Gebiete der Psycho¬
analyse zum Ehrenmitglied gewählt. Zu Mitgliedern wurden gewählt: Dr. Leo
Bartemeier, Detroit, Dr. Thomas M. French, White Plains, N. Y., Dr. Lewis
B. Hill, Baltimore, Dr. David Levy, New York City, Dr. Eleanora Saunders,
The Sheppard and Enoch Pratt Hospital, Towson, Maryland, und Dr. Stewart
Sniffen, New York City. Zum außerordentlichen Mitglied wurde gewählt:
Professor Harold D. Laßwell, University of Chicago. Aus der Mitgliederliste
wurde gestrichen: Dr. John Holland Cassity. Zu Funktionären für das
kommende Jahr wurden gewählt: A. A. Brill, Präsident; Smith Ely Jelliffe,
Vizepräsident; Ernest E. Hadley, Sekretär und Kassier; Harry Stack Sullivan
als Vorstandsmitglied für drei Jahre.
Wissenschaftliches Programm:
1) Dr. Gregory Stragnell: Über die Vorstellungen betreffs Zeit, Raum
und Energie.
2) Dr. Paul Schilder: Bemerkungen zur Psychoanalyse der psychogenen
Depression und der Melancholie.
5. Juni: In der gemeinsamen Sitzung mit der American Psychiatric
Association übernahm Dr. AValter M. English den Vorsitz.
Wissenschaftliches Programm:
x) Dr. A. A. Brill: Abraham Lincolns Humor.
2) Dr. C. P. Oberndorf: Psychoanalyse von Ehepaaren.
5) Dr. Harry Stack Sullivan: Die modifiziert-psychoanalytische
Behandlung der Schizophrenie.
4) Dr. Clinton P. McCord: Der Stand der Kinderanalyse in Amerika. Ihre
Bedeutung für den Psychiater.
Die Zuhörerschaft war trotz der vorhergegangenen vier Sitzungstage der
American Psychiatric Association ungewöhnlich groß. Ein nicht der Vereinigung
angehöriger Zuhörer legte vor Beginn der Versammlung gegen den . Vortrag
Dr. Brills über Abraham Lincoln Verwahrung ein. Der Zwischenfall wurde
von den Zeitungen überall als Sensation aufgegriffen. Der Vorstand beschränkte
sich aber darauf, den Protest formell zur Kenntnis zu nehmen, und ließ den
Vortrag unverändert abhalten, wobei sich zeigte, daß die Arbeit nicht nur
eine ausgezeichnete psychiatrische Studie, sondern auch eine volle Würdigung
des großen amerikanischen Emanzipators bedeutete.
Ernest Hadley
Sekretär
British Psydio-Analytical Society
II. Quartal 1931
30. April. Barbara Low: „Gegenwärtige psychoanalytische Tätigkeit in
Deutschland.“ Miß Low berichtet über ihren Aufenthalt in Berlin und
beschreibt die wissenschaftliche und praktische Tätigkeit der Berliner Vereinigung,
428
Korrespondenzblatt
besonders die Organisation des Lehrinstitutes und die spezielle öffentliche
Betätigung verschiedener Mitglieder. Sie schließt mit einem Ausblick auf
die soziologische und pädagogische Seite der psychoanalytischen Arbeit in
Deutschland.
6. Mai. Symposium über „Die akuten Anlässe bei neurotischen Störungen.“
a) Eröffnung der Diskussion durch Mr. Strachey mit einem kurzen
Referat über die historische Entwicklung der diesbezüglichen Ansichten Freuds.
b) Miß Chadwick: Als Krankheitsanlaß kommt nur das Zusammen¬
wirken innerer und äußerer Faktoren in Betracht. Die inneren sind die vom
Es einerseits, vom Über-Ich andrerseits ausgehenden Ansprüche, denen das
Individuum nicht gewachsen ist, sei es infolge genuiner, sei es infolge durch
Verdrängung in die Höhe getriebener besonderer Triebstärke; die äußeren
sind allgemeine kulturelle Forderungen oder spezielle der zufälligen Umwelt,
eventuell selbst aus unbewußten Triebbedürfnissen von Personen dieser Umwelt
gestellt. — Wechsel in der Symptombildung, der den Eindruck eines plötzlichen
Ausbruchs von Neurose erweckt, kann durch plötzliche unerträgliche Entziehung
einer Triebbefriedigung hervorgerufen werden, wenn sie durch keine Ersatz¬
befriedigung wettgemacht werden kann oder die ursprüngliche Befriedigung
besonders hartnäckig wieder verlangt wird.
c) Dr. C ulpin: Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Symptom¬
neurosen und einem Zusammenbruch mit Arbeitsunfähigkeit. Forschungen an
Personen, die in Berufstätigkeit stehen, haben schon bei oberflächlicher
Beobachtung gezeigt, daß weniger als die Hälfte der Bevölkerung symptomfrei
ist. Im Krieg wie auch in den Industriebetrieben (bei Bergleuten, Tauchern,
Telegraphisten usw.) läßt sich das Auftreten von Arbeitsunfähigkeit als die
Folge einer umgekehrten Verhältnisreihe zwischen Disposition und Druck
von der Außenwelt her nach weisen. Wenn ein Symptom Raum finden kann,
ohne die Genußfähigkeit und Arbeitsfähigkeit zu stören (wie etwa bei einem
Wissenschaftler ein krankhafter Drang nach Genauigkeit und immer wieder¬
holter Nachprüfung), dann braucht keine Arbeitsunfähigkeit aufzutreten; bei
einem Telegraphisten etwa würde die gleiche Tendenz unbedingt zu einem
Schreibkrampf führen. In sogenannt „traumatischen“ Fällen fand Referent
häufig Verdrängung des unlustvollen Erlebnisses und konnte die alte Methode
der Katharsis anwenden. Wenn ein sexuelles Trauma den sofortigen Ausbruch
einer Neurose herbeiführt, ergibt oft schon die oberflächliche Befragung
Material von tiefer Bedeutung; im Fall eines Telegraphisten, bei dem ein
Schreibkrampf wenige Stunden nach einem grobsexuellen Erlebnis auftrat, lag
die symbolische Bedeutung auf der Hand, und bei jedem derartigen Krampf
zeigte die Analyse eine tiefgehende Bedeutung des spezifischen Symptoms.
Viele plötzlich entstandene Neurosen konnten durch Behandlung sistiert
werden, die wenigsten Patienten haben aber das Glück, in eine solche
Behandlung zu gelangen. Die Unwissenheit der Ärzte, die sich mit diagnostischen
Phrasen, wie etwa „traumatische Neurasthenie“, begnügen, dient nur dazu,
den Zustand der Patienten zu verschlechtern.
d) Frau Klein: Die äußeren Faktoren, die die Neurose herbeiführen,
sowohl die allgemein disponierenden Einflüsse als auch die eigentlichen
auslösenden Momente, erhalten ihre Bedeutung durch ihr Verhältnis zu den
frühesten und wichtigsten Angstsituationen des kleinen Kindes und den sie
Korrespondenzblatt
429
begleitenden Phantasien; diese Angstsituationen selber sind konstitutionell
bedingt, vor allem durch die destruktiven Komponenten der an die einzelnen
erogenen Zonen gebundenen Partialtriebe. Zwei Fälle zur Erläuterung. (1) Ein
vierjähriger Knabe, a) der nicht an der Brust genährt worden war, wodurch
seine oralen und urethralen sadistischen Tendenzen gesteigert wurden, ohne
daß eine helfende Mutterimago entstand, und der b) von seinem älteren
Bruder zur Fellation gezwungen wurde, wobei seine Angst vor dem sadistischen
Penis Bestätigung fand. Dieses waren die disponierenden Faktoren. Auslösende
Ursache war der erste Schulgang, bei dem die Anwesenheit einer Menge
Knaben die tiefste Angst vor dem gefährlichen Penis zur Äußerung brachte.
(2) Ein Mann, dessen Neurose nach Überwindung einer Dysenterie ausbrach,
während der er von der Pflegerin vernachlässigt und grausam behandelt
worden war; vorhergegangen war eine lange Kriegsdienstleistung im vordersten
Schützengraben. Die Dysenterie bedeutete ihm die Bestätigung seiner Angst
vor dem verinnerlichten Penis (Urin und Fäzes), die durch die Erlebnisse
im Schützengraben schon angerührt worden war; und die Unfreundlichkeit
der Pflegerin wiederholte frühe Versagungen an der Mutterbrust, reaktivierte
also seine „böse“ Mutterimago.
e) Miß Sharp e: Bei Erwachsenen, bei denen eine plötzliche Verschlimmerung
im klinischen Bild ein trat, ließ sich eine Beziehung zwischen psychischen
Faktoren und speziellen Umweltsfaktoren vor oder während des Zusammenbruchs
hersteilen. Bei einigen Fällen glich die Umweltssituation zur kritischen Zeit
in spezifischer Weise einer Situation der frühen Kindheit. — Die „Es“wünsche
finden sich in allen Fällen. Der quantitative Faktor in der endopsychischen
Situation ist unberechenbar und individuell. Die Umwelt, in der und auf die
diese unberechenbare endopsychische Situation einwirkt, ist eine spezifische.
Wenn die Umwelt anders ist und sich psychische Schwierigkeiten aus
Eswünschen ergeben, so wären die unberechenbaren quantitativen Faktoren
vielleicht nicht weniger schwierig, aber doch andere. Die Verschiedenheiten,
welche die Individualität ausmachen, lassen sich aus der Korrelation zwischen
diesen endopsychischen Faktoren und der individuellen Umwelt verstehen.
Am schwersten haben es in der Analyse diejenigen Individuen, deren Trieb¬
spannung in den frühesten Jahren durch ungünstige Umweltseinflüsse erhöht
wurde.
f) Dr. I n m a n: In der ophthalmologischen Praxis findet man als die
häufigste auslösende Ursache von Neurosen den tatsächlichen oder drohenden
Verlust eines geliebten oder gehaßten Objektes Der Einfluß dieses Verlustes
muß sich nicht sofort geltend machen. Jahrestage oder ähnliche Erinnerungen
an gefühlsmäßig betonte Daten, besonders solche, die sich auf wichtige
biologische Vorgänge, wie Geburt, Heirat und Tod beziehen, sind besonders
geeignet, Anlaß zum Ausbruch von Symptomen zu bieten. Man bekommt hier
einen Hinweis darauf, daß in der Deutung das Zeitelement eine Rolle spielt,
wie Freud im „Jenseits des Lustprinzips u erwähnt.
20. Mai. Kleine Mitteilungen, a) Dr. Payne: „Angstäußerungen in
Verbindung mit dem weiblichen Kastrationskomplex und verwandten narzi߬
tischen Gefahrsituationen.“ Schwangerschaft kann solche Angstanfälle verstärken
oder mildern, je nach der mit der Konzeption verbundenen unbewußten
Phantasie.
430
Korrespondenzblatt
b) Dr. Glover: „Therapeutische Wirkung trotz unexakter Deutung.“
Diskussion der Mechanismen, durch die möglicherweise therapeutische Resultate
in der Analyse auch zustande kommen, wenn eine spezifische Phantasienreihe
verdrängt bleibt. Eine Theorie, daß durch inkorrekte Deutung eine Ersatz¬
bildung zustande kommt, i. e. eine „ ego-syntonic phobia,“; Einschätzung der
pseudo-analytischen Suggestion auf dieser Basis. Pseudo-analytische Suggestion
(ego syntonic hysteria) verglichen mit reiner Suggestion, durch die ein „ego-
syntonic“ zwangsneurotisches System zustande kommt.
3. Juni. Dr. Schmideberg: „Die Psychologie von wahnhaften Verfolgungs¬
ideen.“ (Erscheint im Journal.)
17. Juni. Miß Chadwick: „Bemerkungen über die psychische Bedeutung
der Menstruation.“ Historischer Überblick; Tabus, Aberglauben, frühe medizi¬
nische Beobachtungen, astronomische Theorien und besonders die Beziehung
zur Zauberei. Der menstruelle Zyklus in der Kindheit a) vom Standpunkt
der Symptomatologie, b) das früheste Datum des Verständnisses für den
menstruellen Vorgang, c) Wirkung der Pubertät. Die Rolle der Menstruation
in den psychischen Störungen junger weiblicher Personen und bei den
Störungen vor und während des Klimakteriums.
Edward Glover
wissenschaftlicher Sekretär
Generalversammlung
8. Juli. Die Berichte des wissenschaftlichen und geschäftlichen Sekretärs
werden vorgelegt und zur Kenntnis genommen, ebenso der Kassenbericht.
Die Funktionäre für das kommende Vereinsjahr werden wie folgt gewählt:
Vorstand: Dr. Ernest Jones, Präsident; Dr. Edward Glover, wissenschaftlicher
Sekretär; Dr. Sylvia Payne, geschäftlicher Sekretär; Dr. Douglas Bryan, Kassier;
Dr. Eder, Mrs. Riviere, Dr. Stoddart, Vorstandsmitglieder. Bibliothekarin:
Miß Barbara Low; Lehrkomitee: Dr. Glover, Dr. Jones, Mrs. Klein, Dr. Payne,
Mrs. Riviere, Miß Sharpe. Es wird beschlossen, daß das Library-Sub-Committee
von nun an aus vier, statt aus drei Mitgliedern bestehen soll: Miß Chadwick,
Miß Low, Dr. Stoddart, Mr. Strachey.
Die vom Vorstand ernannten außerordentlichen Mitglieder werden wieder¬
gewählt. Dr. Fairbairn wird zum neuen außerordentlichen Mitglied gewählt.
Die a. o. Mitglieder Dr. Franklin und Dr. Karin Stephen werden zu
ordentlichen Mitgliedern gewählt.
Der Bibliotheksfonds erhält vom Fonds der Vereinigung eine Spende von
60 Pfund.
S. M. Payne
geschäftlicher Sekretär
Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft
11. Quartal 1931
18. April 1931. Dr. Eitingon widmet dem frühzeitig verstorbenen
Kollegen Dr. Liebermann einen warmen Nachruf.
Vortrag Dr. Haas: Zur Behandlung von Schizophrenien, — Diskussion:
Reich, Fenichel, Simmel, Rado, Schultz-Hencke, Boehm, Vowinckel.
Korrespondenzblatt
431
25., 24., 25. und 27. April 1931. Dr. Roh ei m berichtet über die
Resultate seiner Forschungsreise in die Südsee und in das Innere von
Australien,
28. April 1931. Dr. Eitingon verliest ein Kondolenzschreiben der
Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft zum Tode von Dr. Liebermann.
Dr. Sachs gratuliert Dr. Müller-Braunschweig zu seinem
50. Geburtstag.
Dr. Bernfeld referiert über den Psychologenkongreß in Hamburg.
Vortrag Dr. Schultz-Hencke: Zur Frage der unbewußten Fixierung.
— Diskussion: Fenichel, Bernfeld, Radö, Müller-Braunschweig.
5. Mai 1931. Dr. Sachs gibt eine kurze Würdigung von Freuds
Schaffen zu seinem 75. Geburtstag. — Dr. Reik verliest einen Aufsatz:
Nachdenkliche Gratulation zum 75. Geburtstag Prof. Sigm. Freuds am
6. Mai 1931.
Vortrag Dr. Simmel: Über Zwang und Kriminalität; ein Beitrag zur
Psychologie des Lustmordes.
19. Mai 1931. Dr. Sachs berichtet über seinen Aufenthalt in Wien aus
Anlaß des 75. Geburtstages von Prof. Freud. — Dr. Lampl berichtet
über die Sitzung des Wiener „Akademischen Vereins für medizinische Psycho¬
logie“ aus diesem Anlaß. — Dr. Simmel berichtet über den Kongreß
der ärztlichen psychotherapeutischen Gesellschaft in Dresden.
Kleine Mitteilungen: Dr. Liebeck-Kirschner: a) Über eine Kinder¬
beobachtung. Diskussion : Sachs, Boehm, Lantos, Kempner, Fenichel, Vowinckel,
Jacobssohn; b) Sextanerzeichnungen zum Thema „Angsttraum“. — Diskussion:
Radö, Reich, Bernfeld, Frl. Pinkus (a. G.). — Boehm: Über eine Perversion
(Fetischismus). — Diskussion: Sachs, Fenichel, Groß.
9. Juni 1931. Vortrag Miß Grant Duff: Elisabeth und Essex. —
Diskussion: Benedek, Härnik, Spitz, Sachs.
16. Juni 1931. Vortrag Dr. Boehm: Über einen Fall von chronischem
Alkoholismus. — Diskussion: Reich, Simmel, Schultz-Hencke, Radö, Sachs,
Horney, Groß, Fenichel.
27. Juni 1931. Außerordentliche Generalversammlung. — Vor der Tages¬
ordnung begrüßt Dr. Simmel im Namen der Gesellschaft Dr. Eitingon
anläßlich seines 50. Geburtstages. — Dr. Boehm wird zu seinem 50. Ge-
burstage telegraphisch gratuliert. — Da Dr. Boehm abwesend ist, wird
beschlossen, Dr. Radö mit der Führung des Protokolls der Generalversammlung
zu beauftragen.
Dr. Radö legt im Namen des Redaktionskomitees den vom Vorstand
genehmigten Entwurf der neuen Statuten vor. Paragraph 13 des Entwurfes
wird gestrichen; im übrigen wird der Entwurf unverändert und einstimmig
angenommen.
Es wird beschlossen, den im abgelehnten Paragraphen 13 des Entwurfes
behandelten Gegenstand in der Geschäftsordnung zu regeln. Die Regelung in
der Geschäftsordnung soll dem Sinne nach vollkommen dem Inhalt des
abgelehnten Paragraphen 13 entsprechen, aber in Form von Vorschriften
erfolgen, die den einschlägigen behördlichen Bestimmungen angepaßt sind.
Der von Dr. Eitingon erstattete Bericht des Unterrichtsausschusses
wird einstimmig angenommen.
432
Korrespondenzblatt
Auf Antrag des Vorstandes werden einstimmig folgende Übergangs
bestimmungen zu den neuen Statuten beschlossen:
1) Der jetzige Vorstand und alle anderen Funktionäre bleiben bis zur
nächsten Generalversammlung im Amt.
2) Die nächste Generalversammlung findet im Oktober 1932 statt.
3) Im Januar 1932 wird eine Nachzahlung zum diesjährigen Mitglieds¬
beitrag zu entrichten sein. Diese Nachzahlung umfaßt a) den Beitrag für die
„Internationale Psychoanalytische Vereinigung“ und b) den Bezugspreis fü r
die „Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse“ und für die „Imago“.
Dr. Felix Boehm
Schriftführer
Tätigkeitsbericht der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Psychoanalytischen
Gesellschaft, 1930, I—IV. Quartal
Die Arbeitsgemeinschaft (AG) hielt in diesem Jahr wöchentlich eine
Sitzung ab (ausgenommen die Sommermonate Juli und August). Diese
Sitzungen waren teils Kolloquien und dienten dazu, einigen der Teilnehmer
die Kontrolle der von ihnen geführten Analysen zu ersetzen; teils waren sie
der Diskussion theoretischer Probleme gewidmet. Zu den Kolloquien waren
keine Gäste eingeladen; da monatlich mindestens zwei solche Sitzungen statt¬
finden, geben sie Gelegenheit, über einige Analysen fortlaufend zu berichten.
Zu den Sitzungen, die theoretische Themata behandelten, waren nur solche
Gäste eingeladen, die sich schon mehrere Semester intensiv mit Psychoanalyse
beschäftigt haben. Das Programm dieser Sitzungen war:
1) Metapsychologisches Seminar (das wir noch im Jahre 1929 begonnen
hatten);
2) Diskussion der Neuerscheinungen über analytische Technik;
3) Theorie und Technik der Kinderanalyse, deren Diskussion zu den
Problemen der Angst und Sublimierung hinüberleitete.
Unser noch immer kleiner Kreis lädt ferner von Zeit zu Zeit einige
Interessenten der Psychoanalyse ein und bietet ihnen den Vortrag eines
Berliner Kollegen. Im Jahre 1930 sprachen:
am 15. Februar Fenichel: Über Hemmungen;
am 8. März Alexander: Ein krimineller Fall in psychoanalytischer
Betrachtung;
am 5. April Boehm: Der Weiblichkeitskomplex des Mannes;
am 3. September Reik: Über Indizienbeweise;
am 3. Dezember Härnik: Sexualentwicklung eines Mädchens, dargestellt
an der Hand von in der Erwachsenenanalyse gedeuteten Kindheitsträumen.
Die Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft haben im Jahre 1930 außerhalb
der AG folgende Referate über psychoanalytische Themata gehalten :
Frau Dr. Therese B e n e d e k referierte über das „Unbehagen in der Kultur“
im Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig auf Ein¬
ladung von Prof. Sigerist.
Herr E k m a n hielt folgende Vorträge :
25. Oktober, Vortrag über „Psychoanalyse“ im Bildungsbund der Arbeiter
in Göteborg.
Korrespondenzblatt
433
29. Oktober, Öffentlicher Vortrag über „Psychoanalytische Gesichtspunkte
über Krieg und Frieden“ im Volkshaus zu Göteborg.
31. Oktober, Vortrag über „Die allgemeinsten Mißverständnisse der
psychoanalytischen Theorie“ im Philosophischen Verein (Vorsitz Prof. Malte
Jacobson), Göteborg.
Herr Ranft sprach im Institut für experimentelle Psychologie und Päd-
agogik des Leipziger Lehrervereins; „Über Kinderangst“ (auf Grund einer
statistischen Untersuchung an Schulkindern). Er berichtete dort auch über
die Dresdener Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft Außer¬
dem leitet Herr Ranft auch eine Arbeitsgemeinschaft für Lehrer. Diese
Arbeitsgemeinschaft behandelte in 17 Sitzungen zunächst Freuds Traum¬
deutung, dann führte er in die psychoanalytische Charakterlehre ein und
besprach Fälle von Schwererziehbarkeit aus der Schulpraxis.
T eilnehmerliste
1) Benedek, Dr. med. Therese, Obmann, Leipzig, Brüderstraße 7, II.
2) Ekman, Tore, Lektor für schwedische Sprache an der Universität
Leipzig, p. A. Frau Dr. Benedek.
3) Ranft, Herman, Lehrer, Leipzig, Holsteinstraße 15.
4) V a u c k, Dr. med. Otto, Nervenheilanstalt Bergmannswohl, Schkeuditz
bei Leipzig.
5) Weigel, Dr. med. Herbert, Schriftführer, Leipzig, Philipp-Rosenthal-
Straße 12.
Psychoanalytisdie Bewegung in Leipzig
Die Juristisch-Medizinische Gesellschaft hatte Th. Reik zu einem Vortrag
„Über das Strafbedürfnis“ eingeladen, den er am 2. November 1930 hielt.
Der Mitteldeutsche Rundfunk veranstaltete eine Vortragsreihe von sechs
Vorträgen über Tiefenpsychologie, in deren Rahmen Ref. über Fehlleistungen
sprach. Außerdem hatte Ref. Gelegenheit, im Mitteldeutschen Rundfunk über
die Dresdener Tagung zu berichten.
Prof. Carsum Chang, Professor für Philosophie in China, z. Z. Gastprofessor
in Jena, hielt auf Einladung des deutschen Kulturbundes einen Vortrag über:
„Chinesische Philosophie in psychoanalytischer Beleuchtung“. Im Institut für
Geschichte der Medizin veranstaltete Prof. Sigerist zusammen mit der
Mitteldeutschen Ortsgruppe der Gesellschaft für Psychotherapie eine Vortrags¬
reihe aus sechs Vorträgen über „Das Unbehagen in der Kultur“.
In dieser Vortragsreihe nahmen Prof. Wach, Kronfeld, Jolowicz,
K. H o r n e y und Prof. Driesch Stellung zu den verschiedenen Problemen
dieses Werkes von Freud. r\ 1 t
Dr. Benedek
Magyarorszägi Pszidioanalitikai Egyesület
II. und III. Quartal 1931
11. April 1951- Frau Dr. Jenny Wälder-Pollak (Wien): Aus der
Analyse eines Falles von Pa vor nocturnus. (Mit besonderen Hinweisen auf die
angewandte Behandlungstechnik.)
434
Korrespondenzblatt
24. April 1931. Frau Alice Balint: Referat über das Buch von Margaret
Mead, „Coming of Age in Samoa“. Hinweise auf eine zukünftige vergleichende
Pädagogik.
29. Mai 1931. Dr. Geza Röheim: Psychologie einer totemistischen
Gemeinschaft.
5. Juni 1931. Dr. Geza Röheim: Fortsetzung des Vortrages vom 29. Mai.
26. Juni 1931. Dr. Sändor Ferenczi: Kinderanalyse an Erwachsenen.
Geschäftliches:
Nach vielem Ringen mit den offiziellen Behörden wurde der Vereinigung
die Errichtung einer Poliklinik unter dem Namen „Allgemeines Ambulatorium
für Nerven- und Gemütskranke“ gestattet. Die Poliklinik nahm ihre Tätigkeit
in für analytische Zwecke gut angepaßten und eingerichteten Räumlichkeiten
(I. Meszaros u. 12) bereits auf. Die Vereinigung forderte Dr. Ferenczi zur
Leitung der Poliklinik auf. Sein Stellvertreter wurde Dr. M. Balint. Außer
ihnen ordinieren an der Poliklinik Dr. Hermann, Dr. Hollös, Dr. Pfeifer
und Dr. Revesz. Als Assistent wirkt Dr. Almasy, der den größten Teil
seiner Tätigkeit dem Institut widmet.
Ihre Adresse haben geändert: Dr. Endre Almasy, Budapest,! Meszaros
u. 12; Dr. Fanny Hann-Kende, Budapest, V. Zrinyi u. 14; Dr. Imre
Hermann, Budapest, II. Filler u. 25.
Dr. Imre Hermann
Sekretär
Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse
I. und II. Quartal 1931
24. Januar (Amsterdam). Geschäftliche Sitzung. In den Vorstand werden
wiedergewählt: J. H. W. van Ophuijsen (Präsident), A. Endtz (Sekretär) und
Dr. F. P. Müller (Kassier). Prof. Dr. G. Jelgersma zog sich aus dem Unter¬
richtsausschuß zurück, welcher um zwei Mitglieder erweitert wurde und sich
wie folgt zusammensetzt: J. H. W. van Ophuijsen, F. P. Müller, Dr. S. Weyl,
Dr. A. J. Westerman Holstijn und A. Endtz.
Dr. S. Weyl: Melancholie und Selbstbestrafung. In einem Falle von
Melancholie wird an Hand verschiedener Träume deutlich gezeigt, wie
die Tendenz zur Selbstbestrafung eine große Rolle spielt. Die Introjektions-
mechanismen waren von geringerer Bedeutung.
28. Februar (Haag). J. H. W. van Ophuijsen: Psychoanalytische
Bemerkungen zur Frauenmode. Der Vortragende versucht die Eigentümlich¬
keiten der Frauenmode — schneller Wechsel, rasche Nachahmung nach
anfänglichem Widerstand, Beeinflussung der Beziehungen der Frauen zu einander,
Wahl des Materials, Einfluß auf den Mann — zu erklären als Äußerungen
des unbewußten narzißtischen Wunsches, sich in den Besitz des vermißten
Phallus zu setzen. Der für die Frauenmode empfindliche Mann benimmt
sich der modischen Kleidung gegenüber wie ein Fetischist.
A. Endtz: Kasuistische Mitteilungen. Die heutige psychiatrische Einteilung
in immer wechselnde, mehr oder minder willkürliche klinische Krankheits-
Korrespondenzblatt
einheiten soll ersetzt werden durch eine Beschreibung der Geisteskranken
nach der Regressionsstufe ihrer Libido im Anschluß an die Form ihrer Straf¬
befriedigung und an die Entwicklungsstufe ihres Wirklichkeitssinnes. Unter
dieser Voraussetzung wird eine klinische Krankengeschichte mitgeteilt, wobei
die Diagnose „Angsthysterie gestellt wurde, und zwar auf Grund einer genitalen
Fixierung an die Eltern, mit Befriedigung des Strafbedürfnisses im selben Symptom,
das die Wunschbefriedigung des Es darstellt. Der Wirklichkeitssinn war bis zur
Projektionsphase regrediert. Äußerlich machte die Kranke klinisch den Ein¬
druck einer Schizophrenie, heilte aber in einigen Tagen. Die Projektion wird
besprochen gemäß dem von Robert Wälder beschriebenen „Prinzip der
mehrfachen Funktion“ (Int. Zeitschr. f. PsA., XVI, 1930, S. 285). Wie
Freud es für den Wahn gezeigt hat, so erscheinen auch die Halluzinationen
als eine verfehlte Bemühung, mit der Außenwelt wieder in Kontakt zu kommen,
nachdem vorher ein Abzug der Libido von ihr stattgefunden hat. Auch die
Halluzination ist also, wie Freud in seiner Analyse des Falles Schreber schon
sagte, einem Heilungsversuch gleichzustellen. Dies wird an dem Fall erläutert.
18. April (Oegstgeest). A. Endtz: Kasuistische Mitteilungen (Fortsetzung).
Bei einem zweiten Fall wird auf psychoanalytischer Grundlage eine Konversions¬
hysterie mit guter Prognose angenommen, obwohl das klinische Bild schizo¬
phrenieähnlich aussah. Auch hier ist eine baldige Heilung eingetreten. Bei
dieser Kranken wurden zwei Behauptungen von Helene Deutsch (Psycho¬
analyse der Neurosen, S. 73 und 75) bestätigt gefunden: nämlich daß bei
der Verschiebung der Libidobesetzung vom verdrängten Genitale auf einen
anderen Körperteil auch die Kastrationsangst vom Genitale auf das neue
Organ mitverschoben wird, die dann in der hypochondrischen Angst zum
Ausdruck kommt, und zweitens die Bedeutung, welche traumatisch sich
auswirkende Erlebnisse der Kindheit für die Wahl der genitalisierten Organe
haben.
Dr. F. P. Müller: Verschiedenes über Regression. Die Psychoanalyse hat
uns gelehrt, die Psychoneurosen nach der Lage ihrer Fixierungsstellen zu
ordnen. Es entsteht dabei jedoch die Schwierigkeit, daß in bezug auf die
psychosexueile Entwicklung die Regression bei der Zwangsneurose eine tiefere
ist als bei der Hysterie, während in anderen Hinsichten die Regression sich
gerade bei der Hysterie als eine tiefere zeigt: So hat Freud uns auf einen
hysterischen Untergrund bei manchen Zwangsneurosen hingewiesen, der seinen
Ursprung in einer früheren Entwicklungsphase hat als die eigentlichen
Symptome der Zwangsneurose. In bezug auf die Entwicklungsstufen des
Wirklichkeitssinnes (F e r e n c z i) regredieren die Zwangsneurotiker auf die
Periode der magischen Gedanken und der magischen Worte, die Hysteriker
dagegen auf Perioden, welche jener anderen Periode vorangehen. Auch aus
den Übergangsformen zwischen Hysterie und Melancholie, aus der Kombination
von Hysterie mit einem starken Narzißmus, die man öfter vorfindet, geht
hervor, daß die Regression bei der Hysterie die tiefere ist. Während z. B.
die Zwangsneurotiker auf ein Stadium regredieren, in welchem man zwischen
Möglichkeit und Sicherheit schon unterscheidet, regredieren die Hysteriker
auf ein Stadium, in dem nur mangelhaft zwischen Wirklichkeit und Phantasie
unterschieden wird. Freud hat bereits ein zeitliches Voraneilen der Ich-
entwicklung vor der Libidoentwicklung bei der Zwangsneurose angenommen.
436
Korrespondenzblatt
15. Juni (Haag). Dr. S. J. R. de M o n c h y. Analyse eines dreizehnjährigen
Knaben unter besonderer Berücksichtigung des Heimwehgefühls. — Der Knabe
leidet an Phobien und Zwangshandlungen, welche mit dem Tod des Vaters
Zusammenhängen. Bewußt besteht eine außerordentlich starke Bindung an den
Vater; unbewußt aber wird dieser bekämpft und totgewünscht. Der Knabe
fürchtet und haßt bewußt seine psychisch abnorme Mutter, unbewußt ist er
sehr an sie gebunden. Dieser Sachverhalt geht aus den Träumen besonders
klar hervor. Die Eltern sind geschieden, und der Knabe lebt im Hause seines
Vaters, an dessen Person und Haus er durch ein starkes Heimweh gebunden
ist. Dieses Heimweh stellt sich als die Folge der ambivalenten Gefühlshaltung
dem Vater gegenüber heraus. Es wird die Hypothese aufgestellt, daß die
Ambivalenz der typische Boden sei, worin das Heimweh wurzelt. Der Unter¬
schied zwischen „Sehnsucht“ und „Heimweh“ besteht darin, daß bei „Sehn¬
sucht“ eine vorwiegend positive Bindung an das Liebesobjekt besteht, während
das Gefühl des zwangsmäßigen Zurückgezogenwerdens nach bestimmten Personen
oder einer bestimmten Umgebung, das man bei einzelnen Kindern findet und
das wir „Heimweh“ nennen, nur entsteht, wenn neben einer bewußten
positiven Bindung starke negative Gefühle im Unbewußten bestehen. An
anderen Beispielen von Kindern mit Heimweh wird zu zeigen versucht, daß
ein ähnlicher Sachverhalt tatsächlich vorliegt. In den bis jetzt untersuchten
Fällen von Heimweh wurde immer eine gestörte Entwicklung des Ödipus¬
komplexes gefunden. Wenn das Heimweh hauptsächlich an den gleich¬
geschlechtlichen Elternteil gebunden war, so lag der gewöhnliche Ödipushaß
vor; wenn die Hauptperson des Heimwehgefühls eher der gegengeschlechtliche
Elternteil war, fanden sich bei Knaben negative Gefühle, weil sie sich als
von der Mutter vernachlässigt betrachteten. Es mag ein Zufall sein, daß sich
bis jetzt das „gegengeschlechtliche Heimweh“ heim Mädchen noch nicht
beobachten ließ.
Neue Mitglieder: Dr. H. G. Rümke, Albrecht Dürerstraat 6, Amsterdam;
Dr. P. H. Versteeg, Javastraat 3, Haag; Dr. A. M. Blök, Wassenaarsche weg 39,
Haag.
A. E n d t z
Sekretär
New York Psychoanalytic Society
II. Quartal 1931
28. April: Dr. Gregory Zilboorg: Probleme der Pathogenese der
Schizophrenie. Der Autor referiert Freuds Schriften über das Thema der
Schizophrenie mit besonderem Hinweis auf die Analyse des Wolfsmannes,
inklusive des Nachtrags von Ruth Mack-Bruns w ick. Auf Grund
seiner eigenen Erfahrung in der Analyse Schizophrener postuliert er das
Vorhandensein einer infantilen Hysterie in diesen Fällen, mit späteren Ver¬
suchen, durch neurotische Konstruktionen zu einer Lösung des Ödipuskomplexes
zu gelangen. Die Unmöglichkeit einer Lösung mit Hilfe neurotischer Mecha¬
nismen macht schließlich eine Konfliktlösung auf psychotischer Basis notwendig.
Korrespondenzblatt
437
26. Mai. Dr. David M. Levy: Kindliche Hypochondrie. Beobachtungen
an einer Anzahl von Kindern im Alter von fünf Jahren bis zur Pubertät.
Beschreibung der neurotischen Mechanismen in diesen Krankheitsfällen wie
auch des sozialen Hintergrunds, auf dem sich die Konflikte abspielten.
Bertram D. Lewin
Sekretär
Societe Psychanalytique de Paris
II. Quartal 1931
21. April. Dr. G. Roheim: Über die Resultate meiner Beobachtungen
bei den Aruntas in Australien. — Die Diskussion beschäftigte sich haupt¬
sächlich mit der Bedeutung der Pubertätsriten.
19. Mai. Mme Odier : Beitrag zum Studium des weiblichen Über-Ichs. —
Bericht über zwei charakteristische Fälle, mit der Schlußfolgerung, daß das
Mädchen schwerer unter der Rivalität mit der Mutter leidet als der Knabe
unter der mit dem Vater, weil sie sich nicht leicht von ihrem ersten
libidinösen Objekt ablöst. — Diskussion.
4. Juni. Dr. Hesnard: Der Mechanismus der Hypochondrie.
16. Juni. Dr. R. de Saussure: Muß man in der Analyse normative
Gesichtspunkte anwenden ? _ _,
Dr. Aliendy
Sekretär
Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse
II. Quartal 1931
2. Mai. Pfarrer Dr. Pfister (Zürich): „Aus der Analyse eines Bud¬
dhisten “, „Hamlet am Schachbrett“. Beide Arbeiten erschienen in der „Psycho¬
analytischen Bewegung “.
Diskussion: Sarasin, Blum, Geiser, Pfister.
9. Mai. H. Zulliger (Ittigen): „Teufelsdreck, die Arzenei“, Erschienen
in der „Psychoanalytischen Bewegung“.
Diskussion: Sarasin, Kielholz, Pfenninger, Frau Behn-Eschenburg, Furrer,
Behn-Eschenburg, Prof. v. Gonzenbach (a. G.), Schultz (a. G.), Zulliger.
6. bis 7. Juni. Dir. Dr. R e p o n d (Malevoz): „Le Service medico-pedagogique
ä Malevoz. — Ref. gibt einen Bericht über Entstehung, Organisation,
Zweck und Ziel des „Service medico-pedagogique“, einer durch ihn veran-
laßten Institution des Kanton Wallis, die unter psa. Gesichtspunkten geleitet
wird. Dissoziale und Kriminelle im jugendlichen Alter sollen nicht einfach
nur administrativ oder richterlich „versorgt“ oder bestraft werden. Man will
sie behandeln, und es zeigten sich bereits Erfolge.
Frl. G. Guex (a. G.): „Aus der Praxis des Service medico-pedagogique“. —
Von den siebzig Jugendlichen, die bis heute der jungen Institution zugeführt, von
psa. orientierten Ärzten untersucht und unter ihrer Leitung nacherzogen wurden,
war nur ein geringer Prozentsatz Neurotiker. Es handelte sich in der Mehrzahl
um Verwahrlosungsfälle. Im einzelnen berichtet Ref. über eine Diebsbande
und einen dissozialen Jungen, dessen Behandlung und Heilung.
438 Korrespondenzblatt
Diskussion: Sarasin, Repond, Nunberg (a. G.), Zulliger, Frau Behn-Eschen-
burg, Flournoy, Blum, Benoziglio (a. G.), Frl. Guex (a. G.).
2 7. Juni. Dr.H. Behn-Eschenburg (Zürich): „F. Hodlers Parallelismus“
Erschienen in der „Psychoanalytischen Bewegung“.
Diskussion: Sarasin, Pfister, Blum, Furrer, Behn-Eschenburg.
Geschäftliche Sitzung : Der bevorstehende Kongreß wird in seiner Organisation
durch b espr o ch en.
Als Ehrenmitglieder wurden einstimmig gewählt:
Dr. Eit i n g o n, Berlin,
Dr. J o n e s, London.
7. Juli. Dr. H. Schultz (Zürich): „Zur Analyse einer Chorea minor“.
An einem Krankheitsfalle wird gezeigt, wie dieser vorerst nicht analysier¬
bare Fall durch pädagogische, von psa. Einsicht geleitete Maßnahmen unter
Ausnutzung eines Milieuwechsels und der homosexuellen Tendenzen der
Patientin nach und nach dermaßen verändert wurde, daß man ihn mit einer
PsA. angehen konnte.
Diskussion: Sarasin, Pfister, Blum, Furrer, Kielholz, Frau Behn-Eschenburg,
Schultz.
Geschäftliche Sitzung: Es werden einstimmig in die Gesellschaft aufgenommen:
Frau M. Zulliger, Ittigen,
Dr. H. Schultz, Zürich,
Dr. H. N u n b e r g, Lausanne.
Hans Zulliger
Sekretär
Wiener Psychoanalytische Vereinigung
II. Quartal 1931
15. April 1931. Vortrag Frl. Berta Born stein (Berlin, a. G.): Phobie
und Behandlungsgeschichte eines zweieinhalb]ährigen Kindes. Diskussion: Frau
Deutsch, Federn, Frl. Freud, Hoffer, Jekels, Nunberg, Schur (a. G.), Steiner,
Stenge].
29. April 1931. Kleine Mitteilungen und Referate.
1) Frau Estelle Levy (a. G.): Eine Phobie vor Nachtfaltern. Diskussion:
Frl. Bornstein (a. G.), Federn, Jekels, Sterba.
2) Dr. Hit sch mann: Die Angst um den geliebten Nächsten. Diskussion:
Federn, Hartmann, Hoffmann, Jekels, Steiner.
3) Frau Dr. Buxbaum: Reaktion auf Fragestunden in der Klasse.
Diskussion: Frl. Bornstein (a. G.), Federn, Hitschmann, Hoffer, Hoffmann,
Jekels, Prof. Pappenheim, Frau Reich.
6. Mai 1931. Festsitzung zur Feier des 75. Geburtstages von Prof. F r eud
Dr. Fe de r n: Begrüßung und Einführung.
Festvortrag Dr. S. Ferenczi (Budapest, a. G.): Die Kinderanalyse beim
Erwachsenen. Diskussion: Angel, Frau Deutsch, Federn, Frl. Freud.
Nachwort: Dr. Federn.
20. Mai 1931. Kleine Mitteilungen und Referate.
Korrespondenzblatt
439
1) Dr. Federn: Dank Prof. F r e u d s für die Feier seines 75. Geburts¬
tages. Bericht über die Festsitzung des Akad. Ver. f. med. Psychologie zu
Freuds 75. Geburtstag. Beglückwünschung Doz. Dr. Fried j ungs
zum 60. Geburtstag. Bekanntgabe des Ablebens des Gastes der Vereinigung,
Oberstabsarzt Dr. Raimund Hofbauer, und Würdigung.
2) Dr. Bi bring: Beiträge zur Sexual-Psychopathologie. Diskussion: Frau
Deutsch, Federn, Hitschmann, Nunberg.
27. Mai 1931. Vortrag Pfarrer Dr. Oskar Pfister (Zürich, a. G.): Zur
Analyse eines Buddhisten. Diskussion: Eidelberg, Federn, Hartmann, Jekels,
Wälder.
17. Juni 1931. Kleine Mitteilungen und Referate.
1) Dr. Ullrich (Philadelphia, a. G.): Eine typische Art von Verschreiben
in der englischen Sprache. Diskussion: Federn, Wälder.
2) Dr Federn: Beispiele für Mechanismen des Wortwitzes im Traum.
Diskussion: Frl. Freud, Jokl, Frau Reich.
3) Dr. Bibring: Eine Rettungsphantasie mit feindseliger Bedeutung.
Diskussion: Frau Deutsch, Federn, Hitschmann, Stengel.
4) Dr. Hitschmann: Die Festrede eines Neurotikers. Diskussion : Doz.
Friedjung.
5) Dr. Steiner: Ein anerkanntes psychoanalytisches Gutachten über
einen Kriminalfall.
Dr. Jokl
Schriftführer
Brasilien
Im Jahre 1927 wurde, wie bereits berichtet, in Sao Paulo auf die Initiative
von Durval Marcondes hin die „Societe Bresilienne de Psychanalyse“
gegründet. Herr Porto Carrero teilt uns nun über die Schicksale der
psychoanalytischen Bewegung in Brasilien seit 1927 folgendes mit:
1928: Kurse über Psychoanalyse (23 Sitzungen), gehalten von J. P. Porto-
Car r e r o und Deodato M o r a e s in der Association Bresilienne pour
l’Education in Rio de Janeiro.
Veröffentlichung „Psychanalyse Educarao“, ein kleines Buch für Erzieher,
von D. M o r a e s.
Ausdehnung der Societe Bresilienne de Psychanalyse, die nunmehr zwei
Zweigvereinigungen umfaßt, eine in Rio, die andere in Sao Paulo. Präsident
für zwei Jahre: Herr Professor Franco da Rocha, Sao Paulo.
Veröffentlichung der ersten Nummer der „Revista Brasileira de
Psychanalyse“.
1929: Kurse über Psychoanalyse in Sao Paulo, gehalten von D. Marcondes.
Vier Sitzungen über Psychoanalyse im Kursus über neuropsychiatrische
Fortbildung der medizinischen Fakultät an der Universität Rio von C. Ayrosa
und Porto-Carrero über die Themen: Einführung in die Psychoanalyse;
Psychoanalyse und gerichtliche Medizin; Psychoanalyse der Neurosen.
440
Korrespondenzblatt
— Latein-amerikanischer Kongreß für Neuropsychiatrie und Gerichts¬
medizin: Es gab eine Abteilung für Psychoanalyse, in der Berichte gegeben
wurden von D. Marcondes (Sao Paulo), Artur Ramos (Bahia), Murillo
C a m p o s (Rio) und von Porto-Carrero.
— Veröffentlichung meiner Bücher „Ensaios de Psychanalyse“ und
„Psychanalyse et des applications medico-legales“, Rio, 1929.
1930: Psychoanalytisches Seminar (Besprechung der Werke Freuds durch
Murillo C a m p o s und C. A y r o s a.
Zusammenstellung eines brasilianischen psychoanalytischen Lexikons.
Außerdem hatten wir:
Brasilianischer Kongreß für Neuropsychiatrie: Berichte von D. Marcondes
(Sao Paulo), Murillo Campos (Rio), C. Ayrosa (Rio) und von mir.
Publikationen von Porto-Carrero:
„Ce que nous attendons de nos fils“ — Schola, Nr. 3, 1930, Rio.
„Education sexuelle“ — Archive d’Hygiene mentale, Rio, Nr. 3, 1930.
Ich habe außerdem einen Vortrag gehalten in der Association Chrdtienne
Feminine über das Thema „Ratschläge für Mütter“ (sexuelle Erziehung), einen
Vortrag im Institut des Avocats, Rio, über „Psychoanalytischer Beitrag zum
Strafrecht“. Seit Oktober 1929 habe ich den Lehrstuhl für gerichtliche
Medizin an der Juristischen Fakultät der Universität Rio als Professeur
Substitut; ich habe die Psychoanalyse in mein Lehrprogramm aufgenommen
und halte meine Kollegs über gerichtliche Medizin vom Standpunkt der
Psychoanalyse aus.
Im Jahre 1930 habe ich außerdem an den „Congres d’Hygiene Mentale“
in Washington meinen Bericht über „Geschlecht und Kultur“ geschickt.
193 1 : Herr Prof. B r i q u e t, Sao Paulo, hat das Werk von Jones
„Über Psychoanalyse“ ins Portugiesische übersetzt. Herr Prof. Franco
da Rocha hat „Die Lehre Freuds“ veröffentlicht. Porto-Carrero hat auf
Aufforderung der „Societe Bresilienne de Psychanalyse“ und der „Ligue
Bresilienne d’Hygiene Mentale“ einen Kurs über Psychoanalyse abgehalten.
In dem neuen Gesetz über den Unterricht an den Universitäten ist an den
Medizinischen Fakultäten ein Kurs über Psychoanalyse vorgesehen.
Es ist leider nicht möglich gewesen, die Veröffentlichung unserer
Zeitschrift fortzusetzen.
ZU-
A
Mitteilung der Redaktion
Dr. Sandor Radö, Schriftleiter der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“
und der „Imago“, wurde von der „New York Psydioanalytic Society“ für die Dauer
eines Jahres an das neu errichtete Psychoanalytische Institut nach New York berufen.
Während seines New Yorker Aufenthaltes wird ihn in der Redaktion beider Zeit¬
schriften Dr. Fenichel vertreten.
Es wird gebeten, bis auf weiteres alle für die genannten Zeitschriften bestimmten
redaktionellen Zuschriften und Sendungen
von den europäischen Ländern aus an Dr. Otto Fenichel, Berlin
W50, Nürnberger Platz 6
von den überseeischen Ländern aus an Dr. Sandor Rado, 12 East 86 th Str.,
New York City (U. S. A.), zu richten.
1) Die in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ veröffentlichten Beiträge werden
mit Mark 50.— pro sedizehnseitigem Druckbogen honoriert.
2) Die Autoren von Originalbeiträgen, sowie von Mitteilungen und Referaten im Umfange
über zwei Druckseiten erhalten zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes.
3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache
zur Verfügung stellen, trägt der Verlag; die Autoren solcher Beiträge erhalten kein Honorar.
4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenschrift (nicht eng
geschrieben). Es ist erwünsdit, daß die Autoren eine Kopie ihres Manuskriptes behalten. Zeichnungen
und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Die Zeichnungen sollen
tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst reproduziert werden kann.
5) Mehrkosten, die durch Autorkorrekturen, d. h. durch Textänderungen, Einschaltungen,
Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursacht werden, werden vom Autoren¬
honorar in Abzug gebracht.
6) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch und auf Kosten des Autors angefertigt.
Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge
bis 8 Seiten für 25 Exemplare Mark 15.—, für 50 Exemplare Mark 20.—
von 9
ff IÜ „
» 25
ff
ff 25.-,
» 50
n
ff 35-—
» 17
ff 24 „
» 25
ff
ff 35* »
» 50
ff
» 50.—
» 25
» 32 „
» 25
ff
» 45.-,
» 50
ff
» 65 .-.
Mehr als 5 ° Separata werden nicht angefertigt.
7) Alle obigen Bedingungen gelten auch lür die Zeitschrift „Imago“.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XVII, Heft 3
(Ausgegeben Ende November 1931 )
Seite
Sigm. Freud: Über libidinöse Typen.315
Sigm. Freud: Über die weibliche Sexualität...317
Therese Benedek: Todestrieb und Angst ..333
Berta Bornstein: Die Phobie eines zweieinhalb jährigen Kindes.. 344
Paul Schilder: Über Neurasthenie.368
Ella Sharpe: Über Sublimierung und Wahnbildung.57g
KASUISTISCHE BEITRÄGE
Hans Zulliger: Alkoholismus als passageres Symptom ..392
Richard Sterba: Zur Gleichstellung von Mutter und Dirne.396
Herbert Wotte: Ein erlebtes Stück Traum Symbolik .397
DISKUSSIONEN
„Nachtrag zu Freuds ,Geschichte einer infantilen Neurose 4 “. III) J. Härnik: Erwiderung
auf Mack Brunswicks Entgegnung 400. — Ruth Mack Brunswick: Schlußwort 402.
REFERATE
Aus den Grenzgebieten:
Malino wski: Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien (Reich) 403. —
Reich: Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral ( Fenicliel) 404. — Reich: Die
Sexualnot der werktätigen Massen ( FenicheL) 408. — Baege: Naturgeschichte des Traumes
(Grober) 409. — Jezower: Das Buch der Träume ( Gräber ) 409. — Schneider: Die
Bedeutung des Rorschachschen Formdeutungsversuches zur Ermittlung intellektuell ge¬
hemmter Schüler (Grober ) 410.
Aus der psychiatrisch-neurologisehen Literatur:
Steyerthal: Pathologie des Unbewußten ( Hitschmann) 411. — Moll: Psychologie und
Charakterologie der Okkultisten ( Hitschmann ) 411. — Morgenthaler: Die Pflege der
Gemüts- und Geisteskrankheiten (Bally) 412.
Aus der psychoanalytischen Literatur:
Medical Review of Reviews, „Psychopathology Number“ hg. von D. Feigenbaum
( Fenichel) 412. — Berkeley-Hill: Flatus and Aggression ( Fenichel) 413. —
Roellenbleck: Psychoanalytische Literatur (Fenichel) 413. — Kunz: Die existentielle
Bedeutung der Psychoanalyse usw. (Gero) 413. — Bernfeld: Das Widerstandsargument
der Psychoanalyse (Fenichel) 415. — Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse (Hitsch¬
mann) 415. — Binswanger: Traum und Existenz (Gero) 416.
Tagungen wissen sch aft lieber Gesellschaften:
Bericht über den VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psychotherapie in Dresden
(14. bis 17. Mai 1931) (Vowinckel) 417.
KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
I) Mitteilungen des Zentralvorstandes: Kongreß 419. — Josef K. Friedjung zum
60. Geburtstag (Hitschmann) 419. — Eduard Hitschmann zum 60. Geburtstag (Federn) 420.
— Dr. Paul Federn (Die Redaktion) 423. — II) Mitteilungen der Internationalen Unterrichts¬
kommission 423. — III) Berichte der Zweigvereinigungen 426.
Alle diese Zeitschrift betreffenden redaktionellen Zuschriften und Sendungen bitte zu richten
von den europäischen Ländern aus: an Dr. Otto Fenichel, Berlin W50,
Nürnberger Platz 6, von den überseeischen Ländern aus: an Dr. Sändor
R a d 6, 12 East 86 th Street, New York City (U. S. A.),
alle geschäftlichen Zuschriften und Sendungen an:
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, In der Börse.
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, 1 „ Börsegasse 11 . — Herausgeber:
Prof. Dr. Sigm. Freud. Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Adolf Josef Storfer, Wien, I., Börsegasse 11. — Druck:
Elbemühl Papierfabriken und Graphische Industrie A. G., Wien, III., Rüdengasse 11. (Verantwortlicher Druckereileiter:
Karl Wrba, Wien.)