Internationale Zweitschrift
für i sycnoanalyse
Heraus3e5eDen von JlglTU F feudi
XVIIL Band
1932
Heft 2
Das Icngefühl im I räume
Vortrag in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am Z. Dezember 1931
Von
Paul Federn
Wien
I) JJas Icnserünl
Zur Einleitung will ich die wichtigsten Ergebnisse meiner bisherigen
Untersuchungen des Ichgefühls und die aus ihnen sich ergebende Auffassung
des Ichs hier wiederholen, weil ich nicht annehmen darf, daß jeder Leser,
der sich für eine Untersuchung des Traumphänomens interessiert, auch bereit
ist, meine Arbeiten in früheren Jahrgängen aufzuschlagen und neuerdings
vorzunehmen.
Das Ichgefühl ist die Sensation, die man jederzeit von seiner eigenen
Person hat, das Eigengefühl des Ichs von sich selbst. Ich begründe damit
neuerdings die Auffassung, welche am stärksten Österreicher vertritt,
daß das Ich keine bloße Abstraktion sei, um die Ichbezogenheit der Akte
und Erlebnisse mit einem Worte mitzuteilen; das Ich ist auch nicht die
Summe dieser Ichbezogenheiten allein, es ist auch nicht bloß die Summe
der Ichfunktionen (Nunberg), auch nicht bloß die „psychische Reprä-
sentanz" dessen, was sich auf die eigene Person bezieht (S t e r b a). Das alles
gehört zum Ich, es sind Leistungen, die im Ich oder vom Ich aus geschehen.
Zum Ich gehört aber viel mehr, nämlich auch das subjektive seelische Selbst-
erlebnis dieser Funktionen; dieses Selbsterlebnis ist eine bleibende, wenn
auch nie gleichbleibende Einheit, die nicht abstrakt, sondern wirklich ist.
Int. Zeits&r. £. Psychoanalyse, XVEH— i ^^ ,0
J
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
:l
II :
iV;:'
r 4 6 Paul Federn
rill!!
Diese Einheit bezieht sich auf die Kontinuität der Person in zeitlicher, räum-
licher und kausaler Hinsicht, diese Einheit ist objektiv erkennbar und wird
stets subjektiv wahrgenommen und gefühlt. Das heißt, wir fühlen und wissen
ständig, daß die Kontinuität unseres Ichs auch über eine Unterbrechung
durch Schlaf oder Bewußtlosigkeit hinweg fortdauert, daß die Vorgänge in
uns, auch wenn sie durch Vergessen und Unbewußtheit unterbrochen werden,
eine dauernde Ursache in uns haben, daß unser Körper und unsere
Psyche dauernd zum Ich gehören. All dies haben viele Autoren als
„Ichbewußtsein" bezeichnet. Wenn ich das auch schon vorher gelegentlich
von Psychologen und auch von F r e u d gebrauchte, von Laien als selbst-
verständlich angewendete Wort „Ichgefühl" als integrierenden Teil
des Ichs hervorhebe und mich nicht mit dem Worte Ich b e w u ß t s e i n
oder Ich b e w u ß t h e i t begnüge, so ist das nicht eine willkürliche Bevor-
zugung dieser Bezeichnung, sondern die Rücksicht auf folgende Beobachtung:
Das Selbsterlebnis des Ichs erschöpft sich nicht im Wissen und in der Be-
wußtheit von den oben angeführten Einheitsqualitäten des Ichs, sondern
enthält auch ein sinnliches Erleben, welchem das Wort „Gefühl" oder Sen-
sation gerecht wird, während die Bezeichnung Ichbewußtheit das Gefühls-
mäßige begrifflich nicht enthält. Die Pathologie, sowohl die ärztliche als die
Alltagspathologie des Schlafens, der Ermüdung, der Zerstreutheit und Träume-
rei lassen uns das Bestehen eines „Ich g e f ü h 1 s" vom „Ich b e w u ß t s e i n"
sehr gut, oft ganz exakt unterscheiden. Erst wenn das „Ich g e f ü h 1" man-
gelt, bleibt das bloße, leere Ichbewußtsein allein bestehen; dieses bloße, leere
Wissen, daß man ein Ich hat, oder daß man ein „Ich" ist, ist aber ein
pathologischer Zustand, in dem wir schon die Entfremdung und Depersona-
lisation erkennen. Die Bezeichnung „Ichbewußtsein" würde daher nur dann
dem Erlebnis des Ichs gerecht werden, wenn diese Art „Entfremdung" der
normale Zustand aller Menschen wäre.
Es ist auch unrichtig zu meinen, daß Bewußtsein und Ichgefühl dasselbe
seien, weil von vielen Autoren, zuerst glaube ich von J a n e t, das Be-
wußtwerden als das „Dem Ich-Zugehörig-Werden" beschrieben und definiert
wurde. Wir wissen heute, daß die Ichzugehörigkeit bewußt oder unbewußt
werden, sein und bleiben kann; und auch vom Ichgefühl lehrt uns die Pa-
thologie, daß es für vorher bewußte Ichgebiete schwinden und wieder her-
gestellt werden kann. Für jeden solchen Vorgang kann diese Bewußtheit von
einem „Ichgefühl" begleitet sein oder nicht. In letzterem Falle weiß
man nur, daß das Erlebnis — eine somatische oder äußere Wirklichkeit, eine
Erinnerung, feine Reaktion auf Wirkliches oder Erinnerung, eine bloße
Affekterregung — in einem vorgeht oder vorgegangen ist; aber für dieses
Wissen besteht ein Fremdheitsgefühl oder, besser gesagt, es entsteht dafür
in Entfremdungsgefühl. Daß das Wesentliche am „Ich e r 1 e b n i s s e" eine
Sensation und nicht ein Denken oder Wissen ist, wurde zuerst bei den patho-
logischen Störungen des „Ichgefühls" bemerkt, und seitdem das Symptom
der Entfremdung bekannt wurde, heißt es immer Entf remdungs g e f ü h 1,
nie Entfremdungs wissen oder Entf remdungs bewußtheit.
Das „Ichgefühl" ist also das Gesamtgefühl der eigenen lebendigen
Person; es bleibt übrig, wenn alle gedanklichen Inhalte fehlen, ein Zustand,
der praktisch nur für kürzeste Zeitspannen eintritt. Dieses Gesamtgefühl des
Ichs" vereinigt stets teils wechselnde, teils gleichbleibende Bewußtseins-
inhalte; dadurch bedingt das jeweilige „Ichgefühl" auch das subjektive volle
Erlebnis der Ich-Bezogenheit auf den Akt. Ich halte es für richtiger, von der
,Ich-Bezogenheit auf einen Akt", als von der „Ich-Bezogenheit eines
Aktes" zu sprechen, wenigstens soweit es die Untersuchung des „Ichgefühls"
betrifft. (Darin liegt aber keine Polemik gegen Schilder, der andere
Ziele bei seiner Darstellung der „Ich-Bezogenheit" des Aktes verfolgte.)
Wenn wir die stets wechselnde Erstreckung des „Ichgefühls" auf verschie-
dene Inhalte und seine trotzdem stets bestehende Vereinigung aller Ich-Be-
zogenheiten und Ich-Anteile zu einem Ganzen uns überlegen, so kommen
wir zu dem Schlüsse, daß das „Ich" stets Ganzheits- und Teil-Erlebnis
enthält und daß es stets analytisch und synthetisch untersucht werden muß.
Die Existenz des „Ichgefühls" läßt die so verführerische Scheidung in Ganz-
heits- und Teilbetrachtung als irreführend ablehnen. Auch die Psychoanalyse
war stets sowohl Teilerfassung als auch Ganzerfassung. Meine Untersuchun-
gen über das „Ichgefühl" heben diese doppelte Richtung der Psychoanalyse
neuerdings hervor.
Der Theoretiker könnte nochmals die Frage einwenden, ob nicht das
hier als „Ichgefühl" Bezeichnete doch bloß ein intellektuelles Erleben dessen
sei, was gleichbleibt, während stets wechselnde Erlebnisse, Bezogenheiten und
Reaktionen das Bewußtsein passieren: also doch nur ein W i s s e n vom Ich,
dessen Inhalt der Beachtung entgeht, weil es eben das unverändert Gleiche
ist. Diese Frage wird ausschließlich durch die Beobachtung erledigt, daß
auch das reinste Wissen von dem eigenen „Ich" als etwas Mangelhaftes,
Peinliches, Unerfülltes und Unerfüllendes, ja der Angst Nahes erlebt wird,
daß also auch für das reinste „Ich-Erlebnis" zur Herstellung der Normalität
etwas Gefühlsartiges hinzugehört. 1
i) Dieses Problem wird davon nicht tangiert, daß man etwa die Gefühle selbst als
x 4 8 Paul Federn
■■:,;
I
So ist das „Ichgefühl" der einfachste und doch umfassendste Zustand, der
vom eigenen Sein in der seienden Person ausgelöst wird, auch wenn kein
äußerer oder innerer Reiz es trifft. Freilich würde, wie gesagt, ein dauernder
Zustand von reinem „Ichgefühl" als Bewußtseinsinhalt nur ganz kurz be-
stehen können, denn der Reize sind zu viele stets bereit, in das Bewußtsein
zu treten. So wollen wir wiederholend formulieren: Mit dem Eigenbewußt-
sein ist auch ein Eigengefühl des „Ichs" verbunden, welches wir kurz als
„Ichgefühl" bezeichnen.
In meinen früheren Aufsätzen 2 habe ich das „Ichgefühl" näher unter-
sucht und für pathologische und normale Fälle gezeigt, daß das somatische
und das seelische „Ichgefühl" sich sondern können, daß wir einen Kern des
„Ichgefühls", der dauernd bleibt, innerhalb der wechselnden Ausdehnung
des Ichgefühls zu unterscheiden haben, und insbesondere daß wir genau emp-
finden, ob, wie stark und wie weit die geistigen Vorgänge und unser Körper
von „Ichgefühl" besetzt sind; wir fühlen bei ihrem Wechsel die „Grenzen"
unseres Ichs. Wann immer ein Eindruck uns trifft, sei er somatisch oder psy-
chisch, so trifft er in der Norm eine mit Ichgefühl besetzte Grenze unseres
„Ichs". Wird unser Ichgefühl an dieser Grenze nicht
hergestellt, so fühlen wir den betreffendenEindruck
entfremdet. Wo aber die Ichgefühlsgrenze nicht durch einen Eindruck
in Anspruch genommen wird, ignorieren wir den Umfang des Ichs. Wir kön-
nen am „Ichgefühl", und zwar sowohl beim seelischen als auch beim kör-
perlichen, seine Aktivität oder seine Passivität angeben. Die Qualität des
„Ichgefühls" ist bei den verschiedenen Menschen auch davon abhängig,
welche speziellen Triebe ihre Person dauernd beherrschen oder jederzeit be-
reit sind, sich geltend zu machen. Wir haben ferner die Entdeckung Nun-
bergs bestätigt, daß alle Neurosen und Psychosen mit einem kürzer oder
länger dauernden Zustand von Entfremdung beginnen. Wir fanden auch,
daß die Zurückziehung des Ichgefühls von einer „Ichgrenze" als Abwehr
seitens des Ichs auftreten kann; dieser Abwehrmechanismus kann bestehen
bleiben oder er kann den Verdrängungsvorgang einleiten. Die Entwicklung
des „Ichgefühls" — qualitativ und quantitativ — begleitet die Entwicklung
Wahrnehmung von vegetativen Vorgängen bezeichnet und solche Wahrnehmungen denen
nut intellektuellem Inhalte gleichsetzt (Behaviourismus). Denn wir gehen bei unserer Unter-
suchung von der empirischen Tatsache aus, daß zwischen intellektuellen und Gefühlserleb-
nissen ein Unterschied besteht.
2) Variationen des „Ichgefühls". Int. Ztschr. f. PsA. XII, 1926. — Narzißmus im
Ichgefüge. Ebd. XIII, 1927. - Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus. Ebd. XV,
1929.
d s Individuums, wobei sich die Stadien der Libidoentwicklung auch in der
Art des Ichgefühls zeigen; es kann daher das Ichgefühl in Qualität und Aus-
dehnung an frühere Stadien fixiert bleiben oder auf frühere Stadien regre-
dieren.
Die Hypothese nun, welche sich aus alldem für die psychoanalytische
Auffassung des „Ichgefühls" ergibt, ist die, daß das „Ichgefühl" die ur-
sprüngliche narzißtische Besetzung des „Ichs" ist; sie ist als solche anfangs
objektlos und wurde von mir als medialer Narzißmus bezeichnet.
Erst viel später, nachdem objektlibidinöse Besetzungen die Ichgrenze tra-
fen beziehungsweise von ihr erfaßt und wieder verlassen wurden, entsteht
der reflexive Narzißmus.
Diese Hypothese wird durch viele klinische Beobachtungen gestützt. Ist
sie richtig, so hat uns die Untersuchung des „Ichgefühls" eine Arbeitsmethode
gegeben, um Näheres über die Besetzungen mit narzißtischer Libido und
mittelbar auch über das Verhalten der Objektbesetzungen zu ermitteln.
Der Traum nun ist ein Untersuchungsmaterial, das wohl bei gesunden
Menschen so regelmäßig auftritt, daß man schwer entscheiden kann, ob man
es der normalen Psychologie oder der Psychopathologie zurechnen soll. In
bezug auf das „Ich" im Traume handelt es sich aber jedenfalls um einen
gestörten Zustand. Daher reiht sich die vorliegende Untersuchung des „Ich-
gefühls" im Traume folgerichtig an die klinische Untersuchung der Ent-
fremdung an. Ich werde daher zuerst die Beziehungen von Entfremdung,
Traum und Schlaf, hauptsächlich nach den Angaben von entfremdeten Per-
sonen, besprechen und daran anschließend erst unser eigentliches Thema, die
Qualität und Quantität des „Ichgefühls" während der Träume, darstellen.
11) Entfremdung und Iraumzustand
Sehr viele Entfremdete sagen, daß sie die Wirklichkeit wie im Traume
sehen, oder gar, daß sie sich selbst wie im Traume vorkommen. Diese Mit-
teilung ist überraschend und verlangt eine besondere Erklärung; sie wäre zu er-
warten gewesen, wenn wir träumend unserem Traume gegenüber ein ähnliches
Gefühl hätten, wie der Entfremdete der Wirklichkeit gegenüber. Dem ist
aber nicht so. Der Träumer erlebt seinen Traum als Wirklichkeit; das Über-
raschende, Abstruse, ja Unmögliche manches Geträumten hindert nicht, daß,
in Widerspruch mit aller im Traume erhalten gebliebenen Erfahrung, an
den Traum geglaubt wird, solange er abläuft. Der Entfremdete hingegen
I S° Paul Federn
t:!Ü i
I
T;
slli
muß sich zur Annahme der Wirklichkeit seiner Eindrücke geradezu zwingen.
Verstand und Vernunft, Erinnerung und das Schließen aus den Erinnerun-
gen zwingen ihn zur gedankenhaften Annahme dessen, wofür keine Evidenz
vorhanden ist. Im Traume hingegen mag die verstandesmäßige Erfahrung
allem widersprechen, trotzdem ist die Wirklichkeit des Geträumten (von
bekannten Ausnahmen abgesehen) immer evident.
Wir verstehen aber die Angabe des Entfremdeten, die Welt sei „traum-
haft", sobald wir beachten, daß sie nur retrospektiv gemacht wird, soweit
es sich nicht um schwer Depersonalisierte handelt. Denn in der Erinnerung
nach dem Erwachen hat auch der Traum für jeden etwas Fremdartiges;
dies bezieht sich auf seine Inkohärenz und Flüchtigkeit, auf das Unlogische
des Inhalts und auch auf die Art, wie der Traum vorüberläuft; in der Er-
innerung sind auch die Traumgestalten meist schattenhaft, gewichtslos, un-
wirklich. Die sekundäre Bearbeitung verbessert nicht nur die innere Logik
des Traumes, sie verändert ihn meistens auch zu einem Vorgang, der einer
wachen Erlebnisreihe eher gleicht. Träume ohne sekundäre Bearbeitung sind
in der Erinnerung mehr fremdartig. Es kann wohl sein, daß gerade diese
Fremdartigkeit die sekundäre Bearbeitung herbeiführt. So kommen wir zu
dem merkwürdigen Ergebnis, daß während des Vor-sich-Gehens Traum und
Entfremdung grundverschieden verlaufen und erst im zurückbleibenden Ein-
druck einander ähnlich werden. Die Träume waren, wenn wir von ihrer
Bedeutung als Weg zum Unbewußten und als Forschungsgegenstand absehen
und besondere persönlich bedeutsame Träume ausnehmen, — ein Nichts,
eine Serie unwirklicher Bilder, die nun ganz vergangen ist, und von der auch
die Erinnerung von selber leer wird und verblaßt. Auch für den Entfrem-
deten ist aber infolge seiner Störung alles, was er entfremdet erlebt hat,
gleichgültig; es ist eine Vergangenheit, die nicht vergegenwärtigt werden
kann; vergegenwärtigt bleibt nur die Erinnerung, daß er seinen krankhaften
Zustand gehabt hat. Schwer Entfremdete sagen sogar, daß ihre Wirklichkeit
weniger lebendig sei als ihr Traum. Und das ist richtig, denn die Entfrem-
deten träumen nicht anders als normale Menschen.
Eine weitere Analogie des Traumes mit der Entfremdung besteht darin,
daß der Träumer passiv vom Traume sozusagen überfallen wird, und
daß der Traum sodann an dem passiven Träumer oder mit ihm abrollt.
Der Träumer fühlt sich auch insofern dem Traume gegenüber passiv, als er
— in der Regel — keines der Traumelemente festhalten kann, um sie über-
legend zu beurteilen, er kann selten auf sie reagieren oder auf etwas zurück-
kommen; denn der Traum bricht in fertigen Gebilden in das Bewußtsein, wel-
fr
Das Ichgefühl im Traume *$^
. er jeweilig, und zwar nur in sehr eingeengtem Ausmaß, erweckt, um es
sofort wieder einschlafen zu lassen. Im Traume fehlt vor allem der Wille.
Sc h e r n e r hat diesen Mangel der Zentralität des „Ichs" und die Schwäche
des Willens in besondes plastischen Worten in seinem Buche an vielen Stellen
geschildert
Auch der Entfremdete fühlt sich passiver gegenüber dem Erlebten als der
Gesunde. Er tut es aber aus ganz anderen Gründen als der Träumer. Er
wird nämlich immer wieder auf das Beachten seines Zustandes abgelenkt,
w ird unaufmerksam und im Interesse gestört; er ist also infolge seines
Leidens aller Wirklichkeit gegenüber apathisch und passiv.
" Bis jetzt haben wir von bekannten Eigenheiten der zum Vergleiche ste-
henden Zustände gesprochen. Wenn wir nun unser Augenmerk auf das
,Ichgefühl" richten, von dem freilich die befragten Personen nicht von
selber sprechen, dann erfahren wir sofort etwas für beide Zustände Gemein-
sames: in beiden ist das „Ichgefühl" mangelhaft. Das gilt besonders von
dem schwer Depersonalisierten, dessen „Ich" weder an seinen Grenzen noch
auch in seinem Kerne mit vollem „Ichgefühl" besetzt ist. Der Mensch fühlt
dieses „Ich" nur partiell und mit verringerter Intensität und hat daher sub-
jektiv an Gewicht, an Wohlgefühl, an Geschlossenheit der Persönlichkeit
eingebüßt. Die Ich-Störungen sind im Traume und in der Entfremdung, wie
wir sehen werden, prinzipiell nicht die gleichen. Wir haben ja schon darauf
aufmerksam gemacht, daß der Traum als wirklich erlebt wird und das Ent-
fremdete als unwirklich: im Traume ist daher die Ichgrenze für das Ge-
träumte mit Ichgefühl besetzt, in dem Entfremdungssymptom die für das
Erlebte nicht. Gemeinsam ist aber beiden, daß weder der wache Verstand
den Entfremdeten die Unwirklichkeit des Erlebten, noch der, allerdings nur
partiell wache, Verstand den Träumer die Wirklichkeit des Geträumten als
Täuschung erkennen lassen kann. Keiner von beiden kommt gegen die ab-
norme Schwäche, resp. gegen die abnorme Stärke der „Ichgrenze", das heißt
ihrer Besetzung, auf. Auch die Ohnmacht infolge des Defektes der Ichbe-
setzungen ist für beide Zustände charakteristisch.
So haben wir Gründe gefunden, weshalb Entfremdete ihre Zustände als
„wie im Traume" bezeichnen. Der wichtigste ist der letztbesprochene, die
Erinnerung daran, daß das Ichgefühl mangelhaft war. Diese Ichstörung ist
keine Bewußtseinsstörung, kein Schwindelgefühl, keine Unklarheit, Ver-
dunklung oder Verschwommenheit, sondern eine Unvollständigkeit des „Ich-
gefühls". Bevor wir ihre Bedeutung suchen, wollen wir einige Beziehungen
zwischen Entfremdung und Schlaf besprechen.
Die klinische Beobachtung lehrt, daß die Entfremdungen in ihrer Inten-
sität und Ausdehnung bei den gleichen Kranken zu verschiedenen Zeiten
wechseln. Es gibt selten Kranke, welche konstant über Entfremdung in glei-
chem Ausmaße klagen. Meistens bringt auch bereits die Tatsache, daß s i e
mit dem Arzte sprechen, eine Verbesserung ihres Zustandes mit sich; ihr
Interesse, ihre Befriedigung daran, den Arzt zu interessieren und sein In-
teresse zu fühlen, bringen eine Steigerung der Besetzung der Ichgrenzen mit
sich, welche bei leichteren Fällen die Entfremdung anscheinend aufhebt
Meistens berichten solche Kranke, wenn sie bereits ihr Entfremdungsgefühl
als Symptom würdigen gelernt haben, wie seit der letzten Untersuchung die
Kurve der Entfremdungsgefühle resp. der Ichfülle verlaufen sei. Patienten
die zum erstenmal kommen - nämlich solche leichteren Grades — , spüren
in der Aufregung des ersten Besuches überhaupt keine Entfremdung, er-
wähnen eine solche gar nicht spontan, sondern müssen erst durch eine direkte
Frage darauf aufmerksam gemacht werden, daß auch diese Zustände den
Arzt etwas angehen. Immer wieder bestätigt sich die Erfahrung, daß solche
Kranke gerade dadurch, daß der Arzt auch von diesen subtilen Zuständen
ihres standigen Befindens etwas wissen will, daß er solche Entfremdungs-
zustände bei ihnen spontan vermutet, sofort volles Vertrauen zu ihm ge-
winnen. Die Kenntnis dieser Zustände ist schon deswegen von praktischer
Bedeutung für jeden Arzt, nicht nur für den Psychoanalytiker.
Obgleich aber solche leichtere Fälle über ihre Entfremdungszustände nur
im Imperfektum oder Perfektum berichten, besteht trotzdem eine Entfrem-
dung auch während der günstigen Bedingungen der Unterredung mit dem
Arzte; der Patient hat nur bereits vergessen, daß er in lang vergangenen ge-
sunden Zeiten einen weit stärkeren Kontakt mit der Welt und mit sich selbst
gehabt hat, einen Kontakt, der mit vollem Wohlgefühl verbunden war,
welches ihm heute nicht einmal mehr zum Vergleiche einfällt.
Die Stärke der Entfremdung hängt von vielen Bedingungen ab, welche
nicht bei allen Graden und Stadien der Krankheitsfälle in derselben Rich-
tung wirken. Es gibt Fälle, die entfremdet werden, sobald sie allein gelassen
werden, oder wenn sie sich verlassen fühlen, während die Gegenwart einer
mit Libido besetzten Person die Störung des Ichgefühls aufhebt oder wenig-
stens so vermindert, daß der Patient sich praktisch nicht entfremdet fühlt.
Diese Bedingung war es, welche so lange glauben ließ, daß die Entfremdung
in einer Zurückziehung der Objektlibido bestehe. In anderen Fällen tritt
Das Ichgefühl im Traume ij 3
Entfremdung gerade dann ein, wenn der Kranke unter Menschen kommt,
denen er Objektlibido zuwendet, in anderen Fällen gerade dann, wenn er
niemanden hat, für den er sich in der Gesellschaft aktuell interessieren
kann. Oft genügt anfangs die Zuwendung von Objektlibido auf eine an-
dere Person, um ihn vor Entfremdung zu schützen, bald aber erschöpft sich
die Fähigkeit, seine Ichgrenze mit Ichgefühl zu besetzen, und mit einem
Schlage überfällt ihn das Gefühl der Fremdheit und Unwirklichkeit der
äußeren resp. der inneren Wahrnehmung. Der Grad der Entfremdung hängt
in den meisten Fällen auch wesentlich von somatischen Zuständen ab; ins-
besondere sind es Müdigkeit, Erschöpfung, aber auch Anstrengung und An-
spannung, welche langsam oder schnell, allmählich oder plötzlich, dauernd
oder wechselnd, ansteigend oder abnehmend zur Entfremdung führen oder
beitragen. Daß plötzliche affektiv betonte Erlebnisse, in welchen aus nur
zum Teil bewußten, hauptsächlich aber unbewußten Gründen eine schwere
Enttäuschung an einem Objekte und dadurch ein sogenannter Objektverlust
erfolgte, traumatisch die Entfremdung einsetzen lassen, hat zuerst Nun-
berg nachgewiesen. Theoretisch läßt sich die Wirkung aller dieser Be-
dingungen dadurch erklären, daß wir in ökonomischer Hinsicht zwei Um-
stände bei der libidinösen Besetzung zu unterscheiden haben, nämlich erstens,
ob das Ichgefühl für die in Anspruch genommene Ichgrenze überhaupt ge-
nügend hergestellt werden kann, und zweitens, ob die Reserve an Libido
für die Aufrechterhaltung der Besetzung der Ichgrenze genügend groß ist.
Die Schwere der Entfremdung hängt daher nicht nur von der jeweilig
dynamisch wirkenden Hemmung der Besetzung ab, sondern auch von der
ökonomisch wirkenden Größe des Libidovorrats. Wir können diese für die
Pathologie überhaupt wichtige Unterscheidung so formulieren, daß wir von
einem Versiegen der Libido, im Gegensatz zum Zurückziehen infolge von
äußerer oder innerer Versagung, sprechen.
Die Beobachtung lehrt weiter, daß bei chronisch Entfremdeten die Besse-
rung ihres Zustandes darin besteht, daß sich ihr Ichgefühl — ceteris pari-
bus — wieder einstellt, daß aber die jedesmalige Herstellung einer genügen-
den Besetzung der Ichgrenze nur zögernd und langsam erfolgen kann. Das
ist der Grund, weshalb oft ganz subtile Unterschiede der Ichstörung be-
richtet werden, je nachdem, ob die jeweilige Umgebung solche Kranke be-
obachtet oder sie unbeobachtet läßt, ob sie ihnen mehr oder weniger freund-
lich gesinnt ist. Gerade von Kranken, welche besser werden, werden solche
Unterscheidungen berichtet.
Analog lehrt uns die klinische Beobachtung, daß Entfremdete, deren Zu-
154 Paul Federn
w
stand sich bereits gebessert hat, regelmäßig des Morgens nach dem Erwachen
nicht so wie der normale Mensch rasch ihr volles Ichgefühl wiedergewinnen
und damit ihre normale Stellung zur Innen- und Außenwelt, sondern sich
gerade nach dem Schlafe noch entfremdet fühlen. Auch nicht Rekonva-
leszente zeigen oft ihr Symptom des Morgens stärker als später am Tage,
soweit nicht die obenerwähnten Ursachen, z. B. Ermüdung und Inanspruch-
nahme, eine Verschlechterung während des Tages bedingen. In ihrer Tages-
kurve und ebenso in der Reaktionskurve auf Ermüdung und Inanspruch-
nahme verhalten sich also die Entfremdeten gleich wie die Melancholiker.
Diese morgendliche Verschlechterung hängt nun mit dem Verhalten des Ich-
gefühls im Schlafe direkt zusammen. Die morgendliche Exazerbation war
nicht vorauszusehen. Nach unserer Erfahrung beim Gesunden war zu er-
warten, daß das Ichgefühl des Morgens, nachdem im Schlafe die Libido-
reserven wieder in Fülle erneuert wurden, wenigstens für einige Zeit Ich-
kern und Ichgrenzen voll besetzen werde; je nach der Schwere des Falles
und der Inanspruchnahme würde dann im Laufe des Tages die Ichstörung
wieder auftreten. Die Erkrankung in der Ökonomik der Libido sollte un-
serem Erwarten nach des Morgens nach dem Schlafe nur fakultativ bestehen
und erst durch die Inanspruchnahme im Laufe des Tages früher oder später
in Aktualität treten. Diese zu erwartende Kurve ist auch tatsächlich bei
allen Entfremdeten, deren Störung überhaupt Schwankungen zuläßt, vor-
handen. Sie tritt nur des Morgens nicht sogleich in Geltung, weil der
Übergang aus dem Schlafzustand in den wachen die einfache Abhängigkeit
von der Größe der Libidoreserven kompliziert. Beim Entfremdeten ist, wie
wir oben gesagt haben, die Verschieblichkeit oder, besser gesagt, die Ver-
schiebung der Libido, insofern sie die Ichgrenzen zu besetzen hat, gestört.
Die Besetzungen der Objektvorstellungen mit Objektlibido können dabei
fast störungslos vor sich gehen. Man ersieht das daraus, daß trotz der Ent-
fremdung die Patienten mit Interesse und Genauigkeit arbeiten können, daß
sie die Auswahl in ihren Objektbeziehungen nicht aufgeben, allerdings nur
in gewissen Grenzen, soweit eben nicht auch eine Schwierigkeit besteht, die
Objektbesetzungen aufrechtzuerhalten. Diese letztere Schwierigkeit kann
sowohl sekundär auftreten als auch, wie N u n b e r g gefunden hat, den
Anstoß zum Auftreten der Entfremdung gegeben haben. Auch in diesem
Falle kann aber die Objektbesetzung fortbestehen; ja eben, weil sie fort-
dauert, während die dazugehörige Ichgrenze, das ist die vom Objekte an-
geregte besondere narzißtische Besetzung des sich dem Objekte zuwendenden
Teiles des Ichs, fehlt, erweckt eben dieses Objekt ein besonderes Entfrem-
r \t
':■:..
Das Ichgefühl im Traume ijj
dungsgefühl dem Ich gegenüber. "Was man „Objektverlust" nannte, besteht
eben in dem Verlust der Fähigkeit, ein vorhandenes Objekt, genauer die
nicht aufgegebene Objektbesetzung, mit vollem Ichgefühl, und in diesem
Falle die narzißtische Freude, wie zuvor zu empfinden. Daß es sich so ver-
hält, davon habe ich die volle Überzeugung an einem Falle von patho-
logischer Trauer gewonnen: Nach dem Tode der Mutter waren
alle Beziehungen, Gegenstände, Erinnerungen, die irgendwie mit der Mutter
zusammenhingen, besonders stark mit Objektlibido besetzt. Immer neue,
oft kleinste Vorkommnisse aus der Vergangenheit fielen der Patientin ein,
alles zur Mutter Gehörige hatte höchste Bedeutung gewonnen. Die Patientin
war bei Tag und Nacht schlaflos geworden infolge der einströmenden, zum
Mutterkomplex gehörigen Gedankengänge und Einfälle. Alle diese Objekt-
vorstellungen waren dem Inhalte nach lebhaft und dem Affekte nach tief
traurig. Gleichzeitig aber bestand für dieses intensive "Wiederholen aller
vergangenen Objektbeziehungen zur Mutter eine völlige Entfremdung, die
sich sowohl auf die gedanklichen Inhalte als auch auf den Affekt der
Trauer selbst erstreckte. „Ich habe die Trauer und fühle sie nicht." Die
Trauer zeigte sich im Gesichtsausdruck und ihren somatischen Folgen, die
Patientin aber klagte immer wieder darüber, daß sie doch ihre Trauer nicht
„wirklich" fühle, eine Behauptung, die für den unkundigen Beobachter,
der ich damals war, ihrem ganzen Sein und Erscheinen ständig widersprach.
Erst Jahre später ließ mich ein ähnlicher Fall den Sachverhalt verstehen,
der darin besteht, daß von den Objektbesetzungen das Leid des Verlustes
erweckt wurde, die dazugehörige Ichgrenze 3 aber gefühllos, gleichsam ab-
gestorben war. "Wir müssen deshalb die „pathologische Trauer"
und ebenso die Melancholie nicht nur ihrer Genese nach, nicht nur ihrem
Wesen als unbewußter Identifizierung nach, sondern auch nach ihrem
libidinösen Mechanismus als narzißtische Psychose bezeichnen.
Wenn ich alle Fälle von pathologischer Trauer und Melancholie aus der
analytischen Erfahrung mir zurückrufe, hat bei keinem die paradoxe Klage
gefehlt, daß der Kranke nur Leid und auch das nicht wirklich empfinde.
Ich habe dieses abseits liegende Gebiet hier genauer behandelt, weil es
für die Überzeugung des Lesers wichtig ist, den Gegensatz zwischen den
Objektbesetzungen und der narzißtischen Besetzung der dazugehörigen Ich-
grenzen als einen tatsächlichen zu erkennen. Zwischen dem gesunden und
dem erkrankten Mechanismus der narzißtischen Besetzung der Ichgrenzen
3) Über das Versiegen der Libido bei Melancholie siehe Federn: Die Wirklichkeit
des Todestriebs. Almanach der Psychoanalyse 1931.
i 5 6
Paul Federn
zeigt sich der Unterschied besonders des Morgens in der Wiederherstellung
des Ichs nach dem Schlafe. An diesem Mechanismus liegt es, daß der Ent-
fremdete und der Melancholische sich jeden Morgen neuerdings mehr ge-
stört, mehr krank fühlt. Die Erschwerung des Mechanismus der Besetzung
der Ichgrenze ist sicher ein Grund, weshalb die Erholung durch den Schlaf
nicht sofort eine Besserung des Ichgefühls eintreten läßt. Beim Melancholiker
müssen noch andere Momente schädigend hinzutreten, denn bei ihm tritt
erst am Abend die relative Erleichterung ein. Die Untersuchung dieser Mo-
mente bei der Melancholie gehört nicht hierher. Für die Entfremdung scheint
mir vorläufig das physiologische Geschehen im Schlafe als Erklärung der
Morgenexazerbation zu genügen. Allerdings habe ich noch nicht ein spezielles
Interesse der Frage zugewendet, ob nicht der Schlafvorgang selber bei den
narzißtischen Psychosen einer besonderen Störung unterliegt.
Eines ist fraglos richtig: Im vollen Schlafe erlischt das Ichgefühl; darüber
habe ich in meiner ersten Arbeit genauer berichtet. Zuerst habe ich die
Existenz des Ichgefühls beim Einschlafen erkannt, also nicht in statu
nascendi, sondern in statu exeundi. Beim raschen Einschlafen erlischt es
plötzlich; auch die Narkolepsie geht mit solchem plötzlichen Erlöschen des
Ichgefühls einher; beim gestörten Einschlafen erlöscht es nur zum Teile und
allmählich. Ja, es erleichtert sogar das Einschlafen, wenn man lernt, das
Ichgefühl möglichst vom Körper abzuziehen und es bei der Atmung allein
zu belassen; den Jogas ist ein solches absichtliches Abziehen des Ichgefühls
wohlbekannt. Es soll aber nur im Einklang mit der autonomen Periodizität
von Schlaf und "Wachen, welche an sich schon das Versiegen der Ichbesetzung
vorbereitet, angewendet werden. Erzwingt man das Einschlafen entgegen der
Periodizität, so wird der Schlaf selbst zu einer Anstrengung und man wacht
eher ermüdet und nicht neu gestärkt auf.
Solange ein Schläfer nicht träumt, fühlt er nicht sein Ich. Ob ein unbe-
wußtes Ich fortbesteht, ob die „Tiefenperson" einem solchen oder dem „Es"
entspricht, sind derzeit noch müßige Fragen. Daß im Unbewußten auch
während des traumlosen Schlafes viele seelische, ja geistige, vernünftige und
verständige Ordnung und Gestaltung geschieht, ist anzunehmen. Freud
hat das Unbewußte mit den Heinzelmännchen verglichen, und diese schaffen,
wenn der Mensch schläft. So viel wir aber wissen, sind all diese unbewußten
Leistungen des Schlafes zwar biologisch durch die Körpereinheit zentriert,
aber nicht psychologisch durch die Einheit des Ichs. Der Satz Freuds,
daß der Schlaf ein narzißtischer Zustand ist, zielt daher auf unbewußte Be-
setzungen narzißtischer Art, welche, wenn überhaupt einer Einheit, gewiß
Das Ichgefühl im Traume i$7
licht dem im "Wachen bestehenden Ich angehören. Aber vielleicht wollte
; reU( J nur in extremer Art ausdrücken, daß die Objektbesetzungen mit
dem Verschluß der Sinnespforten unverhältnismäßig mehr als je im Wachen
zurückgezogen werden. Die Zurückziehung der Objektbesetzungen ermög-
licht es, daß narzißtische Besetzungen zu Objektbesetzungen werden, wenn
im Traume die eigene Person völlig in andere Traumpersonen projiziert
wird. Hier, wo wir im Ichgefühl die manifeste Äußerung des Narzißmus
besprechen, müssen wir vom traumlosen Schlafe feststellen, daß diese nar-
zißtische Besetzung des Ichs fehlt.
Mit dem Verlust des Bewußtseins beim Einschlafen hören also die Ich-
libido im Ich und alles Ichgefühl auf; es ist kaum mehr als Geschmackssache,
ob man sagt, die Ichlibido versiege, schlafe, sei in das „Es" zurückgezogen
jder sei auf die Einzelfunktionen verteilt. Aber diese narzißtische Besetzung
ist stets bereit, wiederzukehren. Das zeigt sich darin, daß, von ganz patho-
logischen Zuständen abgesehen, jeder Weckreiz das Ichgefühl sofort wieder
herstellt. Man begreift dies besser, wenn man sich erinnert, daß im Ich-
gefühl die ursprünglichste Sensation der lebenden Substanz phylogenetisch
und ontogenetisch fortdauert 4 und sein Aufhören wohl als unmittelbarer
Ausdruck des Zellschlafes aufzufassen ist. Soweit spricht die Naturwissen-
schaft. Die Mystik hingegen läßt im Schlafe die Seele den Körper verlassen
und beim Erwachen in ihn zurückkehren; dabei nimmt die Seele alle ihre
Erfahrungen mit sich und soll im Traume nicht im Körper weilen, sondern
dort, wohin der Traum sie bringt; diese Theorie ist der Ausdruck dafür,
daß das Ichgefühl im Traume zumeist ein rein geistiges Ichgefühl ist.
Beim Erwachen aus dem Schlafe tritt sofort das Ichgefühl auf, beim
Erwachen aus einem Traume nur ausnahmsweise in Zusammenhang mit
dem Ichgefühl im betreffenden Traume. Beim Gesunden ist das neuerwachte
Ichgefühl lebhaft und vollständig und erfüllt Körper und Geist mit Be-
hagen und Frische. Sofort ist auch die zum Ich gehörige Sicherheit des zeit-
lichen Zusammenhangs mit Vergangenheit und Zukunft des Ichs wieder-
gegeben. Anders bei vielen Neurotikern. Gerade sie fühlen sich morgens
unzulänglich; das gilt von den meisten Phobikern, von den Prämelancho-
lischen (so nenne ich die jahrelang der Melancholie vorausgehenden täglichen
Verstimmungen) und, wie oben gesagt, von den Entfremdeten. Würde man
bei allen jenen, die über den schlechten Beginn ihres Tages klagen, nach
Entfremdungssymptomen fragen, so würde man sie vielleicht sogar regel-
4) Federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus. Int. Ztschr. f. PsA. XV,
1929.
15»
Paul Federn
mäßig finden. Freilich gibt sie der Kranke nicht von selber an, weil Bett
und Schlafzimmer ihm seine Festung sind, von der die Anforderungen des
Tages und der Objektbeziehungen ferne bleiben. Die Entfremdung wird
ja erst bei der Zuwendung zum Objekte voll bemerkbar. Aber allmählich
stellt sich das gestörte Ichgefühl voll her; es wäre interessant zu untersuchen,
wie viele Störungen bei den tagtäglichen Gewohnheiten des Anziehens mit
solchen Ichstörungen zusammenhängen.
Wie sehr ein schwerer Fall von Entfremdung des Morgens gestört sein
kann, dafür will ich als Beispiel einen Fall anführen, der durch jahrelange
Analyse wesentlich gebessert wurde. Seine Schwester ist. zur schweren
Katatonie vorgeschritten. Auch er hatte Symptome, die über die Entfrem-
dung hinausgingen, und alle halben Jahre kamen vorübergehende Ver-
schlechterungen vor, die nur wenige Tage dauerten, mit Unsicherheit der
Orientierung, mit hypochondrischen Körpersensationen und schwerer Angst,
die einer akuten, wenn auch leichten katatonen Störung entsprechen. Dieser
sehr intelligente Patient versteht die Nuancen der Ichbesetzung und das
Problem der Entfremdung aus eigenen Erfahrungen so gut, daß er die
präzisesten Auskünfte über sein Befinden geben kann. Er unterscheidet genau
die Entfremdung für Sinneswahrnehmung, für Affekt und Denken, und gibt
an, daß er heute diese seine ihm und mir wohlbekannten Störungen nicht mehr
hat, daß aber seine gesamte Ichintensität noch immer herabgesetzt sei, und
zwar besonders nach dem Erwachen. Lange dauere es, bis sich das volle Ich-
gefühl herstelle — er fühle, daß das mit seiner sexuellen Potenz zusammen-
hänge — manches Mal sei es besser, dann habe er wie in gesunden Jahren die
morgendliche sexuelle Erregung und die gesamte Frische. Gewöhnlich aber
sei dieses normale libidinöse Gefühl ersetzt durch eine Mischung von leichter
Angst und lüsternem Schauder, das er im ganzen Körper spüre und das
kein normales Körper-Ichgefühl aufkommen lasse. Es ist eine Regression des
Ichgefühls auf eine frühere masochistische Stufe; erst allmählich beruhigt
sich dieses sonderbare Gefühl und macht dem für ihn normalen Zustand
eines mäßig herabgesetzen Ichgefühls Platz. Alle schwer Entfremdeten geben
sonderbare Schilderungen, wie sie des Morgens zu ihrem Ich kommen; sie
sind und fühlen sich seltsam, bis sie soweit sie selber werden, als es ihnen
eben die Störung der Ökonomie und Verschieblichkeit ihrer Ichlibido ge-
stattet. Wir wollen hier noch erwähnen, daß meistens eine solche morgend-
liche Störung des Ichgefühls auch die Wiederherstellung der Willensfunktion
des Morgens langsamer erfolgen läßt.
So haben wir bis jetzt zum Teil besprochen, zum Teil nur angedeutet,
Das Ichgefühl im Traume 159
«reiche Beziehungen zwischen Entfremdung, Traum und Schlaf in subjektiver
und objektiver Hinsicht bestehen. Ich selbst habe mich aber aus einem anderen
Grunde diesem Probleme zugewandt und mehr aus didaktischen Gründen
die Besprechung dieser Beziehungen vorausgesandt; sie sollten mir die Ge-
legenheit geben, den Leser für den Unterschied von narzißtischer und
Objektbesetzung, für das Phänomen des Ichgefühls, für die Wandelbarkeit
der Ichgrenze neuerdings zu interessieren, damit er dem eigentlichen Thema
Das Ichgefühl im Traume" freundlicheres Interesse zuwende. Mir wurde
dieses Thema wichtig, weil es die Unterscheidung des seelischen und des
körperlichen Ichgefühls auf einem anderen Wege der Selbstbeobachtung nach-
weisen läßt.
1 vj U&s Ich^eiünL im Iraume
Wenn man Träume erzählen hört, sie liest oder seine eigenen sich zurück-
jft, so unterliegen sie der sekundären Bearbeitung nicht nur ihrem Inhalte
nach, sondern auch in bezug auf die Art des Traumgeschehens. Es ist fast
unmöglich, sich ihrer ganz exakt zu erinnern. Unwillkürlich neigt man dazu,
dem Geschehen im Traume als eine wache, geeinte, volle Person gefolgt und
es mit ganzem Sein erlebt zu haben. Wir glauben das um so mehr, je mehr
rir im Traume selbst etwas getan oder gesehen haben.
Haben wir angefangen, dem Ichgefühl Beachtung zu schenken, und
fragen wir uns selbst oder einen Träumer nach dem Erwachen, wie das
Ichgefühl im Traume war, so erfahren wir zunächst, daß immer ein Ich-
bewußtsein da war, und zwar das richtige Ichbewußtsein. Stets ist der
Träumer mit der wachen Person identisch und hat auch das sichere Wissen
davon. Das ermöglicht ja auch dem Traume, Teile des Ichs in andere Per-
sonen projiziert zur Darstellung zu bringen. Das Traum-Ich selbst bleibt
stets das eigene Ich, auch mit dem Bewußtsein der Kontinuität, resp. der
wiederherstellbaren Kontinuität der eigenen Seelenvorgänge.
Dieses Traum-Ich unterscheidet sich aber in der Mehrzahl der Träume
und in dem größeren Traumteil aller Träume von dem wachen Ich dadurch,
daß nur von den geistigen Vorgängen ein Eigengefühl besteht, während der
Körper im Traum-Ich gleichsam ignoriert wird. Im Wachen sind das geistige
Ichgefühl und das körperliche Ichgefühl nicht leicht zu trennen, weil beide
so selbstverständlich dauernd dem Ich zu eigen sind. Für den Traum zeigt
sich aber der rückblickenden Erinnerung ganz deutlich, daß diese beiden
Ichgefühle völlig unterscheidbar sind.
.■';;!;
"i
160 Paul Federn
Wenngleich alles Geträumte als völlig wirklich erlebt wird, so fühlen wir
uns trotzdem dabei — wie gesagt, in der großen Mehrzahl aller Träume —
nicht auch körperlich, wir fühlen nicht unseren Körper mit seinem Gewicht
und seiner Gestaltetheit, wir haben nicht das Körpergefühl mit seinen Ich-
grenzen, wie in der Norm des Wachseins. Es besteht aber auch kein Gefühl
für den Mangel des Körper-Ichs, das im Wachen bei so minimaler Ich-
besetzung eintreten würde. Das Körper-Ichgefühl wird nicht entbehrt. Der
Grund dafür ist, daß nur das Aufhören einer Besetzung der Ichgrenze, ob-
gleich sie gebraucht wurde, — so beim geistigen Ichgefühl — oder, wo sie
ständig besteht, — so beim körperlichen Ichgefühl — als befremdend emp-
funden wird. Ich erwähnte ja oben, daß selbst der an Entfremdung Kranke
schon im Schutz seines Bettes von seiner Entfremdung nichts zu wissen
braucht. Das Träumen aber ist nur ein sehr partielles Erwachen aus dem Zu-
stand der Ichlosigkeit. Die unbewußten und vorbewußten seelischen Vor-
gänge, welche zum manifesten Trauminhalte werden, wecken das Ich dort,
wo sie seine Ichgrenzen treffen: so kommt es immer zu einer Neubesetzung
mit Ichgefühl und es gibt keine verlassene Ichgrenze, solange ein Traum-
bild sie braucht. Daß der Traum vorübereilt und nicht zurückgeholt und
nicht überdacht werden kann, kommt davon, daß die narzißtische Besetzung
der geistigen Ichgrenzen jeweilig wieder aufhört, sobald ein Bild der Traum-
szene ablief und ein neues erscheint.
Davon gibt es Ausnahmen. Es kann eine Szene auch längere Dauer be-
kommen; der Träumer kann sich auf eine frühere Szene sogar besinnen.
Es ist ein besonderes Problem, wann diese beiden Ausnahmen eintreten. Wenn
der ganze Traum in gleichsam erstarrten Bildern und sehr langsam abläuft,
so ist das ein pathologischer Schlafzustand schwerer Übermüdung, analog
wie einer ermüdeten Retina die Aufnahmsfähigkeit für ein neues Bild lang-
samer sich herstellt und das frühere Bild länger bestehen bleibt. Beim
normalen Träumer hat das Traumbewußtsein eine ebenso schnelle Wieder-
herstellungskraft zur Aufnahme eines neuen Bildes, wie sie die gesunde
Retina hat.
Mit diesem wechselnd begrenzten geistigen Ich begnügt sich gewöhnlich
der Traumzustand. Nur ausnahmsweise in bestimmten Fällen existiert auch
ein Körper-Ichgefühl. Auf die geistige Ichgrenze trifft das Traum-
gebilde das Bewußtsein weckend. Weil es als Objektbesetzung von außen
die geistige Ichgrenze trifft, wird es als wirklich gefühlt, trotz eventuell
widersprechender Realitätsprüfung. Wir wissen im Traume die Wirklichkeit
des Geschehens, wir empfinden sie geistig, wir sehen sie ausnahmsweise sogar
Das Ichgefühl im Traume 161
bhaft und selbst überlebhaft, wir sehen sie als wirklich, es muß daher
"ch d^ visuelle Ichgrenze mehr oder weniger geweckt sein, — aber wir
fhlen uns selbst dabei nicht körperlich unter Körpern. Die Körperlosigkeit
a Träumers ist das, worauf ich in diesem Aufsatze das spezielle Augen-
merk lenken will.
Nach dem Erwachen aus solch einem körperlosen Träumen kann die Er-
• erung ^fa angeben, wo und wie man in einer Traumszene sich körperlich
gefühlt hat, ob man gesessen oder gestanden hat, wohin der Blick gewendet
W ar oder gar welche Haltung man eingenommen hat. Dabei kann die Traum-
szene so gut geordnet sein, daß man sie aufzeichnen kann. Andere Träume
freilich lassen auch die Personen und Bilder der Traumszene nur teilweise
erinnern. Und wenn in einem Traume das Geschehen, z. B. das Aufsuchen
eines Gegenstandes in einem Geschäftsladen, das Begegnen mit mehreren
Personen, die Jagd nach einem Menschen direkt erfordert, daß der Träumer
selbst jeweilig an einer bestimmten Stelle sein mußte, ist er trotzdem nur
als schauendes geistiges Ich, auch als bewegtes schauendes geistiges Ich da,
— ohne körperliches Ichgefühl und ohne Körperbewußtheit. Dieses war
nicht aus dem Schlafzustand der Unbesetztheit aufgewacht. Der Traum
hat sich für den Körper des Träumenden nicht interessiert, der Traum
weckt also nicht mehr als nötig, und hierin zeigt sich eine Präzision viel-
leicht der Traumfunktion, vielleicht der Traumarbeit. Jedenfalls muß eine
Disgregation der Ichfunktionen im Schlaf eingetreten sein, die solches partielle
Erwachen des Ichs gestattet. Daß die Traumarbeit auswählend und ver-
dichtend mit dem Traummaterial arbeitet, wird also ergänzt dadurch, daß
sie auch selektiv und konzentrierend auf die Ichgrenzen wirkt. Wir ruhen
im Schlafe nicht nur von den Tagesreizen und von den Ichreaktionen aus,
wir lassen auch das Ich selbst ausruhen. Und wenn unerledigte Reaktionen,
Wünsche, Reize den Schlaf stören, so schützt ihn der Traum auch dadurch,
daß er nur ein partielles Erwachen der Bewußtseinsfunktionen und der
Ichbesetzungen gestattet.
Der Kern des Ichgefühls, der sich an die Labyrinthfunktion und an die
Orientiertheit des Ichs im Räume knüpft, muß nur so weit geweckt sein,
daß die Traumszenen im Räume richtig (nach der Schwerkraft, d. h. nach
oben und unten) orientiert erscheinen. Wahrscheinlich gibt es überhaupt
kein geistiges Ichgefühl ohne diesen Kern; denn nie fühlt sich das gesunde
Ich im Räume unorientiert. Um aber möglichst wenig vom Ichgefühl des
Ichkernes zu brauchen, erwacht das Körper-Ichgefühl so wenig und selten
als möglich. Auch für den Ichkern gibt es merkwürdige Ausnahmen im
Im. Zeitsdlr. f. Psychoanalyse, XVHI— 1 "
IÖ2
Paul Federn
Traumerleben, z. B. eine plötzliche Umkehrung der gesamten Traumumwelt
Ausnahmen, die, wie wir wissen, als Darstellungsmittel für besondere typi-
sehe Erlebnisse verwendet werden.
Diese Sparsamkeit der Ichbesetzung im Traume ist so sehr geregelt, daß
es sogar Bewegungsträume gibt, in denen das Körper-Ichgefühl fehlt. Wir
alle würden annehmen, daß ein so stark körperliches Traumerlebnis wie das
Fliegen und Schweben mit einem starken, vollen Körper-Ichgefühl einher-
gehen muß. Aber auch dies stimmt nicht. Ich will an diesem so gut be-
kannten und wohlverstandenen typischen Träume die Unterschiede in der
Besetzung mit Ichgefühl deutlich zeigen.
Daß der Träumer im Fliegen sich selbst als ganzen Körper fühlt, kommt
oft vor, besonders wenn ein Exhibitionswunsch, ein Sich-Zeigen- Wollen
damit verbunden ist. Aber selbst bei exhibitionistischen Fliegeträumen, wie
auch bei anderen Exhibitionsträumen ist das Körper-Ich nur selten ein voll-
ständiges. Das Ichgefühl kann nur für den Oberleib oder für die Arme oder
für die untere Körperhälfte deutlich sein, der Rest des Körpers ist ganz
ohne Besetzung oder nur vage im Bewußtsein und im Gefühl. Gerade bei
diesen Träumen ist aber mitunter das Ichgefühl sogar peinlich als mangel-
haft bewußt. So bei den Schwebeträumen auf Stiegen, welchen das Gefühl
für Brust und Arme geradezu unangenehm fehlen kann. Wenn aber, wie so
oft, das Fliegen so geträumt wird, daß man sich in einer Flugmaschine be-
findet, so fehlt in der Regel jedes Körper-Ichgefühl. Der Träumer erinnert
sich an die Flugrichtung und an die Flugstrecke, auch an den Apparat;
aber von diesem Apparat hat er während des Fliegens keinen genauen Ein-
druck bekommen; seiner Situation und seines Körpers in dem Apparate war
er sich nicht bewußt. Noch mehr überrascht, daß nicht nur bei dieser so
stark verschobenen, symbolisierten Darstellung des sexuellen Vorganges,
sondern sogar bei direkten sexuellen Träumen das Körpergefühl ganz mangel-
haft sein kann; oft ist es nur auf die Geschlechtsorgane beschränkt, oft ist
nur die spezifische Lustempfindung ohne jedes Körper-Ichgefühl vorhanden.
Das geistige Ichgefühl, welches also die im Traume regelmäßig vor-
handene Ichbesetzung ist, hat unverhältnismäßig häufiger einen passiven
Charakter als einen aktiven. Bei aktivem geistigen Ichgefühl ist meist auch
ein körperliches Ichgefühl vorhanden. Eine besondere Art von Träumen sind
solche mit dem aktiven geistigen Ichgefühl des Schauens, welches ein
körperliches Ichgefühl für die Augen einschließt, während vom übrigen
Körper kein Gefühl vorhanden ist.
In einer Minderzahl von Träumen ist aber auch ein körperliches Ichgefühl
Das Ichgefühl im Traume
163
iden, sei es während des ganzen Traumes, sei es nur in einzelnen Teilen
j Traumes. Der Unterschied zwischen den Teilen, in welchen das Körper-
T hgefühl auftritt, und denen, in welchen es fehlt, ist ein ganz scharfer.
•Wer einmal darauf aufmerksam gemacht wurde, kann meist bestimmt an-
eben bei welchen Traumszenen er ein Körper-Ichgefühl gehabt hat. — Das
Körper-Ichgefühl kann sehr lebhaft und betont sein oder nur etwas Selbst-
verständliches oder aber es wird ausdrücklich als vage und undeutlich an-
gegeben. Den extremsten Fall eines besonders lebhaften Körper-Ichgefühls
eigenartiger Qualität berichtete mir ein Patient, der seit seiner Kindheit
typische Träume mit Nachtwandeln hat.
Er erzählt, daß er sich mühsam aus dem Schlafe erhebt, um jemanden
oder etwas zu retten. Er muß der Gefahr zuvorkommen. Sie besteht immer
darin daß etwas herunterfallen und die gefährdete Person oder den gefähr-
deten Gegenstand treffen wird. Der Schläfer steht unter der seelischen Ver-
pflichtung auf, helfend der Gefahr vorbeugen zu sollen. Es ist also eine
vom Über-Ich befohlene Traumhandlung. Das Aufstehen geschieht
schwer, der Träumer hat ein Gefühl wie Angst oder Bedrückung darüber,
daß er aufstehen muß; er fühlt diese Bedrücktheit wie bei einem Alptraum.
Während aber im Alptraum das Schwergefühl aus der Brust auf den Alp,
der auf der Brust lastet, projiziert wird, bleibt es bei unserem Somnambulen
im Körper fühlbar als Schwierigkeit, ihn zu heben, als Gefühl des Gewichtes
des Körpers, der erhoben werden soll. Also als Last und Erschwernis des
Auf Stehens und des sich anschließenden Gehens; es bleibt dem Ich des
Träumers zugehörig. Während des ganzen Gehens ist das körperliche Ich-
gefühl ungewöhnlich stark.
Dieser Art von Schlafwandelträumen — ich weiß nicht, wie weit sie
typisch sind — sind die Hemmungsträume in einer bestimmten Beziehung
entgegengesetzt. Beim Hemmungstraum wird eine Bewegung intendiert, aber
im letzten Moment aufgehalten. In diesem letzten Momente vor dem Er-
wachen tritt ein starkes körperlichem Ichgefühl in dem gehemmten Gliede
bezw. in den gehemmten Gliedern ein. Aber dieses Körper-Ichgefühl im
gehemmten Gliede unterscheidet sich von dem normalen Körper-Ichgefühl
nicht nur durch seine Intensität, sondern auch dadurch, daß das so mit
Ichgefühl besetzte Organ außerhalb des Ichs gefühlt 5 wird. So wie im
"Wachen — beim Normalen, nicht beim Hypochonder — ein starker körper-
5) Ich weiß, wie unlogisch und paradox diese Schilderung lautet, aber die Sensation
ist eben paradox: das Organ ist außerhalb des Ichs und innerhalb desselben zur gleichen
Zeit.
l6 4 Paul Federn
m>
jiilj
!':!N
t
licher Schmerz als von außen das Ich treffend gefühlt wird, obgleich
man weiß, daß das schmerzende Organ zum Körper gehört, so wird auch
im Hemmungstraum die peinliche Unbewegbarkeit und Starre des gehemmten
Gliedes als von außen das Ich treffend gefühlt. Erst nach dem Erwachen
kehrt das Gefühl der Herrschaft über das Organ und das Gefühl seines
Besitzes dem Ich zurück.
Im Nachtwandeltraume hingegen gehört das Gefühl der Körperschwere
dem Ich an. Beiden typischen Träumen gemeinsam ist, daß ein Gegensatz
zwischen Über-Ich und Ich in ihnen zum Ausdruck kommt. Beim Hem-
mungstraum will das Ich etwas tun, der vom Es ausgehende Wunsch wird
vom Willen des Ichs ausgeführt und die körperliche Bewegung würde be-
ginnen, wenn nicht auf Geheiß des erwachenden Über-Ichs das Ich die Aus-
führung des Wunsches und des eigenen Wollens hemmen müßte. Zuletzt
hemmt der Gegenwille den vorausgegangenen Willensakt. Beim somnambulen
Traum hingegen wird vom Über-Ich aus der Wille des Ichs zu einer positiven
Handlung angeregt, die dem Ich schwer fällt. Der Hemmungstraum drückt
also aus: „Ich darf n i c h t", der somnambule Traum drückt aus: „Ich
soll" etwas tun.
Bei meinem somnambulen Patienten war noch eine andere merkwürdige
Doppelrichtung im Ich während des ganzen Vorganges des Nachtwandeins
dem Träumer deutlich bemerkbar und erinnerlich. Während der ganzen
Handlung bestand ein Gegenwille, der dem Aufstehen widerstrebt und die
Bewegung verlangsamt und erschwert. Dieser Gegenwille entstammt aber
nicht wie beim Hemmungstraum dem Über-Ich, sondern einem Teile des
Ichs. Die schon erwähnte Bedrücktheit durch die Aufgabe wurde während
des Träumens auch dauernd rationalisiert durch den „vernünftigen" Ge-
danken: „Du schläfst und träumst, warte bis morgen früh, ob nicht die
Gefahr morgen beseitigt werden kann oder am Ende gar nicht besteht."
Es ist wie eine Teilung des Ichs. Ein Teil des Ichs ist dem wachen Denken
ganz nahe, während der andere Teil so tief schläft, daß es Bewegungen
vornimmt, ohne zu erwachen. Daß dieser Schlaf sehr tief sein muß, damit
eine solche Teilung entstehen könne, ergibt sich aus dem Gefühl beim Auf-
wachen, wenn dieses durch äußeren Anruf, mitunter auch infolge eigenen
Entschlusses, das Nachtwandeln unterbricht; es erfolgt immer wie ein
Emporreißen aus tiefster Schlaftiefe. Es ist eine unzureichende Erklärung,
daß eine solche besondere Schlaftiefe, also das „Ein-Guter-Schläfer-Sein", die
Möglichkeit solcher komplizierter Muskeltätigkeit im Schlafe an und für
sich schon begründet. Wir wissen auch, daß die Tiefe des Schlafes herge-
Das Ichgefühl im Traume i6j
stellt werden kann, um eben die gegensätzlichen Wünsche und Willens-
richtungen ausdrücken zu können. Jedes Schlafwandeln ist ein Gehen vom
Bette und eine Rückkehr zum Bette. Der Kompromißcharakter dieses
Traumes zeigt sich sogar in der Kurve des Gehens. Ich werde aber über
den somnambulen Traum an anderer Stelle berichten, hierher gehört er nur
insoferne, als ich bisher in ihm den Traum mit stärkstem Körper-Ichgefühl,
und zwar mit dem eines lastenden Körper-Ichs, eines Widerstandes, der vom
Körper-Ich ausgeht, gefunden habe. Er zeigt uns auch eine Ausnahme von
der Regel, daß bei aktivem geistigen Ichgefühl auch das Körper-Ichgefühl
aktiv ist, denn hier war das geistige Ichgefühl aktiv, das Körper-Ichgefühl
als Last passiv, während des Wandeins wurde es allerdings allmählich oder
plötzlich aktiv.
In der Regel ist das Körper-Ichgefühl im Traume, wenn es auftritt, viel
geringer als in den abnormen Träumen, von denen ich jetzt gesprochen habe.
Wenn das Körper-Ichgefühl nicht den ganzen Körper, sondern nur Teile
desselben erfaßt, so sind es meistens jene Teile, die mit der geträumten
Außenwelt bewegend oder erleidend zu tun haben, wie ich es früher für den
Schwebetraum angemerkt habe. Man meine aber nicht, daß bei allen ge-
träumten Bewegungen die bewegten Glieder mit Körper-Ichgefühl besetzt
sind. Was ich oben über den Mangel des Körper-Ichgefühls bei dem ge-
träumten Fliegen mittels Flugapparats ausgeführt habe, gilt ebenso von
vielen anderen Bewegungsträumen, denen jedes, auch ein partielles Körper-
Ichgefühl abgeht. Wir werden bei der nun folgenden Untersuchung, welcher
Deutungswert den verschiedenen Arten von Besetzung mit Körper-Ichgefühl
zukommt, erfahren, daß dieser anscheinend so unbedeutende und nie beach-
tete Unterschied, ob der Träumer bei einer Bewegung das bewegte Glied
fühle oder nicht, bei der Deutung des Traumes von entscheidendem Gewicht
ist, allerdings nicht für die Aufdeckung der latenten Traumgedanken, son-
dern dafür, welche Stellung das Ich zu den latenten Traumgedanken ein-
nimmt.
V) Bedeutung der Differenzen des Ichgefühls im Traume
Wenn es mir gelungen ist, den Leser von der Weite der Variation und
von der Exaktheit der Angaben in betreff des Auftretens eines Körper-Ich-
gefühls im Traume zu überzeugen, so hoffe ich, daß er mit mir die Er-
wartung teilt, daß ein so präzises Symptom nicht bedeutungslos sein kann,
seine Bedeutung konnte nur auf psychoanalytischem Wege gefunden wer-
166 Paul Federn
den. Die Psychoanalyse wird sich auch in der Praxis auf diese Bedeutung
stützen können. Schließlich führt aber unsere neue Erkenntnis zu einem all-
gemeinen Problem der Psychologie, das so schwierig ist, daß jeder neue
Zugang erwünscht sein muß, — nämlich zum Problem des Willens.
Als ich rein beobachtend erkannte, welche große Differenzen das Ich-
gefühl im Traume zeigt, versuchte ich verschiedene Erklärungen, die mir
als möglich einfielen, dadurch zu prüfen, daß ich sie zunächst bei eigenen
Träumen, für die ich das Auftreten des Körper-Ichgefühls mit Sicherheit
angeben konnte, anwendete. Ich glaubte zuerst zu finden, daß ein reziprokes
Verhältnis zwischen der Stärke der Ichbetonung und der Intensität der
Traumbilder bestände, weil sich mir ein solches in einzelnen Träumen ge-
zeigt hatte. Diese Annahme erwies sich aber als falsch, ebenso wie eine
andere, daß das Körper-Ichgefühl dann aufträte, wenn der Traum sich mit
Gesamtproblemen der eigenen Person, des eigenen Schicksals beschäftigte.
Diese beiden irreführenden Beziehungen waren durch die Besonderheit ein-
zelner Träume vorgetäuscht worden.
Ich kam dann darauf, daß in vielen Träumen ein partielles Ichgefühl
eine einfache, theoretisch zunächst nicht interessierende Erklärung dadurch
fand, daß sehr häufig ein besonders starker Affekt im Traume mit stärkerem
Körper-Ichgefühl einhergeht. Das gilt besonders von Angstträumen, aber
auch von Träumen, in denen der Träumer Mitleid oder Stolz empfindet.
Analog tritt ein stärkeres Ichgefühl dann auf, wenn eine Triebregung im
Traume bewußt wird, so bei masochistischen oder exhibitionistischen Träu-
men. Die genaue Untersuchung solcher durch den Affekt oder den Trieb
bedingter Körper- Ichgefühle im Traume wird sich gleichfalls lohnen. Meine
sichere, auf anderen Gebieten gewonnene Erfahrung, daß wir ein aktives
und ein passives Ichgefühl zu unterscheiden haben, wird hier von Nutzen sein.
Wir haben nämlich ein Ichgefühl für die aktiven und ein anderes für die
passiven Funktionen des Körpers. Bei den Träumen mit stärkerem Scham-
oder Angstaffekt, bei masochistischen und exhibitionistischen Träumen ist
nun das Körper-Ichgefühl ein passives. Ich vermute, daß bestimmten Affek-
ten die Besetzung bestimmter Körperteile mit passivem Ichgefühl entspricht.
Wenn sich eine solche Relation gesetzmäßig nachweisen läßt, dann dürfen
wir vermuten, daß auch bei Träumen ohne Affekt die Besetzung eines Kör-
perteiles mit besonderem passivem Körper-Ichgefühl auf einen zum Traume
gehörigen, aber nicht „erweckten" Affekt schließen lassen dürfte. Denn
Träume sind affektarm, das Schlafen verlangt ja, daß der Affekt nicht zu-
stande komme.
Das Ichgefühl im Traume
167
Tn bezug auf das aktive Körper-Ichgefühl ergab die Beob-
chtung eigener und fremder Träume, daß es dann auftritt, wenn der Träu-
mer nicht nur wünscht, was der Traum bedeutet, sondern dem Traum-
wunsche oder einem Teile desselben mit seinem Willen beitritt. Des-
lb sind so selten Träume von aktivem Körper-Ichgefühl begleitet; denn
■s handelt sich ja meistens um verbotene "Wünsche, die, den Schlaf störend,
durch den Traum erfüllt werden. Selten nur wagt es das Ich, das Verbotene
z u wollen. Aber zum Teile kann das geschehen, und einzelne Teile der
Traumhandlung können dem "Willen des Träumers entsprechen, obgleich
sie im Wachen von den übrigen Teilen des Ichs oft widersprochen sein
mögen. Denn nur in juristischen Werken lese ich von der „einheitlichen Ge-
sinnung", die sogar die Frage nach der Schuld erledigen soll. "Wir Psycho-
analytiker, und heute können wir wohl schon sagen: wir Psychologen wissen,
wie wenig einheitlich Gesinnung und Wollen der Menschen zu sein pflegt-
und wie oft im Laufe des Tages der wache Mensch etwas will und es nicht
tut. Was er wollte, war auch sein Wunsch gewesen. Aber das Ich gehorchte
trotz Wünschen und Wollen dem Über-Ich und unterließ nicht nur die
Handlung, sondern verdrängte auch den Wunsch und das Wollen. Im
Traume erweckt nun der Wunsch das geistige Ich durch die manifesten
Traumbilder, und nun kann im Traume das ganze Ich dem Wunsche bei-
treten, weil das Ich im Wachen den Wunsch auch wollte; dann erhält
nicht nur die entsprechende geistige Ichgrenze ihre Besetzung, es erwacht
auch das ganze Körper-Ich. Solch ein Erwachen läßt aber das Schlafen über-
haupt nicht lange aufrechterhalten. Und deshalb ist es möglich, bei dem
Erwachen aus einem solchen Traume mit ungewöhnlich starkem und voll-
ständigem aktivem Körper-Ichgefühl dieses an sich selber wahrzunehmen
und die volle Überzeugung davon zu gewinnen, daß man im Erwachen ein
starkes Erlebnis des Wollens hatte, welches sich aus dem abgelaufenen
Traume fortsetzte. Ich konnte auf diese Art, ebenso wie vor Jahren die
Bedeutung des Hemmungstraumes, in den letzten Jahren die Bedeutung des
Traumes mit vollem Körper-Ichgefühl als typisch durch Selbstbeobachtung
feststellen. Die Prüfung an den analysierten Träumen hat meine Deutung
bestätigt. Solch ein Beitreten des Willens zum Traumwunsch ist eine erhöhte
Erfüllung des Lustprinzips, und tatsächlich sind diese intensiven Willens-
träume besonders angenehm. Wir wissen aber, daß der Gegenwille des Über-
Ichs sie leicht in Hemmungsträume umwandelt. Eigentlich war die Erklärung
der Träume mit Körper-Ichgefühl als "Willensträume schon in der Erklärung
der Hemmungsträume mit enthalten, aber nicht erkannt. Die Erklärung, daß
168 Paul Federn
"''!■., : "
gegen Ende des Schlafes eben das Körper-Ich schon erwache, erledigt sich
durch die Beobachtung, daß es häufig keineswegs vor dem Aufwachen er-
wacht.
Sehr gut paßt zu unserer Erklärung, daß das aktive Körper-Ichgefühl das
Wollen des Träumers verrät, die Beobachtung, daß ein partielles Körper-
Ichgefühl so häufig die geträumten Bewegungen begleitet. Denn diese ent-
sprechen ja einem zur Handlung gesteigerten Willensimpuls. Merkwürdiger
ist, daß überhaupt solche Bewegungen auch ohne Körper-Ichgefühl ge-
schehen. Die Traumanalyse zeigt, daß solcher Mangel des Körper-Ichgefühls
wohl determiniert ist. "Wenn eine Bewegung ausgeführt wird, ohne daß das
Körper-Ichgefühl das Wollen des Patienten verrät, so soll eben diese Be-
wegung oder Handlung nicht sein Wollen, sondern nur sein Können
hervorheben. Der Traumwunsch bezieht sich dann auf das Können, deshalb
ist bei dem Impotenten das Fliegen im Apparate die typische Abart des
Fliegetraumes. Wir erinnern uns, daß bei dieser Art zu fliegen das Körper-
Ichgefühl meist fehlt. Tatsächlich haben viele Impotente nicht den sexuellen
Wunsch nach dem Sexualakt oder nach Erektion, sondern ihr Wunsch geht
nach dem Können, nach der Potenz. Das gilt besonders für solche Neurotiker,
deren Impotenz einen unbewußten Wunsch, welcher der männlichen Sexuali-
tät zuwiderläuft, erfüllt, oder für solche Impotente, welche mit bestimmten
Sexualobjekten nicht sexuell verkehren wollen. Andrerseits verstehen wir
ebenso, daß andere Fliegeträume mit vollem Körper-Ichgefühl einhergehen.
So haben wir durch die Beobachtung des Körper-Ichgefühls die Darstel-
lung des W o 1 1 e n s und des Könnens im Traume feststellen können.
Nachdem uns das gelungen ist, sehen wir, daß dieser Weg der Darstellung
ganz dem Sinne des Wollens und des Könnens als M o d i s im Sinne der Gram-
matik entspricht. Denn die Modalität drückt aus, wie sich das Ich des Men-
schen zu der im Verbum mitgeteilten Handlung oder Erledigung einstellt.
Beim Wollen tritt das Ich dem Geschehen der Handlung bejahend und
herbeiführend bei. Beim Können wird ausgesagt, daß, soweit das Ich in
Frage kommt, die Möglichkeit der Handlung besteht. Deshalb ist es sinnvoll
und folgerichtig, daß im Traume das Wollen durch das Hinzutreten eines
aktiven Ichgefühls dargestellt wird, das Können durch die Handlung ohne
Hinzutreten eines Ichgefühls. Nach diesen Ergebnissen wollen wir uns weiter
nach der Darstellung der Modalität im Traume umsehen.
Bei unserem Traumwandler fanden wir eine besondere Steigerung des
Körper-Ichgefühls, das er aber nicht aktiv, sondern zuerst als Last empfindet,
und doch w i 1 1 er gleichzeitig das tun, was ihm so schwer fällt. Er hat dem-
liü'j"
1
w
Das Ichgefühl im Traume 169
c jj soweit ich den Eindruck aus seinen Schilderungen gewonnen habe —
ein körperliches passives Ichgefühl und ein geistiges aktives Ichgefühl. Sein
Über-Ich hat ihm die Handlung befohlen. Diese merkwürdige Kombination
stellt in charakteristischer Art das Sollen dar. Es ist ein Wollen im
Dienste des Über-Ichs und ein Nichtwollen des Ichs. Ich füge hinzu, daß
im Verlaufe des Nachtwandeins die Last des Körpers aufhörte und das
Körper-Ichgefühl aktiv wurde. Das bedeutet, daß nach der Überwindung
der "Widerstände und auch unter dem Gefühl, es sei nur ein Traum, ein
aktives Wollen die Traumhandlung begleitet. Tatsächlich ist auch beim
wachen „Sollen" gleichzeitig eine Aktivität des wollenden Ichs und ein
Widerstand seitens eines Teiles des Ichs vorhanden. Beides wird im Traume
durch die Anteile des Ichgefühls dargestellt. "Wenden wir uns nun dem schon
in der „Traumdeutung" von Freud erklärten Hemmungstraume zu, so
weiß ich aus meinen eigenen Untersuchungen , daß er ein "Wollen und
Nichtdürfen darstellt. Dabei ist die Einwirkung des Uber-Ichs un-
bewußt, bewußt ist nur, daß ein mit starkem Körper-Ichgefühl besetzter
Körper oder Körperteile nicht bewegt werden können. Ein mit Körper-
Ichgefühl besetzter Muskelapparat ist dem geistigen Ich entzogen.
Die Berücksichtigung des Ichgefühls im Traume verlangt eine neuerliche
genaue Untersuchung dieser typischen Traumformen. Meine heutige Mit-
teilung ist daher nur eine vorläufige. Sie sagt aber mit Bestimmtheit aus,
daß durch die verschiedene Art von Besetzung mit Ichgefühl, ob nur geistig
oder auch körperlich, ob aktiv oder passiv, ob total oder partiell, die ver-
schiedene Modalität des Geschehens im Traume darge-
stellt wird. Umgekehrt werden wir auch dort, wo die Psychoanalyse des
Traumes es noch nicht ergibt, aus dem Verhältnis des Ichgefühls auf die
Modalität des Traumgeschehens schließen können und dadurch die psycho-
analytische Deutung fördern. "Wir können sagen, die Beobachtung des Ich-
gefühls im Traume eröffnet uns einen neuen Weg, um bei der Traumdeutung
die Hilfszeitworte für die Traumhandlung richtig zu verwenden, denn diese
drücken, wie schon oben gezeigt, die Relation des Ichs und des Über-Ichs
zum Geschehen aus, für welche das Zeitwort das Geschehen am Objekte
durch ein Organ (Instrument) mitteilt. Daß die Ichbesetzung im Traume den
Vorgang des Wollens, Könnens, Sollens, Nichtdürfens usw. (die des Müssens
und Dürfens stehen noch aus) anzeigt, entspricht völlig den Vorgängen im
Wachen. Während aber im Wachen entsprechend diesen Hilfszeitwörtern das
6) Federn: Über zwei typische Traumsensationen. Jahrbuch der Psychoanalyse,
Bd. VI.
170
Paul Federn: Das Ichgefühl im Traume
j'iii'il
ganze Ich und Ober-Ich in bestimmte Rektion zur Handlung treten, z. B
beim Wollen das aktive geistige und körperliche Ichgefühl, Denken, Impuls
und Motorik, fehlt im Traume infolge des Entzuges der Besetzung sowohl
die Motorik als auch die Denktätigkeit. Deshalb stehen dem Traume nur
die Unterschiede im Ichgefühl als Ausdrucksmittel für die darzustellende
Modalität zur Verfügung. Die im Wachen so mächtigen Unterschiede zwi-
schen Wollen, Sollen, Müssen, Dürfen und Können werden im Traume nur
durch die subtilen und lange übersehenen Unterschiede im Ichgefühl ausge-
drückt, also beinahe nur angedeutet. Die Geringfügigkeit dieser Darstellungs-
mittel nimmt uns aber nicht wunder, denn wir haben schon lange von
Freud gelernt, daß auch machtvollste Triebwünsche im Traume oft nur
durch eine entfernte, an sich unkenntliche und lange übersehene Symbolik
repräsentiert werden.
Im Wachen ist alle Macht dem Ich zurückgegeben, vor allem der Wille!
Der Wille ist die Zuwendung der gesamten aktiven
Ichbesetzung zu bestimmten 7 Handlungen, seien diese
ein bloßes Denken oder ein Tun. Zu glauben, daß der Wille
bloß das Vorauswissen eines in jedem Falle eintretenden Geschehens sei,
ist eine intellektualistische Auffassung, die völlig falsch ist. K 1 a g e s hat
das schon lange nachgewiesen. Dem Ich als Ganzem steht eine
bestimmte aktive Libidobesetzung zur Verfügung, die das Ich zuwenden und
abziehen kann, und dieses ist der Wille. Das aktive normale Ichgefühl ist
die wesentlich kleinere dauernde Besetzung des Ichs. Im Traume repräsentiert
sie den Willen.
Im Traumbuche Freuds kommt der Wille nicht vor. 8 Es lag dies
daran, daß der Wille dem Bewußtsein und dem Ich zugehören; mein Bei-
trag soll die Traumlehre vor allem dahin ergänzen, daß auch das Wollen
im Traume erkannt werden kann. Ich setze aber die Traumdeutung folge-
richtig auch dahin fort, daß auch kleine Unterschiede in der Besetzung mit
Ichgefühl im Traume nichts Gleichgültiges und Zufälliges sind, sondern daß
auch sie determiniert sind, determiniert wie die Modalität oder die latenten
Affekte, die sie andeuten. Die Traumdeutung wird auch diese Determinierun-
gen mit der Zeit und auf Grund weiterer Forschung benutzen lernen.
7) Meine frühere Angabe, daß im Willen der Todestrieb mitwirkt, ist, wie ich in einer
ausführlichen Arbeit zu zeigen hoffe, richtig und widerspricht nicht dem oben Gesagten.
8) Wenn gewollte Handlungen im manifesten Traume vorkommen, so stammen sie
ebenso wie Denkaktionen aus dem Traummateriale.
J:>lll
Schuldgefühl, Oewissensangst und Straf oedürmis
Mach einem in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am ZI. Oktober lp31
gehaltenen Vortrage
Von
Alir ed vv i nterstein
Wien
Die Begriffe „Schuldgefühl" und „Strafbedürfnis" stehen seit einigen
Jahren im Vordergrunde der psychoanalytischen Diskussion. Freud hat
in seiner Arbeit „Das ökonomische Problem des Masochismus", um die psy-
chologisch anstößige Bezeichnung „unbewußtes Schuldgefühl" zu vermeiden,
den Ausdruck „unbewußtes Strafbedürfnis" vorgeschlagen, aber in seinem
letzten "Werke „Das Unbehagen in der Kultur" zwischen der Bedeutung
beider Wörter wieder unterschieden, „die wir", wie er schreibt, „vielleicht
oft zu lose und eines fürs andere gebraucht haben" (S. 120). In den ein-
schlägigen Arbeiten von R e i k 1 und A 1 e x a n d e r 2 ist das Hauptinteresse
auf das Strafbedürfnis gerichtet, N u n b e r g hingegen hat als erster in
seinem Aufsatz „Schuldgefühl und Strafbedürfnis" (Int. Ztschr. f. PsA. XII,
1926) eine scharfe Trennung zwischen diesen beiden Benennungen gemacht;
auch Reich spricht sich gelegentlich („Über die Quellen der neurotischen
Angst". Ebd.) gegen ihre Gleichsetzung aus.
Wir wollen zunächst einmal versuchen, Klarheit über den Inhalt des Be-
griffes „Schuldgefühl" zu gewinnen.
Schuldgefühl ist das Gefühl, schuldig, jemandem etwas schuldig zu sein.
Das, was man dem anderen oder der Gesellschaft oder Gott, in letzter Linie
den Eltern moralisch schuldet, ist — Liebe. Das Schuldgefühl ist also eine
1) Th. R e i k : Geständniszwang und Strafbedürfnis. Wien 1925.
2) F. Alexander: Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit. Wien 1927. — Neu-
rose und Gesamtpersönlichkeit. Int. Ztschr. f. PsA. XII, 1926. — Strafbedürfnis und
neurotischer Prozeß. Ebd. XIII, 1927. (Diskussion mit W. Reich.) Strafbedürfnis und
Todestrieb. Ebd. XV, 1929.
172
Alfred Winterstein
Äußerung der Objektlibido, und zwar als Reaktion auf narzißtische, prä-
genitale und vor allem destruktive Regungen. Ambivalenz ist eine wesent-
liche Voraussetzung des Schuldgefühls. Das Schuldgefühl ist ein Drang,
etwas von sich herzugeben. Gemeint ist eigentlich Gefühls hingäbe, die
sich jedoch bei den anal Fixierten durch Schenken oder Geldausgeben er-
setzen wird. Andrerseits wird auch bei denen, die echter Gefühlshingabe
fähig sind, also die genitale Entwicklungsstufe erreicht haben, ergänzend
Schenken als Ausdruck ihrer positiven Einstellung zur anderen Person und
zugleich als symbolischer Repräsentant der Kotentleerung hinzutreten. Es
besteht nämlich ein inniger Zusammenhang zwischen dem Drang nach Kund-
gabe eines positiven Gefühls und der Tätigkeit sowie den Produkten der
analen Zone (Exkretion, Exkremente). Daß das erste Geschenk, der erste
Liebesbeweis des Kindes dessen Kot ist, hat Freud schon frühzeitig er-
kannt. C. Müller-Braunschweig hat dann in seiner zu wenig be-
achteten Arbeit „Psychoanalytische Gesichtspunkte zur Psychogenese der
Moral etc." (Imago, VII, 1921) auf die Entstehung des Schuldgefühls aus
der Reinlichkeitsangewöhnung hingewiesen: das erste, was man schuldig ist,
ist Kot (daneben, wenn auch weniger hervortretend, Urin). Das Kind opfert
von seiner analnarzißtischen Retentionslust, wenn es der Erzieher gewisser-
maßen durch eine Liebesprämie verlockt, mit Hilfe seiner dadurch mobili-
sierten Objektlibido (S. 245). So entsteht die unbewußte Gleichung: Kot ab-
setzen = Liebe schenken = Schuld (auch Geldschuld) bezahlen = Opfer
bringen. Der positive Affekt, mit dem man auf der höchsten psychischen
Stufe allein zahlt, verrät seinen Zusammenhang mit dem grobmateriellen
Symbol nicht selten in der Analyse, wo der Patient sein Gefühl unbewußt
wie Kot bewertet und es für sich behalten will. Ich deute in diesem Zu-
sammenhange auch auf die Wichtigkeit des Geldhonorars für den Libido-
ablauf in der Analyse hin. Das Zahlen dient zur Entlastung des Schuldgefühls
und bildet den Übergang zur Gefühlshingabe.
Nichthergebenwollen von Gefühl und Geld kann auch durch Kastra-
t i o n s a n g s t motiviert sein, weil das Hergeben des Kotes (= Penis) aus
Liebe zu einer anderen Person nach Freud ein Vorbild der Kastration ist.
Vielleicht steht mit dieser Angst vor der femininen Einstellung die Auf-
fassung in Zusammenhang, daß es unmännlich sei, Affekte zu zeigen.
Wir haben bisher nur die anale Wurzel des Schuldgefühls betrachtet.
Der Sachverhalt wird aber dadurch kompliziert, daß auch eine noch ältere
Beziehung zur oral-sadistischen (kannibalischen) Stufe besteht. Das
Opfer, zu dem das Schuldgefühl treibt, ist nicht nur ein H e r g e b e n seiner
Schuldgefühl, Gewissensangst und Strafbedürfnis 173
• Ke nen Person, eines Stückes seines Ichs, sondern auch ein Zurückgeben
dessen, was man sich einverleibt hat. Es ist freilich ein Stück des Ichs
geworden, da es mit narzißtischer Libido besetzt wurde. N u n b e r g be-
hauptet auch, daß das Schuldgefühl organisch am Verdauungskanal
zum Ausdruck kommt. Bei einem Patienten meiner Beobachtung sprach sich
das Schuldgefühl jedesmal als starker Druck in der Kehle aus.
Wie kommt es zur Entwicklung dieses oralen Schuldgefühls? Abra-
ham (Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido. Wien 1924) denkt
es sich verknüpft mit der Überwindung des Kannibalismus; es tritt seiner
Ansicht nach als Triebhemmung erst auf der früheren anal-sadistischen Stufe
hervor. Melanie Klein (Frühstadien des Ödipuskonfliktes. Int. Ztschr. f.
PsA. XIV, 1928) ist geneigt anzunehmen, daß bereits mit den oral-sadisti-
lien Triebregungen Schuldgefühle verbunden sind, und zwar hängt diese
Auffassung mit ihren Ermittlungen über das sehr frühzeitige Einsetzen der
ödipusstrebungen zusammen. Sie verlegt deren erstes Auftreten in die Zeit
der Entwöhnung von der Mutterbrust (Ende des ersten, Anfang des zweiten
Lebensjahres); die orale sowie die spätere anale Versagung sollen zugleich
Strafe bedeuten und Angst verursachen.
Als psychischen Ersatz, vornehmlich für die versagte Mutterbrust, der
die oral-sadistischen Wünsche des kleinen Kindes gelten, introjiziert dieses
die elterlichen Liebesobjekte, die durch die Versagung in verstärktem Maße
auch Haßobjekte geworden sind. Es kommt zur ersten Ober-Ich-Bil-
dung, wobei dieses der Schicht nach tiefste Uber-Ich sadistisch streng ist und
alle jene Tendenzen des Beißens und Fressens zeigt, die das Kind auf der
kannibalischen Stufe kennzeichnen. Wenn die Sprache von „Gewissens-
bissen" redet (frz. remords, engl, remorse), so verrät sie uns noch den ur-
sprünglichen geheimen Zusammenhang; das Sprichwort „Ein gutes Gewissen
ist ein sanftes Ruhekissen" spielt vielleicht unbewußt auf das mütterliche
Ruhekissen an, auf dem das Kind einst selig schlummerte, und von dem dann
die Entstehung des Gewissens mit seinen Konflikten gewissermaßen ihren
Ausgang nimmt.
Warum tritt Angst vor einem strafenden, das heißt eigentlich mit
dem Bilde beißender, fressender Eltern schreckenden Über-Ich auf? (Von
einem Ich-Ideal mit moralischen Forderungen als Repräsentanten der Außen-
welt kann ja auf dieser frühen Stufe noch nicht die Rede sein.) Der oral-
sadistische Wunsch, der durch die Introjektion der ödipusobjekte psy-
chisch realisiert wurde und vor dem im Innern drohenden Über-Ich
nicht verheimlicht werden kann (das Uber-Ich ist zugleich Opfer und
174 Alfred Winterstein
*,:' ■!■'/!
Richter, sozusagen rächender Geist der Eltern, namentlich des Vaters),
führt zur Angst, die adäquate Strafe zu erleiden. Man mag hier ein phylo-
genetisches Erbe annehmen, man kann aber auch der Auffassung
Freuds (in „Das Unbehagen in der Kultur", S. 109 f.) recht geben, nach
der die ursprüngliche Aggression des Uber-Ichs nicht — oder nicht so sehr
— die ist, die man von den ödipusobjekten erfahren hat, oder die man ihnen
zumutet (die Eltern beißen oder fressen das Kind doch nicht heutzutage),
sondern die eigene rachsüchtige Aggression des Kindes vertritt. Je sadisti-
scher die unterdrückte Triebtendenz, desto strenger ist ja auch das Über-Ich
(„Aggression gegen Aggression" nach einem Ausdrucke von Helene
Deutsch).
Wie gerät aber die Autorität in den Besitz dieser Aggression, die ur-
sprünglich gegen das Objekt in der Außenwelt gerichtet war? Durch den
Mechanismus der Introjektion oder primären Identifizierung, der für die
Psyche fortan einen vielbegangenen Ausweg aus schwierigen ökonomischen
Situationen bildet, um zu einer Ersatzbefriedigung zu gelangen. Das Kind
nimmt gewissermaßen Partei für den Mächtigen und behandelt, die Rollen
vertauschend, das schwache Ich so, wie es das ursprüngliche Objekt der
Aggression gerne behandelt hätte.
Auf dieser frühen Stufe, dem Anfangsstadium des Ambivalenzkonfliktes,
bedeutet die Identifizierung noch einen vorwiegend objekt feindlichen
Akt, während sie später bekanntlich in erster Linie Zärtlichkeit ausdrückt.
Die Tatsache des Schuldgefühls, das mit der Überwindung des Kannibalismus
auf der ersten anal-sadistischen Stufe hervortritt und zur Ausstoßung des
einverleibten Objektes drängt, beweist, daß die Introjektion (das Auffressen)
als Vernichtung gemeint war. Hier hat dann der Ausstoßungsvorgang posi-
tiven, objektlibidinösen Charakter.
Melanie Klein, auf deren wichtige Untersuchung über die „Früh-
stadien des Ödipuskonfliktes" ich neuerlich verweise, will beobachtet haben,
daß das Kind auf dieser dritten Organisationsstufe der Libido (der früheren
anal-sadistischen) in Reaktion auf die anale Versagung (die Mutter hat
dem Kinde gewissermaßen den Stuhl weggenommen) den Wunsch entwickelt,
sich den Stuhl der Mutter* überhaupt den Inhalt des Mutterleibes, anzu-
eignen, „indem es in deren Leib eindringt, diesen zerschneidet, frißt, zer-
stört" (S. 68). Tritt noch beim Knaben mit dem Einsetzen der ödipus-
regungen die Kastrationsangst vor dem Vater hinzu, dessen Penis ja auch in
dem von Zerstörungstendenzen bedrohten Mutterleib vorausgesetzt wird
(Penis — Kot = Kind), so wird die Befürchtung der Kastrationsstrafe die
Schuldgefühl, Gewissensangst und Strafbedürfnis 175
^ngst vor dem grausam vergeltenden mütterlichen und väterlichen Uber-Ich
■weiter verschärfen. Im Dienste der Objektlibido wird dann das archaische
Schuldgefühl die Befreiung von dem in Vernichtungsabsicht angeeigneten
Inhalt anstreben; diese Befreiung wird im Unbewußten als E n 1 1 e e r u n g s-
vorgang bewertet. Noch bei Hysterischen dient Erbrechen und Stuhlgang
zur Entlastung des Schuldgefühls. Auf physischem Gebiet, auch im
Sexualakt, Heilung vom Schuldgefühl zu suchen, ist aber überhaupt ein den
erwachsenen Neurotiker kennzeichnendes Mißverständnis. "Wesentlich in die-
sem Stadium ist vielmehr, daß die neurotische Unfähigkeit
zum Lieben überwunden werde, und dies kann nur auf seelischem
Gebiete erfolgen. 3
Auch der schon bei Kindern geläufige Projektions mechanismus („der
andere ist schuld, nicht ich") bezweckt eine Entlastung vom Schuldgefühl.
Das Ausstoßen des Objektes wie Körperinhalt kann auch, wie uns der
Introjektionsprozeß beim Melancholiker lehrt, die Bedeutung des
Vernichtens annehmen. In diesem Falle dient die Introjektion der Be-
lebung, der Aufrichtung eines verlorenen Liebes objektes im Ich.
Wir wenden uns nunmehr der Untersuchung der Frage zu, wie sich aus
der Straf angst ein Straf wünsch, ein Straf bedürfnis entwickelt.
Aus der vom sadistischen Über-Ich eingeflößten Angst, gefressen, geschlagen,
kastriert, zerstört zu werden, wird der libidinös-masochistische Wunsch, diese
Schmerzen und Demütigungen von einem Elternobjekt, vorwiegend dem
Vater, dessen Vertreter das Uber-Ich ist, zu erleiden; die Bestrafung für
verbotene Wünsche ist selber Triebziel geworden. Das Strafbedürfnis ist,
wie Freud es im „Unbehagen in der Kultur" (S. 121) formuliert, eine
Triebäußerung des Ichs, das unter dem Einfluß des sadistischen Uber-Ichs
masochistisch geworden ist, das heißt ein Stück des in ihm vorhandenen
Triebes zur inneren Destruktion zu einer erotischen Bindung an das Uber-
Ich verwendet. Der Anteil der Libidostauung an der Erotisierung des De-
struktionstriebes ist hier zu beachten. Trotzdem überwiegen beim Straf-
bedürfnis im Gegensatze zum Schuldgefühl die destruktiven Tendenzen. 4
Es müßte uns eigentlich auffallen, in demselben Individuum Strebungen
mit aktivem und passivem Ziel vorzufinden, aber eine solche Spaltung des
3) Wenn O. Rank (Gestaltung und Ausdruck der Persönlichkeit. Wien 1928) als
Ursachen des Schuldgefühls allzu starke Individualisierung, Unfähigkeit zu Liebesgefühlen,
falsche Verwendung des Sexualtriebes, Mißbrauch, den das Ich mit der Sexualität treibt,
bezeichnet, meint er doch offenbar denselben Tatbestand.
4) Vgl. auch die Arbeit von O. F e n i c h e 1 : Zur Klinik des Strafbedürfnisses. Int
Ztschr. f. P S A. XI, 1925.
J 7 6 Alfred hinterstem
?■■■!'!
Trieblebens, wie wir sie in der Zwangsneurose beobachten, ist ja unserem
Verständnis nähergerückt, seitdem Freud in seiner klassischen Abhand-
lung „Das ökonomische Problem des Masochismus" eine Hypothese betreffs
der Entstehung des Sadismus und Masochismus geäußert hat, die geeignet
erscheint, Licht auf die „regelmäßigen und intimen Beziehungen" der beiden
Trieb- Widerparte zueinander zu werfen. Eine starke bisexuelle Anlage spielt
wohl auch als konstitutioneller Faktor eine Rolle. Das masochistische Es und
das aggressive archaische Über-Ich stehen in einem engen Bündnis, ergänzen
einander triebökonomisch und bilden einen Gegensatz zu dem der Wahr-
nehmungswelt zugewandten Ich und dem moralischen Ich-Ideal, dem Ge-
wissen, das die Forderungen der äußeren Realität vertritt. Freud selbst
(„Das Ich und das Es", Ges. Sehr. Bd. VI, S. 393 f.) deutet eine solche Zwei-
teilung mit der Annahme an, daß das Über-Ich eine ganz ursprüngliche Iden-
tifizierung mit den Eltern verbirgt, die jeder Objektbesetzung vorangeht.
Ch. O d i e r („Vom Über-Ich", Int. Ztschr. f. PsA. XII, 1926) hat den Vor-
schlag gemacht, dieses primäre Über-Ich „Über-Es" zu benennen. Ihm gegen-
über hat das moralische Über-Ich oder Ich-Ideal die Bedeutung einer ener-
gischen Reaktionsbildung gegen die ersten Objektwahlen des Es und richtet
sich überhaupt gegen einen großen Teil der Triebansprüche (Gewissen und
Moral sind ja durch Desexualisierung entstanden).
Das Strafbedürfnis ist also eine pseudomoralische Verkleidung des
masochistischen Wunsches, überwältigt, vernichtet zu werden. In ihm er-
kennen wir den ursprünglichen, erogenen Masochismus wieder, der bereits
die frühinfantile Angst, gefressen zu werden, zu einer libidinösen Wunsch-
situation umgestaltet. 5 Die Gewissensangst dagegen, mit der nach
Freud das Schuldgefühl in seinen späteren Phasen ganz zusammenfällt
(„Unbehagen", S. 119), ist eine unmittelbare Fortsetzung der erst der phal-
lischen Organisationsstufe angehörenden Kastrationsangst, an
der bekanntlich der Ödipuskomplex „zerschellt", dessen Erbe das Über-Ich
wird. Passiv-masochistische Kastrationsphantasien aus der femininen Sohnes-
einstellung schaffen nur allzu leicht den Übergang von der Gewissensangst
zum Strafbedürfnis, während wiederum die der Angst vor dem Über-Ich
(Gewissensangst) unbewußt zugrunde liegende Kastrationsangst beim Neu-
rotiker den objektlibidinösen Antrieb zur Gefühlshingabe regelmäßig hemmt.
Ich nannte diesen Drang zur „Begleichung einer Gefühlsschuld" Schuld-
gefühl, weil er eine dem Bedürfnis nach Aussöhnung mit dem Ich-Ideal
entspringenden Reakti on gegen die Wahrnehmung nicht genitalerotischer,
j) Ich merke hier auch an, daß der ausgesprochene Masochist kein Schuldgefühl hat.
Schuldgefühl, Gewissensangst und Strafbedürfnis 177
nicht artgerechter (also auch inzestuöser) Triebansprüche darstellt. Die im
c h t e n, normalen Schuldgefühl enthaltene positive Äußerungstendenz ist
nun, wie schon erwähnt, beim Neurotiker immer gehemmt, und da die
Angst hier eine wichtige, wenn auch nicht ausschließliche Rolle spielt, ist
C s praktisch so schwer, Angst und neurotisches Schuldgefühl zu un-
terscheiden. Freud meint ja sogar, daß das Schuldgefühl im Grunde nichts
ist als eine topische Abart der Angst.
Noch einmal: Das Gefühl der Verantwortung gegen das Ich-Ideal, das
als Vertreter der Außenwelt die soziale Forderung nach Gefühlsverbunden-
heit mit den anderen 6 einschärft, der aktive Drang, Verstöße gegen
dieses Gebot durch die Tat wieder gutzumachen, steht zweifellos auf einer
höheren psychischen Stufe als das Angstgefühl des Ichs einer sadistischen
Macht gegenüber, die ihre Abkunft von den strengen, mit Kastration dro-
henden Eltern nicht verleugnet. Reich („Die Funktion des Orgasmus",
S. 1 $9) meint zwar, daß die infantile Kastrationsangst für das
Kind nur die Befürchtung darstellt, am Genitale beschädigt zu werden,
wenn es einer verbotenen libidinösen Triebregung nachgibt, während
die Gewissensangst die Reaktion auf die "Wahrnehmung einer ver-
drängten destruktiven Tendenz ist und daher Aggressions-
angst, Angst vor den Folgen der eigenen Aggression genannt werden sollte.
Aber ich glaube, daß die Kastrationsangst auch Angst vor den Folgen der
eigenen Aggression, der eigenen aktiven Kastrationswünsche bedeutet (die
libidinösen und die aggressiven Strebungen hängen ja im Ödipuskomplex
und in den Masturbationsphantasien untrennbar zusammen), ebenso wie die
Aggressionsangst auch einen libidinösen Faktor in sich schließt, indem die
Versagung einer libidinösen Befriedigung aggressive Impulse gegen die Per-
son hervorruft, welche die Befriedigung verhindert (siehe auch Freud,
„Unbehagen", S. 124). Der von Freud angenommene Zusammenhang zwi-
schen Kastrations- und Gewissensangst besteht also wohl zu Recht, und die
Gewissensangst ist Angst vor dem Über-Ich wegen der vom Uber-Ich ver-
pönten destruktiven und libidinösen Tendenzen. Das Schuldgefühl hin-
gegen ist kein Angstaffekt, sondern eine Äußerung freiwerdender Objekt-
libido. Eine Entlastung des Schuldgefühls tritt dann ein, wenn wir uns im
Sinne der genitalen, aktuellen Ober-Ich-Instanz mit den anderen gefühls-
6) Man kann auch ein (uneigentliches) Schuldgefühl seinem narzißtischen Ich-Ideal
gegenüber empfinden, wenn man sich z. B. nicht die richtigen Entwicklungs- und Lebens-
möglichkeiten gegönnt hat. In diesem Falle ist man sich selbst gewissermaßen einen
Liebesbeweis schuldig geblieben.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVIII— 2 12
i 7 8
Alfred "Winterstein
;:,!.'il
r" ;l ■ i
mäßig verbinden, positive Gefühle auf sie übertragen. Die unbewußte
Wartung eines jeden Neurotikers, daß nur die Liebe ihn von seinem quälende«
Schuldgefühl heilen könne, beruht insofern auf Wahrheit. Nun wird, wie
ich schon eingangs ausgeführt habe, die Gefühlshingabe vom Neurotiker
namentlich vom Zwangsneurotiker, unbewußt als Ausstoßen von Körper-
inhäk, als Zurückgeben dessen, was man sich einverleibt hat, bewertet. Ich
erinnere in diesem Zusammenhang auch daran, daß der so häufige Ge-
burtstraum am Ende der Analyse die Befreiung vom neurotischen
Schuldgefühl symbolisiert, indem dem Analytiker ein anales Kind geboren
wird. Ein Konflikt entsteht beim Neurotiker aber dadurch, daß die Liebe,
die Objektlibido, das introjizierte, „gefressene" Objekt in die Außenwelt
zurückversetzen, befreien will, indes die nämliche Tendenz als Aussto-
ßung s Vorgang vom Standpunkte der früheren anal-sadistischen Phase und
der narzißtischen Einverleibungsstufe destruktive Bedeutung besitzt.
Die Hemmung des Antriebes zur inneren Entlastung, die das Schuldgefühl
reaktiv vertieft, hat mehrfache Wurzeln: neben der narzißtischen
(zu der auch die obenerwähnte Kastrationsangst gehört) eine
anale (anale Retentionslust), ferner das libidinös-masochistische Straf-
bedürfnis des Ichs, das bei ichidealgerechtem Verhalten dem sadistischen
Über-Ich keinen Anlaß böte, ihm (dem Ich) unter dem heuchlerischen
Aspekte der Bestrafung Lust zu bereiten. Die Befriedigung des Strafbedürf-
nisses steht also der Befreiung vom Schuldgefühl entgegen. Alexander
behauptet, daß das neurotische Leiden dem Patienten eine Entlastung seines
Schuldgefühls gewährt (Leiden zur Tilgung von Schuld). Demnach müßte
doch theoretisch die Krankheit in irgendeinem Zeitpunkte das Schuldgefühl
gänzlich aufheben. Dies ist aber tatsächlich nicht der Fall, das Schuldgefühl
bleibt nach wie vor bestehen und vertieft sich sogar. Hingegen wird das
Strafbedürfnis ausgiebig befriedigt, indem die Straftendenzen immer mehr
in den Dienst der masochistischen Strebungen treten; auch kann das Straf -
bedürfnis reaktiv noch verschärft werden, wenn im weiteren Verlaufe der
Neurose das Verdrängte wieder durchbricht. Das Ich des Kranken läßt sich
vom infantilen Über-Ich täuschen, das ihm Befreiung vom Schuldgefühl
durch Leiden in Aussicht stellt, indes das Über-Ich in Wahrheit durch diese
Strafe dem Es zu einer Triebbefriedigung verhilft. Weil der Neurotiker
durch das Erleiden der Bestrafung seitens des Über-Ichs nicht vom
Schuldgefühl entlastet wird, wird dadurch auch nicht — wenn wir uns auf
den Boden von Alexanders Annahme stellen — ein (pseudomoralischer)
Anspruch auf Triebbefriedigung erworben; in der Züchtigung durch das
Schuldgefühl, Gewissensangst und Strafbedürfnis 179
adistische Ober-Ich hat die verdrängte Triebregung, und zwar die maso-
chistische, schon ihren Lohn dahin. Der von Alexander (Int. Ztschr. f.
PsA- XI, 1925) beschriebene Mechanismus der Traumpaare, nach dem z. B.
ein Inzesttraum oft erst dadurch möglich werden soll, daß ein Straftraum
vorangeht und so gewissermaßen ein moralisches Guthaben zur Begleichung
der Schuld des zweiten Traumes schafft, — dieser Mechanismus ist in Wirk-
lichkeit rein triebökonomischer Natur und in dem angeführten
Beispiel eine Äußerung des vollständigen Ödipuskomplexes, wobei
sich der passiv-feminine Sohneswunsch 7 infolge der Tiefe der Verdrängung
ein moralisches Mäntelchen (die Strafszene) umhängen muß, das jedoch nicht
im Hinblick auf den Zusammenhang mit dem folgenden Traum gewählt
wird. Eine solche teleologische Tendenz, die Ausstellung gewissermaßen eines
Freibriefes für die Sünde, scheint mir der Moral des Systems Ich — Über-Ich
doch wohl allzu fremd zu sein. 8 Anders verhält es sich allerdings mit der an
sich moralischen Auffassung, daß begangene Sünde durch Leiden nach-
träglich getilgt wird. "Wir haben aber auch gehört, daß das Schuldgefühl im
Widerspruche zu dieser Meinung tatsächlich durch das Leiden nicht ge-
mindert wird. Abwesenheit von Schuldgefühlen oder mindestens Abschwä-
chung sehen wir hingegen dort, wo es zur restlosen objektlibidinösen Be-
friedigung und zur genitalen orgastischen Potenz kommt. Eine Patientin
meiner Beobachtung (eine verheiratete Frau, die eine Beziehung mit einem
anderen Manne unterhielt) empfand ihrem Gatten gegenüber jedesmal dann
weniger Schuldgefühl, wenn ihr Liebhaber sie genital völlig befriedigt hatte.
Es ist aber nicht eigentlich die bloße somatisch-libidinöseEntspan-
n u n g, die das Schuldgefühl entlastet; eine wichtigere Rolle scheint hierbei
die volle Gefühlshingabe (Befriedigung der Liebessehnsucht) zu
spielen, die allerdings schon die Überwindung der Hemmungen
des im Schuldgefühl liegenden Dranges nach Entäußerung voraussetzt. Der
Neurotiker ist dazu aus eigenem fast nie imstande; wo die realen Verhält-
nisse ihm nicht sehr entgegenkommen, wird nur die Analyse ihm er-
möglichen, die Hemmungen zu überwinden. Aber auch dem Analytiker wird,
um Freuds Worte („Das Ich und das Es", Ges. Sehr., Bd. VI, S. 395)
anzuführen, „der Kampf gegen das Hindernis des »unbewußten Schuldge-
7) Alexander betont selber, daß im ersten Traum die Strafe gleichzeitig eine
passiv-homosexuelle Wunschbefriedigung gewährt. Warum sollte das Gewissen gerade
diese Lustbefriedigung als moralisches Guthaben buchen?
8) Auch vermisse ich das häufige Vorkommen dieses Mechanismus, das erst zu so
weitgehenden Folgerungen berechtigen würde.
12*
l8 ° Alfred Winterstein
fühls' (gemeint ist das masochistische Strafbedürfnis) nicht leicht gemacht"-
denn es repräsentiert den "Widerstand des Uber-Ichs gegen die Genesungs-
arbeit. Im Sinne unserer Unterscheidung werden wir genauer sagen: es re-
präsentiert den "Widerstand des prägenitalen, archaischen Über-Ichs oder
„Ober-Es". Diesem tritt das Bestreben des Analytikers entgegen, dem Pa-
tienten ein neues bewußtes Ich-Ideal zu schaffen, das mit dem Ich und der
äußeren Realität in enger Verbindung steht und die Funktion der Trieb-
regelung übernimmt, also gewisse Regungen nicht mehr automatisch ver-
drängt, sondern bewußt verurteilt, andere aus der Verdrängung befreit. Diese
Ich-Ideal-Bildung hat dann auch eine zweckmäßige Objektwahl und unge-
hemmte Gefühlshingabe zur Folge.
"Wodurch wird aber die Heilung bewirkt? Der erste therapeutische Schritt
ist die Herstellung der Ü b e r t r a g u n g, die eine Wiederholung der alten in-
fantilen Objektwahl repräsentiert. Der Analytiker übernimmt jetzt jene Funk-
tion der Triebaufsicht, die ursprünglich den Eltern oblag und dann auf
das Uber-Ich des Patienten überging. In der Übertragung wird auch ein
großes Stück des Dranges zur Gefühlshingabe, soweit er unbewußt ist, und
der unbewußte Anteil der Gewissensangst, der die ursprüngliche Kastrations-
angst enthält, bewußt gemacht, wobei ein aktives Vorgehen des Analyti-
kers oft eine wirksame Hilfe für die „Mobilisierung des Schuldgefühls"
(nach dem Ausdrucke R. Jokls) bildet. Die unvermeidliche Versagung,
durch die das (neurotische) Schuldgefühl hervorgerufen wird, indem sie
einerseits als Strafe gedeutet wird, andrerseits Haßregungen weckt, be-
schwört die Gefahr herauf, daß der Analysand sich in neurotischer Weise
mit dem Analytiker identifiziert. Hier muß nun der ichstärkende,
angstmindernde Einfluß des Analytikers im Verein mit bewußten
intellektuellen narzißtischen Ichtendenzen des Patienten (ich meine die nar-
zißtische Befriedigung über das Miterleben der intellektuellen Erkenntnis-
leistung in der Analyse) dahin wirken, daß sich die Identifizierung mit dem
Analytiker im Ü b e r - I c h und nicht etwa im Ich auf Veranlassung des
Es abspielt. Diese Identifizierung, richtiger: eine Art Ich-Ideal-Ersetzung
durch das Objekt, bedingt bereits beim Patienten eine Minderung, wenn nicht
die Überwindung des neurotischen Schuldgefühls. Die, Angst vor der vollen
Gefühlshingabe, die, wie wir gehört haben, auch mit der Kastrationsangst
zusammenhängt, schwindet ja in der Übertragungsliebe, deren Meisterung
durch den Arzt eine "Wiederkehr der Angst beim Patienten verhindern wird.
Der Zwang zur Mitteilung, der die Analyse beherrscht, der Durchbruch der
Isolierung, in der sich der Neurotiker befindet, hat, wie Sachs richtig
Schuldgefühl, Gewissensangst und Straf bedürfnis 181
bemerkt hat, hervorragenden Anteil an der Aufhebung des Schuldgefühls,
das schon dadurch, daß es intensiver wird, auf seine eigene Überwindung
zielt und sozusagen eine erste Stufe gefühlsmäßiger Verbindung mit den
anderen darstellt. Wir haben in der neueren analytischen Literatur 9 die An-
sicht vertreten gehört, daß der nicht erfüllte erotische Anspruch, die ge-
hemmte Triebbefriedigung, wie sie ja den Neurotiker kennzeichnet, eine
Steigerung des Schuldgefühls hervorruft (siehe dagegen Freud: Das Un-
behagen in der Kultur, S. 124). Wir können diesen Tatbestand libido-
ökonomisch als Stauung der narzißtischen Libido bezeichnen, die durch eben
diese Stauung i 1 ie Tendenz erhält, nach außen, aufs Objekt abzuströmen.
Diese Tendenz wird sich seelisch als verstärkter Druck des Schuldgefühls
geltend machen. Umgekehrt kann aber auch das Schuldgefühl eine Libido-
stauung dadurch mitbedingen, daß es die Triebbefriedigung hemmt, nicht nur
aus Gewissensangst (die ja dem neurotischen Schuldgefühl stets anhaftet),
sondern vielleicht auch deshalb, weil das Schuldgefühl im eigentlichen Sinne
die physische Triebbefriedigung als untaugliches Mittel ansieht, das
seelische Liebesgefühlsproblem zu erledigen.
In der dynamisch schwierigeren Phase der Ablösung vom Analytiker
handelt es sich vor allem darum, die Einstellung des E s zum neuen
Ich-Ideal möglichst realitätsgerecht zu gestalten, das heißt: die Libido
an die Außenwelt anzupassen und ihre infantilen Wünsche und Strebungen
zu berichtigen. Die Überwindung des Widerstandes des Unbewußten ge-
schieht bekanntlich auf dem Wege des „Durcharbeitens", der ein langer und
mühsamer Weg ist. Das „Geheimbündnis" zwischen Es und Uber-Ich (das
„Uber-Es" O d i e r s), von dem Alexander spricht, wird den Analytiker
aber auch noch in diesem Stadium der Analyse auf einen allfälligen Wider-
stand dieses alten Über-Ichs achten lassen, nach den Worten Freuds
(Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI, S. 103) den „zuletzt
erkannten, dunkelsten, aber nicht immer schwächsten" Widerstand. Dieser
wird, wie wir wissen, durch das übergroße unbewußte Strafbedürfnis mobili-
siert, um sich der Genesung, die ja Befreiung vom masochistisch-lustvollen
Leiden bedeutet, zu widersetzen. Einem solchen Gegner haben wir in der
analytischen Therapie nichts Besseres als das doch auch irgendwie vor-
handene Streben des Patienten, gesund zu werden, entgegenzustellen, und
unter den Genesungsmotiven des Neurotikers kommt der Triebkraft des
5») Namentlich bei E. Jone s, Melanie Klein und Susan I s a a c s, ferner bei
Alexander und Reik.
Alfred "Winterstein: Schuldgefühl, Gewissensangst und Straf bedürfnis
Schuldgefühls, so wie ich es verstehe: als objektlibidinösen Drang zur Ge-
fühlshingabe, zweifellos entscheidende Bedeutung zu.
Ich möchte mit ein paar Versen schließen, die ein hellsichtiger Dichter,
der auch ein schwerer Neurotiker war, C. F. M e y e r, geschrieben hat (Ge-
dichte, S. 61):
„Wie sühnt sich die verjährte Schuld,
Die bitterlich bereute?
Mit einem strengen Heute?
Mit Büßerhast und Ungeduld?
Nein. Mit ein bißchen Freude!"
Diese Freude wird aber nur auf der Stufe der Gefühlsverbundenheit mit
anderen Menschen erblühen.
Die Realität und das Es in der Schizophrenie
Vortrag in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, am 6. Oktober lp31
Von
Angel Garma
Madrid
Nach Freud ist die Neurose das Resultat eines Konfliktes zwischen
dem Ich und dem Es, die Psychose das eines Konfliktes zwischen dem Ich
und der Realität: „Ich habe kürzlich einen der unterscheidenden Züge
zwischen Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das Ich
in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es (Trieblebens) unterdrückt,
während sich dasselbe Ich bei der Psychose im Dienste des Es von einem
Stück der Realität zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht
des Realeinflusses, für die Psychose die des Es maßgebend." (9, S. 409.)
In folgenden Zeilen finden wir dies praktisch erläutert: „Ich will z. B.
auf einen vor langen Jahren analysierten Fall zurückgreifen, in dem das
in ihren Schwager verliebte Mädchen am Totenbett der Schwester durch
die Idee erschüttert wird: Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese
Szene wird sofort vergessen und damit der Regressionsvorgang eingeleitet,
der zu den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber gerade hier lehrreich
zu sehen, auf welchem "Wege die Neurose den Konflikt zu erledigen ver-
sucht. Sie entwertet die reale Veränderung, indem sie den in Betracht
kommenden Triebanspruch, also die Liebe zum Schwager, verdrängt. Die
psychotische Reaktion wäre gewesen, die Tatsache des Todes der Schwester
zu verleugnen." (9, S. 410.)
Versuchen wir an diesem theoretischen Beispiel der psychotischen Reak-
tion die vorhin zitierte Formulierung von Freud über den Unterschied
zwischen Neurose und Psychose anzuwenden. Wir müssen sofort feststellen,
daß die Leugnung des Todes der Schwester keine Befriedigung für das Es
darstellt. Im Gegenteil, die Realität wird zwar verleugnet, doch befriedigt
dies keineswegs den Triebwunsch, sondern es geschieht aus Triebabwehr-
M
gründen, weil die Realität anstößige Wünsche des Individuums befriedigt.
Hätte sich in der Psychose das Ich in den Dienst des Es gestellt und i n
dieser Funktion einen Teil der Realität unterdrückt, dann wäre die Reaktion
etwa folgende gewesen: Die Patientin hätte ihren Wunsch, eine sexuelle
Beziehung mit dem Schwager zu haben, völlig erkannt und etwa verbietende
Verwandte in negativer Halluzination verleugnet.
Beobachtet man die Schizophrenen einer Anstalt, so hat man ebenfalls
Schwierigkeiten, die Theorie von der das Es befriedigenden Funktion der
Psychose anzuwenden. "Wir kennen z. B. die häufigen Selbstverstümmlungen,
Kastrationen, Selbstmorde bei Schizophrenen; bei Neurotikern ist derartiges
viel seltener. Wir können in diesen Symptomen keine Befriedigung des Es
im primären Sinne sehen, es könnte höchstens eine ,masochistische Befrie-
digung sein. Ebensowenig können wir verstehen, warum Schizophrene sich
so oft über vermeintliche Berührungen an den Genitalien beklagen. Wenn
sich der Patient von der Realität abgewendet hätte, um seine Triebe zu
befriedigen, weshalb beklagt er sich dann z. B. über Feinde, die ihm eine
Erektion verursachen, anstatt lustvoll seine sexuellen Wünsche durch Koitus
oder Onanie zu befriedigen? Katatoniker mit kataleptischen Symptomen,
Psychotiker, die die Nahrungsaufnahme trotz Hungers verweigern, machen
ebensowenig den Eindruck, daß sie nur nach der Befriedigung des Es
trachten.
Psychotiker sind Kranke, die bis auf die orale Phase oder vielleicht
noch tiefer regrediert sind. Vor der verhängnisvollen Regression hatte der
Kranke bereits ein höheres Entwicklungsstadium der Libido erreicht. Wir
wissen, wie es sich mit der Regression bei der Neurose verhält: Ein Zwangs-
neurotiker z. B. hat die genitale Phase erreicht, die Realität bringt Ver-
sagungen, die ihn in die infantile Wunschwelt zurückbringen; die damit
geweckte Angst vor der Kastration bewirkt, daß der Kranke auf die anal-
sadistische Phase regrediert; das heißt, es ist letzten Endes die Realität, die
ihn hindert, den Genitalprimat beizubehalten. Die Regression ist die Kon-
sequenz zweier Faktoren: einer aus der Kindheit mitgebrachten Fixierung
an eine bestimmte Phase und einer Versagung in einer vorgeschrittenen.
Diese Versagung ist durch die Realität hervorgerufen. Geschähe die Reaktion
des Psychotikers auf seine Realversagung lediglich im Dienste des Es, so
wäre es unerklärlich, daß er nachher noch Konflikte und Restitutions-
tendenzen hat. Es ist ja gerade das unbefriedigte Es, von dem die Restitu-
tionsversuche ausgehen.
Theoretisch wäre es dann ebensowenig erklärlich, daß die Schizophrenen
Die Realität und das Es in der Schizophrenie 185
Schuldgefühle haben. Wir wissen, daß bei ihnen häufig Klagen, wie etwa
folgende einer Patientin B i b r i n g s auftreten: „Man sage, sie sei unsitt-
lich und unrein, verbreite einen Geruch, stinke, beschmutze das Tischtuch,
Leintuch, die "Wäsche, insbesondere aber das Klosett. Dieses sei mit Kot
beschmutzt, der Spiegel oft mit Kot bedeckt usw. An diesen Dingen, die
ihr die Stimmen vorwerfen, beteuert die Patientin völlig unschuldig zu
sein." (2, S. 47.) Schuldgefühle zeigen eine Spannung zwischen dem sich
für die Triebe des Es verantwortlich fühlenden Ich und dem Uber-Ich,
dem Stellvertreter der Realität, an. Wenn diese Realität für den Kranken
keine Bedeutung hätte, verstünde man nicht, wie eine solche Spannung
entstehen könnte. Wir sehen aber tatsächlich Schuldgefühle, die manchmal
eine Intensität erreichen, wie wir sie bei Neurotikern niemals beobachten.
Auch mit der Annahme, die Psychosen bedeuten zwar nicht eine volle
Befriedigung der Triebwünsche der Erwachsenen, wohl aber eine narzißtische
Befriedigung, gerät man in Schwierigkeiten. So braucht Federn für
die Psychose die Bezeichnung „narzißtischer Rausch" und meint damit,
daß der Patient die Realität verwerfe und die narzißtischen und auto-
erotischen Neigungen seiner Organe befriedige. Dem widerspricht z. B.
schon eine Beobachtung, die Taust in seiner Studie über den Beein-
flussungsapparat bei Schizophrenen gemacht hat. Er zeigt uns, daß dieser
Apparat den Körper des Kranken darstellt, welcher in die Außenwelt
projiziert wird. „So mag es sich auch mit der narzißtischen Organlibido
bei der Schizophrenie verhalten. Das entfremdete Organ — in unserem
Falle der ganze Körper — erscheint als äußerer Feind, als Apparat, mit
dem den Kranken Leid zugefügt wird . . . Unter diesen mögen die Genitalien
als Anlaß zur Projektionstechnik eine bevorzugte Stellung einnehmen."
(23, S. 28.) Diese Projektion in die Außenwelt ist nach Tausk eine
Projektion der narzißtischen Libido der Organe. Wenn für die Psychose
die Übermacht des Es gegenüber der Realität maßgebend wäre, bliebe es
unverständlich, weshalb diese Kranken ihre narzißtische Libido abzuwehren
suchen, die sie theoretisch widerspruchsfrei befriedigen müßten. Der Vor-
gang der Abwehr in dieser Projektion zeigt sich besonders klar bei einer
Patientin von Tausk: Sie empfindet zunächst Entfremdungsgefühle,
dann zeigt sich der Projektionsapparat mit der Charakteristik des mensch-
lichen Körpers, später verschwindet diese Charakteristik derart, daß der
Apparat keine Genitalien mehr besitzt, die er ursprünglich hatte. Das heißt:
die Kranke wehrt mit der Projektion des Körpers und mit dessen Ent-
stellung die narzißtische Liebe ab.
1
Io6 Angel Garma
Depersonalisationszustände sind bei der Schizophrenie besonders häufig.
Nach dem, was uns Reik, Fenichel und andere bewiesen haben, ist
die Ursache der Depersonalisation eine Abwehr der Triebe. „Das für die
Depersonalisation konstitutive Merkmal wäre nur, daß das vom Ich Ab-
gewehrte nicht allgemein Triebhandlungsimpulse, sondern speziell Gefühls-
und Empfindungsdaten der inneren Wahrnehmung wären . . . Nur dadurch,
welche Daten der inneren Wahrnehmung jeweils außer Kraft gesetzt sind,
unterscheiden sich Depersonalisation und Verdrängung." (Fenichel 7,
S. 61.) Die Theorie über die Entstehung der Psychosen im Dienste des Es
erklärt nicht, warum Depersonalisation häufiger als in anderen psychischen
Krankheiten in der Schizophrenie auftritt.
Von der Arbeit Tausks ausgehend wollen wir zur Klärung dieser
Probleme uns zunächst mit der Abwehr der auf den eigenen Körper bezüg-
lichen Sensationen und Wünsche befassen. Die Beziehungen zwischen Es,
Außenwelt und Über-Ich sind beim Manne leichter durchschaubar als bei
der Frau; aus diesem Grunde werden wir in dieser Arbeit unsere Unter-
suchungen nur am Manne vornehmen.
Man kann die gegen den eigenen Körper gerichtete Abwehr auch ar
den Phänomenen der Religion studieren. So sind z. B. die drei Erzfeinde
der Seele in der christlichen Religion die Welt, der Teufel und das Fleisch.
Ein religiöser Mensch schützt sich vor den Versuchungen, die von seiner
Körper ausgehen, indem er seinen Körper als Feind betrachtet. In der
Religion bedeutet der Körper nur die Umhüllung der Seele, nur diese ist
unsterblich; der Körper wird zu Staub und ist die Ursache von vielen
Sünden, deswegen soll man ihm und seinen Anforderungen keine Auf-
merksamkeit schenken. Einige Religionen gehen sogar so weit, daß sie die
Existenz des Körpers nicht wahrnehmen wollen, z. B. behauptet die
Christian Science, daß der Körper nur eine Illusion sei.
Was ist die Ursache der Unterdrückung des eigenen Körpers in der
Religion? Im allgemeinen kann man folgendes darauf antworten: Das
religiöse Ich unterwirft sich den Geboten des Uber-Ichs (Gottes) und ver-
drängt das Es (Körper), um der Strafe zu entgehen.
Erinnern wir uns jetzt, wie häufig religiöser Wahn bei Schizophrenen
auftritt. Die Kranken fühlen sich berufen, die Welt zu retten, Gott spricht
mit ihnen oder verfolgt sie. Als Beispiel dafür steht uns ein klassischer
Fall, nämlich der Schrebers, zur Verfügung.
Die Realität und das Es in der Schizoph renie 187
Bei Schreber tritt die homosexuelle Libido klar hervor. Er glaubt, eine
Frau zu werden, sich kastrieren und Gott unterwerfen zu müssen, um die
Welt zu retten usw. Die reale "Welt verschwindet für ihn. Die Menschen
sind „flüchtig hingemachte" Menschen; später in seinem homosexuellen
Wahn entsteht für ihn eine neue Realität. Sehr deutlich hat Wälder
den Unterschied im Auftreten der homo- und heterosexuellen Libido erklärt:
Ware bei Schreber nicht der völlige Durchbruch der Homosexualität ge-
glückt, sondern wären genug Gegentendenzen stark geblieben, so daß nur
ein offener Konflikt die Folge sein konnte, so hätte dieses Erlebnis bei
sonst gleichen Bedingungen — Variation des Objekterlebens und Hypergnosie
_ dazu führen können, daß die Inhalte seines Wahns in der Form von
Zwangsgedanken aufgetreten wären: homosexuelle Vergewaltigungsphan-
tasien, die sich schreckhaft aufdrängen, stets abgewiesene und zwanghaft
wiederkehrende Erlösungsphantasien usw." (24, S. 303.)
Auch der religiöse Mensch hat einen partiellen Verlust der Realität. Wir
sehen dies z. B. deutlich bei dem Einsiedler, der nur betet und alles andere
vernachlässigt; auch bei den Mönchen, die die Welt verlassen und sich in
die Klausur zurückziehen. Die Realität, die der religiöse Mensch unter-
drückt, ist diejenige, welche die Triebe des Es befriedigt. Der Kontakt mit
dieser Realität, z. B. das Ansehen einer schönen Frau, reizt die Triebe des
Es, und deswegen muß man sie abwehren, wie man das Es abwehrt. Wir
können dies so formulieren: Infolge der Unterwerfung unter das Über-Ich
wird die Realität unterdrückt, da sie das Es befriedigt oder wenigstens in
Versuchung führt. In allen Religionen werden die Welt (Realität) und das
Fleisch (Es) gleich behandelt; so wie es verboten ist, sündige Gedanken
aufkommen zu lassen, ist es auch nicht erlaubt, an Stätten zu weilen, welche
diese Gedanken wecken könnten. Der religiöse Mensch steht in einer maso-
chistischen Einstellung Gott gegenüber, und deswegen versagt er sich die
Befriedigung seiner aktiv-maskulinen Wünsche 1 . Wir sehen, daß er eine
große Ähnlichkeit mit Schreber hat; auch dieser verzichtet auf seine Männ-
lichkeit, auf seine aktiven Wünsche und läßt sich kastrieren und von Gott
koitieren.
Um seine Triebe zu befriedigen, braucht der Mensch die Realität. Er
1) „Die sexuelle "Wurzel des ekstatischem Erlebens und die Zielerreichung im Subli-
mierungsakte lassen sich übrigens in allen ekstatischen Konfessionen aufzeigen. Die
Störungen vom Teufel, manchmal auch der Sieg des Teufels, entsprechen dem Mißlingen
der Sublimierung, dem Durchbruch des Es in die Ich-Ober-Ich-Einheit." (H. Deutsch,
3. S. 414.)
1
i88
Angel Garma
versucht, sie zu bezwingen und die Befriedigung seiner Wünsche in ihr x u
finden. Die Realität ist nicht nur etwas, was unsere Triebe einschränkt,
sondern auch die Gelegenheit zu ihrer Befriedigung. Der Realitätssinn ent-
wickelt sich zu einem nicht geringen Anteil infolge des befriedigenden
Charakters der Außenwelt. „Alle Trennungserlebnisse der Kindheit gehen
nicht nur, wie Freud gezeigt hat, mit Steigerung des Spannungs-
zustandes einher, der zu neuen höheren Befriedigungsquellen drängt, sondern
auch mit einem durch den Entwicklungsgang bedingten Sättigungszustand,
dem die von der Außenwelt aufgedrängte Versagung und Trennung vielleicht
vorauseilt, dem sie aber auch entgegenkommt. Das Kind verläßt den Mutter-
leib nicht nur, weil es ausgestoßen wird, trennt sich von der nährenden
Brust nicht nur, weil sie ihm entzogen wird. Als Folge biologischer Be-
stimmungen wird jede Befriedigungsform zugunsten einer neuen verlassen,
nachdem sie die neuen Luststrebungen nicht mehr befriedigen kann. Wenn
wir hier von einer ,Übersättigung c sprechen, so stellen wir somit den bio-
logischen Vorgang in Parallele zu den später sich wiederholenden psycho-
logischen Erlebnissen." (H. Deutsch, 3, S. 41 y.) Der erwachsene Mann
braucht die Frau, um seine genitalen Triebe zu befriedigen. Diese Frau
findet er in der Realität. Deswegen ist die Realität für ihn lustbringend.
Dasselbe gilt für Hunger, Durst usw. Die Realität bringt uns die Gelegen-
heit zur Triebbefriedigung. (Insofern ist die Realität nicht triebversagend,
sondern triebbefriedigend.)
Auch der Neurotiker hat zum Teil einen Verlust der Realität. Wir
können diesen Verlust erkennen, wenn wir das Benehmen des Patienten
vor und nach der analytischen Behandlung vergleichen; wenn die Analyse
erfolgreich war, behandelt und versteht der Patient die Realität viel besser
als vorher. Unsere Tätigkeit in der Analyse machte Verdrängungen rück-
gängig, und wir erleichterten dadurch den Kontakt des Patienten mit der
Umwelt. In der Neurose unterwarf er sich einer unangenehmen Realität
(nämlich der, von der die Kastrationsdrohung ausging) und verdrängte
eine angenehme (nämlich die faktische, welche Befriedigungsgelegenheiten
enthält).
Wir können diesen Verlust der Realität als Folge der Triebunterdrückung
z. B. bei Kranken mit Depersonalisationszuständen sehen. Es genügt, dafür
folgende Äußerungen eines Patienten von S a d g e r zu zitiere^: „Es scheint
sogar eine Parallele zu bestehen zwischen großem Penis und meinem Wohl-
befinden. Je deprimierter ich in der Neurose wurde, desto mehr schrumpfte
mein Glied zusammen. Und manchmal, wenn ich ganz empfindungs- und
Die Realität und das Es in der Schizophrenie 189
gedankenlos bin, ist es mir, als hätte ich an derselben Stelle nichts ... Im
Augenblick, wo für mich das Sexuelle aufhörte, hörte auch die ganze Welt
für mich zu existieren auf. Weil das Geschlechtliche nicht wahr sein, nicht
existieren durfte, ist alles andere auch nicht wahr, nicht existierend . . . Ich
lebte wie in einem Traum, sah alles wie durch einen Schleier und nach und
nach kam mir jede Tat als unsinnig vor." (Sadger, 20, S. 331— 332.)
Erinnern wir uns jetzt, wie oft die Depersonalisation eines der Anfangs-
symptome des Schizophrenie ist.
Wir sehen, daß der Kontakt mit der Realität um so größer ist, je freier
die Triebe sind. 2 Wer verdrängt, verliert die befriedigende faktische Realität
und unterwirft sich zugleich der versagenden psychischen Realität.
Beim Studium der Religion und Schrebers sind wir also zu folgendem
Schluß gekommen: Das Ich befindet sich in einer masochistischen Beziehung
dem Über-Ich gegenüber, das Es wird verdrängt und die Realität wird
abgewehrt, weil sie das Es befriedigen würde. An dem von Freud be-
schriebenen Bruch mit der Realität bei der Schizophrenie ist also kein
Zweifel. Wir fragen uns aber, ob dieser Bruch wirklich „im Dienste des Es"
oder nicht vielmehr gerade im Kampfe gegen dasselbe vor sich geht.
Mack Brunswick bezeichnet die zweite Phase der Krankheit des
„Wolfsmannes" als eine Psychose und stellt die Diagnose „hypochondrische
Form der Paranoia". Die Ursache dieser Krankheit war ein Stück unerledig-
ter homosexueller Libido; der Patient benimmt sich in der Psychose ausge-
sprochen passiv Personen gegenüber, die für ihn Vaterbedeutung haben:
Freud, Prof. X. usw. „Die Nase bedeutet natürlich das Genitale . . . Daß der
Patient durch seine Selbstkastration nicht befriedigt ist, läßt auf ein Motiv
schließen . . . : Der Wunsch, die Kastration vom Vater zu erleiden, wobei
die Kastration als Ausdruck der Liebe des Vaters auf anal-sadistischer Basis
aufgefaßt wird. Hierzu kommt noch der Wunsch, in eine Frau verwandelt
zu werden, um vom Vater sexuell befriedigt werden zu können . . ." (13, S. 3$.)
z) „In Paul Bourgets Novelle ,Le disciple' beschließt ein Liebespaar, das aus
neurotischen Gründen den Geschlechtsakt ablehnt, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Sie
beschließen jedoch auch, einander vor dem Tode noch körperlich zu besitzen. Er ist
befriedigt: ,La plenitude de la vie volontaire et rejlechie affluait en moi maintenant,
comme l'eau d'une riviere dont on a leve l'ecluse.' Der Entschluß, den Doppelselbstmord
zu vereiteln, steht mit einem Male fest bei ihm; die Geliebte aber, die kalt blieb, hat sich
unterdessen das Leben genommen." (Reich, 18, S. 152.)
19° Angel Garma
Verdeckt van dieser homosexuellen Einstellung besteht eine aggressive
1 Tendenz Freud gegenüber, ein Todeswunsch gegen den Vater. Aber „ich
möchte hervorheben, daß der Todeswunsch nicht aus irgendeiner männlichen
Rivalitätseinstellung, sondern aus der unerwiderten Liebe und aus der Ab-
weisung der passiven Strebungen des Sohnes hervorgeht". (13, S. 22.) Wenn
der Vater den Sohn geliebt hätte, hätte sich dieser ihm unterworfen und
sich nicht gegen ihn aufgelehnt.
Seine Größenideen sind zum Teil eine Folge seiner passiven Einstellung
Freud gegenüber. „Er beginnt einzusehen, daß alle seine Größenideen,
seine Angst vor dem Vater und vor allem die nicht gutzumachende Ent-
stellung durch den Vater nur seine Passivität decken sollten. . ." (13, S. 27.)
„Es wurde klar (in der Analyse), daß die Geldgeschenke Freuds vom
Patienten als etwas aufgefaßt wurden, was ihm gebührte, als Liebesbeweise
des Vaters gegenüber dem Sohne. Auf diese "Weise entschädigt sich der Pa-
tient für die alte Kränkung, die ihm zuteil wurde, als ihm der Vater die
Schwester vorzog. Doch gingen mit dieser Einstellung gewisse Größenideen
Hand in Hand. Der Patient begann, mir von der ungewöhnlichen Intensität
seiner Beziehungen zu F r e u d zu erzählen. Sie seien, sagte er, weit mehr
freundschaftlich als beruflich. Freud hätte sogar so großes persönliches
Interesse für ihn gehabt, daß er sich hätte verleiten lassen, ihm einen Rat
zu geben, der sich später als schlecht erwies." (13, S. 17—18.) Der Wolfs-
mann glaubte, daß es ihm durch Befolgung eines Rates von Freud un-
möglich gemacht worden ist, sein Vermögen zu retten. Seine Vorbilder waren
Christus und der Zarewitsch, Sohn Peters des Großen; er fühlte sich diesen
gleich, weil auch er unter der Macht seines Vaters zu leiden hatte. Die
Größenideen des Patienten hatten als Mittelpunkt das Gefühl, daß er von
Freud geliebt und daß er für ihn sehr wichtig und nützlich wäre.
Schreber glaubte, daß er Gott zu sich rufen könne; der Wolfsmann hatte
einen ähnlichen Glauben in bezug auf F r e u d : Er behauptete z. B., daß
seine Analyse die einzige Freud sehe Analyse sei, welche publiziert
worden ist, daß seine Analyse länger als alle anderen gedauert habe, daß
Freud sich für den Verlauf der Brunswick sehen Analyse interes-
siere und von ihr Bericht verlange usw.
Bei diesen Äußerungen des Patienten sieht man, daß seine Größenideen
nur auftreten, wenn er sich passiv benimmt; wenn er sich geliebt wähnt,
nimmt sein Selbstgefühl zu. Schreber ist stolz, weil Gott- Vater ihn auch
gegen seinen Willen lieben müsse; Gott könne sich nicht von Schreber tren-
nen infolge der femininen Wollust seiner Nerven; der Wolfsmann glaubte
Die Realität und das Es in der Schizophrenie 191
auch, daß Freud immer für ihn Interesse haben werde, weil seine Per-
sönlichkeit urtd Krankheit psychologisch so wichtig seien.
Wie benimmt sich der Wolfsmann in bezug auf die Realität? Die Dinge,
die ihm zur Zeit seiner Gesundheit angenehm waren, wie Malen, Romane
lesen, gesellschaftliches Leben usw., haben für ihn in der Psychose an In-
teresse verloren. Er interessiert sich jetzt nur für die Umwelt, die einer
maskulin-aktiven Persönlichkeit unangenehm wäre: Für Vertreter der Vater -
imago, wie Freud, die Ärzte, Zahnärzte usw. Der Wolf smann benimmt
sich wie Schreber und der religiöse Mensch; auch er unterdrückt seine aktiv-
maskuline Libido und befriedigt in seiner Psychose nur seine passiv-maso-
chistische Einstellung und sucht deshalb die Realität, die zu dieser passiven
Einstellung paßt.
Wir können bei dem Wolfsmann das Ausmaß der homosexuellen Libido
in der Neurose mit dem in der späteren Psychose sehr gut vergleichen. Sehr
treffend beschreibt esMack Brunswick in folgender Weise: „Be-
merkenswert ist der Unterschied der jetzigen psychotischen und der früheren
hysterischen Mutteridentifizierung. Früher schien seine weibliche Haltung
seiner Persönlichkeit nicht völlig eingebaut zu sein; es war klar, daß er
diese Rolle nur gewissen Personen gegenüber spielte. So konnte er durchaus
männlich sein, — in seinen Beziehungen zu Frauen, — war aber dem Analy-
tiker und anderen Vaterfiguren gegenüber unverkennbar weiblich einge-
stellt. Während seiner Psychose aber bestand diese Zweiheit nicht: die weib-
liche Einstellung hatte von seiner ganzen Person Besitz ergriffen, er war
völlig in ihr aufgegangen . . . jetzt (in der Psychose) spielt er nicht länger
mehr die Mutter, jetzt ist er sie bis ins letzte Detail." (13, S. 35 und 36.)
„Vielleicht ist der Höhepunkt der Mutteridentifizierung die Ekstase, die der
Patient erlebte, als er sein Blut unter der Hand des Dermatologen fließen
sah." (13, S. 36.) „Die Ekstase des Patienten, als X. die Talgdrüse entfernte,
ist nicht gerade typisch psychotisch, aber im wesentlichen doch nicht als
neurotisch zu bezeichnen. Ein Neurotiker mag seine Kastration wünschen
und fürchten; aber er wird sie nicht mit solch freudiger Begeisterung über
sich ergehen lassen." (13, S. 43.)
In der Psychose des Wolfsmannes tritt also die homosexuelle Libido viel
deutlicher und klarer hervor als in seiner Neurose, im Gegensatz dazu wird
die heterosexuelle Libido kräftiger unterdrückt; als Folge davon verliert
der Patient zum Teil seine Beziehungen zu der Realität, und zwar zu der
Realität, welche die heterosexuelle Libido befriedigt.
191 Angel Garma
Für das Studium der Schizophrenie werden wir auch die Hypnose in
Betracht ziehen. Das Medium steht seinem Hypnotiseur gegenüber in einer
passiv-masochistischen Einstellung; es verzichtet auf seine eigenen Triebe
und macht nur das, was der Hypnotiseur von ihm verlangt. Als Folge
dieser passiv-masochistischen Einstellung existiert für es die Realität nicht
mehr. „Die ödipuslibido des Es ist es nun, die sich am Eingang der Hypnose
der Person des Hypnotiseurs bemächtigt und dabei auf seine "Winke die
,feminin-masochistische' Einstellung belebt, die sie im Ich vorfindet." „Die
sogenannte ,Mutterhypnose' läßt sich am ehesten als ein Kunstgriff der
hypnotischen Technik verstehen, der die endlichen Ziele des Hypnotiseurs
hinter einer psychologisch glänzend fundierten heuchlerischen Maske ver-
birgt." (R a d 6, 17, S. zi.) Wir erinnern uns jetzt daran, daß zwischen dem
Benehmen des Hypnotisierten und dem eines Schizophrenen Ähnlichkeiten
bestehen: Z. B. die Katalepsie (in ihren beiden Formen rigida und cerea),
die Befehlsautomatie, die Echopraxie, Echolalie, Unempfindlichkeit gegen
Schmerzen und andere Reize der Außenwelt usw. Beachten wir weiter, wie
häufig die Schizophrenen sich beklagen, daß sie hypnotisiert seien. Also
finden wir in dem äußeren Benehmen der Schizophrenen dasselbe passiv-
masochistische Verhalten wie in dem der Hypnotisierten.
Gehen wir jetzt dazu über, so wie wir bisher die Libidogeschichte ein'
zelner schizophrener Patienten untersucht haben, einzelne schizophrene Me-
chanismen zu studieren. Betrachten wir zunächst, wie die Identifizierungen
in der Schizophrenie vor sich gehen. Daß diese sehr häufig vorkommen, be-
weisen die Fälle, in welchen sich die Kranken als Napoleon, Bismarck, Gott,
Obergott usw. wähnen. Wie kommen diese Identifizierungen zustande? „Das
reale Objekt interessiert nicht mehr (oder nicht mehr im gleichen Maße);
das Ich ändert seine Gestalt und wird objektähnlich, die Libido wird dabei
desexualisiert." (Fenichel, 6, S. 310.) „Bei der Identifizierung wird aber
nicht das bisherige Ich zum Objekt einer Regung des Es, sondern es ändert
seine Gestalt." (Fenichel, 6, S. 311.) Das bisherige Ich ändert sich und
nimmt partiell die Form eines fremden Ichs an.
Rombouts (19, S. 271) beschreibt die -Identifizierung in folgender
Weise sehr treffend: „In der Ekstase und bei Schizophrenen, wo die Objekt-
besetzungen ganz eingezogen sind, kann wieder ein Zustand der absoluten
narzißtischen Allmacht erreicht werden, indem das Ich sich ganz mit seinem
Ideal identifiziert, keine Libido mehr am Objekte verlorengeht, kein Zwie-
Die Realität und das Es in der Schizophrenie
193
oalt mehr -im Ich besteht: das Ich ist gottähnlich oder selber Gott gewor-
den." Hier findet man wieder die Ähnlichkeiten zwischen dem Religiösen
un d dem Schizophrenen. Leiten wir diesen Gedankengang weiter und fragen
wir uns, wie die Identifizierungen mit Gott beim Religiösen zustande kom-
men. Sie sind eine Folge der Unterdrückung der Triebe; der religiöse Mensch
fühlt sich gottähnlich, sobald er seine Triebe beherrschen kann. Ein Beispiel
dafür haben wir in der katholischen Religion: Die Kommunion macht den
Katholiken gottähnlich; dafür darf man aber keine Sünde begangen haben,
also muß das Es unterdrückt werden. Sich mit dem Ideal zu identifizieren,
bedeutet, auf sich selbst zu verzichten; die eigenen Wünsche werden ver-
leugnet, man unterwirft sich (passiv-masochistische Einstellung) und man
wird dem Ideal ähnlich. Dasselbe stellen wir bei Schreber fest; dieser wird
Gott, oder er kommt ihm zumindest sehr nahe, in dem Augenblick, in wel-
chem er auf seine aktiv-maskulinen Wünsche verzichtet und sich kastrieren
läßt.
Auf das eigene Ich zu verzichten und das Ich eines Fremden anzunehmen,
ist ein passives Benehmen; also wie das Kind, das sein Uber-Ich baut, das
heißt, dem Vater ähnlich wird, auf seine ödipuswünsche verzichten muß.
Der Schizophrene, der sich mit Bismarck, Gott usw. identifiziert, benimmt
sich wie das Kind; er verzichtet auf die Befriedigung der eigenen aktiven
Wünsche, macht, was die Vertreter der Vaterimago von ihm verlangen, und
fühlt sich deswegen erhaben. Davon zeugt auch das Verhalten der Schizophre-
nen; ihre ganze Aktivität beschränkt sich nur darauf, erhabene Manieren anzu-
nehmen, den Anzug nach dem ihres Vorbildes zu schmücken usw.; eine
weitere Es-Befriedigung ist aus diesen Identifizierungen nicht zu ersehen.
Trotzdem ist die Identifizierung von einer narzißtischen Befriedigung
begleitet. Das Kind, welches in sich das Uber-Ich errichtet (um auf seine
ödipuswünsche zu verzichten) fühlt sich von seinem Vater geliebt und ist
auf sich selbst stolz. Betrachten wir jetzt, ob die Größenideen, welche eine
noch übertriebenere Form des Stolzes, der narzißtischen Befriedigung sind,
denselben Ursprung haben. Schreber fühlte sich größer als die anderen, da
er infolge seiner femininen Wollust Gott zu sich anziehen konnte; das heißt,
er fühlte sich mehr von Gott geliebt, als es die anderen sind. Nach der Auf-
fassung Schrebers hatte Gott außer zu ihm nur zu Leichen Beziehungen und
zu keinem sonstigen Lebenden. „Namentlich pflegte die Flechsigsche Seele
von mir als dem »größten Geisterseher aller Jahrhunderte' zu reden, worauf
ich dann, von größeren Gesichtspunkten ausgehend, ab und zu wohl ein-
hielt, daß man wenigstens von dem größten Geisterseher alle Jahrtausende
Int. Zeitsdlr. f. Psychoanalyse, XVHI— 2 13
J 94 Angel Garma
sprechen müsse. In der Tat wird, seitdem die "Welt besteht, wohl kaum
ein Fall wie der meinige vorgekommen sein, daß nämlich ein Mensch nicht
bloß mit einzelnen abgeschiedenen Seelen, sondern mit der Gesamtheit aller
Seelen und mit Gottes Allmacht selbst in kontinuierlichen, das heißt einer Un-
terbrechung nicht mehr unterliegenden Verkehr getreten wäre." (Schreber.
22, S. jj.) Das heißt: die Größenideen sind eine Folge seiner femininen
Einstellung Gott gegenüber.
Beim Wolfsmanne besteht etwas Ähnliches: In seiner Psychose fühlt er
sich von Freud geliebt und deshalb behält er seine narzißtische Selbst-
achtung; nach der Analyse verschwand seine passive Einstellung Freud
gegenüber zum Teil, er wurde selbständiger und hielt sich selbst nicht mehr
für so bedeutungsvoll wie zur Zeit der Psychose. Der Vorgang ist ein ähn-
licher wie bei dem religiösen Menschen. „Wenn das Ich sich ganz mit seinem
Ideal identifiziert, keine Libido mehr an Objekte verlorengeht, ... ist das
Ich gottähnlich oder selber Gott geworden." (Rombouts, 19, S. 271.)
Besser gesagt: es ist nicht Gott geworden, sondern es hält sich selbst für
so groß wie Gott. Also bedeuten in allen diesen Fällen die Größenideen eine
Unterwerfung unter das Uber-Ich und eine Unterdrückung des Es. Eine
Person ist auf sich selbst stolz, wenn sie sich vom Uber-Ich oder von der
Außenwelt geliebt fühlt und sich nach ihren Geboten verhält, nicht aber,
wenn sie ihre primitiven Triebe vollkommen befriedigt. Als einfaches Bei-
spiel dafür vergleichen wir das Selbstgefühl eines religiösen Menschen, der
sich als Ebenbild Gottes betrachtet, mit dem Selbstgefühl eines modernen
Menschen, der sich als Vertreter einer zoologischen Art fühlt; obwohl die
Triebbefriedigung bei dem modernen Menschen überwiegt, ist das Selbst-
gefühl doch zweifellos großer bei dem Religiösen. Wie Freud sagt: „Wenn j
man die Einstellung zärtlicher Eltern gegen ihre Kinder ins Auge faßt, muß
man sie als Wiederaufleben und Reproduktion des eigenen, längst aufge-
gebenen Narzißmus erkennen... So besteht ein Zwang, dem Kinde alle
Vollkommenheiten zuzusprechen, wozu nüchterne Beobachtung keinen An-
laß fände, und alle seine Mängel zu verdecken und zu vergessen, womit ja
die Verleugnung der kindlichen Sexualität im Zusammenhange steht."
(8, S. 174.) So sehen wir deutlich, wie der Narzißmus, das Selbstgefühl mit
der Überwindung der Sexualität als eines Mangels innig zusammenhängt.
Neben diesem Größenwahn finden wir sehr häufig bei den Kranken den
Glauben an die eigene Allmacht. Betrachten wir jetzt, wie diese Allmacht
entsteht. In der Religion ist derjenige allmächtig, welcher sich Gott voll-
kommen unterwirft: „Der Glaube kann Berge versetzen." Das heißt, der
Die Realität und das Es in der Schizophrenie 19 j
religiöse Mensch hat kraft seines Glaubens dieselbe Macht wie Gott; da
seine Wünsche der Gottheit angenehm sind, werden sie erfüllt. „Der Verlust
des Samens ist eine Sünde, weil man das Leben hingibt. Wenn die Menschen
keinen Samen verlören, würden sie nicht mehr sterben und ohne Ausnahme
zu Göttern werden", sagte ein Schizophrener. (Rombouts, 19, S. 270.)
In der Religion gilt nur der als mächtig, welcher sich beherrschen, also seine
Triebe zügeln kann.
Wenn man sich dem Über-Ich unterwirft, so wird man gleich diesem
allmächtig. Der normale freie Mensch kann keine übernatürlichen Taten
vollbringen, der Religiöse vermag es. Bei Schreber sehen wir etwas Ähn-
liches: in dem Augenblick, da er die Kastration annimmt und sich als Frau
von Gott lieben läßt, ist er allmächtig. In unseren Schulbüchern ist etwas
gleiches zu lesen: Das gute Kind, das dem Vater gehorcht, erreicht dadurch
alles, was es will.
Wir sehen also, wie Identifizierung, Größenwahn und Allmacht die Folge
einer passiv-masochistischen Einstellung dem Über-Ich gegenüber sind und
einen Verzicht auf die eigenen aktiven Wünsche bedeuten.
Der Schizophrene drückt in seinen Symptomen manchmal die Tendenz
aus, in den Mutterleib zurückzukehren. Für den Wolfsmann hat dies nach
Freud folgende Bedeutung: „Man wünscht sich in den Leib der Mutter,
um sich ihr beim Koitus zu substituieren, ihre Stelle beim Vater einzu-
nehmen." (n, S. 546.) Mack Brunswick ergänzt dies: „Die ganze
Zeit der Psychose hindurch umhüllte den Patienten der ,Schleier' seiner
früheren Krankheit. Durch ihn konnte nichts hindurch. Eine etwas dunkle
Bemerkung, daß die analytische Stunde oft ein Äquivalent dieses Zustandes
von der Verschleierung sei, bestätigte die frühere Deutung des Zustandes als
Mutterleibsphantasie. In diesen Zusammenhang gehört auch der Gedanke
des Patienten, daß seine Person gewissermaßen zwischen Prof. Freud und
mir vermittle; es sei daran erinnert, daß er eine Fülle von Phantasien über
vermeintliche Diskussionen zwischen Freud und mir über seine Person
entwickelte. Er selbst nannte sich unser ,Kind', und einer seiner Träume
brachte ihn neben mir liegend, während Freud hinter ihm saß. (Hier ist
wieder das Thema des Koitus a tergo zu finden.) Im Sinne dieser Mutter-
leibsphantasie nimmt er am Verkehr der Eltern teil." (13, S. 35.) Etwas
Ahnliches ist bei einem Patienten von Nunberg zu finden: „ . . . und
fand zunächst sein Ziel im Mutterleib erreicht. Hier glaubte er, vom Vater
befruchtet zu werden und wiedergeboren worden zu sein." (ij, S. 336.) Von
einem anderen Patienten von N u n b e r g erfahren wir: „In seiner Verein-
13-
i$6 Angel Garma
samung produzierte er eine typische Phantasie, in der er sich in den Mutter-
leib zurückversetzte und sich dabei außerdem vorstellte, dort am Penis
des Vaters zu saugen. Wenn er später einen Mißerfolg im Leben hatte, griff
er immer, jedoch in mehr verhüllter Form, auf diese Phantasie zurück."
(16, S. 23.) "Wir sehen also, daß wenigstens in diesen Fällen der Wunsch, in
den Mutterleib zurückzukehren, ein Verzicht auf die eigenen aktiven Triebe,
eine Identifizierung mit der Mutter und den Wunsch, vom Vater im Mutter-
leib koitiert zu werden, bedeutet.
Von diesem Punkt aus kann man vielleicht auch manche Suizidversuche
Schizophrener verstehen. B i b r i n g formuliert: „Das Sterben, der Tod
sind nach den übereinstimmenden Angaben der Autoren für das Unbewußte
nur gleichbedeutend mit Kastration, allgemein gesagt, mit Verlust."
(1, S. 517.)
Die Entstehung eines anderen schizophrenen Symptoms können wir bei
einem Patienten von N u n b e r g verfolgen. Betrachten wir zunächst seine
Krankengeschichte, um festzustellen, daß er auch die passiv-masochistische
Einstellung besitzt, die wir bis jetzt in den Psychosen gefunden haben. Fol-
gende Reden des Patienten bestätigen uns dies. „Ich muß mich hergeben,
daß die anderen mich zerschlagen, schlachten, zerstückeln und aufessen."
(14, S. 34.) „Alle Menschen beeinflussen mich. Ich kann nicht, ich lasse mich
eher zerschlagen, aber daß ich anderen etwas antue, das kann ich nicht."
(15, S. 318.) Der Kranke bietet sich dem Arzt zum Sexualverkehr an. „Sie
können schieben, von hinten und von vorn, wie Sie wollen." (14, S. 27.)
„In seiner großen Rede glaubt unser Kranker imstande zu sein, die Welt
zu verändern. Zu diesem Zweck will er sich fortpflanzen', damit ein ,Opfer'
bringen und die Welt ,erlösen'. Wie zu erwarten war, hat das ,Opfer' eine
mehrfache Bedeutung. In allererster Reihe drückt es den Todeswunsch als
Sühne für das begangene Verbrechen des Inzestversuches aus . . . Das ,Opfer'
hat aber auch noch den speziellen Sinn einer Kastration sowie Defloration."
(14, S. 33.)
Wir sehen, daß er eine große Ähnlichkeit mit Schreber hat. Beide haben
den Größenwahn, ein Retter der Menschheit zu sein; um diese Rolle zu
erfüllen, müssen beide auf ihre Männlichkeit verzichten, sie lassen sich
kastrieren und als Frau deflorieren. „Der Sinn des Wahnsystems, der sich
erst im katatonischen Anfall klar herausbildete und im weiteren Verlaufe
verschiedenartigen Modifikationen unterworfen war, ist also kurz folgender:
Nach dem , Weltuntergang' und der Regression in den Mutterleib ist der
Patient bestrebt, die verlorengegangenen Libidobeziehungen auf dem Um-
Die Realität und das Es in der Schizophrenie
*97
we ge durch die Schwester wiederherzustellen. Nachdem dies mißlungen war
und da die Welt identisch mit dem Ich blieb, konnte dieselbe auf dem weiter
regredierenden "Wege der Selbstbefruchtung und Wiedergeburt zu retten ver-
sucht werden. Dabei verwandelt sich der Kranke in ein Weib, und die Welt
unterliegt demselben Verwandlungsprozesse wie er selbst. Patient ist der
einzige Lebende, nur* er allein ist imstande, ,die Fortpflanzung der Mensch-
heit' zu besorgen und den Verwandlungsprozeß' einzuleiten. Dazu muß er
ein ,Opfer' bringen, welches zunächst in der Kastration und Defloration be-
steht." (14, S. 37.) Wir sehen also sehr deutlich, wie der katatonische Anfall
dieses Kranken dieselbe passiv-masochistische Bedeutung hat, die wir auch
bei dem Wolfsmann, Schreber, den Religiösen und den Hypnotisierten ge-
funden haben; außerdem, wie diese passive Einstellung von Größenwahn
und Glauben an die eigene Allmacht begleitet ist.
Bei diesem Patienten nun wollen wir jetzt ein weiteres Symptom stu-
lieren: Den Verlust des Ichs und seiner Grenzen. Dieses Symptom war bei
ihm sehr klar zu erkennen: „Patient . . . klagte mitunter, daß er nicht mehr
wisse, ob er ich sei oder er selbst . . . was soweit ging, daß er mich manch-
mal in eigener Person anredete, z. B.: ,Ich will, daß ich gehe' (anstatt ,Sie
gehen')." (15, S. 310.) Dieser Verlust der Ichgrenze war die Folge einer
Identifizierung mit dem Arzt. „Durch die narzißtische Identifizierung ist
nämlich das Objekt mit dem Subjekt mehr minder identisch geworden,
ersteres ist zum großen Teil im Ich des Kranken aufgegangen. Da nun zwi-
schen beiden (Arzt und Krankem) keine ,Grenze' mehr bestand, konnte zwi-
schen ihnen eine gegenseitige Beeinflussung stattfinden (Transitivismus). Die
hierauf folgende, zuweilen fast vollständige Verkennung der Wirklichkeit,
wie die z. B. bereits erwähnte Desorientierung in bezug auf meine Person
(,Ich weiß nicht, bin ich ich oder bin ich Sie') ist als Folgeerscheinung dessen
zu verstehen, daß das innen Wahrgenommene zum Äußeren wurde und um-
gekehrt." (15, S. 312.)
Lassen wir jetzt beiseite, wie das Ich entsteht; nehmen wir an, es sei be-
reits da, und wir wollen erfahren, warum es wieder verschwindet. Das Ich
und das Ichgefühl entspricht der Selbstwahrnehmung der Tätigkeiten, die
wir verrichten: Z. B. ich esse, ich koitiere, cogito, ergo sum, usw. „Die Vor-
stellung des eigenen Körpers, richtiger die Zuordnung von Daten der äuße-
ren (Tastsinn) und der inneren Wahrnehmung (Empfindung), die die Vor-
stellung des eigenen Körpers ausmacht, ist . . . grundlegend für die Bildung
des Ichgefühls." (F e n i c h e 1, 7, S. 57.) Wo Triebäußerungen verdrängt
werden, gehen Ichteile verloren. Nach einer erfolgreichen Analyse nimmt
die Ausdehnung des Ichs zu, da die Verdrängung behoben ist. Nach unserer
Annahme hat ein Schizophrener mehr aktiv gerichtete Triebe abgewehrt als
ein Neurotiker; also ist es begreiflich, daß er eine stärkere Ichstörung hat.
Das normale Ich behauptet sich im fortwährenden Kampfe mit der Außen-
welt; wenn der Kranke seiner passiv-masochistischen Einstellung der Außen-
welt keinen "Widerstand mehr leistet, hat er sein Ich aufgegeben. Dasselbe
geschieht beim Hypnotisierten, während der Hypnose verschwindet das Ich-
ebenso ist es beim Religiösen, z. B. in der Ekstase. Führen wir noch ein
weiteres Beispiel an, in dem dieser Zusammenhang besonders deutlich zu
sehen ist: Der Patient, dessen Krankengeschichte und Studium wir Nun-
berg verdanken, litt an Depersonalisationszuständen. Nunberg sa<t:
„Es ist bemerkenswert, daß sich dieser Patient dann wie früher fühlte,
sein ,Ich', seine ,Energien c spürte, wenn er in sexuelle Erregung geriet und
starke Erektion bekam ... Er selber verglich die Zustände seines ,Ichverlustes l
mit dem Zustande eines erschlafften Gliedes nach vorangegangener Erek-
tion." (16, S. 20.) Das heißt: mit der Unterdrückung der aktiven Triebe ver-
schwindet das Ich und damit auch die Grenze des Individuums gegen die
Umwelt; ein Teil des Ichs wird zur Außenwelt und die Außenwelt wird
teilweise zum Ich.
Etwas Ähnliches meint Federn, wenn er sich in folgender Weise aus-
drückt . . . „Das Evidenzgefühl beruht auf der dem Ich zugewendeten, besser
auf der für das Ichgefühl verwendeten Libido. Die Libido stellt erst unser
Ich her." (4, S. 425.) „Die grundsätzliche Erfahrung, daß bestimmte Ereignisse
eine amnestische Periode abschließen, hängt daher nicht nur mit der Ver-
drängung von zusammenhängenden Objektvorstellungen, sondern vor allem
mit der Verdrängung einer Triebkomponente und der von ihr in charakte-
ristischer Art besetzten Ichgrenze, besonders für die geistigen Funktionen,
aber auch mitunter für körperliche zusammen." (5, S. 410.) Nach diesen
letzten Ausführungen sehen wir, wie die Abwehr eines Triebanspruches (Es)
gleichzeitig eine Leugnung von Objektvorstellungen (Realität) und einen
partiellen Ichverlust bedeuten muß. Das heißt anders ausgedrückt, daß das
Es, die Realität, insofern sie dem Es Befriedigung bringen kann, und das
realitätsprüfende Ich eine Einheit bilden, die wir als Lusteinheit 3 bezeichnen
können, welche bei der Triebabwehr in allen drei Komponenten unterdrückt
wird. *
3) Den Namen „Lusteinheit" haben wir von Bibring übernommen, aber dieser hält
sie für nur aus zwei Komponenten bestehend: dem Trieb und dem Objekt; wir haben das
Ich als dritte Komponente hinzugefügt.
Die Realität und das Es in der Schizophrenie 199
I Wir sind am Schluß unserer Arbeit angelangt. Wir haben die bisherige
Theorie über die Entstehung der Psychose studiert und dabei gefunden, daß
vsrir uns damit einige Symptome der Kranken (Selbstkastration, -amputation
Nahrungsverweigerung, Schuldgefühle, Projektion des eigenen Körpers in
die Außenwelt usw.) nicht erklären können. Wir haben gesehen, wie eine
besonders intensive Triebabwehr mit Objektverlust einhergehen muß, so daß
uns Abwehr der Realität und Abwehr des Es nicht mehr als Gegensätze er-
scheinen können. Wir stellten sodann fest, daß bei Schreber und beim Wolfs-
mann die passiv-masochistische Einstellung viel ausgesprochener war als bei
Neurotikern. Auch die Untersuchung einiger psychotischer Mechanismen,
wie Identifizierung, Größenwahn, Allmacht, Mutterleibstendenzen, Selbst-
mordneigung und Verlust der Ichgrenzen bestätigte uns das Überwiegen der
passiv-masochistischen Triebe. Da wir vorhin feststellten, daß Realitäts- und
Ichverlust der Schizophrenen nur Folge einer aus Angst vor dem Uber-Ich
erfolgten besonders intensiven Triebabwehr sind, liegt es nun nahe, die fest-
gestellte Prävalenz der passiv-femininen Libido als Folge der gleichen inten-
siven Abwehr der aktiv-maskulinen Triebe aufzufassen, als Ausdruck der
Unterwerfung unter das strenge Uber-Ich.
Literaturverzeichnis
1) Bibring: Klinische Beiträge zur Paranoiafrage I: Zur Psychologie der Todes-
ideen bei paranoider Schizophrenie. (Int. Ztschr. f. PsA. XIV, 1928.)
2) — : Klinische Beiträge zur Paranoiafrage II: Ein Fall von Organprojektion. (Int.
Ztschr. f. PsA. XV, 1929.)
3) H. Deutsch: Über Zufriedenheit, Glück und Ekstase. (Int. Ztschr. f. PsA. XIII,
'WO
4) Federn: Narzißmus im Ichgefüge. (Int. Ztschr. f. PsA. XIII, 1927.)
j) — : Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzißmus. (Int. Ztschr. f. PsA. XV, 1929.)
6) F e n i c h e 1 : Die Identifizierung. (Int. Ztschr. f. PsA. XII, 1926.)
7) — : Über organlibidinöse Begleiterscheinungen der Triebabwehr. (Int. Ztschr. f.
PsA. XIV, 1928.)
8) Freud: Zur Einführung des Narzißmus. (Ges. Sehr., Bd. VI.)
9) — : Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. (Ges. Sehr., Bd. VI.)
10) — : Psychoanalytische Bemerkungen über einen' autobiographisch beschriebenen Fall
von Paranoia. (Ges. Sehr., Bd. VIII.)
11) — : Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. (Ges. Sehr., Bd. VIII.)
12) Laforgue: Verdrängung und Skotomisation. (Int. Ztschr. f. PsA. XII, 1926.)
i3)Mack Brunswick: Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen
Neurose". (Int. Ztschr. f. PsA. XV, 1929.)
14) Nunberg: Über den katatonischen Anfall. (Int. Ztschr. f. PsA. VI, 1920.)
15) — : Der Verlauf des Libidokonfiiktes in einem Falle von Schizophrenie. (Int. Ztschr.
f- PsA. VII, 192t.)
Angel Garma: Die Realität und das Es in der Schizophrenie
;
i.;;ü
16) — : Depersonalisationszustände im Lichte der Psychoanalyse. (Int. Ztschr. f. PsA. Y
1924.)
17) Rad6: Das ökonomische Prinzip der Technik. (Int. Ztschr. f. PsA. XII, i 92 .6)
18) Reich: Die Funktion des Orgasmus. (Int. PsA. Verlag 1927.)
19) Rombouts: Über Askese und Macht. (Int. Ztschr. f. PsA. X, 1924.)
20) Sadger: Über Depersonalisation. (Int. Ztschr. f. PsA. XIV, 1928.)
21) — : Neue Studien zur Kastration. (Fortschritte d. Med., Jg. 37, 1920.)
22) D. P. Sehr eb er: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. (1903.)
23) T a u s k : Über den Beeinflussungsapparat in der Schizophrenie. (Int. Ztschr f
PsA. V, 1919.)
24) Wälder: Über schizophrenes und schöpferisches Denken. (Int. Ztschr. f. PsA. XII
1926.)
Prophetische I räume
Von
Hans % u 1 1 i g c r
Ittigen-Bern
Es sitzen drei Freunde in Erwartung eines vierten zusammen. Das Ge-
spräch dreht sich um den noch Abwesenden. Dessen Braut ist vor ganz kur-
zer Zeit einer plötzlichen Blinddarmentzündung erlegen. Ihr Bräutigam zeigt
außerordentliche Zeichen der Trauer. Es hält schwer, ihn für irgend etwas
zu interessieren, er mag nicht mehr recht arbeiten und zeigt an nichts mehr
Freude. Die "Wartenden beraten, wie sie ihn aus seinem apathischen Zustande
herausreißen können. Zwei von den dreien beabsichtigen, am nächstfol-
genden Samstag und Sonntag eine Besteigung der Blümlisalp (Berner Alpen,
der höchste Gipfel heißt „Weiße Frau", 3660 m) zu unternehmen. Man will
den vierten zu dieser Fahrt einladen. Er und seine nun verstorbene Braut
waren begeisterte Alpinisten. Man weiß, daß er das Blümiisalpgebiet beson-
ders gern hat. Er verweigert zwar jetzt alle Teilnahme an Vergnügungen,
aber man hofft, ihn für ein solch „seriöses" Unternehmen zu gewinnen, und
denkt, daß ihn die Freude an der Hochgebirgswelt und der Natur von seinen
trüben Gedanken ablenke.
Nachdem er erschienen ist, macht man ihm den Vorschlag zur Fahrt, zer-
streut seine Bedenken und Einwände und erreicht eine Zusage.
Zwei Tage später nimmt er sie zurück. Die Schuld für seinen abgeänderten
Entschluß gibt er einem Traum: Er hat einen Aufstieg auf die Jungfrau ge-
macht und ist am Rottalsattel abgestürzt. Er ist sonst nicht gerade aber-
gläubisch. Aber dieser Traum hat ihm einen ungewöhnlich starken Eindruck
hinterlassen. Er fühlt, daß er eine Hochtour auf die Blümlisalp nicht unter-
nehmen darf.
Es gelingt seinen Freunden, ihn für eine andere Reise, auf den ungefähr-
lichen Gantrisch (2177 m) zu überreden. Dies ist ein Voralpengipfel, der
202
Hans Zulliger
I
häufig bestiegen und schon von Kindern bezwungen wird. Er bietet keiner-
lei Schwierigkeiten, der Besuch lohnt sich der schönen Aussicht wegen.
Beim Abstieg strauchelt der Träumer, stürzt ab, ist tot.
Wer den vorgängigen Traum kennt, kann sich des Eindruckes kaum er-
wehren, daß dieser die Zukunft vorausgesagt hat. Die erschrockenen Freunde
denken jedenfalls so. Es macht auch den Anschein, als ob der Abgestürzte
seinen Traum als böses Omen und Warnungszeichen aufgefaßt und offenbar
die Besteigung der „Weißen Frau" unterlassen habe, um die Verwirklichung der
schlimmen Prophezeiung unmöglich zu machen. „Der Mann hat seinen Tod
vorausgeahnt", mutmaßen die Freunde, „so wie im Weltkrieg viele Soldaten
auf ähnliche Weise zum voraus als Gewißheit fühlten, daß sie an einem be-
stimmten Tage oder zu bestimmter Stunde von einer Kugel getroffen werden
würden!"
Der Traum und das darauffolgende Unglück sind dazu angetan, den
Glauben zu stützen, daß es prophetische Träume gibt. Dieser Ansicht sind
heute noch zahlreiche Leute aus dem Volk, die jene bekannten „ägyptischen"
Traumbücher zu Rate ziehen, wenn sie etwas geträumt haben. Sie besteht
seit uralten Zeiten und ist selbst unter Gebildeten nicht leicht ausrottbar. Es
bedarf nur eines Falles von einem „Wahrtraume", wie dem eben erzählten,
um den Glauben oder Aberglauben — (der ja nichts anderes als ein Glaube
ist) — an unerklärbare und mystische Zusammenhänge zwischen Traum und
Zukunftsgeschehen wieder aufleben zu lassen.
Der Wunsch, über seine persönliche Zukunft oder über die von Freunden,
über das Schicksal eines Landes oder Volkes zum voraus etwas zu wissen,
bestand immer, und seit es eine Geschichte des Menschengeschlechtes gibt,
suchte man den Traum als Künder zu deuten. Als klassisches Beispiel dafür
stehen nicht allein die Traumdeutungen im Alten Testament unserer Bibel. 1
Es ist uns eine Traumdeutung von Artemidoros erhalten geblieben, die
der Gelehrte seinem königlichen Herrn, Alexander von Makedo-
nien, gab. Dieser hatte die Stadt Tyros lange Zeit umsonst belagert und
einzunehmen versucht. Halb gewillt, unverrichteter Dinge wieder abzu-
ziehen, sah er im Traum einen Satyr auf seinem Schilde tanzen. Er selber
dachte, das Traumbild bedeute eine Art von Verhöhnung. Artemidoros
jedoch erklärte ihm, Satyros bedeute (griechisch) „Sa Tyros", „Dein ist
Tyros". Der König setzte zu einem neuen Sturme an und gewann die Stadt. 2
Zu diesen Zeiten war der Glaube an die Zukunftsbedeutung der Träume
i) Lorenz: „Die Träume des Pharao" in „Die psychoanalytische Bewegung", 1930/I.
2) Freud: Traumdeutung, Ges. Sehr., Bd. IL
Prophetische Träume
203
illeemein, und man hatte die Ansicht, daß jeder Traum sich irgendwie auf
jie Zukunft beziehe. Nachdem die antike Traumdeutungskunst verloren-
gegangen war, erklärte die moderne Wissenschaft die Träume als Schäume.
£ rs t der Psychoanalyse blieb es vorbehalten, den Sinn der Träume zu er-
kennen. Aber gerade Freud lehnt in seinen Schriften als unerwiesen ab,
daß dem Traum prophetische Bedeutung zukommen könne. In seiner
Traumdeutung" weist er nach, daß sich der Traum bestimmt mit der Ver-
gangenheit des Träumers, nicht aber mit dessen Zukunft befasse. Es hat zwar
von Seiten gewisser, der Psychoanalyse nahestehender Kreise nicht an Ver-
suchen gefehlt, die „prospektive" Tendenz der Träume zu beweisen. Freud
beharrt aber auf seinem Standpunkt. „Daß es prophetische Träume in dem
Sinne gibt, daß ihr Inhalt irgendeine Gestaltung der Zukunft darstellt", sagt
er, 3 „leidet allerdings keinen Zweifel. Fraglich bleibt nur, ob diese Vorher-
sagen in irgend bemerkenswerter Weise mit dem übereinstimmen, was später
wirklich geschieht. Ich gestehe, daß mich für diesen Fall der Vorsatz der
Unparteilichkeit im Stiche läßt. Daß es irgendeiner psychischen Leistung
außer einer scharfsinnigen Berechnung möglich sein sollte, das zukünftige
Geschehen im einzelnen vorauszusehen, widerspricht einerseits zu sehr allen
Erwartungen der Wissenschaft und entspricht andrerseits allzu getreu ur-
alten, wohlbekannten Menschheitswünschen, welche die Kritik als unberech-
tigte Anmaßung verwerfen muß. Ich meine also, wenn man die Unzuverläs-
sigkeit, Leichtgläubigkeit und Unglaubwürdigkeit der meisten Berichte zu-
sammenhält mit der Möglichkeit affektiv erleichterter Erinnerungstäuschun-
gen und der Notwendigkeit einzelner Zufallstreffer, darf man erwarten, daß
sich der Spuk der prophetischen Wahrträume in ein Nichts auflösen wird.
Persönlich habe ich nie etwas erlebt oder erfahren, was ein günstigeres Vor-
urteil erwecken könnte."
Aus den vielen Schriften Freuds wissen wir, wie vorsichtig unser erster
Gewährsmann formuliert. Wir haben erfahren, daß er selbst über solche
Probleme, deren Lösungen sich ihm aus Hunderten von empirischen Beob-
achtungen aufdrängten, nur ungern Auskunft gibt, und daß er sich eigent-
lich erst dann äußert, wenn etwas für ihn schließlich zur Selbstverständlich-
keit erhärtet worden ist. Die Vorsicht, die er bei seinen Formulierungen
walten läßt, fällt uns bei seinen soeben zitierten Sätzen über die propheti-
schen Träume ganz besonders auf. Er sagt uns, daß ihn dabei der Vorsatz
der Unparteilichkeit im Stiche gelassen habe, seine Meinung („Ich meine
also . . .") bezeichnet er zuletzt als ein wenig günstiges „Vorurteil".
3) Freud : Die okkulte Bedeutung des Traumes, Ges. Sehr., Bd. III, S. 181.
20 4 Hans Zulliger
"Wir könnten vermuten, daß sich in seinen Äußerungen die Aufforderune
an seine Schüler verberge, die Frage der prophetischen Träume nachzu-
prüfen und seine Ansicht mit neuem Materiale zu vergleichen.
Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir, Freuds Abhandlung über
„Die okkulte Bedeutung des Traumes" studierend, drei Alinea nach dem
oben angeführten Abschnitt über den „Wahrtraum" auf den Satz stoßen:
„Man tut Recht daran, wenn man . . . jede Position der Skepsis hartnäckig
verteidigt und nur ungern vor der Macht der Beweise zurückweicht."
"Wir wenden diese Aufforderung gegen Freuds wenig günstiges „Vor-
urteil" über die prophetische Bedeutung gewisser Träume an, orientieren uns
an bekanntem und verbürgtem Material und wollen zusehen, was wir daraus
machen können.
Es scheint, daß sich in den Psychoanalysen recht wenige „prophetische"
Träume vorfinden. Aus der Literatur ist fast nichts bekannt. Freud 4 weist
nur nach, daß alle die Träume seiner Patienten, die ihm als prophetisch oder
telepathisch angegeben wurden, bei näherer Untersuchung nicht als solche
angesprochen werden konnten. Er hat dem „telepathischen" Traume seine
besondere Aufmerksamkeit gewidmet and sagt, daß telepathischem Traum-
materiale keine andere Rolle zukomme als beispielsweise rezenten oder
Kindheitserinnerungen. Die Telepathie umschreibt er als „die Wahrnehmung
eines seelischen Vorganges in einer Person durch eine andere auf einem an-
deren "Wege als dem der Sinneswahrnehmung". 5 Hitschmann 6 beschäf-
tigte sich mit dem Problem der Telepathie und kommt zum Schluß, daß in
den von ihm untersuchten Fällen Projektionen stattgefunden haben. „Die
Annahme mystischer Kräfte ist nichts anderes als in die Außenwelt proji-
zierte Psychologie", sagt er. Die Telepathie sei häufig als Wirkung unter-
drückter feindseliger und grausamer Regungen zu betrachten, die sich in
Form von hellseherischen Unheilserwartungen äußern.
Wenn wir die „Wahrträume" zu dieser Auffassung in Parallele setzen,
so können wir solche Regungen als Ursache aller jenen „prophetischen"
Träume vermuten, die den Tod von geliebten Familienangehörigen oder
Bekannten zum Inhalte haben.
Wir haben uns vorgenommen, ausschließlich die „prophetischen" Träume
zu untersuchen, und wir wollen sie von den „telepathischen" auseinander-
halten. Während die Telepathie etwas räumlich Unterschiedenes auf
4) Freud: „Traum und Telepathie", Ges. Sehr., Bd. III.
j) Freud: „Die okkulte Bedeutung des Traumes", Ges. Sehr., Bd. III.
6) Hitschmann: „Telepathie und Psychoanalyse" in „Imago", IX, 1923.
,l! ! !'
Prophetische Träume 20 j
anderem als auf dem Wege der Sinneswahrnehmung erfährt, handelt es sich
bei der Prophetie außerdem um eine zeitliche Voraussage. Wir meinen,
das Zeitliche sei das Spezifische für die Prophetie.
Wenn der Versuch, Material über „prophetische" Träume zu erhalten
und zu prüfen, 7 nicht weit häufiger von Psychoanalytikern unternommen
worden ist, so hegt das wohl darin begründet, daß die Bedeutung unseres
Problems für die Therapie ganz nebensächlich ist. Für den Therapeuten be-
deuten die vom Analysanden berichteten Träume etwas, das im Zusammen-
hange mit den zahlreichen andern Erscheinungen der Kur steht und kaum
daraus isoliert werden kann. Viele der in den psychoanalytischen Sitzungen
erzählten Träume werden erst nach Monaten, manchmal erst mit der Be-
endigung der Analyse in ihrem vollen Sinne erfaßt. Das beste Beispiel in
der Literatur ist der Traum des Wolfsmannes in Freuds „Geschichte einer
infantilen Neurose". 8
Das Volk deutet seine Träume anders: es schätzt sie als etwas in sich
Abgeschlossenes, ähnlich wie es Artemidoros tat. Es glaubt an die pro-
phetische Bedeutung, die in Symbolen irgendwie ausgedrückt sein soll, es
errät diese, oder es glaubt, sie mit Hilfe eines Traumschlüssels erkennen zu
können, und stützt darauf seine Zukunftserwartungen. Wenn wirklich etwas
geschieht, was im Traume vorher geschehen war, so sieht es darin den un-
zweifelhaften Beweis dafür, daß seine Träume Abkömmlinge eines undefi-
nierbaren und von der zünftigen Wissenschaft noch nicht erfaßten Sinnes
für das Zukünftige seien.
Die Wahrträume, die ich hier vorzulegen habe, stammen aus meiner un-
mittelbaren Beobachtung, so wie auch das zuerst erzählte Beispiel vom Berg-
unglück. Es ist nicht viel, was mir zur Verfügung steht. Doch hat es den
Vorteil, daß ich dafür einstehen kann, und ich kenne die begleitenden Um-
stände. Das kann man von Material, das man aus dritter und vierter Hand
erhält, nicht immer mit Sicherheit feststellen und behaupten: man weiß da-
bei nie, wie viel an den Berichten gefälscht worden ist, ohne daß der Er-
zähler es beabsichtigte. Wenn man zusieht, wie unzuverlässig beispielsweise
die Zeugenaussagen vor Gericht sind, so wird man zur Vorsicht gedrängt.
Ich will zunächst von einem „Wahrtraume" berichten, der wie der Traum
7) Über verwandte Phänomene schrieben : Helene Deutsch, „Okkulte Vorgänge
während der Psychoanalyse" („Imago", XII, 192.6), Levi-Bianchini, „Mystizismus
und Hellsichtigkeit bei einem Kinde (ebenda), A 1 1 e n d y, „Psychoanalyse der Ahnungen"
(„Imago", XIV, 1928). Der zuletzt zitierte Autor stieß bei der Untersuchung der Ahnungen
weh auf den Vorgang der Projektion.
8) Ges. Sehr., Bd. VIII.
206 Hans Zulliger
vom Bergabsturz nicht hat analysiert werden können. Er hat auch die Eigen-
tümlichkeit, daß er von der Träumerin, einer Vierundzwanzigjährigen
ebensowenig als von all ihren Zuhörern außer mir nicht als mit dem darauf-
folgenden Geschehen in Zusammenhang stehend erkannt wurde. Wir be-
fanden uns, eine kleine Gesellschaft, auf dem Heimwege von einem Vereins-
anlaß. Unsere Vierundzwanzigjährige erzählte, daß sie halb im Sinne gehabt
hatte, daran nicht teilzunehmen, denn sie habe in der vergangenen Nacht
leicht gefiebert. Dann habe sie noch einen merkwürdigen Traum gehabt
fährt sie fort: Sie will von ihrem Verlobten begleitet über Land gehen. Plötz-
lich ist eine hohe Mauer da, ein schweres, schwarzes Tor öffnet sich, sie
schreitet voran hindurch, hört noch, wie das Tor vor der Nase ihres zu-
künftigen Gatten in heftigem Zugwind zuschlägt, und sie fällt ins Bodenlose.
Jemand macht die Bemerkung dazu, Träume vom Fallen habe man dann,
wenn man das Deckbett im Schlafen entfernt habe und die kalte Luft fühle.
Die Träumerin habe wohl in ihrem leichten Fieber sich abgedeckt, und dies
sei die Ursache ihres Traumes gewesen.
Mir persönlich fällt jedoch ein, was Freud in seiner „Psychopatholo-
gie des Alltagslebens" 9 über Symptom- und Zufallshandlungen sagt. Er be-
richtet dort von der großen Schauspielerin Eleonora Düse. In einem
Ehebruchsdrama spielt sie, nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Manne
und bevor der Versucher sich ihr naht, mit dem Ehering an ihrem Finger,
indem sie ihn abzieht, wieder ansteckt, endlich wieder abzieht. Freud er-
zählt dieses Beispiel, um zu zeigen, wie sehr das Spiel der Düse aus der
Tiefe des Unbewußten kam. Er führt weitere Beispiele ähnlicher Symptom-
handlungen ( von M a e d e r und R e i k berichtet) an: Eine Braut vergißt
das Hochzeitskleid anzuprobieren — sie läßt sich von ihrem Gatten schei-
den, kaum daß sie verheiratet ist. — Ein junger Mann verliert einen Ring,
den er von einem Mädchen erhielt, das er heiraten möchte. Dabei übermannt
ihn die Sehnsucht nach einem anderen Mädchen.
Ich frage mich, ob der Falltraum, der unsere Träumerin von ihrem Ver-
lobten trennt, nicht von analoger Bedeutung sei. Es scheint mir, er stelle
der zukünftigen Ehe eine schlimme Prognose. Der Traum enthielt für mein
Gefühl eine Bestätigung für Vermutungen, die mir bereits beim Verlöbnis
des Mädchens aufgestiegen waren. Es war sein Lebtag in heftiger und deut-
lich verliebter Weise an seinem Vater gehangen. Aussprüche wie: „Ich werde
nur einen Mann heiraten, der meinem Papa ganz ähnlich ist, der wie mein
Papa ist", oder: „Am liebsten möchte ich meinen Papa heiraten!" konnte
9) Ges. Sehr., Bd. IV.
Prophetische Träume 207
jan von dem Mädchen bis kurz vor seiner Verlobung oft hören. Sie erschie-
nen kindisch, vielleicht lächerlich; aber das durchaus nicht unintelligente
Mädchen meinte es ernst. Es war der Vater gewesen, der seine Tochter
schließlich zur Heirat drängte. Er führte ihr den jungen Mann, mit dem
er sich angefreundet hatte, zu, und wenn man später das Brautpaar zusam-
men sah, so bekam man nicht den Eindruck von Verliebten: Die Braut zeigte
sich kühl und war mit ihrem Vater immer viel zärtlicher. Es wurde gemun-
kelt, sie nehme den jungen Mann nur deshalb zum Gatten, weil es der
Wunsch ihres Vaters sei. Als gehorsame Tochter nahm sie den vom Vater
auserlesenen Mann ohne Widerstreben an, etwa so, wie wenn er ihr ein
Geschenk gemacht hätte.
Von meinen Vermutungen, die sich an den Traum knüpften, verriet ich
lichts. Das Mädchen stand vier Tage vor der Hochzeit. Am Morgen nach
der Traumerzählung vernahm ich, es sei krank geworden. Dann hörte man,
der Arzt habe eine Lungenentzündung festgestellt. An dem Tage, da die
Heirat hätte stattfinden sollen, starb es.
Dieser Tatbestand, in Beziehung gebracht mit dem, was wir über das
Verhalten des Mädchens zu seinem Vater und seinem Verlobten wissen,
will uns verdächtig erscheinen. Wir dürfen vermuten, daß die Braut lieber
sterben als sich verheiraten wollte. Vielleicht waren die Fieberanfälle während
der Traumnacht bereits der Anfang einer Lungenentzündung. Und, den
Traum ins Auge fassend, fragen wir uns, ob er nicht eine unbewußte Selbst-
mordtendenz äußere. Er könnte den Wert einer Symptomhandlung haben,
ist er ja als direkter Abkömmling des Unbewußten wie eine solche einzu-
schätzen.
Aber selbst dann könnte nicht behauptet werden, daß er etwas Zukünf-
tiges verrate. Denn er deutet an, was bereits bestand, aber noch nicht ins
Bewußte hatte durchbrechen können. Wir hätten es also wieder nicht mit
einem „Wahrtraume" zu tun.
Unsere Skepsis geht noch weiter; Fallträume, sagen wir uns, indem wir
uns an Freuds „Traumdeutung" erinnern, haben gewöhnlich einen an-
dern Sinn. Vielleicht ist zwar an diesem Traume nicht das Fallen wesent-
lich, vielmehr die brüske Trennung vom Bräutigam. Etwas Sicheres wissen
wir nicht. Wir können nicht das Gegenteil beweisen, wenn uns jemand sagt:
»Es haben sich Zufälle getroffen"! Es könnte ihm nur entgegengehalten wer-
den, daß der Traum, im Zusammenhang mit der Erkrankung und vier Tage
vor der Hochzeit geträumt, doch wahrscheinlich etwas mit dem zu tun habe,
was die Braut am meisten beschäftigen mußte. Aber alles, was wir sagen,
208
Hans Zulliger
ist erraten, bleibt bloße Vermutung, denn der Traum konnte nicht analysiert
werden. Und alles, was wir für die Ansicht vorgebracht haben, daß es sich
vielleicht doch um etwas wie einen „Wahrtraum" handeln könnte, ist für
eine genaue wissenschaftliche Arbeit ebenso ungeeignet wie der Traum vom
Bergabsturz.
Es ist noch nachzutragen, aus was für einem Grunde mir beide Träume
ähnlich erscheinen. "Wenn ich nämlich annehme, daß sie wie Symptomhand-
lungen zu werten seien, dann verraten beide eine unbewußte Absicht: die
Suizidtendenz. Der junge Mann des ersten Traumes konnte den Verlust seiner
Braut nicht verschmerzen, meine ich; er wollte sterben, um mit ihr ver-
einigt zu sein. Das Mädchen des zweiten Traumes wollte lieber sterben als
einen ungeliebten Mann heiraten. Wir könnten es als außerordentlichen
Leichtsinn bezeichnen, daß die Braut, nachdem sie in der Traumnacht ge-
fiebert hatte, doch an dem Vereinsanlaß teilnimmt, statt sich zu pflegen, und
wir würden auch in diesem Verhalten den Durchbruch der Selbstmord-
tendenz erblicken.
Bis jetzt ist aber noch nichts genau bewiesen worden. "Wir tappen nach
wie vor im Dunkeln und sind froh, mit solchen prophetischen Träumen
operieren zu können, die sich während einer psychoanalytischen Kur dar-
boten. Aus meiner Praxis kann ich vier solche Träume als Beispiele er-
zählen.
Es war am Anfange einer Kur mit einem jungen Manne. Er berichtet,
er habe seine Zukünftige besucht, habe sie in der Küche angetroffen, habe
aus Unachtsamkeit eine gläserne Schale auf den Boden geworfen, wo sie
zertrümmert sei. Dabei fiel ihm ein Traum der vorangegangenen Nacht ein:
Er sollte einen gläsernen Einmachtopf öffnen, der Deckel saß aber fest und
wollte sich nicht lösen, da sagte er, man müsse das Glas kaputt machen, es
gehe nicht anders. Diesen Traum betrachtete er nachträglich als prophetisch.
Man wäre versucht, an ein zufälliges Zusammentreffen zu denken. Die
Analyse ergab aber, daß der Traum und das nachherige Geschehen, die Fehl-
handlung, miteinander in Beziehung standen und das gleiche bedeuteten.
Beide Phänomene negierten die unbewußte Angst vor der Defloration. 10 Auf
symbolische Art verrichtet er, was zu tun er sich fürchtet. Wir sehen im
Traume eine Tendenz durchbrechen, die sich in der Fehlhandlung deutlicher
zeigte, in den darauffolgenden Sitzungen der Kur offensichtlich zum Vor-
schein trat und uns dann lange Zeit beschäftigte. Der junge Mann setzte
die Defloration einer Kastration gleich, fürchtete Wiedervergeltung und
10) Freud: „Das Tabu der Virginität", Ges. Sehr., Bd. V.
Prophetische Träume
209
suchte seiner Angst zu entgehen, indem er sich eigentlich ein schon von
einem andern Manne defloriertes "Weib zur Frau wünschte. Diesen Wunsch
wollte er, um nicht von der Skylla zur Charybdis zu gelangen, wie wir
rjäter sehen werden, wieder nicht wahrhaben, und so wagt er im Traume,
was er in der Realität vermeidet.
Für das Problem der prophetischen Träume ist dieses Beispiel insofern
interessant, als wir in ihm einen sukzessiven Durchbruch des Unbewußten
deutlich erkennen können. Der Andeutung des „Wahrtraumes" folgt die
Symbolhandlung, dieser das Bewußtwerden einer unbewußten Tendenz.
Diese Reaktionsart findet sich nicht selten bei Verbrechern vor. Es ist mir
ein Beispiel in Erinnerung: Ein Mörder fährt mit einem Mädchen auf einem
Motorrad in eine verlassene Gegend, ohne sich seiner Mordabsicht schon be-
wußt zu sein. Am Tatorte angelangt, zeigt er dem Mädchen einen Browning.
Unbeabsichtigterweise löst sich aus der Waffe ein Schuß, der das Mädchen
leicht streift. Das verwirrt angeblich den Mann so sehr, daß er die Pistole
auf das Mädchen richtet und es erschießt. 11 Der Kriminologe Professor
Herbertz (Bern) bezeichnet Verbrechen, die auf Fehlhandlungen folgen,
welche die kriminelle Tat andeuten, als „A nschlußverbreche n".
Vom psychoanalytischen Gesichtspunkte aus müssen wir den in diesen Ter-
minus angedeuteten Zusammenhang zwischen Delikt und Fehlhandlung ge-
nauer untersuchen und finden: bei derartigen, der eigentlichen kriminellen
Tat vorgängigen und sie andeutenden Geschehnissen handelt es sich um
Durchbruchsphänomene unbewußter Tendenzen. 12
Der „Wahrtraum" vom zerschlagenen Glase macht deutlich, daß sich
eine unbewußte Tendenz in einem Traume ankündigen kann, und aus der
Kriminologie wissen wir, daß dem „Anschlußdelikte" oft Fehlhandlungen
als Durchbruchsphänomene vorangehen. Es nimmt uns wunder, ob sich
hinter dem Traume vom zerbrochenen Glase auch eine kriminelle Tendenz
verberge. Um das zu erfahren, wollen wir die seelische Verwicklung bei
unserm Träumer noch ein kleines Stück weiter verfolgen. Wir haben von
ihm gehört, daß er sich eine bereits deflorierte Frau wünscht, um der Ka-
stration zu entgehen. Diese deflorierte Frau entpuppte sich später als seine
Mutter. Unbewußt wollte der Träumer also das Verbrechen des ödipus, den
Inzest, begehen, für den wiederum die Kastration als Strafe steht. Nun ver-
stehen wir besser, daß er im Traume und in der Fehlhandlung die Deflora-
11) Nach Zeitungsberichten über den Wäggitaler Mordfall im Jahre 1930.
12) S. a. Z u 1 1 i g e r : „Ein jugendliches Diebskleeblatt" in „Zeitschrift für psycho-
analytische Pädagogik", 1932.
Int. Zeitsdlr. f. Psychoanalyse, XVIII— 2
14
Hans Zulliger
tion symbolisch durchführt: er möchte der Kastrationsdrohung durch seinen
Vater ausweichen, indem er den Inzest nicht begehrt. Er kann aber tun, wie
er will, die Kastrationserwartung droht ihm in beiden Fällen; immerhin er-
schien ihm dann jene, die ihm als Wiedervergeltung für die Defloration
drohte, als die sozusagen weniger gefährliche: im Traum entscheidet er sich
für das geringere Übel.
Doch — diese Tatsache interessiert uns zur Lösung des von uns be-
handelten Problems weniger als die Einsicht, daß es sich auch hier bei dem
als Durchbruchsphänomen erkannten „Wahrtraum" um ver-
brecherische Phantasien handelt.
Wir haben gesehen: Der „Wahrtraum" richtet seinen Blick eigentlich
nicht in die Zukunft. Er sagt etwas aus, das bereits im Unbewußten besteht
und tief auf die frühen Erlebnisse des Träumers zurückgreift. Denn die
ödipusphantasien reichen in die frühe Kindheit zurück, wo sie keine nor-
male Erledigung finden konnten, so daß sie wieder aktiviert wurden, als
der zum jungen Manne erwachsene Knabe vor einer realen Ehesituation
stand.
Sehen wir uns das zweite Beispiel an. Eine jüngere verheiratete Frau,
deren Kur ihrem Ende entgegengeht, beginnt eine Analysenstunde wie folgt:
„Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen einmal davon erzählt, daß mir die Emp-
fängnis meines Söhnchens durch einen Traum angekündigt worden war. Mir
träumte damals, ich hätte ein kleines Kind an der Brust. Nachher stellte
sich heraus, daß ich empfangen hatte. Ich habe letzte Nacht einen ähnlichen
Traum gehabt. Aber diesmal ist es mir gleich, wenn ich noch ein Kind be-
komme. Ja — (sie lächelt) — recht ist es mir, eigentlich. Es ist mir, als hätte
ich mir schon lange wieder ein Kind gewünscht!"
Die Analysandin ist einer Erinnerungstäuschung erlegen. Sie hat mir vor-
her nie von einem solchen Traum erzählt. Sie glaubte lange Zeit bestimmt,
einen solchen Traum schon bei der Empfängnis ihres Söhnchens gehabt und
mir davon berichtet zu haben. Und ebenso überzeugt glaubte sie an die Vor-
bedeutung des angeblich einst geträumten und nun wiedergeträumten Trau-
mes. Nachdem die Zeit um war, blieb auch die Periode aus. Das freute sie
außerordentlich. Nicht nur deshalb, weil ein Kind zu erwarten war, sondern
auch darum, weil sie mit ihrer Traumdeutung vor mir Recht bekam. Denn
sie wollte herausgefühlt haben, daß ich an der Prophezeiung zweifelte. Die
Menstruation trat mit acht Tagen Verspätung ein.
Es ließ sich unzweifelhaft nachweisen, daß der Wunsch, ein Kind an der
Brust zu haben, einige Monate vorher während der Behandlung aufgestiegen
Prophetische Träume
rar, als sich bei der Analysandin Assoziationsmaterial zeigte, das von der
oralen Erotik handelte. Sie hatte ihren "Wunsch sofort wieder verdrängt,
nichts davon verraten und ihn jetzt verändert reproduziert: sie machte dar-
aus einen „prophetischen" Traum, den sie, wie sie glaubte, bei der Empfäng-
nis ihres Söhnchens gehabt hatte. Als sie jetzt den Traum wirklich träumt,
erinnert sie sich ihrer einstigen unterdrückten Assoziation in der Form eines
„Deja vu" als eines schon früher geträumten „Wahrtraumes".
Dazu fielen ihr Erinnerungen aus ihrer Puppenzeit ein. Sie war von ihrer
Mutter ziemlich lange Zeit gestillt worden. Um dem Entwöhnungstrauma
zu entgehen oder um es zu verarbeiten, identifizierte sie sich mit der Mutter
und nahm ihre Puppenkinder an die Brust. Das dazugehörende Vorbild nahm
sie aus einer Beobachtung an einer Tante, die ihr Kind nährte.
Der Grund, warum das erstmalige Auftauchen der Phantasie, ein Kind
an der Brust zu haben, in der Analyse sofort unterdrückt und wieder ver-
drängt worden war, ist darin zu suchen, daß das phantasierte Kind der
Analytiker war. Sie hatte sich seiner auf diese Art bemächtigen und so die
„Versagung" in der Kur durchbrechen wollen. Der Traum füllte die durch
ihr einstiges Verschweigen entstandene Lücke im Ablauf der Analyse wieder
aus. Zugleich deutete er den Wunsch nach einem genitalen Kinde an, das sie
vom Analytiker empfangen wollte. Dieser Wunsch darf für die Graviditäts-
phantasie und wahrscheinlich auch für den verspäteten Eintritt der Menses
verantwortlich gemacht werden.
Wir sehen also einen „Wahrtraum", dessen Voraussage sich nicht er-
füllte, und es läßt sich an ihm mehr lernen, als wenn die Analysandin zu-
fällig wirklich konzipiert gehabt hätte. Er sagt nicht aus, was werden sollte.
Er verrät, was einst war, und was sich nach dem Wunsche hätte ereignen
sollen. Wir erkennen den Wiederholungszwang als Verursacher
des Traumes, denn wir befinden uns in der Analyse an der Endphase, an der
Entwöhnung von der Kur. Die Analysandin konnte einst als Kind dem Ent-
wöhnungstrauma nur entgehen, indem sie von ihrem Liebesobjekt ein Kind
(Puppe) bekam und mit ihm auf die Art verfuhr, wie sie sich wünschte,
daß mit ihr hätte verfahren werden sollen. Sie tut dasselbe nun in der Über-
tragung.
Stellen wir uns einmal vor, daß die Frau zu der Zeit, als sie ihren an-
geblich „prophetischen" Traum träumte, wirklich ein Kind empfangen hätte,
wahrscheinlich hätte man alsdann das oben angeführte Analysenmaterial
auch erhalten. Aber außerdem wäre der Zweifel bestanden, ob nicht über-
dies etwas wirklich Prophetisches an dem Traume vorhanden sei. Möglicher-
14*
Hans Zulliger
i 1
ü|;| Hl
m
weise, hätte man sich gesagt, sei das Kind durch eine sogenannte „Unvor
sichtigkeit" des Gatten entstanden, die die Frau wohl gemerkt, jedoch nicht
bewußt apperzipiert hatte — und nun hätte ihr der Traum verraten, was
sie aus irgendeinem Grunde nicht oder nicht sicher wissen wollte, oder es
handle sich um eine Erscheinung von Autoskopi e. 13 Aber auch dann
wäre eigentlich nichts „Prophetisches" an dem Traume gewesen.
"Wir sehen jedenfalls, daß es zur Durchforschung der Frage über „Wahr
träume" für uns vorteilhaft ist, daß sich die Prophezeiung als unerfüllt er-
wies.
Im Anschluß an den Traum der jungen Frau zeitigte die Analyse noch
einige Hinweise zur Psychologie der „Wahrträumer", die es verdienen, daß
wir sie uns näher betrachten.
Die Frau ist tief davon befriedigt, daß sie durch ihren Traum etwas er
fahren hat, was ihr Analytiker nicht weiß, und woran er, wie sie heraus
fühlt, zweifelt. Sie erkennt sich etwas wie „mediumhafte" Fähigkeiten zu,
über die nicht jeder x-beliebige Mensch verfüge. Daß sie solche besitzt
schmeichelt ihr außerordentlich. Es erhebt sie über gewöhnliche Menschen,
Sie hofft, weitere Glücksfälle — es braucht nicht gerade die Ankündigung
eines Kindes zu sein — vorauszuwissen. Sie hält für möglich, daß sie auch
imstande sei, Gefahren vorauszusehen und sie vermeiden, verhindern zu
können, wenn sie gewarnt sei. Unter heftigem Schreck fällt ihr hierauf ein
sie könnte voraus wissen, wenn ihr Mann, wenn sie, wenn ihr Analytiker
bedroht sei. Und auf einmal graut ihr fast vor ihrer Fähigkeit, denn schließ
lieh könnte sie sogar den Tod der ihr nahestehenden Menschen zum voraus
erfahren. Dann tröstet sie sich, so ausgiebig sei ihre prophetische Befähigun;
doch nicht.
Der Wunsch, die Zukunft vorauszusehen, trug zu der Erinnerungs-
täuschung bei, die ihr passiert war, als sie schon die Ankunft ihres ersten
Kindes durch einen „Wahrtraum" angekündigt gehabt haben wollte. Es
liegt nahe, daß jemand, der die Geburt voraussieht, ebenso den Tod voraus-
sehen kann. Sie wurde darauf aufmerksam gemacht, und während der glei-
chen Sitzung, als ich das elektrische Licht andrehte, fiel ihr ein, welch eine
außerordentliche Freude sie als Kind empfand, als sie den Zusammenhang
zwischen dem Lichtschalter über ihrem Bettchen und dem Ein- und Aus
.mg
13) S. in Allendy : „Psychoanalyse der Ahnungen" in „Imago", XIV, 1928, S.
„Es erweist sich aus Arbeiten von Fere, Lemaitre, Comar, Bacri, Sellier als
sicher, daß man durch direkte, aber noch unaufgeklärte Mittel von seinem organischen
Zustand Kenntnis erlangen kann."
.»
Prophetische Träume 213
schalten des Lichtes wahrnahm. Das Spiel mit dem Lichtschalter vergnügte
sie mehr als ein anderes, sie kam sich wie der liebe Gott vor,
der Tag und Nacht befehlen könne.
"Wir dürfen also in dem Wunsche, „mediumhafte" Fähigkeiten zu besitzen,
Resterscheinungen aus jener Phase der Kindheit erblicken, in der sich der
junge Mensch in seinem Narzißmus als „allmächtig" vorkommt.
Der dritte Traum wurde von einem Schüler geträumt und lautet: „Ich
befinde mich in der Schule, der Professor ruft mich an die erste Bank hervor.
Ich habe das Gefühl von etwas Großartigem."
Tags darauf muß er eine Klausurarbeit im Griechischen machen. Der Pro-
fessor verlangt von den wenigen Schülern, die sich in diesem Fache unter-
richten lassen, sie sollen an die vorderste, statt an die hinterste Bankreihe
sitzen. Unser Träumer ist über diese Anordnung wenig erfreut, denn in un-
mittelbarer Nähe des Lehrers kann man nicht so leicht „nachhelfen". Zu-
gleich jedoch erfüllt ihn ein Gefühl der Genugtuung, weil er seinen Traum
erfüllt sieht.
In den nächsten Sitzungen der Analyse ergeht er sich weitschweifig über
das Thema der Traumprophetie im allgemeinen und über seine „Fähigkeit"
im besonderen. Er bequemt sich erst nach Stunden, Einfälle zu seinem
Traume zu produzieren (Widerstand).
Er ist Ausländer, stammt aus einer der vornehmsten Familien seiner Hei-
mat. Seine Angehörigen leben in einer Art partriarchalischen Organisation
unter der Führung eines betagten Großvaters, der das Vermögen der Familie
verwaltet. Sein direkter Erbe, — nach den landesüblichen Erbfolgeverhältnis-
sen — der Vater unseres Gymnasiasten, ist verstorben, und der Jüngling ist
an seine Stelle gerückt. Ein Onkel des Analysanden steht angeblich in aller-
höchster Beamtung, wo er nur dem Landesherrn gegenüber verantwortlich
ist. „Er ist an erster Stelle beim König" — und er ist das Vorbild des Jüng-
lings. Der Mann ist der Bruder der Mutter, einer noch jugendlichen Frau,
die ihren Jungen seit seinen ersten Kinderjahren stark verzog, weil sie, wie
sie sagt, vom Kummer geplagt wurde, der Bub könnte ihr wie ihr Gatte
allzu früh wegsterben.
Der Analysand ist unentschieden, ob er später die großväterlichen Fabri-
ken und Landgüter, oder ob er eine Stelle wie der Onkel übernehmen will.
Den Besitz des Erbes erlange er auf jeden Fall, meint er dann, und er könnte
dafür einen Verwalter finden. Hingegen, damit er die Beamtung erhalte,
sei nötig, daß die Stelle frei werde.
Er befürchtet, daß der Landesherr einem Attentat durch Anarchisten er-
2I 4
Hans Zulliger
liegen könnte. Aber er tröstet sich: der König wird von seinem Onkel be-
hütet. Dieser ist vermöge seiner Beamtung eigentlich höher als der König
gestellt, weil er diesen beschützt. Der König ist in seiner Hand.
Wir sind nach diesen wenigen Ausführungen bereits orientiert, was fü r
unbewußte Motive der Traum enthält: er handelt von ödipusphantasien
die sich auf die verschiedenen Vater-Imagines beziehen. Mit der Schule
hatte der Traum nur insofern etwas zu tun, als sie die Bilder für den mani-
festen Inhalt lieferte. Dazu kommt noch, daß der Analysand beobachtet
hatte, wiei ein anderer Analysand nicht mehr kam, dessen Sitzung der seinen
vorangegangen war: der Jüngling war also in der Analyse auch einen Rivalen
losgeworden und gleichsam „an erste Stelle" gerückt.
Daß ihn sein Griechisch-Professor — übrigens mitsamt seinen Kameraden
— an die vordersten Bänke rief, hat mit dem Traume nichts zu tun und
stand in ganz anderem Zusammenhange. Der Zufall war am Werk, als
der Vorfall in der Schule mit dem manifesten Trauminhalte der Vornacht
einigermaßen übereinstimmte.
Der letzte angeblich prophetische Traum, den ich hier anführen kann
hat einen ganz banalen Inhalt. "Wahrscheinlich kommt er fast in allen
Analysen ein- oder mehrere Male vor. Er wird aber von den Analysanden
nur selten als „Wahrtraum" aufgefaßt.
Die Analysandin, ein älteres Fräulein, faßte ihn als prophetisch auf und
ließ ihn nachher auch in Erfüllung gehen. Der Traum lautet: „Ich stehe auf
einem Platz. Die Tram jährt mir vor der Nase weg. Ich denke, ich komme
zu spät. Wozu ich zu spät komme, weiß ich nicht. Was soll ich machen,
ich habe nichts zu lesen hei mir. Da steht plötzlich Fräulein X. bei mir: Ich
denke getröstet, jetzt können wir zusammen warten und zusammen zu spät
kommen."
Nach der Traumnacht verfehlt die Analysandin eine Tram, die sie in
die Analyse führen soll. „Ich hätte eigentlich noch ganz gut aufspringen
können", sagt sie, „aber ich wollte nicht riskieren, daß mir ein Bein ab-
gefahren werde". Es stellte sich außerdem heraus, daß sie die Tram auf
kurze Distanz anfahren kommen sah. Wenn sie sich beeilt hätte, würde sie
sie noch erreicht haben.
Der Sinn des Traumes: Sie hat den Anschluß an den Mann verfehlt. Der
Mann, den sie liebte, ist ihr vor der Nase weggeheiratet worden. Sie kam
zu spät. Sie mag sich nicht mit Selbstbefriedigung („lesen") trösten. Die
Tatsache, daß ihre Freundin, Fräulein X., wie sie selber, unverheiratet blieb,
versöhnt sie. Sie findet Trost in der homosexuellen Bindung.
Prophetische Träume
2IJ
Beide Freundinnen gehen in die Analyse. Die Analytiker beider sind be-
reits verheiratet. Beide Analysandinnen kommen mit ihren Ansprüchen zu
spät. Es wird deutlich, daß der Traum etwas ganz anderes bedeutet als eine
Zukunftsvoraussage. Er wirkte aber wie eine Suggestion. Der symbolische
Inhalt des Traumes in seiner Beziehung zum Analytiker wurde agiert. Dieser
steht für die Analysandin in der Bruder-Übertragung. Auf den Bruder als
inzestuösem Objekt darf sie nicht Anspruch erheben, wieder steht auf sol-
chem Verlangen als Strafe die Kastration, dargestellt in der Erwartung, der
Analysandin könnte ein Bein abgefahren werden, wenn sie die Tram doch
noch erreichen wollte.
Das Verfehlen der Tram nach der Traumnacht war genau so eine
Suggestion als Folge der Traumdeutung unserer Analysandin, wie die
Eroberung von Tyros durch Alexander den Großen ein Folge der
Traumdeutung des Artemidoros war. In beiden Fällen ist ein Ge-
träumtes nachträglich zur realen Wahrheit gemacht worden; beidemal hätte
es auch unterlassen werden können, und in einem wie im andern Falle wurde
es ausgeführt, weil es den "Wünschen der Träumer entsprach. Alexander
wollte die Stadt Tyros einnehmen, und unsere Analysandin wollte
die Tram verfehlen. Sie mußte es wollen, um der Aussicht zu entgehen, daß
ihr ein Bein abgefahren werde. Das heißt soviel: sie mußte den Anschluß an
den Analytiker (Bruder) verfehlen, wenn sie der Kastration (Inzeststrafe)
nicht erliegen wollte.
Wenn wir aus dem vorgelegten Materiale eine Übersicht gewinnen wollen,
so sehen wir aus den Beispielen, die wir genau untersuchen konnten,
eine Eigenschaft der „Wahrträume" deutlich hervorstechen: sie sind alle
Wunscherfüllungen.
Die Blickrichtung aller dieser prophetischen Träume ist nicht in die
Zukunft gewendet, sondern in die Vergangenheit. Es sind hinter den
manifesten Traumbildern immer Traumgedanken zum Vorschein gekommen,
die Wünsche und Phantasien aus der Kindheitsgeschichte des
Träumers bearbeiten.
Daß es, wahrscheinlich viel häufiger als man gemeinhin glaubt, Träume
gibt, die nachträglich als „Wahrträume" darum eingeschätzt werden,
weil das auf sie folgende Geschehen zufällig dem manifesten Traum-
inhalt ähnlich oder gar gleich ist, kann nicht abgestritten werden. Mög-
licherweise ist der Traum vom Absturz am Rottalsattel von dieser Kate-
gorie. Sicher gehört der Traum vom Platztauschen des Schülers hierher.
Andere „Wahrträume" sind deutliche Erinnerungsfälschun-
216
Hans Zulliger
g e n 14 . Als Beispiel dafür kann der aus einer Phantasie umgewandelte '
vom Kind an der Brust gelten. Dabei entdecken wir eine mehrfache Fäl-
schung. Nicht nur, daß eine Phantasie in einen angeblichen Traum umge-
wandelt worden ist, die umgedichtete Phantasie wurde auch an einen ent-
sprechenden Punkt umdatiert. Die Träumerin ist des festen Glaubens
den angeblichen Traum anläßlich der Empfängnis ihres Söhnchens — lange
vor der Analyse — geträumt zu haben. Und sie glaubt ebenso überzeugt, sie
hätte dem Analytiker den Traum bereits erzählt.
Nebenbei zeigt das Beispiel von der jungen Frau den Grund auf, warum
„prophetische" Träume geträumt werden. Der Narzißmus ist am
Werke. "Wenn man der Tendenz nachgräbt, weshalb der Mensch mit der
außerordentlichen Befähigung ausgerüstet sein möchte, die Zukunft zum
voraus zu wissen, so stößt man zuletzt auf den "Wunsch, wie Kassandra
den Untergang Trojas, den Tod ebenso wie das Leben vorauszuwissen und
sich so ein Stück jener Allmacht wieder zu sichern, die einem primitiven
Despoten, der Phantasie kleiner Kinder und der Paranoiker heute noch eigen
ist. Hier wird „Wissen" wirklich zur „Macht", und „Macht" bedeutet die
Herrschaft über Leben und Tod. —
Die Allmacht der Gedanken bei der jungen Frau verhindert
den rechtzeitigen Eintritt ihrer Menses.
Ihr in der abschließenden Phase ihrer Analyse wirklich geträumter Traum
entspricht dem "Wiederholungszwange, wie wir deutlich haben
feststellen können. Die Analysandin reagiert als Erwachsene auf eine be-
stimmte Situation genau in der gleichen Weise, wie sie es einst als Kind
getan hat. In der Ubertragungssituation der psychoanalytischen Kur in der
Phase der Entwöhnung verhält sie sich so, wie sie sich in der entsprechenden
Phase ihrer Kindheit verhalten hat, und was sie in die Zukunft projiziert,
ist persönliche Geschichte.
Vom Gesichtspunkt der psychoanalytischen Technik aus gesehen müssen
wir den Traum der jungen Frau als ein Zeichen des Widerstandes
gegen die Kur einschätzen: der „Wahrtraum", dessen Sinn die Träu-
merin lange vor dem Analytiker — angeblich — erkennt, soll die Analyse
vorwegnehmen und gegenstandslos machen. Ebenso verhält es sich beim
Traume des Gymnasiasten. Die hinter dem Glauben an Wahrträume liegende
fatalistische Weltanschauung macht die Analyse deshalb
illusorisch, unnütz. In unserem Beispiel will die Träumerin die Analyse des-
halb entwerten, um den Verzicht auf den Analytiker nicht leisten zu müssen.
14) Pötzl : Zur Metapsychologie des „Dejä-vu", „Imago", XII, 1926.
Prophetische Träume
217
will der Auflösung der Übertragung, der Entwöhnung von der Kur ent-
gehen.
Ich vermute, daß recht viele der während einer psychoanalytischen Be-
handlung produzierten „Wahrträume" im Dienste des "Widerstandes stehen.
Das Traumbeispiel vom zerschlagenen Glase zeigt uns den Durch-
bruch einer unbewußten Tendenz, hinter der sich kriminelle
Wünsche verbergen. Wir haben gefunden, wie nahe verwandt Traum und
Fehlhandlung sind, daß sich, bildlich gesprochen, die Grenzen ihrer Gebiete
berühren oder überschneiden, und wir haben vernommen, daß sich vor krimi-
nellen Taten recht häufig Fehlhandlungen als Durchbruchsphänomene er-
eignen. Es wäre nun die Frage zu überprüfen, ob Träume, denen eine krimi-
nelle Tat folgt, die sie „vorausgesagt" haben, nicht wie symptomatische Fehl-
handlungen einzuschätzen seien. Zur Entscheidung dieser Frage reicht unser
Material nicht aus. Wir können nur vermuten, daß es sich im Traum vom
Bergunglück und in jenem von der Trennung vom Bräutigam so verhält.
Man könnte beidemal, hinter dem Absturz und bei dem Todesfall infolge
Lungenentzündung, eine unbewußte Suizidabsicht vermuten, die die Träume
verraten. Der Verdacht kann jedenfalls bei dem jungen Mädchen nicht ganz
abgestritten werden, das zu einem Vereinsanlaß geht, nachdem es Fieber
hatte, statt sich zu schonen. In der Suizidabsicht wäre die kriminelle Tendenz
gefunden, und die Träume entsprächen Durchbrüchen des kriminellen Un-
bewußten.
Aber wir wollen uns nicht wieder auf das unsichere Gebiet der Vermu-
tungen begeben. Lieber wenden wir uns dem Traumbeispiel vom Tram-
verfehlen zu. Es zeigt die S u g g e s t i o n als Motor zu „prophetischen"
Träumen auf. Daß diese bei dem „Wahrtraum" des Königs Alexander
funktionierte, ist bereits aufgezeigt worden.
Wir haben gesehen, warum der Mensch sich gerne eine unbekannte, ge-
heimnisvolle Fähigkeit und ein Sinnesorgan für die Zukunftsvoraussage zu-
traut; wir fanden beim sogenannten „Wahrtraum" den Zufall, die Erinne-
rungstäuschung, den Wiederholungszwang, das Durchbrechen einer unbe-
wußten Tendenz und schließlich die Autosuggestion an der Arbeit. Gewiß
spielen oft mehrere dieser Mechanismen ineinander, wo ein angeblicher
»Wahrtraum" produziert wird. Wir trafen bei den näher untersuchten
Traumbeispielen nichts, was im Widerspruch zu den in der „Traumdeutung"
festgelegten Funden Freuds stände. Es konnte keine „prospektive Ten-
denz" der Träume gefunden werden, alle wandten ihr Gesicht rückwärts
und wahrten ihren halluzinatorischen Wunscherfüllungscharakter. Wir dür-
n
218
Hans Zulliger: Prophetische Träume
fen auch bei solchen prophetischen Träumen, die den Tod naher Personen
voraussagen, vermuten, daß unbewußte Todeswünsche an ihrer Wurzel
liegen: diese Wünsche sind bekanntlich am tiefsten verdrängt.
Der „Wahrtraum" macht es wie die Kartenleserin: diese forscht, ohne
daß ihr Kunde es merkt, ihren Besucher aus und verblüfft ihn nachher mit
der Mitteilung dessen, was sie erfahren konnte und was „wahr" ist. Der
„Wahrträumer" ist zugleich Kartenleger und Kunde.
Um den Inhalt angeblicher „Wahrträume" erforschen zu können, bedarf
es des Ei nf al 1 s m a t er i a ls, und dann zeigt sich, daß das manifeste
Traumbild ebensowenig mit den latenten Traumgedanken übereinstimmt wie
bei gewöhnlichen Träumen. In den angeführten Beispielen ist nicht besonders
auf die Traummechanismen, wie Verschiebung, Verdichtung, sekundäre Be-
arbeitung usw., aufmerksam gemacht worden. Sobald man sie jedoch nach
diesen Gesichtspunkten betrachtet, fällt einem auf, daß sie sich auch hierin
nicht von gewöhnlichen Träumen unterscheiden.
Wir müssen uns also zu Freuds „Vorurteil" über die prophetischen
Träume bekennen, finden es an den aufgeführten Beispielen durchaus be-
stätigt und fragen uns, ob es nicht mehr als nur ein Vorurteil sei.
\^
I!
! I
I
lill
Über die weibliche H
omosexua
lität
Von
Helene Deutscn
Wien
Die folgenden Ausführungen über die weibliche Homosexualität werden
sich auf Erfahrungen stützen, die ich an elf mehr oder minder tief analy-
sierten Fällen gewonnen habe. Gleich zu Anfang möchte ich mit besonderer
Betonung bemerken, daß keine dieser elf manifesten Homosexualitäten
körperlich den Eindruck erweckt hat, als ob eine konstitutionelle Ver-
änderung physiologischer Merkmale in der Richtung der Männlichkeit vor-
läge. "Wenn man bei meinen Fällen von Zeichen verstärkter bisexueller An-
lage sprechen konnte, so bezog sich das durchwegs nur auf die Vorstufen
dessen, was man in späterer Entwicklung als Männlichkeit zu bezeichnen
pflegt. Diese Vorstufen scheinen aber kein physisches Korrelat zu haben,
jedenfalls kein feststellbares; denn, wie gesagt, keine dieser Patientinnen bot
in bezug auf ihre Körperlichkeit Zeichen von Virilität. Sie waren anato-
misch und physiologisch „weiblich" zu nennen. Damit will ich nicht leug-
nen, daß es auch andere homosexuelle Typen gibt, in denen das Genitale
in Gegensatz zur übrigen psychischen und körperlichen Persönlichkeit steht
(sekundäre Geschlechtscharaktere usw.). Ich sage nur, daß ich sie in mei-
nem Material nicht angetroffen habe.
Der erste Fall weiblicher Homosexualität wurde von mir vor etwa zwölf
Jahren analysiert. Es war ein Fall von manifester, aber nicht ausgeübter
i) Das Material zu der vorliegenden Arbeit wurde im Laufe viel jähriger Beobachtun-
gen gesammelt und war zum Vortrage auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kon-
gresse 1931, der dann aber abgesagt wurde, bestimmt. Inzwischen erschien die Arbeit
Freuds „Über die weibliche Sexualität", Internat. Ztschr. f„ PsA. XVII, 1931, die sich
mit der normalen sexuellen Entwicklung des Mädchens beschäftigt. Der letzte Anstoß
dazu, meine Beobachtungen jetzt zu veröffentlichen, wurde durch die Tatsache gegeben,
daß sie sich in vielen Punkten mit dieser letzten Publikation Freuds berühren.
Helene Deutsch
l
ll
ii
Inversion. Die Patientin wußte wohl, daß ihre Liebesfähigkeit und ihre
sexuelle Phantasie nur dem gleichen Geschlechte galt; sie hatte auch ganz
unzweideutige sexuelle Erregungen bei Umarmungen und beim Küssen be-
stimmter Frauen, in die sie verliebt war. Sie war zu diesen monogam und
treu eingestellt, jedoch nur platonisch, auch dort, wo sie von gleichartiger
perverser Neigung der betreffenden Frau wußte. Von einem bestimm-
ten Typus, der sie angezogen hätte, konnte man eigentlich nicht sprechen;
es waren jedenfalls nicht „männliche" Frauen, wie auch die Patientin
selbst einen Typus blonder Weiblichkeit darstellte. Den Männern stand
sie absolut nicht feindselig gegenüber, sie hatte viele männliche Freunde
und protestierte gar nicht dagegen, von Männern geehrt und hofiert zu
werden. Sie hatte aus Sympathie einen dem Äußeren nach ausgesprochen
„männlichen Mann" geheiratet und hatte in der Ehe mehrere Kinder, für
die sie nicht überschwenglich warm, aber doch mütterlich empfand.
Warum ihre Homosexualität sich nicht aktiver und drängender ent-
wickelte, konnte sie nicht erklären, sie wußte nur, daß sie dagegen zu
starke Hemmungen hatte, die sie durch gesellschaftliche Scheu, Familien-
pflichten und Angst vor „Hörigkeit" rationalisierte. Ihre Liebesempfindung
für Frauen konnte sie bis in ihre Pubertät zurückverfolgen; sie begann
damals in der für die Pubertät typischen Weise und galt Lehrerinnen und
anderen irgendwie autoritativen Personen. Ich kann mich nicht erinnern,
ob sich diese Personen durch besondere Strenge ausgezeichnet haben; jeden-
falls war die Patientin von zwei Gefühlen beherrscht: einem Gefühl der
Geborgenheit einerseits und einem Gefühl der Angst vor der Betreffenden
andrerseits. Sie war nie in einen Mann wirklich verliebt; zu ihrem Gatten
fühlte sie sich anfangs hingezogen, denn sie sah in ihm eine besonders aktive
und männliche Persönlichkeit. Gleich im Beginn der Ehe wurde sie darin,
wie sie angibt, enttäuscht, denn gerade in dieser Beziehung entsprach
der Mann nicht ihren Erwartungen. Vor allem fehlte ihm die Leidenschaft
und Aktivität in sexuellen Dingen und auch sonst versagte er meist, wenn
sie seine Aktivität erwartete.
In die Analyse kam die Patientin wegen ihrer neurotischen Schwierig-
keiten. Sie litt seit Jahren an Depressionen und Angstgefühlen von be-
stimmtem Inhalt. Diese bezogen sich auf ihre weiblichen Angestellten, denen
gegenüber sie nicht den Mut fand eine entsprechende, autoritative Haltung
einzunehmen. Sie stellte zwar an diese Personen strenge Forderungen,
quälte sich ab, wenn dieselben nicht befolgt wurden, war aber nicht im-
stande, einen Befehl oder gar eine Rüge zu erteilen. Gerade in Situationen,
m
Über die weibliche Homosexualität
die dies notwendig machten, wurde sie der betreffenden Person gegenüber
von Schüchternheit und Angst befallen. Besonders jeder "Wechsel im Per-
sonal und die damit verbundene Erwartung einer neuen weiblichen Person
verstärkte immer die Angst und den Konflikt. Diese Situationen waren es
auch, bei denen sie voll bewußt dem Gatten den Vorwurf machte, daß er
sie nicht genügend aktiv beschütze und unterstütze.
Die Depressionen der letzten Jahre häuften sich immer mehr und waren
mit Selbstmordgefahr verbunden. Die Patientin hatte schon eine ganze
Anzahl mißlungener Selbstmordversuche hinter sich; der letzte brachte sie
knapp an den Rand des Todes. Der Zufall brachte es mit sich, daß ein mir
sehr befreundeter Arzt zur Hilfe gerufen wurde und mir dann bestätigen
konnte, wie ernst dieser Selbstmordversuch gemeint war.
Die Analyse der Patientin bewegte sich monatelang um den Kastra-
tionskomplex. Zur Zeit dieser Analyse — es sind schon zwölf Jahre her —
war die Annahme eines Kastrationskomplexes bei der Frau noch nicht
eine solche Selbstverständlichkeit wie heute. Dabei war ich durch das in
diesem Sinne sich ergebende Material so fasziniert, daß ich geneigt war,
den Kastrationskomplex als Kern ihrer Neurose ebenso wie ihrer Perver-
sion zu betrachten. Sie war so sehr von Penisneid erfüllt, daß dieser sogar
in der Beziehung zu ihren kleinen Söhnen zum Ausdruck kam, denen sie
in ihren Träumen und Phantasien den Penis wegschnitt. Wenn auch die
Patientin von besonders starken sadistischen Tendenzen beherrscht war,
zeigte ihre bewußte Persönlichkeit einen mehr reaktiven Charakter. Sie
war nämlich liebenswürdig und weich, mit unverkennbaren zwangsneuroti-
tischen Zügen in Form von besonderer Anständigkeit und Korrektheit. Die
Übertragung auf mich war sehr stark und gehörte zu jenem Typus, bei dem
im Bewußtsein und auch im Agieren lange Zeit nichts anderes als Zärtlich-
keit, Verehrung und das Gefühl der Geborgenheit zu sehen ist. Die Kranke
fühlte sich so glücklich, als hätte sie endlich eine gute, verstehende Mutter
gefunden und bei ihr alles das bekommen, was ihr bei der eigenen Mutter
versagt geblieben war. Die Mutter war nämlich eine strenge, kühle Person
gewesen, die von der Patientin zeitlebens vollkommen bewußt gehaßt wurde.
Nach dem Tode der Mutter — der einige Jahre vor dem Beginn der Ana-
lyse erfolgte — verfiel sie in eine tiefe Depression, in die auch einer ihrer
Selbstmordversuche fällt.
Während der Analyse traten in kurzen Intervallen nacheinander mehrere
Depressionsanfälle auf. Sie waren immer von charakteristischen Träumen
begleitet und förderten auch ein bestimmtes Material zutage. Ich habe da-
Helene Deutsch
mals, vor zwölf Jahren, über diese Träume unter dem Titel „Mutterleibs-
träume und Selbstmordideen" in einer kleinen Mitteilung in der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung berichtet. Ohne auf diese Träume im
Detail einzugehen, genügt anzuführen, daß sie fast alles, was an Mutter-
leibssymbolik uns bekannt ist, enthielten; es waren Träume von dunklen
Löchern und Lücken, in die sich die Patientin verkroch, Träume von wohli-
gen, dunklen Plätzen, die der Träumerin bekannt und vertraut erschienen,
und in denen sie mit dem Gefühl der Ruhe und des Erlöstseins weilte. Diese
Träume stellten sich zu einer Zeit ein, in der die Patientin, von bewußter
Todessehnsucht bedrängt, immer wieder beteuerte, daß, wenn nicht die
Beziehung und das Vertrauen zu mir wäre, keine Macht der Welt sie davor
zurückhalten könnte, Selbstmord zu begehen. Auffällig war, daß in diesen
Träumen ein besonderes Traumbild sich immer wiederholte, und zwar sah
sich die Patientin wie ein Wickelkind in Bänder oder Gurte gewickelt.
Die Assoziationen dazu ließen erkennen, daß sich zwei dunkle Erinnerun-
gen in diesen Träumen durchsetzten. Die eine bezog sich auf eine Szene nach
ihrem letzten Selbstmordversuch durch Vergiftung, in der sie aus einer
tiefen Bewußtlosigkeit erwacht, noch an das Transportbett angegürtet, den
Arzt gütig lächelnd über sich gebeugt sieht, sich bewußt ist, daß er ihr
das Leben gerettet hat (was auch der Fall war) und denkt: „Für diesmal
ja, aber wirklich helfen kannst du mir doch nicht."
Eine andere Assoziationsreihe führte zur Erinnerung an eine lebens-
gefährliche Operation ihrer Mutter. Die Patientin erinnerte sich, gesehen
zu haben, daß die Mutter — ebenso eingewickelt wie sie selbst später —
auf einem Transportbett zum Operationssaal gebracht wird.
Von dieser Erinnerung aus eröffnete die Analyse den Zugang zu einem
bisher verdrängten mörderisch-aggressiven Haß gegen die Mutter, der zum
Mittelpunkt der Analyse wurde. Nach etwa achtmonatiger Arbeit kamen
Erinnerungen aus der Kindheit, die sich ebenso als Zentrum der Neurose
wie als Zentrum der Perversion erwiesen. Diese Erinnerungen führten ins
vierte bis sechste Lebensjahr, zu welcher Zeit die Patientin in einer — jeden-
falls für die Mutter — auffälligen Weise masturbierte. Ob diese Masturba-
tion wirklich den normalen Grad überstieg, und welchen Inhalt die dabei
anzunehmenden Phantasien hatten, war nicht zu entscheiden. Tatsache ist,
daß die ratlose Mutter, nach Angabe der Patientin, zu folgendem Mittel
griff: Sie band ihre Hände und Füße, gürtete sie an das Gitterbett, stellte
sich daneben und sagte: „Also jetzt spiele dich!" Das führte bei dem klei-
nen Kind zu einer doppelten Reaktion: Die eine war eine unbändige Wut
||l
m
Über die weibliche Homosexualität 223
die Mutter, die sie — gefesselt — nicht motorisch entladen konnte.
Die andere eine heftige sexuelle Erregung, die sie ungeachtet der Gegen-
wart der Mutter, oder auch der Mutter zu Trotz, durch Reiben des Ge-
säßes an der Bettunterlage zu befriedigen versuchte.
Das Schrecklichste an dieser Szene war für sie, daß der Vater, von der
lutter herbeigerufen, ein passiver Zeuge war, ohne seinem Töchterchen,
is er zärtlich liebte, Hilfe zu leisten.
Ich möchte noch die analytische Auslösung dieser Erinnerung nachholen.
Sie wurde durch einen Traum der Patientin möglich, in dem sie sich hinter
einem Gitter im Polizeikommissariat sah, irgendwelcher sexueller Missetaten
beschuldigt — scheinbar von der Straße, der Prostitution verdächtig, herein-
gebracht. Der Polizeikommissär, ein gütiger Mensch, steht auf der anderen
Seite des Gitters, ohne ihr zu helfen. Also eine fast direkte Wiederholung
jener Kindheitssituation.
Nach dieser Kindheitsszene hatte die Patientin die Masturbation auf-
gegeben und damit ihre Sexualität für lange Zeit verdrängt. Was sie damals
mitverdrängt hat, war: der Haß gegen die Mutter, den sie auch wirklich
nie in diesem Ausmaß verraten hatte.
Ich betrachte die Szene mit der Mutter, die sich in der Kindheit ab-
gespielt hat, nicht als traumatisch im Sinne der Verursachung der späteren
Einstellung der Patientin. Sie enthielt nur konzentriert alle jene Strömun-
gen, die das ganze sexuelle Leben der Patientin determinierten. Der Vor-
wurf gegen die Mutter, daß sie ihr die Masturbation verboten habe, wäre
auch ohne diese Szene sicher vorhanden gewesen. Die Haßreaktion gegen
die Mutter, entsprechend der sadistischen Konstitution der Patientin, war
auch in anderen Kindheitssituationen ersichtlich, ebenso der Vorwurf gegen
den Vater, daß er sie gegen die Mutter nicht beschützt habe. Diese Szene
aber brachte alle diese Strömungen sozusagen zum Siedepunkt und wurde
so zum Vorbild des späteren Geschehens.
Jede sexuelle Erregung verband sich von nun an mit dem mütterlichen
Verbote und mit den schwersten aggressiven Regungen gegen die Mutter.
Diesen widersetzte sich die ganze psychische Persönlichkeit, in der als Reak-
tion auf diese Haßregungen ein intensives Schuldgefühl der Mutter gegen-
über erwacht war und zu einer Umkehrung des Hasses in eine libidinöse
masochistische Einstellung geführt hatte. Das macht verständlich, daß die
Patientin die direkte Frage, warum sie bisher keine homosexuelle Bindung
eingegangen sei, damit beantwortete, sie hätte Angst vor Hörigkeit gehabt.
Sie hatte eben Angst vor der masochistischen Bindung an die Mutter. Klar
224 Helene Deutsch
wird auch, warum sie vor ihren weiblichen Angestellten Angst hatte und
dem Manne den Vorwurf machte, daß er sie nicht genügend beschütze.
Wenn auch im Laufe der Analyse bei der Patientin ein übermäßig er
Penisneid manifest wurde, stand er nicht im Zentrum der Persönlichkeit
der Patientin, die weder charakterologisch noch in ihrem Verhalten den
Männern gegenüber den Typus der Frau mit „Männlichkeitskomplex" auf-
wies. Allerdings scheint es nicht immer so gewesen zu sein, denn es ließen
sich Phasen sowohl in der Kindheit, vor der Zeit des verhängnisvollen Er-
lebnisses, wie auch in der Pubertät aufdecken, in denen untrügliche Zeichen
einer im Sinne der Männlichkeit besonders stark entwickelten Aktivität
nachzuweisen waren. Vor allem in der Pubertät zeigte sie deutlich Inter-
essen, die besonders in ihrer Zeitepoche, für ein Mädchen aus ihren
Kreisen, ziemlich ungewöhnlich waren. Dieses Stück Männlichkeit wurde
damals — und blieb auch zeitlebens — glänzend sublimiert. Doch scheint
ein nicht unbeträchtlicher Teil als Belastung ihres Seelenhaushaltes geblie-
ben zu sein, wie dies Träume und gewisse Symptome von Minderwertig-
keitsgefühlen usw. deutlich verrieten.
Es war für mich besonders verlockend anzunehmen, daß die Patientin
eben in ihrer Homosexualität die Männlichkeit auslebe. Aber gerade in
diesem Punkte erfüllte sie nicht meine analytischen Erwartungen; eine Tat-
sache, aus der für mich schon damals ein Problem entstand, das ich erst
nach Jahren verstehen lernte.
Um jedoch eine gewisse Chronologie meiner Erfahrungen zu wahren,
möchte ich meine Erwägungen über den Fall an dieser Stelle unterbrechen.
Nach der Durcharbeitung des erwähnten Stückes der Analyse, also nach
achtmonatiger Dauer, erschien, eigentlich zum erstenmal, der Vater am
Schauplatz der analytischen Handlung und mit ihm alle zum Ödipuskom-
plex gehörigen Regungen, ausgehend von dem großen, nie überwundenen
Vorwurf gegen den Vater, daß er nicht aktiv genug gewesen sei, um die
Tochter zu lieben. Ich möchte besonders betonen, daß es schon damals für
mich feststand, daß der Haß gegen die Mutter und das libidinöse Verlan-
■:
:!
"II i'
gen nach ihr viel älter waren als der Ödipuskomplex.
Ich erhoffte mir, daß mit der "Wiederbelebung der Vaterbeziehung, vor
ivi'IM 1 ' ... .
allem durch eine Auffrischung und Korrektur dieser Beziehung, die
;m
«will
libidinöse Zukunft der Patientin sich günstiger gestalten würde. Ich schickte
sie daher zu einem Analytiker vom Typus des väterlichen Mannes. Leider
gedieh die Übertragung nur bis zu Achtung und Sympathie. Die Patientin
unterbrach nach kurzer Zeit diese Analyse. — Zirka ein Jahr später be-
$
Über die weibliche Homosexualität 22 j
gegnete ich ihr jand sah einen aufgeblühten, glückstrahlenden Menschen vor
mir. Sie erzählte mir, daß ihre Depressionen vollkommen verschwunden
seien. Der Todeswunsch, den sie eigentlich immer in ihrer ständigen Nostal-
gie empfand, scheine ihr jetzt in weite Ferne gerückt. Sie habe endlich ihr
Lebensglück in einer außerordentlich beglückenden und hemmungslosen
sexuellen Beziehung zu einer Frau gefunden. Die Patientin, sehr intelligent
und analytisch gut bewandert, gab mir die Auskunft, daß sich ihre homo-
sexuelle Beziehung in einer vollbewußten Mutter-Kind-Situatipn abspiele,
wobei einmal die eine, das andere Mal die andere die Mutter spiele — so-
zusagen ein Spiel mit doppelter Rollenbesetzung. Dabei wurden bei dem
homosexuellen Liebesspiel die Befriedigungen vor allem an der Mundzone
und an den äußeren Genitalien gesucht. Von einem Gegenspiel „männlich-
weiblich" war in dieser Beziehung nichts zu sehen; wesentlich war der
Gegensatz zwischen aktiv und passiv. Es machte den Eindruck, als ob eben
in der Möglichkeit, beide Rollen spielen zu können, das Beglückende lag.
Das Resultat ihrer Analyse war deutlich. Alles, was in der analytischen
Übertragungssituation so klar zum Vorschein gekommen war, wurde jetzt
von der Person der Analytikerin abgelöst und anderen weiblichen Personen
zugetragen. "Was dort versagt wurde, konnte hier an neuen Objekten in
Erfüllung gebracht werden. Sichtlich hatte die Überwindung der Feind-
seligkeit der Analytikerin gegenüber auch die Überwindung der Angst mit
sich gebracht, wodurch an Stelle dieser beiden Regungen (der Angst und
der Feindseligkeit), die die neurotischen Symptome bewirkten, eine posi-
tive libidinöse Beziehung zum Weibe eintreten konnte, allerdings erst nach-
dem die infantilen Kränkungen vom Mutterersatzobjekt durch die sexuellen
Befriedigungen wieder gutgemacht worden waren. Zu einer weiteren und
günstigeren Lösung der Mutterbindung, nämlich zum Aufgeben der Homo-
sexualität und zur Zuwendung zum Manne, hatte die analytische Behand-
lung nicht geführt.
Ich möchte jetzt hier abbrechen und theoretische Erwägungen erst nach
Anführung anderer analysierter Fälle bringen.
Es sei nur noch ergänzt, daß die Patientin wohl seit der Analyse keinen
Selbstmordversuch mehr verübt hat, daß aber, wie ich gehört habe, in der
letzten Zeit wiederum die alten Schwierigkeiten mit den weiblichen An-
gestellten begonnen haben. Ich vermute, daß Störungen in der Liebesbezie-
nung eingetreten sind, auf die eine neurotische Reaktion erfolgt sein dürfte.
Jedenfalls ist von den Depressionen, wie sie vor der Analyse bestanden
hatten, keine Rede mehr.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XVIII— 2 i5
226
Helene Deutsch
- !:
S,!
M
w
II
Im Laufe der letzten drei Jahre analysierte ich mehrere Fälle -weib-
licher Homosexualität, die manifester waren als der besprochene und be'
denen — sozusagen — die Analyse dort anfing, wo unsere Patientin sie
verlassen hat. Alle standen in einer mehr oder weniger bewußt als solche
erkannten Mütter-Kind-Beziehung zu ihrem homosexuellen Liebesobjekt
Eng umarmt miteinander zu schlafen, gegenseitig an den Brustwarzen zu
saugen, masturbatorische genitale und vor allem anale Erregungen und
intensiv betätigter beiderseitiger Cunnilingus, hauptsächlich von saugendem
Charakter, dies waren bei allen diesen Patientinnen die sexuellen Befriedi-
gungsformen. Auch hier ist die besondere Betonung der Doppelrolle hervor-
zuheben.
Eine dieser Patientinnen hatte diese Doppelrolle auf zwei Objekte ver-
teilt, auf irgendein kleines, junges hilfsbedürftiges Mädchen, das die Rolle
des Kindes übernahm, und auf irgendeine ältere, sehr aktive, sehr autorita-
tive Frau, der gegenüber sie selbst die Kleine und Hilflose spielte. Diese
letzte Beziehung fing gewöhnlich so an, daß die Patientin, selbst sehr aktiv
und ehrgeizig im Berufe, in eine sublimierte Beziehung zu der Frau ein-
trat, kurze Zeit in einer kaum merklichen und erst in der Analyse bewußt
gewordenen Konkurrenzeinstellung zu derselben stand, um dann deutlich
neurotisch in der Leistung zu versagen und in eine untergeordnete Situation
der betreffenden Frau gegenüber zu geraten. So endigte z. B. eine gemein-
sam begonnene Niederschrift eines Fachwerkes damit, daß die Patientin —
vielleicht sogar die Begabtere von den beiden — doch zum Schluß bei der
Redaktion des Schriftstückes nur die Rolle der Sekretärin einnahm. Kam
es während einer derartigen Zusammenarbeit zu einer sexuellen Annäherung,
so blieb immer der anderen die Rolle der aktiven Verführerin eingeräumt.
Ich entnehme der Lebensgeschichte und der Analyse nur das, was ich
als Belegmaterial für die späteren theoretischen Ausführungen benötige.
Die Patientin entstammt einer sehr kinderreichen Familie; sie hat viele
Schwestern und zwei Brüder, von denen nur einer, vier Jahre älter als sie,
eine Rolle in ihrer Lebensgeschichte spielt. Im Alter von neun Mona-
ten, noch als Säugling, bekommt sie eine jüngere Schwester, die ihr die
Mutterbrust als Konkurrentin streitig macht. In der ersten Kindheit litt
sie dann viel an allerlei oralen Symptomen, aus denen sich eine Situation
rekonstruieren ließ, der man den Charakter des „oralen Neides" zuschreiben
kann. Sie blieb lange Zeit in einem Konkurrenzverhältnis zu dieser Schwe-
ster, der sie bereits in der Kindheit — sichtlich überkompensierend — den
Vortritt ließ. So erwähnte sie auch in der Analyse, schon in sehr früher
Über die weibliche Homosexualität 227
Kindheit gehört zu haben, daß, wenn zwischen zwei Schwestern ein so
kleiner Altersunterschied und eine so große Ähnlichkeit bestehe wie zwi-
schen ihr und ihrer Schwester, nur eine heiraten und Kinder haben werde.
Sie überließ diesen Erfolg auf der weiblichen Linie der Schwester, und
schon in der Pubertät, als sich die Eltern bald nach der Geburt des letzten
Kindes scheiden ließen, verzichtete sie zugunsten der anderen auf den
Vater und blieb mit der Mutter.
Sehr zeitlich zeigten sich in der Kindheit der Patientin Reaktionsbildun-
gen auf aggressive Tendenzen, die vor der Geburt der nächsten Schwester
— als sie sechs Jahre alt war — an eine Zwangsneurose gemahnten; aller-
dings kam diese nie zur Ausbildung. Jedenfalls macht sie sich zur Zeit der
damaligen Schwangerschaft der Mutter die bittersten Vorwürfe, daß sie
gegen die Mutter und das erwartete Kind nicht so gütig sei wie ihre
Schwester Erna, von der sie überzeugt war, daß sie jeden Abend für das
Wohl der Mutter und des Kindes bete.
Die Analyse deckte sehr starke Aggressionen gegen die Mutter 2 , ins-
besondere gegen die schwangere Mutter, und gegen das neugeborene
Kind auf. Das Leben der Patientin, ihre ganze Charakterbildung war, wie
sich zeigte, unter dem Drucke von Versuchen, die Mordgedanken gegen
Mutter und Kind zu korrigieren, vor sich gegangen.
Bei den nächsten zwei Schwangerschaften der Mutter — es kamen wie-
der Mädchen zur Welt — wiederholte sich die Reaktion immer von neuem,
und erst bei der jüngsten Schwester, bei deren Geburt die Patientin, wie
oben gesagt, zwölf Jahre alt war, änderte sich die psychische Situation.
Während der Vater in der älteren Zeit immer als ein sehr geheimnisvoller,
fremder und mächtiger Mann, vor dem man Angst und Scheu haben
mußte, erinnert wurde, änderte sich allmählich die Einstellung der Patien-
tin zu ihm. Beim Vater war nämlich ein Herzleiden aufgetreten, das ihn
schließlich berufsunfähig machte. Die Familie geriet dadurch in materielle
Schwierigkeiten. Das war für die Patientin der Anstoß, selbst die Rolle des
Vaters zu übernehmen und Phantasien nachzuhängen, in denen sie hohe
Stellungen bekleidete und die Familie versorgte. Diese Phantasien hat die
Patientin später auch tatsächlich durch harte Arbeit in Wirklichkeit um-
gesetzt.
W Z \ Dle Beobachtun g en von Melanie Klein zeigen uns besonders einleuchtend, wie
blutrünstig-aggressiv die Beziehungen des Kindes zur Mutter sind, insbesonders dort, wo
em reales Erlebnis (z. B. die Geburt eines Geschwisters) die Aggressionen mobilisiert. Der
große Wert dieser Beobachtungen liegt darin, daß sie direkt an Kindern gemacht wor-
den sind.
i5*
ä :: »/l
."!■■■'.:!:'
i'.-iil- 1 '!
Trotz dieser Identifizierung mit dem Vater, und obwohl sie auch ihren
Bruder um seine Männlichkeit beneidete, war sie zur Zeit der Geburt ihres
jüngsten Schwesterchens diesem gegenüber nicht mehr in Konkurrenzeinstel-
lung, wie sie es bei den anderen Schwestern gewesen war. Vielmehr gefiel
sie sich außerordentlich selbst in der Rolle eines kleines Mütterchens und
beanspruchte das Kind ganz für sich. In dieser Situation benahm sie sich
in bezug auf ihren Ödipuskomplex bereits vollkommen wie ein normales
Mädchen. Die Analyse ergab, daß diese positive ödipuseinstellung erst
erreicht werden konnte, als die Patientin den Vater aus seiner übermäch-
tigen Unnahbarkeit sich näherzubringen wagte und damit die heftige
Angst vor dem masochistischen sexuellen "Wunscherlebnis überwinden
konnte.
Meine Erfahrungen gestatten mir, mit Sicherheit anzunehmen, daß die-
ser Objektwechsel, nämlich die libidinöse Abwendung von der Mutter und
Zuwendung zum Vater, sich um so schwerer vollzieht, je aggressivere und
sadistischere Dispositionen in einem Mlädchen vorherrschen, nicht nur weil
er durch aktive Strebungen behindert wird, sondern auch weil gerade in
solchen Fällen die "Wendung ins Passive einen besonders masochistischen
Charakter annehmen und als gefährlich vom Ich abgewiesen werden muß.
Unsere Patientin hatte zwar die normale ödipussituation — wie die
Pubertät deutlich zeigte — erreicht, aber damit für ihre alten präödipalen
Aggressionen gegen die Mutter neue Nahrung aus dem Rivalitätsverhältnis
zu ihr bekommen. Die damit verbundene Belastung des Schuldgefühles
konnte nicht anders erleichtert werden als durch neue Überkompensierun-
gen, durch Verzicht auf den Vater und endgültiges Verharren in der
Mutterbindung.
"Wenn wir der psychologischen Grundlage dieser Beziehung eine prä-
gnante Formulierung geben wollen, so würde sie lauten: „Ich hasse dich
nicht, sondern ich liebe dich. Es ist nicht wahr, daß du mir die Brust zu-
gunsten meines jüngsten (das heißt sozusagen präödipalen) Schwesterchens
verweigerst, du gibst sie mir und ich brauche nicht dich und das Kind zu
töten. Es ist nicht wahr, daß ich das Kind getötet habe, denn ich bin selbst
das von dir geliebte und genährte Kind." Diese Grundeinstellung zur
Mutter spiegelt sich nicht nur in der Form der direkten oralen Befriedigung
beim homosexuellen Verkehr mit dem jungen Mädchen, von der ich früher
gesprochen habe, sondern auch in der oben erwähnten unterwürfigen, passi-
ven Haltung der älteren Geliebten gegenüber.
Die obige Formulierung der Homosexualität hat wohl noch nichts mit
der Ödipussituation zu tun und ist eine Fortsetzung und Reaktion auf die
präödipale Situation.
Die Art der Beziehung zum jungen Mädchen entspricht jedoch nicht nur
dem aktiven Teil der ursprünglichen Mutter-Kindbeziehung, in dem
sie in typischer "Weise sich auch mit der nährenden Mutter identifiziert,
sondern bezieht bereits unzweideutig neue Einflüsse aus der ödipussituation.
Das junge Mädchen ist immer eine Stellvertreterin ihrer jüngsten Schwester,
bei der sie sublimierend zeitlebens wirklich die Mutterrolle einnimmt; wäh-
rend sie die unsublimierte homosexuelle Regung dem fremden jungen Mäd-
chen als Liebesobjekt zuwendet. Sie ist da bald die Mutter, die dem Kinde
(vom Vater) die Brust gibt, bald das gesäugte Kind selbst. In diesem
sexuellen Erlebnis vermag sie den Mutterhaß in Liebe zu verwandeln, denn
sie bekommt die Brust der Mutter, gleichzeitig kann sie die aktiv gebende
Mutter sein und darin die Aggressionen gegen die Mutter in Aktivität über-
führen.
Ich möchte nun aus der Analyse dieser Patientin einige Träume mit-
teilen, und zwar aus der Fülle des Materials diejenigen, die schon im
manifesten Trauminhalte das Obengesagte bestätigen.
Ein Traum lautete folgendermaßen: Die Patientin sieht sich mit ihrer
jüngsten Schwester auf der Straße. Sie ist schwanger. Sie trachtet rasch ein
Haus zu erreichen, das sie vor sich sieht. Dieses Haus hat in der Mitte der
ront einen stark vorgewölbten Erker mit einem offenen Fenster. Das ist
Zimmer ihrer Mutter, das sie erreichen will, um das Kind zu gebären.
Sie hat große Angst, daß sie das Kind auf der Straße verlieren, das heißt
abortieren könnte, bevor sie das Haus erreicht. Sie äußert diese Angst zu
ihrer Schwester und abortiert wirklich auf der Straße.
Der Traum war sehr leicht aus der aktuellen Lebenssituation der Patien-
tin verständlich. Am Tage vor dem Traum kam eine kleine Freundin zu
Besuch, die in einer anderen Stadt lebte und die sie seit Beginn ihrer Analyse
nicht gesehen hatte. Diese Freundin war eben ihr homosexuelles Objekt,
nach dem Typus ihrer jüngsten Schwester. Sie hatte die Nacht mit ihr zu-
sammen geschlafen und hatte sie in ihren Armen eng an sich gedrückt ge-
halten. Bevor es noch zu einer sexuellen Entspannung kam, wurde sie durch
ein unbehagliches Gefühl beunruhigt, daß die Befriedigung ihrer homo-
sexuellen Wünsche die Analyse stören könnte. Sie schickte daher die Kleine
aus dem Bette weg, verlor sie — sozusagen — aus ihren Armen, um die
Beziehung zu mir nicht zu stören. Die Gleichsetzung der Schwangerschaft
im Traum, das heißt des Zustandes, in dem sie das Kind bei sich, in sich
2 3
Helene Deutsch
hat, mit der erlebten sexuellen Umarmung, ist deutlich. Die Sehnsucht im
Traume nach der schwangeren Mutter, die im vorgewölbten Erker als
Mutterleibsphantasie zum Ausdruck kommt, und die gleichzeitige Identifi-
zierung mit der Mutter und mit dem Kinde in utero ist hier außerordent-
lich klar. Dazu kommt noch, daß die Patientin gerade in dieser analyti-
schen Stunde zum erstenmal erinnerte, daß die Mutter, als sie selbst
etwa dreieinhalb Jahre alt war, einen Abortus gehabt hat. Das war eben
jene Kindheitsperiode, in der die Patientin, so stark an die Mutter gebun-
den, außerordentlich aggressiv auf ihre Schwangerschaft reagiert hatte.
Das andere Stück des Traumes: „Ich gehe mit meiner jüngsten Schwe-
ster", drückt ebenfalls die Situation vor dem Einschlafen aus und heißt:
„Ich habe meine Geliebte bei mir." Diese Traumsituation verrät die analy-
tisch festgestellte Tatsache, daß in der sexuellen Beziehung zur Freundin
auch die Erfüllung des ödipuswunsches enthalten ist, indem das neue
Töchterchen nicht der Mutter, sondern ihr gehört. Die Traumsituation: Die
Mutter erreichen und das Kind gebären, bezw. die Mutter nicht erreichen
und das Kind verlieren, stellt besonders klar die Identität Mutter-Kind,
bezw. Gebären-Geborenwerden her und hängt mit der präödipalen Mutter-
beziehung zusammen, eben aus der Zeit, in der die Mutter den Abortus
erlitten hat. Die Verschmelzung und Überlagerung dieser Situation mit den
Wünschen der ödipuseinstellung scheint hier ebenfalls klar zu sein.
Von einem zweiten Traume sei nur ein Bruchstück mitgeteilt: Die Pa-
tientin liegt im Traume am Diwan, eine Gestalt nähert sich ihr und trach-
tet sie zu entblößen. Sie versucht zu schreien und erwacht mit dem Auf-
schrei: „Mein Gott, Frau Doktor!" Beim Erwachen bemerkt sie, daß sie
ihre Hand zwischen den Schenkeln hatte.
Eine Assoziationsreihe zu dem Traum führt zu einem Thema, das eben
in dieser Zeit der Analyse aktuell war, nämlich zur Masturbation. Die Pa-
tientin enthielt sich seit längerer Zeit der Masturbation, aus Scheu, mir es
sonst erzählen zu müssen. In der letzten Zeit begann sie — allerdings unter
Hemmungen — sich die Masturbation zu gestatten, unter dem Eindruck,
daß ich nichts dagegen habe. Der Ausruf: „Mein Gott", galt mir und hieß,
ich solle sie vor der Gefahr der Strafe retten, das heißt verhüten oder
erlauben. Diese Deutung ergab sich aus Assoziationen, von denen einige
zu einem Erlebnis in der Kindheit hinführten. Sie hatte einmal mit einer
feuchten Hand einen elektrischen Taster berührt, hatte sich in den Strom
eingeschaltet und die Hand nicht wegreißen können. Auf ihren Hilferuf
(„Mein Gott!") war die Mutter herbeigestürzt, wurde auch in den Strom
Über die weibliche Homosexualitäc 231
eingeschaltet, der aber dadurch in seiner Wirkung abgeschwächt wurde, so
daß sie ihre Hand befreien konnte. Sie war durch die Mutter gerettet wor-
den. Im Traum soll ich — wie die Mutter — sie von der Berührung, bezw.
von den Folgen des übertretenen Verbotes erretten, indem ich selbst, in
den Kreis ihrer Erregung eingeschlossen, sie umarme und befriedige.
Dieser Abschnitt des Traumes soll jene andere wichtige Komponente
ihrer Homosexualität illustrieren, in der der Kampf mit der Masturbation
durch die mütterliche Intervention, das heißt deren ausgesprochene Sank-
tion, zu dieser eben scheinbar günstigen Lösung gebracht wird.
Ein anderer Traum: Eine große, starke Frau, die sie für ihre Mutter
ansieht, obzwar sie größer und stärker ist als diese, ist in tiefer Trauer,
weil die Erna (ihre nächst jüngere Schwester) gestorben ist. Der Vater steht
daneben. Sie selbst ist fröhlich gestimmt, denn sie wird jetzt mit dem Vater
weggehen und sich unterhalten. Ein Blick auf die Mutter belehrt sie, daß
dies nicht, geht, sie müsse mit der Mutter bleiben wegen der Trauer.
Dieser Traum deutet sich von selbst: Sie kann ihre ödipuswünsche nicht
befriedigen, sie kann nicht heiter und glücklich mit einem Manne sein,
weil sie das Schuldgefühl der Mutter gegenüber, deren Kind sie getötet hat,
an die Mütter bindet und sie in die Homosexualität drängt.
Von einem anderen langen und aufschlußreichen Traum bringe ich nur
ein kurzes Stück: Sie sieht sich bei Frl. Anna Freud, die Männerkleidung
trägt, in Analyse. Das ist im Traum damit begründet, daß es notwendig
war, die Analytikerin zu wechseln. Bei mir habe es sich darum gehandelt,
freie Assoziationen zu bringen, bei Frl. Freud um Erlebnisse.
Am Abend vor dem Traume war die Patientin von ihren Freunden zu
einem Vortrag im Saale unserer psychoanalytischen Vereinigung mitgenom-
men worden, bei dem Frl. Freud und ich anwesend waren. Sie erzählte
mir nun im Anschluß an den Traum, man habe ihr seinerzeit als Analyti-
kerin Frl. Freud und mich empfohlen. Aus den Schilderungen, die man ihr
von uns beiden gegeben hatte, hätte sie sich von uns ein Bild gemacht, in
dem Frl. Freud das Mutterideal darstellte, mütterlich für alle Kinder
und hilfsbereit für sie, wenn sie bei ihr Hilfe suchten, während meine
Mütterlichkeit in ihrer Vorstellung vor allem den eigenen Kindern galt
(sozusagen sexualisiert war). Es fällt ihr auch noch ein, daß sie, bevor sie
ihre Wahl treffen wollte, die Absicht hatte, uns beiden zu schreiben, dann
a ber, wie ihr erst jetzt einfällt, sich nur nach meiner Adresse erkundigt
hatte.
Am Abend vor dem Traume hatte sie Gelegenheit, uns beide zu ver-
232 Helene Deutsch
gleichen. Da habe sie sich gedacht, wie ihre Vorstellung von uns sich ganz
mit der Wirklichkeit decke, und — wie froh sie sei, bei mir in Analyse zu
sein. Diese Beteuerung erschien mir etwas verdächtig und ich machte sie
aufmerksam, daß doch der Traum im Widerspruch dazu zu stehen scheine.
Es war mir aufgefallen, daß die Patientin, die zu dem Vortrage gegangen
war, um dort einen bestimmten Analytiker zu sehen, kein Wort von dem-
selben gesprochen hatte, obzwar er neben Frl. Freud gesessen hatte. Auch
fehlte ja noch die Deutung des Umstandes, daß Frl. Freud im Traume in
Männerkleidung erscheint.
Einige Tage später träumt sie, ich sitze ihr gegenüber, statt — wie
immer — hinter ihr, und halte eine Zigarre in der Hand. Sie denkt: „So
viel Asche ist an der Zigarre, gleich wird sie herunterfallen."
Zu der Zigarre bringt sie als nächsten Einfall: „Das rauchen nur Män-
ner."
Bei dieser Vermännlichung meiner Person durch die Patientin erinnerte
ich mich an die entsprechende von Frl. Freud im vorigen Traume, und da
fiel mir ein, daß die Patientin während des Vortrages so gesessen hatte,
daß sie, wenn sie Frl. Freud ansah, gleichzeitig ein an der Wand hängen-
des Bild von Professor Freud, mit einer Zigarre in der Hand, sehen mußte.
Ein gleiches Bild steht am Schreibtisch meines Behandlungsraumes. Ich
nahm nun dieses Bild und zeigte es ihr, und sie bestätigte, daß dies die
Haltung meiner Hand mit der Zigarre im Traume gewesen sei.
Die weitere Analyse zeigte, daß ihr Herzenswunsch eine Analyse bei
Professor Freud gewesen wäre, daß aber dieser Wunsch, der aus ihrer tiefen
Sehnsucht nach dem großen Manne, dem Vater, kam, verdrängt und in
diese Verdrängung auch Frl. Freud einbezogen worden war. Sie verdrängte
ja auch, wie früher erwähnt, das Zusammentreffen mit dem oben erwähn-
ten Analytiker und den Eindruck vom Bilde Professor Freuds. Das Ver-
drängte setzte sich dann in der erwähnten Art der Vermännlichung von
mir und Frl. Freud durch.
Diese Art des Wiedererscheinens des Vaters in den Träumen legte Zeug-
nis davon ab, daß ihre Wendung zur Frau auch einer Flucht vor dem
Manne entsprach. Die Analyse zeigte, aus welchen Quellen diese Flucht-
tendenzen kamen: Schuldgefühl der Mutter gegenüber, Angst vor der Ent-
täuschung und vor der Versagung.
Wenn wir den Fall noch einmal kurz überblicken, so sehen wir, daß die
erste Lebensperiode der Patientin unter etwas ungewohnten Verhältnissen
verlaufen war. Sie wurde mit einer jüngeren Schwester gleichzeitig gestillt,
Über die weibliche Homosexualität
*33
und als sie dann zu deren Gunsten verzichten mußte, entwickelte sie —
mit einem gewissen Recht — einen starken oralen Neid. Auf die in ihrem
dritten Lebensjahr sich ereignende Schwangerschaft der Mutter reagierte sie
m it größter Feindseligkeit und Eifersucht auf das zu erwartende Kind,
per Traum vom Abortus illustriert den seelischen Zustand des kleinen
Mädchens in jener Zeit, mit ihrem starken "Wunsch, selbst die Stelle des
Kindes im Mutterleibe einzunehmen.
Dieser Traum war aber von den Reminiszenzen einer späteren Lebens-
periode (zwölftes Lebensjahr) überlagert und verriet in der Identifizierung
mit der Mutter den Wunsch, selbst das Kind zu bekommen. Dieser Wunsch
gehört schon der ödipuseinstellung an, deren scheinbar späte und lang-
same, aber doch machtvolle Entwicklung die Analyse verfolgen
konnte.
Ob die nie überwundene Sehnsucht der frühinfantilen Zeit, die Mutter
für sich allein zu besitzen, von ihr genährt und gepflegt zu werden, auf
die normale libidinöse Entwicklung hemmend eingewirkt hat oder ob es
die uns auch sonst bekannten Schwierigkeiten des Ödipuskomplexes waren,
die entscheidend für die weiteren Schicksale der Sexualität des Mädchens
waren, — ist schwer zu sagen. Ich versuchte, in den Träumen zu zeigen,
daß sie mit der Rückkehr zur Mutter die Sehnsucht nach dem Vater nicht
aufgegeben hatte, und daß sie sich auf ewiger, angstvoller Flucht vor ihm
befand, die diese Verdrängung ihrer weiblichen Einstellung zum Manne
notwendig machte.
Aus dem vorgebrachten Material möchte ich nun theoretische Schlüsse
ziehen, die mir persönlich ein wichtiges Stück zum Verständnis der weib-
lichen Sexualität im allgemeinen, der weiblichen Homosexualität im beson-
deren, darzustellen scheinen.
Es wird vielfach betont, daß die Kenntnisse über die weibliche
Sexualität nur soweit reichen, soweit diese sich in der Kindheit mit
der männlichen deckt. Klarer und übersichtlicher werden die Ver-
hältnisse erst in der Pubertät, wo das Weib auch biologisch wirklich
zum Weibe wird. Ein wichtiges Stück der Vorgänge der Frühzeit ist in
Freuds Arbeit: „Einige Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschie-
des" 3 geklärt worden, in der festgestellt wird, daß der Ödipuskomplex des
Mädchens sich erst nach der phallischen Phase etabliert. An anderer Stelle 4
3) Ges. Seh., Bd. XL
4) Helene Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. Internat.
Psychoanalytischer Verlag, 1925.
2 34 Helene Deutsch
hatte ich bereits von einem „Passivitätsschub" beim Mädchen gesprochen,
in dessen Zentrum der Wunsch nach dem analen Kind vom Vater steht.
Ich machte schon damals darauf aufmerksam, daß dieser Passivitätsschub
eigentlich ein regressiver Vorgang ist, und zwar zu einer Phase vor der
phallischen Organisation, die für Knaben und Mädchen die gleiche ist. Ich
finde, daß wir zu sehr fasziniert sind durch die Vorgänge der phallischen
Phase und durch die Äußerungen und Schicksale dieser Phase, zu deren
Gunsten wir die Passivitätsschubphase etwas stiefmütterlich behandeln. Wir
begnügen uns mit der Feststellung, daß der Peniswunsch gegen den Kindes-
wunsch umgetauscht wird, und daß es dann den normalen psychischen
Kräften des Kindes überlassen bleibt, auch diese Versagung schadlos zu
erledigen. Ich glaube, keine klinische Beobachtung kann wohl bestreiten, daß
die Intensität des Kindeswunsches ganz davon abhängt, wie stark der durch
ihn ersetzte Peniswunsch war, so daß man sagen kann: Je stärker der
Peniswunsch, desto stärker nachträglich der Kindeswunsch. Je schwerer die
Versagung des Penis ertragen wurde, desto aggressiver wird auf die Kind-
versagung reagiert. Daraus ergibt sich ein circulus vitiosus, der uns in Ana-
lysen oft so problematisch erscheint, wenn man immer wieder erfährt, daß
der brennendste, weiblichste Kindeswunsch gerade bei den Frauen zu
finden ist, bei denen sich die schwersten psychischen Kämpfe wegen des
Kastrationskomplexes bezw. wegen des Penisneides abspielten.
Setzen wir aber den Fall, daß bei einer halbwegs normalen Entwicklung
bis zum Ödipuskomplex ein Mädchen alle Hoffnung auf den Penis auf-
gegeben hätte und alles zur Überführung der phallischen Aktivität ins
Passive vorbereitet wäre, das heißt, das Mädchen wäre bereit, das anale
Kind vom Vater zu empfangen, so ist es deshalb noch nicht imstande, die
neuerliche Kränkung, nämlich die Kindversagung, zu überwinden. Halten
wir uns das Entwicklungsschema vor Augen und vergessen wir nicht, daß
in diesem Passivitätsschub auch eine Menge aktiver Kräfte belebt werden,
die mit der Wiederbesetzung prägenitaler Tendenzen auch — sozusagen —
ihren Kopf wieder erheben. Im normalen psychischen Haushalte finden sie
wohl ihr Plätzchen. Denn die Rolle der Mutter dem Kinde gegenüber ist
ja eine aktive, wie uns die Spiele der kleinen Mädchen mit der Puppe
genügend illustrieren.
Was geschieht aber, wenn das Mädchen erstens vor der masochistischen
Gefahr des Passivitätsschubes zurückschreckt, zweitens die reale Versagung
des Kindes nicht erträgt, die Überzeugung der Fruchtlosigkeit ihres Penis-
wunsches aber anerkennt? Vergegenwärtigen wir uns die Situation, daß das
Über die weibliche Homosexualität
2 35
Kind, vom narzißtischen Stimulans des unerfüllbaren Peniswunsches ver-
lassen, vom Vater durch Versagung, Enttäuschung oder Angst abgestoßen,
einsam mit seiner Libido, die nur wenig sublimiert werden kann, dasteht.
Was wird es tun? Es wird das tun, was alle lebenden "Wesen in Gefahr-
situationen machen: Es wird dorthin flüchten, wo es sich einmal geborgen
gefühlt und Schutz und Befriedigung genossen hat, nämlich zur Mutter.
Wohl gab es auch bei ihr Versagungen, aber allen diesen Versagungen ging
seinerzeit eine Befriedigung voraus, denn die versagende, gehaßte Mutter
war ja auch einmal die gewährende gewesen.
Es ist kein Zweifel, daß auch in der phallischen Phase dem Sexualtrieb
bei Verrichtungen der Körperpflege Befriedigungen von Seiten der Mutter
zugestanden werden. Aber scheinbar sind in dieser Zeit die Ansprüche doch
intensiver und können in ihrer Anlehnung an die Funktionen zugunsten
des Ichs nicht so weitgehend befriedigt werden wie in den vorausgegangenen
Phasen. Bedenken wir auch die Unverhülltheit der phallischen Sexualziele,
die Leichtigkeit, mit der sie sich kundgeben, und das Zurückschrecken der
Mutter bei der Entdeckung der Wünsche, die das Kind verrät. "Wir wissen
aus den Analysen von Müttern, daß ihr Horror vor den masturbatorischen
Aktionen des Kindes um so stärker ist, je mehr unbewußte Reminis-
zenzen der eigenen Kindheitsmasturbation dabei mobilisiert werden. Die
Versagungen, die demzufolge das Kind jetzt erfährt, werden sich um so
stärker auswirken, je mehr die Mutter in einer ihr unbewußten Verführer-
rolle selbst das Kind gereizt hatte. Das nachfolgende direkte Verbot
der Masturbation, der gewaltsame Eingriff in die masturbatorische Aktivi-
tät, treibt die Feindseligkeit gegen die versagende Mutter in die Höhe; Mit
der phallischen Masturbation kommt auch die affektive Entdeckung
des anatomischen „Defektes".
Wir wissen schon, daß der Mutter die Schuld an der Penislosigkeit zu-
geschrieben wird. Die sadistischen Regungen der phallischen Phase sind
jetzt also gegen die Mutter gerichtet, sie geben wahrscheinlich den Auftakt
zum Objektwechsel und erleichtern durch die sadistische Wendung zur
Mutter die passiv-masochistische Einstellung zum Vater; dies als Leistung
des von mir so genannten „Passivitätsschubes". Es unterliegt keinem Zwei-
fel, daß nicht alle Aggressionen der masochistisch-passiven Einstellung zu-
geführt werden. Große Quantitäten der aggressiven Regungen wenden sich
dem enttäuschenden Vater zu, andere bleiben in dem nun entstehenden
Rivalitätsverhältnis an die Mutter gebunden. Ihre Intensität wird jeden-
falls von der Stärke der phallischen Aktivität abhängen. Auch die maso-
236 Helene Deutseh
chistische "Wendung wird um so intensiver ausfallen, je stärker sie aus der
Quelle der Aggressionen gespeist wird. Die Analysen von Patientinnen mit
besonders starkem Kastrationskomplex zeigen unzweideutig, wie gefahr-
voll — in masochistischer Beziehung — die passive Einstellung ist, und wie
blutrünstig und mörderisch die Racheaktionen gegen die Mutter, besonders
gegen die real oder phantasiert schwangere oder bereits das Kind besitzende
Mutter, gedacht sind. Diese Einstellung liefert noch dem Masochismus sei-
nen moralischen Beitrag, der um so stärker sein wird, je stärker die
Aggressionen waren.
"Wir sehen also, von welchen Gefahren das kleine Mädchen in dieser
Phase umgeben ist:
1. Libidinös-masochistische Gefahren in der Erwartung der Wunsch-
erfüllung von Seiten des Vaters.
2. Gefahren durch den drohenden Verlust des neu erwählten Objektes
infolge der Versagung von Seiten des Vaters.
3. Gefahren infolge narzißtischer Kränkung der Ichlibido durch die
Feststellung des Penisverlustes.
In diesen großen Gefahren wendet sich die Libido — wie gesagt — dem
früheren Objekte wieder zu, und dies natürlich um so leichter und begehr-
licher, je stärker die früheren Bindungen waren. Es ist eine Rückkehr nach
— sozusagen — genossenen Erfahrungen. Ich meine damit, daß den früh-
infantilen Ambivalenzkonflikten noch die Rivalitätsaggressionen des Ödipus-
komplexes sowie ein höher organisiertes Schuldgefühl sich zugesellen.
Der ökonomische Vorteil dieser Neu- Wendung zur Mutter liegt in der
Befreiung vom Schuldgefühl; seine wichtigste Leistung aber scheint mir in
der Verhütung des drohenden Objektverlustes zu liegen: „Wenn mich der
Vater nicht will und meine Ichliebe so gekränkt ist, wer wird mich jetzt
lieben, wenn nicht die Mutter?"
Die analytischen Erfahrungen zeigen uns überreichlich dieses bisexuelle
Schwanken zwischen Vater und Mutter und Ausgänge desselben in Neu-
rose, Heterosexualität oder Inversion. "Wir sehen die Libido zwischen den
Polen zweier Magneten schwingen, zwischen Anziehung und Abstoßung.
Aussichten auf Wunscherfüllung als Anziehung von einem Pol, Ver-
sagung, Angst und Schuldgefühlmobilisierung als Abstoßung vom
anderen Pol; dasselbe beim anderen Magneten; und als eines der bösesten
Schwingungsresultate ein Dazwischensteckenbleiben im narzißtischen Ver-
harren. Es gibt Fälle von Affektsperre und besonders narzißtische Krank-
heitsbilder, die man keiner der bekannten Neurosenformen einzureihen ver-
Über die weibliche Homosexualität
237
ma e, die einer solchen Erstarrung im libidinösen Pendeln entsprechen.
Kommt es in der analytischen Übertragung deutlicher zum Schwingen, so
wird die Zwangsneurose manifest, deren Ambivalenzschwingen bis dahin
durch die Affektsperre verdeckt gewesen war.
Bei den Fällen weiblicher Homosexualität gab es eine längere oder kür-
zere Phase der Unentschlossenheit, die den Beweis liefert, daß es sich nicht
um eine einfache Fixierung an der Mutter als erstem Liebesobjekt handelt,
sondern um einen komplizierten Rückkehrprozeß. Die Entscheidung zu-
gunsten des mütterlichen Magneten liegt natürlich in den alten Anziehungs-
kräften, aber auch in den Abstoßungsbedingungen von Seiten des anderen
Magneten, das ist: der Versagung, Angst und Schuldgefühlreaktionen.
Ist diese Mutter-Rückkehr einmal inauguriert, so muß jetzt noch eine
Leistung vollzogen werden, um dem Prozeß den Charakter der vollen In-
version zu geben. Vor allem müssen die Motive, die das kleine Mädchen
doch einst bewogen haben, dem biologischen Rufe zum Vater Folge zu
leisten, rückgängig gemacht werden. Also: Die von der Mutter verbotene
sexuelle Befriedigung durch Masturbation darf nicht nur nicht mehr ver-
boten, sondern sie muß durch ein aktives Dazutun von Seiten der Mutter
bejaht werden. Die Versagungen der Vergangenheit müssen durch eine
nachträgliche Gewährung gutgemacht werden, und zwar ebenso im ur-
sprünglichen passiven Erleben, wie auch im nachträglichen aktiven. Durch
diese Gewährung der in der Vergangenheit unmöglichen Aktivität wird
sozusagen die Unterbrechung der phallischen Aktivität nachgeholt. Wie
sich dann dieses aktive Verhalten des Mädchens dem mütterlichen Objekte
gegenüber gestaltet, hängt von der Entwicklungsstufe ab, auf der sich die
homosexuelle Objektbeziehung abspielt, das heißt, möchte ich korrigierend
sagen, welche die vorherrschende ist; denn bei genauerer Beobach-
tung sehen wir alle Phasen, in denen die Mutter eine Rolle spielte (und
damit ist gesagt: alle infantilen Entwicklungen, die durchlaufen worden
sind), wiederum in Aktion treten. Am aufdringlichsten pflegen die phalli-
schen Tendenzen zu sein, die dann bewirken, daß die Beziehung des Wei-
bes zum Weibe männliche Formen hat und damit die Penislosigkeit leugnet.
Sie können sogar das ganze Bild der Homosexualität beherrschen und einen
bestimmten — sogar auffallendsten — homosexuellen Typus erzeugen. 5
5) Der von Freud publizierte Fall von weiblicher Homosexualität wäre auch diesem
„männlichen" Typus einzureihen, wenn auch die ursprüngliche Einstellung der Patientin
eine durchaus feminine war und der Männlichkeitswunsch erst einer nachträglichen Identi-
fizierung mit dem einst geliebten Vater entsprach. (Freud : Über die Psychogenese
eines Falles von weiblicher Homosexualität. Ges. Sehr., Bd. V.)
/
Dieser Typus verleugnet die Penislosigkeit und läßt sich vom weiblichen
Objekte die Männlichkeit bestätigen und die phallische Masturbation im
oben erwähnten Sinne bejahen. Ob an dem anderen Objekte die Weiblich-
keit betont werden soll oder ob die Penisbejahung das Subjekt und das
Objekt gleichzeitig ergreifen soll und das Objekt abwechselnd auch die
männliche Rolle spielt, ist dann von geringerer Bedeutung; das sind zwei
Unterarten desselben Grundtypus. Die Größe des Beitrages der alten Kon-
kurrenzeinstellung, besonders dort, wo schon frühzeitig eine Verschiebung
von der Mutter auf eine Schwester (oder Ähnliches) erfolgt war, das Quan-
tum der masochistischen oder sadistischen Komponenten, also das Vorwie-
gen der Aggressionsneigungen oder der Schuldgefühlreaktionen, eine mehr
passive oder mehr aktive Rollenbesetzung — dies sind alles eigentlich nur
Detailfragen im Problem der weiblichen Homosexualität als Ganzes.
Ich sagte, daß die phallisch-männliche Form der Homosexualität die
auffallendste ist. Immer aber verstecken sich hinter ihr viel tiefere Strömun-
gen. Ich habe sogar den Eindruck, daß diese männliche Form manchmal
vorgeschoben wird, um die mehr infantilen, aber doch vorherrschenden
Tendenzen zu verdecken. Die Mehrzahl der Fälle, die ich analysiert habe,
war durch die Stärke der prägenitalen Triebe zum weitgehenden, aufrich-
tigen Aufgeben • des männlichen Gehabens gedrängt. Die Mutter-Kind-
Beziehung auf prägenitalen Stufen, auf den tiefen Fixierungsfurchen der
präphallischen Phasen beherrschte — entweder bewußt oder unbewußt —
die Perversion. Von der phallischen Phase wurde auf dem Rückweg der
"Wunsch zur Aktivität mitgenommen und als höchste Befriedigungsprämie
im homosexuellen Verhältnis zur Erfüllung gebracht. Der häufige Aus-
spruch des kleinen Kindes: „Wenn du klein sein wirst und ich groß", wird
hier realisiert in der Doppelrolle, die da immer gespielt wird, und in der
das Kind alles das mit der Mutter macht, was die Mutter einst mit ihm
gemacht hatte. Diese Gewährung der Aktivität und die Freigabe der
Masturbation ist als Motiv allen Formen der Homosexualität gemeinsam.
Ist in der phallischen Situation die Gutmachung der Kränkung durch die
Mutter durch eine Art Bejahung des Penisbesitzes gegeben, so müssen in
dieser Neuauflage der Mutter-Kind-Beziehung auch die prägenitalen Ver-
Die zwei von Fenichel beschriebenen Fälle von weiblicher Homosexualität (Per-
versionen, Psychosen, Charakterstörungen. Internat. PsA. Verlag, Wien, 1932) weisen
dieselben psychischen Mechanismen wie der Fall von Freud auf. Auch hier handelt
es sich um eine „männliche" Identifizierung mit dem Vater als Reaktion auf erlittene
Enttäuschungen.
Über die weibliche Homosexualität 239
sagurigen wieder aufgehoben werden, was auch ausgiebig in den Befriedi-
gungsaktionen der Homosexuellen geschieht. Freud hat in den drei Ab-
handlungen zur Sexualtheorie 6 die besondere Bevorzugung der Mund-
schleimhaut in den Praktiken invertierter Frauen hervorgehoben, und
Jones 7 hat die Disposition zur weiblichen Homosexualität in der oral-
sadistischen Phase gefunden. Alle meine Fälle scheinen mir dieses disposi-
tionelle Moment durchwegs zu bestätigen. Mit voller Sicherheit kann ich
weiter aussagen, daß bei keinem meiner Fälle eine besonders starke Reaktion
auf den Kastrationskomplex fehlte; bei allen ließ sich ein voller Ödipus-
komplex nachweisen, mit besonders machtvollen aggressiven Reaktionen.
Die Rückkehr in die Mutter-Kind-Einstellung war immer eingeleitet
durch den Wunsch nach jenem Kinde, das ehemals gegen den Penis aus-
getauscht werden sollte und versagt geblieben ist. Eine der Quellen, aus
denen die Inversion gespeist wird, ist die Reaktion auf die Tatsache:
„Nicht ich, sondern die Mutter bekommt das Kind." Die dispositionell vor-
gezeichnete Grausamkeit dieser Reaktion wird erst in der eigenen Mutter-
Kind-Beziehung in komplizierter Weise erledigt. Die oben erwähnte Pa-
tientin hatte in ihren Träumen eindeutiges Material dazu geliefert.
Bei der tiefen Verwobenheit der Mutter-Kind-Beziehung wird es nicht
wundern, daß die Sehnsucht nach der Mutter den Charakter der Mutter-
leibsphantasie bekommt. Eine solche grandiose Verknüpfung der Mutter-
sehnsucht mit dem Todeswunsche haben wir bei unserer ersten Patientin
beobachten können, als einen Beitrag zum Thema Mutterbindung und
Todesangst.
Ich kann das Thema nicht verlassen, ohne noch kurz auf eine Frage, die
sich hier aufdrängt, einzugehen. Ist denn wirklich dieser lange Umweg not-
wendig zur Erklärung der Bindung des kleinen Mädchens an das mütter-
liche Objekt? Wäre es da nicht einfacher, von einer ursprünglichen Fixierung
zu sprechen und ihre Ursache in konstitutionellen Momenten zu suchen? Ich
bin tendenzlos dem Material gegenübergestanden und habe doch bei meinen
analysierten weiblichen Homosexuellen keinen Fall gesehen, bei dem das
Licht oder der Schatten, der auf diese ursprüngliche Beziehung von Seiten
des Vaters gefallen ist, nicht einen wichtigen und notwendigen Anteil ge-
habt hätte.
Ich glaube, in den letzten Jahren bei einigen Fällen wohl gelegentlich
6) Ges. Sehr., Bd. V.
7) J o n e s : Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität. Internat. Ztschr. f. PsA.
X IV. i 9 z8.
240 Helene Deutsch
etwas beobachtet zu haben, was den Anschein erweckte, als würde der
Ödipuskomplex keine oder fast keine Rolle gespielt haben, und als ob die
Libido immer nur e i n Objekt gekannt hätte: die Mutter. Aber das waren
ganz besondere Fälle, bei denen die ganze Neurose den Charakter des all-
gemeinen psychischen Infantilismus mit diffusen Ängsten und Perversionen
hatte und die Übertragung aus einer hartnäckig unkorrigierbaren, angst-
vollen Klebrigkeit nicht herauszuholen war.
Es wäre eine dankbare klinische Aufgabe, unter der Anregung der letzten
Arbeit von Freud bestimmte, dunkle Krankheitsbilder herauszuholen, die
vielleicht aus der primären Mutterbindung zu erklären sind. Neben den oben
erwähnten Fällen von „Infantilismus" werden sicher dazu auch gewisse
Formen von Hysterien gehören, deren „sekundärer Krankheitsgewinn" so
unkorrigierbar ist, weil er sichtlich die frühinfantile Situation des gepfleg-
ten, von der Mutter versorgten Kindes wiederholt.
Zu meinem Thema zurückkehrend, wäre noch die Frage zu erwägen,
wann diese endgültige Entscheidung in der Richtung der Homosexualität
beim Mädchen erfolge. Es ist bekannt, daß die infantile Periode der sexuel-
len Entwicklung beim Mädchen nicht so jäh und nicht so radikal endigt
wie beim Knaben. Der Objektwechsel erfolgt allmählich und es scheint, daß
erst in der Pubertät die endgültige Entscheidung sowohl über die Wahl des
Objektes, wie über die Bereitschaft zur passiven Einstellung erfolgt.
Wir sehen in der Latenzzeit beim Mädchen eine viel stärkere Abhängig-
keit von der Mutter als beim Knaben. Dies hängt vielleicht mit der Angst
vor dem Objektverluste zusammen, wie ich im obigen darzustellen ver-
suchte; auch mit der Art der Sublimierung, die sich beim Mädchen mehr in
den zärtlichen Objektbeziehungen auswirkt, während sie sich beim Knaben
in der Aktivität der Außenwelt gegenüber äußert.
Es scheint, daß beim Mädchen dagegen eine stärkere, mehr der Außen-
welt zugewendete Sublimierung in der Pubertät in dem von mir beschriebe-
nen „Aktivitätsschub" eintritt. 8 Dieser legt Zeugnis dafür ab, daß die weib-
lich-passive Einstellung in der infantilen Phase nicht endgültig erreicht wird.
Ich halte die aktiv-knabenhafte Periode in der weiblichen Pubertät für
allgemein und normal. Von ihr bezieht das Miädchen die besten Kräfte für
die Sublimierungen und für die Gestaltung ihrer Persönlichkeit, und ich
glaube mich nicht zu irren, wenn ich mir das Wort R. Wagners zu
variieren erlaube: „Das Mädchen, das in ihrer Jugend nicht ein bißchen
8) Op. cit.
Über die weibliche Homosexualität
241
Knabe war — wird eine vacca domestica in späteren Jahren." Natürlich
birgt diese Aktivitätsperiode große, uns bekannte Gefahren im Sinne des
Männlichkeitskomplexes" und seiner neurotischen Folgen in sich. Wenn es
vahr ist, daß auch der endgültige Objektwechsel in der Pubertät stattfindet,
so wird dieser Aktivitätsschub auch neue Gefahren für die heterosexuelle
Einstellung mit sich bringen und, es werden auch die „männlichen Ten-
denzen" der Pubertät ihren Beitrag zur Homosexualität liefern.
Schließlich müssen noch die letzten Kämpfe bei der Überwindung
des Ödipuskomplexes in der Pubertät erwähnt werden. Dafür haben wir
einen klassischen Fall weiblicher Homosexualität in Freuds früher er-
wähnter Publikation kennengelernt, der in der Pubertät als Folge der
Schwierigkeiten des Ödipuskomplexes entstanden ist. Doch muß ich wieder-
holend gestehen, daß bei allen von mir beobachteten Fällen schon in der
ersten infantilen Periode der Grundstein zur späteren Inversion gelegt wor-
den war.
Im. Zeitsdir. f. Psychoanalyse, XVIII— 2
Lernstörangen beim Scnulkind
durch masochistische Adechanismen
Von
Edith Jacoossonn
Berlin
Für ein Kind, das zu masochistischer Entwicklung disponiert ist, war von
jeher die „strenge" Schule ein gefährlicher seelischer Nährboden. Denn der
strenge Lehrer treibt das Kind geradezu in masochistische Reaktionen hinein.
Dabei gesellt sich in der Schule zu den Schäden neurotischer Trieb- und
Charakterentwicklung noch die Bedrohung der Geistigkeit. Die folgenden
Beobachtungen beziehen sich auf solche Störungen der geistigen Entwicklung
durch masochistische Mechanismen, die in beiden Fällen durch die häusliche
Erziehung verschuldet und in die Schule übertragen wurden.
Die beiden sieben und neun Jahre alten Knaben kamen hauptsächlich
wegen phobischer Symptome in Behandlung. Die Kinder waren in ihrer
Persönlichkeit ganz verschieden entwickelt: Kurt, der jüngere, ein zartes,
phantastisches Kind, dem die Angst auf der Stirn geschrieben stand, Heinz,
der ältere, ein vitaler, stämmiger Draufgänger, der seine Ängste durch dop-
pelte Kampfbereitschaft zu überwinden suchte. Während der kleine Kurt
ein ganz inaktives, introvertiertes Kind war, das sich nur in Phantasien aus-
lebte, stand Heinz der Welt mit offenen Augen gegenüber, hatte Freude an
Raufereien, Jungensspielen und praktischen Beschäftigungen wie Basteln und
Malen. Bei beiden Kindern klagten die Eltern über große Schulschwierig-
keiten: die Kinder kämen trotz ihrer Intelligenz nur knapp mit, da sie im
Lernen lustlos, unkonzentriert, ewig zu anderen Einfällen bereit, besonders
zerfahren beim Rechnen und Schreiben seien. Während Kurt sehr gern und
viel las, hatte Heinz zu Anfang der Analyse auch daran noch wenig Freude.
Die Kinder selbst machten kein Hehl aus ihrer inneren Einstellung zur
Lernstörungen beim Schulkind durch masochistische Mechanismen
243
Schule, nämlich als zu einem unangenehmen feindlichen Zwang. Ein spon-
taner Arbeitsimpuls brach nie durch, sie mußten stets zur Schularbeit ge-
drängt werden. Unterließ man das, so schoben sie die Arbeit bis zuletzt auf.
Aber unter dem Angstdruck, in der Schule zu versagen, verfolgte sie doch im
Spiel der lästige Gedanke an die verhaßte Schule und brachte sie schließlich
auch ohne äußere Mahnung _zum Arbeiten. Dann holten sie sich ihr Kinder-
fräulein, nicht nur um sich helfen zu lassen, sondern weil sie ohne dauernde
strenge Ermahnungen und Urteile, wie: paß auf, jetzt los, denk nach, richtig,
falsch usw., überhaupt nicht arbeiten konnten. Obwohl es dabei zu regel-
mäßigen Dramen mit Wutanfällen und Tränenausbrüchen kam, war auf-
fallend, daß beide nie versuchten, sich solch einer unangenehmen Hilfe zu
entziehen, daß sie sich diese im Gegenteil selbst heranholten mit der Behaup-
tung, das Arbeiten ginge dann besser. Ja, sie sträubten sich heftig gegen eine
andere modernere Art gemeinsamer Arbeit, die ihnen doch mehr direkten
Lustgewinn versprochen hätte, und widersetzten sich der Analyse der
Arbeitsschwierigkeiten.
Wir sehen also: einerseits Flucht vor der Arbeit, Wut und Auflehnung
gegen die Lehrer und Erzieher, andrerseits zwanghafte Arbeitsimpulse, spon-
tanes Heranziehen einer autoritativen, strengen Hilfe.
Um die pathologische" Einstellung der Kinder zur Schularbeit zu ver-
stehen, wollen wir ihre Neurosen etwas näher beleuchten.
Der neunjährige Heinz war am Verlust seiner zärtlich geliebten Kinder-
frau erkrankt, der seit seiner Geburt die Pflege und Erziehung der Kinder
anvertraut gewesen war. Da sich die Mutter gegen die Kinder recht zurück-
haltend einstellte, die um zwei Jahre ältere Schwester Elli Heinzens Liebes-
werbungen aus glühendem Neid um seine Männlichkeit mit feindlicher Ver-
achtung und tätlicher Abwehr beantwortete, war die Kinderfrau bis zum
achten Jahre Mittelpunkt seiner zärtlich-sinnlichen Wünsche. Diese hing an
dem wilden, aber weichen Heinz mehr als an der aggressiven Elli und ver-
wöhnte das triebstarke Kind derart, daß sie ihn z. B. im Bett auf sich herum-
reiten, sich von ihm an der Brust fassen, heftig umarmen und küssen ließ. Seit
dem vierten Jahre etwa hatten ihn derartige Verführungen ermutigt, exhibi-
tionistische Akte, wie das Zeigen von Erigier- und Urinierkünsten vor ihr
(und der Schwester), zu versuchen, die sie lachend bagatellisierte. Noch
direktere Liebesangriffe wehrte sie in scherzhaften Kämpfen liebevoll, aber
sehr energisch ab. Kein Wunder, daß diese Versagungen auf das verwöhnte
Kind traumatisch wirkten und schon damals zu phobischen Symptomen, be-
sonders nächtlichen Ängsten führten. Als aber die Kinderfrau in Heinzens
16*
ifl
achtem Jahre ihr Amt einer Erzieherin abtrat, sah sich das enttäuschte Kind
plötzlich allein mit der aggressiven ablehnenden Schwester, einer fremden
kalten Erzieherin und der zurückhaltenden Mutter, die meist außer Haus
war. Die Folge war seine Abwendung von den weiblichen Liebespersonen
und ein Zustrom seiner ganzen Liebeskräfte zu dem verständnisvollen, war-
men Vater, der aber Elli als seinem Ebenbild viel näher stand und ihn
manchmal sogar mit Schärfe behandelte. Zudem befaßte sich der Vater da-
mals mit der sexuellen Aufklärung Ellis, die sich natürlich Heinz gegenüber
damit brüstete und ihn die Zurücksetzung fühlen ließ. So sah sich das Kind
von allen Seiten verlassen. Aus dem frischen, munteren Jungen wurde rasch
ein freudloses, reizbares Kind. Depressive Stimmungen wechselten mit Wut-
ausbrüchen. In diesem Zustand kam er in Behandlung, die ihn infolge der
raschen positiven Übertragung bald aus der Verzweiflung rettete.
Seinem schlechten Zustand war das ergiebige Material der ersten Analysen-
zeit zu verdanken. Schon die Versagungen von Seiten der geliebten Kinderfrau
hatte Heinz mit beginnendem Rückzug von der Frau und Angstsymptomen
beantwortet. Die Abwehr seiner passiv-homosexuellen Hinwendung zum
Vater nach Verlust der Kinderfrau hatte nun zu paranoider Symptombildung
geführt. Hinter Klagen, daß ihn der Vater schlecht und ungerecht behandle,
versteckten sich schwere Ängste, von ihm, von der Lehrerin und seinen Ka-
meraden heimlich beobachtet, belauscht, verspottet, wegen seiner Onanie
verachtet zu werden. Allnächtlich träumte er von Raubmördern und Ver-
folgern. Als er schließlich unter großem "Widerstände Selbstmordgedanken
preisgab, verriet sich die Schwere der Erkrankung, die bereits zur narzißti-
schen Austragung der Konflikte geführt hatte. War das rasche Schwinden
der Depression der erste Ubertragungserfolg, so befreite ihn die fortschrei-
tende Analyse seiner Beziehung zum Vater, des Neides und der Eifersucht
gegenüber Schwester und Mutter, mit denen Heinz in der Werbung um den
Vater rivalisierte, bald von seinen paranoiden Vorstellungen. Die homo-
sexuellen Phantasien wichen heterosexuellen, seine Enttäuschungen an der
Frau, die Ängste vor der phallischen Frau kamen in Phantasien und Hexen-
träumen zum Vorschein. Aus dem reichen analytischen Material greifen wir
nur einen Mechanismus heraus, der für das Kind typisch und für das Ver-
ständnis seiner Schulstörungen wichtig ist:
Von Anfang an fiel mir auf, in wie hohem Maße es dem Kinde gelang,
seine angstvollen Vorstellungen sofort zu sexualisieren. Er gab zu, daß er
nach dem Aufwachen aus einem von Todesangst begleiteten Traum regel-
mäßig den schrecklichen Trauminhalt als Wachtraum weiterspann. Beim
Lernstörungen beim Schulkind durch masochistische Mechanismen
245
Wiedererzählen konnte er die so entstandenen Onaniephantasien nicht mehr
vom wirklichen Trauminhalt unterscheiden. Der Sexualisierungsprozeß gip-
felte in der Verarbeitung seiner Selbstmordgedanken zu der lustvollen Phan-
tasie: ich bin Soldat und lasse mich von einem anderen, älteren Soldaten
erschießen. Der hier sichtbare Projektionsmechanismus erklärt sich zum Teil
aus dem Strafbedürfnis als Versuch, das kindliche Über-Ich durch Anlehnung
an eine Strafperson zu entlasten und zu stützen. Gleichzeitig bewirkt er
aber die vollkommene Sexualisierung der Ich-Uber-Ich-Beziehung, indem er
den Selbstmordgedanken zur homosexuellen sadomasochistischen Phantasie
umwandelt. Hoffmann 1 und Alexander 2 haben eine derartige Ero-
tisierung der Ich-Ober-Ich-Sphäre bei zwei Fällen beschrieben und aus der In-
fantilgeschichte verständlich gemacht. Wodurch kam hier die ungewöhnlich
intensive libidinöse Besetzung von Angst- und Strafvorstellungen, die für die
Stärke der Abwehrinstanzen zeugen, zustande?
Die Betrachtung des Onaniekampfes klärt am besten darüber auf. Heinz
hatte von seinen Erziehpersonen niemals Onanieverbote bekommen. Seine
Kastrationsangst wurzelte in der Beziehung zu Elli, die ihre heftigen Ka-
strationswünsche gegen den Bruder in Form von Drohungen und Tätlich-
keiten wie Puffen in die Unterbauchgegend als Antwort auf seine Liebes-
werbungen deutlich geäußert hatte. Der hierdurch entfachte Kampf gegen
die Onanie hatte infolge der chronischen Verführung durch die Kinderfrau
nicht zur Onanieüberwindung geführt. Wie schon erwähnt wurde, äußerte
sich ihre Abwehr seiner Liebesattacken in lustigen Liebesraufszenen, in denen
sie ihn zuletzt überwältigte und abschüttelte. Diese Spiele, um deren Wieder-
holung er unaufhörlich in der Analyse bettelte, scheinen die Quelle der
Angstlustentwicklung gewesen zu sein. Gleichzeitig Verführung und Verbot,
Befriedigung und Strafe, setzten sie die Angstvorstellungen, die sie auslösten,
sofort wieder in lustvolle sadomasochistische Phantasien um. Diese Entwick-
lung wurde noch begünstigt durch die Zuwendung zum Vater, der die sport-
liche Erziehung der Kinder durch Box- und Ringkämpfe förderte. Als der
Vater ins Ausland reiste, wurde der Boxweltmeister Schmeling — damals in
Amerika — Heinzens Ideal, um das sich seine Phantasien gruppierten. Heinz
überwand also die Onanie nicht, weil er statt ernster Verbote oder affektloser
Nichtbeachtung seiner Liebesangriffe körperliche Kraftproben seiner Liebes-
1) Hoffmann: Entwicklungsgeschichte eines Falles von sozialer Angst. Internat
Ztschr. f. PsA., XVII, 193 1.
2) Alexander: Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit, Int. PsA. Verl. 1925, S. 189.
246
Edith Jacobssohn
objekte zu spüren bekam, die diesen ebensoviel Lust bereiteten wie ihm selbst
Statt Aufgabe der Onanie wurde nur ihre Besetzung mit perversen Vorstel-
lungen erreicht, deren ursprüngliche Triebabwehrfunktion sofort durch den
stärkeren Triebanspruch überwältigt war: der typische Mißerfolg einer Er-
ziehung, die zwar die Triebunterdrückung bis zu einem gewissen Grade ver-
sucht, aber dieses Ziel durch verführende Einflüsse sofort selbst wieder ver-
nichtet.
Inwiefern hatten diese Mechanismen auch die geistigen Sublimierungen des
Kindes angegriffen? Heinzens Schulschwierigkeiten hatten mit seiner Um-
schulung wegen Wohnungswechsels begonnen, bei der er ein halbes Jahr zurück-
kam. Seine anfängliche Desinteressiertheit aus Langeweile wuchs sich nach
dem Verlust der Kinderfrau zum Abscheu gegen die Schule und alles Lernen
aus. Er haßte die Lehrerin, weil sie so ungerecht wäre wie der Vater und sich
freute, die Kinder recht mit Arbeit zu überhäufen. In Wirklichkeit war sie
eine nicht sehr strenge, aber unmoderne junge Lehrerin, auf die er sichtlich
die Feindschaft gegen den Vater übertrug. Es zeigte sich, daß Heinz auch
seine Schulängste sofort in lustbetonte Phantasien umsetzte, die anscheinend
seine Gedanken an Stelle der Arbeit in der Schule ausfüllten. In der Analyse
kamen sie als Spiele zum Vorschein, in denen ein „Herr" oder ein König
seinen Untergebenen, einen Bettler oder einen Prinzen, zu erniedrigender Ar-
beit zwingt, ihn anschreit und straft, wenn er nicht folgt. Da sich Heinz in
der Rolle des „Herrn" stets auf meinen Sessel setzte, war leicht zu deuten,
daß ich, die Lehrerin und der in einem verwandten Beruf tätige Vater
gemeint waren, die ihn zur Schularbeit zwingen. Hinter der Gestalt der
Schullehrerin und des Kinderfräuleins, das mit ihm lernte, stand also der
Vater, den er für den Schulzwang verantwortlich machte, obwohl dieser sich
gar nicht darum kümmerte. Anlaß zu der Übertragung boten die häufigen
scharfen Beschwerden des Vaters über die Arbeitsunlust und mangelhafte
Haushaltführung der Mutter. Das Spiel stellte eine sadistische Elternszene dar
mit dem Inhalt: der strenge Vater zwingt die Mutter zur Arbeit. In seiner
Einstellung zur Arbeit identifizierte sich Heinz also vorwiegend mit der
Mutter, die wirklich nur auf Wunsch des Vaters tätig war, da sie selbst an
einer neurotischen Arbeitshemmung litt. Aber in Phantasie und Wirklichkeit
versuchte er sich auch dem sadistischen Partner, dem Vater, gleichzu-
setzen, indem er das Fräulein oder die Mutter tyrannisch oder schmeichelnd
zwingen wollte, die Aufgaben für ihn zu machen, während er spielte. Gelang
das nicht, so ließ er sich in der erwähnten strengen Art bei der Arbeit helfen.
Die Analyse seines Strafbedürfnisses war schwierig, da Heinz seine Schuld-
Lernstörungen beim Schulkind durch masochistische Mechanismen 247
eefühle durch die Sexualisierung verdeckte und sich keine Gewissensimpulse
eingestand. Erst als ich die Mutter bat, ihn durch keine Mahnung zur Schul-
arbeit zu drängen und ohne Hilfe zu lassen, wurde die innere Angst sichtbar.
Nun begann er in der Analyse zu agieren. Erst versuchte er, mich auf jede
Weise dazu zu bewegen, die Aufgaben für ihn zu machen. Dann setzte er
sich an die Arbeit, lehnte sich aber dagegen auf, das Lernen selbst genußreich
z u machen. Als die scharfen Arbeitsbefehle und Urteile ausblieben, wurde er
unruhig und provozierte meine Strenge, indem er die Arbeit durch hundert
Dummheiten unterbrach. Erreichte er sein Ziel auch dann nicht, so begann
er, ängstlich und verstimmt, sich selbst mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen,
um schließlich mit einem Wutausbruch gegen mich alles hinzuwerfen. Nun
konnte man den Prozeß aufdecken: Hinter dem sexuellen, sadistischen Spiel
stand die Strafbeziehung zwischen Lehrer und Schüler, bei Nichterfüllung
der Strafwünsche trat die sadistische Über-Ich-Funktion zutage, die schließ-
lich zur Wendung nach außen, zur Wut gegen mich, die Lehrperson, führte.
Daß die Behebung der Arbeitsstörung bei dem. Kinde nur unvollständig ge-
lang, lag aber gewiß nicht in ihrer Verwurzelung im Strafmechanismus, son-
dern in der ungeheuren libidinösen Befriedigung, die sie Heinz bot, und an
der er — wie an einer Perversion — hartnäckig festhielt. Nachdem die De-
pression schon längst überwunden, die Phobie geheilt war, sein Gesamtver-
halten keine besondere Uber-Ich-Strenge mehr verriet, hielt Heinz an seiner
Einstellung zur Schule fest. Zwar hatte sich inzwischen Freude am Lesen und
Geschichtenschreiben, am Lernen und Verfassen von Gedichten eingestellt.
Aber in den schwachen Fächern, im Rechnen und Schreiben, agierte er, wenn
auch in schwächerem Maße, weiter: er wollte die alte neurotische Befriedi-
gung nicht ganz gegen die Arbeitsfreude eintauschen.
So sehr sich die Neurose des kleinen Kurt von Heinzens unterschied, so
ähnlich waren die Mechanismen, die seinen Arbeitshemmungen zugrunde
lagen. Im Gegensatz zu Heinz hatte er infolge schwerer Kastrationsdrohun-
gen von Seiten seiner Kinderfrauen frühzeitig die männliche Position aufge-
geben und sich ganz mädchenhaft entwickelt. Er scheute alle jungenhaften
Beschäftigungen und hing leidenschaftlich an Puppen und Tieren. Eine Reihe
versteckter Zwangssymptome wies auf prägenitale Regression hin. Im Vorder-
grund seiner Erkrankung standen neben den vielen Ängsten orale Störungen.
Auch in seiner geistigen Haltung verriet sich die orale Fixierung: er war mit
seinen sieben Jahren schon ein richtiger Bücherwurm, der nie satt wurde im
Aufnehmen neuer geistiger Nahrung. In seinem kleinen Hirn hatte er einen
unglaublichen geistigen Besitz aufgehäuft, dessen produktive Verarbeitung
248
Edith Jacobssohn
ihm noch unmöglich war. So hatte er schon Schiller sehe Dramen gelesen
kannte alle Opern, lief in Museen, horchte neugierig auf alle Gespräche Er-
wachsener und behielt sie, so gut er sie verstand. Seine Neugier und sein
Fragedrang, die in der sexuellen Wißbegierde wurzelten, zeigten deutlich das
orale Element. Während die physische Eßlust ganz verdrängt war — er hatte
aber eine schwere Eßstörung — , war er ein geistiger Vielfraß. Andrerseits war
das Kind nicht etwa unproduktiv. Anfangs überwogen originelle phantasti-
sche Einfälle, die er rasch produzierte und wieder vergaß, doch entwickelte
er im Laufe der Behandlung mit Zunahme der Aktivität ein reizendes Form-
talent, erdachte abgerundete Geschichten und wurde fähiger zu systemati-
schem Denken. Man sollte nun meinen, daß ein solches Kind, geistig hoch-
begabt, wissenshungrig und produktiv, die Schularbeit glänzend bewältigen
müßte. "Wie kam es dann, daß sich seine negative Einstellung zur Schule
lange Zeit gleichsam isoliert erhielt von der sonstigen Entwicklung seiner Gei-
stigkeit?
Kurts homosexuelle Phantasien glichen erstaunlich denen des kleinen
Heinz. Auch er führte nämlich mit mir sadistische Spiele auf, in denen der
König den Untertan — später nach Stärkung seiner heterosexuellen Einstel-
lung auch die Sklavin — Zwangsarbeit tun ließ und sie durch militärische
Befehle und Drohungen quälte. Die Beziehung zur Schule wurde nur noch
deutlicher, als an Stelle dieser Spiele direkte Schulspiele traten. Die gemein-
same Arbeit, zu der Kurt viel leichter bereit war, setzte er nun immer als
Spiel fort, in dem er Lehrer war und mich sehr sadistisch unterrichtete. In-
folge der stärkeren Regression kam in Kurts Phantasien das prägenitale Ele-
ment viel deutlicher zum Ausdruck als bei Heinz. Sein männliches Ideal war
der „faule Schlaraffenkönig", der Schmarotzer, der sich von der Zwangs-
arbeit des Schwachen ernährt. "Wir erkennen die Vorstellung als prägenital er-
niedrigte Kastrationsphantasie, die den phallisch-kastrierenden Vater zum
oralen Sadisten macht, der ihn zur analen bezw. oralen Leistung zwingt.
(Auch bei Heinz waren Spuren dieser Auffassung unverkennbar: in der
Identifizierung mit mir und dem Vater setzte er sich, wie erwähnt, als König
auf meinem Sessel, weil er „ein richtiger Faulpelzsessel" sei.) Für die Ent-
wicklung von Kurts oraler Kastrationsphantasie war die frühinfantile Vor-
geschichte besonders wichtig. Kurt war kurz nach der Geburt traumatisch
entwöhnt und zu künstlicher Nahrung gezwungen worden, die er schlecht
vertrug und widerwillig nahm. Seither waren die Mahlzeiten zu einer qual-
vollen Zeremonie mit Bitten und Drohungen seitens der Mutter oder Kinder-
frauen geworden, die das genaue Vorbild der späteren Zwangsarbeit war.
Lernstörungen beim Schulkind durch masochistische Mechanismen
249
Auch für die spätere Verschiebung auf die geistige Leistung und die Ver-
arbeitung zur homosexuellen Phantasie hatte Kurt noch realere Vorlagen
a J s Heinz: in dem Großvater, der im Hause als Rentier lebte, aber vor
allem in dem Geliebten seiner Mutter, den sie durch ihre schriftstellerische
Arbeit erhalten mußte. Kurts Vater arbeitete außer Haus, wurde von ihm
also auch nicht in seiner Tätigkeit gesehen. Die Mutter versicherte Kurt
regelmäßig, daß ihr die Arbeit keine Freude, sondern eine unangenehme
Pflicht sei, und die Großmutter, eine harte, überfleißige Frau, hielt so-
wohl Mutter wie Kind ständig ihre Pflichtvergessenheit vor. So konnte
sich leicht die Phantasie bilden: „Die mächtigen, faulen Männer (Groß-
vater, Freund der Mutter) zwingen die Frauen (Großmutter, Mutter)
und mich, für sie zu arbeiten." Die lustvolle Note der Schulspiele ließ
wie bei Heinz an ihrem starken libidinösen Gehalt keinen Zweifel. Auch Kurt
war die Überwindung der Onanie trotz schwerer Drohungen nicht gelungen.
Wie mir scheint, waren ähnliche Verführungsmomente für den Ablauf des
Abwehrkampfes verantwortlich, der bei ihm zu direkter Zwangsonanie mit
reichen prägenitalen Phantasien geführt hatte. Wieder ergab sich hier, daß die
Eltern den mangelnden Mut Kurts durch verführende „Kampfspiele" an-
stacheln wollten. In der Schule wurde die Sexualisierung des „Unterrichts"
besonders gefördert durch Kurts Beziehungen zu seinem Privatlehrer, einem
alten Mann, der das Kind nach antiquierten Methoden unterrichtete und mit
scherzhafter Strenge behandelte. "Wenn Kurt mir vergnügt erzählte, daß er
den Lehrer durch seine Zerfahrenheit heute so lange geärgert habe, bis er ihn
halb wütend, halb lachend am Ohr zum Rechenbuch gezogen oder mit dem
Lineal geklopft habe, so war die libidinöse Befriedigung, die sowohl Lehrer
wie Schüler aus dem Unterricht schöpften, nicht zu verkennen.
Wir fassen zusammen: Beiden Kindern ist die Schule zur Quelle sadomaso-
chistischer Onaniephantasien geworden, die alles Interesse der geistigen Tä-
tigkeit entziehen und absorbieren. Die Beziehung zum Lehrer wie die Arbeit
selbst ist völlig sexualisiert und bildet den Inhalt der Phantasien, die die
Schulstunden statt des Lernens ausfüllen. Die daraus folgende Störung der
geistigen Sublimierungen ist am besten im Vergleich mit der normalen Ent-
wicklung zu beschreiben. Die gelungene geistige Sublimierung trägt zur Lö-
sung der Ödipuskonflikte bei mit Hilfe prägenitaler (orale- und analer) Me-
chanismen, die die phallische Position (beim Knaben) nicht erschüttern. Nur
ein kleiner Teil der Objektlibido wird durch narzißtische ersetzt und subli-
miert, d. h. vom ursprünglichen Triebziel abgelenkt. So rückt z. B. die gei-
stige Nahrung an die Stelle der physischen, die sadistischen Impulse dienen in
2$0
Edith Jacobssohn
Form aktiver Strebungen zu ihrer Bewältigung, die hohe narzißtische Befrie-
digung verschafft. Als Identifizierung mit dem Vater auf geistigem Gebiet
stützt die Sublimierung sogar die Männlichkeit, sie stärkt auch die zärtliche
Objektbeziehung zu den Eltern, indem sie geistige Gemeinschaft — statt kör-
perlicher — bedeutet.
Auch in unseren Fällen kommt es zur prägenitalen Regression, die aber
nicht zur Überwindung, sondern zur Aufgabe der ödipusstrebungen und der
phallischen Stufe überhaupt führt. Die Arbeit, ursprünglich anale Leistung,
wird ihres gleichzeitigen phallischen Sinnes beraubt, da sie statt der Identifi-
zierung mit dem Vater eine masochistische Identifizierung mit der Mutter be-
deutet. Als „Zwangsarbeit" ist sie die regressiv erniedrigte — anale bezw.
orale — Kastration durch den Vater und dient nur der masochistischen Be-
friedigung. Dadurch wird sie vom Zustrom aktiver Strebungen abgesperrt
die als unsublimierte sadistische Impulse in den Phantasien auftauchen. So
wird den Kindern eine wirkliche Arbeitsleistung in der Schule im Sinne
echter geistiger Sublimierung unmöglich. Die Zielablenkung sowie die Über-
leitung aktiver Kräfte in die Arbeit, die eine motorische Abfuhr nach außen
gestatten, gelingen nicht. Beide Momente sind aber für das Gelingen einer
Sublimierung entscheidend.
Erst kürzlich hat sich wieder S t e r b a um die begriffliche Klärung der
Sublimierung, insbesondere der Beziehung zwischen Sublimierung und Re-
aktionsbildung, bemüht. 3
Während Reich die Sublimierung klinisch und metapsychologisch prinzipiell
von der Reaktionsbildung scheidet, 4 hält S t e r b a die „Reaktionsbildung im
engeren Sinne" für eine echte Sublimierung. Als Beispiel für eine solche führt
er das aktive Mitleid (Jekels) 5 an, das „auf dem Wege der Sublimierung
eine Abfuhrmöglichkeit psychischer Energie sadistischen Ursprungs" bedeu-
tet, im Gegensatz zum neurotischen Mitleid, das sich in der Unterdrückung
sadistischer Triebe erschöpft. Man kann also Reaktionsbildungen als echte
Sublimierungen auffassen, sofern sie den beiden für die Sublimierung charak-
teristischen Momenten entsprechen: dem qualitativen der Zielablenkung und
dem ökonomischen der Abfuhrmöglichkeit. Bezeichnet man die Sublimierung
praktisch als produktive Leistung im weiten Sinn, so wird man beiden Merk-
1930.
3) Sterba : Zur Problematik der Sublimierungslehre. Internat. Ztschr. f. PsA., XVI,
4) R e i c h : Der genitale und der neurotische Charakter. Internat. Ztschr. f. PsA.,
XV, 1929.
5) Jekels : Zur Psychologie des Mitleids. Imago, XVI, 1930.
Lernstörungen beim Schulkind durch masochistische Mechanismen
2JI
malen gerecht. Auf moralischem Gebiet z. B. erleichtert diese einfache Be-
stimmung die klinische Abgrenzung. Solange sich moralische Reaktionsbil-
dungen (wie Scham und Reue) ganz in der Niederhaltung sinnlicher und
sadistischer Strömungen aufbrauchen, pflegen sie sich — wie das neurotische
Mitleid — bloß als intensives Gefühl zu äußern, das sich nur intrapsychisch
auswirkt. Sobald sie aber den verdrängten Regungen genügend Energie ent-
ziehen, um sich — wie das werktätige Mitleid — in produktive seelische Lei-
stung umzusetzen, beginnt der Sublimierungsprozeß. Man kann also allge-
mein die Sublimierung als Umsetzung in produktive — körperliche, geistige,
künstlerische oder moralische — Leistung definieren, wodurch auch das kul-
turelle Moment der Sublimierung gewürdigt wird.
Kommen wir zu unserem Thema, der Lernstörung durch masochistische
Mechanismen, zurück. In unseren Fällen war die geistige Arbeit als „Zwangs-
arbeit" statt produktiver Leistung mit narzißtischer und sublimierter prä-
genitaler Befriedigung eine reine Straf- und Sexualhandlung mit masochi-
stischem Lustgewinn. Nun werden bei den heutigen Erziehungsprinzipien die
leisten geistigen und moralischen Sublimierungen vom Kinde zuerst „den
Eltern zuliebe" geleistet, bis sich die Lust an der Sublimierung selbst ent-
wickelt. Der liebevolle Gehorsam, der beim Kinde die Triebablenkung auf
nicht sexuelle Ziele anbahnt, macht die Arbeit gleichfalls zum „Liebesopfer".
Solange ihm die Strafbedeutung der „Zwangsarbeit" fehlt, erfährt sie aber
niemals deren starke masochistische Besetzung, sondern kann von Anfang an
sublimierte prägenitale und narzißtische Befriedigung bringen. In dem Maße,
wie der Lustgewinn aus der Sublimierung selbst wächst, entfällt ihr maso-
chistischer Sinn ganz. Doch findet man häufig genug Erwachsene, vor allem
Frauen, denen die Arbeit (z. B. die Arbeit für den Geliebten) mehr maso-
chistischen Genuß verschafft als wirkliche Arbeitsfreude. Trotzdem kann ihre
Arbeit noch genügend psychische Abfuhrmöglichkeit bieten, um eine taugliche
Sublimierung zu sein.
R E F E RAT E
/jus den \jrenz3e0ieten
Wickes, F. G.: Analyse der Kinderseele. Julius Hoffmann, Stuttgart
Die Verfasserin, die auf dem Boden der Jungschen Lehre fußt, versucht an Hand
von zahlreichen mehr oder weniger durchgeführten Analysen von Kindern und Jugend-
lichen einen Einblick in das kindliche Seelenleben zu geben. Das Buch zeigt eine überaus
liebevolle, gütige Art, mit Kindern umzugehen, und betont immer wieder, daß ein volles
Verständnis der kindlichen Psyche nur bei völliger Kenntnis der -eigenen Affekte und
Reaktionsweisen möglich ist. Es wird ausgeführt, daß in den meisten Fällen eine Be-
handlung neurotischer Reaktionen des Kindes bis zum Alter von sechs bis acht Jahren
kaum möglich ist, ohne eine Analyse der Eltern vorzunehmen. Das Kind reagiere mit
seinem Unbewußten auf das Unbewußte der Eltern und gerate in Unsicherheit und
Angst, wenn die Beziehungen der Eltern untereinander gestört sind. Manchmal genüge
es schon, wenn die Eltern sich über ihre eigenen Schwierigkeiten klar werden und dem
Kinde offen davon Mitteilung machen können. Nach Jung teilt die Verfasserin die
Kinder in extro- und introvertierte Typen ein, bei denen jeweils das Denken, das Fühlen,
das Empfinden oder das Intuieren vorherrschen könne. Man müsse bei jedem Kinde
versuchen, die unterdrückte Sphäre zu ihrem Recht kommen zu lassen und dürfe vor
allen Dingen nie den Fehler machen, die Intelligenz eines Kindes aus seinem Verhalten
in der Schule allein zu beurteilen, sondern sich erst über den Typ des Kindes klar
werden. — Mit besonderer Liebe zeichnet die Autorin kindliche Phantasien und zeigt
auf, wie man nach Erlangung des Vertrauens des Kindes ohne jede Deutung mit Benutzung
der Phantasiegestalten eine therapeutische Wirkung erzielen könne. Es wird überhaupt oe-
tont, daß man Deutungen nur in ganz geringem Umfange, möglichst aber gar nicht geben,
sondern versuchen müsse, die unbewußten Fragen des Kindes direkt zu beantworten. Be-
sonders wichtig sei dies für das Gebiet der Sexualität. Es sei nie zu früh, Kinder aufzu-
klären; man müsse die unbewußten Fragen des Kindes verstehen lernen, um ohne Scheu
und in vollem Umfang darauf zu antworten. Die Vorbedingung sei wieder eine klare
Einsicht der Erzieher in ihr eigenes Sexualleben. — Das Buch bringt theoretisch nichts
Neues, läßt auch die tieferen Deutungen und Zusammenhänge des kindlichen Seelenlebens,
die die Freud sehe Psychoanalyse aufdeckt, außer acht, zeigt dafür aber eine große
Erfahrung in der Therapie kindlicher Störungen. YL, Misdl=Frankl (Berlin)
Referate
253
■
5 cf, j e l d e r u p / Harald. K. : Psychologie. (Berlin/ Walter de Gray ter & Co ., 1 928)
Der Verfasser ist Professor der Psychologie an der Universität Oslo. Da die Psycho-
nalyse bisher in die nördlichen Länder noch nicht recht eingedrungen ist, so hat es eine
ewisse Bedeutung, wenn ihr in diesem Buch beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet
wird.
Das Buch, dem man anmerkt, daß es von kundiger Hand geschrieben ist, zerfällt in
vier Teile: 1. Ursprüngliche Anlagen (der Seele: Sinne, Triebe usw.). 2. Die mnemischen
unktionen (Vorstellungen, Gedächtnis, Gefühle). 3. Die Persönlichkeit und ihre Kon-
te. 4- Die praktische Anwendung der Psychologie.
Im dritten Teil wird die Theorie der Komplexe in Verbindung mit den Problemen
des Gefühls beschrieben, und der Verfasser verteidigt Freuds Methode der freien
Assoziation gegen die Kritik, daß solche Assoziationen immer schließlich zu einem Kom-
lex führen müssen, auch wenn er gar keine Beziehung zum Ausgangspunkt habe. Der
Erfasser — oder vielleicht auch nur der Übersetzer — verwendet das Wort „unter-
bewußt" an Stelle von „unbewußt", bemerkt aber ausdrücklich, daß es sich dabei um
etwas Dynamisches handle. . .
Im größten Teil des dritten Abschnittes kommen psychoanalytische Themen zur
Sprache: Ich-Ideal, Verdrängung, Sublimierung, Flucht in die Krankheit, Träume, Sym-
bolik, Abwehrmechanismen — alle diese Probleme werden in einer angemessenen, wenn
auch, wie es hier unvermeidlich ist, sehr zusammengedrängten Weise abgehandelt.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit der Anwendungsmöglichkeit der Psychologie auf
Medizin, Pädagogik, Recht und Wirtschaft. Die erste dieser Unterabteilungen beschäftigt
sich ausschließlich mit Suggestion und Psychoanalyse. Auch in der zweiten beschränkt
sich der Verfasser fast völlig auf die Psychoanalyse, führt aber in diesem Zusammen-
hange nur P f i s t e r s Arbeiten an und scheint die Arbeiten von Melanie Klein und
Anna Freud gar nicht zu kennen.
Das Buch, das im Jahre 192S veröffentlicht wurde, ist von Herrn Dr. Grünberg, Berlin,
übersetzt worden. ß, J. (London)
/% us der psychidLtrisch=neuroloßischen JLiter&tur
Kolle, Kurt: Die primäre Verrücktheit. Psychopathologtsche, klinische und
genealogische Untersuchungen. Georg Thieme,, Leipzig/ 1931
Diese umfangreiche Monographie, die auf einem angesichts der Seltenheit der Krank-
heit reichen klinischen Krankengeschichtenmaterial nebst Katamnesen und Erbtafeln fußt
(66 Krankengeschichten), befaßt sich mit dem von Kraepelin als „Paranoia" bezeich-
neten Krankheitstypus, für den Kolle die Bezeichnung „Paraphrenie" fordert, da die von
Kraepelin ursprünglich als Paraphrenie bezeichneten Erkrankungen ganz in der Schizo-
phreniegruppe aufgegangen sind, und da die Diagnose Paranoia für die psychopathischen
Querulanten, die keine echte Wahnbildung, nur überwertige Ideen entwickeln, vorbehalten
bleiben soll. Diese sehr seltene Krankheitsform der primären Verrücktheit oder Paraphrenie
(0-07% der klinischen Aufnahmen) beschränkt sich in ihrer Symptomatologie auf die
primäre, d. h. „uneinfühlbare, nicht aus Motiven ableitbare" Wahnbildung, die von G r u h 1 e
als „Beziehungssetzung ohne Anlaß und symbolisches Bedeutungserlebnis" gekennzeichnet
*S4
Referate
wurde, und die in der Paraphrenie zu starren, geschlossenen Wahnsystemen sich entwickelt
Die Paraphrenie wird als endogene Krankheit aufgefaßt, die aber nicht wie die Schizo-
phrenie in einen Zerfall der Persönlichkeit ausgeht; sie hat vielmehr eine günstige sozial
und persönliche Prognose. Die genealogischen Untersuchungen haben ergeben, daß in den
paraphrenen Sippen keine einzige manisch-melancholische Psychose vorkommt, Schizo-
phrenie doppelt soviel wie in der Durchschnittsbevölkerung, aber nicht ganz so häufie
wie in den Sippen der klassischen Dementia-praecox-Kerngruppe. jo% der Paraphrenie-
kranken weisen pyknischen Körperbautypus und Beziehungen zur syntonen, zyklothymen
Wesensart auf. Damit ist eine Brücke geschlagen zu der Auffassung von Specht, Kleist
und Ewald, die geneigt waren, die Kraepelin sehe Paranoia als einen manisch-
depressiven Mischzustand aufzufassen. Der Krankheitsbeginn der Paraphrenie liegt in 90%
der Fälle jenseits des 35. Lebensjahres. Die Paraphrenen stehen intellektuell auf einer über-
durchschnittlichen Stufe. Im Gegensatz zur Schizophrenie zeigt die Paraphrenie keine Affi-
nität zur Tuberkulose, dagegen eine den Durchschnitt überschreitende Korrelation zur
Arteriosklerose. In den paraphrenen Krankengeschichten werden erhebliche Störungen der
Sexualität festgestellt, auffallend häufig verhängnisvolle Gattenwahl der Kranken. Der
Autor macht keinerlei Versuch, zwischen diesen Störungen des Trieblebens und den Wahn-
bildungen irgendwelche sinnvolle Zusammenhänge zu suchen, er verschmäht diese „sub-
jektiven Deutungskünste". Wenn er auch zugibt, daß die Wahn i n h a 1 1 e vielfach durch
die innere Lebensgeschichte des Kranken determiniert seien, so sucht er doch diese Funde
zu bagatellisieren, indem er die ausschlaggebende Bedeutung nicht dem Wahn i n h a 1 1,
sondern der Wahn furaktion zumißt. Der Wahnfunktion gegenüber sei eine rein
deskriptive, nicht kausal erklärende Haltung naheliegend. Vowinckel (Berlin)
Fiat au, Georg: UnfälleÄNeurosen. Abhandlungen aus dem Gebiet der
Psydiotherapie und medizinischen Psychologie. 15. Heft/ Stuttgart/ Ferdinand
Enhe/ 1931
Die Studie beginnt mit einer Begriffsbestimmung der von Oppenheim aufgestellten
„traumatischen Neurose", deren Krankheitsbilder vorerst unter einem historischen Aspekt,
dann aber auch mit persönlicher Stellungnahme des Verfassers besprochen werden. Obschon
er betont, daß „der Streit der Meinungen im Laufe der Zeit zu einer größeren psycho-
logischen Vertiefung geführt hat", so scheint ihm doch, daß „die Versuche, in der
Erkenntnis und Erklärung dei* Neurosen nach Prinzipien der Freud sehen Lehren weiter
zu kommen, nicht gelungen sind". Freud wird auch nirgends erwähnt, dafür Bon-
hoffe r, Stier, Hauptmann (letzterer: Hysterie ist gewollt, also keine Krankheit,
und ebenso ist eine traumatische Neurose keine Krankheit, sofern sie Unfallhysterie ist),
Reichardt (das Trauma kann auf das vegetativ Vitale einwirken) und Strauß.
F 1 a t a u selbst kommt nach der Darstellung einer schematisierenden Symptomatologie
„zur Anerkennung auch der traumatisch bedingten Hysterie und damit der trauma-
tischen Neurose als einer Krankheit", und richtet danach auch seine skizzierten Gutachten.
Er verlangt genaue Anamnese, um festzustellen, „inwieweit das Leiden ursächlich auf
den Unfall zurückzuführen ist". In oligosymptomatischen Fällen hält er physikalische und
pharmazeutische Mittel zur Behandlung für ausreichend! Die bei Simulation und Aggra-
vation von Flatau geforderte Recherche, d. h. die monatelange stationäre und auch in häus-
lichem Milieu geübte Beobachtung des Exploranten (als „letzter Notbehelf") würde bei
psychoanalytischer Behandlung sich erübrigen, da er in der Analyse sehr bald entlarvt wäre.
Graber (Berlin)
Referate 255
Österreich, T.K.: Das Mädchen aus der Fremde. Ein Fall von Störung der
Persönlichkeit. W. Kohlhammer, Stuttgart, 1929
Ein in Anstalten teils als debil geführtes, teils wegen Stimmenhören auf Schizophrenie
verdächtiges, sexuell verwahrlostes Mädchen wurde eines Tages in Stuttgart aufgegriffen,
verstört und unverständlich sprechend. Die Polizei zog einen Kaufmann, der von orien-
talischer Herkunft und orientinteressiert war, bei, und auch eine rumänische Fürstin nahm
sich ihrer an. Man hielt die geborene Schweizerin lange für eine Asiatin und zerbrach sich
den Kopf über ihre Sprache. Hübsch und gut gekleidet, fand sie viel Interesse bei Herren
und Damen. Verängstigt, alles um sie Gesagte, Vermutete und Geschehene zu ihren
Gunsten benützend, pseudologisch-phantastisch redend, schlafsüchtig, depersonalisiert, Stim-
men hörend, seit der Kindheit den Wunsch, ein Heidenmädchen zu sein, favorisierend —
stellt sie dann tatsächlich ein „orientalisches Heidenmädchen", das kein Deutsch versteht,
durch Monate täuschend dar, betreibt einen Buddhakult u. dgl. Es ist wie eine
„zweite Persönlichkeit", aber durchsichtiger, naiver als bei Helene Smith (Flournoy).
Wie leichtgläubig die Laienbeobachter, der Kaufmann und die Fürstin, gewesen sind, ist
sehr lehrreich. Eine Buddha-Statuette sah die Patientin zum erstenmal im Leben in der
Wohnung des Kaufmannes, der ihr durch Suggestivfragen weiter half; ihr Einfühlungstalent
war allerdings sehr groß. Was der Patientin die Möglichkeit gab, die Rolle längere Zeit
durchzuführen, war der Gebrauch einer selbsterfundenen Sprache. Das fließende
Sprechen war eine Art Glossolalie; die Sprache hatte keine Flexion. Erstaunlich ist das
Gedächtnis, mit dem sie einmal in bestimmtem Sinn gebrauchte Worte festhielt; allerdings
widersprach sie sich manchmal. Daneben sang sie deutsche Gassenhauer und verriet sich
gelegentlich durch deutsche Worte! Die Fürstin hatte oft den Eindruck, daß „die Fremde"
Deutsch recht gut versteht, aber die unverkennbare Neigung der Fürstin, Wunder zu
finden, führte zu leichtgläubigem Getäuschtwerden. Die Sprachforscher waren verschiedener
Meinung; Chinesisch, Arabisch, Turkestanisch, Zigeunerisch, Türkisch usw. wurde vermutet.
Prof. Krämer äußert sich endlich enttäuscht: „Daß uns die wahrscheinlich junge und
hübsche Ausländerin nun schon vier Monate mehr oder minder unbewußt an der Nase
herumführt und von uns gefüttert und unterhalten wird, gereicht unserem Lande und
unserer Polizei sicher nicht zum Ruhm." Die milde Skepsis, mit der Oesterreich den Bericht
gibt, und die Vorsicht, mit der er das Pathologische und Simulierte ineinandergeflochten
aufzeigt, machen das Buch zu erfreulicher Lektüre. Hitsdhmann (Wien)
Frey, Eugen: Beitrag %ut Frage der Behandlung und Heilbarkeit der Homo«
Sexualität. Orell Füßli, Zürich 1931
Nach einer kurzen Besprechung der in der Literatur festgelegten Theorien über das
Wesen der Homosexualität, in der die analytischen Forschungen nur kurz erwähnt werden,
berichtet Frey ausführlich über zwei Fälle männlicher Homosexualität, die er behandelt
hat. Er bediente sich dabei mit Erfolg der Hypnose mit nachfolgender kathartischer Be-
sprechung des im hypnotischen Schlaf Erlebten. Ref. kann sich der Überzeugung nicht
erwehren, daß dabei das Material, das die Patienten boten, nur höchst unzulänglich aus-
gewertet wurde, was daran liegt, daß der Autor ohne die psychoanalytische Methode an
Phänomene herangeht, die im Unbewußten wurzeln. Daran ändert auch die tröstliche Ver-
sicherung nichts, daß sich im zweiten Fall „die Freudschen Mechanismen im Sinne eines
Ödipuskomplexes sehr deutlich nachweisen ließen". Paula Heimann (Berlin)
2J6
Referate
■In
1
I
1
Dreikurs, Rudolf: Seelische Impoten?. S. Hir^el, L,eip^ig 1931
Der Autor stellt die individualpsychologische Auffassung der Impotenz dar und versucht
sich ernsthaft mit allen andern Auffassungen, vor allem mit der psychoanalytischen, ausein.
anderzusetzen. Nach Adler gibt es dreierlei Grundlagen für Impotenz.
i. Die Überzeugung: ich bin kein Mann, -werde meine Überlegenheit nicht beweisen
können. Ihr entspringen alle Sexualstörungen, die die Aufgabe haben, dem Kampf m ; t
dem Partner auszuweichen und den Partner zu entwerten. Dies ist auch die Grundlage
aller Perversionen, der Homosexualität, des Sadismus usw.
z. Die Angst vor der sexuellen Hingabe; man fürchtet, dadurch dem Partner zu nahe
zu kommen, ihn nicht überwinden zu können. Hieraus entsteht die Impotenz gerade ge-
liebten Partnern gegenüber, z. B. bei der Ehefrau. Hierher gehört auch Einsamkeit, über
mäßige Onanie usw.
3. Die Angst vor der Sexualität überhaupt, weil die Sexualität als etwas Gefährliches
und Erniedrigendes erlebt wurde; so bei später frigiden Frauen, die in der Sexualität die
Ursache für die soziale Erniedrigung der Frau sahen, oder bei Knaben, die von älteren
Schwestern in oft schmerzhafter Weise verführt wurden.
Diese dritte Grundlage hat enge Beziehungen zu den analytischen Beobachtungen über
genitale Traumen und Kastrationserlebnisse überhaupt, die die analytische Theorie als eine
Hauptursache sexueller Störungen ansieht. Es ist aber der Bereich des genitalen Traumas
auf diese wenigen Möglichkeiten eingeengt, anscheinend wegen der plumpen Deutlichkeit
des Zusammenhanges zwischen Trauma und Endeffekt.
Die. beiden ersten Gruppen lassen sich zu einer einzigen zusammenfassen: aus Angst vor
einer Niederlage wird der Liebe ausgewichen. Bei dieser Betrachtungsweise wird also wieder
der Machtwille in den Mittelpunkt der Beobachtung gezogen und das Streben nach sexueller
Lustgewinnung völlig außer acht gelassen. Der sexuelle Akt werde unternommen, nur um
über den Partner zu herrschen, nicht aus libidinösem Bedürfnis. Vom selben Gesichtspunkte
aus wird die kindliche Entwicklung gesehen. So $• 17: „Es ist heute noch viel zu wenig
erforscht, welche Rolle kindlicher Trotz bei der Entstehung jener Phänomene spielt, die
wir als Triebe bezeichnen." Die Anallust entsteht nach Dreikurs den Eltern zu Trotz, wenn
das Kind merkt, daß es die Eltern auf diese Weise ärgern kann. Von diesem Standpunkt
ausgehend, muß die Individualpsychologie zu falschen Ergebnissen kommen. Am besten läßt
sich das nachweisen an Hand des Falles, den der Autor nach Wilhelm Reich „Die Funktion
des Orgasmus" zitiert. Dort wird die Ejaculatio praecox eines Patienten geschildert und als
Ausdruck der passiv-prägenitalen Mutterfixierung des Patienten verstanden, die sich schon
in der Kindheit durch höchstgradige Obstipation äußerte und bis zum achten Lebensjahr
des Patienten Irrigationen der Mutter erzwang. Die anale Befriedigung war vorherrschend
geworden, nachdem die kaum eingesetzte genitale Entwicklung durch frühe Kastrationserleb
nisse gestört worden war. Dreikurs meint nun, in dieser Deutung sei das Wesentliche über
sehen worden, daß nämlich das in seinem Geltungsstreben unbefriedigte Kind 1 sich auf diese
Weise die Mutter dienstbar machte und sich so entschädigte. Dem muß entgegengesetzt wer-
den, daß ja gerade diese Triebumsetzung vom Genitalen ins Anale, vom Aktiven ins Passive
den Jungen zum Weibe machte und Grund zu sehr berechtigten Minderwertigkeitsgefühlen
legte. Das Machtstreben und Minderwertigkeitsgefühl des Kindes, dessen spätere Auswir
kungen von der Individualpsychologie vielfach richtig beobachtet werden, sind also Ver-
drängungsprodukt, Ergebnis des Kampfes zwischen Kastrationsangst und sekundärem analen
Lustgewinn einerseits und der immer noch bestehenden aggressiv-phallischen Tendenz andrer-
seits. Der geringe sekundäre Krankheitsgewinn, den das Kind aus der Beherrschung der
Mutter zieht, ist keineswegs ausreichend, um das Aufgeben der Männlichkeit als „Arrange-
Referate
257
n(t " erklären zu dürfen; solche Opfer können immer nur als Angstfolgen verstanden
rden. Wie das Symptom, so wird auch das Schuldgefühl als Arrangement angesehen; es
A'ene dazu, die Menschen über die Pflicht, sich wirklich zu ändern, hinwegzutäuschen. Die
Erfolge der analytischen Therapie entstehen nach Dreikurs durch Beheben von Schuld-
efühlen, durch ein Gestatten von asozialen Betätigungen. Dabei versteht Dreikurs nicht,
daß n acn Behebung der wesentlichen Verdrängungen die Genitallibido frei wird, deren Be-
tätigung auch der Autor als sozial ansieht, während die prägenitalen Triebe zwar auch vom
Druck der Verdrängung befreit werden, aber bei wirklicher Heilung ihre Energie der lust-
volleren Genitalität abgeben.
Auch die Verurteilung der Freud sehen Lehre, weil sie durch allzu große Betonung
des Individuums die asozialen, individualistischen Tendenzen stärke, muß entschieden abge-
lehnt werden, denn "Wissenschaft kann nur nach ihrem Wahrheitsgehalt beurteilt werden
,d nicht nach moralischen Kriterien. Annie Reich (Berlin)
New York and London,
Menninger, Karl A.: The Human Mind.
Alfred A. Knopf 1930
Dies Buch erhebt, so sagt der Verfasser in seinem Vorwort, den Anspruch, die
Anschauungen einer ganzen Gruppe junger amerikanischer Psychiater darzustellen. Wir
haben allen Grund, uns über eine solche Arbeitsgemeinschaft zu freuen, die bereit ist,
die unter den jungen Psychiatern Amerikas dringend nötige Pionierarbeit zu leisten. Wir
sind ganz einig mit Menninger, wenn er das Leben der älteren psychiatrischen Schule
nicht durch künstliche Einverleibungen neuer anregender Theorien verlängern will.
Menninger gibt Herrn Southard als geistigen Urheber seiner Arbeit an. Wenn er
darin recht hat, so kann man Herrn Dr. Southard nur beglückwünschen, daß er gestorben
ist, bevor er die Früchte seiner Inspiration sehen konnte; und dem Schatten von Herrn
Dr. Southard wird es nicht sehr gut zu Mute sein, wenn er merkt, daß die wirklichen
Quellen dieses Buches in Freuds Lehre vom Unbewußten und in Freuds dynamischer
Auffassung des psychischen Geschehens zu suchen sind.
Menningers Buch ist für den Durchschnittsleser bestimmt; für Menschen, die in der
menschlichen Seele nicht Bescheid wissen. Damit sind natürlich nicht nur Laien im ge-
wöhnlichen Sinn gemeint, sondern auch die meisten Ärzte. Offenbar mit Rücksicht auf
die Mediziner, die sich einreden, technische Ausdrücke zu verstehen sei eine ernstliche
Schwierigkeit, vermeidet Menninger die Anwendung technischer Ausdrücke überhaupt;
eine Schwierigkeit übrigens, die der Nicht-Mediziner weniger schwer zu fühlen scheint.
— Man denke, eine wie weite Verbreitung Bücher über Physik und Astronomie finden,
in denen doch niemals angenommen wird, daß der Leser einer so sorgfältigen Behütung
vor geistiger Anstrengung bedürfte.
Das Buch Menningers ist gewiß angenehm zu lesen, aber dafür sind zuweilen die
Probleme allzusehr vereinfacht und oft werden die eigentlichen Schwierigkeiten eines
Problems verwischt oder gänzlich weggelassen. Immerhin steht eine Menge in dem Buch,
und das Grundsätzliche wird in frischer Weise dargestellt. Einzeldarstellungen, wie: „Der
Griesgram", „Der Spötter", „Der Brandstifter", „Die Menschenfeinde", illustrieren die
abstrakte Theorie.
Darauf folgen Skizzen von Einzelpersönlichkeiten, die dem Verfasser teils aus seiner
Praxis, teils aus anderen Quellen bekannt wurden. Menninger bespricht dann einzelne
Symptome, Gefühlsregungen und Behandlungsmethoden. Er hat einen guten, klaren Stil,
und die Amerikanismen, die er verwendet, erfreuen einen geradezu durch ihre besondere
Prägnanz. Obwohl die in diesem Buch angewandte Methode Wiederholungen mit sich
Int. Zeitsdir. f. Psychoanalyse, XVIII— 2
17
a 5 8
Referate
m
bringt, ist es doch nirgends langweilig. Wenn auch die Psychopathologie ganz und
von Freud stammt und, auch was die Behandlung angeht, die Psychoanalyse als d'
Methode der Wahl erscheint, so werden doch auch die Grenzen ihrer praktischen A
wendung aufgezeigt und weniger radikale Heilverfahren ausführlich besprochen.
Die Arbeit ist für jeden Psychiater, der sich über die darin behandelten Gegenständ
im allgemeinen unterrichten möchte, eine sehr wertvolle Hilfe, was nicht ausschließt, daß
auch Menninger noch manches zu lernen hätte, insbesondere, was Psychoanalyse angeht
So behauptet er z. B. (S. 264), daß Freud mit dem "Wort „Sexualtriebe" etwas bezeich-
nen wollte, was richtiger „Soziale Triebe" genannt würde, und sagt: „Wenn Freud nur
das Wort „sozial" gebraucht hätte, so hätte er einer Flut gehässiger Kritik den Boden
entzogen." Dieser Vorschlag ist uralt und zeigt, daß Menninger die Freud sehen Theo-
rien mißverstanden hat, wenn er sie auch restlos bejaht und sie überall anwendet.
Menninger bemerkt an anderer Stelle, daß der gesunde Menschenverstand, oder was
man so nennt, zum Verständnis und der richtigen Behandlung der menschlichen Psyche
nicht viel hilft. Wenn er doch auch den Mut hätte, mit überkommenen Denkgewohn-
heiten zu brechen! Er ist jung, hat wissenschaftliche Neugierde und ein Gefühl für Wahr-
heit. Wie gut würde es ihm tun, wenn er sein Studium der psychoanalytischen Literatur
durch Erfahrungen in analytischer Praxis ergänzte.
Das Buch schließt mit einem ziemlich skizzenartigen Kapitel über die Anwendung der
Psychiatrie auf Pädagogik, Industrie, Gesetzgebung und Medizin. Der Teil, der von der
Anwendung auf die Gesetzgebung handelt, ist sehr lehrreich, aber von seiner besten Seite
zeigt sich Menninger, wenn er seine Patienten beschreibt. Er zeigt dann, daß er wirkliche
Menschen und nicht nur „Fälle" vor Augen hat. Eder (London)
Stern/ Erich: Anfänge des Alterns. Ein psychologischer Versuch. Leipzig/
Georg Thieme
In meiner Jugend sah ich in manchen Häusern ein Bild hängen, die Altersstufen dar-
stellend. Auf einer auf-, dann absteigenden Treppe standen die Vertreter der einzelnen
Altersstufen. Darunter stand geschrieben: „Zehn Jahr ein Kind, zwanzig Jahr junggesinnt,
dreißig Jahr rascher Mann, vierzig Jahr wohlgetan, fünfzig Jahr Stillestand, sechzig Jahr
geht's Alter an, siebzig Jahr ein Greis, achtzig Jahr schneeweiß, neunzig Jahr gebückt zum
Tod, hundert Jahr Gnade bei Gott." Auf der obersten Stufe steht der Fünfziger. Es ent-
spricht das nicht den Tatsachen, wie sie Stern in seiner Schrift aufzeigt, wohl aber dem
Bestreben, die Anfänge des Alterns zu verleugnen und sie möglichst spät zur Kenntnis zu
nehmen. Das erklärt auch das Fehlen wissenschaftlicher Arbeiten über die vom Verfasser
bearbeitete Frage. „Das liegt", meint er, „vielleicht weniger an der Schwierigkeit des Ge-
genstandes als an der dem Menschen eigentümlichen Abneigung, den eigenen Verfall auch
noch zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen". Die Arbeit des Ver-
fassers ist daher sehr verdienstlich; sie unternimmt es, den Narzißmus der Menschen, insbe-
sondere der Psychologen, herabzuschrauben und die Tatsachen und Probleme des Alterns
aufzudecken. Er findet diese bereits in den dreißiger und besonders in den vierziger Jahren
vor. Man sieht, daß der Verfasser auch die Psychoanalyse kennt. Ein Analytiker, der sein
Material aus den Analysen zusammenstellen würde, könnte noch manche Ergänzungen
liefern. Vielleicht würde er die seelischen Äußerungen des Alterns mit denjenigen der Todes-
tendenz, die das ganze Leben des Menschen begleitet, in Beziehung bringen, und er könnte
so wahrscheinlich das Problem noch in umfassenderer Weise zur Bearbeitung stellen.
Ernst Schneider (Stuttgart)
I
Referate 2 jo
j^evy-Suhl/M.: Die seelischen Heilmethoden des Arztes. Ferdinand Enke,
Stuttgart 193o
Im ersten Teil seines Buches, der über „Psychopathologie und Wesen der neurotischen
Krankheiten" handelt, bemüht sich Levy-Suhl um eine allgemeine Charakterisierung
j er Neurose. Er betrachtet dabei die Neurose mehr von dem moralischen als vom bio-
logischen Standpunkt aus. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen die Probleme des
Schuldgefühls und des Gewissens. Er bekennt sich zu der Auffassung vom metaphysischen
Wesen und tieferen Sinn des neurotischen wie des menschlichen Schuldgefühls überhaupt.
Zusammenfassend versucht der Autor die Neurose aus drei Gesichtspunkten zu ver-
stehen, i) Teleologisch: die Neurose stellt ein 2weckgebilde dar. „Es soll verhindern, daß
die inneren Mahnungen des Gewissens, nicht beachtete und nicht erfüllte Forderungen der
sittlichen Persönlichkeit dem Menschen bewußt werden; zugleich dient das Leiden und die
Betonung des Leidens dazu, Tröstungen durch Umwelt und Ärzte zu gewinnen und das
unbewußte Schuldgefühl durch das Schmerzliche der Symptome wie durch eine Selbststrafe
zu mildern". 2) Konstruktiv-psychologisch betrachtet ist die Neurose entstanden aus dem
Zulassen von Abwehrmechanismen und Verdrängungen. Peinliche, verpönte Triebregungen
werden vom „Ichverband" ausgeschlossen und wirken im „Formenzustand" eines Latent-
psychischen — des „Unbewußten" — weiter. 3) Ihrem tiefsten psychischen und metaphysi-
schen Wesen nach ist die Neurose Ausdruck eines Gewissenskampfes. „Sie stellt sozusagen
dramatisch Selbstanklage und Selbstverteidigung" „vor dem inneren Gerichtshof" (Kant)
dar, „hervorgegangen aus der Selbstverantwortlichkeit der sittlichen Autonomie des Men-
schen..." (S.110).
Die Abweichung der Neurosenauffassung Levy- Suhls von der psychoanalytischen
besteht also darin, daß er die ichpsychologischen Gesichtspunkte über die libidotheoretischen
und triebpsychologischen einseitig heraushebt und überbetont. Außerdem können wir ihm
nicht folgen, wenn er Schuldgefühl und Gewissen als letzte, nicht weiter ableitbare mora-
lische Kategorien hinstellt. Allerdings zeigen seine klinischen Beispiele, daß diese theo-
retischen Meinungsverschiedenheiten ihn nicht hindern, den ganzen Reichtum der durch
die Psychoanalyse erschlossenen Einsichten in der praktischen Arbeit zu verwerten.
Der zweite Teil des Buches ist den psychotherapeutischen Behandlungsmethoden gewid-
met. Von den nicht analytischen „zudeckenden" Heilverfahren werden Persuasion, Sug-
gestion und Hypnose dargestellt und auf ihre Brauchbarkeit hin geprüft. Levy-Suhl
betont die Notwendigkeit der psychoanalytisch orientierten Anwendung
dieser Methoden. Damit bekennt er sich zu der Ansicht, daß auch die nichtanalytischen
psychotherapeutischen Eingriffe an der Psychoanalyse gemessen werden müssen. So ist z. B.
die Hypnose schon als psychologisches Phänomen Gegenstand der analytischen Interpre-
tation. Levy-Suhl macht sich auch jene Auffassung der Hypnose zu eigen, die das
treibende Moment in der Übertragung sieht. An der Psychoanalyse gemessen sind auch die
Grenzen der Anwendungsmöglichkeit der Hypnose in der Psychotherapie abzustecken. In
der hypnotischen Behandlung bleibt der Patient wesentlich in der Rolle des Empfangenden.
»Er nimmt auch die analytisch orientierte Beeinflussung seiner Persönlichkeit entgegen in
einem seelischen Schutzzustand, in welchem er sich hypnotisiert und geführt weiß. Es steht
auch in seinem Ermessen, wieviel er von dem Empfangenen und Geforderten in seine wache,
voll verantwortliche Persönlichkeit hineinnehmen will oder aber amnesiert, kurz, es mangelt
an der für die wahre Heilung erforderlichen Selbstleistung der überwundenen Wider-
stände..." (S. 159).
Den breitesten Raum nimmt die Darstellung der psychoanalytischen Technik ein. Manche
Teile sind vortrefflich geglückt, so z. B. die Kapitel über die Problematik der Über-
z6o
Referate
■iE
tragung. Sehr treffend sind die Bemerkungen des Verfassers über die Ausgestaltung des
assoziativen Verfahrens. Er zeigt, wie die Einstellung auf stark anschauliches und visuelles
Erinnern in der analytischen Situation imstande ist, neues Material zu fördern.
Daß der Nervenarzt, der nicht nur analytisch arbeitet, nicht ohne Änderungen der
Technik auskommen kann, versteht sich von selbst. Namentlich die Forderungen der
Kassenpraxis machen Zugeständnisse nötig, die vor allem die „Zeitlosigkeit" der Analyse
betreffen. Der analytisch orientierte Nervenarzt benutzt daher besonders gerne die tech-
nischen Kunstgriffe der „Aktivität", um die Behandlungsdauer abzukürzen. Gegen solche
Versuche ist nichts einzuwenden, „man muß nur immer wissen, was man tut". (Anna
Freud.)
Was Levy-Suhls Buch, in erfreulichem Gegensatz zu den Gepflogenheiten heutiger
psychotherapeutischer Schriften, auszeichnet, ist seine sympathische Klarheit und Luzidität;
dann vor allem die Fülle von Erfahrung, die hier verarbeitet wird. Die theoretischen Aus-
führungen werden stets mit instruktiven Beispielen illustriert und belegt. Man fühlt bei ihm
jene produktive Spannung zwischen Theorie und Praxis, ohne die psychotherapeutische
Überlegungen immer unfruchtbar bleiben. Zum Schluß sei nur noch erwähnt, daß man
in jeder Zeile dieses Buches den starken ärztlichen Eros fühlt, und daß seine menschliche
Haltung Achtung verlangt. Gero (Berlin)
Bleuler, Eugen : Me chanismus-Vitalismus-Mnemismus. Abhandlungen
i?ur Theorie der organischen Entwicklung. Bd. VI. Berlin/ Springer 1931
Bleuler verteidigt seine aus „Psychoide" und „Naturgeschichte der Seele" bekannten
Anschauungen als „Mnemismus" gegen den „Mechanismus" und den „Vitalismus", insbe-
sondere gegen die Einwände von B. Fischer und Bertalanffy (ausführlichst gegen
den Vorwurf der Vernachlässigung des Ganzheitsprinzips). Den „mnemistischen" Gedanken
von Hering und S e m o n fügt Bleuler (über seine eigenen früheren Arbeiten hinaus)
keine wesentlichen neuen hinzu. Bernfeld (Berlin)
Boumann, L,.: Paranoia. Overgedruckt uit de Psychiatrische en Neurologisch'
Bladen, Jaargang 193 1, No. 3
Der Autor gibt zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung des Paranoia-
begriffs bis zur K r a e p e 1 i n sehen Auffassung und einen Hinweis auf benachbarte Krank-
heitsgruppen : die zur Schizophrenie gehörige Dementia paranoides, die Paraphrenie, Fried-
manns milde Paranoia, G a u p p s abortive Paranoia und Kretschmers sensitiver
Beziehungswahn. Nach zwei ausführlichen Krankengeschichten stellt Bouman seine eigene
Paranoiaauffassung dar. Er sieht in dem paranoischen Wahn nicht nur eine psychologische
Reaktion, sondern er nimmt eine biopsychische Störung als Grundlage des Wahns an,
eine „unlösbare Verkrampfung" als psychologisch nicht erfaßbares Kennzeichen der kranken
Persönlichkeit. Für diese biopsychische Grundlage spreche die Erblichkeit der paranoischen
Veranlagung. Bouman tadelt, daß Kretschmer durch psychologisches Erklären die
Grenzen zwischen Normalem und Pathologischem verwische; den gleichen Vorwurf richtet
er gegen alle, die die Paranoia nur charakterologisch erfassen möchten. Zwar gibt auch
Bouman einige allgemeine charakterologische Kennzeichen der Paranoia: Verlust von Wirk-
lichkeitssinn, schiefe Einstellung zur Sexualität, Selbstüberschätzung neben Minderwertig-
keitsgefühlen, Fehlen von Humor, aber das spezifisch Pathologische in der Paranoia sieht
■
Referate
261
verankere in der tiefsten Schicht der Seele, „der psychovitalen Schicht", die er von der
eistigen und der Persönlichkeitsschicht unterscheidet. Die Veränderungen in der Sexual-
sühäre sollen in der Hauptsache auch dieser psychovitalen Schicht angehören. Diese Ver-
weisung der Krankheit in tiefste Schichten der Seele, deren Unzugänglichkeit mit einem
neuen Namen versiegelt wird, diese Betonung der prinzipiellen Unverständlichkeit der
Paranoia enthält eine Absage an die psychoanalytische Forschung, die sich trotz dieses
psychiatrischen Pessimismus einen Zugang zum Verständnis der Paranoia zu verschaffen
versucht. Vowindcel (Berlin)
jjus der psychoanalytischen JLiteratur
Klein/ Melanie: A Contribution to theTheory oi Intellectual Inhibition.
Int. Journal of PsA. XII, £
Die Feststellung der Analyse, daß bei Intelligenzhemmungen vor allem Störungen des
sexuellen Forschungstriebes und seiner prägenitalen Grundlagen vorliegen, wird ergänzt
durch Einbeziehung der Rolle der von Frau Klein wiederholt dargelegten objektlibidinösen
Ziele der prägenitalen Stufen: in den Mutterleib zerstörerisch einzudringen, den Inhalt (Kind,
Kot und vor allem den im Mutterleib befindlich gedachten Penis des Vaters) zu rauben und
sich selbst zu introjizieren — mit der Folge der Angst, selbst ein ähnliches Schicksal er-
dulden zu müssen, bezw. zur Strafe von den introjizierten Mutterleibsinhalten von innen her
zerstört zu werden. Wir haben schon bei anderen Anlässen bemerkt, daß wir von der
Wirksamkeit ähnlicher Motive in prägenitalen Zeiten auf Grund analytischer Erfahrungen
überzeugt sind, aber meinen, daß das Ausdrücken dieser schwer in Worten wiederzugeben-
den integralen Triebziele in der Sprache der Erwachsenen, die Selbstverständlichkeit der
frühen Annahme des „väterlichen Penis in der Mutter" und das Gleichsetzen solcher Ar-
chaismen mit Ödipuskomplex und Über-Ich nicht gerechtfertigt sind. Den gleichen Eindruck
schafft die neu vorliegende Arbeit. Auch sie überzeugt im allgemeinen von der Wirksamkeit
dieser prägenitalen Mechanismen in der Genese der Intelligenzstörungen. (Daß der Gedanke,
die eigenen Faeces oder der eigene Urin wäreni gefährliche Waffen, die, je nach den Um-
ständen, den eigenen Körper oder einen fremden zerstören könnten, von einer ursprüng-
lichen Feindseligkeit gegen fremde Körperinhalte herstammt, erscheint z. B. sehr ein-
leuchtend; der Zusammenhang dieser Idee „der Gefährlichkeit der Faeces im eigenen Leib"
mit dem Verfolgungswahn ist überaus interessant.) Sie hat aber nicht die gleiche Überzeu-
gungskraft im Speziellen, besonders nicht bezüglich der den Kindern gegebenen Deutungen,
die auf Grund des dem Leser mitgeteilten analytischen Materials durchaus willkürlich er-
scheinen; so wenn es nach der Analyse von aggressiven, auf die Mutter bezüglichen Im-
pulsen eines Kindes heißt: „Danach begann er in derselben Stunde parallele Linien zu zeich-
nen, die enger und weiter wurden. Es war das denkbar klarste Vaginasymbol. Er stellte
dann seine kleine Lokomotive darauf und ließ sie auf dem Linien zum Bahnhof fahren. Er
war sehr erleichtert und glücklich. Er fühlte nun, daß es möglich war, symbolisch mit seiner
Mutter zu verkehren; während vor dieser Analyse ihr Körper ein Ort des Schreckens ge-
wesen war." Die Angst vor diesem Ort des Schreckens bedinge, daß man ihn nicht sehe,
dann überhaupt nichts sehe, ihn nicht verstehen, „begreifen", dann überhaupt nichts be-
greifen wolle, und werde so zur Ursache der Intelligenzstörungen. (Nur die Überzeugung,
der Mutterleib sei noch ganz und unbeschädigt, man habe nichts getan, schaffe die Voraus^
Setzung für eine ungestörte Intellektentwicklung.) Aber nach der Introjektion wiederhole
262
Referate
sich das gleiche, was früher in bezug auf den Mutterleib galt, in bezug auf den eigenen
Körper: auch hier hemme die Angst vor schrecklichen Dingen, die darin passieren, die In-
tellektentwicklung: die Angst vor dem Mutterleib hemme das Verständnis für äußere di
entsprechende vor dem eigenen Körper das für innere Vorgänge. Erst die Aufhebung der
Angst vor dem eigenen Körperimnern ermögliche daher dem Kind das Verständnis für sich
selbst. Auch die Nehm- und Wegwerfwut entspreche dem Drang, nur „gute" Körperinhalte
zu bewahren, „schlechte" los zu werden. Die Zwangsneurose überhaupt sei aufgebaut auf
der „Angst aus den frühesten Gefahrsituationen". Darunter versteht Frau Klein die Ver-
geltungsangst wegen der Aggressionen auf den Mutterleib, die sie als „frühes, drohendes
Ober-Ich" zu bezeichnen pflegt, von dessen Druck das kindliche Ich durch die Analyse zu
befreiensL Fenichel (Berlin)
Strachey/James: The Function of the Precipitating Factor in the Etiology
of the Neuroses. A Historical Note. Intern. Journal of PsA. XII, 3
Die Arbeit bringt eine historische Übersicht über die Äußerungen Freuds über Natur
und Wirkungsweise der Krankheitsanlässe, von der „Trauma'lehre der „Studien über
Hysterie" über die schematische Ordnung der auslösenden Faktoren in „Über neurotische
Erkrankungstypen" und den Begriff der „Ergänzungsreihe" in den „Vorlesungen zur Ein-
führung" bis zu den Erörterungen in „Hemmung, Symptom und Angst". Strachey disku-
tiert im Zusammenhang damit selbst einige einschlägige Probleme, so die Frage, ob nicht
eine Neurosendisposition sich selbst ein auslösendes Erleben herbeizwingen kann, etwa in
der Art, wie nach Abraham Kinder sexuelle Verführungen durch Erwachsene aktiv her-
beiführen; dann die Problematik der Art und Weise, wie überhaupt Krankheitsanlässe durch
dynamische oder ökonomische Libidoveränderungen alte, infantile Konflikte mobilisieren.
Fenichel (Berlin)
LorancLA. S.: Aggression and Flatus. Intern. Journal of PsA. XII, 3
Ein anal-sadistischer Patient pflegte seine Kameraden durch Anzünden seiner Flatus zu
amüsieren. Das war einer der wenigen Durchbrüche einer sonst latenten, aus einer frühen
Identifizierung mit dem Vater stammenden Charakterhaltung. Fenichel (Berlin)
Chadwick, Mary: Nursing Psychological Patients. Allen a. Unwin
Der Titel dieses Buches ist unglücklich gewählt; er läßt weniger erwarten, als in Wirk-
lichkeit geboten wird. Die Absicht der Verfasserin ist, „die häufigsten Formen psychischer
Störungen so darzustellen, daß die Krankenschwester zum besseren Verständnis dessen,
was hinter den manifesten Symptomen der Krankheit liegt, gelangen, und so ihren Pa-
tienten sowohl besser und angemessener helfen als auch für sich selbst ihre Arbeit weniger
angreifend und ermüdend gestalten kann". Mary Chadwick behandelt ausführlich Hysterie,
Neurasthenie, Zwangsneurose und Kinderneurosen und befaßt sich auch mit Paranoia,
Homosexualität und Melancholie. Wenn man sagen möchte, daß die Verfasserin Freud
nur aus gewisser Entfernung folgt, so erklärt sich das wohl daraus, daß sie sich vielleicht
so vorsichtig fassen mußte, weil sie ihre Vorträge, aus denen sich das Buch zusammensetzt,
im Auftrage einer großen Krankenhausbehörde hielt. Der Stil des Buches ist allgemeinver-
ständlich. Da dies Buch als Führer für Krankenschwestern in ihrer Berufspraxis dienen soll,
bedauert man, daß die Verfasserin ihre Leser nicht näher an den Gegenstand heranbringt.
Referate 263
Hat das Buch den gewünschten Erfolg, das Interesse der Krankenschwestern an den psy-
hischen Krankheiten anzuregen, so würden diese für ihr weiteres Studium besser ausge-
stattet sein, wenn man ihnen exaktere Begriffe und die üblichen Fachausdrücke vermittelt
hätte. Andrerseits muß man daran denken, daß diese populäre Sprache, die vom Leser keine
intellektuelle Bemühung erfordert und über anstößige Sachverhalte hinweggleitet, die Ver-
breitung psychologischen Wissens gut fördert und die Infiltration der Denkweise eines gro-
ßen Publikums mit psychologischem Denken so gut besorgt, wie es anders kaum erreicht
werden könnte. [, p. Grant Duff (Berlin)
Hitschmann, Eduard: Ober einige praktische Ergänzungen der psycho«
analytischen Behandlung von Impotent und Frigidität. Allgemeine ärztliche
Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene. Band \, H. 2
Der Autor fordert neben Analyse von Frigidität und Impotenz ausführliche Aufklärung
der Patienten über Bau und Funktion! der Genitalien. Diese Aufklärung soll aber nicht
rein theoretisch bleiben; es soll sich taktiles und visuelles Kennenlernen des eigenen Körpers
daran anschließen, was wahrscheinlich oft zur Onanie führen wird, die, soweit es sich um
genitale Onanie handelt, im Sinne der Heilung wirkt. Es werden ferner eine Reihe von
Beobachtungen über die Natur der Sexualscheu sowie Ratschläge zu deren Überwindung
gegeben. Annic Reich (Berlin)
Hitschmann/ Eduard : Vom Zwangsimpuls, zum Fenster hinaus2;uspringen.
Ars Medici, Wien 1929, Nr. 3
Kurz, leicht verständlich und instruktiv wird hier ein 1 Zwangsimpuls, seine Triebgrund-
lage und Genese beschrieben, nicht als Ergebnis einer langen Analyse, sondern einer ein-
maligen Aussprache. Geschrieben, um die analytische Auffassung kurz darzustellen, erfüllt
die kleine Mitteilung sehr gut ihre Bestimmung. Annic Reich (Berlin)
Hitschmann/ Eduard : Psychoanalyse trofj Hormonen. Allgemeine ärztliche
Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene. Band \, H. 7
Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, wirklich wirksame Sexualhormone herzustellen,
wohl aber ist es der Psychoanalyse möglich, nach erfolgreicher Kur weitgehende Änderungen
nicht nur von Sexualstörunigen, von Impotenz und Frigidität, sondern oft auch des dem
eigenen Geschlechte nicht entsprechenden Körpertypus zu erzielen. So erweist sich die
außerordentliche Bedeutung des psychischen Unterbaues solcher körperlicher Symptome und
damit zugleich der Analyse als Therapie. Annie Reich (Berlin)
Devine, Glover, Gillespie, Klein, P a y n e : The Psychotherapy of the
Psychoses. The British Journal of Medical Psychology. Vol. X. 193o
Die vorliegenden Vorträge wurden in einer Versammlung der psychiatrischen Sektion der
Royal Society of Medicine und der medizinischen Sektion der British Psy-
chological Society gehalten.
Edward G 1 o v e r s Arbeit enthält auch für den Analytiker manches Lehrreiche. Bei der
Therapie der Melancholie, so führt er aus, sei es wichtig, die nahende Depression aus kleinen
264
Referate
Anzeichen zu erraten und zu ermöglichen, daß der Konflikt zwischen Über-Ich und Ich
die Außenwelt verlegt werde, indem das Uber-Ich auf den Analytiker projiziert wird. Ge-
lingt dies nicht, so müsse der Analytiker sich darauf beschränken, das Über-Ich zu mildern
und das Ich zu stärken, indem er das akuteste und unmittelbarste sadistische Material er-
faßt und deutet. Das Verständnis der Dementia praecox und der Paranoia sei durch Cha-
rakteranalysen wesentlich gefördert worden. Diese lehrten, daß die Schwierigkeit nicht i n
der mangelnden positiven, sondern im Überwiegen der negativen Übertragung liege. Heute
begnügen wir uns nicht mehr mit der Erklärung, der Patient sei zu „narzißtisch", sondern
wir analysieren die negative Übertragung und versuchen die latente Angst und das Schuld-
gefühl abzubauen. Die Unzugänglichkeit des Psychotikers liege aber nicht nur an seiner Un-
fähigkeit zur positiven Übertragung (neben einer häufig gesteigerten negativen Übertragung)
sondern auch an unserer eigenen, dem Selbstschutz dienenden Unfähigkeit, sich ihm wirk-
lich zu nähern. Die Ergebnisse der Analyse kleiner Kinder werden, meint Glover, noch mehr
zu den Fortschritten der Psychosentherapie beitragen als die an erwachsenen Psychotikern ge-
wonnenen Erfahrungen, und er prophezeit, daß sie einst unser ganzes System der Ätiologie,
Diagnose, Prognose, Therapie und Prophylaxe auf eine völlig neue Basis stellen werden.
Melanie Klein zeigt, daß die Realitätsbeziehung des kleinen Kindes ganz phan-
tastisch ist. Für es ist die Welt ein Leib, gefüllt mit gefährlichen Gestalten, — gefährlich
zufolge der Projektion des eigenen Sadismus. Während aber normalerweise diese phanta-
stische Auffassung im Laufe der Entwicklung durch die Realität modifiziert wird, verharrt
der Psychotiker auf dieser frühen Stufe. Eine kurze, verallgemeinernde Definition für die
Psychosen würde lauten, daß ihre Hauptgruppen Formen der Abwehr gegen die wichtigsten
Entwicklungsphasen des Sadismus darstellen. Die Psychose im Kindesalter werde häufig
übersehen, weil sich ihr Bild von der des Erwachsenen wesentlich unterscheidet, oft werde
sie aber auch unter andern — meistens vagen — Bezeichnungen zusammengefaßt. Psychotische
Züge werden auch darum nicht erkannt, weil sie sich in milderer Form auch bei normalen
Kindern zeigen. Die voll entwickelte Schizophrenie, vor allem aber schizophrene Züge seien
sehr viel häufiger, als gewöhnlich angenommen wird. Eine wichtige Aufgabe der Kinder-
analyse sei die Aufdeckung und Heilung psychotischer Erkrankungen.
Sylvia Payne gibt eine klare und übersichtliche Darstellung der Abraham sehen
Forschungsergebnisse über die Therapie der manisch-depressiven Erkrankungen.
H. D e v i n e vertritt einen pessimistischen Standpunkt in bezug auf die Möglichkeiten der
Psychotherapie der Psychosen, vorwiegend weil er die Psychosen für organisch bedingt hält.
R. D. G i 1 1 e s p i e äußert sich optimistischer über die Aussichten einer Psychotherapie
und empfiehlt vor allem „Persönlichkeitsanalyse".
Aus der Diskussion sind vor allem die Ausführungen von E. Glover : 1. daß auf dem
Gebiete der Psychosentherapie analytisch sehr viel mehr geleistet worden sei, als bisher
veröffentlicht wurde, und 2. daß die Psychoanalyse der Psychosen; nicht mit den veralteten
Methoden, die sich damit begnügen, „Komplexe" aufzuspüren, verwechselt werden dürfe, —
ferner ein Bericht von W. H. B. S t o d d a r t über die analytische Heilung eines Falles von
Melancholie hervorhebenswert.
Es scheint bemerkenswert und für die analytische Bewegung in England kennzeichnend,
daß bei einer Diskussion über die Psychotherapie der Psychosen in der Royal Society of
Medicine die Psychoanalyse im Mittelpunkt steht, und daß auch diejenigen, die sie ablehnen,
dies mit einer Anerkennung ihrer Verdienste verbinden. M. Schmickberg (Berlin)
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
Redigiert von Zentralsekretärin Anna Freud
Mitteilung des Zentralvorstandes
Der Zentralvorstand hofft auf Grund der Antworten der einzelnen Ortsgruppen,
daß es trotz der schwierigen äußeren Verhältnisse durchführbar sein wird, den
XII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß im Sommer 1932 abzuhalten.
Die endgültige Entscheidung mit den genauen Daten über Ort und Zeit wird den
Gruppen so bald als möglich auf schriftlichem Wege übermittelt werden.
Berlin, im Februar 1932.
M. Eitingon
£entratpräsident
Anna Freud
25entralsekretärm
Zehn Jahre VViener Psychoanalytisches Ambulatorium
(kp22~lp3£)
Z/UT Geschichte des Ambulatoriums
Von Dr. Eduard Hitschmann,, Leiter desselben
Als im Februar 1920, unter Berufung auf die denkwürdige Äußerung Freuds
über die Notwendigkeit öffentlicher Behandlungsstellen für weitere Kreise der Be-
völkerung die Berliner Poliklinik eröffnet wurde, faßte ich den Entschluß, in Wien
gleichfalls ein solches Institut zu errichten. Es schwebte mir dabei nicht nur die
soziale Wohltat einer solchen Heilstätte vor, verbunden mit der Möglichkeit de
Ausbildung von Psychoanalytikern, sondern es erfüllte mich vor allem auch df
Absicht, der in Wien noch immer zu wenig anerkannten und zu viel angefeindete
Lehre ein sichtbares Wahrzeichen zu errichten.
Als Folge des Weltkrieges bestand damals eine schwere Teuerung, das Geld
war entwertet, die private Wohltätigkeit erlahmt, die Regierung zur Sparsamkeit
gezwungen. Aber das Militär konnte nunmehr viele Räume erübrigen und es war
beabsichtigt, Räume des Garnisonsspitales Nr. i zur Ergänzung des Allgemeinen
Krankenhauses heranzuziehen. Hier, in diesem medizinischen Zentrum, war offen-
bar der beste Platz für ein psychoanalytisches Ambulatorium, und ich fand in der
Person des hervorragenden Röntgenologen Professor Guido Holzknecht, eines uni-
versellen Kopfes, der auch der Psychoanalyse sein Interesse zugewendet hatte, einen
hilfsbereiten und tatkräftigen Berater. Ich verfaßte ein Gesuch an das Gremium
der Primarärzte des Allgemeinen Krankenhauses, in dem auch Holzknecht stimm-
berechtigt war, und dasselbe wurde am i. Juli 1920 gleichzeitig auch an das zu-
ständige Staatsamt für Volksgesundheit geleitet.
Der Amtsschimmel war für die offenbar vielen Primarärzten kaum recht be-
kannte Psychoanalyse schwer in Trott zu bringen, und das Gutachten, das das
Gremium vom Leiter der Wiener psychiatrischen Klinik einforderte, erfloß im
Juli 1921 (!).
Es fiel negativ aus und begründete die Ablehnung unseres Gesuches mit folgen-
den, keinesfalls stichhaltigen Gründen: „Erstens, weil das zu gründende Ambula-
torium nur für therapeutische Zwecke beabsichtigt sei, und zweitens, weil es nur
für die psychoanalytische und nicht für die anderen Methoden der Psychotherapie
dienen solle." Es wurde sozusagen der Bedarf und der Wert der Psychoanalyse
als Behandlungsmethode geleugnet.
War diese Ablehnung auch peinlich, so durfte ich mich bald darauf freuen,
mit dieser Eingabe die Gründung eines psychotherapeutischen Ambulatoriums an
der Klinik angeregt zu haben, wodurch natürlich das Psychotherapie-Bedürfnis
einer Großstadt noch keineswegs gedeckt war.
Auch das Staatsamt für Finanzen lehnte übrigens die ihm durch Gründung
eines staatlichen Ambulatoriums erwachsenden Kosten ab.
Bei unseren (Frau Dr. Deutsch, Dozent Deutsch, Federn, Hitschmann) weiteren
Bemühungen im Herbst und Winter 1921 fanden wir dann doch ein liebenswür-
diges Entgegenkommen bei Hofrat Dr. Tauber im Volksgesundheitsamt, der,
indem er uns freistehende Räume im Garnisonsspital Nr. 2 für unsere Zwecke an-
trug, letztere anerkannte, wenn auch die Räume schon wegen der erforderlichen
Adaptierungskosten unmöglich waren.
Da gelang es Herrn Dozenten Dr. F. Deutsch, dem um die Psychoanalyse
verdienten Internisten, geeignete Lokalitäten für uns erreichbar zu machen. Im
Ambulanzgebäude des Vereines „Herzstation" konnten nicht nur eine Reihe von
Zimmern mit schalldämpfenden Türen für die Nachmittage, sondern auch ein
Sitzungssaal für die Abende gemietet werden.
Die Leiter der Herzstation, Prof. Hans Horst Meyer und Prof. Rudolf
Korrespondenzblatt 267
jufmann, kamen uns verständnisvoll entgegen und wir gingen nun daran,
Einverständnis mit dem Volksgesundheitsamt, der Ärztekammer und der Wirt-
chaftlichen Organisation der Ärzte Wiens das psychoanalytische Ambulatorium
auf eigene Kosten zu gründen. Die Wirtschaftliche Organisation der Ärzte
aber lehnte es in ihrer Ausschußsitzung im Februar 1922 ab, die Eröffnung unseres
Ambulatoriums zu gestatten, indem sie annahm, daß unser Ambulatorium über-
flüssig sei und den Erwerb der Ärzte schädigen werde. Es waren Dr. Paul F e-
d e r n, Dozent Deutsch und ich, denen es gelang, durch die Überreichung eines
aufklärenden Memorandums die Reassumierung des Beschlusses durchzusetzen. Die
Wirtschaftliche Organisation der Ärzte bewilligte die Errichtung eines Ambula-
toriums für psychoanalytische Behandlung unter der Bedingung, „daß dort die
psychoanalytische Behandlung und die wissenschaftliche Verwertung dieser Me-
thode ausschließlich von Ärzten betrieben wird und sowohl als Lehrende wie als
Lernende nur Ärzte in Betracht kommen, so daß Laien mit Ausnahme der Pa-
tienten der Zutritt zu diesem Institut versagt bleibt".
Man ersieht leicht aus dieser Klausel, wie sehr hier die materielle Schädigung
des ärztlichen Standes durch Gestattung einer Analyse durch Laien gefürchtet
wurde.
Es war uns aber endlich möglich geworden, Herrn Professor Freud einzu-
laden, die bereitstehenden Räume zu besichtigen, die Öffentlichkeit zu benachrich-
tigen, und am 22. Mai 1922 das Ambulatorium zu eröffnen. Es war
ein aus privaten Mitteln erhaltenes Institut, unterstand aber selbstverständlich der
Sanitätsbehörde, deren ausübendes Organ das Stadtphysikat der Gemeinde Wien
vorstellte.
Wer beschreibt unser Erstaunen — wir hatten inzwischen unseren ersten Rechen-
schaftsbericht am VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Berlin ge-
geben — , als am 30. November des Eröffnungsjahres, nach etwa sechs Monaten
Tätigkeit, die städtische Sanitätsbehörde die sofortige Einstellung des
Betriebes forderte.
Nun mußten die Stimmen verstummen, die gemeint hatten, es wäre besser ge-
wesen, das Ambulatorium einfach zu eröffnen und alle die Ämter vor die fertige
Tatsache zu stellen. Denn die städtische Sanitätsbehörde betonte in ihrem Verbot,
daß es sich um einen „ohne Bewilligung geführten Betrieb" handle.
Jetzt, im Jahre 1932, nach zehn Jahren anstandslosen Betriebes, während derer
dem Ambulatorium von städtischen Fürsorgestellen aller Art, von Krankenkassen,
von Gerichten usw. Fälle zugesandt wurden, nachdem wir trotz sechs angestellten
ärztlichen Mitarbeitern die große Zahl der vorsprechenden Patienten nur zu einem
Bruchteil bewältigen können, jetzt, wo sogar die Universitätsklinik uns gelegent-
lich dort verpflegte Kranke zur Behandlung überweist, — jetzt kann man kaum
mehr glauben, mit welchem Mißtrauen, welcher Unkenntnis und welcher Feind-
seligkeit unser Bestreben, ein Ambulatorium für psychoanalytische Behandlung zu
errichten, aufgenommen wurde.
Glücklicherweise gab es gegen diese sich auf ein Gutachten des obersten Sanitäts-
rates berufende Entscheidung den Rekursweg an das Bundesministerium für soziale
268
Korrespondenzblatt
Verwaltung, der sich erfolgreich erwies. Nun hatte nicht mehr die „offiziell»
Psychiatrie" dreinzureden, die ja der große Hemmschuh war. Objektivität und
Unbefangenheit konnten den Sieg davontragen, wo ja auf Wohlwollen gar nicht
gerechnet wurde. So begründet das Ministerium seine Erlaubnis, das Ambulatorium
„unter Möglichkeit des Widerrufes" weiterzuführen, mit folgender natürlicher
Widerlegung kleinlicher Argumentation: Daß ein Bedarf nach einem derartigen
Ambulatorium nicht besteht, bildet noch keinen Abweisungsgrund, vielmehr kann
aus diesem Grunde eine Betätigung, die nach den Grundsätzen und im Rahmen der
Wissenschaft erfolgt, nicht versagt werden.
So konnten wir endlich nach dreieinhalbmonatiger Unterbrechung unser In-
stitut wieder eröffnen und hatten nun genaue Vorschriften, Statuten und eine
Betriebsordnung zu befolgen. Es war sogar erreicht, daß ausländische Ärzte mit
voller theoretischer Vorbildung als Hospitanten am Ambulatorium mitarbeiten
durften.
Ausgeschlossen blieben andauernd die Laien als Mitarbeiter; im Jahre 1925 kam
ein besonderer Erlaß heraus, der im Falle einer Betätigung von Laien am Am-
bulatorium diesem die Sperrung androhte.
Der Betrieb des Ambulatoriums nahm seinen regelmäßigen Fortgang. Die ärzt-
lichen Mitglieder unserer Vereinigung hielten ihren Rütli-Schwur und jeder einzelne
nahm bereitwilligst eine oder mehrere unentgeltliche Behandlungen auf sich. Wir
hatten nur drei bis vier Behandlungszimmer zur Verfügung, so daß von Anfang
an auch Ambulanz-Patienten von den älteren Kollegen in ihren eigenen Privat-
ordinationen vorgenommen wurden. Die Vereinigung hielt im Saale des Ambula-
toriums ihre Sitzungen ab und dort wurde — drei Jahre vor Gründung unseres
Lehrinstitutes — von mir zum erstenmal ein Einführungskurs in die Psychoanalyse
gelesen, vom 3. November bis zum 1. Dezember 1922. Die Hörer waren: 9 Öster-
reicher, 3 Amerikaner, 1 Engländer, 1 Pole und 2 Holländerinnen.
Dozent Deutsch begann am 15. November 1922 seinen Lehrkurs mit dem
Titel: „Was soll der praktische Arzt von der Psychoanalyse wissen?" Die Lehr-
kurse wurden systematisch fortgesetzt; so kündigte die Vereinigung im Herbst 1923
folgende Kurse an: Dr. Federn — Psychoanalyse für Anfänger; Dr. Jekels —
Libidotheorie; Dr. Nunberg — Neurosenlehre; Dr. Hitschmann — Kapitel aus der
speziellen Neurosenlehre; Dr. Sadger — Geschlechtsverirrungen; Dr. Reich —
Psychoanalytische Kasuistik; Dr. Jokl — Berufsneurosen; Doz. Deutsch — Was
soll der praktische Arzt von der Psychoanalyse wissen? Dr. Reik — Religion und
Zwangsneurose.
Im Herbst 1924, um ein weiteres Beispiel zu geben, wurden achtzehn Kurse an-
gekündigt; darunter waren Doz. Schilder, der über die Psychoanalyse in der
Psychiatrie sprach; Aichhorn über Dissoziale Kinder; Fried jung über die Sexualität
des Kindes und Bernfeld über Psychoanalytische Psychologie und die Psychologie
des Säuglings.
Die Lehrkurse erfreuten sich großen Zuspruches.
Im Frühling des folgenden Jahres eröffneten wir in den Räumen unseres Am-
bulatoriums auch eine „Erziehungsberatungsstell e", welche zunächst
Korrespondenzblatt
269
land Frau Dr. H. Hug-Hellmuth leitete, und bestellten in Dr. Wilhelm
Reich unseren ersten Hilfsarzt.
Im Herbst wurde neben Dr. Reich als Assistent noch ein zweiter Arzt ange-
feilt • seit 1930 sind zwei Assistenten und vier Hilfsärzte tätig. Das Lehr-
istitut, das mit dem Jahre 192$ in Funktion trat, stand unter der Leitung von
Frau Dr. Helene Deutsch, Frl. Anna Freud und Dr. Siegfried B e r n f e 1 d.
Den Lehrausschuß bildeten Dr. Federn, Dr. N u n b e r g, Dr. Reich und
Dr. Hitschmann.
Im März des Jahres 1929 ergänzte sich das Ambulatorium durch eine eigene
bteilung für Psychosen, welche der gewesene Assistent der Klinik,
r essor Paul Schilder, angeregt hatte, und die ihm von der Sanitätsbehörde
anvertraut wurde. Da derselbe aber bald darauf eine Berufung nach New York
annahm, wurde Dr. Eduard Bi bring im Herbst 1929 Leiter dieser Abteilung,
welche sich mit einer Behandlung von Psychosen auf psychoanalytischer Basis ver-
suchsweise befaßt.
Ich kann die Übersicht über die zehnjährige Ambulatoriums-Tätigkeit nicht
geben, ohne der getreuen und eifrigen Mithilfe aller Beteiligten dankbar zu ge-
denken, so namentlich der Mitarbeit des nach Berlin verzogenen Dr. W. Reich
und des verdienten Kassiers Dr. R. N e p a 1 e k, ferner der derzeitigen Assistenten
Frau Dr. Bibring-Lehner und Herr Dr. R. Sterba; endlich der Herren
Dr. E. B e r g 1 e r, Dr. E i d e 1 b e r g, Dr. E. P. H o f f m a n n, Dr. E. Kronen-
gold und Dr. Sperling. Die kollegiale Zusammenarbeit war stets ohne Miß-
ton und der Geist der Humanität und Pflichterfüllung gegenüber den armen Kran-
ken wurde immer hochgehalten. Es ist unmöglich, die vielen Mitglieder der Ver-
einigung einzeln zu erwähnen, die in opferbereiter Weise durch die ganze Zeit
ihre wertvolle Hilfe zur Verfügung stellten. Ihnen allen sei gemeinsam an dieser
Stelle der gebührende Dank abgestattet.
Die Geschichte des Lehrinstitutes, der Erziehungsberatungsstelle sowie der
Psychosenabteilung wird gesondert besprochen; ebenso die Arbeit im therapeutisch-
technischen Seminar.
Der Betrieb des Wiener Ambulatoriums wurde analog der Berliner Poliklinik
eingerichtet, unterscheidet sich aber dadurch, daß hier in Wien die gesetzliche Not-
wendigkeit bestand, daß nur nachweisbar Unbemittelte in Behand-
lung genommen wurden, daher von seiten der Patienten jahrelang nicht der ge-
ringste materielle Beitrag zu unseren Kosten geleistet wurde.
Ferner hatten wir unsere Räume nur nachmittags zur Verfügung, so daß von
vornherein ein Teil der Ambulanzpatienten in der Privatordination der Kollegen
vorgenommen werden mußte. Medizinstudierende und Nichtärzte (Laien) waren
von der Tätigkeit streng ausgeschlossen und sind es geblieben. Ambulatorium und
Lehrinstitut unter einer Oberleitung zu vereinigen, wie in Berlin, war unmöglich,
da die Ausbildung der Laien im Ambulatorium verboten war.
Beide Institute, die Vortragssäle, etwa auch den psychoanalytischen Verlag
27°
Korrespondenzblatt
nicht mehr an verschiedenen Orten unterzubringen, sondern in einem eigen
Gebäude zu vereinigen, ist mangels des nötigen Geldes bis auf weiteres unmöglich
Nur den Bauplatz dazu hat die Gemeinde Wien zur Ehrun» J
70. Geburtstages Freuds der Vereinigung gewidmet.
Der Betrieb des Ambulatoriums wurde von Anfang an durch die Privatmittel
der Vereinsmitglieder gesichert; hatten doch alle ärztlichen Mitglieder sich ver-
pflichtet, den Betrieb des Ambulatoriums durch ihre Mitarbeit zu ermöglichen
Außer den Betriebskosten erforderten vor allem die Gehälter der Assistenten und
Hilfsärzte und die Stipendien größere Beträge, die wir aus einer von Professor
Freud zur Verfügung gestellten Geldsumme aus der Geburtstag-Stiftung (1927)
und aus einem größeren Geschenk aus Amerika erübrigten. Diese Summen sind
heute bereits aufgebraucht.
Gleich anderen öffentlichen Ambulatorien heben wir jetzt auf Anregung
Dr. Reichs von nicht ganz armen, unbemittelten Patienten kleine Regiebeiträge
monatlich ein. Dies hebt auch das Selbstgefühl der Ambulatoriumspatienten, be-
sonders aber bei Anwendung der Psychoanalyse, die eine außerordentliche Leistung
des Arztes für die Kranken erfordert. Die Zukunft des Ambulatoriums ist materiell
ganz ungesichert, denn es war bisher nicht möglich, aus öffentlichen Mitteln eine
Subvention zu erlangen.
So groß die Geburtswehen bei der Gründung des Ambulatoriums waren, seit
zehn Jahren ist doch der Fortschritt der Psychoanalyse als Forschungsmittel, als
tiefster Weg seelischer Untersuchung und als ein wenn auch langwieriges und müh-
sames, doch höchst bedeutsames Mittel zur Heilung neurotischer Störungen ein
sichtbarer. Die Erkenntnisse auf dem Gebiete medizinischer Psychologie sind so
bedeutende, daß überhaupt alle Psychotherapie in den Vordergrund gerückt ist.
Da die psychiatrische Klinik und die Gerichte Fälle in unsere Behandlung schicken
— so kommen Kranke, die nur bedingt unter der Voraussetzung verurteilt werden,
daß sie eine Behandlung gegen ihr triebhaftes Verhalten in unserer Anstalt nach-
weisen können — arbeiten wir für das allgemeine Wohl im Auftrage von Staats-
beamten. Die städtischen Fürsorgestellen, die städtische Eheberatungsstelle usw.,
ebenso wie die Krankenkassen schicken uns Fälle zur Begutachtung oder Be-
handlung zu; es kommen solche auch aus der Umgebung Wiens. Wir stehen aber
dem Andrang Hilfsbedürftiger mit unseren sechs angestellten Ärzten keineswegs
genügend ausgerüstet gegenüber. Viele Kranke kommen überhaupt nie in Behand-
lung, und auch dringende Fälle müssen oft monatelang warten!
Wir sind durch ungenügende Geldmittel verhindert, eine genügende Zahl von
Ärzten anzustellen; durch die Kleinheit des Ambulatoriums und die Unmöglich-
keit, dort auch am Vormittag zu arbeiten, leisten wir nur einen Bruchteil dessen,
was geleistet werden könnte.
Hier ist ein Denkmal für einen der größten Österreicher zu erhalten. Daß übri-
gens die Fremden, die in großer Anzahl bei uns lernen wollen, der Allgemeinheit
von Nutzen sind, ist klar. Ich gebe hier meiner Überzeugung Ausdruck, daß es
die Pflicht sowohl des Staates wie der Gemeinde ist, unser
Institut materiell zu fördern.
Wer die psychoanalytische Behandlung angewendet und noch verbessert sehen
will, was kann er Besseres tun, als diese wissenschaftlich-praktische Arbeitsstätte
zu unterstützen!
Die Notwendigkeit solcher Institute beweisen nach Berlin und Wien analoge
Einrichtungen in London, Budapest, Frankfurt am Main und New York.
Fällt auch der Rückblick auf unsere zehnjährige Tätigkeit in eine Zeit schwerer
ökonomischer Depression, so geben wir doch der Hoffnung Ausdruck, daß unsere
idealen Bestrebungen in diesem gemeinnützigen Ambulatorium sowie in unserer in
Österreich einzigen Lehrstätte gewürdigt werden mögen, und daß unsere Arbeit,
die wir bisher mühsam größtenteils aus eigenen Mitteln bestritten haben, durch
Unterstützung von außen in größerem Umfange ermöglicht werden wird.
Die Stadt, in der die geniale, weltberühmte Lebens-
arbeit Sigmund Freuds geleistet wurde, muß auch eine
Lehrstätte der Psychoanalyse besitzen und deren thera-
peutische Früchte breiteren Schichten des Volkes zugäng-
lich machen können.
Bericht über das therapeutisch^tedfiniscne Seminar
Von Dr. Grete BibringJLehner
In einer Zeit, da die Ausbildung zum Analytiker in keiner Weise systematisch
geregelt war, sahen sich die Novizen der Analyse genötigt, den Rat älterer Ana-
lytiker wiederholt zu suchen. Dies geschah nur sehr unregelmäßig und zufällig, so
daß, sobald die Zahl der Schüler zugenommen hatte, das Bedürfnis nach einer
systematischen Regelung dieser Beratung entstand. Auf Anregung des Herrn
Dr. Wilhelm Reich trafen sich die lernenden Analytiker mit einigen älteren
Analytikern (Frau Dr. Deutsch, Federn, Hitschmann, Jekels, Nunberg u. a.) in
mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. Es wurden einzelne schwierige Fälle
referiert, besonders solche, deren Behandlung aktuelle Schwierigkeiten bot und eine
Beratung notwendig machte. — Später wurden diese Bestrebungen durch die Grün-
dung des Seminars für psychoanalytische Therapie unter der Leitung von Dr. E.
Hitschmann zusammengefaßt, gleichsam legalisiert und damit der Anstoß zu
ihrer weiteren Entwicklung gegeben. Die Zusammenkünfte, die bis dahin meist
privat stattgefunden hatten, wurden nun in die Räume des Ambulatoriums verlegt.
Sie sollten den Fragen der Technik und Therapie dienen, fanden anfangs nur in
lockerer Folge statt und waren an kein spezielles Programm gebunden. Es galt zu-
nächst, empirische Richtlinien für das Referieren zu finden; die Wiedergabe des-
strukturellen Aufbaus eines Falles in Längs- und Querschnitten, möglichst mit
Hervorhebung aktuell wichtiger Gesichtspunkte, gab Richtung der Kritik und
Diskussion. Bis 1924 unter der Leitung von E. Hitschmann, wurde es im
lyz . Korrespondenzblatt
Wintersemester 1924 von H. Nunberg geführt und schließlich ohne Unter-
brechung bis zum Jahre 1930 von W. Reich geleitet. Unter Reich nahm das
Seminar, das sich von Anfang an in ständig aufsteigender Linie bewegte, einen
rascheren Aufschwung. Aus der steigenden Erfahrung hatte sich eine Reihe von
Problemen ergeben, die nach einer mehr systematischen Ordnung verlangten. Aus
der Fülle von Fragestellungen wurden von Reich folgende Programmpunkte zu-
sammengefaßt :
1. Studium der Widerstandssituationen.
2. Theorie der Therapie.
3. Studium der Prognose.
Das Seminar fand (und findet) alternierend mit den Sitzungen der Vereinigung
jeden zweiten Mittwoch statt und hat sämtliche Schüler des Lehrinstitutes und die
am Ambulatorium tätigen Ärzte zu obligaten, eine größere Zahl von älteren Ana-
lytikern zu freiwilligen Mitarbeitern. Die Referate bezogen sich auf die Fälle des
Ambulatoriums und ermöglichten so gleicherweise einen Überblick über die am Am-
bulatorium geleistete Arbeit, wie eine gemeinsame Basis für die Besprechung der er-
wähnten Fragenkomplexe. Es wurde ein allgemeines Referatenschema als erste Hand-
habe ausgearbeitet, das auch Ungeübten ermöglichte, einen brauchbaren Über-
blick über einen Fall und seine Problematik zu geben, die sich grundsätzlich nicht
auf die Theorie des Falles, sondern auf die Therapie bezog. Wie wichtig gerade
diese Fragen für dieses Seminar waren, geht daraus hervor, daß seit 1924/25,
ursprünglich ganz im Zentrum der Seminararbeit stehend, dann immer wieder
überwiegend, der erste Punkt des oben umrissenen Programms bearbeitet wurde.
Eine Reihe von Referaten diente der Herausarbeitung der typischen Anfangswider-
stände, bezw. der Endwiderstände in der psychoanalytischen Behandlung sowie
der technischen Mittel zu ihrer Bewältigung; oder es wurden spezielle Widerstände
bestimmter Krankheitsformen, bestimmter neurotischer Charaktertypen in den
Kreis der Betrachtungen gezogen. Eine Fülle von Einsichten ergab sich aus den
Diskussionen. Sie wurden jeweils am Ende eines Arbeitsjahres in Überblick-
referaten zusammengefaßt. So sprachen in der Zeit von 1924 bis 1926:
Richard S t e r b a : Über latente negative Übertragung,
Hedwig S c h a x e 1 : Über masochistische Widerstände,
Grete Bibring-Lehner: Über sadistische Übertragungswiderstände und
Wilhelm Reich: Über Handhabung der Übertragung und geordnete Wider-
standsanalyse.
Im Laufe der Studienjahre 1926 bis 1929 rückten allmählich umfassendere
Probleme in den Vordergrund, die sich auf den zweiten Programmpunkt „Theorie
der Therapie" bezogen. Die Ursachen psychoanalytischer Erfolge und Mißerfolge,
die Kriterien der Heilung, der Versuch einer Typologie der Krankheitsformen in
Hinblick auf die Widerstände und Heilungsmöglichkeit, die Fragen der Charakter-
analyse, der Charakterwiderstände, der „narzißtischen Widerstände" und der
„Affektsperre" wurden — immer an Hand von konkreten Fällen — einer klini-
schen und theoretischen Untersuchung unterzogen. Teilweise in Zusammenhang
damit wurde eine Reihe von technischen Fragen gewidmeten Publikationen refe-
Korrespondenzblatt 273
• rt (Freud, Ferenczi, Rank). An Überblicksreferaten wurden in dieser
Arbeitsperiode gehalten:
Von Anna Freud ein Referat über: „Technik der Kinderanalyse im Ver-
hältnis zur Erwachsenenanalyse".
Von Wilhelm Reich: „Affektsperre."
Von Richard S t e r b a : „Die Ausdrucksweise als Charakterwiderstand."
Im Wintersemester 1930 wurde der interessante Versuch unternommen, neben
den abschließenden Darstellungen der einzelnen Fälle eine Krankengeschichte lau-
fend in einwöchentlichen Intervallen zu referieren. Dr. Helene Deutsch über-
nahm arbeitsfreudig dieses Referat und an der Besprechung der jeweiligen Wider-
stands- und Obertragungssituationen wurde der Versuch gemacht, die gegensätz-
lichen Auffassungen auszuarbeiten und zum Einklang zu bringen. Im Winter 1930,
nach der Übersiedlung Dr. Reichs nach Berlin, ging der Vorsitz abermals auf
den Leiter des Ambulatoriums Dr. Hitschmann über. Das Interesse wandte
sich überwiegend der Frage der Gegenübertragung und vor allem der Wirkung
der Persönlichkeit des Analytikers auf den Verlauf der Analyse zu. Die Unter-
suchungen werden an Fällen geführt, die den Analytiker gewechselt hatten. Der
Behandlungsverlauf wird von beiden Analytikern referiert, um die für die Frage-
stellung wichtigen Punkte auf diese Weise zur Diskussion zu stellen. Diese Unter-
suchungen werden noch weiter fortgeführt (das diesbezügliche Referat von Frau
Dr. Bibring-Lehner erscheint demnächst).
Die Arbeit des Seminars hat, wenn auch bis jetzt noch nicht in endgültiger
Form, vielfache Ergebnisse für die technischen und therapeutischen Bemühungen
geliefert, welche in den Publikationen der Mitarbeiter verwertet werden. — Es ist
hier wohl der Ort, den Leitern und Mitarbeitern dieser Studiengemeinschaft, be-
sonders Herrn Dr. Reich, der so lange und mit so viel lebendigem Interesse die
Führung hatte, für die fruchtbaren Anregungen und die nie erlahmende Bereit-
schaft, mit der sie sich immer wieder um die Klärung dieser wichtigen Fragen be-
mühten, die wohlverdiente Anerkennung abzustatten, auf die sie, ungeachtet man-
cher entstandenen Schwierigkeiten, die immer vorübergehender Natur waren, ohne
jeden Zweifel Anspruch besitzen.
Berichte der Abteilungen
1) Die Frequen? des Ambulatoriums (Neurosenabteilung)
Im folgenden soll die vom Ambulatorium in dem ersten Jahrzehnt seines
Bestandes geleistete Arbeit an Hand von statistischem und tabellarischem Material,
dessen Zusammenstellung Herrn Dr. R. S t e r b a zu danken ist, übersichtlich
gemacht werden.
Die Tabelle 1 veranschaulicht die Bewegung der Anmeldungen zur Behand-
lung in den Jahren 1922 bis 193 1. Die Eintragungen bewegen sich durchschnitt-
int. Zeitsdir. f. Psychoanalyse, ' VIII— 2 iS
274
Korrespondenzblatt
lieh zwischen 200 und 250, eine angesichts der Schwierigkeiten des Ambulatori
ziemlich große und seine quantitative Leistungsfähigkeit erheblich übersteige" 1 ?
Zahl. Die Kurve zeigt ein vorübergehendes Ansteigen der Frequenz im Ambula '
jähr 1923/1924, was darauf zurückzuführen ist, daß eine vom breiten Publik
gelesene Wiener Tageszeitung dem Ambulatorium einige Artikel gewidmet hatt"
(Diese Mitteilung wurde weder vom Ambulatorium noch von der Vereinig '
veranlaßt, sondern erfolgte ganz spontan.) Das leichte Absinken der Frequenz im
Jahre 1930/193 1 war an fast allen öffentlichen Ambulatorien in Wien zu beobach-
ten und hängt wohl mit wirtschaftlichen und sozialen Faktoren zusammen. I m a ii
gemeinen hielt sich die Frequenzzahl im Laufe der Jahre, von geringen natür-
lichen Schwankungen abgesehen, ziemlich konstant. Die Zahl der angemeldeten
männlichen Kranken überstieg regelmäßig jene der weiblichen. Wir begnügen u ns
damit, auf diese Tatsache hinzuweisen, und versagen uns, nach Erklärungen zu
suchen. Das gleiche gilt von den Tabellen 3 und 4, die unser Krankenmaterial
nach Geschlecht, Alter und Beruf gruppieren. Die zweite Tabelle zeigt die Grup-
pierung nach Krankheitsgruppen oder -merkmalen. Die Diagnosen wurden nicht
allein nach den Gesichtspunkten der üblichen Krankheitseinteilung, sondern auch
besonders dort, wo eine eindeutige Zuordnung nicht möglich war, nach der am
stärksten hervortretenden Störung gestellt. Die Gesamtzahl der analytisch behan-
delten Fälle beträgt 401. Durchschnittlich waren gleichzeitig 40 bis jo Fälle in
Behandlung. Außerdem sind zahlreiche Fälle in Form von analytisch orientierten
Aussprachen einer psychotherapeutischen Behandlung zugeführt worden.
2) Die Abteilung für Grenz-fälle und Psychosen
Im März 1929 wurde auf Vorschlag des Herrn Professor Schilder dem
Ambulatorium eine Abteilung für psychiatrische bezw. Grenzfälle angegliedert,
Schilder plante einen systematischen Versuch einer Psychotherapie der Psychosen.
Leider wurde seine Arbeit schon im Beginn unterbrochen, da er im Sommer 1929
einem Ruf nach Amerika folgte.
Im Herbst 1929 wurde die Abteilung unter die Leitung von Dr. E. Bibring
gestellt. Im Arbeitsjahr 1930/31 hat Frau Dr. Ruth Brunswick an der
Abteilung ständig mitgearbeitet. Zeitweilig haben verschiedene Mitglieder unserer
Vereinigung ihre ärztliche Mithilfe zur Verfügung gestellt, teils in Form einer
Mitarbeit an den allgemeinen Sprechstunden, teils dadurch, daß sie bereitwillig
Fälle zur Behandlung übernahmen.
Im Laufe ihres kurzen Bestandes hat sich die Abteilung in mehrfacher Hin-
sicht entwickelt. Zunächst werden ihr alle einer Geisteskrankheit verdächtigen
Fälle, bei denen erst eine fortlaufende Beobachtung die diagnostische Entschei-
dung ermöglicht, von der Neurosenabteilung zugewiesen. Bei negativer Entschei-
dung werden diese Kranken der Neurosenabteilung wieder zurückgestellt, die
psychotischen und Grenzfälle verbleiben in der Beobachtung der psychiatrischen
Abteilung und werden teilweise einer Behandlung zugeführt. Diese ist in manchen
Korrespondenzblatt
275
TABELLE l
Bewegung der Patientensahl in den Jahren 1922^1931
Gesamtzahl:
Männlich:
Weiblich
1922/23
159
112
47
1923/24
354
236
118
1924/25
304
182
122
1925/26
24o
164
76
1926/27
271
177
94
1927/28
256
166
9o
1928/29
216
132
84
1929/30
244
153
91
1930/31
201
123
78
TABELLE 3
Alter und Geschlecht
Alter:
Gesdilecht:
1922/23
1923/24
1924/25
1925/26
1926/27
1927/28
1928/29
1929/30
1930/31
Gesamt :
I— 10
männl.
weibl.
I
I
2
3
2
I
2
I
7
5
6
1
2
I
I
—
23
13
11—20
männl.
weibl.
9
3
17
18
22
15
26
12
19
7
18
9
14
6
19
8
9
5
163
83
21—30
männl.
weibl.
64
22
100
4i
92
48
78
35
99
39
88
41
66
39
80
46
68
37
735
348
31-40
männl.
weibl.
22
14
53
31
43
28
38
20
35
20
37
23
35
19
39
23
33
335
202
41-JO
männl.
weibl.
13
6
39
13
23
14
6
11
15
9
10
9
12
10
8
9
9
127
104
5I—6o
männl.
weibl.
3
1
12
9
8
5
4
1
5
4
6
3
6
8
2
4
3
2
49
37
61—70
männl.
weibl.
—
3
1
2
%
2
1
1
4
2
3
—
2
1
1
1
13
13
Summe
IJ9
354
304
240
271
256
216
244
201
2245
hiervon männl.
weibl.
112
47
236
118
182
122
164
76
177
94
166
90
132
84
153
91
123
78
1445
800
18»
:
TABELLE 2
l
Diagnosen :
!l
D!<?2«0ie:
1922/23
1923/24
1924/25
1925/26
1926/27
1927/28
1928/29
1929/30
1930/31
1 Summe
I 7 6
268
Hysterie
7
31
29
16
19
21
2J
20
8
m
Angsthysterie
22
49
39
32
33
24
16
29
24
„ !•',
Aktualneurose
—
4
2
4
7
14
3
—
6
40
'35
76
Zwangsneurose
10
33
23
8
17
IS
11
10
8
1 '■ •',
Neurasthenie
15
10
9
7
10
9
6
5
5
■!'■;
Impotenz
IJ
29
48
40
60
48
54
4i
3i
366
;ji
Gehäufte Pollution
—
—
—
2
2
1
—
1
—
6
Frigidität
2
13
14
8
12
6
6
7
11
79
! ' •.' jÜ!
Depressionen
l6
28
27
29
22
20
14
29
23
208
Hypoch.Beschwerden
I
9
16
9
8
7
7
~5
8
70
...'
Befangenheit
12
25
23
13
18
15
10
20
17
r 53
\\
Arbeitsstörung
—
—
8
2
—
—
4
6
2
22
. ' ■ 'i':''!i"'l
Bescbäft. Neurose
3
6
3
2
2
4
—
3
1
24
15
: .'yU
Asthma nervosum
—
6
1
1
1
2
2
2
Tic
2
3
3
1
2
1
1
1
• 4
18
',:,!!
Stottern
2
12
$
7
4
9
7
2
2
5°
Ij
Zwangsliebe
i
—
—
—
3
1
—
—
3
8
Zwangsonanie
—
—
3
—
2
8
5
2
3
23
('
Exhibition
2
—
—
2
1
—
1
2
2
10
j1
Homos, manifest
7
9
8
3
3
2
2
4
3
41
Homos, latent
1
—
3
2
1
—
2
2
11
;;!,;■■
Sonstige Perversion
1
7
3
6
i
7
2
7
—
34
. ■ '-
Neurot. Charakter
8
15
—
1
3
—
3
4
—
34
■ /'
Psychopathie
6
—
3
7
7
1
6
5
35
Hfl
Debilität
1
7
—
2
2
1
1
—
—
14
■ j'
Zyklothymie
1
2
5
—
1
1
4
5
1
20
.
Schizophrenie
6
9
6
9
12
8
4
10
5
69
,:;.;!
Paranoia
4
13
2
3
—
3
1
5
6
37
';'.
Klimakt. Neurose
—
4
—
1
2
—
1
—
2
10
Epilepsie
1
5
5
7
4
2
5
4
4
37
'
Kephalea
3
9
5
3
3
1
2
3
3
32
'■i'f
Traumat. Neurose
—
4
—
1
2
—
1
—
2
10
;
Erzieh-Schwierigk.
—
—
—
—
n
14
—
1
—
26
:'.'
Verwahrlosung
—
—
1
—
—
—
5
2
1
9
Pseudologie
—
1
1
—
—
1
1
—
—
4
;
Kleptomanie
1
2
—
1
—
—
1
—
—
5
•: >
Poriomanie
—
1
1
—
_
1
3
HU
Süchtigkeit
2
1
2
—
1
2
—
2
1
11
l.
Enuresis
—
—
1
—
1
—
—
1
3
;.;;]
Agrypnie
—
4
1
3
1
1
1
—
3
14
Aktueller Konflikt
—
—
1
1
—
—
2
1
5
lL
Organneurose
—
2
2
5
1
—
1
1
—
12
$
Organ. Krankheit
7
1
2
1
—
2
3
2
4
22
11
159
354
304
240
271
256
216
244
20I
2245
Korrespondenzblatt
*77
TABELLE 4
Beruf und Geschlecht
Beruf:
Angestellte
Arbeiter
Ge-
schlecht
1922/23
1923/24
1924/25
1925/26
1926/27
1927/28
1928/29
1929/30
1930/31
Gesamt:
männl.
weibl.
35
12
55
17
59
21
48
18
54
17
65
20
53
64
16
40
18
470
!53
männl.
weibl.
II
3
67
16
45
14
41
3
46
9
37
13
36
5
39
14
43
5
365
82
Freie Berufe
männl.
weibl.
1
5
34
8
21
8
21
6
17
17
4
16
10
17
9
182
51
Hausgehilf.
männl.
weibl.
1
1
10
2
5
2
9
7
6
1
14
3
7
59
Lehrberuf
männl.
weibl.
6
4
10
2
6
5
4
6
4
3
2
6
2
7
8
4
1
6
4i
43
Ohne Beruf
männl.
weibl.
13
20
32
61 ■
5
62
10
34
2
39
4
29
4
42
1
29
4
26
75
342
Pensionisten
männl.
weibl.
3
2
2
1
2
3
1
1
1
1
1
12
6
Schulkinder
männl.
weibl.
1
1
9
5
10
4
11
4
15
8
17
4
6
4
8
1
2
2
79
33
Studierende
männl.
weibl.
29
3
37
2
23
6
23
1
35
1
21
10
13
2
18
3
15
3
214
3i
Summe
!J9
354
304
240
271
2j6
216
244
201
224J
Fällen nicht ganz identisch mit einer rein psychoanalytischen, da sich in Anpas-
sung an die andersgearteten Krankheiten auch gewisse Abweichungen in der Be-
handlung ergeben. Ein anderer Teil der hierzu ausgewählten Fälle wird einer
psychoanalytisch fundierten Psychotherapie unterzogen. So gliedert sich die Tätig-
keit der Abteilung dreifach: Erstens Beobachtung und Diagnosenstellung, zweitens
auf Psychoanalyse fundierte Psychotherapie geeigneter Fälle, drittens Psycho-
analyse von Grenzfällen bezw. mancher entsprechend ausgewählten, meist inzipien-
ten Psychosen.
Die psychiatrische Abteilung wird nicht allein von der Neurosenstation des
Ambulatoriums beschickt, sondern in zunehmendem Maße direkt, nicht allein
von Psychoanalytikern, sondern auch von außenstehenden Ärzten sowie von
Ambulatorien und Fürsorgestellen.
2 7 8
Korrespondenzblatt
3) Die Ersiehungsberatungsstelle
der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung
Im Jahre 1925 wurde dem psychoanalytischen Ambulatorium eine Erziehungs-
beratung räumlich angegliedert, deren Leitung Frau Dr. Hug-Hellmuth unter
Assistenz von Frau Flora Kraus innehatte. Nach dem Tode der Frau Dr. Hu»
führte Frau Kraus die Beratungsstelle zunächst allein weiter. 1928 übernahm
Frau Dr. E. S t e r b a die Erziehungsberatung.
Die Erziehungsberatung findet wöchentlich einmal in den Räumen des Ambula-
toriums statt. Die Zahl der Konsultationen während der jeweiligen Beratungszeit
schwankt zwischen 10 und 25. Während eines Beratungsjahres kommen ungefähr
40 bis 70 Fälle in die Erziehungsberatung. Die beratenen Kinder und Jugendlichen
rekrutieren sich aus allen mittellosen Bevölkerungsschichten. Sie werden der Er-
ziehungsberatung von Schulen, Vereinen, einzelnen Lehr- oder Privatpersonen,
Schul- und Kinderärzten zugewiesen oder von den Angehörigen in die Beratung
gebracht. Aber auch spontan suchen zahlreiche Jugendliche die Erziehungs-
beratung auf.
Nach sorgfältiger Exploration wird geeignet erscheinenden Fällen eine unent-
geltliche Analyse bei Mitgliedern der Vereinigung oder Ausbildungskandidaten des
Lehrinstitutes vermittelt. Zur Analyse weniger geeignete Fälle werden im Rahmen
der Beratungsstelle einer analytischen Beobachtung oder Beratung zugeführt und
außerdem durch geeignet erscheinende Maßnahmen, wie Schul- oder Milieuwechsel,
entsprechende Aufklärung von Lehrern oder Eltern usw. befürsorgt. Ebenso er-
halten auch viele Jugendliche im Rahmen der Erziehungsberatung die gewünschte
Sexual- oder Berufsberatung.
Anfangs 1932 wurde die Erziehungsberatung erweitert und eine zweite Be-
ratungsstelle in selbständig gemieteten Räumlichkeiten (IX., Wasagasse 10) er-
richtet, unter der Leitung von A. Aichhorn, Anna Freud, R. FI offer
und Ed. S t e r b a.
Lehrinstitut und Ambulatorium
Von Dr. Helene Deutsch
Die Entstehung und Entwicklung des „Wiener Lehrinstitutes" als Ausbildungs-
stätte der theoretischen und praktischen Analyse ist eng mit den Schicksalen des
Ambulatoriums verbunden. Beide Institutionen haben eine gemeinsame Wurzel;
ihre Trennung entstand unter dem Drang von zum Teil praktischen Notwendig-
keiten und ihr Zusammenhang ist durch ebensolche Motive gewährleistet.
Zu den praktischen Anlässen der Trennung gehörte vor allem die Tatsache,
daß die offiziellen Vorschriften der Behörden nichtärztlichen Analytikern nicht
gestatten, am Ambulatorium zu arbeiten. Somit mußte für dieselben eine ander-
weitige Arbeitsstätte geschaffen werden. Außer diesem praktischen Trennungsmotiv
lagen noch andere Gründe zur Scheidung zwischen Unterricht und Therapie vor.
Korrespondenzblatt 279
So "eht z. B. das Interesse eines Ambulatoriums — und es soll auch so sein —
in der Richtung der größtmöglichen therapeutischen Erfolge; daher muß auch nach
diesen Gesichtspunkten die Auswahl der Patienten erfolgen. Für Ausbildungs-
zwecke dagegen ist es notwendig, vor allem solche Fälle zu berücksichtigen, die
Jen didaktischen Zwecken am meisten entsprechen. Hier ist jedoch gleichzeitig
eine der festen Brücken, die beide Institutionen miteinander verbindet. Es muß
nämlich beiden oben erwähnten Notwendigkeiten — der therapeutischen des Am-
bulatoriums und der didaktischen des Lehrinstitutes — in einem Kompromiß ge-
dient werden. Deshalb ist der jeweilige Leiter des Ambulatoriums ein Mitglied des
Lehrausschusses und vice versa sind Mitglieder des Lehrausschusses zum Teil Mit-
arbeiter des Ambulatoriums.
Die weitere Interessengemeinschaft liegt darin, daß das Lehrinstitut durch die
Ausbildung neuer, junger Analytiker dem Ambulatorium auf ihre Eignung geprüfte
und entsprechend vorgebildete ärztliche Hilfskräfte zuführt. Die am Ambula-
torium angestellten Hilfsärzte rekrutieren sich daher durchwegs aus den Schülern
des Lehrinstitutes. Dieses wiederum ist auf das Ambulatorium insoferne angewiesen,
als der praktische Teil der Ausbildung seiner ärztlichen Kandidaten am Ambula-
torium vor sich geht.
So zeigen sich die Interessen beider Institutionen aufs engste miteinander ver-
knüpft. Damit ist auch gesagt, daß das Lehrinstitut eine durch eine Art Sprossung
entstandene jüngere Schwesterinstitution des Ambulatoriums ist, aber genetisch und
organisch in einer solchen Verbundenheit mit ihm steht, daß seine Lebensgeschichte
gleichzeitig einen Teil der Lebensgeschichte des Ambulatoriums darstellt.
Die Gründung des Lehrinstitutes — der offizielle Titel lautet jetzt „Lehr-
ausschuß" — als einer selbständigen Arbeitsgemeinschaft im Rahmen der "Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung erfolgte zu Ende des Jahres 1924. Die ersten
Schritte auf neuen Wegen waren durch das bereits bestehende Berliner Institut vor-
gezeichnet. Es handelte sich nur darum, die dortigen Erfahrungen unseren Verhält-
nissen anzupassen. Im Laufe der Jahre rückte die Frage der Ausbildung in der
Analyse immer mehr in den Mittelpunkt der Probleme der internationalen psycho-
analytischen Bewegung und ihrer offiziellen Vertretungen. Die internationalen Kon-
gresse beschäftigen sich andauernd mit dieser Frage und das Resultat der internatio-
nalen Beratungen war die Schaffung eines Ausbildungsprogramms, dem sich sämt-
liche nationalen Gruppen übereinstimmend unterworfen haben.
Mit der Gründung einer „Internationalen Unterrichtskommission", die aus den
Delegierten einzelner Ortsgruppen besteht, entstand somit ein gemeinsames Aus-
bildungsprogramm für sämtliche Länder, in denen die Psychoanalyse unterrichtet
wird. In den letzten Jahren wurden noch andere Ausbildungsstellen gegründet
(London, Frankfurt a. M. und in der neuesten Zeit New York und Budapest),
deren gemeinsame Arbeit durch die Gemeinsamkeit des Programms gegeben ist.
Während im Gründungsjahr die Zahl der Ausbildungskandidaten des Wiener
Lehrinstitutes 6 betrug, stieg sie im letzten Jahr auf 3$.
Leider bleibt die Zahl der inländischen Kandidaten im Verhältnis zu den aus-
ländischen auffallend zurück. Diese nicht sehr erfreuliche Feststellung ergibt sich
nicht aus einem geringeren Interesse an der Analyse im Inland. Im Gegenteil, eine
große Anzahl junger, strebsamer Menschen, Mediziner und Pädagogen, kann nur
in „Vormerkung" angenommen werden, weil die materielle Leistungsfähigkeit des
Lehrinstitutes trotz der Opferbereitschaft seiner Mitarbeiter es nicht erlaubt, allen
die es sicher verdienten, die Erfüllung ihrer Ausbildungswünsche zu ermöglichen
Die finanzielle Lage des Inlandes hat es schon lange mit sich gebracht, daß nur
ganz vereinzelte Bewerber die Kosten ihrer Ausbildung selbst tragen können.
Es ist wohl anzunehmen, daß die Aufgaben des Lehrinstitutes weiter in dem-
selben Tempo zunehmen werden wie in den letzten Jahren. Die Notwendigkeit
der Ausbildung von Therapeuten wird unter dem Drucke der Kranken, die am
Ambulatorium Hilfe suchen, immer größer werden. Die pädagogische Problematik,
die Erkenntnis der Jugendfürsorger und der Pädagogen, daß sie ohne tiefere
psychoanalytische Erkenntnisse nur schwer an die Lösung der Erziehungsprobleme
herantreten können, stellen das Lehrinstitut vor weitere wichtige Aufgaben in der
pädagogischen Richtung.
Aus diesem vergrößerten Aufgabenkreis erwachsen unserem Lehrinstitut neue
Verpflichtungen gegenüber den Bedürfnissen der Lehrer und Erzieher, die es in
Zukunft jedoch nur mit Hilfe und tatkräftiger Unterstützung weiterer Kreise wird
erfüllen können.