1934
Heft 4
XX. Band
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Offisielles Orsan der InUrnationaUn Psy<JioanalyriscJi«n Vereinisuns
Hcrausscscbcn von
Sigm* FreuJ
Unter Mitwirkung von
Felix Boehm
Berlin
Girindrashekhar Bose
Kalkutta
A. Bofcl N. L. Bützsten Ä. A. Brill
Paris Chicago New York
Luciie Doolcy M. Eitingon S. Hollos Erncst Jones
Washington Jerusalem Budapest London
S. J. R. de Monchy J. H. W. van Opfiuijsen Pkiiipp Sarasin
Rotterdam Haag Basel
J. W. Kannabidi
Moskau
Z. K. Yabe
Tokio
Paul Federn
Wien
redigiert von
Heinz Hartmann
Wien
Sandor Rado
New York
EdoardoWeiß ..Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen
Anfall und zum Trauma
HeinrichMeng .Das Problem der Organpsychose. Zur seelischen Be^
handlung organisch Kranker
Eduard Hitschmann. . . Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes
Otto Fenichel .Über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung
Hellmuth Kaiser. ..... Probleme der Technik
Barbara Low .Die psychischen Entschädigungen des Analytikers
Emil Simonson. .Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen
Konversionshysterie durch Katharsis
^rjö Kulovesi .Ein Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls
Ludwig Eidelberg. . . . . Zur Erniedrigung des Liebesobjekts
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A
XX. Band
1934
Heft 4
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum
hysterischen Anfall und zum Trauma'
Von
Edoardo Weiß
Roma
Als Ergebnis aus den Analysen einer traumatischen Neurose und von etwa
20 Fällen von Straßenangst und ähnlichen Phobien ergab sich eine enge Ver¬
bindung dreier Probleme: es sind dies die Bedeutung des hysterischen Anfalls,
des seelischen Traumas und der Angst bei der Agoraphobie, als Paradigma
des phobischen Mechanismus im allgemeinen.
I
Nach der ursprünglichen Auffassung Freuds* ist der hysterische Anfall
„nichts anderes als ins Motorische übersetzte, auf die Motilität projizierte,
pantomimisch dargestellte Phantasien“. Diese Phantasien, welche, wie bekannt,
unbewußt sind, werden wie die latenten Traumgedanken einer Entstellung
unterworfen, wobei wir Verdichtung, mehrfache Identifizierung, antagonisti¬
sche Verkehrung der Innervationen und Umkehrung der Zeitfolge vorfinden.
Nach Freud ist der hysterische Anfall ein Ersatz einer ehemals geübten und
seither aufgegebenen autoerotischen Befriedigung, und der Bewußtseinsveflust,
die Absence des hysterischen Anfalls ginge „aus jenem flüchtigen, aber ün-
verkennbaren Bewußtseinsentgang hervor, der auf der Höhe einer jeden inten¬
siven Sexualbefriedigung zu verspüren ist“.
Es ist ferner bekannt, wie Freud den arc de cercle des großen hysteri¬
schen Anfalls auffaßt: er stellt eine „energische Verleugnung einer für den
sexuellen Verkehr geeigneten Körperstellung durch antagonistische Inner¬
vation dar“. Vor lo Jahren habe ich eine Deutung des arc de cercle ver-
1) Nach einem auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern am
30. August 1934 gehaltenen Vortrag. c u «r -dj
2) S. Freud: „Allgemeines über den hysterischen Anfall“, Ges. Schritten, iJei. V.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
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PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Edoardo Weiß
öffentlieht,^ die sich mir aus einem unzweideutigen Traume einer Patientin
ergab. Freud selbst lehrt uns, daß der Traum oft den Sinn des Anfalls er¬
läutert. Meine hysterische Patientin träumte nämlich, den arc de cercle
auszuführen, wobei sie das Gefühl hatte, dadurch etwas in der Klitorisgegend
herauszupressen, und tatsächlich fühlte sie im Traume, wie sich die Klitoris
zu einem hervorspringenden Auswuchs gestaltete. Dazu assoziierte sie das
Auspressen des Stuhles und zum Auswuchs fiel ihr der Penis ein. Durch den
arc de cercle hat sie sich von der konkaven (weiblichen) in die konvexe,
hervorspringende (männliche) Lage versetzt. Sie preßte den Penis heraus, in¬
dem sie mit dem ganzen Leibe mithalf. Die Analogie mit der Geburt ist
deutlich erkennbar. So können wir zur Ausführung Freuds über den arc
de cercle ergänzend hinzufügen: Die energische Verleugnung einer für den
sexuellen Verkehr geeigneten Körperstellung — Freud meint ja implizite die
weibliche Stellung — wird noch durch den Erwerb des Penis unterstützt.
Rado^ hat diesen Begriff des phantasierten Penis, den er Wunschpenis nennt,
vor kurzem sehr gründlich ausgearbeitet und auf seine Ubiquität beim Weibe
hingewiesen.
In unserem Falle scheint es, daß das Sexualziel unserer Patientin im Erwerb
des Penis bestand. Die Analyse ergab, daß sie in ihrer Kindheit jede genitale
Befriedigungsmöglichkeit infolge der Entdeckung ihrer vermeintlichen Kastra¬
tion eingebüßt hatte. Durch den arc de cercle macht sie den vermeint¬
lichen Defekt wieder gut. Der Besitz des Penis war die unbewußte Bedingung
für eine sexuelle Befriedigung und da sehen wir, daß sich beim arc de cercle
das Sexualziel auf diese Bedingung verschoben hat. Diese Art von Verschie¬
bung finden wir ganz deutlich auch im folgenden Falle:
Eine Frau unterhielt mit einem Manne, den sie gerne geheiratet hätte, ein Liebes¬
verhältnis. Sie war von ihrem Ehegatten geschieden, weil die Ehe kinderlos ge¬
blieben war. Der zweite Mann, mit dem sie das Verhältnis unterhielt, konnte sich
nicht entschließen, sie zu heiraten, weil er sich ebenfalls Kinder wünschte. Ihre
Unfruchtbarkeit stellte für sie eine starke narzißtische Kränkung dar. Sie gelangte
mit ihrem Freunde nie zum vollständigen Orgasmus und blieb nach dem Sexualakte
bloß stark sexuell gereizt. Da bekam sie jedesmal nach dem Verkehr einen hysteri¬
schen Anfall: sie verlor das Bewußtsein, klagte über Magenschmerzen, mußte dann
erbrechen; dann kam sie zu sich und fühlte sich wohl und erleichtert. Der
hysterische Anfall ergänzte den sexuellen Orgasmus, war gleichsam ein Ersatz für’die
ausgebliebene Endphase desselben. Aber der Sinn des Anfalles war nicht der des
Sexualverkehrs, sondern der eines Schwangerschaftszustandes. Das Erreichen des
sexuellen Orgasmus war durch eine starke narzißtische Kränkung verhindert ge¬
wesen, die sich ursprünglich auf den Penismangel, in zweiter Folge auf den Kindes¬
mangel bezogen hat. Das Sexualziel hat sich also auch hier auf die phantasierte
Wiedergutmachung der seelischen Kränkung verschoben, ganz analog wie im ersten
Falle.
3) E. Weiß: „Zum psychologischen Verständnis des arc de cercle“. Int. Zeitschr. f.
Psychoanalyse, Bd. X, 1924.
4) S. Rado: „Die Kastrationsangst des Weibes“, Int. psychoanalytischer Verlag, 1934.
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 421
Der hysterische Anfall führt aber nicht immer zu einer Entladung des in¬
neren, allmählich entstandenen Spannungszustandes, wie bei dieser Frau. Es
gibt vielmehr Anfälle, die befriedigen und solche, die nicht nur nicht befriedi¬
gen, sondern sogar sozusagen selbst als neuerliches Trauma wirken.
Infolge unbewußt festgehaltener Zusammenhänge zwischen einer libidinösen
Abfuhr und der Provokation von Destruktionskräften ziehen Sexualregungen
destruktive Besetzungen nach sich. Bei jedem Versuche der Libido, zum
Durchbruche zu kommen, so auch beim hysterischen Anfall, kämpft eine
libidinöse mit einer destruktiven Regung. Wir schließen auf das Überwiegen
des Todestriebes, wenn der Anfall erschütternd und traumatisch wirkt; und
nehmen an, daß die Libido größeren Einfluß genommen hat, wenn der Anfall
Erleichterung gebracht hat. Allerdings ist der Sieg der Libido oft nicht reali¬
tätsgerecht, wie z. B. wenn er beim Weibe im phantasierten Erlangen des
Penis besteht.
Ich möchte an einem Beispiel den Unterschied zwischen einem traumati¬
schen und einem erlösenden hysterischen Anfall bei derselben Patientin
dartun;
Ein 13jähriges Mädchen bekam 9 Monate nach ihrer ersten Menstruation folgenden
Anfall: Sie hatte während einer Unterrichtspause das Schulzimmer kaum verlassen,
als sie das Gefühl bekam, eine andere Person zu werden. Sie fühlte, daß sie selbst und
die Außenwelt sich stark veränderten, was sie als unsagbar schreckhaft empfand. Sie
sträubte sich sehr dagegen, denn sie wollte ihr eigenes Ich festhalten, war aber da¬
gegen machtlos, und ihr Angstzustand darüber wuchs dermaßen, daß sie für eine
kurze Weile das Bewußtsein vollständig verlor. Als sie zu sich kam, hörte sie sich laut
schreien; durch diesen Schrei des fürchterlichsten Entsetzens kam es zur Lösung des
Anfalls, als ob sie dadurch etwas aus ihrem Inneren auf oralem W^ege herausgestoßen
hätte. Nach dem Anfalle befand sie sich am Boden kniend. Ihre Angst hatte auch
zum bewußten Inhalt die Befürchtung, sie könnte nicht mehr zu ihrem Ich zurück¬
kehren und dieses Moment war für sie das fürchterlichste bei dieser Situation.
Diese Anfälle wiederholten sich dann öfters, mitunter auch mehrmals täglich, an¬
fangs auch zu Hause und waren von dem unwiderstehhehen Impuls begleitet, sich zu
Boden zu werfen. Später kamen ihr die Anfälle nur außerhalb des Hauses, im
Freien, auf der Gasse. Aus Angst, auf der Gasse oder in einem öffentlichen Lokale
einen derartigen Anfall zu bekommen, fürchtete sie sich nun, das Haus zu verlassen.
Das Ausgehen begünstigte die Anfälle. Obwohl die Anfälle allmählich im Verlauf
von Jahren seltener wurden, wurde ihre Angst immer größer und die Anfälle konnten
nur auf Kosten ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Schließlich hatte sie
es fast ganz aufgegeben, ihr Haus zu verlassen, führte ein vollkommen interessenloses
Dasein, war stets deprimiert, abgesperrt gegen die Außenwelt und hatte keine Hoff¬
nung mehr, ihren qualvollen Zustand, der sie in ihrer Wohnung, mitunter in ihrem
Zimmer, gefangen hielt, jemals ändern zu können. Etwa 9 Jahre nach dem Aus¬
bruch dieser Phobie kam sie zu mir in analytische Behandlung und wurde nach etwa
2V2 Jahren fast hergestellt.
Die Analyse ergab folgenden Sinn der Anfälle: Identifizierung mit der gebärenden
Mutter. Die Patientin hatte die unbewußte Phantasie, die Mutter beim Vater zu
ersetzen, um von ihm ein Kind zu bekommen. Es handelte sich um eine orale Ge¬
burt, wie sich die Patientin In ihrer Kindheit — sie hatte eine ungemein starke orale
29*
422
Edoardo Weiß
Fixierung — die Geburt tatsächlich vorgestellt hatte. Die hochgradige Depersonali¬
sation beim Anfalle war durch die intensive Identifizierung mit der Mutter bedingt
und bedeutete: ich bin es nicht, ich bin die Mutter. Die andere Person, in welche
sie sich umwandeln fühlte, hieß, ohne daß sie wußte warum, Marie, und das war
der zweite Name ihrer Mutter. Die Veränderung, in welcher sie für immer zu ver¬
bleiben fürchtete, bedeutete auch sterben, denn sie hatte als Kind, anläßlich der Ge¬
burt eines Brüderchens, der Mutter bei der Geburt den Tod gewünscht; nun stand
ihr in ihrer Mutteridentifizierung dasselbe Los bevor, das auch durch die Angst
„nicht mehr zum Ich zurückzukehren“ ausgedrückt ist. Schließlich ging aus un¬
zweideutigen Träumen und Einfällen hervor, daß das Gefühl der Veränderung auch
den Sinn der Mutilation, d. h. der Kastration hatte.
Mit dem Fortschreiten der Analyse wiederholten sich diese Anfälle nicht mehr
und die Patientin wurde viel freier. Erst nach zwei anfallsfreien Jahren bekam sie
während der analytischen Stunde einen Anfall ganz neuer Art: Sie blieb dabei voll¬
kommen bei klarem Bewußtsein, bekam heftige Kontraktionen der Bauch-, Brust-
und Halsmuskulatur und den typischen globus hystericus, hüstelte in ange¬
strengter Weise, wie um etwas aus dem Halse herauszubekommen, und wälzte sich
auf dem Diwan herum. Als ich ihr sagte, daß diese neuartigen, harmlosen Anfälle
dafür bürgten, daß die früheren, fürchterlichen nicht mehr auftreten werden, lachte
sie vergnügt auf, trotz der noch andauernden Krämpfe. Ja, diese wurden noch
heftiger, so daß sie vom Diwan herunterzufallen drohte und ich ihr zu Hilfe eilen
mußte. Da schlang sie die Arme um meinen Hals, wie um dadurch irgendwie einen
Halt zu finden, ließ mich eine Zeitlang nicht los und biß mich in ihren Krämpfen
auch etwas am Finger. Nach diesem Anfalle fühlte sie sich wohl und berichtete,
dabei auch Genital-, und zwar Vaginalempfindungen verspürt zu haben.
Die Nacht darauf träumte sie, daß sich dieser Anfall hei mir in der analytischen
Stunde wiederholte, wobei sie mich ins Ohr heißen wollte. Da wurde ihr im Traum
bewußt, daß sie den Anfall absichtlich verlängerte, damit ich sie küsse. Wir sehen,
daß dieser Anfall in eine Sexualbefriedigung auslaufen wollte. Ich klärte sie über
den sekundären Krankheitsgewinn auf und forderte sie auf, sich Einfälle zum Traume
kommen zu lassen. Anstatt aber zum Traume zu assoziieren, bekam sie abermals einen
gleichen, wenn auch schwächeren Anfall. Ich forderte sie abermals, während des
Anfalles, auf zu assoziieren, da ließ sie mich durch einen Wink verstehen, daß
ihr ein Einfall gekommen sei. Als sie wieder sprechen konnte, teilte sie mir mit, daß
ihr während des Anfalls, den sie gar nicht tragisch nahm, eine neue Erinnerung auf¬
getaucht sei: Bei einem ihrer ersten Anfälle, sie befand sich damals gerade mit ihrem
Vater auf der Gasse, hatte sie ihm instinktiv ganz flüchtig nach seinem Penis ge¬
griffen. In den nächsten Tagen kamen ihr Fellatiophantasien zum Bewußtsein, dann
Einfälle über Kindesbewegungen im Mutterschoß usw. Infolge weiterer Einfälle, neu
aufgetauchter Erinnerungen und infolge meiner Deutungen, die sich übrigens von
selbst ergaben, normalisierte sich ihre Sexualität immer mehr und die Anfälle haben
sich nicht mehr wiederholt.
Während die ersten Anfälle schließlich in Tod und Kastration endeten, war der
Sinn der letzteren der einer gelungenen Sexualbefriedigung. Sie bedeuteten: Ich be¬
komme schließlich doch vom Vater den Penis, werde von ihm geschwängert und
gebäre, ohne dabei sterben zu müssen.
II
Es ist natürlich, daß das Ich mit Angst reagieren muß, jedesmal wenn es
das Herannahen eines traumatisch wirkenden Anfalls verspürt. Der Anfall
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 423
selbst stellt die gefürchtete Situation dar. In diesem Fall hat das, was der
Patient befürchtet, auch einen bewußten Inhalt, und zwar: die Wiederholung
des schon erlebten hysterischen Anfalls, dessen latenter Sinn ihm unbewußt
ist. Es gibt aber auch innere, traumatisch wirkende Erlebnisse, die der Patient
mit Worten meistens nicht beschreiben kann; da gibt er an, sich furchtbar
schlecht zu fühlen, wobei er ein bedrückendes Angstgefühl verspürt. Hier ist
die Angst das einzig auffallende Moment, und wir sprechen daher in solchen
Fällen nur von einem Angstanfalle schlechthin. In Wirklichkeit gilt auch
hier die Angst einem schwer beschreibbaren Analogon des hysterischen An¬
falles, das sich auf die Gefühlssphäre des Ichs beschränkt und keinen motori¬
schen Ausdruck findet. Es scheint so, als ob die Angst solcher Patienten, im
Gegensätze zum Anfallshysteriker, bloß dem Angstanfalle gelte. Das den
Angstanfall provozierende innere Erlebnis besteht aus höchst qualvollen
Empfindungen, ebenso verschiedener Art wie die Erscheinungsformen des
hysterischen Anfalls es sind, und ebenso psychologisch determiniert. Oft sind
die Patienten von Entfremdungsgefühlen betroffen oder klagen über Schwindel¬
gefühle, andere spüren beim Gehen ihre Beine nicht, oder geben an, sonder¬
bare, schwer zu beschreibende Empfindungen beim Gehen zu verspüren, wie
z. B. als träten sie nicht auf festen Boden oder als schritten sie am Rande
eines Abgrundes, auf einer gekrümmten Fläche u. dgl. mehr.
Wie sucht sich nun das Ich vor der Wiederholung solcher innerer trauma¬
tisch wirkender Erlebnisse zu schützen? Das Verteidigungssystem besteht darin,
daß das Ich versucht, alle jene Momente zu vermeiden, welche dieses Erlebnis
begünstigen, hingegen alle jene aufzusuchen, die es hintanhalten. Die hysterische
Sexualanästhesie und die ihr zugrunde liegende Verdrängung sind ganz all¬
mählich und lange vorher entstanden. Begegnet nun das Individuum in der
Wirklichkeit einer Situation, welche eine unbewußte Sexualphantasie bei ihm
anregt, so kommt die aktuell gesteigerte Libido zum Durchbruch, trotz der
stark besetzten, mit ihr im Zusammenhang stehenden destruktiven Repräsen¬
tanz. Herrschen die destruktiven Besetzungen über die libidinösen vor, so
kommt es eben zu dem beschriebenen Schockerlebnis und von nun an
fürchtet sich das Ich vor allen jenen äußeren Situationen, welche die gefähr¬
lichen, unbewußten erotischen Phantasien anregen oder die Vorstellungen
von deren bösen Folgen beleben können. Die Straßenangst schließt sich in
der Regel an einen sogenannten Angstanfall, in seltenen Fällen an einen trau¬
matisch wirkenden hysterischen Anfall, resp. an ihm vorausgehende Angst¬
erlebnisse an. Wie Freud aufgedeckt hat, gilt die Angst den bösen Folgen
der Sexualversuchung, wozu die Straße die Gelegenheit bietet, namentlich
wenn man ohne Begleitung ausgeht. Im Falle der Klaustrophobie brachte das
Alleinsein in Versuchung zu onanieren und darauf stand Kastration. In den
von mir analysierten Fällen ergab sich ferner, daß das Ausgehen, sich vom
Hause entfernen, hauptsächlich folgende drei Bedeutungen hat: Erstens: Ich
424 Edoardo Weiß
bin emanzipiert, bin erwachsen wie die Eltern, ich tue, was mir beliebt, ich
bin Herr meiner selbst, bin der Obhut der Eltern entzogen — und diese
Situation bringt eben in Sexualversuchung. Zweitens bedeutet es: sich der
Öffentlichkeit zeigen, exhibieren. Drittens haftet an der Vorstellung des
Ausgehens der Sinn von der Loslösung vom mütterlichen Schutze. Deshalb
trifft man die Straßenangst so häufig als akzessorisches Symptom bei Zustän¬
den hochgradiger Hilflosigkeit an; oft stellt sich bei ihr sekundär eine Re¬
gression bis in die Zeit der infantilen Abhängigkeit von der Mutter ein, und
zwar auch infolge der inneren Aggression, der man sich bei den verschieden¬
sten Leiden ausgesetzt fühlt, und vor der man sich schützen will.
Viele Agoraphobiker haben in der Kindheit den Vater oder die Mutter
verloren. Allerdings ergibt sich aus der Analyse, daß hier auch ein anderes
Moment sie zur Angst vorbereitete: Die Erfüllung ihrer gegen die Eltern ge¬
hegten Todeswünsche. Was das Gefühl des Verlassenseins anlangt, so braucht
es nicht durch den Tod eines Elternteiles entstanden zu sein, denn in vielen
Fällen fühlten sich die Patienten in der Kindheit von der Mutter (Vater) ab¬
gewiesen, resp. in ihren Gefühlsäußerungen und Aussagen nicht ernst genom¬
men. Und von nun an haben sie innerlich die Eltern abgesetzt, das Vertrauen
in sie wurde zumindest stark erschüttert.
Für den manifesten Ausbruch einer sozusagen schon keimenden und bloß
verhüllten Agoraphobie sind mitunter Momente oberflächlicher Natur ent¬
scheidend, die seit jeher von Freud berücksichtigt wurden, und auf welche
sich die Aufmerksamkeit der Adler sehen Schule unter Vernachlässigung
alles Tieferen besonders konzentrierte. Diese sind dadurch gegeben, daß das
Leben an das Ich größere Anforderungen stellt. Häufig bricht nämlich die
Straßenangst in einer bestimmten Lebensphase des Patienten aus, in welcher
er einen Schritt weiter zu seiner Unabhängigkeit zu machen hatte: Beim Über¬
gang in eine höhere Schule, nach Beendigung seiner Studien, am Anfänge
seiner Berufstätigkeit, kurz, wenn die äußeren Umstände ihn zwingen, sich
reifer und erwachsener zu fühlen. Da scheint der Ausbruch der Straßenangst
auszudrücken, daß seine Realitätsanpassung an der Notwendigkeit seiner
Emanzipation gescheitert ist und tatsächlich macht der Patient den Eindruck,
wieder ein Kind geworden zu sein, das nicht mehr allein gehen kann — ge¬
nauer ausgedrückt: nicht allein durchs Leben gehen kann. Abraham® spricht
von der Psychogenese der Straßenangst bei einem fünfjährigen Kinde, das kein
„Spazierkind^S sondern ein „Mutterkind^' sein wollte.
Der Sinn des Entfremdungsgefühles, das die Straßenangst oft begleitet, ist
der des Nichtannehmenwollens der Realität. Das Ziel des Destruktionstriebes
ist dabei, das Ich einer fremden, lieblosen Welt preiszugeben.
Damit sind die Bedeutungen, welche die Straßenangst in den einzelnen
5) K. Abraham: „Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindesalter“, Int. Zeitschr.
f. Psychoanalyse, I, 1913.
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 425
Fällen haben kann, noch keineswegs erschöpft. Ich habe bei weiblichen Pa¬
tienten, wie z. B. im oberwähnten Falle mit den traumatischen hysterischen
Anfällen, oft feststellen können, daß „allein ausgehen, Einkäufe besorgen usw.^*
die Mutter sein oder sie ersetzen heißt; die Tochter wollte selbstverständlich
vor allem die Mutter beim Vater ersetzen. Durch diese Identifizierung intro-
vertieren sich auch die der Mutter geltenden feindseligen Regungen, unab¬
hängig davon, ob die Phobikerin ihr den Tod gerade auf der Straße gewünscht
hatte, unabhängig vom Wunsche also, daß sie nicht mehr zurückkehre, wie
es Helene Deutsch® in ihrer sehr interessanten Arbeit dargelegt hat. Diese
Forscherin fand bei der Straßenangst einen der Zwangsneurose ähnlichen
Mechanismus vor. In einem Vorstadium war ihre Patientin in übertriebenem
Maße besorgt gewesen, so oft sich die Mutter beim Nachhausekommen ver¬
spätete; es bestand bei ihr der unbewußte Wunsch, die Mutter möge auf der
Straße umkommen. Infolge ihrer Identifizierung mit ihr fürchtete sie, das der
Mutter-gewünschte Los selbst zu erleiden. Frau Deutsch hält „diese in der
Ödipuskonstellation bedingte Identifizierung mit dem Objekte, dem die feind¬
seligen Tendenzen gelten, für das Charakteristische der Platzangst^*. Ich fand
in einem anderen Falle, daß für eine Patientin das Vordringen auf einer Straße,
namentlich in einem Tunnel, die Bedeutung des Eindringens in die Vagina
hatte und ihre Phobie hieß: „Ich bin kastriert, ich kann nicht eindringen,
nicht weitergehen.** Dabei versagten ihr die Beine. Bef einer anderen Patientin
bedeutete das Schreiten auf dem Boden, auf der Erde „auf den Leib der Mutter
treten, deren Leibesfrucht töten**, denn sie sollte es sein, die vom Vater ge¬
schwängert war, nicht die Mutter. So zeigt sich, daß der Situation des Aus¬
gehens, des Auf-die-Straße-Gehens usw. neben den drei konstant vorkommen¬
den Bedeutungen noch andere, individuell verschiedene Bedeutungen zu¬
kommen.
Jedes Moment, das einen tatsächlichen oder symbolischen Schutz vor der
manifest befürchteten Gefahr bietet, wirkt beruhigend, z. B. die Nähe eines
Arztes oder einer Apotheke; ebenso verleiht auch alles, was symbolisch eine
Reparatur der unbewußten traumatischen Schädigung bedeutet oder Schutz
vor derselben bietet, dem Phobiker ein Gefühl größerer Zuversicht. Hingegen
verstärken assoziative Zusammenhänge mit Einzelheiten, die zufällig frühere
traumatische Situationen begleitet hatten, den Angstzustand. Was immer an
die Gefahr erinnert, namentlich wenn dabei die unbewußte Sexualversuchung
gereizt wird, läßt die Angst anwachsen. Wenn beispielsweise eine Frau sich
in einer Allee sicherer fühlt als auf einer baumleeren Straße, oder durch das
Tragen eines bestimmten Hutes, eines bestimmten Kleides, das für sie eine
Penisbedeutung hat, ein Gefühl größerer Zuversicht gewinnt, so kämpft sie
noch immer mit ihrem Kastrationskomplex. Eine Patientin, welche mit-
6 ) H. Deutsch: „Zur Genese der Platzangst“, Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd.XIV,
1928.
426
Edoardo Weiß
unter hauptsächlich große Plätze fürchtete — sie konnte die große „Leere'‘
nicht vertragen , träumte einmal, daß der Analytiker mit ihr sexuell ver¬
kehren mußte, aber zu ihrer großen Enttäuschung fehlte ihm der Penis: an der
betreffenden Stelle befand sich bloß eine ,,Leere^‘ (von der Patientin selbst ge¬
brauchter Ausdruck: „un vuoto“). Dann verwandelte sich der Analytiker
in ihre Mutter, welche normalerweise an Stelle des gewünschten Penis die
„Leere*" aufweist. Daraus ersieht man, daß der freie Platz, dessen Angst
verursachende Rolle der Platzangst (Agoraphobie) den Namen gegeben hat, die
kastrierte Mutter bedeutet. Wahrscheinlich folgt man auch einem
inneren Bedürfnis, wenn man in die Mitte eines Platzes ein Standbild, einen
Obelisken, und mit Vorliebe einen Springbrunnen setzt. Daß die Begleitung
eines Kindes auf die phobische Angst mancher Frauen beruhigend wirkt,
wurde stets dahin gedeutet, daß die Anwesenheit des Kindes die Frau vor Ver¬
suchungen schützt. Das mag wohl sein. Aber ich habe auch öfters feststellen
können, daß die Begleitung eines Kindes im Sinne einer Triebbefriedigung
wirken kann. Wenn die betreffende Frau ein Kind, das der realitätsgerechte
und normale Ersatz des Penis ist, besitzt, so ist ihre narzißtische Kränkung da¬
durch gemildert. Einer meiner agoraphobischen Patienten konnte nicht aus¬
gehen, wenn er nicht einen Stock mitnahm; er konnte aber natürlich nicht
angeben, wie dieser ihm im Notfälle hätte helfen können. Viele an die orale
Stufe fixierte Patienten treffen Vorkehrungen, um im Notfälle sofort etwas
zum Essen zu haben, da sie das Eintreten plötzlicher Schwächezustände durch
Hunger befürchten.
Ein agoraphobischer Patient wurde in Rom in der belebten Via Nazionale von
seiner Angst befallen. Da erreichte er das Gebäude der faschistischen Ausstellung,
welches ihm den Anlaß zu Tagträumen gab; Er phantasierte, sich um die faschi¬
stische Sache sehr verdient zu machen und stellte sich den Duce vor, wie er ihm an¬
erkennend auf die Schulter klopft. Da fühlte er sich plötzHch angstfrei und setzte
seinen Weg munter und gehobenen Hauptes fort. Im allgemeinen zeigen die agora¬
phobischen Patienten das Bedürfnis, einer Autoritätsperson als Vater-Imago ergeben
zu dienen und von ihr anerkannt zu werden. Sie haben gewöhnlich bHndes Ver¬
trauen zu einer solchen Imago — es sind Leute, die die meisten ihrer Überzeugungen
dem Autoritätsglauben verdanken. Einer meiner Patienten besaß eine reiche Samm¬
lung von Photographien des Königs in allen möglichen Stellungen, ein anderer solche
des Duce. Seltener dienen Phobiker in religiöser Ergebung Gott dem Vater.
Als Gegenstück dazu erwähne ich den übertriebenen Stolz oder hochgradi¬
gen Eigensinn bei vielen agoraphobischen Frauen, den sie mitunter durch
ein freundliches Wesen oder durch eine zur Schau getragene Bescheidenheit
zu verbergen wissen. Andere machen aus diesen Charaktereigenschaften kein
Hehl. Bei der Analyse solcher Frauen muß man besonders bedacht sein, ihren
Stolz nicht zu kränken.
Ein Patient verspürte jedesmal nach einem Angstanfall das Bedürfnis, sich
einen Einlauf zu machen.
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 427
Auch ist bekannt, daß die Phobiker im allgemeinen große Sorgfalt der
Pflege ihrer Leibwäsche zuwenden; sie begründen dies mitunter damit, daß sie
sich nicht schämen wollen, falls sie im Notfälle entkleidet werden müßten.
Die oben erwähnte Patientin, die vom arc de cercle geträumt hatte, konnte kein
Kleid anziehen, welches zugeknöpft werden mußte oder gar zugenäht war. Denn
sie war von der Furcht besessen, im Falle eines Angstanfalles nicht rasch genug aus
ihren Kleidern herausschlüpfen zu können. Ihre Kleider waren weit und luftig und
durften nur mit Druckknöpfen, und zwar vorne oder auf der Seite zugemaoht wer¬
den, damit sie im Notfälle mit einem Ruck zu öffnen seien. Die gleiche Vorsichts¬
maßnahme wendete sie auch bei den Schuhen an. Außerdem trug sie stets eine
Schere bei sich, um die Kleider sofort aufschneiden zu können, falls sie beim raschen
Öffnen derselben auf ein unerwartetes Hindernis gestoßen wäre. In ihren Angst¬
anfällen hatte sie nie die Kleider öffnen müssen. Bewußt empfand die Patientin die
Kleider als etwas Erstickendes, wovon man sich im Falle eines starken Unwohlseins
sofort befreien müßte. Im Unbewußten wollte aber diese ungemein stolze Patientin
keinen Körperdefekt, d. h. das Fehlen des Penis zu verbergen haben. Ob hier das
Geburtstrauma eine Rolle spielt, lasse ich dahingestellt.
Gelingt es einmal einem Patienten, trotz seiner Sexualhemmung zu einem
normalen sexuellen Orgasmus zu kommen, so wirkt diese gefahrlos vor sich
gegangene Abfuhr der Libido in hohem Maße von Angst befreiend. Ein
agoraphobischer Patient fühlte nach seinem ersten Koitus, bei dem er zu einem
sehr starken normalen Orgasmus gekommen war, sich selbst und die Außen*?
weit viel lebhafter, evidenter, schöner und reizvoller, als er es seit seiner Kind¬
heit empfunden hatte. Diesen Sachverhalt möchte ich noch an Hand eines
anderen Beispieles illustrieren;
Ein 23jähriger Mann saß behaglich auf einem Theaterfauteuil und hörte sich die
Oper „Tristan und Isolde'^ an. Das Duett des zweiten Aktes begann ihn zu lang¬
weilen und schien ihm endlos zu sein. Gefühle von Langeweile und Ungeduld leiten
oft den ersten Angstanfall ein. Plötzlich fühlte er sich entsetzlich unwohl und es
überkam ihn eine fürchterliche Angst. Blaß und schweißgebadet konnte er kaum
das Ende des Aktes abwarten, um im Taxi nach Hause zu eilen. Es schloß sich eine
Straßenangst an. Ich mußte zu ihm gehen, da er sein Haus nicht mehr verlassen
konnte. Da erfuhr ich, daß er aus Angst um seine Gesundheit noch nie einen
Sexualakt ausgeübt hatte. Nach etwa zwei Wochen kam ihm folgende Erinnerung
zum Bewußtsein; Mit 5 oder 6 Jahren hatte er eine gleichaltrige Spielkameradin ver¬
führt, mit der er Zirkustheater spielte. Sie hatte dabei seine sexuelle Neugierde ge¬
weckt und er hatte sie dazu gebracht, daß sie mit ihm im Verborgenen onanierte.
Aber die Kinder wurden einmal dabei entdeckt, gezüchtigt und er bekam die Freun¬
din nie mehr zu sehen. Ich machte ihn auf den Zusammenhang zwischen diesen
Kindheitserlebnissen und seinem Angstanfall bei der Theateraufführung aufmerksam,
aber das leuchtete ihm nicht sehr ein. Da bekam ich ungewünschte Helfer: Zwei
Freunde schleppten ihn eines Abends trotz seiner Angst in ein Bordell. Jedenfalls
scheint die Angst geringer geworden zu sein. Hier kam er zum ersten Male mit
einem Weibe zum Orgasmus, worüber sich sogar seine Eltern freuten. Damit hat er
die Erfahrung gemacht, daß die Abfuhr der Libido nicht nur seinen Gesundheits¬
zustand nicht beeinträchtige, sondern daß er sich nachher wohler fühlte, mit dem
unbewußten Sinne, daß er nicht kastriert werde, wenn er seiner Sexualität nach-
428
Edoardo Weiß
gebe. Er verlor nun alle Angst und spazierte den ganzen Tag in den Straßen der
Stadt herum. Er setzte die Analyse nicht mehr fort. Ich hörte nach einiger Zeit
von ihm, daß es ihm gut gehe, habe ihn aber dann aus dem Auge verloren.
Meistens sind solche infolge eines erreichten Orgasmus eingetretene Besse¬
rungen oder Genesungen nicht von langer Dauer, im Gegensatz zu denen,
welche durch eine durchgreifende Analyse erreicht werden. Als Beispiel für
diese Zusammenhänge diene noch folgende abgekürzte Krankengeschichte:
Ein überaus stolzes, nach Freiheit und Unabhängigkeit strebendes Mädchen mit
starkem Männlichkeitskompkx, der aber durch ihre weiblichen Reize verdeckt war,
verliebte sich leidenschaftlich in einen jungen Mann, wurde aber von ihm zurück¬
gewiesen. Starke narzißtische Kränkung. Sie war viel zu stolz, um weitere An¬
näherungsversuche bei diesem Manne zu machen. Sie verdrängte die große Liebe
und fühlte, daß etwas in ihrem Inneren in nicht wieder gut zu machender Weise
gebrochen war, so daß sie nie mehr im Leben würde lieben können. Nun glaubte
sic, sich leicht einem jeden beliebigen Manne hingeben zu können; ja, am liebsten
hatte sie sich aus Trotz gegen den früher geliebten Mann besudeln lassen. Diese
Liebesenttäuschung ereignete sich gerade, als sie davor stand, ihren Beruf als Lehrerin
anzutretem Eines Tages begab sie sich in die Schule, um ihre letzte Prüfung ab¬
zulegen; die Mutter begleitete sie eine kurze Strecke und verabschiedete sich dann
von ihr. Plötzlich befiel das Mädchen ein fürchterlicher Angstanfall. Sie drehte
sich um, rief mit lauter Stimme nach der Mutter, wurde aber von ihr nicht mehr
gehört, und hatte nicht einmal die Kraft, ihr nachzueilen. Sie bat eine vorüber¬
gehende unbekannte Frau, neben ihr gehen zu dürfen, da sie sich sehr unwohl fühlte.
Das war der Ausbruch ihrer Straßenangst. Sie mußte aus Not trotzdem ihrem Be¬
rufe nachgehen und litt viele Jahre lang unsäglich an ihrer Phobie. Da begegnete
sie einem Manne, in welchen sie sich wiederum stark verliebte. Diesmal wurde ihre
Liebe erwidert. Die Phobie verschwand. Sie fühlte sich frei, sehr unternehmungs-
und bewegungslustig. Aber plötzHch wurde sie auch von diesem Manne unter ganz
ähnlichen Verhältnissen wie das erstemal verlassen. Wahrscheinlich hatte sie selbst
es unbewußt provoziert. Mit der neuerlichen Verdrängung der heißen Liebe aus
schwer gekränktem Stolze kam es zur Rezidive der Straßenangst.
Die Analyse ergab, daß es sich stets um Neuauflagen der infantilen Kränkung
wegen der vermeintlichen Kastration handelte, wobei der Inhalt der Kränkung und
der darauffolgenden Verdrängung stets vom Aktuellen mitbestimmt war.
Nun drängt sich uns die Frage nach der Neurosenwahl bei der FJysterie
auf: Wir treffen nämlich auch bei der Konversionshysterie stets den Kastra¬
tionskomplex, bei schon erreichter (und verdrängter) Genitalstufe, als spezifi¬
sches ätiologisches Moment an. Warum bricht das eine Mal eine Angst¬
hysterie, das andere Mal eine Konversionshysterie aus? Ich kann diese Frage
derzeit noch nicht beantworten, möchte aber im Zusammenhänge damit einen
Gedankengang Vorbringen:
Die genauere Untersuchung der Angstanfälle, wie sie bei der Straßenangst
und ähnlichen Phobien Vorkommen, zeigt uns, daß hier die Angst eigentlich
einem Konversionssymptom gilt: in selteneren Fällen einem (traumatischen)
hysterischen Anfalle, in den meisten Fällen einem auf die Gefühlssphäre be¬
schränkten Analogon des hysterischen Anfalles. Somit können wir zwei Arten
von Phobien unterscheiden: Bei der einen werden bestimmte äußere Objekte,
1
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 429
resp. bestimmte äußere Situationen deswegen bewußt gefürchtet, weil sie eine
äußere Gefahr mit sich bringen: Bei der Tier-, Eisenbahn-, Feuerphobie usw.
handelt es sich um Befürchtungen vor äußeren Konsequenzen, welche die
gefürchteten Situationen nach sich ziehen können. Sie machen den Eindruck
von übertriebenen und irrationalen Realängsten und sind durch Pro¬
jektion einer Triebgefahr entstanden. Hingegen bezieht sich die Straßen¬
angst auf einen inneren seelischen Zustand, ein „seelisches Konversions¬
symptom“, also nur indirekt auf eine äußere Situation (des Alleinseins,
des Auf-die-Straße-Gehens), welche ihrerseits eine, auch bewußt als
innere Gefahr erkannte Situation herauf beschwört. Hier ist der Projektions¬
mechanismus viel schwächer. Die Straßenangst weist auch oft eine Ähnlich¬
keit mit der Hypochondrie auf. Mitunter könnte man sie mit dem Höhen¬
schwindel vergleichen: Wer darunter leidet, meidet schwindelerregende Höhen,
um sich nicht einem peinlichen und angstvollen seelischen Zustande auszu¬
setzen. Wir wären versucht, die Straßenangst zu den Konversionshysterien
zu zählen, wenn sie sich nicht durch ein Moment von den „echten“ Konver¬
sionshysterien unterscheiden würde: Bei der Straßenangst ist das jeweilige Auf¬
treten des „Konversionssymptoms“, dem die Angst gilt, von kurzer Dauer;
es tritt eben „anfallsweise“ auf. Hingegen kann beispielsweise eine hysterische
Blindheit oder eine hysterische Lähmung Tage, Monate und Jahre lang
andauern. Es ist naheliegend, diesen Unterschied mit der ausbleibenden,
resp. sich einstellenden Angstentwicklung in Beziehung zu bringen, d. h. die
Angst zeigt an, daß das Ich einen bestimmten Zustand nicht verträgt, daß
dieser mit seinem Streben unvereinbar ist. Dieser Zustand muß die Sphäre
des seelischen Ichs angehen. Soll das Ich seine Unversehrtheit bewahren, so
muß das auf das Ich selbst sich erstreckende (Konversions-) Symptom auf¬
gehoben werden. An Stelle des andauernden Konversionssymptoms
verbleibt die vom Ich andauernd empfundene Drohung eines
solchen; das phobische Verteidigungssystem ist eben danach gerichtet, das
Eintreten und das Andauern der Ich-Störung hintanzuhalten. Wenn wir uns
die Fälle von hysterischer Verworrenheit vor Augen halten, die sich meistens
an hysterische Anfälle anschließen, so werden wir vermuten, daß die Angst
der obenerwähnten Patientin (mit den traumatischen hysterischen Anfällen),
sie könnte nicht mehr zu ihrem Ich zurückkehren, nicht ganz unberechtigt
gewesen sein mag. Ebenso verstehen wir, warum sich die Phobiker mitunter
fürchten, verrückt zu werden.
Das ökonomische Problem der Angst und des seelischen Traumas ist nur im
Zusammenhänge mit dem Selbsterhaltungstrieb des Ichs zu lösen. Aber in
welcher Beziehung steht dieser zu den beiden Ur-Trieben: Eros und Todes¬
trieb? Wir müssen gestehen, daß die Psychoanalyse dieses Problem eigentlich
noch nicht in befriedigender Weise gelöst hat. Die Trieblehre weist hier noch
eine große Lücke auf.
430 Edoardo Weiß
III
Wir wollen nun versuchen, auf Grund unserer klinischen Mitteilungen und
mit Hilfe von theoretischen Erwägungen zwischen den Übertragungsneurosen
und den echten traumatischen Neurosen eine Brücke zu schlagen.
Die Erfahrung lehrt uns, daß ein Individuum um so leichter an einer trau¬
matischen Neurose erkrankt, je labiler sein psychisches Gleichgewicht schon
vor dem erlebten äußeren Trauma gewesen ist; d. h. je leichter sich
destruktive Energie der Macht der Libido entziehen konnte. Übrigens be¬
steht eine solche Labilität in der Triebvermischung auch als Vorstadium der
Übertragungsneurosen. Ich möchte hier beispielsweise auf die Ausführungen
Abrahams^ über die lokomotorische Angst hinweisen, bei welcher er die
Verdrängung einer konstitutionell bedingten starken Lust an der Muskeltätig¬
keit (Bewegungslust) annimmt. Diese Befunde stammen aus einer Zeit, als die
Kenntnis des Todestriebes und seiner Ableitung in die Muskeltätigkeit noch
nicht zur Verfügung stand. Die Aggressionslust wurde nur als negative Libido
aufgefaßt. Nun können wir die Funde Abrahams metapsychologisch besser
verstehen. Mit der Einziehung der in der Muskeltätigkeit untergebrachten
Aggressivität steigern sich die destruktiven Besetzungen.
Freud zeigte uns, daß die Libido auch dazu verwendet wird, um die De¬
struktionsenergie nach außen zu wenden (wie z. B. eben in die Muskeltätig¬
keit). Dadurch wird diese Energie für das Ich unschädlich gemacht. Die
Destruktionsenergie wird aber wohl auch, verbunden mit Libidobesetzungen,
bei allen der Außenwelt zugewendeten Funktionen des Ichs nach außen ge¬
wendet, so bei der Aufmerksamkeit, bei der Wahrnehmung, bei dem Vorgang,
den wir Willensakt nennen usw., und eben dadurch wird die Außenwelt be-
meistert. Diese Beherrschung der Außenwelt durch die Extroversion der de¬
struktiven Energie, sei es in Form von Aggression, sei es in Form von Be¬
mächtigungstendenzen, führt auch zur Befriedigung der Libido, die oft in der
Durchsetzung dieses Zieles, das Ich zu schützen und seine Stellung in der
Außenwelt zu stärken, aufgeht. In diesem Vorgehen ist daher eine Reizabwehr
gegeben. Die Bindung von destruktiven Triebreizen von Seiten der Libido
ist also oft gleichbedeutend mit einer Herrschaft der Libido über die destruk¬
tive Energie, welche dann in die ihr von der Libido angewiesenen Bahnen ge¬
leitet wird, und zwar unter anderem auch zur Herstellung und Erhaltung der
harmonischen, synthetischen Einheit des Ichs. Allerdings können wir uns noch
keine Vorstellung darüber machen, wie die Libido die Destruktionsenergie be¬
wältigt; wir kennen ja nicht einmal das Wesen einer psychischen Energie.
Im Falle einer traumatischen Neurose infolge eines Durchbruches von großen
Reizmengen durch den äußeren Reizschutz, sind es nicht die von außen her
7) K. Abraham: „Über eine konstitutionelle Grundlage der lokomotorischen Angst“,
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. II, 1914.
Die Stxaßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 431
eingedrungenen Reize, die weiterwirken, sondern, wie uns die Untersuchung
solcher Fälle zeigt, handelt es sich darum, daß ein Anwachsen oder Hinzu¬
kommen von inneren destruktiven Triebreizen stattfand; dadurch wurde
die Lage bedrohlich. In diesem aktuellen Hinzukommen von inne¬
ren, destruktiven Energien auf Kosten ihrer Extroversion er¬
blicke ich das charakteristische Moment der von außen kommen¬
den traumatischen Einwirkungen. Und tatsächlich hat Kardiner®
in seiner äußerst interessanten Arbeit über die Bioanalyse der epileptischen
Reaktion uns auf die plötzlich eintretende Hemmung wesentlicher Ich-Funk-
tionen, nämlich derjenigen des sensorisch-motorisch-perzeptiven Apparats bei
echten traumatischen Neurosen aufmerksam gemacht.
Es spielen sich also meiner Ansicht nach bei der echten traumatischen
Neurose folgende Vorgänge der Reihe nach ab: Die Libido hat ursprünglich
die Macht über ein gewisses Quantum von destruktiver Energie, bindet sie,
mischt sich mit ihr, wendet sie in Form von Aggression oder bei den Ich-
Funktionen in Form von Wahrnehmung, Erfassung der Außenwelt, Muskel¬
tätigkeit, Aufmerksamkeitsbesetzung usw. nach außen. Nun brechen im Falle
eines Traumas größere Reizmengen ins Ich ein. Diese vermehren die Inan¬
spruchnahme des Ichs, so daß es sich gegen jene inneren Reizmengen, die es
früher in Ruhe halten konnte (mittels Verdrängung oder in andersartiger
Weise), nicht mehr schützen kann; so bricht die latente Neurose aus.® Infolge
seiner größeren Inanspruchnahme ist nun das Ich auch in der Bewälti¬
gung der früher beherrschten destruktiven Reize behindert —
diese schlüpfen ihm sozusagen aus der Hand und wirken nun reflexiv oder
gar medial. Das Ich muß dann erst mühsam die früher innegehabte Herr¬
schaft über die inneren destruktiven Energien wiedererlangen. Solange ihm
das nicht gelingt, gewinnt man den Eindruck, als hätten die temporär von
außen eingedrungenen destruktiven Reizmengen eine innere Fortsetzung ge¬
funden. In Wirklichkeit ist auch die Aggression in ihren mannigfaltigen
Äußerungsformen eingezogen und nach innen gewendet worden. Und so kön¬
nen sich die Patienten nach dem Unfälle nicht mehr ganz auf ihre Sinne ver¬
lassen und keine oder eine geringe Aufmerksamkeitsbesetzung aufbringen. Das
Zittern, das man so regelmäßig bei traumatischen Neurotikern antrifft, hängt
meiner Ansicht nach unter anderem auch mit der Zurückziehung der destruk¬
tiven Energie vom Muskelsystem zusammen. Ich glaube, daß dies der all¬
gemeine Mechanismus der traumatischen Neurosen ist.
An dieser Stelle möchte ich die Vermutung aussprechen, daß auch die
8) A. Kardiner: „Tbe Bio-Analysis of the Epileptic Reaction", Psa, Quarterly, I, 3—4,
9) Es gibt aber auch Fälle (und zwar nicht nur bei der Angsthysterie, sondern auch
bei der Paranoia und bei Depressionen), bei welchen äußere Gefahren fälschlich als innere
aufgefaßt werden. Die inneren Spiegelbilder der äußeren Destruktionskräfte werden mit
der Verwendung von inneren destruktiven Triebreizen verwirklicht.
432
Edoardo Weiß
Über-Ich-Bildung, die eine sogenannte „innere Fortsetzung'^ von ursprünglich
von außen her erlittener Aggression enthält, infolge traumatischer Momente
von außen entstanden ist, welche zu einer introvertierten Aggression geführt
haben. Allerdings handelt es sich hier um die Vermeidung einer traumatischen
Neurose durch Organisierung der introjizierten Feinde, welche zu der Bil¬
dung dieses bedeutenden Bestandteiles unseres seelischen Apparats geführt hat.
So meine ich, daß die Über-Ich-Bildung nicht allmählich, sondern in plötz¬
lichen Schüben, und zwar jedesmal nach einem erlebten Trauma vor sich geht.
Dazu würde auch die Annahme Freuds passen, daß die Tat des Vatermordes
die Bildung des Über-Ichs anregte.
Aggressionsneigungen und Wutanfälle bei Menschen, die durch ein Trauma
aus dem Gleichgewicht gebracht wurden, sind als Wiederherstellungsversuche
durch Extroversion der destruktiven Energie aufzufassen. In ganz analoger
Weise wird auch das Über-Ich milder, wenn der Patient destruktive Energie
in Form von Aggression extrovertiert, wie z. B. in einer negativen Übertra-
gung auf den Analytiker. Bekanntlich imponiert uns beim Unfallsneurotiker
der sekundäre Krankheitsgewinn, den wir für die Erhaltung der Neurose ver¬
antwortlich machen. Bringt man den Unfallsneurotiker, indem man ihm bei¬
spielsweise die Unfallsrente entzieht usw., in die Zwangslage, sich selbst um
seine Existenz zu kümmern, so zwingt man ihn dadurch, destruktive Energien
in der Überwindung äußerer Schwierigkeiten nach außen zu wenden. Ich
meine, daß beim Unfallsneurotiker eben darin, in der Beseitigung des effek¬
tiven sekundären Krankheitsgewinns ein wichtiges therapeutisches Agens zu
suchen ist, weil dieser Gewinn ihm jeden Anlaß zur Extroversion seiner de¬
struktiven Energien benimmt; dies ist der Grund, weshalb er hier so sehr in
die Wagschale fällt.
Es gibt Übergangsformen zwischen Übertragungs- und echten traumatischen
Neurosen. Dazu gehören jene Neurosen, die zwar infolge eines Traumas von
außer her entstanden sind, bei welchen der Patient aber selbst in unbewußter
Absicht das Trauma herbeigeführt hat. Hier sieht man am deutlichsten, wie
die Schockwirkung auf ein bereits bestehendes, neurotisches, Gleichgewicht
wirkt. Dazu folgendes Beispiel:
Eine meiner Patientinnen wurde von einem Auto zu Boden geworfen, schlug mit
dem Hmterkopf auf das Straßenpflaster auf und mußte in sehr aufgeregtem Zu¬
stande von der Rettungsgesellschaft auf eine Unfallstation gebracht werden. Dieser
Unfall hat als Trauma gewirkt: er erschien ihr fast jede Nacht in ihren Angstträumen;
sie fürchtete sich, allein auf die Gasse zu gehen und zitterte vor Angst jedesmal, wenn
sie, auch in Begleitung einer Person, in welche sie sich einhängte, die Straße über¬
queren mußte. Sie fürchtete, von einem Auto überfahren zu werden, und zwar
nicht nur, wenn sie eines, auch in weiter Entfernung herannahen sah, sondern auch
wenn sie keines sah; denn anfangs traute sie ihren eigenen Sinnen nicht mehr. Sie
beherrschte die Außenwelt nicht mehr und fühlte, daß sie der Außenwelt nicht ge-
nug Aufmerksamkeit zu wenden konnte. Dabei quälte sie die lebhafte, eidetische Er-
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 433
innerung an das Aufschlagen des Kopfes auf das Pflaster. Diese Erinnerungsreprä¬
sentanz wurde also auf Kosten der Aggression von starken Todestriebenergien besetzt.
Der Unfall selbst hatte sich infolge einer deutlichen Fehlleistung der Patientin
ereignet: Diese war nämlich iiri Begriffe, die Straße zu überqueren, als sie ein Auto
mit großer Geschwindigkeit herankommen sah. Sie dachte abzuwarten, bis es vor¬
übergefahren ward, aber im nächsten Augenblick hatte sie schon ihren Vorsatz ver¬
gessen und schickte sich an, die Straße zu überqueren, gerade als das Auto ankam
und der Chauffeur den Unfall nicht mehr verhindern konnte. Ein schöner Beleg
für die Ausführungen Federns^» über das Ich-Gefühl bei den Fehlleistungen.
Diese Patientin war schon vor dem Unfälle zu mir in Behandlung gekommen, weil
sie vor ihren, vom Ich gefürchteten autodestruktiven Tendenzen Schutz suchte.
Schon vor einigen Jahren hatte sie einen halbernsten Suizidversuch durch Ver¬
bluten gemacht, hat es aber schon kurze Zeit danach bereut und sich sehr er¬
niedrigt gefühlt. Ihre Hauptqual bestand in ihrer Sucht nach Narkoticis, wobei
sie immer größere Dosen, als sie vertragen konnte, einnehmen mußte. Schon nach
wenigen Monaten Analyse konnte sie sich der Schlafmittel enthalten, und da er¬
eignete sich der Autounfall. Dazu assoziierte sie die niederschlagende Wirkung der
Schlafmittel. Sie fühlte eine starke Analogie zwischen dem Aufschlagen des Kopfes
auf den Boden und der niederschlagenden, im Kopfe empfundenen Wirkung der
exzessiven Dosen von Schlafmitteln, die sie früher einnehmen mußte. Diese Patien¬
tin hat ferner von Männern geträumt, die ihr sexuelle Gewalt antun wollten, und
auch im wachen Zustande traf sie übertriebene Vorsichtsmaßnahmen, um dieser Ge¬
fahr zu entgehen. Ihre Fehlleistung bedeutete demnach: Sexuelle Aggression er¬
leiden und Selbstmord begehen.
Die neurotische Angst der Patientin bezog sich ursprünglich auf die innere Gefahr
vor dem eigenen Destruktionstriebe, sei es, daß dieser mit Libido legiert sich als
Masochismus, sei es, daß er sich als reiner Destruktionstrieb äußerte — wenn ein
solcher überhaupt Vorkommen kann. Die Fehlleistung, durch die die Patientin den
Unfall erlitten hatte, war ein Sieg dieses Triebes über den Selbsterhaltungstrieb des
Ichs. Wir können so zweierlei Momente unterscheiden, die auf die Patientin trauma¬
tisch gewirkt haben mögen: Erstens die äußeren destruktiven Reizmengen, die den
äußeren Reizschutz durchbrochen haben, und psychisch nicht gebunden, d. h. nicht
bewältigt werden konnten; zweitens der Sieg der inneren autodestruktiven Tendenzen.
Es sei nebenbei bemerkt, daß dieses Trauma mit Hilfe der analytischen Aufklärungs¬
arbeit, die schon vor dem Unfälle etwas geleistet hatte, in kurzer Zeit erledigt wer¬
den konnte.
In unserem Falle hat sich der Destruktionstrieb äußerer Mittel bedient, um sich
wenigstens partiell durchzusetzen. Das traumatische Erlebnis hatte die Patientin die
Macht und die Gefahr dieses Triebes tief fühlen lassen und vielleicht erst den Weg
zur Durchsetzung des Triebes gebahnt. Die Analyse konnte ferner in einwandfreier
Weise feststellen, daß diese Patientin die starke narzißtische Kränkung, die sie in der
Kindheit bei der Entdeckung ihrer vermeintlichen Kastration empfunden hatte, nicht
überwunden und in ihrer Intelligenz und Moral einen Ersatz für den fehlenden Penis
gesucht hatte; diese waren, um mit Rado zu sprechen, Wunschpenisse für sie. Ein
intellektueller oder moralischer Fall bedeutete für sie eine neuerliche Kastration.
Und bei dieser Patientin handelte es sich anscheinend stets um Neuauflagen des ur¬
sprünglichen Konflikts, und zwar: zwischen dem Streben, einen Penis zu erlangen,
um den seelischen Schmerz über ihre Kastration loszuwerden, und dem destruktiven
Impuls, sich zu kastrieren, sich Schmerz zuzufügen usw. Letzten Endes handelt es
io) P. Federn: „Das Ich-Gefühl bei den Fehlleistungen“, Imago, Bd. XIX, 1933.
434
Edoardo Weiß
sich aber doch um den ewigen Kampf zwischen Leben und Tod, wobei wir aber be¬
tonen müssen, daß das Ich sich gegen den Todestrieb des Es aufs äußerste wehrt und
daß ihm jede partielle Befriedigung desselben unlustvoll ist.
Einen weiteren Fall kann man schwerlich als Übergangsform zwischen trau¬
matischen und Übertragungsneurosen bezeichnen, obwohl es auch bei ihm
zur unbewußten Selbstschädigung (symbolische Kastration) durch Fehlleistung
kam. Es handelt sich um eine traumatische Situation, die in der Nachpuber¬
tätszeit von der destruktiven Triebenergie neubelebt wurde, da sie in Zu¬
sammenhang mit einer verbotenen sexuellen Versuchung getreten war:
Ein zehnjähriger Knabe war gerade daran, seinen Bleistift zu spitzen, als das
Federmesser zuklappte und er sich tief in den Finger schnitt. Der Anblick der
offenen Wunde, die kaum schmerzte, und des Blutes machte auf ihn einen sehr un¬
angenehmen Eindruck und er wurde plötzlich tief ohnmächtig. Das Peinlichste
dabei war nicht der Anblick der Wunde, sondern seine psychischen Erlebnisse beim
Erwachen aus der Ohnmacht. Retrospektiv schilderte er viele Jahre später diese
Erlebnisse, die in der Zwischenzeit noch mehrmals sich wiederholt hatten, folgender¬
maßen: starkes, höchst peinliches Ohrensausen, dessen Beginn zeitlich unbestimmt
ist... ganz schwache, flüchtige, kaum wahrnehmbare Traumsensationen: blasse, ver¬
schwommene Traumbilder, so wie sie vor dem Einschlafen erscheinen, Menschen¬
gestalten, die sich ganz schattenhaft bewegen und Vorbeigehen, Stimmen aus weiter
Ferne ... diese schwachen und nebelhaften Träume werden nach und nach deut¬
licher und erst jetzt beginnt er zu verstehen, daß er derjenige ist, der all das emp¬
findet — früher existierte er nicht. Das Ohrensausen wird immer schwächer und
hört schließlich auf. Es folgt eine furchtbar peinliche Desorientiertheit; „sollte das
Wirklichkeit sein und nicht bloß ein Traum?“ Er fühlt sich ganz schwach, eigent¬
lich gelähmt, macht- und hilflos; er leidet unsäglich, weiß noch nicht genau, wer er
eigentlich ist und wie er in diese Lage gekommen ist. Da erwacht allmählich die
Erinnerung an die Situation, die der Ohnmacht vorangegangen war, jetzt hat er das
volle Evidenzgefühl für die wahrgenommene Wirklichkeit — die Kontinuität seines
Ichs ist wieder hergestellt, er ist wie in einen Hafen in eine Welt eingelaufen,
die ihm vorher traumhaft, eigentlich blasser und unwirklicher als ein Traum er¬
schienen war, die sich aber tatsächlich als Wirklichkeit herausgestellt hat.
Dies war am Vormittag geschehen. Am selben Tage, während des Mittagessens
kam ihm die Erinnerung an die beschriebenen traumadschen Eindrücke, wobei ihn
plötzlich das ihm schon bekannte Ohnmachtgefühl befiel. Er hatte kaum die Kraft,
der Mutter zu sagen, daß er wieder ohnmächtig werde ., . dann fühlte er nichts
mehr und dann wiederum das qualvolle beschriebene Erwachen aus einer Ohnmacht.
Dieser Knabe hatte also diese Eindrücke, wie dies eben für jedes seelische Trauma
charakteristisch ist, nicht mehr beherrschen können, sie konnten nicht verdrängt
werden und wiederholten sich öfters, obwohl sie äußerst unlustvoll waren. Der
Knabe fühlte, daß er gegenüber seinen Ohnmächten, die unerwarteterweise, auch
ohne eine äußere Ursache, auftreten konnten, vollkommen macht- und hilflos war.
Wie hätte er sich so allein vom Hause entfernen können? Aber nach zwei Tagen
fühlte er sich bereits sicher.
Als er eines Abends mit 17 Jahren mit einem Freunde in einer sehr belebten
Gasse spazieren ging, bemerkte er plötzlich, daß sein Wirklichkeitsgefühl für die
Außenwelt schwächer wurde: Die vorbeigehenden Menschen (und erst viele Jahre
später in der Analyse fielen ihm zwei vorübergehende unbekannte Mädchen ein)
kamen ihm wie geträumt vor, oder besser so schattenhaft wie die Visionen vor dem
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 435
Einschlafen im hypnagogen Zustande. Es war so, wenn auch in viel schwächerem
Maße, wie ihm seinerzeit jene wirklichen Menschen vorgekommen sind, als er aus
seiner Ohnmacht erwachte. Es überkam ihn eine fürchterliche Angst: „Werde ich
denn jetzt ohnmächtig?“ fragte er sich. Dies war also das beschriebene Analogon
eines hysterischen Anfalls, der mit starker Angstentwicklung vor sich ging und die
Straßenangst heraufbeschwor. Er fürchtete sich nun, abends auszugehen, d. h. in der
Zeit, in welcher man sich gewöhnlich schläfrig fühlt, aber mitunter auch bei Tag,
und zwar in belebten Gassen, und hatte Angst, im Falle einer Ohnmacht den vorbei¬
gehenden Leuten ein erniedrigendes Schauspiel zu bieten. Am liebsten zog er sich
in unbelebte Gassen zurück oder sogar in ein menschenleeres Haustor, wo er sich
merkwürdigerweise auch vor den Ohnmächten sicherer fühlte. Hier sehen wir
unter anderem ganz deutlich die destruktive Repräsentanz der narzißtischen Kränkung,
im Gefolge einer libidinösen, exhibitionistischen Regung. Dieser Patient ist durch
die Analyse vollkommen hergestellt worden.
Zu diesem Falle will ich bemerken, daß das seelische Trauma das Vorhanden¬
sein des Bewußtseins während des traumatischen Erlebnisses voraussetzt. Tat¬
sächlich setzte auch hier die traumatische Wirkung erst bei der allmählichen
Rückkehr des Bewußtseins am Ende der Ohnmacht ein. Und wir sehen in
diesem Falle, daß hinter der Angst vor der Kastration sich die Angst vor der
Aphanisis (Jones)^^ verbirgt. Die Ohnmacht istparexcellence eine Äuße¬
rung des Todestriebes.
IV
Aus der Analyse der hier angeführten und vieler anderer Neurosen ergeben
sich theoretische Schlüsse, die ich kurz zusammenfassen möchte:
Die Angst ist nach Freud ein Warnungssignal vor einem drohenden trau¬
matischen Zustand (in ökonomischem Sinne). Im Falle der Realangst bezieht
sich die Angst auf äußere destruktive Einwirkungen: es sind Reize dieser
Natur, welche unsere seelische Ökonomie stören können. Im Falle der trau¬
matischen Neurose sind es innere destruktive Triebreize, welche von ihren
anderweitigen Verwendungen abgezogen wurden und die Wirkung der
früheren äußeren Reizmengen fortsetzen. Diese Verhältnisse hat Freud bei
der aggressiven Wirkung des Über-Ichs erkannt. Freud hat also im Falle des
Schuldgefühls (Gewissensangst) die Beziehung zwischen Angst und Todestrieb
aufgezeigt. Nun scheint es, daß es sich auch bei der neurotischen, d. h. Trieb¬
gefahr um die Drohung von Seiten destruktiver Triebreize handelt.
Allerdings fällt diese meistens mit der Drohung von Seiten des Über-Ichs zu¬
sammen. Halten wir uns den Verdrängungsmechanismus näher vor Augen:
Dem Kinde droht die Strafe der Kastration, oder eines ihrer zahlreichen
Äquivalente, und der Liebesentzug, wenn es bestimmten Triebregungen
nachgibt. Das neurotische Ich hält diese Gefahrmomente fest. Ursprünglich
drohen diese Gefahren von der Außenwelt her (Vater, Eltern, Autorität),
ii) E. Jones: „Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität“, Int. Zeitschr. f. Psycho¬
analyse, Bd. XIV, 1928.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
30
Edoardo Weiß
später gehen sie vom Über-Ich aus. Eine bestimmte Triebbefriedigung bringt
also das Ich in die vermeintliche oder wirkliche Gefahr, entweder Aggression
von außen her zu erleiden, resp. äußeren Destruktionskräften schütz- und lieb¬
los preisgegeben zu sein, oder der vom Über-Ich ausgehenden Aggression von
innen her, gleichsam der inneren Fortsetzung einer Aggression von außen,
ausgesetzt zu sein. Die Aggression des Über-Ichs stammt aber, wie bekannt,
aus dem Triebreservoir des Es und schöpft ihre Energie, unabhängig von der
Außenwelt, aus dem eigenen Todestriebe. Bei der neurotischen Angst (der
Angst vor einer Triebgefahr) handelt es sich, wie gesagt, um eine Gefahr vor
einem solchen traumatischen Zustande, der infolge eines Durchbruches von
inneren destruktiven Reizmengen in den inneren Reizschutz sich einstellen
könnte. Diese destruktiven Reize sind nämlich in den Energiebesetzungen der
Vorstellungen der Kastration, des Liebesentzuges usw. enthalten. Die Ver¬
drängung eines Triebes besteht bekanntlich darin, daß derselbe mit Energie¬
aufwand jenseits des inneren Reizschutzes, d. h. außerhalb des Ichs gehalten
wird, um so ein Trauma zu vermeiden. Zu einem solchen kann es aber den¬
noch kommen, weil die nunmehr Ich-fremden Triebreize, welche weiter zum
Bewußtsein drängen, autodestruktive Besetzungen mitreißen, dadurch die
Ökonomie im Haushalte des Ichs stören und die Leistung des Lustprinzips
lähmen (was eben für das seelische Trauma charakteristisch ist). Es hat
sich stets in diesem Falle zwischen der Vorstellung von der Triebbefriedigung
und der von der destruktiven Konsequenz derselben ein enger Zusammen¬
hang hergestellt. Bekanntlich wird eine Triebverdrängung dadurch aufge¬
hoben, daß das Ich seine unbewußte Einstellung zu den vermeintlichen Gefahr¬
momenten durch Bewußtmachung derselben korrigiert. Dadurch werden die
Todestriebbesetzungen von den libidinösen auseinandergehalten. Nur die
ersteren scheinen den inneren Reizschutz zu zerreißen, welcher das Ich — um
einen Ausdruck Freuds zu gebrauchen — vom inneren Auslande trennt und
vor ihm schützt. Wenn das Ich die Verdrängungseinstellung nicht auf gegeben
hat, kann ein Durchbruch von verdrängten Triebreizen ins Ich traumatisch
wirken. Enthält doch der Sinn derselben stets eine Destruktion der eigenen
Person: z. B. ich gebäre und sterbe dabei; oder; ich gelange zum Sexualakte
und sinke dadurch zur Dirne, werde verstoßen; oder: werde vergewaltigt,
kastriert; oder: ich exhibiere und trage dadurch meine Defekte, das Fehlen des
Penis zur Schau. Alexander f^nd bei agoraphobischen Frauen Prostitu¬
tionsphantasien vor. Rado faßt diese Phantasien als Derivate des Genital¬
masochismus auf. Ich meine, daß die Versuchung der Sexualabfuhr gilt. Der
Zusatz „Straßendirne werden"^ ist eben eine Äußerung des Destruktionstriebes,
der sich auf dem Wege über das Über-Ich kundgibt; er ist eine aggressive
Qualifizierung desselben.
12) F. Alexander: „Die Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit“, Int. Psych. Verlag,
1927.
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall und zum Trauma 437
Bei jeder mißlungenen Verdrängung kämpft stets eine libidinöse Regung
mit einer autodestruktiven; gewinnt die letztere die Oberhand, so wirkt dies
traumatisch. Die phobische Angst ist ein Warnungssignal vor einem derarti¬
gen Zustande — sie ist gleichsam das Gefühl der Todesnähe und dieses Ge¬
fühl ist vielleicht eben der psychische Ausdruck des traumatischen Zustandes.
Es kann sich da nicht mehr um bloße Angst vor dem Tode handeln, sondern
um eine echte, vom eigenen Todes trieb ausgehende, meist mittelbar durch
Einschaltung des Über-Ichs erlittene Destruktion, wobei das Ich der einge¬
brochenen Reizmengen nicht mehr Herr werden konnte. Solche schockartige
innere Einwirkungen können begreiflicherweise zur Ohnmacht führen. Die
Straßenangst kann demnach als eine traumatische Neurose sui generis, und
zwar als eine innere traumatische Neurose aufgefaßt werden. Darunter
meine ich eben eine Neurose, bei welcher die nicht zu bemeisternde destruk¬
tive Einwirkung nicht von außen kommt, sondern ausschließlich einen endo¬
genen Ursprung hat. Mir ist zwar nicht bekannt, daß solche Fälle zum Tode
führen können; aber ich habe vor etwa einem Jahre in einer amerikanischen
Zeitung gelesen, daß ein Klaustrophobe, der eingesperrt worden ist und um¬
sonst gefleht hatte, wegen seiner unerträglichen Qualen freigelassen zu wer¬
den, „vor lauter Angst‘" im Kerker gestorben ist. Sollte sich ein derartiger
Fall tatsächlich zugetragen haben, so würden wir die Sachlage folgendermaßen
darstellen; Der Tod ist infolge endogener Triebaggression eingetreten, die
Angst war dabei der psychische Ausdruck oder die psychische Reaktion auf
das schwere Trauma, das zu einem letalen Ausgang geführt hat.
Durch die Trieb Verdrängung sucht der seelische Apparat sich vor der
Wiederholung eines bereits erlebten Traumas zu schützen; siegt aber, im Falle
der mißlungenen Verdrängung, der Destruktionstrieb, so erneuert sich eben
dadurch das Trauma. Nun meine ich, daß es sich bei dem Sieg des Destruk¬
tionstriebes über die libidinöse Regung nicht immer um eine Wiederholung
eines durch äußere Reize entstandenen Traumas handelt, sondern daß oft
erst dadurch eine der traumatischen sehr ähnliche Wirkung zum ersten¬
mal erlebt wird, und zwar die, welche von Seiten der eigenen destruktiven
Triebreize ausgeht, die in den inneren Reizschutz eingebrochen sind. Die
Verdrängung hatte hier die Funktion, das Auftreten der traumatischen Ein¬
wirkung überhaupt zu verhindern, hat aber infolge der destruktiven Trieb¬
stärke versagt.
Rado^^ stellt beim Weibe als die beiden miteinander in Konflikt stehenden
Komponenten den Peniswunsch und das masochistische Luststreben hin. Ich
meine aber, daß hier nicht das masochistische Luststreben maßgebend ist, son¬
dern der Todestrieb, unabhängig davon, ob seine Energie sich mehr oder
weniger mit Libido vermengt, und sich dadurch dem Ich als Schmerzlust-
13) a. a. O.
30*
^^8 Edoardo Weiß: Die Straßenangst
streben anbietet, oder libidofrei bleibt — wenn das, wie gesagt, überhaupt Vor¬
kommen kann. Der Masochismus dürfte eine sekundäre Erscheinung sein
und, wie Freud^^ meint, aus dem Versuch der Libido entstehen, den Todes¬
trieb unschädlich zu machen, ihm nachzufolgen. Der Todestrieb ist die Vor¬
aussetzung des Masochismus. Will nämlich die Destruktionsenergie sich dem
Ansprüche der Libido nicht beugen, wie sie sich z. B. beugt, wenn sie in die
Muskeltätigkeit abgeleitet wird, so folgt die Libido ihr nach, wenn auch nur
eine Strecke weit. Ja, mitunter kann nur dadurch die Libido mobil gemacht
werden, daß man sie dem Destruktionstriebe nachjagt — so kommt es zum
Masochismus. Die Vorstellungsrepräsentanz der narzißtischen Kränkung wird
von der Todestriebenergie besetzt und die Angst vor der eigenen Vernichtung
ist in der Kastrationsangst des Weibes oder, wie sich Rado ausdrückt, in ihrer
Angst vor ihrem Genitalmasochismus deswegen am häufigsten enthalten, weil
sie einen anatomischen Anlaß dazu vorfindet, und zwar gerade an einer Stelle,
wo die Libido ihre orgastische Abfuhr finden soll. Aber hinter dieser Angst
steht doch die Angst vor der Aphanisis, wie Jones meint. Im Grunde
steht diese Angst aber auch hinter der Kastrationsangst des Mannes.
Man könnte mir einwenden, daß der Todestrieb bloß eine theoretische An¬
nahme ist und niemals ganz frei anzutreffen sei, während der Masochismus
der klinische Aspekt dieses stets mit mehr oder weniger Libido vermengten
Urtriebes ist. Aber auch angenommen, daß er in Wirklichkeit niemals libido¬
frei anzutreffen sei, so ist es bei einem Triebe nur sein destruktiver Anteil, der
traumatisch wirken kann, und es ist gerade die Beimischung von Libido, welche
diese Wirkung abschwächt. Daher scheint es mir nicht gerechtfertigt, von
einer Angst vor dem eigenen Masochismus (= autodestruktive Tendenz plus
Libido) zu sprechen. So kann man in einer chemischen Zusammensetzung
etwa die Wirkung eines Elementes studieren, auch wenn dieses nicht rein dar¬
gestellt werden kann.
Ich glaube, mit meinen Ausführungen gezeigt zu haben, daß die Freud-
sche Aufstellung des Todestriebes, welche unsere metapsychologischen Vor¬
stellungen in einschneidender Weise beeinflussen mußte, uns den Mechanismus
des seelischen Traumas etwas besser verstehen läßt. Wir sehen ferner, daß
das seelische Trauma, dem Freud anfangs die größte ätiologische Bedeutung
zugeschrieben hatte, tatsächlich in den Vordergrund gestellt werden muß.
Weiters erlaubt uns unsere heutige Auffassung des Traumas eine weitgehende
Ähnlichkeit zwischen dem Mechanismus der Übertragungsneurosen und dem
der echten traumatischen Neurosen, deren Mechanismus uns bisher so schwer
verständlich war, festzustellen.
14) S. Freud: „Das ökonomische Problem des Masochismus“, Ges. Schriften, Bd. V.
Das Problem der Organpsydiose
Zur seelischen Behandlung organisch Kranker^
Von
H cinri A M eng
Basel
I.
Meine Beobachtungen über seelische Behandlung organisch Kranker er¬
strecken sich über zwölf Jahre zurück; es wurden nur solche organisch Kranke
ausgewählt, bei denen andere Verfahren versagt hatten. Die psychische Be¬
handlung wurde als Nothilfe eingesetzt, ähnlich wie oft der chirurgische Ein¬
griff. Wenn die innere Medizin versagt oder Lebensgefahr droht, setzt man
manchesmal gerne schärfere Waffen ein. Auch kommt es vor, daß man dann
sich mehr auf die Selbsthilfe des Kranken verläßt. Beides scheint mir im
psychoanalytisch fundierten Vorgehen vereint.
Die Kranken waren von anderer Seite, Ärzten oder Kliniken, durchunter¬
sucht und vorbehandelt. Die Diagnosen lauteten u. a.: Chronisches,
rezidivierendes Magen- und Darmgeschwür, Gallenblasenleiden mit Beschwer¬
den, die nach Exstirpation der Gallenblase unverändert weiterbestanden,
chronische Bluterkrankung mit Veränderung im roten Blutbild, rezidivierende
Bindehaut- und Hornhauterkrankung, Störung im vegetativen System und in
der inneren Sekretion, wie Schilddrüsenerkrankung und Magersucht. Die Zahl
ist klein, etwa i6, bei denen verwertbare Beobachtungen gemacht wurden.
Bei zwei Dritteln derselben darf man von einem Erfolg sprechen, wobei die
Beurteilung mindestens zwei Jahre nach Abschluß der Behand¬
lung erfolgte. Ob eine derart als Nothandlung unternommene und nur als
solche indizierte Behandlung erfolgreich sein würde, war von vornherein nicht
zu beurteilen. Ihr Gelingen scheint mir, immer auf Grund der im Keimplasma
des Kranken gegebenen Vorbedingungen, weniger abhängig zu sein von der
Schwere der Erkrankung, als einerseits vom Lebensalter und der Reife des
Patienten und auch des Arztes, anderseits von psychischen Faktoren, wie
bewußtem und unbewußtem Genesungswunsch, sekundärem Krankheitsge¬
winn, persönlichem Zusammenstimmen zwischen Kranken und Arzt, Ein¬
druck von Schicksalsfügungen, wie Tod eines Angehörigen, z. B. des Vaters,
während der Behandlung, schließlich von den sozialen, kulturellen und ökono¬
mischen Bedingungen der Lebensführung und des Milieus des Kranken.
Ich halte die psychoanalytische Behandlung nicht für die Methode der
Wahl für eine Art organisch manifestierter Krankheit, sondern für das Ver¬
fahren, welches für jede kranke Persönlichkeit in Betracht kommen kann.
i) Nach einem auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern am
28. August 1934 gehaltenen Vortrag.
440
Heinrich Meng
Wie eine organische Behandlung unter bestimmten Umständen abgebrochen
werden muß, um einer seelischen Platz zu machen, so kommt es vor, daß
während einer seelischen Behandlung Prozesse ausgelöst werden, deren de¬
struktive Tendenz zur Einleitung einer anderen Behandlung zwingt. Das Ziel
ist, Änderungen verschiedenster Art im ganzen Menschen einzuleiten, bis er
den Anforderungen seiner Triebe, seines Gewissens und seiner Außenwelt so
gewachsen ist, daß der seelische Reizschutzapparat seine individuelle und so¬
ziale Funktion wieder erfüllt.
Die Wirksamkeit ist nicht selten fast unabhängig von der Eigenart des
therapeutischen Eingriffs, ob Arznei, Messer oder das gesprochene Wort; sie
hängt wesentlich davon ab, ob durch sie den Vorbedingungen, die im Kranken
selbst liegen, entsprochen wird. Der Arzt als Erfolgsorgan des Patienten
muß auch in entscheidenden Situationen der therapeutischen Arbeit, gerade bei
organischen Leiden, die Selbstregulierung des Patienten gewähren lassen. Die
Regression zur Homosexualität, zu magischem Denken und die Belebung von
Mechanismen, die eine Triebentmischung und eine Ich-Regression einleiten,
scheint im Verlauf fortdauernder Organschädigung typisch zu sein.
11 .
An den von mir beobachteten organisch Kranken fielen Erscheinungen in
Aussehen, Tonus und Ich-Gefüge auf, die das, was wir als organneurotisch be¬
zeichnen, überschreiten, wir haben sie zuerst bei Psychotikern angetroffen,
dann aber bei solchen Fällen, bei denen eine Psychose im psychiatrischen Sinn
nicht bestand. Es schien, daß ein schweres, unbewußtes Seelenleid körper¬
liches Herunterkommen und Schädigungen von Organen verursache. Dieser
Eindruck wurde vor allem an weiblichen Magersüchtigen gewonnen; eine
unserer Kranken dieser Art war in der Klinik in Vorbehandlung als Träger
der Simmonds’schen Krankheit rubriziert worden, sie und andere wiesen
schwere Veränderungen im gesamten Körper- und Seelengefüge auf, auf Grund
der genauen, von berufener klinischer Seite durchgeführten und paralleler Be¬
obachtungen anderer ähnlicher Kranker, zuletzt in der Noorden-Klinik in
Frankfurt a. Main, haben Grote und ich im Frühjahr 1934 in der „Schweiz.
Medizinischen Wochenschrift“ (Heft 7) über Kranke mit endogener Mager¬
sucht berichtet. Ich schlug vor, bei manchen Fällen von psychogenen organi¬
schen Störungen eine „Organpsychose“ anzunehmen, und zwar deshalb, weil
das Ich eines solchen „Organpsychotikers“ sich wie das eines Psychotikers von
der Außenwelt abwendet. Es regrediert in frühere Entwicklungsstadien tiefer
und triebhafter als das des Neurotikers. Das Ich vereint sich wieder mit dem
triebhaften Es, aus dem es herausgewachsen ist und mit dem es immer in Zu¬
sammenhang stand. Die Bezeichnung „Organpsychose“ enthält etwas Para¬
doxes, aber nur deshalb, weil wir immer noch durch die Begriffstrennungen
Körper und Seele befangen sind, auch infolge der ontologischen Problematik
Das Problem der Organpsychose 44 *
des psychischen und physischen Seins deren Zweiheit sehen. Es handelt sich
aber stets um die Einheit Mensch, an der wir das Wirken psycho-physischer
Korrelationen^ bemerken.
Es wären hier neben den Beobachtungen in Psychoanalysen vor allem die
Forschungen von Friedr. Kraus heranzuziehen, er hob die Bedeutung der
vegetativen Leistungen der Person für die Gesundheit und Krankheit hervor,
er betont die Abhängigkeit der seelischen, vor allem charakterlichen Reaktio¬
nen von biologisch-chemischen und physikalischen Vorgängen des Zellebens.
Jedes Leibesorgan ist im biologischen Unterbau der psychischen Persönlichkeit
beteiligt. Die Tiefenperson reguliert das Organische, die „Hirnperson‘" per-
zipiert durch die Sinnesorgane. Beide sind der Psychoanalyse zugänglich.
Zur Annahme eines tiefen „Seins^h allerdings mit einem Wissen von dem,
was dem Organismus nützt und schadet, ist auch Dahlke von ganz anderen
Voraussetzungen aus in seiner Wirklichkeitslehre des Buddhismus gekommen.
Auch das „Es‘‘ Groddecks ist der unerkannte Regulator des Einzelseins.
Innerhalb der Psychoanalyse ist die Annahme des „Unbewußten^' nicht als
eines Systems, sondern des „Psychischen an sich" durch Freud eine hierher
gehörige Parallele. Es liegt nahe, anzunehmen, daß Primärprozesse anders
mit den organischen Zusammengehen, als die verfeinerten, in ihrer Energie
geschwächten, in ihrer Reizschwelle erhöhten „Sekundärprozesse". Freud
hat einen Narzißmus der Zellen und der Organe angenommen; dieser muß
sich auch im Körperlichen äußern und im „Es" dynamisch zur Geltung kom¬
men. Noch näher steht unsere Annahme, daß die Organe mit der Seele er¬
kranken, der Grundtheorie Freuds, daß die „psychische Besetzung" qualitäts¬
los sei und einheitlich, und erst von ihren Ursprungs- und Exekutionsorganen
ihre Qualität beziehe. Eine psychotische Änderung der Verteilung dieser Be¬
setzung muß sich auch im Organischen zeigen, wenn sie früh genug eingesetzt
hat, bevor noch jene Funktionen, welche später dem reifen Ich zugehören, zur
Isolierung gekommen sind. All dies läßt uns eher verstehen, daß wir an
unseren beobachteten Kranken schwere organische Störungen sehr häufig an
Stelle des erwarteten Fortschreitens der seelischen Störung eintreten sehen,
welche letztere dann überflüssig machen. Es kommt zu einer Flucht in die
organische Krankheit und zur Bindung der Angst im organischen Symptom
als chronischem, gleichsam materialisiertem „Angstäquivalent" (Freud).
Es ist ein ähnlicher Prozeß, wie ihn Ferenczi bei den Pathoneurosen be¬
schrieben hat.
2) Die Frage der seelischen Struktur des entstellten Menschen überhaupt würde sich hier
anschließen. Hierher gehören Fragen, wie die der pathologischen Schönheit bei bestimmten
Formen der Tuberkulose, der Hysterie und des Infantilismus, der inneren Gesetze, nach
denen die typische Melancholie ihren Träger häßlich macht, während manche Melancholie
und normale Trauer verschönen. Zu deser Frage siehe meine Publikation in der „Ärztl.
Rundschau“ 1931 und „Krankheit, Schönheit und seelische Behandlung“ im „Almanach der
Psychoanalyse 1934“.
442
Heinrich Meng
IIL
Bevor die Frage der „Organpsychose"' näher untersucht wird, sei an den
prinzipiellen Unterschied zwischen Neurose und Psychose in Beziehung auf
die Veränderung des Ichs erinnert.
Bei Neurosen ist das Ich nur sekundär durch die Reaktionen und durch
die Symptome (Kompromisse) betroffen und in Mitleidenschaft gezogen, so¬
weit sie vom Ich verwendet oder bekämpft werden; das Ich paßt sich so an
die Symptome an, immerhin werden durch die Symptome und die Mechanis¬
men Funktionen der Organe geändert. Alle derartigen Änderungen be¬
treffen aber nicht das Wesentliche der Funktionen, sondern sind nur quan¬
titativ. Die Störung der Organe ist nur die der Ermüdung und der Hem¬
mung; die Schädigung der Organe ist die durch Erschöpfung oder durch An¬
fälligkeit an Krankheiten, die der Neurotiker herbeiführt oder in die er flieht.
Man kann daher sagen: Falls Organerkrankungen auftreten, sind sie sekundär.
Die Triebkonflikte werden in diesen Symptomen an den Organen erledigt,
das Ich bleibt im wesentlichen das des Normalen, so sehr Funktionen ihm ent¬
zogen sein mögen.
Bei Psychosen ist das Ich primär erkrankt, wenngleich seine Erkrankung
durch exogene Inanspruchnahme mitverursacht wird. Die Erkrankung be¬
steht in einer Änderung der Ich-Besetzungen oder vielleicht oft nur im Ver¬
lust der Resistenz der Ich-Besetzungen gegenüber der Inanspruchnahme. Die
Ursache liegt — in weitestem Sinn — in einer Überwältigung durch Trieb¬
ansprüche, das sind Strömungen des Es, oder durch Einbeziehung des Ichs oder
von Teilen des Ichs in das Es. Die Folge davon ist, daß die Orientierung in
der Außenwelt und die Beherrschung der Außenwelt leidet oder ganz oder
teilweise aufgegeben wird. Sehr oft gehört zu der Außenwelt, die in der Psy¬
chose für die Orientierungsfähigkeit des Ichs verlorenging, auch der eigene
Körper; denn von den seelischen Vorgängen aus empfunden, gehört auch der
Körper zur außerseelischen Welt. So kommen auch bei der Psychose manche
organische Störungen als sekundäre Folgen der Symptome der Ich-Störung
zustande; sie sind von denen bei der Neurose verschieden, wenn auch ähnlich
zustande gekommen. Andererseits ist aber der Körper vor allem der Träger
des Ichs, gehört zum Ich, ist nicht nur Außenwelt für denselben. Die Körper¬
störungen bei Psychosen und namentlich bei den Organpsychosen scheinen
primär durch die Körper-Ich-Störung an ihrem Träger, dem Körper, zustande
zu kommen. In diesem Fall sind einzelne Körperorgane primär, durch psy¬
chotische Vorgänge, z. B. durch tiefe Regression, durch Aufhebung oder Stei¬
gerung der Besetzung schwer, oder wahrscheinlich noch viel öfter in kaum
beachteter Weise leicht erkrankt. Wir können nur dann eine psychotische
Störung mit einem größeren Grad von Wahrscheinlichkeit annehmen, wenn
die Funktion nicht nur der Quantität nach, sondern auch qualitativ geradezu
Das Problem der Organpsychose
443
essentiell geändert ist, nicht nur wie bei der Neurose gleichsam verdrängt,
aber doch noch jederzeit funktionsbereit. Die organpsychotisch gestörte Funk¬
tion ist sistiert, hat jegliche Besetzung und Besetzbarkeit verloren, nicht nur
die Zugänglichkeit seitens des Bewußtseins, oder ist auf eine viel tiefere Stufe
regrediert. Die Organe sind daher — allgemein ausgedrückt — Objekte bei
der Neurose, z. B. bei dem für die Neurose spezifischen Mechanismus der Ver¬
drängung, bei der Psychose aber Subjekte. Bei der Neurose gibt das Es zwar
nach, läßt seine Strömung, den Trieb, verdrängen, wodurch allerdings auch
sowohl der Trieb als die Erfassung der Außenwelt und das Ich selbst mehr
oder weniger verändert werden. Bei der Psychose hingegen siegt das Es über
die Ich-Struktur und damit über den Körper, dessen Gesamtfunktion mit der
Normalität des Ichs in Wechselbeziehung zu stehen scheint.
Es fiel immer wieder auf und ist auch in Krankheitsbegriffen wie „narzi߬
tische Neurose“ festgelegt, daß die Grenze zwischen Neurose und Psychose
keine strikte ist (Ferenczi, Schilder u. a.), und daß bestimmte Krankheits¬
abläufe, wie Zwangsneurose und Schizophrenie, verwandt sind. Freud reser¬
vierte aber den Namen „narzißtische Psychoneurose“ für die Melancholie, und
es bleibt doch stets ein Unterschied zwischen einer hysterischen Psychose und
einer echt „psychotischen“ Psychose und einem organisch Kranken mit or¬
ganisch-psychotischen Mechanismen. Es wurde schon gesagt, daß die Neurose
die Erfassung der Außenwelt weiter gestattet und sie nur in dem Maß der
Trieb- und Libidoansprüche ändert, ohne daß, wie bei der Psychose, der Auf¬
nahmeapparat — wenn auch nur teilweise — geschädigt wäre. Das Ich gibt
bei der Neurose eben nur wenig nach, teilweise ist es ein infantiles Ich ge¬
blieben, teilweise kehrt es zu manchen infantilen Strukturen zurück; aber es
wird nicht so tief verändert wie bei der Psychose. Dieser neurotischen Nach¬
giebigkeit des Ichs steht das volle Unterliegen des Ichs in der Psychose gegen¬
über.
Unter welchen Bedingungen unterliegt aber das Ich bei der Psychose? Unter
ähnlichen Voraussetzungen wie analog das Es des Neurotikers: auf Grund der
Konstitution, von Geschehnissen der Frühkindheit und des aktuellen Anlasses.
Ein Ich wird vor allem dann unterliegen, wenn es an sich selbst schwer litt,
wenn es zu schwach ist, die Außenwelt zu ändern, oder zu starr und un¬
erfahren, sich ihr anzupassen, und wenn die einen Kompromiß schaffende
Neurose nicht gelang oder nicht ausreichte.
IV.
Die Beobachtung organisch Kranker, z. B. Magersüchtiger, deren Ich-Struk-
tur mehr psychotisch als neurotisch imponierte, auch ihr körperliches Ver¬
halten, ist zumeist an weiblichen Individuen angestellt. Die Magersucht be¬
fällt überhaupt viel mehr Frauen als Männer. Es ist anzunehmen, daß in der
444
Heinrich Meng
weiblichen Konstitution und in dem typisch weiblichen Schicksal dispo¬
nierende Momente wirksam sind. Diese Fragen werden wir später berühren.
Wir wissen, daß die Schädigung des Zwischenhirns als Sitz vegetativ wichtiger
Zentren und bestimmter Teile der Hypophyse den Anstoß gibt zu kachektischen
und marantischen Zuständen. Auch die Abmagerung bei progressiver Paralyse wird
auf zerebrale Störung des vegetativen Systems im Bereich des dritten Ventrikels
zurückgeführt (Reichardt). Was bei den Formen der Magersucht, bei denen
weder Trauma des Schädels, Verletzung oder Geschwulstbildung der Hypophyse,
Lues und andere Prozesse die Krankheit in Gang bringen, die Kachexie bedingt, ist
ungeklärt. Einzelne Endokrinologen berichten, daß eine Gruppe von Mager¬
süchtigen schwere Temperament- und Charakterveränderungen durchmachen.
Tücher spricht von einer „hypophysären Psychose“, die symptomatisch der
Schizophrenie ähnlich sei. Da glücklicherweise keiner unserer Kranken zur Sektion
kam, ist die sichere Diagnose „Simmonds^scher Krankheit“ nicht zu stellen, sie
wurde bei einer unserer Kranken von klinischer Seite gestellt und auch nach der
relativen Heilung festgehalten. Bevor wir unsere Krankenaufzeichnungen über den
klinischen Befund mitteilen, seien einige allgemeine Bemerkungen vorausgestellt.
Die Beziehung der Hypophyse zu den Sexualorganen, vor allem zu
Uterus und Mamma, ist sehr mannigfaltig. Seit 1927 wissen wir, daß Vorderlappen¬
störung zur Atrophie des Ovars oder Unterdrückung des Brunstzyklus führt. Beim
Tier steht die Scheidenbildung und deren Sekretvorgänge unter starkem Einfluß der
Hypophysenwirkung, sie läuft über das Ovar. Auch die Keimdrüsen beeinflussen
intensiv die Hypophyse. Ihr Ausfall wirkt ähnlich wie Kastration durch Aus¬
schaltung der Keimdrüsen. Zufuhr von Hypophyse hebt ähnlich wie Zufuhr von
Sexualhormon bei reifen und unreifen Tieren beiderlei Geschlechts mit Ausnahme
der Sterilität die anderen typischen Folgen der Kastration auf.
Zur Charakterisierung der Simmonds’schen Krankheit sei eine kurze Schilderung
Hoskins erinnert. „1914 wurde von Simmonds ein schweres, unaufhaltsam zum
Tode führendes Leiden, die ,hypophysäre Kachexie* beschrieben. Als einzig
anatomische Veränderung wird hier eine vollkommene Atrophie der Hypophyse
gefunden. Die Krankheit ist selten, bis jetzt enthält die Weltliteratur nicht ganz
50 Fälle. Der Verlauf der Krankheit kann schnell sein, es kann aber auch viele
Jahre dauern, bis sie zum Tode führt.
Die Kranken bekommen ein früh gealtertes Aussehen, das besonders durch die
Atrophie der Haut und Verlust der Haare hervortritt. Eine allgemeine Auszehrung
aller Organe führt zu schwerer Schwäche. Der Appetit fehlt völlig. Im Anfangs¬
stadium besteht oft Durst und vermehrte Wasserausscheidung. Der Grundumsatz
ist ebenso wie der Gehalt des Blutes an Erythrozyten herabgesetzt. Der Kohle¬
hydratstoffwechsel ist meistens gestört. Atrophie der Geschlechtsorgane mit Ausfall
der Sexualfunktion ist oft ein Frühsymptom.
Bis heute gibt es keine befriedigende Behandlungsmethode für die hypophysäre
Kachexie, wenn auch in neuester Zeit einige Erfolge mit Hypophysenextrakt be¬
richtet wurden. Ein theoretischer Hinweis auf den Nutzen solcher Extrakte wurde
in den Tierversuchen von Smith gegeben, der die Erkrankung bei seinen Ver¬
suchstieren durch Hypophyseneinpflanzung verhindern konnte. Am Menschen ist
diese Methode praktisch noch nicht anwendbar, daher sucht die Forschung noch
nach einem wirklichen Extrakt.**
Während für den Ausbruch von Krankheiten der Drüsen mit innerer Sekretion
auch nach den Daten der Unfallversicherung — vor allem bei Basedow — das
Das Problem der Organpsychose
445
psychische Trauma eine größere Bedeutung als das mechanische hat, sind verwert¬
bare Beobachtungen über die deletäre Wirkung des psychischen Traumas für Hypo¬
physenstörungen mir nicht bekannt geworden. Daß eine seelische Behandlung wirk¬
sam sein kann, ist ja kein Beweis für die seelische Ätiologie eines Basedow, eines
Knochenbruchs oder einer Simmonds’schen Krankheit. Es muß hervorgehoben
werden, daß vom Körperschema aus — wie Schilder annimmt — wahrscheinlich
auf dem Weg über die vago-vegetative Apparatur des Zwischenhirns vegetative Funk¬
tionen dirigiert werden können. Dieser ganze Gehirnbereich ist ein bedeutendes
Erfolgsorgan des Narzißmus.
Zur Charakterisierung der typischen Verhältnisse einzelner organisch Kranker
unserer Beobachtung sei Frl. M. Y. herausgegriffen. Die Feststellung durch Grote
in der Noorden-Klinik ergab:
Marie Y., 17 Jahre, früher nicht krank. Seit langer Zeit Appetitmangel.
Menarche mit 14 Jahren, seit dem 16. Jahr aber völlig wieder aufgehört. Regel war
immer gering und verzögert. Sie friert immer. Oft blaue Hände und Füße. Etwas
Haarausfall. Gewichtsabnahme seit einem Jahre zunehmend, sie ißt zu wenig. Mag
„nur Brot‘^ Objektiv fand sich typisch asthenisch graziler Bau (wie bei beiden
Eltern und dem Bruder). 171 cm Länge, 45,5 kg Gewicht, also Rohrerscher Index
91,6. Grundumsatz 25%. Sonst kein wesentlicher Befund. Blutdruck 85/70 mm Hg.
Sehr zarte durchscheinende Haut, rothaarig, sommersprossig. Harnmengen während
der Behandlung gering, Harn hochkonzentriert, farbstoffreich. Blutbild relative
Lymphozytose (46%) Hb. 100, RBK. 5 Mill. Es wurde Ruhekur, kohlenhydratreiche
Stunden diät durchgeführt. Insulin bis zu 52 E. am Tage, dazu Prolan und Unden.
Während der dreiwöchigen Behandlung nahm die Kranke noch 1,0 kg abw
Insulin hat völlig versagt, trotzdem die Ernährung oft gegen den Widerstand des
Mädchens gut durchgeführt wurde.
Dauer der klinischen Behandlung 25 Tage.
Grundumsatz im Beginn — 25,2% (144 ccm O2 pro Minute).
Grundumsatz am Schluß —20% (154 ccm Og pro Minute).
Anfangsgewicht und Rohrerscher Index 45,5 kg (R. 1 . = 91,6).
Gewichtsänderung unter Insulinmast — 1,0 kg.
Verbrauchte Insulinmengen pro Tag (durchschnittlich) 39 Einheiten.
Durchschnittliche Kalorienmenge in der Nahrung pro Kilo 62 .
Durchschnittliche Harnmenge 520 ccm.
Durchschnittliche Dichte des Harns 1032.
Den Klinikern war aufgefallen, daß M. Y. eine depressive negativistische Haltung
aufwies, allerdings war daraus nicht der Schluß gezogen worden, man solle eine see¬
lische Behandlung versuchen. Als das Körpergewicht weiter ständig abnahm, wurde
noch von klinischer Seite ein Versuch mit klimatischer Beeinflussung im Hochgebirge
gemacht, um im Sinne einer Leistungssteigerung Einfluß zu nehmen, sowohl auf das
inkretorische System als auch die Psyche. Ein vierwöchiger Aufenthalt im
Engadin, 1800 Meter hoch, war ein völliger Mißerfolg. Das Gewicht nahm rapid
bis auf 35 kg ab, die allgemeine Schwäche wurde so erheblich, daß man sich auf
einen infausten Ausgang vorbereitete. Die Patientin hatte nach der Rückkehr vom
Engadin, am 19. März 1931, ein Gewicht von 33,7 kg. Im Überweisungsbericht der
bettlägerigen Patientin des Arztes aus dem Engadin heißt es u. a.: In den letzten
Wochen zunehmende Adynamie, Anergie. Der Appetit ist minimal, auffallend
auch das Durstgefühl. Patientin ist grauenhaft abgemagert, sehr schwach, psychisch
manchmal eher euphorisch, manchmal völlig energielos. Die Haut ist sehr trocken,
kalt, Akrozyanose. Ständig Frieren. Der Schlaf ist oberflächlich und kurz. Die Ver-
446
Heinrich Meng
dauung sehr erschwert, durch Spasmen, die auf Belladonna etwas geringer wurden.
An den inneren Organen konnte kein auffallender Befund erhoben werden. Die
Intelligenz scheint nicht gehtten zu haben. Auffallend niederer Puls von 46—54,
der enorm weich ist; Blutdruck 65/99 mm Untertemperaturen 35,2 bis
36,4® C. Die Blut- und Stoffwechsellagebefunde entsprachen den früheren.
Die tastenden Versuche, die Kranke durch eine andere Art vorwiegend körperlich
eingestellter Therapie in den nächsten Monaten zu fördern, verliefen negativ. Das
Gewicht hob sich gelegentlich, aber eine grundsätzliche Änderung trat nicht ein.
P. gibt den Zeitpunkt an, wann eine seelische Therapie eingesetzt wurde und wie all¬
mählich sich die Gewichtskurve änderte. Über die Technik meiner Behandlung
sei folgendes bemerkt;
Eine exakte psychoanalytische Behandlung konnte ich bei einer Patientin, die
seit Monaten von mir körperlich behandelt war, nicht vornehmen. Freud und
seine Schüler haben in ihren Veröffentlichungen über die Technik der Psychoanalyse
gezeigt, weshalb eine kombinierte Behandlung zu unterlassen ist. Bei der Unsicher¬
heit, ob überhaupt eine Psychotherapie sich als brauchbar erwiese, und ob das Auf¬
geben aller anderer als rein seelisch wirkender Eingriffe zu verantworten sei, blieb,
wenn kein Arztwechsel stattfinden sollte — und er wurde von den Eltern und der
Patientin abgelehnt —, nur der Versuch einer Therapie, die etwa dem älteren
kathartischen Verfahren Freuds entsprach, also jener Phase der Psychoanalyse, in
der die Hypnose aufgegeben war und die Katharsis bei vollem Bewußtsein durch-
geführt wurde, zunächst „eingestreut“ in die bisherige Behandlung. Ein direkter
Vergleich mit früher läßt sich deshalb schwer durchführen, weil der heutige
Psychoanalytiker, der die 35 Jahre psychoanalytischer Entwicklung kennt, die alte
Methode mit anderen theoretischen Voraussetzungen und praktischen Erfahrungen
anwendet. Die Patientin war damit einverstanden, bewußt nichts zu verschweigen
und den Versuch der freien Assoziation durchzuführen. Es wurde ihr versichert,
daß der Arzt alle ihre Mitteilungen mit niemandem besprechen werde, also strengste
Diskretion zugesagt.
Das Problem der Organpsychose
447
Über den Ausgang der Behandlung folgendes: M. Y. ist praktisch gesund und
leistungsfähig, auch nach dem Bericht vom Sommer 1934. Die Nachkontrolle Früh¬
jahr 1933 veranlaßten Grote und mich zu folgender gemeinsamen Fest¬
stellung, nachdem die frühere Patientin noch einmal einer kurzen klinischen Beob¬
achtung unterzogen war:
Das Körpergewicht betrug nunmehr 56,6 kg bei einer Körperlänge von 171 cm,
der Rohrersohe Index also 113,2. Bei den zwei Untersuchungen (18. u. 19. Mai
1932) an zwei aufeinanderfolgenden Tagen fanden wir bei eiweißarmer Kost einen
Grundumsatz von rund —20%. Am 21. Juni 1933 fanden sich die gleichen Ver¬
hältnisse noch vor. Am Tag nach eiweißarmer Kost betrug der Grundumsatz
— 16,8%, bzw. — 19,8%. Das Körpergewicht 65 kg, der Rohrersche Index also 130,
ein normaler Wert. Damit ist also gesagt, daß trotz der jetzt befriedigenden Ge¬
wichtsverhältnisse, der klinisch wiederhergestellten Gesundheit und des ausgezeich¬
neten subjektiven Zustandes bei voller geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit
die grundlegende Stoffwechselabweichung weiter besteht. Man würde also damit
zu rechnen haben, daß unter gegebenen psychophysischen Umständen ein Rückfall
erfolgen könnte. Das Mädchen lebt ohne jede Hormonzufuhr und jede Behandlung.
Die Periode ist wieder eingetreten. Wir haben in diesem Befund ein schönes Bei¬
spiel für den Begriff der Responsivität, den der eine von uns (Grote) vor
Jahren für solche Zustände vorschlug, bei denen eine vorhandene erhebliche Ab¬
weichung von der statistischen Norm doch mit einer gesundhaft erscheinenden, voll
leistungsfähigen Persönlichkeit vereinbar ist. Trotz des pathologischen Verhaltens
des Grundumsatzes sprechen wir in diesem Fall nicht mehr von Krankheit.
„Unsere Mitteilung einer gelungenen Insulinmastkur bei hypophysärer
Magersucht — auf sie gehe ich bei dieser Publikation nicht ein — ist nichts
Besonderes. Eine Simmonds’sche Erkrankung, die unter hormonaler Behand¬
lung resistent bleibt, aber unter seelischer Behandlung sich beeinflussen läßt, ist
schon bemerkenswerter, weil sie die Problematik jedes Verfahrens zeigt und
wielleicht zu einer erweiterten Auffassung der Pathogenese führen könnte. Wir
meinen nicht, daß die Restitution hier ,spontan‘ erfolgt ist, denn vor Ein¬
setzen der Psychotherapie wäre sozusagen Zeit genug für eine spontane Re¬
mission gewesen. Wir haben keine klare Vorstellung davon, wie eine Psycho¬
therapie einen endokrinen Mechanismus in Bewegung setzt.‘‘
V.
Wir wollen nun unter Annahme einer „Organ-Psychose“ die Brauchbarkeit
dieses Begriffes an den Beobachtungen, namentlich der Vorläufer der Krank¬
heit, prüfen. Bei einer Gruppe von Kranken war der Ausbruch der Erkrankung
durch eine Depression eingeleitet, in deren Verlauf Entfremdung und De¬
personalisation auftraten, auch spätere depressive Schübe wiesen diese Er¬
scheinungen auf. Die beobachteten Ich-Vorgänge machen es wahrscheinlich,
daß sich bei jeder Ich-Einschränkung, wie Federn auch in seinem Luzerner
Kongreßvortrag 1934 beschrieb, Depersonalisationsvorgänge abspielen. Auch
die Grenze zwischen Körper und Umwelt wird in manchen Fällen unscharf. In
448
Heinrich Meng
homosexuellen und bisexuellen Phantasien zeigen sich paranoische Reaktionen,
bei denen die Mutter als Verfolger auf tritt. Unter den seelischen Mechanis¬
men des Krankheitsprozesses spielt die Regression zu Identifizierungen, meist
auf die Stufe des oralen Narzißmus, eine bedeutsame Rolle. An den Fixierungs¬
stellen liegt es wohl, daß bei der Regression eine Zeit gewählt wird, in der
Passivität, Unlust zum Ergreifen, Halten und Sicheinverleiben vorherrscht.
Diese Unfähigkeit, zum mindesten diese Unlust zu Angriff wie zur Verteidi¬
gung, erklärt die Hilflosigkeit, über welche die Kranken — nicht nur Mager¬
süchtige, sondern auch hypochondrisch Verstimmte — stets klagen und an
der sie auch tatsächlich leiden. Die allgemeine Stagnation und Starre des pas¬
siven Verhaltens zeigt aber nicht die eigenartige Spannung der Neurotiker
oder Psychotiker, welche besonders masochistisch geblieben sind. Ein solcher
ist immerhin noch produktiv und schafft, zum mindesten in der Phantasie,
stets neue Variationen und Steigerungen der passiven Situationen. Auch ist
die masochistische Passivität erschöpfbar. Noch weniger hat diese apathische
Inertia etwas mit der Katatonie zu tun, bei welcher komplizierte unbewußte
Situationen und Konflikte unter der Untätigkeit walten. Wir müssen hier
annehmen, daß es der reine Wiederholungszwang sei, die Trägheit des libido¬
losen Seins, das nur nicht stirbt. Das wäre die metapsychologische „Adyna-
mik‘" solcher Organpsychosen. Dieser tiefen Regression und Triebentmischung
entspricht es, daß die Lustprinzipien, Lust-Unlustprinzip und Realitätsprinzip,
kaum zur Geltung kommen, höchstens noch im symbolischen Denken, welches
vielfach an Stelle des logischen tritt. Alle diese Störungen erfassen aber kaum
je die ganze Persönlichkeit, es sei denn, daß ein Kranker in eine Phase schwer¬
ster hypochondrischer Melancholie eingetreten ist.
Für die Klinik der „Organ-Psychose‘‘ scheint mir das Fehlen von Schmerz
und Masochismus — in engerem Sinn — auch das Aufhören der Funktionen
typisch zu sein. Wir trennen also die Begriffe des Masochismus von Passivität
und Untätigkeit. Es entsteht der Eindruck, daß sich um so weniger Masochis¬
mus entwickelt, je mehr die Destruktion isoliert zur Geltung kommt.
Bei den weiblichen Patientinnen spielt in den Frühphantasien die Brust als
erogenes Organ eine größere Rolle als andere Sexualobjekte. Während der
Pubertätszeit wurde die Mamma von einer Patientin oft eng eingeschnürt,
von anderen nur ängstlich kontrolliert, ob dieselbe — vor allem durch starkes
Essen — nicht zunähme, sie meint, „wenn man ißt, wächst man, und jeder
sehe der Brust die starke Sinnlichkeit des Menschen an‘‘. Exhibitionistische
Tendenzen traten deutlich hervor.
Als Identifizierung ist die des Mädchens mit der Mutter gegenüber der
väterlichen stark bevorzugt und führt in eine homosexuelle Richtung. Vor
allem spielt die Homosexualität die Hauptrolle in den Pubertätskonflikten.
Mit dieser Art von Identifikation hängt es wohl auch zusammen, daß in der
Das Problem der Organpsychose
449
Tiefe der Mutterbindung die Angst wirksam ist, von der Mutter umgebracht
(aufgefressen?) zu werden. Freud hat in seiner Arbeit „Über die weibliche
Sexualität"' in dieser Abhängigkeit von der Mutter den Keim späterer Paranoia
des Weibes gesehen. Unser Material bestätigt seine Annahme, daß die Angst,
umgebracht zu werden, einer Feindseligkeit entspricht, die sich im Kind gegen
die Mutter infolge der vielfachen Einschränkungen der Erziehung und Körper¬
pflege entwickelt. Der Mechanismus der Projektion wird durch die Frühzeit
der psychischen Organisation begünstigt.
Die Übertragung gestaltete sich, vor allem bei den von uns behandelten
weiblichen Magersüchtigen, anders als bei den Neurotikern, sie ist unverlä߬
lich, gelegentlich stürmisch, meist unpersönlich und negativistisch, paranoisch
und narzißtisch. Federn sieht in solcher Übertragung eine charakteristische
Schwierigkeit der Analyse von Psychosen.
Als aktueller Anlaß für den Beginn der Erkrankung, oder der Er¬
scheinungen, die ihren späteren vollen Ausbruch vorbereiten, ist die Puber¬
tät hervorzuheben. Auffallenderweise wurde bei drei Patientinnen in Er¬
fahrung gebracht, daß sie eine ironische Bemerkung in der Pubertätszeit über
die spontane Körperentwicklung durch die Reifung sehr ernst nahmen; sie
brachte als Reaktion auf die erwähnten exhibitionistischen Tendenzen den
trotzigen Entschluß in Gang, der natürlichen Entwicklung sich entgegenzu¬
stemmen. Aussehen wie eine erwachsene Frau und normale Körperfülle haben
bedeute Sinnlichkeit, es verrate eine starke Sexualität. Bei zwei Patienten
war die Fiauptfrage, welche Mittel zur Verfügung stünden, um ein plötzlich
einsetzendes Dickwerden abzubremsen. Hier reihten sich Phantasien
über enorme Körperausdehnung und Schwangerschaftsbefürchtungen an, die
über das neurotische Maß hinausgingen und an die Größenwahnideen der
Psychotiker erinnern. Eine Patientin fürchtete vor allem, daß Dickwerden
unbedingt zu Steifwerden der Gelenke führe und daß sie nicht wisse, was man
gegen dieses Steifwerden prophylaktisch tun könne. Die Patienten vermieden
auch deshalb das Essen, weil sie zeitweise — vor allem am Anfang der Er¬
krankung — sich nach dem Essen kleiner Mengen schlecht oder vergiftet fühl¬
ten, auch erregt wurden; das erprobte Gegenmittel war starke Körperbewegung.
Eigentliche Ekelgefühle — die für neurotische Eßstörungen charakteristisch
sind — fehlten meist; im Vordergrund standen passive Uninteressiertheit und
entsprechende Apathie, Kaufaulheit, Fehlen jedes Verlangens nach Nahrung.
Eine Patientin schilderte, daß, wenn sie sich trotzdem zu essen vornähme, eine
innere Stimme sie vor den Folgen des Dickwerdens warne: diese Stimme wurde
als die der Mutter erkannt. Die anschließenden Einfälle liefen darauf hinaus,
daß die Mutter jeder Unbeherrschtheit des Kindes entgegengetreten sei, später
in der Pubertät jede Äußerung, die an das sexuelle Problem erinnerte, zurück¬
wies und stets meinte, das würde ihre Tochter erst nach Jahren verstehen. Um
sich zum Essen zu zwingen — es war ohne Erfolg — trat die Patientin vor
450
Heinrich Meng
den Spiegel, beschimpfte sich, sagte, sie sei eine Vogelscheuche, häßlich, kein
Mensch würde sie in diesem Zustand ansehen oder lieben.
Diese am Ich sich abspielenden Konflikte verstärkten die Depression.
Der Sadismus, der früher der Mutter und den Objekten galt, hatte ein über¬
strenges Über-Ich gebildet; seine chronischen Konflikte mit dem Ich disponier¬
ten zu narzißtischen, neurotischen Symptomgestaltungen, eine Bestätigung für
Beobachtungen anderer Autoren. So taucht nochmals die Frage auf, weshalb
aus psychologischen Gründen die Frau zu bestimmten Erkrankungen mehr
disponiert ist als der Mann. Freud hat in seiner Einführung des Narzißmus
betont, daß die Frau durchschnittlich stärker narzißtisch sei als der Mann.
In seiner späteren Arbeit über die psychischen Folgen des anatomischen Ge¬
schlechtsunterschiedes vermutet er deren enge Korrelation mit der Modifika¬
tion ihrer Über-Ich-Bildung und bestimmten Charakterzügen der Frau, z. B.
daß die Frau weniger Rechtsgefühl zeige als der Mann, weniger Neigung zur
Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des Lebens, sich öfters in
ihren Entscheidungen von zärtlichen und feindseligen Gefühlen leiten lasse.
Hanns Sachs zeigte bei einer Zusammenfassung seiner klinischen Beobachtung
von Frauen mit stark ausgebildetem Über-Ich, daß es den Mädchen relativ
selten gelänge, die Ödipussituation mit der Fähigkeit zur wirklichen Ent¬
sagung abzuschließen. Gelänge das nicht, so weise ihr Über-Ich gegenüber dem
des Mannes typische Mängel auf. Grund für das Mißlingen sei die stärkere
Neigung, bei Enttäuschungen in der Ödipussituation partiell zum Oralen zu
regredieren. Ich vermute an Hand unserer Beobachtungen, u. a. an Mager¬
süchtigen, daß die Voraussetzung zur zunächst mangelhaften und dann später
überstürzten Über-Ich-Bildung in der Stellung des kleinen Mädchens zur
Mutter beruht. Die Identifizierung mit ihr in der präödipalen Zeit ist bei den
später an Magersucht Erkrankten viel intensiver und totaler als sonst
üblich ist und damit auch stärker narzißtisch. Die Lähmung des Ichs in der
Identifizierung erschwert die Konflikte der Ödipussituation und die normale
selbständige und allmähliche Über-Ich-Bildung.
Wir stellen als Hypothese auf, daß das Modell der die organische Erkran¬
kung einleitenden Ich-Deformierung in der abnormen Ich-Deformierung der
Frühkindheit gegeben ist, in deren Genese die Mutter die führende Rolle
spielte. Auf den Rückzug von Organlibido von erogenen Zonen, vor allem
von der eigenen Brust und durch die starke Besetzung der Mutter als Objekt,
folgte eine Angleichung des Ichs an die verschiedenen Mütter in der Reihe
ihres verschiedenen Verhaltens dem Kind gegenüber. Am stärksten trat die
strenge, asketische, entsagende und unerbittliche Mutter hervor. Sie war es,
die vom Anfang an jede sexuelle Regung bewachte und jede leise körperliche
Regung als sexuell und damit als unerwünscht bekämpfte. Als das Mädchen,
in die Pubertät getreten, gehorsam wie früher fragte, ob es sich nach der Tanz¬
stunde von einem Schulfreund auf die Wange küssen lassen dürfe, wurde das
Das Problem der Organpsychose
451
verboten, im inneren Einverständnis mit der Fragenden selbst. Wir dürfen
meinen, daß eine in normaler Art selbständig gewordene Tochter diese Frage
nicht stellen oder die Antwort ablehnen würde.
In der Frühkindheit spielte bei unseren Kranken das Essen eine wichtige
Rolle, ohne daß typische Eßstörungen nachgewiesen wurden. Bei einer Neur¬
ose würde die frühkindliche Eßstörung zur Anamnese gehören. Die Mutter
ist die orale Verwöhnerin der Frühkindheit gewesen, war aber sonst streng
und asketisch. Für das Überwiegen der Mutter waren oft akzidentelle Ur¬
sachen dazugetreten. Die eine Patientin wächst durch den frühen Tod des
Vaters nur bei der Mutter auf, bei anderen Patientinnen scheint die negative
Ödipusbindung primär und lange wirksam. Eine stark betonte Deckerinnerung
der Patientin ohne Vater war die Phantasie, daß sie im Alter von 3 oder
4 Jahren für die kranke Mutter kocht und sie mit besonders gutem Essen ver¬
sorgt. Es taucht daran anschließend Material auf, das die Kastration seitens
der Mutter hervorhebt. Die Kastration wird durch die Identifizierung mit
ihr akzeptiert und in ihrer Tatsächlichkeit vermieden und so für die spätere
homosexuelle Bindung das Fundament gelegt. In der Latenz kommen Phasen
vor mit dem Versuch, die Oralität zu sublimieren. Dabei scheint die Latenz¬
zeit schon mit 4 oder 5 Jahren einzusetzen, wohl als Folge der frühen Über-
Ich-Abgrenzung. Vor Ausbruch der Magersucht — wie wir es sonst oft vor
dem Ausbruch eines schizophrenen Schubes sehen — treten intellektuelle,
wissenschaftliche und künstlerische Interessen besonders hervor, in ihrem Ver¬
lauf werden diese Besetzungen aufgegeben, meist mit Abwendung von der
Umwelt. Denkstörungen sind der Ausdruck dieser Zurückziehung und wer¬
den zur Rationalisierung des Interesseverlustes ihrerseits benützt. Durch all
das wird das Ich gelähmt und verfällt der Passivität.
Schon vorher ist die Vereinheitlichung zu einem stabilen Ich
durch die übermäßige narzißtische Identifizierung wieder aufgehoben worden
oder sie kam überhaupt nicht zustande. Unter den Objektbesetzungen von
Umwelt und Körperorganen werden nur solche zugelassen, die von der Mutter
erlaubt sind. Was aber an Befriedigungsmöglichkeit, an Organ oder Umwelt,
entgegen dem Gebot der Mutter übrig bleibt, wird zur Identifizierung im
Subjekt verwendet. Die homosexuelle Identifizierung führt zu gesteigerter
Selbstbeobachtung des Körpers und der Triebe, d. h. es werden körperliche
und triebliche Empfindungen so behandelt wie Objekte, und gleichzeitig wird
das eigene Genitale zum Hauptträger des Narzißmus. Auf dem Gebiet des
Denkens bedeutet dies eine Fixierung an die magisch-symbolische Stufe. Die
narzißtische Identifizierung ist wohl auch dafür mit verantwortlich, daß im
Aufbau des Körpers und des Körperschemas Defekte entstehen, die narzißtisch
überbesetzten Organe lassen eine der inneren und äußeren Realität angepaßte
Verteilung im Körperschema nicht zu. Vielleicht hängt es damit zusammen,
daß Patienten bei einem Körpergewicht von 30,8 bzw. 33 kg nichts von
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
31
452
Heinrich Meng
einer normalen körperlichen Ermüdung empfinden, ähnlich wie Schizophrene.
Die nur partielle Regression erklärt wohl auch die Bewegungslust, die von den
Kranken meist ich-fremd wie ein „fremder Impuls“ geschildert wird.
Ihr Körperschema weist Defekte auf, wohl als Folge, daß der Narzißmus auf
Kosten der objektlibidinösen Besetzungen gesteigert ist. Wir gehen von der
Annahme Schilders aus, daß die Antriebe zur libidinösen Besetzung der
einzelnen Körperteile vom Körperschema aus erfolgen. Das Körperschema re¬
präsentiert den Körper; dieses ist für den Narzißmus Gegenstand libidinös be¬
setzter Wahrnehmung und Vorstellung. Hierbei ist das Ich als Beobachter und
als Sammler für Empfindungen bereits in einer Vorform tätig; auf Grund von
Sinneseindrücken entwickelt sich das Körper-Ich und teilt die Libido dauernd,
je nach dem Reiz- und Befriedigungserlebnis. Die Libidoverteilung — und
mit ihr die früheste Ich-Struktur — ist aber auch abhängig von der phylo¬
genetischen Vorgeschichte des Narzißmus. Durch die vererbte Bedeutung des
Sexus und der Sexualorgane ist deren narzißtische Besetzung „eingefleischt“,
so daß Störung und Schädigung regressiv zu narzißtischen pathologischen Pro¬
zessen im individuellen Leben disponieren. Daß die Sexualorgane narzißtisch
besetzt sind, gilt für beide Geschlechter. Diese Besetzung wirkt, wie psycho¬
analytisch nachgewiesen wurde, in verschiedener Weise. Freud betont, daß
das Ich vor allem ein körperliches Ich sei, die Perzeption des eigenen Körpers
ist sein Kern. Der anatomische Unterschied zwischen den Geschlechtern läßt
auch die reale und phantasierte Perzeption des Körper-Ichs eine andere sein.
Die besondere Rolle dieser Anteile des Ichs zeigt sich bei Erkrankungen inso¬
fern, als manche Krankheiten oder Krankheitsformen vorzugsweise eines der
Geschlechter befallen, oder daß der Verlauf je nach dem Geschlecht ein anderer
wird. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß für die Prädestination
eines Geschlechtes noch viele andere biologische Gründe maßgebend sind. Es
muß auch bedacht sein, daß das W (Weininger) der anatomischen Kon¬
stitution nicht nur der Frau zugehört, sondern auch bei allen mehr bisexuell
veranlagten Männern, wahrscheinlich bei allen Männern nachweisbar ist; es
repräsentiert daher die „weibliche Natur“ den weiblichen Konstitutionsanteil
auch beim Manne. Max Hartmann weist darauf hin, daß bei niederen Lebe¬
wesen jede einzelne Zelle die materiale (weibliche) und die lokomotorische
(männliche) Komponente noch nebeneinander enthält und ihre „Sexualität“
eine „relative“ Eigenschaft ist, insofern ein und dieselbe Zelle einer weiblicheren
gegenüber männlich, einer männlicheren gegenüber weiblich sich benehmen
kann. Beim Aufbau des Körperschemas in der primär narzißtischen Phase
dürften sogar die libidinös besetzten Zellen und deren bisexuelle Struktur
(Fließ) mitwirken. In der sekundär narzißtischen Phase tritt die Wirkung
der anatomischen Differenzierung immer intensiver hervor. Denn wir sprechen
vom sekundären Narzißmus nach Freud, wenn Objekte mit ihren Besetzun¬
gen wieder in das Ich einbezogen wurden. An diesen Objekten war nun der
Das Problem der Organpsychose
453
Geschlechtsunterschied vor oder nach der Einbeziehung in das Ich gemerkt
worden; das wirkt auf das Ich, zu dem sie nun gehören, zurück. Die Vor¬
stellung vom eigenen Ich, namentlich der Grad der Besetzung des eigenen
Genitales, wird dadurch geändert und zum Teil unlustvoll, zum Teil wird es
ganz ignoriert — an anderen Fällen aber, namentlich wenn der Kastrations¬
komplex bald überwunden wurde, besonders lustvoll überbetont. Auf diese
Einflußnahme des Gesamtkomplexes (Kastrationskomplex, Penisneid und
Penisstolz, Grauen vor der Vagina, vielleicht nach der Meinung mancher
Autoren auch Bejahung der Vagina, Menstruationskomplex nach Daly) auf
das Werden des Ichs wurde noch wenig hingewiesen. Wir meinen nun, daß
noch vor diesen Einflüssen, welche die Formation des sekundären Narzißmus
bestimmen, schon in der primär narzißtischen Phase das Ich sich unter dem
Einfluß der pränatal beginnenden Entwicklung von selbst spezifisch männlich
mit Betonung der wachsenden äußeren Genitalien, und spezifisch weiblich mit
Ignorierung der gleichsam verkümmernden äußeren Genitalien (Kompensation
durch Betonung des Gesamtkörpers) entwickelt. Die spätere Kenntnisnahme
vom Genitalunterschied an den Objekten verstärkt dann im Falle der normalen
Entwicklung diese Differenz in der Bildung des Ichs je nach dem Geschlechte.
Selbstverständlich stützen wir uns bei dieser Annahme auf Gesamteindrücke,
nicht auf Beobachtungen; diese stehen aber mit der Annahme in Einklang und
bestärken sie. Wir stimmen damit auch mit der allgemeinen Ansicht
überein, nach welcher bei normaler Anlage und Unterstützung derselben durch
die Einflüsse der Erziehung schon im Säuglingsalter das Wesen und Selbst¬
gefühl — darin äußert sich der primäre Narzißmus — je nach dem Geschlechte
verschieden sind.
Solche tief zurückgreifende Zusammenhänge erklären das Auftreten der or¬
ganischen Erkrankungen in der Zeit der modifizierten Wiederholungen der
Frühkindheit, in der Pubertät. Wir verstehen aber vielleicht auf Grund
unserer Annahme auch eher das Zustandekommen eines typischen Leidens
unserer Kranken, nämlich der Depersonalisation. Wenn das Ich schon bei
seinem Entstehen mit der Entwicklung des Organismus innig verbunden ist,
so muß es auch später bei tiefen Störungen in der inneren Harmonie der
I.ebensvorgänge, also vor allem des hormonalen Zusammenstimmens versagen
und vice versa. Dem Ich obliegt die Zusammenhaltung, Steuerung von Be¬
setzungen des Körpers und der Seele; das Ich steht aber immer Änderungen
dieser Besetzungen gegenüber, die vom Es, dem Körper und der Außenwelt
kommen. Kann das Ich diesen Besetzungen mit der Ich-Grenze nicht folgen,
so entsteht nach Federn die äußere oder die innere Entfremdung, die De¬
personalisation. Bei der Schilderung ihrer Depersonalisation klagen unsere Pa¬
tienten auch darüber, daß sie keine echte Liebe und keinen echten Haß fühlen
und bezeichnen sich dazu als unfähig. Zum Teil kommt das daher, daß die
vorzeitige homosexuelle Identifizierung mit der Mutter auf präödipaler Stufe
31*
454
Heinrich Meng
die genitale Reifung hemmt. Jedenfalls wird das Ich gelähmt. Es muß re¬
lativ viel Libido auf einer formal und inhaltlich tiefen Stufe ihre Verwen¬
dung gefunden haben und fixiert sein. So erfolgt die weitere Entwicklung
nicht mehr mit normaler Besetzung der sich formenden Organe. Das Kind
erschrickt vor dem eigenen W^achstum, hinter welchem das Ich zurückblieb.
Das tritt dann in der Pubertät zutage. Die Beobachtung der physiologischen
Gewichtszunahme in der Pubertät hat starke Angstanfälle ausgelöst. Die Be¬
obachtung, daß sie „stark“ würde, nachdem ihr schon die Zunahme der Brust,
das Wachsen der Haare, die erste Blutung und das Verhalten der Umwelt
Unruhe ausgelöst hatten, führte auch zu einer Art Entfremdung gegenüber
dem alten Ich vor der Pubertät. Vorgänge in dieser Zeit der Reifung und
später bei Überlegungen und Vorstellungen anläßlich einer Ehewahl wurden
zu aktuellen Antrieben und „exhibitionistischen“ Provokationen, die zu
Libidostauung und Regressionen den Anstoß gaben. Dem entspricht der de¬
pressive Charakter. Diese schwere Verstimmung und auch der Mangel an
jedem Gesundheitswillen scheinen tiefen, ungeklärten Triebschicksalen auf der
Seite der Aggression und der Vernichtungstendenzen zu entspringen. So wie
zu viel Libido im Ich verblieben ist, so auch zu viel des Destruktionstriebes,
und so wird das Ich zum Gegenstand der Selbstzerstörung. Die Krankheit,
der ein längeres Kränkeln vorausgeht, ist ein Ausdruck dieser Tendenz. Eine
Patientin vergleicht ihre Einstellung zur Waage, die wöchentlich fixieren soll,
ob eine Gewichtszunahme stattfände, damit, daß sie auf dem Schafott hinge¬
richtet würde. Sie fürchtet die Gewichtszunahme und will sie doch gleich¬
zeitig.
Bedeutungsvoll wird die Ambivalenz für den Aufbau der organischen
Krankheit. Das Ich verhält sich ambivalent zu beiden Trieben, der Kranke
haßt sich und ist ständig mit sich beschäftigt. Er haßt die Krankheit und lebt
doch ganz für sie und in ihr. Die Identifizierung mit der Mutter, die über¬
streng und asketisch fortwirkt, mobilisiert den Aggressionstrieb in Form der
Selbstkastration (Entfernung erogener Zoner, vor allem von Brust, Gesäß und
Fettpolster) und Krankheitswillen. Die masochistischen Phantasien und Re¬
gungen in Assoziationen und Träumen sind nicht nur oral-kannibalistischer
Genese, sondern wollen auch die Ergebnisse der Identifizierungsprozesse mit
der bösen und verbietenden Mutter wieder nach außen projizieren.
VI.
Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ist eine Entscheidung darüber
nicht möglich, ob ein Organsymptom Ursache oder Folge einer Neur¬
ose oder Psychose ist. Diese Frage hat zuerst Felix Deutsch aufgeworfen;
sie ist wahrscheinlich nur eine vorläufige. Die Biologie kann schon den Nach¬
weis erbringen, daß jede psychische Einwirkung einen gewissen Chemismus in
Gang setzt und jeder somatische abnorme Vorgang eine psychische Alteration,
Das Problem der Organpsychose
455
wenn der dagegen vorbereitete dynamisch-ökonomische Schutz versagt. Die
psychische Reaktion schützt sozusagen das Organ durch die psychische Er¬
ledigung — die organische Krankheit kann vice versa die Psyche vor Krank¬
heit bewahren. Wir halten es für unwahrscheinlich, daß es eine „hypophysäre
Psychose“ im eigentlichen Sinne des Wortes gibt. Die Hypophysenänderung
mag mit zu den Folgen der Psychose gehören und ihrerseits die Symptome
der Psychose steigern und umändern. Ich verweise auf die psychoanalytischen
Publikationen von Ferenczi, Hollos, Schilder, vor allem über die pro¬
gressive Paralyse, ferner auf die von Seiten der psychiatrischen Forschung
durch Monakow und auf die von Spielmeyer im „Handbuch der Geistes¬
krankheiten“ niedergelegten Ergebnisse der anatomischen Erforschung der
Psychosen. Diese Frage hat (ich war Schüler Nißls) meine Aufmerksamkeit
lange vor dem psychoanalytischen Interesse an diesem Problem beansprucht
und meine Beobachtungen an organisch Kranken auch in dieser Richtung be¬
einflußt. Spielmeyer charakterisiert die Fragestellung in der heutigen ana¬
tomischen Forschung u. a. so:
„Man möchte nicht nur wissen, welche Elemente effektorischen und welche
rezeptorischen Charakter haben, sondern auch, welche mehr für die psychischen
Vorgänge von Bedeutung sind. Man kann hier nicht vorsichtig genug sein, viele
von den hier gezogenen Schlüssen sind allein schon erkenntnistheoretisch unhaltbar.
Aber immer wieder werden die Autoren durch allerhand normal- und pathologisch¬
anatomische Befunde zur Beschäftigung mit diesen schwierigen und reizvollen
Fragen angeregt. Ich erinnere an Oskar Vogts eingehende Untersuchung des Lenin¬
schen Gehirns. Er fand dabei auffallend große Pyramidenzellen in der Hirnrinde.
Vogt setzt diesen Befund mit gewissen ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten Lenins
in enge Beziehung. Vogt sagt, ,daß sich Lenin durch eine besondere Willensstärke
und durch die ganze Art seines Denkens von anderen Menschen unterschieden
habe. Diese besondere Art des Denkens wird dahin präzisiert, daß sich der Ge¬
dankenablauf bei ausgesprochen origineller Gestaltung, vor allem bei einer be¬
wunderungswürdigen Selbstkontrolle seiner Gedanken ungewöhnlich schnell ab¬
spielte. Nach unserem bisherigen Wissen mußte man an eine besondere Ausbildung
der Zellen der dritten Schicht denken, da die Zellen dieser Schicht vor allem die
Verbindung zwischen den verschiedenen Rindenfeldern darstellen. — Es hat sich
nun tatsächlich herausgestellt, daß im Leninschen Gehirn die Zellen der dritten
Schicht einer großen Reihe von Rindenfeldern eine besondere Größe zeigen.*
Neben der Vergrößerung der Ganglienzellen der dritten Schicht fand Vogt
noch eine Zellverringerung dieser Schicht und eine Verschmälerung der vierten.
Solche Ausdeutung verlangt natürlich eine Auseinandersetzung mit der
Erkenntnistheorie. Aber auch rein anatomisch erhöhen sich die Schwierig¬
keiten der Bewertung solch außergewöhnlicher Verhältnisse durch das Vorkommen
ähnlich scheinender Dinge in kranken Gehirnen. Ich habe in meiner Histopathologie
ein Bild von einer Purkinjezelle gegeben, die in allen Teilen ausgesprochen ver¬
größert war; solche Elemente fand ich bei sogenannten Kleinhirnatrophien. Von
Nißl weiß ich, daß er in unvollständig degenerierten Thalamuskernen (nach ex¬
perimenteller Isolierung der Hirnrinde) Ganglienzellen mit abnormer Größe des
Zelleibes und der Fortsätze sah. Wir haben in den letzten Jahren vielfach auf solche
Bilder geachtet und fanden bei groben Zerstörungen, die besonders im jugendlichen
456
Heinrich Meng
Alter, mitunter aber auch später auftraten, solche übergroßen Elemente in be¬
stimmten Zellschichten, z. B. sehr häufig in der zweiten Schicht.“
Die Befunde von Monakow bei Schizophrenen, deren Plexus chorioidei
ein mehr oder weniger gleichartiges morphologisch-anatomisch-pathologisches
Bild aufzeigten, lassen erwarten, daß die Hoffnung, Ergebnisse der anatomi¬
schen Psychosenerfassung zu erzielen, nicht unberechtigt ist. Die Unter¬
suchungen über die körperlichen Störungen der inneren Sekretion (Wuth,
Speranski, Klienberger u. a.) zeigen aber, daß bisher die Befunde über
die Spezifität eines Organdefektes für bestimmte Psychosen umstritten sind,
auch die spezifischen Sektionsbefunde von Menschen, die im Endzustand von
Psychosen zugrunde gingen. Psychoanalytische Pionierarbeit zur Klärung der
Frage der Rückwirkung anatomischer Defekte auf den Ausbruch seelischer
Störungen verdanken wir Ferenczi, auch die Publikation Alkans über die
anatomischen Organkrankheiten aus seelischer Ursache zeigt einen originellen
Weg der Erfassung. Ferenczi ging bei seiner Pathoneurose von der Be¬
obachtung der Wirkung beim traumatischen Verlust der Geschlechtsorgane
und der Potenz aus. Er formulierte die drei Bedingungen zum Entstehen der
Pathoneurose: Es muß ein lebenswichtiges Organ verletzt sein, es muß beson¬
ders libidinös betont sein und das Individuum besonders narzißtisch. Beson¬
ders instruktiv sind die Ergebnisse der klinischen Untersuchungen V. von
Weizsäckers („Körpergeschehen und Neurose“), vor allem der Abschnitt
über die Deutung der Angina als Krankheitsprozeß und über die Rolle der
Bisexualität und der paranoiden Projektion in der Symptombildung.
VII.
Wir haben im Anschluß an den Begriff einer „Organ-Psychose“ auch die
Frage der seelischen Behandlung solcher organ-psychotischer Leiden aufge¬
rollt und überprüft, wieweit das Psychische im Ich der Kranken auch die
organischen Vorgänge krank sein läßt. Wir kamen zur Annahme, daß bei
einzelnen Organkranken, vor allem einzelnen Magersüchtigen, das Ich dieser
Persönlichkeiten primär gestört ist.
Zwischen der Arbeit Ferenczis und der unseren scheint zunächst ein
Gegensatz zu bestehen; Ferenczi zeigt und erklärt das psychische Erkranken
im Anschluß und als Folge organischer schwerer Schädigung, wir wollen die
Annahme einer Organkrankheit als Ausdruck der Ich-Krankheit wahrschein¬
lich machen. Im Grunde ist aber nur das klinische Material bei d 6 n Patho-
neurosen und den Organpsychosen ein anderes, unsere Grundauffassung ist
die gleiche wie die von Ferenczi und mittelbar wie die von Freud. Es ist
die Auffassung, daß dauernd abnorme Besetzung oder übermäßig abnorme
auch von kürzerer Dauer das dieselbe tragende Organ oder System zur Krank¬
heit nicht nur disponieren, sondern auch krank machen können, obwohl die
exogene Inanspruchnahme nicht die Grenzen der Norm überschritten hat; die
Das Problem der Organpsychose
457
exogene Inanspruchnahme selbst macht — hauptsächlich auch durch die pro¬
vozierte Besetzungsänderung — subjektiv krank. Diese Auffassung durchzu¬
führen ist eine Fortsetzung und Anwendung des dynamisch-ökonomischen
Gesichtspunktes Freuds in metapsychologischer Hinsicht und seiner Auf¬
fassung der Aktualneurose im klinischen Arbeiten. Freud hat bereits die
Hypochondrie als Aktualneurose bezeichnet und dadurch unserem Verständnis
zugänglich gemacht und auch allmählich unserer Therapie: denn die Psycho¬
analyse heilt, ganz allgemein ausgedrückt, durch Beeinflussung der Be¬
setzungen.
Mit Regressionen sind Schädigungen der Organe und Organsysteme ver¬
bunden. Es bleibt eine schwere Aufgabe, zu entscheiden, wieweit die Re¬
gression Folge oder Ursache der organischen Krankheit ist. Die Organe sind
auch Träger der psychotischen Besetzungsänderung. Ihre Funktion ist quali¬
tativ geändert, sie kann ausfallen oder mit der entsprechenden Funktion auf
eine verlassene Stufe regredieren. Auch die gebräuchlichen Diagnosen Hysterie
und Neurasthenie bedeuten nach diesem Gesichtspunkt nicht mehr einheit¬
lich eine bloß neurotische Erkrankung, was die Klinik bestätigen kann. Die
klinische Hysterie und Neurasthenie enthalten auch psychotische Elemente.
Wir vermuten, daß die pathologischen Besetzungsänderungen nicht nur zu ge¬
störten Funktionen, sondern auch zu Schäden der Substanz von Organen
führen. Der Gesichtspunkt der Organpsychose läßt tiefere Antriebe zur
Prägung eines Symptoms annehmen und eher verstehen, daß bei Neurosen
und Psychosen die Symptome phänomenologisch gleich sein können. Als Bei¬
spiel ihrer Verschiedenheit sei die im Verlauf der Magersucht beobachtete Ver¬
änderung der Menstruation angeführt. Sie steht in Parallele zu verwandten
Vorgängen in der Melancholie und der Schizophrenie. Das stille und schmerz¬
freie Sistieren der Menses auf Monate und Jahre weist mehr auf die Psy¬
chose mit ihrer narzißtischen Regression hin, als auf eine neurotische Störung.
Die vegetative Drosselung erinnert stärker an Selbstvernichtung und Todes¬
trieb, als es neurotische Störungen tun. Zur Neurose gehören hingegen mehr
die Schmerzen verschiedenster Art, Unregelmäßigkeit der Menses, Frigidität
und Störungen des Orgasmus. Gerade daß eine Enthemmung teils undifferen¬
zierter, teils prägenitaler Partialtriebe durch Regression in ganz frühe Phasen
geschieht, erlaubt bei bestimmten psychogenen Organstörungen einen organ¬
psychotischen Prozeß anzunehmen.
Wir wissen, daß das Ich erkranken kann, wenn die Versagung in der Außen¬
welt unerträglich wird und auch andere Abwehrmittel nicht ausreichten oder
fehlten. Bei Organkrankheit oder Organdefekt kann aber auch das Ich er¬
kranken, weil die Organstörung die Befriedigung an der Außenwelt verhindert.
Gibt es Organsysteme, die spezifisch vom Ich bei bestimmten Psychosen ge¬
stört oder anatomisch geschädigt werden? Die Magersucht ging in Heilung
über, ohne daß der intermediäre Stoffwechsel in Ordnung kam, das Ich gab
450
Heinrich Meng: Das Problem der Organpsychose
seine Störung auf. Hätte eine längere und tiefere Analyse den intermediären
Stoffwechsel zur Norm geführt? Gibt es vielleicht Nachwirkungen bei Ich-
Störungen, d. h. Affekt-Erschöpfungszuständen, die erst nach Jahren als Dispo¬
sition oder als Erkrankung von Organen zutage treten, als eine Sekundär¬
wirkung davon, daß das Ich nicht mehr gut synthetisch arbeiten kann? Es
wäre möglich, daß Ich-Störungen je nach dem betroffenen spezifischen Ich-
Teil bestimmte Organ- oder Organsystemstörungen einleiten. An der Organ¬
psychose ist auch die Beziehung zwischen Genitale und Ich einer klinischen
Überprüfung zugänglich und ihre Beteiligung bei der Neurosenwahl, viel¬
leicht auch bei der Entscheidung der Wahl der Haut, Innenhaut, erogenen
Zonen, Magen-Darmtrakt usw.
Zum Schluß sei ein Gesichtspunkt hervorgehoben: Es ist die Immuni¬
sierung durch die Frühneurosen.
Wir übersehen noch nicht die immunisierende Wirkung der Frühneurose
gegen eine drohende spätere Psychose. Vorläufig hatten wir den Eindruck,
daß bei Organpsychotikern typische kinderneurotische Störungen in der
Anamnese auffallend spärlich sind. Es könnte sein, daß man später auf Grund
eingehender klinischer Beobachtungen feststellt, daß die Neurose bereits ein
Heilungsversuch ist, der das sich organisierende Ich zu späterer Abwehr gegen¬
über der Psychose befähigt.
Melanie Klein hat in ihrer Kinderanalyse das Verdienst erworben, als
erster analytischer Forscher die Psychose von Kindern unter 4 Jahren ana¬
lytisch beschrieben zu haben. Wir wissen noch nicht, wann der Psychosen¬
keim gelegt wird oder eine bei der Geburt schon vorbereitete Psychose durch
neurotische Immunisierung aufgehalten oder „vernichtet“ werden kann. Unter¬
suchungen hierüber müßten unter Berücksichtigung der „Organpsychose“
fortgesetzt werden.
Beiträge zu einer Psyciiopathologie des Traumes
Von
Eduard Hitsdimann
Wien
„Es ist wohl kein 2 weifeE‘, sagt Freud in der „Traumdeutung^^, „daß eines
Tages neben der Psychologie des Traumes eine Psychopathologie des Traumes
die Ärzte beschäftigen wird/^
Schon elf Jahre nach Erscheinen der „Traumdeutung*^ im Vorwort der
dritten Auflage, konstatiert Freud: „Die Deutung der Träume sollte ein
Hilfsmittel werden, um die psychologische Analyse der Neurose zu ermög¬
lichen; seither hat das vertiefte Verständnis der Neurosen auf die Auffassung
des Traumes zurückgewirkt.**
Nun sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen und es lohnt wohl der Mühe,
die Aussichten für die Darstellung einer Psychopathologie des Traumes zu be¬
trachten, einer Lehre von den Träumen der Kranken.
Unter der „Psychopathologie des Traumes** kann man nicht die Lehre vom
krankhaften Traum verstehen. Denn i n gewissem Sinn sind alle Träume ein
pathologisches Produk t, „das erste Glied in der Reihe abnormer psychischer
Gebilde, von deren weiteren Gliedern die hysterische Phobie, die Zwangs- und
die Wahnvorstellung** den Arzt beschäftigen. Bei dem allmählichen Übergang
vom gcsun^n S^lisch^n ins krankhafte Seelische ist es nicht wahrscheinlich,
daß ein einzelnerJTraum als krankhaft bezeichnet werden kann. Gewiß sind
überlebhafte, überreichliche Träume, Träume, welche ihrerP Zweck, den
Schlaf zu hüten, verfehlen und den Schlafenden aufwecken, bei Neurotikern
häufiger; aber unter ungewöhnlichen Umständen sind sie auch beim Ge¬
sunden möglich. Angstträume kann man erzeugen, wenn man einem Ge¬
sunden im Schlaf die Herzgegend belastet. Selbst ein perverser Traum wird
sich mit tatsächlicher Gesundheit verbinden können; Verdrängtes, das nur
im Schlaf sich verrät, ist mit Erfolg verdrängt: „Der Tugendhafte begnügt
sich von dem zu träumen, was der Böse im Leben tut** (Plato).
Wie wir sehen werden, ist erst die Wiederholung gewisser Träume,
ihre Häufung, ihre Veränderung gegen früher, Zeichen einer gewissen Charakter¬
veranlagung oder einer Erkrankung.
Es wird weiterer Untersuchungen bedürfen, festzustellen, ob es „patho-
gnomonische Träume** im engeren Sinne gibt; ich verweise hierzu auch
auf meine weiteren Ausführungen.
Inwieweit verfügen wir nach langen Jahren medizinischer Erfahrung über
ein sicheres Wissen von Gesetzmäßigkeiten der Träume bei bestimm¬
ten Neurosen oder Charakteren? Was wissen wir über Änderungen der
Träume während einer Analyse? Hat die Theorie der Neurosen durch die
Eduard Hitschmann
460
Traumdeutung Erweiterung oder Bestätigung erfahren? Hat die Erfahrung an
Krankenträumen die Deutbarkeit der Träume gefördert, z. B. die der so¬
genannten typischen Träume? Hat eine Untersuchung, die Freud seinerzeit
als sehr dankenswert bezeichnet hat,‘ stattgefunden: nämlich über die Tat¬
sache der häufigen Wiederkehr des gleichen manifesten Traum¬
inhaltes bei verschiedenen Träumern? (Gemeint sind die Träume
vom Gehen durch enge Gassen, vom Gehen durch eine ganze Flucht von
Zimmern, die Träume vom nächtlichen Räuber... die von Verfolgung durch
wilde Tiere... oder von Bedrohung mit Messern, Dolchen, Lanzen, die
beide letztere für den manifesten Trauminhalt von an Angst Leidenden
charakteristisch sind u. dgl.)
Gerade die zuletzt genannten, so häufigen Träume vom Verfolgtwerden
durch Räuber oder wilde Tiere, von mit Messern oder Lanzen usw. Bewaff¬
neten sind ein alltägliches Objekt der Deutung in der psychoanalytischen Be¬
handlung: sie sind längst erkannt als der Ausdruck unterdrückter passiver
Wünsche, der Überwältigungswünsche von Frauen und Homosexuellen. Daß
feminin-masochistische Wunschregungen dabei eine große Rolle spielen, steht
fest. Die Träume des kindlichen Pavor nocturnus bedeuten auch direkt Kastra¬
tionsangst. Es handelt sich hier um Urregungen des bisexuell veranlagten
Menschen, daher denn die Träume, als vereinzelte, allgemein menschlich sein
mögen. Aber gehäuft, wiederholt werden sie zum Neurosensymptom,
zum Zeichen der Angsthysterie und Angstneurose des weiblichen und der
passiven Homosexualität des männlichen Träumers.
Wir begegnen hier zum erstenmal der Feststellung, daß bestimmte Träume
in den Analysen mehrmals gefunden werden; Träume, die jedermann in
Phasen seiner Entwicklung gehabt haben kann, werden zum Zeichen eines
bestimmten Charakters, einer bestimmten Veranlagung oder
Krankheit, wenn sie oft und oft geträumt werden. Die Frage an den
Träumer, ob er Träume habe, die sich seit seiner Kindheit oder durch lange
Jahre wiederholen, scheint mir daher berechtigt.
Ich konnte in der Verfolgung solcher Beobachtung wiederkehrender Träume
feststellen, daß wiederholte Träume der Nacktheit oder unvollständi¬
ger Kleidung für die Befangenheitsneurosen (Errötungsangst), wieder¬
kehrende Prüfungsträ ume für Impotenz und Frigidität, solche vom
Tode naher Verwandter für Zwangscharaktere und Zwangsneurosen, aber
auch für gewisse Formen von Phobien (Angst aus unbewußtem Schuldgefühl
wegen Aggression) charakteristisch sind. Der m asochistische Charakter (mo¬
ralische Masochismus) zeigt ganze Serien von Träumen des Mißlingens,
odysseeartiger Ketten ausgesuchter Schwierigkeiten, Blamagen, Hmdernisser
Erniedrigungen usw. im manifesten Trauminhalt. Es liegt nahe, für einen
i) „Die Traumdeutung“, 5. Aufl., S. 269.
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes
Teil derselben Selbstbestrafungen anzunehmen; Alexander brachte den
Nachweis dafür.^
Die tiefere Analyse solcher „Pech‘‘-Träumer ergibt mir allerdings, daß sie
in der Kindheit auch des erogenen Masochismus fähig waren.
Diesem Thema der Unlustträume sind in Freuds Traumdeutung schon
manche Bemerkungen gewidmet. Wenn die peinlichen Vorstellungen, mehr
oder weniger verändert, aber doch gut kenntlich in den manifesten Traum¬
inhalt gelangen, werde ein Zweifel an der Wunschtheorie des Traumes ge¬
weckt: „der Fall“, sagt Freud, „bedarf weiterer Untersuchung.“^
Sollte nicht Leidenslust des Es, Angstlust, Lust an Zwangssituation und
Spannungsschmerz, Demutneigung, Bekenntnis zur eigenen Schwäche (Ka-
striertheit) im Traum sich durchsetzen — als Ausdruck von triebhaftem
Masochismus!?
Die psychopathologische Betrachtung der Träume regt zu vielen Bearbeitun¬
gen unfertiger Probleme an.
Bekanntlich versagt unsere Traumdeutungskunst gerade bei den „typischen
Träumen“ in gewissem Grade; die Einfälle des Träumers pflegen auszubleiben
oder sie werden unklar und unzureichend. „Man muß sich das bessere Ver¬
ständnis solcher Träume“, sagt Freud, „aus einer größeren Reihe von Bei¬
spielen Zusammentragen.“
Wir konnten gerade hier durch die Beobachtung solcher wiederkehrender
Träume — wenn auch nicht solcher im engsten Sinn typischer —, so von
Nacktheitsträumen, von Träumen vom Tode naher Verwandter, Prüfungs¬
träumen u. a. und ihrem Vorkommen bei bestimmten Neurosen einen Zu¬
sammenhang als gesetzmäßig konstatieren, der natürlich für die Pathogenese
und die seelische Einstellung der Betroffenen Bedeutsames aussagt.
Die gleiche Wiederkehr auch nur des manifesten Trauminhaltes weist selbst
ohne jedesmalige Traumanalyse Wichtiges nach. Die Befangenheit als Cha¬
rakter oder als Neurose hängt in erster Linie mit Schautrieb und Exhibition,
weiters mit dem Kastrationskomplex innigst zusammen. Als Musterbeispiel
diene die erste Einsicht in folgenden Fall:
Ein 3 3 jähriger lediger Mann kam wegen peinlichster Befangenheitszustände
in Amt und Gesellschaft in Behandlung; als Knabe hatte er sehr unter Erröten
gelitten. Er gab alsbald an, häufig den folgenden Traum zu haben:
yylch hin in Gesellschaft und sehe plötzlich, daß ich nur im Hemd hin; alle anderen sind
normal angekleidet oder gar im Smoking. Ich hin sehr verwundert und peinlich berührt^
Auch träume er öfters, daß er seinen Penis in der Hand habe, wie abgebrochen;
er setzt ihn dann wieder an seinen Ort an und ist beruhigt, daß wieder alles
in Ordnung ist.
Die Genese des Schuldgefühles aus Aggression, besonders aus Todeswünschen,
2) „Träume mit peinlichem Inhalt“, Int. Zeitschr. f. Psa., XVI, 1930.
3) a. a. O., S. 414.
Eduard Hitschmann
462
und sein Zusammenhang mit Zwang und Angst wird durch die Träume vom
Tode Verwandter sozusagen en gros bestätigt. Denn die Klarlegung des laten¬
ten Sinnes dieser Träume verdanken wir ja Freud.
Daß die Prüfung, die der Prüfungstraum meint, zumeist nichts anderes ist
als die Prüfung der Potenz (Stekel), ergibt sich aus den wiederholten Prü¬
fungsträumen der Impotenten mit Sicherheit.
Auch das Wissen um die Symbolik wird durch solche Beobachtungen be¬
stimmter Träume im Zusammenhang mit Neurosen gesichert. So ist es z. B.
i der Zahnreiztraum, mit Zahnverlust im Traum, dessen Deutung als
Kastrationstraum sich so aufdrängt, daß sie eine andere kaum zuläßt. Für
Abrahams Ansicht,^ er bedeute einen Todes wünsch gegenüber einem Nahe¬
stehenden, kann ich nicht eintreten. Auch bei Psychosen bedeutet das Zahn¬
reizmotiv in Träumen die Kastration;^ Analoges ließ sich in Phantasien eines
Dichters nachweisen.®
Hier wird noch zu differenzieren sein zwischen Träumen, die speziell die
beiden oberen mittleren Schneidezähne betreffen, welche vor allem als Symbol
des Genitales zu gelten haben,^ und Träumen vom Verlieren anderer Zähne,
ferner dem Traume, in dem der Zahn von einem Anderen entfernt wird, oder
vom gleichzeitigen Verlust aller Zähne usw.
Ich fahre hier fort über Zahnverlustträume zu berichten und bin mir be¬
wußt, gegen den strengen Geist der Traumdeutung zu verstoßen, wenn ich
so oft nur d as manife ste T raumb ild ohne den latenten Inhalt anführe; denn
jener fordert, daß wir uns um den manifesten Traum „möglichst wenig
kümmern*' (Freud). Teilweise glaube ich das Recht dazu zu haben, indem
ich hier für geübte Analytiker schreibe; teilweise gibt mir auch Freud das
Recht dazu, der in seinem Aufsatz „Die Handhabung der Traumdeutung in
der Psychoanalyse"® meint: „Ein besonders geschickter Traumdeuter
kann sich etwa in der Lage befinden, daß er jeden Traum des
Patienten durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und zeit-
j raubenden Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen."
Ich berichte zuerst den Traum einer Patientin, die in intimer Beziehung zu
dem Manne steht, den sie bald zu heiraten gedenkt:
y,Ich sollte mit meiner Cousine ein Unternehmen gründeny wozu nötig wary daß wir
gute und schöne Zähne haben. Ich hatte solche und besah sie im Spiegel. Meine Cousine
4) „Entwicklungsgeschichte der Libido“, S. 86, Int. psa. Verlag, Wien, 1924.
5) N. Sugar, „Die Rolle des , 2 ahnreiz‘-Motivs bei Psychosen“, Int. Zeitschr. f. Psa.
XII, 1926.
6 ) Hitschmann, „Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns“, Int. psa. Verlag,
1926.
7) Vgl. die Pubertätsriten gewisser primitiver Völker.
8) Ges. Sehr., Bd. VI. Nunmehr, 12 Jahre später, muß der Traumdeuter vielleicht gar
nicht mehr „besonders geschickt“ dazu sein!
iv4X<.
)
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes
463
aber hatte die zwei oberen mittleren Schneidezähne abgebrochen, die
anderen Zähne wackelten und waren klein wie Mäusezähne. Ich war enttäuscht wegen
des Unternehmens und die Cousine tat mir leid. Wir berieten mit meinem Bräutigam.
Dann war ich lange mit ihm allein beisammen. Er lag nackt auf dem Divan. Ich
sollte mit seinem männlichen Organ spielen und er erwies sich sehr erregbar und kraft-
voll:'
Die Patientin berichtet dazu, daß sie mit dieser Cousine oft gleichgeschlecht¬
lichen Verkehr gehabt habe und sie demnächst treffen solle. Vor dem Ein¬
schlafen habe sie sich vorgenommen, jetzt wegen ihres Bräutigams sich nicht
mehr der Cousine sexuell zu nähern; auch dachte sie daran, daß die Cousine
sehr viel onaniert, überhaupt sich vieles erlaubt habe. Zu den Zähnen bringt
sie keine Einfälle. Nur erwähnt sie, daß sie seit der Pubertät oft geträumt
habe, sie habe alle ihre Zähne verloren, respektive fürchte sie zu verlieren.
Die zwingende Deutung besagt, daß das Genitale der Cousine zerstört ist
und die Patientin das nicht kastrierte des Bräutigams vorzieht. Es ist inter¬
essant, daß hier die Defekte der oberen zwei Schneidezähne als Symbol für
die Kastration an einem weiblichen Genitale verwendet sind. Ob die Pa¬
tientin, die auch unter Selbstvorwürfen onaniert hat, mit dem Verlust aller
Zähne eine Geschädigtheit ihres Genitales meint, bleibe dahingestellt.
Ich lasse nun einen Traum eines 21jährigen Mannes folgen, der an Impotenz
und Errötungsangst, Blut- und Operationsscheu litt; sein lebhafter
Kastrationskomplex verriet sich auch durch Syphilidophobie.
I. „Ein Jäger oder ich selbst war beschuldigt, einen weiblichen tragenden Hasen
gegen das Verbot geschossen zu haben. Das Fell lag vor; das Geschlechtsorgan war
herausgeschnitten, die oberen V or der zähne waren herausgeschossen, hingen
aber noch zwischen Kiefer und Oberlippe. An ihnen wollte der Ankläger beweisen,
daß es ein weibliches Tier gewesen sei. Der Jäger wurde zum Abhauen von Hand
oder Fuß verurteilt. . ."
Der Ankläger, so erklärte der Träumer, sei sein strenger ungerechter Vater,
der Jäger der Patient selbst. Der Vater verbot ihm die Onanie und alles
Sexuelle. Die Schuß Verletzung am Hasen ist auch wie ein verbotenes Tun an
einem weiblichen Wesen. „Der Vater hatte oben ein künstliches Gebiß, das
mir großen Eindruck machte, so daß ich mir auch eines wünschte; ich pro¬
bierte seines im Munde. Als mir, ich war ii Jahre, ein Mädchen erzählte, sie
habe oben zwei falsche Schneidezähne, erregte mich dies sexuell, besonders
als sie diesen Defekt entblößte. Auch andere Körperdefekte an Frauen er¬
regen mich, so z. B. ein amputiertes Bein. Ich selbst habe die mittleren oberen
Schneidezähne schief stehen, weswegen ich mich sehr schäme.""
Es folge nun ein zweiter Traum desselben Patienten; es ist ein (atypischer)
Prüfungs- und Nacktheitsträum, wie wir ihn bei einem impotenten Erröter
erwarten:
\
Eduard Hitschmann
464
2. yylch werde in der Mittelschule geprüft. Meine Braut ist unter den Zuhörern.
Der Professor prüft Latein. yPotentia connuhiü und yBatteria dentiuni heißen die
beiden Stellen. — ^Der Knabe soll achtgeben auf die Batterie der Zähneß Ich
las fehlerhaft und wurde getadelt. Zur Rüge aufstehendy hatte ich das Gefühly aus dem
Bette entblößt aufzustehen. Ich schämte mich vor der Br aut.
Dieser Prüfungstraum mit Versagen, noch dazu vor einem Mädchen, be¬
trifft die Potenz in der Ehe und zeigt die unzerstörte Zahnreihe als Ideal.
Was die Zahnträume von Frauen anlangt, so ist mir auf gef allen, daß sie bei
frigiden Frauen häufig sind, und zwar bei dem Typus, den schon Abraham
in seiner klassischen Arbeit über den Kastrationskomplex der Frauen® be¬
schrieben hat, und von dem wir Beispiele in unserem Buch „Die Geschlechts¬
kälte der Frau“^® bringen. Es seien zunächst zwei Träume angeführt, die auch
die Veränderung der Stellung der Analysierten zum Penis wünsch im Verlaufe
der Analyse zeigen,
1. Traum: yylch und Tante und noch jemand beobachten meine Zähne mit Spiegeln.
Der Mund ist viel größery meine Zähne sind größer als bei einem Manny mit vielen
Goldplomben und einer Brücke. Ich bin stolz auf dieses Gebißy das ich von allen Seiten
sehe.'*
2. Traum: yylch bin beim Zahnarzt wegen Plombieren. Er zog aber 4 bis 5 untere
Zähne. Ich bin erschrockeny wehre michy sehe auf: der Arzt ist mein Analytiker."
Im Traum dieser späteren Phase ist die Kastration, das resignierende Auf¬
geben der Männlichkeit — im Sinne der Analyse — im Werden.
Der Deutung von Träumen, wo alle Zähne auf einmal herausgegriffen wer¬
den oder herausfallen, bin ich nicht sicher; auch sie scheinen mir bei frigiden
Frauen häufiger vorzukommen. Z. B.:
yyMeine Zähne zerfallen wie Sand in der in den Mund hineingreifenden Hand.
Der Mund zeigt den roten Gaumen nur mit Zahnbröckeln.**
Man möge aber bedenken, daß bei diesen Frauen die Entwicklung der
Libido vom Oralen zum Vaginalen sozusagen unfertig geblieben ist; es wäre
naheliegend, im Zahnverlust die Darstellung des Werdens der ge¬
wünschten fühlenden und saugenden Vagina — als „zahnlosen
Mund‘" zu sehen. Dieser Vermutung Entsprechendes wurde bereits geäußert:
In einem auf einem Einfall beruhenden „Erklärungsversuch des Zahnreiz¬
traumes“ vermutet Antonie Rhan,^^ derartige Träume seien bei kleinen
Kindern eine Erinnerung an die zahnlose Zeit des ersten Daumenlutschens und
brächten den Wunsch der Zahnlosigkeit, um noch später lutschen zu
können, respektive vom Zähnewachsen keine Schmerzen zu haben: „Die
Mundöffnung muß zahnlos werden, um den Finger ungeschädigt zu be¬
herbergen.“
9) Int. Zeitschr. f. Psa., VII, 1921.
10) Hitschmann u. Bergler, 1933, Verlag „Ars medici“, Wien.
11) Int. Zeitschr. f. Psa., XVIII, 1932.
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes
465
Die weitere Untersuchung der Träume bestimmter Krankheitsbilder wird
sicherlich wertvolle Resultate erbringen, wenn die Deutung, nach allen Regeln
der Kunst vorgenommen, auch vergleichend betrachtet werden wird.
Es lassen sich aber schon jetzt — dank den Entdeckungen Freuds —
manchmal die zu bestimmten Neurosen gehörigen, unsere pathogenetischen
Theorien beweisenden Träume mit Gesetzmäßigkeit auf zeigen. Zweifellos
war Freud von den Traumbefunden geleitet, als er seine Neurosenlehre
ausarbeitete.
Wenn die Theorie der hysterischen Eßstörung und des hysteri¬
schen Erbrechens besagt: Es sind verdrängte Fellatiowünsche, welche
diesen Zuständen zugrunde liegen, so müssen wohl im Laufe der Analyse
diese verdrängten Regungen sich im Traum verraten. Dieser ist dann auch,
gedeutet, eines der Mittel, um dem Kranken Unbewußtes bewußt werden und
ihn die Genese seines Leidens verstehen zu lassen. Kommt bei an die frühe Ero-
genität der Lippenzone Fixierten die Verdrängung hinzu, so werden sie Ekel
vor dem Essen empfinden und hysterisches Erbrechen produzieren, sagt die
Theorie; kraft der Gemeinsamkeit der Lippenzone wird die Verdrängung auf
den Nahrungstrieb übergreifen.
Es ist wertvoll, ehe wir die Träume solcher Fälle an uns vorüberziehen
lassen, uns einmal zu überlegen, was unser Wissen vom Traum und seiner
Symbolik uns denn lehrt. Wie sieht, theoretisch betrachtet, der Traum einer
verdrängten Fellatiophantasie wohl aus?
Offenbar wird der Penis nur in symbolischer Verhüllung in Erscheinung
treten, also als Schlange oder als länglicher Gegenstand. Sicherlich werden,
da es sich ums In-den-Mund-nehmen handelt, in der Symbolik länglich ge¬
formte Eßwaren, etwa Gurken oder Würstel, der Hals eines Huhnes, ein
Fisch bevorzugt sein. Das wirklich Charakteristische an dem Traum — das
ihn von bloßen Träumen von phallischem Interesse (Schaulust) oder, bei Ver¬
drängung, von Angstträumen über den Phallus, unterscheidet — werden
Ekelgefühle sein.
Ich führe nun eine Reihe solcher Träume weiblicher Patienten an.
I. Traum: yjch komme nach Hause; im Speisezimmer steht ein geschlossener
Korb, von dem mir das Stubenmädchen sagt: die gnädige Frau hat etwas zum Essen
gekauft. Ich sehe Krebse und Schlangen darin, werfe den Deckel zu und laufe ge-
ängstigt weg. — Plötzlich bin ich draußen und sitze mit Otto, der mich fortwährend
küßt, auf einer Bank; die Leute schauen aus den Fenstern auf uns, imd da er nicht
aufhört zu küssen, sage ich, ich müsse nach Hause, etwas Wichtiges tun. Zu Hause
finde ich die Schlangen aus dem Korb gekrochen, im ganzen Zimmer verteilt: ein greu¬
licher Anblick. Ich verlange ein Messer und beginne, die Schlangen in Stücke zu
schneiden, habe große Angst. Damit es schneller geht, verlange ich eine Hacke und
zerstückle sie unter furchtbarem Ekel.” Dabei erwache ich und der Ekel dauert
den ganzen Tag an.
Eduard Hitschmann
466
2. Traum: „Ich hin zu Hause hei den Eltern, gehe vors Haus und sehe mich vor
einem Verkaufsstand, wo ich Gurken kaufen will. Ich hin bereit, sie zu kaufen, sehe
aber plötzlich, daß da ein Kübel steht, Teller werden gewaschen und es kommt mir
vor, als oh die Verkäuferin ihre Füße in dem Kühel wäscht und ich verzichte
auf die Gurken.' Ganz offensichtlich aus Ekel.
3. Traum; „Ich wollte eine Speise essen, sie lag vor mir, Gabel und Messer staken
darin, in dem Klumpen. Ich wußte, es sei ein männliches Glied."
4. Traum: „Ich sah auf einem Tisch den enthäuteten langen Hals eines Huhnes
liegen. Er lebte, sollte abgeschnitten werden. Ich riet, mit einem Messerstiel den Kopf
zu schlagen. Es war abscheulich, ich hatte großen Ekel."
5. Traum: ,,Ich liege im Bett, die Mutter leckt mein Hemd unten innen ah. Ich
war befremdet und fragte mich: Wieso tut man so etwas? Ich sah dann den ehemaligen
Freund der Mutter, der zugesehen hatte, schmatzend ein Butterbrot essen. Ich wußte
daß auch die Mutter mit Appetit ißt und war erstaunt, daß man nach so etwas
mit solchem Appetit essen kann."
Zu Traum 3—5, die von einer jungen Frau mit Globusgefühlen, nervösem
Erbrechen und Frigidität stammen, sei hervorgehoben, daß sie als Kind leb¬
haft die Zunge lutschte, leidenschaftliche Küsse mit der Mutter tauschte (man
mußte sie trennen!). Sie war in der Ehe mit einem einfachen Manne frigid
und unglücklich, hatte einen Flirt mit einem Professor, mit dem sie Zungen¬
küsse tauschte. Sie erfuhr von einer Freundin, daß deren Freund vorher mit
der Mutter der Pat. gleichfalls eine Beziehung mit Fellatio unterhalten habe.
Phantasien darüber, z. T. auch homosexuelle, bilden hier die Grundlage der
hysterischen Eßstörung.
Ich weise auch auf meine kasuistische Publikation „Über eine im Traume
angekündigte Reminiszenz an ein sexuelles Jugenderlebnis‘" hin;^^ auch diese
Patientin litt an hysterischem Erbrechen durch unbewußte Fellatio-Phantasien.
Die angeführten Träume sind alle für einen geschulten Psychoanalytiker
durchschaubar.
Vermutlich wäre es unvorsichtig, diese Träume als absolut pathognomonisch
für hysterisches Erbrechen zu bezeichnen. Gewisse Typen frigider
Frauen, und zwar solcher mit Penisneid, zeigen auch starke Fixierung an
frühe Oralität und leiden nicht selten an leichten Eßstörungen. Träume, in
denen sie dem Liebespartner den Penis abbeißen oder einen symbolischen
Ersatz, finden sich wiederholt; auch ohne jeden Ekel.
Ich bringe nun zwei Träume eines solchen Falles von Frigidität, bei dem
Eßstörung keine große Rolle spielte; in anderen Fällen hören wir jedoch: die
Frau könne seit der Ehe nicht gut essen.^^
12) Aus „Beitrag zur Oralerotik"* von Dr. Salomea Kempner, Int. Zeitschr. f. Psa..,
XI, 1925.
13) Int. Zeitschr. f. Psa. V, 1919.
Vgl. in „Die Geschlechtskälte der Frau"".
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes 4^7
1. Traum: ,J^ch way in einem Kino, es ging wüst zu und wufde auch ungenügend
bekleidet getanzt. Auch 'jener junge Mann war da, der mir vor Jahren Fellatio zuge¬
mutet hatte. Ich ging dann mit einem Manne viele Stiegen hinauf. Ich kaufte dann
kleine Gurken; aber in jeder, die ich anbiß, war ein WurmJ'
2. Traum: y,Ich lag mit einem jungen Liebespaar im Bett; der Mann befriedigte
uns beide, aber ich war eifersüchtig auf die andere. Dann waren zwei Paar Würstel
da; eines hatte ein ahgehissenes Ende oder es war abgebrochen. Dieses gehörte mir,
das andere der Freundin. Erst nach dem Koitus fehlte das Stückchen von meinem
Würsteir
Der letzte Traum beschäftigt sich deutlich mit dem Kastrationskomplex.
Wir können auch hier in andrer Art Vorgehen und — nachdem wir die
Entstehung dieses Typus von Frigidität aus Penisneid und Peniswunsch, also
aus dem Männlichkeitswunsch und Ablehnung der weiblichen Rolle im Liebes-
verkehr verstehen — konstatieren, welche Träume wir für diese Fälle
denn erwarten müssen. Wir lassen dazu unsere Erfahrungen vorüber¬
gehend außer acht. Es ist zu erwarten, daß diese Frauen sich im Besitz eines
Penis träumen, oder träumen, daß sie dem Mann das Glied rauben, abbeißen.
Sie träumen sich auch als Incuba, wollen sie doch die männliche Position ein¬
nehmen. Bei symbolischer Darstellung werden sie reiten, Flosen anhaben; sie
dringen in Identifizierung mit Männern in Häuser ein, haben Stiegenträume
u. dgl.
Auch in männlich-homosexueller Situation werden sie anzutreffen sein.
Die tiefste weibliche Phantasie vom Überwältigtwerden (durch den Vater)
wird als Angsttraum Vorkommen. Die unter der Behandlung zunehmende
Passivität der Wünsche wird in Angstträumen zunehmend zutage treten. Die
Zahnträume haben wir schon abgehandelt. Träume vom Steckenbleiben auf
Leiter oder enger Stiege, vom Nicht-hinunter-Können, werden solang auf-
treten, als die Detumeszenz, der Orgasmus noch fehlt. Dazu Träume vom
Kinderwunsch statt Peniswunsch und endlich, der Behandlung entsprechend,
Übetragungsträume.
Freud hat in letzter Zeit^® uns noch hinzufügen gelehrt, daß Frauen, die
den Wunsch, ein Mann zu sein, nicht überwunden haben, häufig von Brücken
träumen, die zu kurz sind, um das andere Ufer zu erreichen. Unter den
gleichen Vorbedingungen ist mir eine Phobie analogen Inhalts begegnet.
Wir müssen in diesem Sinne von einer Statistik der manifesten In¬
halte durchschaubarer Träume sprechen. Das enthebt den Analytiker
nicht der Arbeit, eine Deutung durchzuführen und sich, der thera¬
peutischen Widerstandstechnik entsprechend, mit dem Stande der Übertra¬
gung und des jeweiligen Widerstandes zu beschäftigen. Die geduldigen, tieferen
Deutungen bleiben für die Therapie und für weitere wissenschaftliche For-
15) „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.“ Ges. Sehr., Bd. 12.
Int. Zeitschrift f. Psychoanalyse, XX/4 32
Eduard Hitschmann
468
schung unentbehrlich. Sie bringen die notwendigen individuellen Details der
Pathogenese des Falles und dienen dazu, den Patienten durch neues Beweis¬
material zu überzeugen, ihm Unbewußtes bewußt zu machen.
Mit solchen statistischen Feststellungen hat sich aber bisher kein Analytiker
abgegeben; hingegen liegt von Professor Ernst Kretschmer eine solche
Arbeit vor, die aber psychoanalytischer Gesichtspunkte fast ganz entbehrt:
„Das Ressentiment im Traum.“*®
Der Autor geht von der Frage aus, ob denn der Psychopathologe berech¬
tigt sei, die Träume der Patienten zu ihrer Beurteilung beiseite zu lassen, und
beantwortet sie vielversprechend dahin, „daß es den Grundsätzen einer
soliden wissenschaftlichen und ärztlichen Urteilsbildung widerspreche, ein so
umfangreiches Stück Erfahrungsmaterial wie die Träume einfach wegzulassen“.
Da aber der Autor die psychoanalytische Traumdeutung ganz ignoriert, sind
seine Resultate wenig bedeutsam. Außer der Frage: Wie oft kommen bestimmte
Gruppen von Traumbildern mit bestimmten Gruppen von Neurosen zu¬
sammen vor?, wird noch die Frage aufgerollt, ob es naheliegende sinnvolle ge¬
dankliche Zusammenhänge zwischen Trauminhalt und konkreter seelischer
Wachsituation gebe.
Unter Vernachlässigung der psychoanalytischen Traumsymbolik werden
die manifesten Traumbilder von „Ressentiment“menschen betrachtet und die
Frage aufgeworfen, ob typische Ressentimentssymbole im Traume Vorkommen.
I Das Resultat lautet: „Diejenigen Neurosen, die sich auf Lebensangst, Selbst-
I, Wertunsicherheit und Ressentiment aufbauen, neigen in ihren Träumen zu
I gewissen typischen Symbolbildungen, die etwa in folgender Richtung liegen:
l Das Leben erscheint darin bildhaft als fortlaufende Bewegung, als Lebenslauf,
. als Reise, als ,Karriere‘, als Rennen, und zwar als gestörte, gehemmte, ver¬
säumte Bewegung. Oder das Leben erscheint als riskanter Versuch, als ein
j gefährliches Experiment, wie das Schwimmen eines Unkundigen oder das
Besteigen wilder Pferde. Das Wasser spielt dabei die Rolle des unsicheren
Elementes, mit Ertrinken Drohenden, zugleich aber auch des Trügerischen,
das plötzlich wegläuft oder mit unserem teuersten Gut davonschwimmt.“
Ich zitiere diese Arbeit als Beispiel eines Mißbrauches der manifesten
Traumbilder, und um zu zeigen, wie sinnlos es ist, verschiedene Menschen
unter einem willkürlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen, ohne sich um
die analytisch feststellbaren, unbewußten und triebhaften Ausgangspunkte
ihrer Entwicklung zu kümmern: Unzufriedene, Rentenneurotiker, Studenten
mit Prüfungsangst, Errötet, Hysterische usw.
(' W^enn diese Träume, auf die Kretschmer sein Interesse lenkt, unter einen
Hut gebracht werden sollen, so ergibt die psychoanalytische Erfahrung, daß es
{ sich um die früher angeführten Träume vom Versagen und Mißlingen, also
Träume von Leidensfreudigen und Selbstbestrafern handelt.
16) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1931, S. 329.
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes 4 ß 9
Aber hier tut weitere Beobachtung not, wie auch sonst bei typischen
Träumen.
Andererseits ist es zweifellos, daß diese statistische Betrachtung wieder¬
kehrender Träume neue Erkenntnisse bringen wird, respektive alte bestärken
kann.
Der Zusammenhang zwischen Todeswünschen, aggressiven
Tendenzen und Todesangst ist bekannt. Aber er ist mir nie so klar
geworden, wie an einem Fall von hypochondrischer Todesangst, den ich 1932
veröffentlicht habe.^^
Es gibt Menschen, deren unbewußtes Seelenleben voll ist von diesen de¬
struktiven Bestrebungen, während sie, im Leben ganz gut eingeordnet, in der
menschlichen Gesellschaft keineswegs gefürchtete, vielmehr sehr beliebte und
belobte Glieder darstellen.
Wenn ein solcher guter Bürger aber nur von Feindseligkeit und vom Tode
anderer träumt, ja wenn er mit Gift und Feuer operiert oder ganze Dörfer
in die Luft sprengen läßt — auch nur im Traum, so liegt es auch dem, der
nicht gewohnt ist, mit dem Begriff Verdrängung zu operieren, nahe, der¬
gleichen hier anzunehmen.
Aber was das Innere eines Menschen erfüllt, wird sich doch wohl nicht nur
in seinen Träumen manifestieren, mag man nun einwenden. Und tatsächlich
finden wir auch am Tage manchen Verrat solcher Neigungen, wie
wir an dem hier zu schildernden Kranken sehen werden. Dieser litt an
Todesangst, besonders an Angst, vom Herzen aus zu sterben; zuweilen er¬
wartete er in seiner Depression auch eine Magenblutung, einen Magenkrebs
oder ein Magengeschwür. Im Leben ist er energisch, zielbewußt, erfolgreich —
bis auf eine mehr äußerliche, ihn aber tief kränkende Zurücksetzung. Er kann
sehr heftig sein, z. B. gegen seinen Sohn. In seinen Tagesphantasien, die
er während seiner Analyse auch erzählte, ist er ein recht neidischer, böser
Mensch, schreibt anonyme Briefe u. dgl.: erzählt einer von seinem gut ange¬
legten Gelde, so zwingt ihn seine Phantasie, sich auszumalen, wie er jenen Be¬
sitzer bei der Steuerbehörde anzeigen würde. Geht er mit einem guten Be¬
kannten ins Theater und sieht einen besonders schönen Operngucker bei ihm,
so drängt sich ihm die Phantasie auf: wenn jener jetzt stürbe, könnte er das
Opernglas bekommen. Man sieht, Neid ist hier mit im Spiele. Aber der
Patient selbst ist entsetzt über seine Tagträume und empfindet sie als
schmählich.
Dem 50jährigen Patienten, der bei vollkommen gesundem Herzen leichte
Sensationen an demselben in Begleitung seiner Todesangst hat, liegt jeder Zu¬
sammenhang zwischen seiner Angst, seinen Mordträumen und boshaften,
neidischen Tagesphantasien vollkommen fern.
17) In „Biologische Heilkunst“, 1932, Nr. 14.
32 *
470
Eduard Hitschmann
Erst als die Psychoanalyse aufdecken kann, daß der Kranke als Knabe in¬
tensiv das Kain-Abel-Problem erlebt hat — einen Bruder, der von der
Mutter ihm vorgezogen wurde, tiefst gehaßt hat, aber an jeder effektiven
Rache verhindert war —, erst dann wird es klarer, daß unser Patient ge¬
zwungen war, seit jeher seinen Aggressionstrieb zu unterdrücken und daß er
so zum Neurotiker wurde. Schon als kleiner Knabe ist er trotzig, pedantisch
und sparsam. Neid auf den von der Mutter verwöhnten, um zwei Jahre
alteren Bruder erfüllt seine Jugend; er findet sozusagen den Platz auf dem
Schoß und am Herzen der Mutter immer besetzt vor und wendet sich mehr
zum Vater. Er bevorzugt noch mit sechs Jahren weibliche Beschäftigungen,
wie Nähen, Kochen u. dgl.
Als Patient sechs Jahre alt war, war der Bruder ernstlich krank (Gehirn¬
hautentzündung?) und Patient wurde verhalten, dem Bruder zu versprechen,
ihn nie wieder aufzuregen; Patient küßte dem Bruder damals die Hand. Er
bedauerte auch sonst oft den Bruder, und aus der ursprünglichen Feindschaft
wurde ein gutes Verhältnis, in dem der energische Bruder immer der über¬
legene blieb, namentlich auf geistigem Gebiet. Patient hatte den Ehrgeiz,
der moralisch Bessere zu werden und fügte sich; er wurde zum Muster¬
kind, namentlich dem Vater zuliebe.
Seine sexuellen Interessen waren nicht stürmisch; er sah erregt nackte Mäd¬
chen, lernte von Vettern die Onanie. Im ganzen war er eher prüde und ge¬
hemmt. In seiner Vernunftehe stieß ihn die frigide Gattin bald ab, besonders
auch, weil sie Blutungen hatte. Gedanken vom Tode der Gattin und des
Sohnes treten in ambivalenten Träumen oder in der Form ganz unmotivierter
Ängstlichkeit um sie auf. Ein Objekt direkter und bewußter Todeswünsche ist
sogar die alte Mutter, deren Leben ihm überflüssig erscheint. Schon seit der
Kindheit phantasierte er häufig von Tod und Beerdigung solcher Menschen,
die seinen Bruder bevorzugten.
An Herzklopfen mit Angst und an Angst vor Blinddarmentzündung leidet
Patient seit der Mittelschule, sie nimmt seit seinem 18. Jahre zu. Seit sein
Bruder plötzlich, wahrscheinlich vom Herzen, gestorben ist, hat sich des Pa¬
tienten Todesangst, vermutlich durch Identifizierung, verstärkt. Zwangs¬
grübeleien über seinen eigenen Tod, dessen Folgen, seine Erben und das Schick¬
sal seiner Hinterlassenschaft zeigen neben dem Todesthema das Besitzinteresse
Manchmal wiederholt sich des Patienten seinerzeitige Eifersucht auf den
von der Mutter bevorzugten Bruder als Eifersucht auf den von der Gattin
anscheinend bevorzugten, z. B. ins Vertrauen gezogenen, Sohn.
Nun muß aber dem Leser dieser Arbeit aus einer Reihe von Träumen
klargemacht werden, wie aufdringlich daraus die nächtlich konstanten, also in
den Träumen sichtlich nicht verdrängten bösen Wünsche auf die Neben¬
menschen her Vorgehen:
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes
471
I. Traum: Mein Schwager war plötzlich gestorben. Ich ging mit meiner Frau
hin. Wir sollten in dessen Wohunng ziehen.
2» Traum: In Gesellschaft^ man tanzte. Patient wurde vom Hausherrn ins Spiel-
Zimmer nicht hineingelassen. Ein Fremder, aussehend wie H., verlor all sein Ver¬
mögen.
3. Traum: Patient zerstörte durch Pulverexplosion Dörfer am See. Die Bewohner
hatten etwas angestellt.
4. Traum: Patient wollte einen Freund mit Speise vergiften, um ihm die Geliebte
abspenstig machen zu können. Bei seinem Weggehen sagte jemand: Du wirst das
Unrecht mit dem Tode büßen. Dabei gab er einen Händedruck, wodurch Patient zwei
parallele Wunden am Handteller erhielt. In Angst, mit Tetanus absichtlich infiziert
worden zu sein, ließ sich der Patient Serum injizieren.
5. Traum: Eine Dame schimpft über die Sittenlosigkeit seines Bruders, der ein
Mädchenverführer gewesen sei,
6 . Traum: einem Ritterschloß. Ein alter Bekannter wird von einem seine
Füße bewegenden Ritter in Rüstung hinuntergestoßen, wo er dann als zerquetschte
Leiche liegt.
7. Traum: Einem gut bekannten Herrn sterben auf einmal drei Söhne.
8. Traum: Patient ist im leeren Theater, welches niederbrennt. Patient sieht
den Mann, der das Feuer gelegt hat (so beschuldigt ihn Patient), flüchten. Jener hat
eine schwarze Tasche und Patient verfolgt ihn. Zu Hause findet er seine Frau mit
dieser Tasche und beschuldigt sie, in der Tasche sei der Explosivstoff, Als sie leugnet,
verlangt er: Schwöre mir beim Leben meines Kindes. Darauf die Gattin: Deines?
Es ist ja von einem andern!
9* Traum: Patient ordnet die Bibliothek. Der Sohn gesteht, einen fehlenden Band
verkauft zu haben. Patient wird wütend, ohrfeigt und prügelt den Sohn und droht,
ihn ein nächstes Mal zu töten.
10. Traum: Sein Bruder hatte ein Mastdarmneugebilde, wegen dessen eine Darm¬
fistel angelegt war.
Ein wiederholter Traum nach des Bruders plötzlichem Tode lautet: Der
Bruder ist nach einem Streit verreist, lebt aber. Patient trifft ihn in versteckter Vor¬
stadt. Aber der Bruder will inkognito dortbleiben.
'Wir bringen die Träume ohne die Deutungen, aber sie sprechen eine be¬
redte Sprache.
Betrachten wir nun den hier abgekürzt berichteten Fall, so verstehen wir
die Angst des Kranken als aus unterdrückter Aggression und Schuld¬
gefühlen entstanden; dazu mag gestaute Libido eines sexuell Unbefriedig¬
ten kommen, sind doch andere Träume deutliche außereheliche sexuelle
W unscherf üllungen.
Ein von der Mutter um des bevorzugten Bruders willen zurückgesetzter
Knabe war gezwungen, seinen Neid und seine Todeswünsche zu verdrängen;
sie bleiben aber in seinen anläßlich einer wiederkehrenden Verstimmung
Eduard Hitschmann
472
beobachteten Träumen klar erkennbar. Die reaktive Angst, selbst sterben zu
müssen, und Krankheitsangst bilden die Zeichen seiner Neurose.
Dieser Fall war aus äußeren Gründen einer ausreichend langen Psycho¬
analyse nicht unterzogen worden; aber er bot neben der Serie von Todes¬
wunschträumen eine Reihe anderer Träume dar, welche an die von
Kretschmer untersuchten erinnern.
Diese Träume lassen ihn oft zum Zug nicht zurecht kommen, etwas ver¬
säumen, zurückgesetzt werden; sie seien hier ohne Kommentar mitgeteilt:
1. Traum: Auf der Heimreise aus einem Hotel, Angst, den Zug zu versäumen.
Die Gattin wirft viel Gepäck herab, springt dann, ohne sich zu verletzen, ab. Dann
wurde, um das Auto zu ersparen, dem Diener telegraphiert. Der Sohn sagfe aber:
das Telegramm kommt schon zu spät,
2. Traum: Ich war mit Frau und Sohn in einer Operette, aber die Karten er¬
wiesen sich als ungültig. Wir mußten wieder hinaus, suchten vergebens im Parterre
Platz,
3. Traum: Ich war mit meiner Frau in einer Kunstausstellung, Ein uns bekannter
Kunstsammler verleugnet uns, will selbst unsren Namen nicht kennen. Ich bin wütend,
4. Traum: Ich war in Gesellschaft; doch wurde ich vom Hausherrn nicht in das
Zimmer hineingelassen, in dem man Karten spielte,
5. Traum: Ich fuhr mit meiner Frau im Auto nach Italien, Wir hatten aber
die Pässe vergessen und mußten umkehren,
6 . Traum: Ich war auf einer Reise nach Tirol mit Eltern und Bruder, Das Hotel
war so voll, daß ich nur für die Eltern mit Mühe ein Zimmer bekam. Ich schlug Lärm,
erhielt einen kleinen Raum, aber wir waren alle unzufrieden und fuhren weg, —
Zum Thema „neurotische Angst mit Verstimmung^^ seien noch
die Träume eines zweiten Patienten angeführt, der in der Verstimmung
nach einer von ihm gelösten Verlobung in Analyse kam. Er hatte schon früher
an Angstzuständen gelitten. Er war gleichfalls realitätsfähig und beruflich
tüchtig, aber ein hoffnungsloser Junggeselle. Die vielen von ihm ge¬
träumten Todeswunschträume haben alle die Eigentümlichkeit, daß der
Mann stirbt und die Frau am Leben bleibt, sei es, daß sie seine Mutter, seine
Schwägerin oder eine geliebte Dame ist: es ist offenbar die Situation des
Ödipuskomplexes, den er innerlich nicht überwunden hat. Zwischen
ihnen eingestreut traten auch Träume anderer Art auf.^®
I. Traum: „Meine Mutter und ich setzen uns an eine table d'hote. Gegenüber
sitzt eine mir unbekannte elegante Dame, deren Tochter, ein junges Mädchen, neben
meiner Mutter steht, um sie zu begrüßen. Meine Mutter aber sitzt abgewendet, den
Kopf mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Ich sage vergebens: Mutter, du wirst gegrüßt.
Ich hebe nun das Tuch auf, sehe ihr Gesicht tränenüberströmt, , . . ,Daß mein Mann
so in der Blüte der Jahre sterben mußte,^ Ich frage mit den Augen; sie sagt: ,Ja, er
18) Unter Traumserie verstehe ich nicht nur unmittelbar aufeinanderfolgende gleich¬
artige Träume, sondern auch die Wiederholung gleichartiger zwischen verschieden anderen.
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes 473
ist gestorben, in X/ Ich bin erstaunt, daß meine Mutter, mit der ich schon tagelang
beisammen bin, imstande war, mir das zu verschweigen ... Ich frage, warum sie es
nicht berichtet habe? Darauf sie: ,Er hat sich zum Fenster hinunter gestürzt! Ich
habe das Gefühl, daß dies bei meinem Vater unwahrscheinlich istX
2. Traum: „Ein Erdbeben zerstört meines Bruders Haus und tötet ihn samt seinem
Kinde, Meine Schwägerin wird nur verletzt?*
3. Traum: „Mein Vater wurde mehrfach in die Brust angeschossen?*
4. Traum: „Herr X hat sich umgebrackt und seine Familie (die von mir geliebte
Frau und deren Töchter) mir ans Herz gelegt?*
5. Traum: „Im Garten unseres Hauses steht ein Obelisk mit Aufschrift, Die
Leute lesen bestürzt die Aufschrift und nehmen die Hüte ab?* Erster Einfall: Der
Obelisk war errichtet, weil mein Vater gestorben war, —
Sehr lehrreich sind die charakteristischen Träume der Eifersuchts¬
paranoia. Diese erwächst nach Freud aus überstarken homosexuellen (un¬
bewußten) Regungen, die abgewehrt werden. Auch die wahnhafte Eifersucht
geht — wie andere Formen der Eifersucht — aus verdrängten Untreuebe¬
strebungen hervor; doch sind die Objekte dieser Untreue gleichgeschlechtlicher
Art. Man prüfe nun den folgenden Traum einer solchen wahnhaften
Eifersucht eines Mannes auf die Theorie und wird zugeben, daß er sie
bestätigt.
Traum: „Ich treffe einen Mann mit auf gezwirbeltem Schnurrbart mit meiner
Geliebten, Sie entschuldigt sich, es handle sich nur um etwas Politisches, Wir duellieren
uns aber dann auf Pistolen, Da verwandelt er sich plötzlich in den mir lieb gewesenen
Militärkameraden X, Er lag nun auf der Erde, die Pistole war jetzt verlängert, wie
durch ein Bajonett?*
Patient berichtet, daß er mit diesem Kameraden seinerzeit mutuelle
Onanie betrieben habe; das Duell, in dem die Verlängerung der Schußwaffe
Erektion bedeutet, stellt auch den homosexuellen Verkehr symbolisch dar.
Über die eifersüchtige Paranoia der Frauen sagt Freud:^® „Die
Eifersüchtige verdächtigt den Mann mit all den Frauen, die ihr selbst gefallen,
infolge ihres überstark gewordenen, disponierenden Narzißmus und ihrer
Homosexualität. In der Auswahl der dem Manne zugeschobenen Liebesobjekte
offenbart sich der Einfluß der Lebenszeit, in welcher die Fixierung erfolgte.“
Diese Regression zu den Objekten viel früherer Neigungen (Mägde), wie auch
in unserem Mustertraum, erfolgt durch Libidosteigerung.
I. Traum: ,,Ich hatte Zank mit meinem Manne, der — weil er böse war — sagte:
er habe unsere Magd, die Mizzi, gehabt. Ich höhnte ihn, sie rieche ja nach Stall, war
wütend auf ihn und gab ihm einen Fußstoß. Die Magd kam herein und sagte, sie müsse
zu ihrer kranken Mutter heim. Ich schlug sie, ließ mir berichten, wie es mein Mann
mit ihr ,gemacht* habe. Ich hieß sie sich nackt ausziehen, sie war nicht sehr schön,
ließ sie ihr Geständnis nieder sehr eiben und warf die arg Zugerichtete wütend hinaus?*
19) Ges. Sehr., Bd. VIII, S.416.
Eduard Hitschmann
474
Hier ist sehr klar die Ambivalenz, die durch die Abwehr gegen die
homosexuelle Strebung entsteht, und die sadistische Komponente (gewalttätige
Reizbarkeit).
2. Ein weiterer Traum dieser Kranken ist besonders aufschlußreich:
Traum: „Ich fand eine neue Wohnung in einem großen Haus und war sehr froh.
Ich ging durch den Hof, da lag eine weibliche Ziege auf dem Rücken und sprang mich
an, so daß ich schrie. Ich fühlte mich als Mann und hatte einen Penis mit Erektion.
Dann stieg ich eine Stiege ohne Ende hinauf. Doch sagte ich mir: wenn das mit der
Ziege öfter vorkommt, ziehe ich wieder aus.“ —
Da wir ursprünglich alle bisexuell sind und „normal“ werden unter Subli¬
mierung und Verdrängung des homosexuellen Anteils, ist der Traumbefund
der unbewußten Homosexualität ein alltäglicher und wird erst durch
den Grad bedeutsam. Homosexuelle Pollutionsträume sind ein Beweis für
Homosexualität höheren Grades. Bedacht muß natürlich werden, ob nicht im
Falle der Behandlung durch einen Analytiker vom gleichen Geschlecht die
Übertragung während der Psychoanalyse die homosexuellen Träume ge¬
fördert hat.
In diesem Zusammenhang sei ein Traum angeführt, der auch verrät, daß
der Patient, der lange aufschob, zu einem Facharzt zu gehen, der sein Genitale
untersuchen sollte, eine Phimose (Vorhautverengerung) hatte:
Traum: „Ich war im Strandbad, auch ein Arzt war da. Aus einem Loch im Boden
kam ein rotes Stümpfchen heraus. Der Doktor kitzelte es heraus und es wurde
zu einem langen roten Wurm. Patient fragte, ob es gefährlich sei, wenn man so etwas
mache. Der Doktor erklärte es für ungefährlich.“ —
Zu dem vielen Bedeutsamen, was geübte Psychoanalytiker wissen mögen,
aber nicht mitgeteilt haben, gehört auch das Verhalten des Träumens und der
Träume während des Verlaufes der seelischen Krankheit und ihrer Behand¬
lung. Es kann ein Traum angeblich die Erkrankung auslösen; der zuerst er¬
zählte, manchmal geradezu biographische Traum, hat, für später aufbewahrt,
besondere Wichtigkeit; durch die Analyse eines bestimmten Komplexes
werden Träume mobilisiert, die im Fortschreiten durch die Deutung sozusagen
miterledigt werden; die Übertragung und der jeweilige Widerstand
werden von charakterisierenden Träumen begleitet; davon und von
vielem Anderen sollten wir mehr wissen, mehr niedergelegte Erfahrung zu
lesen bekommen.^» Ich selbst habe berichtet, daß die Träumer bekannte Sym¬
bole (wie die der Zähne, der Stiege) wieder und wieder verwenden, aber im
späteren Verlauf in einer durch die Analyse bereits günstig beeinflußten
Weise.^^ Eine große Zahl von Fragen steht noch offen. Genauere Beobachtun-
20) Die „psychoanalytische Situation** kann z, B., vom Patienten als Prüfung aufgefaßt,
einen Prüfungstraum veranlassen.
21) Über „"Wandlungen der Traumsymbolik beim Fortschritt der Behandlung**. Int.
Zeitschr. f. Psa, 1931.
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes 475
gen über die Träume können uns lehren, die Prognose oder den jeweiligen
Stand der Behandlung besser zu verstehen, die Nähe der Heilung zu erkennen.
Eine solche Psychopathologie des Traumes wird die Psychologie des Traumes
kaum wesentlich bereichern, aber das Interesse an ihr auffrischen. Bisher sind
nur wir Analytiker Traumkenner und Traumdeuter. Es ist notwendig, daß
auch Psychologen und Psychotherapeuten sich dafür mehr interessieren: damit
wird die Unentbehrlichkeit der Beachtung dieses Phänomens, das auch ein
Symptom bedeuten kann, endlich anerkannt werden.
Die bewundernswerte Arbeit, die Freud als Traum- und Neurosendeuter
geleistet hat, wird noch von vielen unterschätzt. Wie eindrucksvoll ist doch
das „unbewußte Wissen‘‘ der Neurotiker um den Mechanismus und die
unbewußten Triebkräfte ihrer Erkrankung, wie es die früher angeführten
Träume der Hysteriker und Paranoiker sinnfällig machen!
Es ist klar, daß unser scheinbar sofortiges Verstehen und Durchschauen
auch nicht schulgerecht analysierter Träume nur Freuds Traumdeutung zu
verdanken ist. Manche praktische Erfahrungen über das Gesetzmäßige sowohl
des manifesten Trauminhalts, wie wiederkehrende Erfahrungen aus den
Traumdeutungen gehen unveröffentlicht als traditionelles Wissen von Analyti¬
ker zu Analytiker, aber das Gesetzmäßige aufzuzeichnen, ist dringende Auf¬
gabe der Wissenschaft; und gerade die Psychoanalyse muß, als schwer erlern¬
bar, noch immer um Vertrauen gerade unter Ärzten werben, und auch Ver¬
treter der Geisteswissenschaften sollen noch zu gemeinsamer Arbeit gewonnen
werden.
Unsere Beobachtung der manifesten Träume, besonders auch von
Serien von Träumen, von typischen Träumen, hat uns kaum wesentliche neue
Einsichten, aber wertvolle Berichte und Bestätigungen über Gesetzmäßig¬
keiten auf dem Gebiete der Traum Wissenschaft geliefert. Hat doch Freud
erst vor kurzem enttäuscht festgestellt, wie wenig von der Traumdeutung
selbst von Psychiatern und Psychotherapeuten angenommen worden ist.^-
Die Ärzte müßten die vorliegenden kurzen Mitteilungen zur Psychopathologie
des Traumes, welche ihnen Beweismaterial in ihrer gewohnten Methodik vor¬
legen, die von den Phänomenen der Pathologie ausgeht und vom Einfachen
zum Komplizierten fortschreitet, sehr begrüßen, ja auf sie warten. Vielleicht
ist es aber nicht überflüssig, daß der Autor nochmals betont, wie fern es ihm
liegt, die Tiefendeutung des Traumes zu unterschätzen oder zu glauben, daß
die psychoanalytische Forschung und Behandlung die Aufdeckung der
latenten Traumgedanken hinter dem manifesten Traum je ent¬
behren könnte.
2z) „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.“ Ges. Sehr. Bd. XIL
über Angstabwehr, insbesondere durch
Libidinisierung"
Von
Otto Fenichel
Oslo
Die Ansichten, die Freud in „Hemmung, Symptom und Angst“^ über
die Angst, diesen Hauptgegenstand der psychoanalytischen Forschung, ent¬
wickelt hat, lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Die Angst ist
zunächst die Art, wie das Ich eine erhöhte Bedürfnisspannung im Es beim
Mangel an adäquater Abfuhrmöglichkeit in sogenannten „traumatischen Zu-
ständen‘‘ erlebt; sodann aber lernt das Ich auch im Falle einer Gefahr, d. h.
einer Situation, die zu einer traumatischen werden könnte, die erst passiv
erlebte Unlust der Angst aktiv zu benutzen, indem es mit einem Angstsignal
die verschiedenen Mechanismen, die der Gefahr begegnen sollen, ins Werk setzt.
Zwischen „Angst im traumatischen Zustand'^ und „Angstsignal“ besteht
kein absoluter Gegensatz. Zunächst sind beide dadurch miteinander verbun¬
den, daß die Angst, die das Ich aktiv als Signal entwickelt, offenbar entsteht,
indem die Einsicht des Ichs in eine Gefahr, im Es bzw. im somatischen Apparat
dieselben Bedingungen setzt, wie der traumatische Zustand — nur in ge¬
ringerem Ausmaße; sodann aber muß man feststellen, daß die Intention zum
„Angstsignal“ oft mißlingt, indem bei vorhandener Libidostauung das akute
Signal wirkt wie ein Zündholz im Pulverfaß. Die großen Angstanfälle etwa
einer Angsthysterie lassen ja keinen Zweifel daran, daß das Ich mit der Ab¬
gabe eines Signals etwas ins Werk setzt, was es dann dank einer vorher
latenten Libidostauung nicht mehr beherrschen kann.
Diese Möglichkeit, daß das, was vor einem traumatischen Zustand schützen
soll, unter Umständen selbst einen herbeiführt, macht es notwendig, daß das
Ich nicht nur mit Hilfe von Angstentwicklung eine Triebabwehr durchführt,
sondern dann auch Veranstaltungen treffen muß, um die Unlust der Angst
abzuwehren.
Der Mensch will zwar natürlich jede Art von Unlust vermeiden. Aber ein
möglichst klein gehaltenes Angstsignal, das vor größerer Unlust bewahrt,
müßte vom Realitätsprinzip doch als brauchbare Institution bejaht werden.
Erst die Unsicherheit darüber, ob aus dem Signal nicht mehr und Unan¬
genehmeres wird als beabsichtigt, erklärt die bekannten ungeheuren Auf¬
wände an Gegenbesetzung, die zur Angstersparnis verwendet werden. Es gibt
kaum ein von der Psychologie zu untersuchendes Phänomen, das nicht
irgendwie eine solche Absicht erkennen ließe. Im Grunde muß man ja jede
1) Nach einem auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern am
27. August 1934 gehaltenen Vortrag.
2) Ges. Sehr., Bd. XI.
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung 477
Erscheinungsform von Gegenbesetzung, die nicht selbst Angst ist, auch als
Angstabwehr bezeichnen; denn gelänge eine solche „Bindung“ der abgewehr¬
ten Triebenergien durch eine Gegenbesetzung nicht, würden diese in ihrer
Stauung Angst erzeugen. Das gilt am deutlichsten für Mechanismen von der
Art der Phobie, die um den Preis einer Ich-Einschränkung die Angst ver¬
meiden. Es gilt für die neurotischen Symptome überhaupt, die zwar nicht
Erscheinungen der Gegenbesetzung sind, an denen aber, insofern sie Sym¬
ptome sind und nicht Triebbefriedigungen, die Gegenbesetzung Anteil hat,
und deren Unterdrückung Angst auftreten läßt. Es gilt vor allem für alle
Arten der chronischen charakterlichen Verarbeitung von Triebkonflikten im
Sinne der Reaktionsbildungen, für die — wie Freud formuliert hat — „In¬
konsequenzen, Verschrobenheiten und Narrheiten der Menschen, ... durch
deren Annahme sie sich Verdrängungen ersparen“,® richtiger: Akte des Nach¬
drängens, also andere, akutere, aufwandreichere Abwehrarten ersparen — und
damit auch Angstanfälle.
Eine rationale Wirkung des Angstsignals wäre ja die Gefahrabwehr, durch
Kampf oder durch Flucht. Aber insofern es wegen der Gefahr, das Ich könnte
von der von ihm selbst als Signal benutzten Angst überwältigt werden, die
„Angst vor der Angst“ gibt, gibt es auch Kampf oder Flucht, die sich nur
gegen das Angsterlebnis richtet, ohne an der objektiven oder vermeintlichen
Gefahr etwas zu ändern. Diese Gegenbesetzungen sind zunächst Sicherungs¬
maßnahmen gegen das Auftreten des Angsterlebnisses. Aber wie auch sonst
bei allen Gegenbesetzungen vom Charakter der Reaktionsbildung, bei denen
also die unbewußte Gegenhaltung niedergehalten werden soll, gibt es auch
hier Überkompensationen. Man sucht nicht nur, wie bekannt, seine Angst zu
„widerlegen“, wie etwa in den Perversionen, sondern wie Demosthenes seine
Organminderwertigkeit, so pflegen auch manche Leute ihre Angst zu über¬
winden, indem sie genau das tun und aufsuchen, wovor sie ursprünglich Angst
hatten. Freilich gelingt dies nicht allen gleich gut und hinter solchen Ver¬
suchen zur Verdrängung, richtiger zur Leugnung von Angst, können genug
Symptome, Symptomhandlungen oder Träume die noch vorhandene Angst
verraten.
Die häufige Angst des kleinen Kindes ist zunächst Folge biologischer Um¬
stände. Es ist nicht imstande, seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, weil es
noch nicht handeln, noch nicht sinnvoll in die Außenwelt eingreifen kann.
Bei vorhandenem Triebbedürfnis führt deshalb das Ausbleiben der Hilfe der
Außenwelt zu häufigen traumatischen Situationen. Dies hat uns Freud®^ ge¬
zeigt, und besonders Melanie Klein^ und Nina Searl® an konkreten Bei-
3) Freud; Neurose und Psychose. Ges. Sehr., Bd. V.
3 Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XL
4) Was in früheren Arbeiten darüber gesagt wurde, ist zusammengefaßt in; Die Psycho¬
analyse des Kindes. Int. Psa. V, 1932.
5) Vgl. z. B. The Psychology of Screaming, Int. Journal of Psa., XIV, 1933.
478 Otto Fenichel
spielen belegt. Diese traumatischen Situationen schaffen aber nur die Mög¬
lichkeit der Auffassung, Triebe seien Gefahr, denn das Urteil „Gefahr‘‘ ist
immer die Erinnerung an einen erlebten traumatischen Zustand. — Ob aber
Triebe auch bei einem Ich, das die Außenwelt schon besser meistern gelernt
hat, wirklich als Gefahren gefürchtet werden, das hängt natürlich von den
Erlebnisschicksalen der Triebe des Kindes während der ersten Kindheitsjahre
ab. Ohne jene biologische Voraussetzung gäbe es diese pathogene Auffassung
nicht; damit sie sich aber bildet, müssen zu ihr die gesellschaftsbedingten
äußeren Versagungen hinzutreten, die sowohl die speziellen Formen der beiden
großen Angstinhalte — Liebesverlust und Kastration — bestimmen, als auch
die Libidostauung setzen, die die Angstsignale der ängstlichen Kinder in große
Angstanfälle Umschlagen läßt.
Nun wissen wir, daß die Umwandlung des Lustprinzips zum Realitäts¬
prinzip kein einmaliger Akt, sondern ein langer Prozeß ist. Der Mangel eines
vollausgebildeten Realitätsprinzips in den frühen Kinderjahren, der die Ob¬
jekte nur im Verhältnis zum eigenen Triebleben erfassen läßt, führt nun zu
einer phantastischen Verkennung der Außenwelt, von der Strafen erwartet
werden, die den eigenen als gefährlich auf gefaßten Trieben entsprechen. Diese
für die Theorie der Angst und der Angstabwehr so bedeutsamen vermeint¬
lichen Gefahren, die durch projektive Verkennung der Außenwelt über dem
Kind schweben, sind uns vor allem von Melanie Klein und den anderen
englischen Kollegen wiederholt geschildert worden. Nur deren Ausdrucks¬
weise wollen wir widersprechen, wenn sie diese Gefahren die „Drohungen des
besonders strengen frühinfantilen noch ganz und gar sadistischen Über-Ichs‘‘
nennen. Denn das Kind erwartet das Unheil von außen; es droht ihm nicht
objektiv, aber das Kind denkt, daß es ihm objektiv drohe. „Die Angst der
Tierphobie ist die unverwandelte Kastrationsangst, also eine Realangst, Angst
vor einer wirklich drohenden oder als real beurteilten Gefahr"", schreibt Freud
in „Hemmung, Symptom und Angst"".® Auch die Idee, man könnte von der
wirklichen Mutter gefressen werden, wird geringer, wenn man die in Wahr¬
heit freundliche Mutter unausgesetzt ansehen kann, so wie der Phobiker nach
dem Fund von Helene Deutsch den von ihm unbewußt gehaßten Menschen
immer neben sich haben muß, nicht um seinen Haß durch dessen Anblick zu
steigern, sondern um ihn zu schwächen, ihn sozusagen durch die Realität zur
Vernunft zu rufen.'^ Es bedarf freilich noch eingehenden Studiums, um zu er¬
gründen, warum und in welcher Weise die Realität phantastisch verkannt
wird; es ist kein Zweifel, daß tatsächlich nicht nur Projektionen, sondern auch
Introjektionen das frühkindliche Seelenleben beherrschen, daß auch in dieser
Zeit Introjekte das Rest-Ich bedrohen können; dennoch ist diese Angst im we-
6 ) Ges Sehr., Bd. XI, S. 47.
7) Helene Deutsch: Zur Genese der Platzangst. Int. Ztschr. f. Psa. XIV, 1928.
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung 479
sentlichen nach außen gerichtet, solche „Vorläufer des Über-Ichs‘‘ sind von
jener entschiedenen stufenbildenden Neuakquisition des „Untergangs des
Ödipuskomplexes ® deutlich zu unterscheiden. Es erschwert die präzise Auf¬
fassung der dem sprachlichen Denken so fernen prägenitalen Welt, wenn man
ihre Inhalte als „Ödipuskomplex*^ und „Über-Ich‘* wiedergibt, welches
Termini sind, die späteren Entwicklungsstadien zugehören. Trotzdem —
oder gerade deshalb — sei betont, daß wir Melanie Klein einen inhaltlichen
Fund verdanken, dessen Bedeutung für die Theorie noch gar nicht genug ge¬
würdigt ist (das wird erst durch seine Konfrontierung mit der „präödipalen
Phase“ Freuds^ geschehen), die Entdeckung nämlich, daß bei beiden Ge¬
schlechtern, und mit nachhaltigerer Bedeutung beim weiblichen Geschlecht,
in der frühen Kindheit, in der sogenannten oral-sadistischen Periode, Objekt¬
tendenzen mit dem Ziele auftreten, zerstörend in das Innere des Mutterleibes
einzudringen und dessen Inhalt aufzufressen; ferner, daß dieses Wunsches
wegen Vergeltungsängste entstehen, daß diese Ängste es sind, die das Realitäts¬
bild des kleinen Kindes trüben, und daß das Kind nun eine Menge ver¬
schiedener Wege einschlägt, um, in einem Wirrwarr von Projektion und Intro-
jektion phantasierend, gegen die Angst anzukämpfen.^®
Aus den Methoden, die das kleine Kind schon frühzeitig zur Abwehr der¬
artiger Ängste anwendet, heben sich nun vor allem zweierlei heraus: die
Identifizierung mit dem Angstobjekt und die Flucht zur Realität.
Die Identifizierung als Angstabwehr, die Gegenstand eines Kongreßvortrages
von Anna Freud war,^^ ist nicht ohne weiteres verständlich. Zweierlei Über¬
legungen, die einander berühren, können uns ihrem Verständnis näherbringen.
Erstens ist die Identifizierung die älteste Art der Auseinandersetzung mit der
Objektwelt überhaupt; jeder Wunsch nach einer Änderung späterer Objekt¬
beziehungen höherer Ordnung kann deshalb, wenn er Regressionen veranlaßt,
zur Identifizierung führen.^^ Man wehrt nicht nur innere Ängste ab, indem
man sie, wie in der Phobie, in ein äußeres Angstobjekt projiziert; man kämpft
auch gegen äußere Angstobjekte an, indem man sie introjiziert, was zu einer
Identifizierung mit ihnen führt. Und indem man selbst den agiert, vor dem
man sich fürchtet, wendet man zweitens nur einen speziellen Fall jenes Mecha¬
nismus an, den Freud beschrieben hat, und der darin besteht, in der Er¬
regungsmenge unbemeisterbare passive Erlebnisse nachträglich aktiv zu wie-
8) Freud: Der Untergang des Ödipuskomplexes. Ges Sehr., Bd. V.
9) Freud; Über die weibliche Sexualität. Ges. Sehr., Bd. XII.
10) Melanie Klein: Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse, Imago, XII, 1926,
Frühstadien des ödipuskofliktes, Int. Ztschr. f. Psa., XIV, 1928, Die Rollenbildung im Kinder¬
spiel, Int. Ztschr. f. Psa., XV, 1929, Frühe Angstsituationen im Spiegel künstlerischer Dar¬
stellungen, Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1931, Die Psychoanalyse des Kindes, Int. psa. Verlag
1932.
xi) Ein Gegenstück zur Tierphobie der Kinder, Vortrag a. d. XI. internat. psa. Kongreß
in Oxford, 1929.
12) Vgl. Fenichel: Die Identifizierung, Int. Ztschr. f. Psa., XII, 1926.
480 Otto Fenichel
derholen.^^ Die Voraussetzung für eine solche Erledigung scheint zu sein, daß
die in der Identifizierung mit dem Angstobjekt sich äußernde Ambivalenz
auch schon vorher vorhanden gewesen war. Man denke an die von Freud
klar gestellte Rolle der Ambivalenz für die infantile Wiederkehr des Totemis¬
mus.^^ Aber das Kind agiert nicht nur das Tier, vor dem es sich fürchtet,
es fühlt sich, wenn man so sagen darf, seinem Totem zugehörig. Identifi¬
zierung und Objektliebe sind hier noch nicht ganz getrennt. Es empfindet dem
Tier gegenüber „Wir"' und liebt narzißtisch jeden Vertreter der Gattung, mit
dem es sich identifiziert hat. Auf diese Weise können nicht nur aus Kastra¬
tionsangst durch Identifizierung mit dem Kastrator grausame Handlungen
gegen Dritte, sondern es kann sogar durch eine Art „Identifizierungsliebe‘‘ zu
dem Kastrator eine passiv-homosexuelle Kastrationslust entstehen.
Auch die Flucht zur Realität, z. B. ein Anklammern an die reale Mutter,
das vor der phantastisch verkannten Mutter schützen soll, führt zu einer An¬
hänglichkeit, also zu einer Art Liebe zu der Person, vor der man sich fürchtete.
Wie einen prophylaktischen Gegenangriff, so gibt es auch eine prophylaktische
Liebe zu dem, den man fürchtet.
Was man nun „Libidinisierung*" der Angst nennt, ist von zweierlei Art.
Einerseits gibt es eine Abwehr der Angst durch Entwicklung von Angstlust.
Andrerseits eine Entwicklung von Anhänglichkeit, Liebe oder sexuellen Ver¬
haltungsweisen an den Stellen, wo vorher Angst gewesen war, eine Kombina¬
tion der beiden Methoden Identifizierung und Flucht zur Realität.
Daß ein zur Triebabwehr bestimmter Mechanismus sekundär libidinisiert
wird, kommt auch außerhalb des Gebietes der Angst vor. Dies geschieht so¬
wohl, wenn bei Fortdauer des pathogenen Konfliktes das Abgewehrte in der
Abwehr wiederkehrt, als auch, wenn ein sekundärer Krankheitsgewinn auf die
Weise zustande kommt, daß das Ich es fertigbringt, aus einem ursprünglich
der Triebabwehr dienenden Verhalten sekundär irgendeine libidinöse
Lust zu ziehen. Als Beispiel für das erste diene ein Zwangssymptom, dessen
ursprüngliche Bußbedeutung im Verlaufe der Neurose immer mehr hinter der
Triebbedeutung zurücktritt;^® als Beispiel für das zweite die bei Zwangs¬
neurotikern so häufigen „Zwangsspiele‘‘, an denen der Kranke bewußt eine
gewisse Freude empfindet.^® Die normale anale Retentionslust scheint ganz
allgemein eine solche „Libidinisierung‘" der gegen die ursprüngliche Aus¬
scheidungslust gerichteten Abwehr zu sein.
Auch der Schmerz ist eine Unlust, die vom Ich als Signal verwendet
wird, um größeres Unheil zu verhindern. Auch der Schmerz wird seiner Un-
13) Siehe zunächst; Jenseits des Lustprinzips, Ges. Sehr., Bd, VI, ferner vor allem auch;
Über die weibliche Sexualität, Ges. Sehr., Bd. XII.
14) Vgl. Totem und Tabu. Ges. Sehr., Bd. X.
15) Vgl. Hemmung, Symptom und Angst, Ges. Sehr., Bd. XI, S. 58.
16) Vgl. Fenichel; Perversionen, Psychosen, Charakter Störungen, S. ^f.
Über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung 4^i
lust wegen dann abgewehrt und oft genug durch „Libidinisierung*'.^^ Von der
der Angstlust analogen Schmerzlust wissen wir nun, daß sie zunächst auf einer
physiologischen Grundlage beruht, dem erogenen Masochismus, d. h. dem Um¬
stand, daß der allgemeine Satz, Erregungen jeder Art seien Quelle auch
sexueller Erregung, auch für den Schmerz gilt.^® Wenn nun durch gewisse
Triebschicksale eine Angst einen Sadismus durch Wendung gegen das Ich zu
überwinden zwingt, wird dieser erogene Masochismus unter Umständen die
Leitlinie, an der sich eine verhängnisvolle Entwicklung zur „Libidinisierung
einer Unlust** knüpfen kann. Ganz analog geht es offenbar bei der „Angst¬
lust** zu. Wie jede andere Erregung, so kann auch die Erregung der Angst
Quelle der sexuellen Erregung werden. Aber sie kann das — genau so wie
beim Schmerz — nur, solange die Unlust in bestimmten Grenzen bleibt, z. B.
bei der Einfühlung in den Helden der Tragödie. Wenn nun eine starke Angst
überwunden werden soll, so können, genau wie beim Masochismus, die Wege
der aktiven Wiederholung des passiv Erlebten, oder der prophy¬
laktischen Vorwegnahme des Gefürchteten, um späterer stärkerer
Unlust zu entgehen, die „erogene Angstlust** mitbenutzen und so bewirken,
daß bis zu einem gewissen Grad an Angst Genuß empfunden wird. Dies ist
— wie beim Masochismus — ein sekundärer Anpassungsvorgang. Schlechter¬
dings nichts spricht für die von Laforgue vorgeschlagene Hypothese, daß
die Angstlust die primitive Form jeder Lust überhaupt sei.^^
Wir kehren zu unserer anderen Frage zurück: Wie kommt es zu Anhäng¬
lichkeit, Liebe oder sexuellen Verhaltungsweisen gegenüber ursprünglichen
Angstobjekten? Wie kann man auf solche Weise der Angst entgehen?
Ein Patient war als Junge mit allen Tieren des zoologischen Gartens gut be¬
freundet und führte seine Bekanntschaft mit ihnen stets allen Besuchern mit ex-
hibitionistischem Stolz vor. Eine Dohle, die er herbeizurufen und zu füttern pflegte,
pickte ihn eines Tages in die Hand. Sein Stolz stieg nur noch, er fühlte sich dem
Tiere nur noch verbundener und exhibierte mit der Wunde. Man erkennt leicht,
daß in der Vorliebe dieses Jungen zu den unbewußt gefürchteten Tieren die beiden
besprochenen Mechanismen zugleich beteiligt waren: Er war mit diesen Tieren
identifiziert und fühlte sich als einer von ihnen; er floh vor den gefürchteten
Tieren der Phantasie zu den harmlosen der Wirklichkeit.
So gibt es etwa die für die Psychologie des Examens wichtige Haltung: „Ich
fürchte den Prüfer nicht nur nicht, ich bin sogar mit ihm befreundet.“ Freilich
ist kein Zweifel, däß diese Mechanismen der „Libidinisierung der Angst“ dazu
führen, daß eine tiefe feminine Triebeinstellung dem Vater gegenüber sich in einer
für männliche Ideale erträglichen Form zeigen kann.
Wir haben also eine Dreischichtung vor uns: Ein Trieb wird durch Angst
abgewehrt, die Abwehr dieser Angst bringt dann das ursprünglich Abgewehrte
17) Vgl. hiezu die Ausführungen von Freud: Ges. Sehr., Bd. XI, S. 114.
18) Vgl. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Sehr., Bd. V.
19) Laforgue: Libido, Angst und Zivilisation.
482 Otto Fenichel
wieder zum Vorschein. Freilich ist die passive Homosexualität der dritten
Schicht dann nicht mehr identisch mit der der ersten.
Genau so ist es bei der Wiederkehr aktiver Triebregungen zum Zwecke
der Angstabwehr. Wenn ein Kind unausgesetzt wildes Tier spielt, um
der Angst vor dem Gefressenwerden zu entgehen, so kann diese Angst
ihrerseits Vergeltungsangst wegen ursprünglicher oral-sadistischer Triebe
sein. Der Oralsadismus hat sich aber dann bei seinem Durchgang durch die
Phase der Vergeltungsangst verändert.
Es gibt nun Menschen, deren ganzer Charakter durch diese Art von Gegen¬
besetzungen formiert ist. Sie tun ständig Dinge, vor denen sie eigentlich,
ohne es zu wissen, Angst haben, um sich gerade durch solches prophylakti¬
sches Verhalten Angst zu ersparen. Bis zu einem gewissen Ausmaß befriedigen
sie dabei ebenfalls, ohne es zu wissen, die ursprünglichen Triebregungen, zu
deren Abwehr die Angst überhaupt entwickelt worden ist. Es sind reaktive,
unechte Charaktere, deren Angst in der Analyse erst mobilisiert werden muß.
Dieses hier allgemein skizzierte Phänomen gibt es nun im besonderen häufig
im Bereiche der Sexualität: Das sexuelle Verhalten eines Menschen, rein de¬
skriptiv gleichgerichtet seiner Triebanlage, ist von dieser durch eine zwischen¬
geschaltete Angstschicht getrennt, ist daher unfrei und unecht und dient in
erster Linie dazu, Angst abzuwehren.
Freud hat beschrieben, daß es Formen von Homosexualität gibt, die einer
Überkompensierung eines ursprünglichen Hasses entsprechen.^^ Es gibt auch
andere reaktive Formen der Homosexualität, nämlich eine Identifizierung mit
dem anderen Geschlecht zum Zwecke der Verleugnung der Angst vor dem
anderen Geschlecht.
Derselbe Patient, der das Abenteuer mit der Dohle hatte, war zwar nicht
homosexuell, aber weitgehend feminin eingestellt. Er liebte Frauen nur mit einer
Art Identifizierungsliebe, indem er in etwas exhibitionistischer Weise ihnen
stets zu zeigen bestrebt war: „Sieh, wie ich mich in dich einfühlen kann, ja, wie
gar kein Unterschied zwischen dir und mir besteht."' Eine relativ späte traumatische
Beobachtung des weiblichen Genitales hatte die Entwicklung dieses Jungen in ver¬
hängnisvoller Weise gestört. Diesen Anblick hatte er als vollkommen fremdartig
empfunden. In die Angst vor diesem als oral-gefährlich aufgefaßten Fremdartigen
20) Man denkt hier an die ähnlich liegenden „Triebkonflikte'*, die Alexander neben
den „strukturellen" Konflikten als neurosebildend beschrieben hat. (Über das Verhältnis
von Struktur- zu Triebkonflikten, Int. Ztschr. f. Psa., XX, 1934.) Es rufe etwa eine die
Männlichkeit brachlegende Kastrationsangst eine starke unbewußte Femininität hervor;
diese wird dann durch äußerlich männliches Gehaben abgewehrt usw. Es sind dies Situa¬
tionen, analog den von uns gemeinten. Nur möchten wir hinzufügen, daß es uns nicht
richtig scheint, sie zu den Fällen pathogener „struktureller Konflikte" in Gegensatz zu
stellen. Pathogen sind immer nur strukturelle Konflikte, und Konflikte der
Bisexualität würden niemals zu Neurosen führen (im Unbewußten bestehen Widersprüche
ungeordnet nebeneinander), deckten sie nicht gleichzeitig einen „strukturellen" Konflikt,
indem einer der beiden in Konflikt liegenden Triebe jeweils dem Ich näher steht.
21) Freud: Über einige neurotische Mechanismen bei Homosexualität, Eifersucht und
Paranoia, Ges. Sehr., Bd. V.
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung 4^3
konnte er alle seine bisherigen Kastrationsängste verdichten, mit ihm hatte er sich
nun irgendwie .abzufinden. Er tat es, indem er mit seinem gesamten Verhalten die
Einsicht „Frauen sind etwas anderes als ich“ leugnete: „Frauen sind genau dasselbe
wie ich, ich habe an ihnen keinerlei erschreckende Entdeckungen zu machen, ich
kenne alle weiblichen Angelegenheiten sehr genau.“ Hier haben wir eine das sexuelle
Verhalten verändernde Identifizierung mit dem Angstobjekt. Was genuiner Trieb
scheint, ist in Wahrheit zunächst einmal Angstabwehr.
Sehr viele Züge im Liebesieben dienen dazu, gleichzeitig vorhandene Sexual¬
angst durch Überkompensierung abzulenken.^^ jeder von uns kennt Fälle wie
den folgenden:
Eine Patientin litt auf Grund verschiedener infantiler sexueller Erlebnisse an
einer schweren manifesten Angst vor dem Verlassen werden. Wie ein ängstliches
Kind nicht einschlafen kann, wenn nicht eine schützende Person anwesend ist,
so mußte sie auch als Erwachsene sich unausgesetzt irgendeiner Verbindung mit
anderen Menschen versichern, um schwerer Angst zu entgehen. Der analytischen
Kur setzte sie dadurch den heftigsten Widerstand entgegen, daß sie kein anderes
Interesse kannte, als sich dessen zu versichern, daß der Analytiker „zu ihr halte“.
Man versteht, daß diese junge Frau Männern, die um sie warben, kein Nein sagen
konnte, ja daß sie selbst, wenn sie allein war, es nicht aushielt, ohne um einen
Mann zu werben. Sie führte scheinbar ein reichliches Sexualleben, aber die äußere
Sexualbetätigung des Erwachsenen war ihr nichts anderes, als was die Hand der
Mutter dem Kinde ist, die dieses festhalten muß, wenn es im Bett legt, um nicht
der Onanieversuchung zu unterliegen: ein Mittel der Angstabwehr, um die wahre
Sexualität weiter in der Verdrängung zu halten.
Nicht ganz so einfach liegt ein zweiter Fall, nämlich der einer Patientin, die keines¬
wegs frigid war und dennoch eine Reihe schwerer neurotischer Störungen zyklothymen
Charakters aufwies, und die in Symptomen und Charakter zeigte, daß sie mit den
Konflikten der oralsadistischen Stufe nicht fertig geworden war. Im Gegensatz zu
anderen sthweren Sorgen machte sie sich wenig Sorgen um ihre Sexualität. Auf
diesem Gebiet schien alles in Ordnung: sie verkehrte häufig und mit verschiedenen
Männern und spielte dabei mit besonderer Vorliebe die Rolle der Verführerin. Sie
behandelte dabei die Männer mit mütterlicher, liebevoller Zärtlichkeit und Rücksicht.
Der harmlos-freundliche Charakter des ganzen Sexualverhaltens war so unterstrichen,
daß es nicht schwer war, in ihm eine Reaktionsbildung gegen aggressive Neigungen zu
erkennen. Das Mittel dieser Reaktionsbildung war eine Identifizierung mit ihrer
Mutter, die sie, sonst häufig streng und dem Kind allerlei Versagungen bereitend,
in der Zeit einer langwierigen Krankheit aufopferungsvoll gepflegt hatte. Das
Sexualverhalten der Patientin hatte also den Sinn: „Ich will den Männern nicht
wehe tun, -sondern zu ihnen so lieb sein, wie die Mutter zu mir war, als ich krank
war.“ Die Analyse ließ keinen Zweifel daran, daß die Patientin diese Krank¬
heit als eine Art Strafe aufgefaßt hatte, die für aggressive Regungen über
sie verhängt worden war, die vom sonstigen Benehmen abweichende Güte der
Mutter also als Verzeihung. Sie hatte irgendwelche schrecklichen Ängste vom
Charakter von Vergeltungsängsten, die durch die Krankheit aktiviert worden waren,
durch das Anklammern an die jetzt gütige pflegende Mutter abgewehrt, und sich
später mit deren Haltung identifiziert.
22) Mannigfaltiges Material dieser Art findet man z. B. in der Arbeit von Melitta
Schmideberg: „Einige unbewußte Mechanismen im pathologischen Sexualleben und
ihre Beziehungen zur normalen Sexualbetätigung.“ Int. Ztschr. f. Psa., XVIII, 1932.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
33
Otto Fenichel
Wenn sie in der späten Kindheit von älteren Spielkameraden enttäuscht oder
gekränkt wurde, so suchte sie sich jüngere Kameraden, die sie beschützen konnte.
Das liebevolle Verhalten erschien so als Abwehr von Aggression, aber auch von Angst.
Die weitere Analyse deckte dann auf, wie sehr die Patientin auch in einer
anderen Weise dem Strukturbild entsprach, an das wir bei der Diagnose „Pseudonym¬
phomanie“ zu denken pflegen Sie stand mit einem Teil ihres Ichs durchaus auf
der Stufe der Partialliebe; unbewußt interessierte sie am Mann vorwiegend oder
ausschließlich der Penis. Ihm galt im Grunde alle Zärtlichkeit; ihm aber auch die
Aggression und die unheimliche Angst vor einer zerstörenden Vergeltung. Oral¬
sadistische Einverleibungsideen und die zugehörigen Ängste waren es, die durch ein
liebevoll zärtliches Verhalten verleugnet werden sollten. Wenn wir vorhin an¬
deuteten, sie hätte die Männer, zu denen sie zärtlich war, nach dem Typus der
narzißtischen Objektwahl gewählt, um sie so zu behandeln, wie sie von der Mutter
behandelt sein wollte, so ist das nun zu ergänzen; Im Grunde war es der Penis
dieser Männer, dem sie sich selbst gleichgesetzt hatte. Als sie einmal erzählte, daß
ihr Vater ausgeritten sei, sagte sie; „Ich war sehr stolz auf mein Pferd“, statt „auf
meinen Vater“.
Die spätere Liebesbeziehung zum Vater war überhaupt sehr von Identifizierungs¬
zügen durchzogen. Ihre Sehnsucht war, seinem Penis gegenüber empfinden zu
können: „Ich habe einen Anteil daran; das ist eine mir vertraute Sache: ,unser‘
Penis/‘ Sie verhielt sich also zur Männlichkeit ihres Vaters so ähnlich, wie der
früher erwähnte feminine Patient zur weiblichen Penislosigkeit; ihre liebevolle
Zärtlichkeit verleugnete die angsterregende Andersartigkeit.
Die weitere Analyse ließ uns dann noch einen Einblick in die tiefen Schichten
der oral-sadistischen Aggression und der Angst vor dem Penis tun. Diese
Einstellung war nicht am Vater, sondern an der Mutter erworben worden. Eine
intensive ambivalente orale Bindung an diese war die Grundlage des ganzen Cha¬
rakters. Ein seltsames Interesse für Tote, Friedhöfe und alles, was damit zusammen¬
hängt, zeichnete sie aus; in der Nachpubertätszeit verbrachte sie Stunden tag¬
träumend auf dem Friedhofe. Sie stellte sich die Toten sehr „friedlich“ vor. Wie zu
erwarten, zeigte die Analyse hinter diesem Interesse das für das „Innere des Mutter¬
leibes“ auf. Hinter dem friedlich zärtlichen Charakter des Interesses für die Toten
war ein intensiv sinnliches Interesse für diesen Gegenstand verborgen. Die Idee,
friedlich auf einem Grabe zu sitzen, d. h. mit einer „Unterirdischen“ „in Liebe ver¬
eint“ zu sein, war eine gelungene Art, wollüstige Todes wünsche gegen die Mutter und
eine entsprechende Vergeltungs-Todesangst zu widerlegen, genau in der gleichen Art
wie sie später durch ihr zärtliches Verhalten Männern gegenüber die analogen Ängste
widerlegte. Die Todesangst stammt aus der Zeit der früher erwähnten Krankheit, an
der sie vielleicht sterben würde. Das hatte immense Vergeltungsängste wegen älterer
hier nicht weiter zu erörternder oral-sadistischer Triebe mobilisiert. Daß die
Mutter, an der man sich sonst wegen der von ihr ausgehenden Versagungen wol¬
lüstig rächen wollte, nun gerade zu dieser Zeit so freundlich war und der Patientin
durch ihre Zärtlichkeit als Schutz vor ihren Todesängsten diente, ermöglichte ihr, in
ihrem späteren Leben Zärtlichkeit und Sexualität überhaupt zur Angstabwehr zu
verwenden.
Ihr sexuelles Verhalten war also zur Gänze wie ein neurotisches Symptom auf¬
gebaut. Es war kein Zweifel, daß in ihm zutiefst die verdrängte, im Unbewußten in
ihrer ursprünglichen oral-sadistischen Form erhalten gebliebene Libido ihren Aus-
23) Vgl. Fenichel: Perversionen, Psychosen, Charakterstörungen, S. 48 ff.
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung
485
druck fand. Aber dieser Ausdruck war nach dem Eingreifen der verdrängenden
Mächte nicht mehr oral-sadistisch, sondern genital. Die genitale Art, in der das
sexuelle Verhalten manifest erschien, war einem Mechanismus der Angstabwehr
zu verdanken, der sich aus „Identifizierungen“ und „Flucht zur Realität“ zu¬
sammensetzte. Das genitale Verhalten entsprach nicht genitalen Trieben, sondern
einem Gemenge aus oral-sadistischen Trieben und diese abwehrenden Ängsten. Mit
Hilfe eben der genitalen Zärtlichkeit wurde die Angst abgewehrt. Diese war
„libidinisiert“ worden. Die Patientin liebte und verzärtelte die Objekte, vor denen
sie eigentlich Angst hatte. Es wunderte uns nicht, als im Verlaufe der Analyse
die zufällig glücklichen quantitativen Verhältnisse angegriffen wurden und die
Patientin zeitweise frigid wurde.
Ein Fall, wie der eben besprochene, bietet an sich gewiß nichts Besonderes.
Es ist bei ihm prinzipiell nicht anders, als etwa bei jenen bekannten männ*
liehen Fällen, die äußerlich ein reiches Sexualleben führen, in Wahrheit aber
nur, um eine innere Impotenzangst zu widerlegen — oder wie überhaupt bei
jenen Fällen, wo in mannigfachster Weise äußerlich sexuelle Flandlungen nur
um des bedrohten Selbstgefühls willen ausgeführt werden. Er ermöglicht uns
aber einen Vergleich zwischen angstabwehrender „reaktiver*^ und spontaner
Sexualität. Der Unterschied ist meist in die Augen fallend. Manchmal, unter
glücklichen quantitativen Verhältnissen, ist er weniger deutlich, aber auch
dann bleibt er theoretisch höchst bedeutsam. Wenn ein Mensch, dessen Sexuali¬
tät im Grunde infantil geblieben ist, eine dieser entgegenstehende Angst durch
äußerlich erwachsen-sexuelles Verhalten abwehrt, so können solche sexuelle
Handlungen im Prinzip niemals wirkliche Befriedigung bringen. Er ist or¬
gastisch impotent. Wenn man die abwehrenden Ich-Haltungen einteilt in
solche, bei denen die abgewehrten Triebenergien frei abfließen (Typus der
Sublimierung), und solche, wo sie durch eine Gegenbesetzung in Schach ge¬
halten, aber im Unbewußten unverändert bestehen bleiben (Typus der Reak¬
tionsbildung), so muß man sagen, daß eine Angstabwehr durch die geschilderte
Libidinisierung zwar gewisse Abfuhren ermöglicht, aber im Grunde stets dem
zweiten Typus angehört: die gefürchtete infantile Sexualität bleibt im Un¬
bewußten bestehen. Ein reaktives sexuelles Verhalten unterscheidet sich also
nicht von anderen Verhaltungsweisen vom Charakter der Reaktionsbildung.
Es ist wie diese krampfhaft, zielgehemmt, widerspruchsvoll, energieverbrau¬
chend und daher unzweckmäßig.
Die reaktive Sexualität ist eine sekundäre Bildung. Verwechselt man
sie mit der primären, somatisch bedingten Sexualität, so käme man bald in
arge theoretische Wirrnis.
Die „Libidinisierung der Angst*" spielt in der letzten Zeit in der psycho¬
analytischen Literatur eine große Rolle. Deshalb war mir daran gelegen, die
wirklichen Verhältnisse klarzulegen. Werfen wir nun noch einen Blick auf
diese Literatur, so müssen wir sehen, daß in ihr die Gefahr dieser Verwechs¬
lung nicht immer vermieden wurde. Eine Kollegin sprach vom „psychischen
Otto Fenichel
Sinn des Geschlechtsverkehrs“, weil sie bei pathologischen Personen prägenitale
Angstabwehren während des Geschlechtsaktes in Tätigkeit gefunden hat.^i
Kollegen, die bei oral Fixierten finden, daß der Penis unbewußt Mamma¬
bedeutung hat und benutzt wird, um oralsadistische Konflikte und Ängste zu
erledigen, meinen, die Libidobesetzung des Penis verdanke der Sehnsucht nach
solcher Erledigung ihr Entstehen.^® Bei manchen Arbeiten hat man fast den
Eindruck, daß die Libido überhaupt nur mehr als ein Mittel, Angst zu neu¬
tralisieren, angesehen wird; man vergißt, daß die Libido eine biologische, so¬
matisch bedingte Kraft ist.
Etwas davon findet sich sogar in Arbeiten von Jones. Er schreibt z. B.:
„Die typische phallische Phase (ist) beim Knaben eher ein neurotisches
Kompromiss als ein Stück der natürlichen Sexualentwicklung.“^« Aller¬
dings meint er die „deuterophallische“ Periode, die Kastrationsangst und
ihre Folgen, also z. B. nicht den Impuls, phallisch einzudringen, sondern die
Hemmung dieses Impulses, wenn er von der „phallischen Phase“ spricht. Und
doch scheint es, daß ihn die Verfolgung der verwirrten Zusammenhänge von
Genitalität und Prägenitalität, insbesondere die Verfolgung der aus der prä¬
genitalen Zeit übriggebliebenen Ängste und ihrer weiteren Schicksale dazu
führte, in der Genitalität wesentlich ein Produkt der Kämpfe um die prä¬
genitale Angst zu sehen. Freud hat uns erklärt, daß in einer Zeit, wo das
ganze Interesse des Jungen seinem Penis zugewendet ist, er, wenn er Sexual¬
verbote irgend welcher Art, besonders Onanieverbote, hört, nach dem
Talionsgesetz eine Strafe am Penis erwartet; ferner, daß die so entstehende
Kastrationsangst ihren dynamischen Wert eben aus dem Umstand zieht,
daß der Penis in diesem Lebensalter so hoch besetzt ist.^^ Die somatisch be¬
dingte Libido erklärt uns die Stärke der durch den Eingriff der Erziehung
bedingten Angst. Nach Jones verhält sich dieser Sachverhalt geradezu um¬
gekehrt: „Libidinisierung“ nicht nur dessen, was man fürchtet, sondern auch
dessen, wofür man fürchtet, ist ein Mittel gegen Angst. Weil um diese Zeit
Kastrationsangst herrscht, wird der Penis hoch besetzt, „die narzißtische Be¬
setzung des Phallus ist sekundärer Natur“. Der Junge hat nicht Angst um den
Penis, weil er ihn als ein somatisch sensationsreiches Organ liebt, sondern er
liebt den Penis, weil er um ihn Angst hat und sich deshalb besonders um ihn
sorgen muß. Woher aber dann die Angst? Nun ist es so, daß uns die eng¬
lische psychoanalytische Schule sehr viel Beherzigenswertes über die prägeni¬
talen Ängste gelehrt hat, die vor allem aus dem oralen Sadismus stammen.
Kein Zweifel, daß da in der psychischen Entwicklung das Alte immer noch
24) Deutsche psychoanalytische Gesellschaft, 1931.
25) Bergler u. Eidelberg: Der Mammakomplex des Mannes. Int. Ztschr. f. Psa.,
XIX, 1933-
26) Jones; Die phallische Phase. Int. Ztschr. f. Psa., XIX, 1933, S. 337. Auch die
folgenden Hinweise beziehen sich auf diese Arbeit.
27) S. z. B. Freud; Die infantile Genitalorganisation, Ges. Sehr., Bd. V.
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung 487
hinter dem Neuen steht, auch die Kastrationsangst mit diesen Ängsten
immer in assoziativer Verbindung steht. Statt nun diese Wege von der prä¬
genitalen zur genitalen Angst gleichsam als akzidentell zu beschreiben, sieht
Jones in der Kastrationsangst nur ein Entwicklungsprodukt dieser frühen
Ängste und in der phallischen Phase eine Folge der Kastrationsangst.^»
Die zur Diskussion stehenden Fragen werden besonders wichtig bei den
Problemen der Psychogenese der Perversionen. Flier handelt es sich um ein
libidinöses Phänomen, das dazu dient, für gefährlich gehaltene Triebe anderer
Art in der Verdrängung zu halten. Es liegt also nahe, daran zu denken, daß
hier etwas Gefürchtetes sexualisiert sei. Das ist die Auffassung von Glover,^®
an die man glauben möchte, wenn man z. B. einem Scherenfetischisten be¬
gegnet. Oder: Wir sind gewohnt, in der Pädophilie ein Verliebtsein in die
eigene Kindheit zu sehen. Es gibt aber auch eine Form der Pädophilie, die
analog der Femininität jenes die Angst vor den Frauen abwehrenden Patienten
ist: So wie es viele Patienten gibt, die mit Kindern nicht reden und keinen
Kontakt finden können, weil sie vor Kindern, die sie an ihre eigene verdrängte
Kindheit erinnern, Angst haben, gibt es auch Pädophile, die Kinder lieben,
weil sie eine solche Angst widerlegen und sich und andern beweisen wollen,
daß sie Kinder nicht fürchten. Es könnte also sein, daß in solcher reaktiver
Liebe zu den Kindern gerade das Gefürchtete wieder libidinisiert ist. Glover
meint, daß das tatsächlich so ist, und daß Perversionen Libidinisierungen an
denjenigen Stellen entsprechen, wo einmal Kindheitsängste bestanden haben.
— Aber gerade der Fetischismus, auf den Glover sich beruft, scheint ja
zunächst das Gegenteil zu beweisen. Wenn ein Bein- und Fußfetischist sich
daran erinnert, daß er, als er als Kind einmal ein Mädchen mit kurzen Röcken
sah, das Erlebnis des „Merkbefehls"‘^® gehabt habe: „Das muß ich mir für
alle Zeiten merken, daß Mädchen auch Beine haben*", so verstehen wir: Er
beschließt in diesem Augenblick gerade das Gegenteil, nämlich: „Mit Flilfe
dieses Anblicks kann ich vergessen, daß Mädchen keinen Penis haben.“ Er
sexualisiert also nicht dort, wo er Angst empfindet, sondern er sexualisiert
28) Ich will es mir versagen, zahlreiche analoge Beispiele unserer Literatur zu be¬
sprechen. Ein Beispiel für viele; Nina Searl meint, daß eine Libidinisierung der Organe
des respiratorischen Trakts zustande kommt, um die berechtigte Angst vor einer Schädigung
in dieser Gegend wettzumachen, die anläßlich der Erfahrung von frühkindlichen Schrei¬
anfällen entstand. (The Psychology of Screaming, Int. Journal of Psa., XIV, 1933.) Daß
man Organe und Funktionen, die man fürchtete, überkompensierend libidinisieren kann,
ist kein Zweifel. Aber man kann nicht die Erogeneität einer Gegend, die eine biologische
Eigenschaft ist, überhaupt auf einen derartigen Mechanismus zurückführen, sondern muß
daran denken, daß die Angst, die hier abgewehrt wird, selbst wieder dazu bestimmt war,
ihrerseits eine noch frühere somatisch bedingte Erogeneität abzuwehren.
29) Glover: The Relation of Perversion-Formation to the Development of Reality-
Sense. Int. Journal of Psa., XIV, 1933.
30) Fenichel: Zur ökonomischen Funktion der Deckerinnerungen. Int. Ztschr. f. Psa.,
XIII, 1927.
^88 Otto Fenichel
dasjenige, was seiner Angst widerspricht. Infantile sexuelle Befriedigungen, die
eine gleichzeitige Angst zu widerlegen scheinen, legen natürlich besonders
leicht den Grundstock zu Fixierungen.
Es ist gerade charakteristisch für die Perversion, daß der infantile Partial¬
trieb, der manifest in der Perversion zutage tritt, nicht identisch ist mit den
sexuellen Haltungen, die gefürchtet sind und abgewehrt werden. — In der
Perversion wirken Momente, die von der erwachsenen Sexualität wegziehen,
zusammen mit solchen, die zur infantilen hinziehen. Das Moment der Angst¬
überwindung durch Libidinisierung kann als Unterabteilung der zweiten
Gruppe eine Rolle spielen. ^W^enn man das aber als allein ausschlaggebend
hervorheben will, so wird zunächst die erste Gruppe von Faktoren völlig
außeracht gelassen. Sie kulminiert immer in der Kastrationsangst.
Glover wirft dieser Meinung vor, sie erkläre die Perversionen allzu monoton.
Zu Unrecht. Monoton ist die Kastrationsangst, die tatsächlich bei allen Per¬
versionen in gleicher Weise bewirkt, daß die erwachsene Sexualität durch
etwas anderes ersetzt werden muß; wodurch sie aber ersetzt wird, das ist nicht
monoton, sondern hängt von der Anziehung ab, die von den verschiedenen
Partialtrieben ausgeht, und bei der die Libidinisierung zum Zwecke der Angst¬
überwindung einen Faktor neben anderen darstellen mag.
Aber auch unter den fixierenden Faktoren darf man die Libidinisierung
zum Zwecke der Angstüberwindung nicht allzu isoliert hervorheben. Es ent¬
steht sonst der Eindruck, daß die somatische Basis der Partialtriebe, die ge¬
sicherte Erfahrung, daß diese durch Konstitution oder durch Erleben
Fixierungen erleiden können, zu kurz kommen könnte über der einen
neuen Entdeckung. Wenn Glover z.B. formuliert, daß „viele der sogenann¬
ten spontanen sexuellen Aktionen der Kindheit schon im Prinzip Perversio¬
nen sind“, d. h. der Angstüberwindung dienen, so fürchtet man für die grund¬
legenden Erkenntnisse der Psychoanalyse über die infantile Sexualität als einer
aus somatischen Quellen stammenden Gegebenheit.
Fragt man nun aber: „Wieso kann das Ich den perversen Impuls be¬
jahen?“, so ist die Antwort: „Weil dank der Libidinisierung die Bejahung des
Gefürchteten Angst erspart“, sicher nicht die prinzipiell richtige, sondern man
müßte etwa sagen: „Weil diese Bejahung imstande ist, gerade dasjenige Mo¬
ment, das dem Patienten eine Triebbefriedigung als Gefahr erscheinen läßt,
auszuschalten.“ Völlig ungenügend erscheint mit die Antwort Eideibergs:
„Dieser Unterschied im Verhalten des Ichs ist dadurch bedingt, daß bei der
Bildung der perversen Handlung der kindliche Größenwahn des Ichs im weit
größeren Ausmaße berücksichtigt wird als beim neurotischen Symptom.“®^
Es scheint uns, es gehe gerade umgekehrt zu: Wenn dem Ich ein so glücklicher
Ausweg aus einem Triebkonflikt gelingt, bei dem es seine gefährdete sexuelle
31) Eidelberg; Zur Theorie und Klinik der Perversion. Int. Ztschr. f. Psa., XIX, 1933.
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung 4^9
Lust unter der Bedingung der Zieländerung im Sinne des Rückgreifens auf
alte Fixierungen erhalten kann, dann wird auch sein kindlicher Größenwahn
dadurch gehoben und tritt deutlicher in Erscheinung.
Die Psychoanalyse hat es mit ungemein komplizierten Sachverhalten zu tun.
Will sie über diese Sachverhalte einen Gesamtüberblick gewinnen, so ist es
wichtig, daß sie die richtigen Koordinaten der Ordnung all dieser Komplika¬
tionen zugrunde legt. Es gibt z. B. in den masochistischen Phänomenen einen
Genuß an der Unlust. Dies darf nicht dazu verführen, das Lustprinzip, das
uns die erste und sicherste Orientierung für die Verhaltungsweisen der Men¬
schen gibt, zu verwerfen, sondern nur dazu, diese Ausnahme eines sonst gül¬
tigen Prinzips psychogenetisch zu erklären. Ebenso gibt es eine „Angstabwehr
durch Libidinisierung'". Dieser Sachverhalt könnte wieder deshalb verwirren,
weil wir zum Verständnis der gesamten Triebkonflikte der Menschen davon
ausgehen, daß umgekehrt die Angst es ist, die den Motor zur Abwehr der
Triebe, der „Libido", abgibt. Diese Auffassung ist aber für die wissenschafts¬
theoretische Einordnung der Psychoanalyse von entscheidender Bedeutung.
Denn gerade die biologisch bedingte Natur der Sexualität, der Trieb als die
„Arbeitsanforderung, die das Somatische an den psychischen Apparat stellt",^^
ist die Brücke von unserer Wissenschaft zur Biologie. Es kommt also auch
hier darauf an, die Libidinisierung als Angstabwehr, als sekundär zu ver¬
stehen, als eine Folge des „Prinzips der mehrfachen Funktion",^® das dazu
führt, daß ein somatisch bedingter Drang im Seelenhaushalt auch andere Funk¬
tionen übernimmt. In der Angstabwehr aber die Hauptfunktion der Libido zu
sehen, würde uns von unserer ganzen Denkweise abführen und den natur¬
wissenschaftlichen Charakter der Psychoanalyse bedrohen. Bevor es eine
Angstabwehr mit Hilfe von Trieben gab, gab es primäre Triebe, deren Nicht¬
befriedigung Angst entstehen ließ und die selbst durch Angstentwicklung ab¬
gewehrt wurden.
32) Freud; Triebe und Triebschicksale, Ges. Sehr., Bd. V.
33) Wälder: Das Prinzip der mehrfachen Funktion. Int. Ztschr. f. Psa., XVI, 1930.
Probleme der Technik
Von
Hellmuth Kaiser
Palma de Mallorca
1. Vorbemerkung
2. Die Grundfragen der Technik
3. Die Auflösung der Widerstände
4. Sind andere Wege der Widerstandsauflösung in dem vorliegenden Beispiel möglich?
5. Die Struktur der Widerstände
6 . Übertragungswiderstände
7« Charakterwiderstände
8. Die Auflösung der Widerstände (Fortsetzung)
9. Die Praxis der konsequenten Widerstandsanalyse
10. Das Problem der Aktualität
11. Das Reden in Anspielungen
12. Reichs Theorien zur Analysentechnik
13. Die Formulierungen Freuds
I, Vorbemerkung
In der analytischen Praxis fiel mir eine Gruppe von Patienten auf, die sich
der von mir geübten Technik gegenüber als ganz besonders resistent erwies.
Die Schwierigkeiten, die ihre Behandlung bereitete, und die zunächst recht
verschiedene Aspekte boten, schienen bei fortschreitender Analyse oder wenig¬
stens bei zunehmender Stundenzahl einander immer ähnlicher zu werden und
erweckten schließlich die Überzeugung, daß das Kernstück des Widerstandes,
der die analytische Bemühung unfruchtbar machte, bei allen das gleiche sein
mußte. So unterschiedlich das Lebensverhalten dieser Patienten war, so un¬
gleich das Ausmaß, in dem die Neurose ihnen das Dasein verkümmert hatte
(wenigstens für eine oberflächlichere Betrachtung), so sehr drängte sich die Be¬
obachtung auf, daß der Widerstand, den sie in der Analyse entwickelten, stets
die gleiche Gefühlslage in mir erzeugte. — Nachdem ich erst bei einem dieser
Patienten einen großen Fortschritt in dem Verständnis seiner Widerstände da¬
durch erreicht hatte, daß ich das Wesentliche daran als eine trotzhafte Haltung
aufzufassen suchte, bemerkte ich sehr bald, daß mir die gleiche Interpretation
auch bei allen anderen Patienten dieser Gruppe die Situation in der fühlbarsten
Weise klären half.
Diese Erfahrungen veranlaßten mich zu einer Reihe von Untersuchungen
und Überlegungen, die zwei verschiedene Problemkreise betrafen. Ich ver¬
suchte erstens, den Begriff des „trotzhaften Charakters'" — diese Eigenschaft
schrieb ich jener Patientengruppe als deren gemeinsames Merkmal zu —
genau herauszuarbeiten, d. h. ihn exakt zu beschreiben, seine Genese soweit
wie möglich theoretisch zu verstehen und ihn gegen andere, ähnliche Begriffe
Probleme der Technik
491
von Charaktertypen abzugrenzen. Zweitens sah ich mich genötigt, mir die
Frage vorzulegen, warum diese Patienten so wenig durch ein analytisches Vor¬
gehen zu beeinflussen waren, das bei anderen Typen, wenn auch nicht gerade
volle Heilungen, so doch sehr erhebliche, praktisch ausreichende Besserungen
erzielt hatte. Im Verfolg dieser zweiten Fragestellung kam ich dazu, aus¬
gehend von den allgemeinsten theoretischen Grundlagen der Technik einige
Gesichtspunkte für die analytische Behandlung der trotzhaften Charaktere
aufzustellen und ihre Anwendung in der Praxis zu studieren.
Die Ergebnisse, zu denen ich bei der Bearbeitung dieser beiden Problem¬
stellungen gelangte, sind in einer vor einigen Monaten beendeten Arbeit mit
dem Titel „Der trotzhafte Charakter'' niedergelegt, die aber bisher aus Raum¬
mangel nicht publiziert werden konnte. — In der vorliegenden Arbeit möchte
ich einige, die Theorie der Technik betreffende Gedanken zur Diskussion
stellen, die sich mir bei dem Studium der „trotzhaften Charaktere" und ihrer
besonderen Widerstände ergaben, die aber vielleicht auch unabhängig von der
Betrachtung dieser speziellen Charakterform Anregungen für die Entwicklung
der Analysentechnik geben könnten.
Ich werde mit ein paar allgemeinen Betrachtungen über die analytische
Technik beginnen, um erst an der Stelle, wo die Erfahrungen, die ich an trotz¬
haften Charakteren gemacht habe, besonders aufschlußreich waren, die speziel¬
len Mechanismen dieses Typs in die Untersuchung einzubeziehen.
2. Die Grundfragen der Technik
Es besteht unter den Analytikern Einigkeit darüber, daß die Gesundung
des Patienten, die durch die analytische Behandlung erzielt werden soll, in den
erfolgreichen Fällen dadurch zustande kommt, daß Triebimpulse, die seit
früher Kindheit durch mehr oder minder komplizierte Mechanismen vom Ich
des Patienten abgewehrt und von den Abfuhr- oder Verarbeitungsmöglich¬
keiten des Systems WBw. ferngehalten wurden, aus ihrer Absperrung befreit
werden, so daß sie an der Gestaltung der Gesamtpersönlichkeit und an ihren
Lebensäußerungen in der für den Gesunden charakteristischen Weise teil¬
nehmen können.
Als das konkrete, beobachtbare Korrelat einer solchen Befreiung verdräng¬
ter Impulse pflegen wir in der analytischen Behandlung ein Phänomen anzu¬
sehen, das ich für die Zwecke der folgenden Überlegungen als „echten Trieb¬
durchbruch" bezeichnen möchte, und das ich, um dem Leser eine sichere
Identifizierung mit eigenen Beobachtungen zu ermöglichen, sogleich beschrei¬
ben will.
Der Patient spricht mit bewegter, oft mit eigentümlich vibrierender Stimme.
Er befindet sich in starker Erregung; seine Muskulatur ist gelockert, wenn er
auch häufig, von krampfhaften Sperrungen unterbrochen, für Augenblicke in
steife, Angst, Ekel oder Scham ausdrückende Haltungen verfällt. Er spricht
492
Hellmuth Kaiser
bald überstürzt, bald stockend, sein Ausdruck ist, sowohl was die Klangfarbe
und Modulation der Stimme, die Mimik und Gestikulation, als auch was die
Wortwahl und den Satzbau betrifft, der für ihn „natürliche“ und wirkt wie
der eines von starken Affekten bewegten Gesunden unmittelbar „echt“ und
überzeugend. Der Inhalt seiner Äußerungen bezieht sich auf einen ihn offen¬
bar gegenwärtig bewegenden Impuls, der sich aber nicht nur auf den an¬
wesenden Analytiker richtet, sondern auch einem Objekt der Kindheit gilt.
Im Anfang des Durchbruchs wird dies Objekt noch mit der Person des Ana¬
lytikers verschmolzen, im weiteren Verlaufe wird es jedoch von ihm abgelöst
und erscheint als eine bestimmte Persönlichkeit aus der Infantilzeit des Pa¬
tienten. Die Rede des Patienten schwankt meist zwischen dem Präsens und
einer Vergangenheitsform hin und her, bald redet er den Analytiker mit dem
Namen jener Persönlichkeit an, bald berichtet er eine Erinnerung.
Nach dem Durchbruch ist der Patient gelöst, ermattet und stark erleichtert;
namentlich wenn der Durchbruch Zeit hatte, in der Analysenstunde auszu¬
laufen, befindet er sich meist in befreiter, intensiv glücklicher Stimmung.
Der Analytiker hat angesichts eines echten Triebdurchbruchs ein ähnliches
' Gefühl wie beim Anblick eines großartigen Naturschauspiels, eines starken
/ Gewitters, einer Sturmflut, eines Vulkanausbruchs. Er fühlt sich erschüttert.
— Der Eindruck ist ein so starker, daß es kaum Vorkommen wird, daß er an
^ der Echtheit des Phänomens zweifelt, während es ziemlich häufig geschehen
j mag, daß man einen Scheindurchbruch (also den Ausdruck einer bestimmten
Widerstandsform) zunächst für echt hält, um allmählich diese Überzeugung
anzuzweifeln.
Ob diese „echten Triebdurchbrüche“ nur Indikatoren für die schon voll¬
zogene Triebbefreiung darstellen, oder ob sich die Triebbefreiung in diesen
Phänomenen oder während ihres Ablaufs vollzieht, können wir nicht mit
Sicherheit entscheiden. Tatsache ist jedenfalls, daß Veränderungen des Pa¬
tienten, die als Fortschritte in Richtung auf eine wirkliche Heilung aufgefaßt
werden können, nur nach dem Auftreten von Phänomenen der geschilderten
Art zu beobachten sind. Auch hierüber dürfte weitgehend Einigkeit bestehen.
Die Grundfrage der Technik: Wie und wodurch ist eine Befreiung der ver¬
drängten Triebimpulse möglich? fällt also praktisch zusammen mit dem Pro¬
blem, den Weg anzugeben, auf dem man zu solchen echten Triebdurchbrüchen
gelangen kann. — Die allgemeinste Antwort auf diese Frage hat Freud ge¬
geben. Die verdrängten Impulse haben von sich aus das Bestreben, nach dem
Bewußtsein hin durchzustoßen. Was sie daran hindert, sind die in der Kind¬
heit errichteten und seitdem gewaltig ausgebauten Abwehrmechanismen, deren
Wirkung der Analytiker in den sogenannten Widerständen zu fühlen be¬
kommt, und deren Zahl sich im Laufe der Analyse durch Bildungen, die diese
selbst provoziert, d. h. erforderlich gemacht hat, noch vergrößert. Daraus
Probleme der Technik
493
folgt, daß das Mittel zur Befreiung der verdrängten Impulse in der Überwin¬
dung der Widerstände besteht.
Das eigentliche Problem der Technik lautet nun: Wie beseitigt man die
Widerstände des Patienten? Die Antworten, die Freud hier gegeben hat,
sind kurz und sehr viel weniger präzise formuliert als die Mehrzahl der übrigen
in seinen technischen Schriften enthaltenen Gedanken. Seltsamerweise haben
diese Antworten seit den rund zwanzig Jahren ihrer Publizität keine Neu¬
darstellung, keine Ergänzung oder Interpretation erfahren. Die wichtigsten
hierhergehörigen Stellen lauten:
„Endlich hat sich die konsequente heutige Technik herausgebildet, bei welcher der
Arzt auf die Einstellung eines bestimmten Momentes oder Problems verzichtet, sich
damit begnügt, die jeweilige psychische Oberfläche des Analysierten zu studieren und
die Deutungskunst wesentlich dazu benützt, um die an dieser hervortretenden Wider¬
stände zu erkennen und dem Kranken bewußt zu machen. Es stellt sich dann eine
neue Art von Arbeitsteilung her: Der Arzt deckt die dem Kranken unbekannten
Widerstände auf; sind diese erst bewältigt, so erzählt der Kranke oft ohne alle Mühe
die vergessenen Situationen und Zusammenhänge.“
„Die Überwindung der Widerstände wird bekanntlich dadurch eingeleitet, daß
der Arzt den vom Analysierten niemals erkannten Widerstand aufdeckt und ihn dem
Patienten mitteilt.. . Man muß dem Kranken die Zeit lassen, sich in den ihm
unbekannten Widerstand zu vertiefen, ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden,
indem er ihm zum Trotze die Arbeit nach der analytischen Grundregel fortsetzt.“
(Int. Zeitschr. f. Psa. II, 1914, Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten.)
Wenn wir in diesen Sätzen Freuds keine uns ganz befriedigende Antwort
auf die Grundfrage der Technik zu finden glauben, so gewiß nicht, weil sie
zu arm an Inhalt seien. Im Gegenteil, sie sind ungeheuer inhaltsreich, so
reich, daß die volle Entfaltung der in ihnen angedeuteten Beobachtungen, An¬
weisungen, Theorien und Probleme eine stattliche Reihe von Bänden füllen
könnte, so daß es sich mit ihnen ähnlich verhält wie mit den drei Abhand¬
lungen zur Sexualtheorie, von denen man sagen könnte, daß ein großer Teil
der analytischen Literatur aufgefaßt werden kann als die explizite Darstellung
der dort in erstaunlicher Konzentration teils ausgedrückten, teils angedeuteten
Grundkonzeption.
Warum die technisch-therapeutischen Probleme trotz ihrer auf der Hand
liegenden eminenten praktischen Bedeutsamkeit nur eine so unvergleichlich
geringere Ausarbeitung gefunden haben als die theoretischen, ist gewiß eine
ungeheuer reizvolle Frage, deren Beantwortung aber nicht in den Rahmen der
vorliegenden Arbeit gehört.
Daß die Freudschen Formulierungen nicht so eindeutig oder genügend
ausführlich gefaßt sind, um nur eine Interpretation zuzulassen, beweist die
Tatsache, daß unter den Analytikern sehr verschiedene Methoden in der
Praxis befolgt werden, jedesmal mit dem Hinweis, daß gerade diese Methode
aus den Freudschen Grundgedanken folge, und zwar nicht nur für die In¬
dividualität eines bestimmten Analytikers, sondern für alle.
494
Hellmuth Kaiser
Mit einer Auffassung der Freudschen Formulierungen möchte ich mich
vorab auseinandersetzen, weil sie nämlich allen übrigen gegenüber eine Sonder¬
stellung einnimmt. Diese Auffassung lautet: Freud habe nur die eine An¬
weisung geben wollen, die Widerstände des Patienten zu beseitigen, hinsicht¬
lich des „wie?“ aber gemeint, daß es dafür keine Regeln und Methoden geben
könne, da alles der individuellen Intuition des einzelnen Analytikers zu über¬
lassen sei. Diese Auffassung, die etwa den Ausführungen von Reik in seinem
Luzerner Kongreßvortrag entsprechen dürfte, kann aber keinesfalls eine Weiter¬
entwicklung der Theorie der Technik entbehrlich machen. Denn gesetzt, sie
treffe wirklich die Meinung Freuds — was ich nicht glaube — und diese
Meinung Freuds sei außerdem die richtige, so würde gleichwohl die Frage
nach Beantwortung verlangen, wie es denn — etwa aus der Struktur der Wider¬
stände — zu verstehen sei, daß sie überhaupt einer Auflösung oder Beseitigung
zugänglich seien, was die besondere Leistung der Intuition dabei sei, und wieso
es möglich sei, daß man dem Ausbildungskandidaten immerhin von der
Äußerung intuitiver Einfälle mit Entschiedenheit abraten könne. Solange
diese Fragen der Lösung harren, kann die eine Theorie der Technik ablehnende
Auffassung keinen Anspruch auf wissenschaftliche Begründung erheben.
3, Die Auflösung der Widerstände
Wir wollen uns nun, ohne uns vorab auf irgendeine Theorie festzulegen,
die Frage stellen, wie es denn überhaupt möglich sei. Widerstände des Patienten
zu überwinden oder aufzulösen. Die sachgemäße Beantwortung dieser Frage
setzt voraus, daß man sich über die Natur der Widerstände eine bestimmte
Vorstellung bilden konnte. Denn wir dürfen nicht hoffen, die verwundbare
Stelle an einem Gegner herauszufinden, ehe wir ihn nicht selber sehr genau
kennen. Angesichts dieser Konsequenz wird uns bereits bange. Die Formen
und Arten der Widerstände zeigen einen erdrückenden Reichtum. Es scheint
hoffnungslos, den Versuch zu machen, sie soweit unter einen Hut zu bringen,
daß man sogleich etwas allgemeines über die Möglichkeit ihrer Auflösung
sagen könnte.
Versuchen wir es daher vorerst mit einer weit bescheideneren Aufgabe!
Betrachten wir ein einzelnes konkretes Beispiel einer Widerstandsauflösung,
wählen wir es so günstig und übersichtlich wie möglich und bemühen wir uns,
recht genau zu verstehen, was in diesem Einzelfall vor sich gegangen ist.
Ein Patient berichtet in der Stunde etwas ärgerlich, er habe am Morgen seinen
Schwager, den Mann seiner Schwester, der auf der Durchreise hier eine Stunde Auf¬
enthalt hatte, an der Bahn treffen wollen, habe ihn aber am Bahnhof nicht mehr
angetroffen, was ihm sehr leid tue, da ihm der Schwager sehr sympathisch sei. —
Auf die Frage, wie das denn zugegangen sei, antwortet er: Er sei ohne sein Ver¬
schulden zu spät gekommen; denn gerade als er das Haus habe verlassen wollen, um
die Elektrische zu nehmen, sei er telephonisch angerufen worden. — Ja, ob denn
sonst niemand im Haus gewesen sei, den Anruf entgegenzunehmen? — Der Patient
Probleme der Technik
495
stutzt einen Augenblick. „Das schon‘^, sagt er, so spät sei es auch gar nicht ge¬
wesen; nur habe sich das Gespräch in die Länge gezogen. Ob es denn etwas sehr
"W^^ichtiges gewesen sei? „Nein , antwortet er zögernd, das wohl nicht, aber der
Gesprächspartoer habe gar kein Ende gefunden, und er habe doch nicht so unhöflich
sein können, ihn zu unterbrechen. Dabei ist die Stininie des Patienten etwas heiser
geworden. In viel gereizterem Ton als vorher fährt er fort: „ ... Und wie ich auf
die Straße komme, fährt mir gerade die Bahn weg.“ — „Und dann?“ — „Na, da
bin ich eben in mein Büro gefahren.“ „Ja konnten Sie denn nicht ein Taxi nämen?“
Mit finsterem Gesicht gibt der Patient murmelnd zur Antwort: „Darauf bin ich
gar nicht gekommen!“ — „Warum werden Sie so böse?“ — „Mein Gott, warum
quälen Sie mich, dann habe ich den verdammten Kerl eben nicht gesehen.“ —
Gleich nach dieser Antwort dreht sich der Patient um, seine Miene ist entspannt
und sein Blick sagt, daß er verstanden hat, was in ihm vorging.
Wir behaupten, die obige Szene enthalte den Fall einer — gewiß sehr
banalen — Widerstandsauflösung. Der verdrängte Impuls besteht in einer
feindseligen Regung gegen den Schwager. Er ist vom Patienten abgewehrt,
weil er aus seiner, des Patienten, inzestuösen Fixierung an die Schwester stammt.
Die Durchreise des Schwagers durch die Heimatstadt des Patienten und die an
diesen gestellte Zumutung, den Schwager an der Bahn zu treffen, haben den
Impuls aktiviert. Die Abwehr des Impulses hat sich als nicht ganz ausreichend
erwiesen. Zwar ist er nicht bis in das Bewußtsein des Patienten vorgedrungen,
aber er hat sich in einer Reihe von Fehlhandlungen durchgesetzt, die das
Rendezvous verhinderten. — Außerdem ist er an der ärgerlichen Stimmung
des Patienten am Anfang der Stunde beteiligt. Worin bestand nun der Mecha¬
nismus, der das Bewußtwerden des verpönten Impulses im Anfang der Stunde
verhinderte? — Offenbar in der Überzeugung des Patienten, daß er an seiner
Verspätung keine Schuld trage. Diese Überzeugung wurde aufrechtgehalten
durch eine Reihe von Denkakten, die der Patient jedenfalls mit einer geringen
Beteiligung von Aufmerksamkeit — vielleicht können wir sogar sagen „vor-
bewußt‘‘ — vollzogen hatte. Zu diesen Denkakten gehört beispielsweise der¬
jenige, der zum Inhalt hat: Wenn ich den Gesprächspartner unterbreche, bin
ich unhöflich, und das darf ich nicht sein. — Hätte der intelligente Patient
seine Aufmerksamkeit von selbst diesen Denkakten zugewandt, er hätte die
das Bewußtwerden des verdrängten Impulses abwehrende „Überzeugung^^ nicht
eine Minute aufrechthalten können. Das Tun des Analytikers bestand nun
in nichts anderem, als daß er in geeigneter Weise die Aufmerksamkeit des Pa¬
tienten auf die falsche Überzeugung begründenden fehlerhaften Denkakte
lenkte, es so dem Verstände des Patienten ermöglichte, sie als fehlerhaft zu
erkennen und dadurch wieder seine Überzeugung, sein Zuspätkommen sei
durch äußere Umstände verschuldet, zu vernichten. — Je weiter dieser Pro¬
zeß fortschreitet, um so mehr zeigt sich von dem verpönten Impuls. Im
letzten Augenblick, als der Impuls schon seinem feindseligen Charakter nach
dem Patienten bewußt geworden ist, versucht die Abwehrinstanz noch rasch
ein neues Mittel, wenigstens das Objekt der feindseligen Strebung im Dunkel
496
Probleme der Technik
zu lassen: der Patient faßt die Fragen des Analytikers als Quälerei auf und
motiviert dadurch eine angeblich gegen den Analytiker gerichtete Gereiztheit,
d. h. er versucht eine Abwehr mit Hilfe der Übertragung. Dieses Mittel kommt
aber zu spät. Das Schimpfwort, mit dem er den Schwager unwillkürlich be¬
legt, ist der Beweis für das endgültige Scheitern des Abwehrversuches.
Das dynamische Moment bei der Abwehr, die der Patient ausübt, liegt —
das sei noch einmal hervorgehoben — nicht in den irrigen, die Abwehr er¬
möglichenden Gedanken, sondern in einem Betrag narzißtischer Libido, die
mobilisiert ist durch die assoziative Verknüpfung zwischen der Vorstellung
der eigenen Aggression und der Vorstellung einer Schädigung des Ichs. Diese
narzißtische Libido bewirkt erst das Zustandekommen der irrigen, die Reali¬
tät nicht treffenden Abwehrgedanken, die der an sich intakte Intellekt des
Patienten, wenn er nicht durch jenen Betrag narzißtischer Libido planmäßig in
seiner Funktion gestört worden wäre, gewiß als schief und unzutreffend ab¬
gelehnt hätte.
Um uns den Ablauf der kleinen Szene so deutlich zu machen, wie nur
irgend möglich, stellen wir die Phänomene in der Psyche des Patienten schema¬
tisch dar, indem wir mit der tiefsten Schicht beginnen:
Aggressiver Impuls. — Vorstellung einer Ich-Schädigung (etwa Kastrationsgefahr). —
Mobilisierung narzißtischer Libido. — Verdrängung des Impulses. — Reiz. —
(Anmeldung des Schwagers)
Aktivierung des Impulses. — Durchbruchssymptome. — Störung der Selbstwahr-
(Fehlbehandlungen)
nehmung durch die narzißtische Libido (Rationalisierung der Fehlbehandlungen).
Topisch betrachtet fallen die letzten beiden Phänomene in das Bereich des
Vorbewußten, alle vorangehenden in das des Unbewußten.
Wie vollzieht sich nun die widerstandslösende Wirkung des therapeutischen
Eingriffs? — Wir hatten schon gesagt, daß die Worte des Analytikers den
Effekt haben, die Aufmerksamkeit des Patienten auf seine irrigen, die Selbst¬
wahrnehmung verunmöglichenden Gedanken hinzulenken. Diese Deskription
stellt die topischen Verhältnisse richtig dar, aber sie gibt noch keinen Einblick
in die Dynamik der Situation. Es sieht vielmehr so aus, als ob überhaupt kein
dynamischer Aufwand nötig wäre; denn ist die Aufmerksamkeit des Patienten
erst auf seine irrigen Gedanken gerichtet, so vollzieht er ihre Entlarvung und
Verwerfung von selbst, ohne jedes weitere Zutun des Analytikers. Während
wir aber diesen Satz niederschreiben, erkennen wir schon, daß wir ein dynami¬
sches Moment übergangen haben: Der Umstand, daß der sonst scharfsinnige
Patient irrige Gedanken denkt und ihnen ein ungenügendes Maß an Aufmerk¬
samkeit zuwendet, ist nur zu erklären durch die Wirksamkeit einer störenden
Kraft. Wir machten sie auch schon namhaft und erkannten in ihr einen Be^
trag narzißtischer Libido. Das Hinlenken der Aufmerksamkeit des Patienten
auf seine irrigen Gedanken ist daher nur möglich, wenn die Kraft dieser die
Hellmuth Kaiser
497
Aufmerksamkeit abhaltenden Libido überwunden wird. Dazu bedarf es aber
wieder einer Kraft. Wo nehmen wir die her? — Nun, die Antwort ist ein¬
fach. Der Patient unseres Beispiels hat ja offenbar einen gewissen Kontakt mit
seinem Analytiker, er zeigt das Bestreben, ihm Rede und Antwort zu stehen,
er wünscht, von ihm verstanden zu werden. Die Kraft, die uns allein ermög¬
licht, die Wirksamkeit der narzißtischen Libido soweit einzuschränken, daß
die widerstandsbildenden Gedanken des Patienten in das volle Licht seiner
Aufmerksamkeit gerückt werden können, ist also seine Übertragungsbeziehung,
genauer gesagt seine zärtliche, von der ratio zugelassene Bindung an den
Analytiker.
In der Tat gelingt es keineswegs immer, den Patienten zu veranlassen, seine
Aufmerksamkeit dahin zu lenken, wo wir sie haben wollen. Ein anderer
Patient hätte vielleicht auf unsere Frage, wie das (Zuspätkommen) denn
eigentlich zugegangen sei, geantwortet: „Woher das plötzliche Interesse? —
Sonst fragen Sie doch nie!‘‘ Und hätte mit einer Hohnrede auf die Analyse
fortgefahren. — Wir können ja auch bemerken, daß der Analytiker unseres
Beispiels eine gewisse — sicherlich noch recht primitive und auch dem All¬
tagsleben nicht fremde — Kunst der Gesprächsführung anwendet. Er geht
nämlich Schritt für Schritt vor und nimmt bei seinen Fragen nicht auf den
intakten, sondern auf den ja tatsächlich gestörten Intellekt des Patienten Rück¬
sicht, Ebenso vermeidet er einen inquisitorischen Ton oder eine ironische
Nuance in seiner Stimme.
Wir haben das angebahnte Verständnis der Vorgänge in unserem Beispiel
nun noch durch die Beantwortung einer energetischen oder dem üblichen
Sprachgebrauche nach „ökonomischen“ Frage zu ergänzen. Wir haben zwar
etwas von dem dabei auftretenden Kräftespiel, aber noch nichts von den be¬
wirkten Energieumsetzungen erfahren. — Eines dürfen wir wohl ohne weiteres
annehmen: der auf gestaute feindselige Impuls gegen den Schwager hat eine
breitere Abfuhrmöglichkeit erhalten, als ihm bisher etwa in den Fehlleistungen
zur Verfügung stand. Diese Abfuhr beschränkt sich nicht etwa auf die in der
Analysenstunde geäußerte Invektive, sondern sie wird, nachdem der Affekt
dem Bewußtsein zugänglich geworden ist, in einem Umfange, der durch die
kulturellen Ansprüche des bewußten Ichs des Patienten bestimmt ist, weitere
Formen finden (z. B. die eines höflich aber kühl gehaltenen Entschuldigungs¬
briefs an den Schwager).
Wie steht es aber mit der durch das Aufgebot der Übertragungsbindung
„zurückgedrängten“ narzißtischen Libido, die den Abwehrdienst bewirkt hatte?
— Diesem Libidoquantum ist zwar ein Betätigungsfeld genommen worden.
Aber zur Demobilmachung hat ihm die Analysenstunde keinen Anlaß gegeben.
Im Gegenteil. Die Analyse hat einen Teil des aggressiven Impulses befreit,
aber damit nur die Gefahr vergrößert, daß der Kern dieses Impulses, der alte
Todeswunsch gegen den Vater aus den Zeiten der Ödipussituation, in das Be-
498
Hellmuth Kaiser
wußtsein durchbricht. Um das zu verhindern, muß eher noch ein Mehr an
Gegenbesetzung aufgewandt werden. Zum Beispiel könnte es sein, daß die
narzißtische Libido nun dazu verwandt wird, für die Feindseligkeit gegen den
Schwager eine harmlose Rationalisierung zu finden und durch vorsichtige
Steuerung der Aufmerksamkeit diese Neubildung vor der zerstörenden Kritik
des Verstandes zu schützen. — Praktisch gesprochen: der Analytiker wird mit
dem alsbaldigen Auftauchen eines neuen Widerstandes an einer dem Kern¬
punkt der Neurose um einen Schritt näher gelegenen Stelle zu rechnen haben.
Wir fassen zusammen: In dem vorliegenden Beispiel war die Auflösung des
Widerstandes durch den Eingriff des Analytikers auf die dargestellte Weise
möglich (und verständlich), weil der Widerstand sich einiger nicht realitäts¬
gerechter, aber auf Rationalität Anspruch erhebender Gedanken bediente, die
der Intellekt des Patienten an sich imstande war, als abwegig zu erkennen, und
weil es infolge der zur Zeit bestehenden Übertragung gelang, die Aufmerk¬
samkeit des Patienten diesen Gedanken — wir wollen sie kurz Widerstands¬
gedanken nennen — zuzuwenden.
4. Sind andere Wege der Widerstandsauflösung in dem vorliegenden Beispiel
möglich?
Wenn wir hoffen dürfen, daß der Leser unseren bisherigen Ausführungen
soweit gefolgt ist, um zuzugestehen, daß das angeführte Beispiel wirklich die
Auflösung eines (gewiß auch nur eines) Widerstandes darstellt und begreif¬
lich werden läßt, so wollen wir nun vorsichtig einen Schritt weitergehen und
fragen, ob das im Beispiel geschilderte Verhalten des Analytikers das in diesem
Fall einzig mögliche darstellt.
Diese Frage ist zu verneinen. Selbst wenn wir die spezielle Aufgabe stellten,
dem Patienten seine Widerstandsgedanken zu Bewußtsein zu bringen, so wären
immer noch sehr verschiedene Wege gangbar. — Ich glaube, an dieser Stelle
ist der Ort, wo der Individualität des Analytikers Spielraum gewährt werden
muß. Um wieder in konkreter Beispielsform zu reden: Ich könnte mir einen
Analytiker denken, der gewohnt ist, wenn er aggressiv wird, dies in Form
konsequenter und einengender Fragen zu tun. Diesem Analytiker wird es
vielleicht nicht so gut möglich sein, den im Beispiel vorgelegten Weg zu be¬
schreiten, da er instinktiv vorausweiß, daß er in der geschilderten Weise nicht
fragen kann, ohne wider Willen eine unzweckmäßige, der analytischen Arbeit
fremde Schärfe in seinen Ton hineinzubekommen. Dieser Analytiker wird
seinen Zweck vielleicht auf gleich gute Weise dadurch erreichen, daß er den
Patienten in zusammenhängender Darstellung auf gewisse Inkongruenzen in
der Äußerung seiner Verstimmung über das versäumte Rendezvous aufmerk¬
sam macht. Fiat er für diese Bemerkungen die Einsicht des Patienten gewon¬
nen, so wird vielleicht die bloße Frage: „Waren Sie an dem Zuspätkommen
Probleme der Technik
499
wirklich ganz unschuldig? hinreichen, die Widerstandsgedanken des Patien¬
ten zu zerstören.
Machen wir uns einen Augenblick von unserem Beispiel frei, so können wir
hinzufügen, daß die Entkräftung der Widerstandsgedanken sehr oft gar nicht
durch Worte, sondern durch Handlungen oder Haltungen des Analytikers in
die Wege geleitet wird. Wenn zum Beispiel der Widerstandsgedanke des Pa¬
tienten darin besteht, daß er sich vorstellt, der Analytiker werde ihn ver¬
achten, wenn er von seinen sexuellen Phantasien erführe, und ihm daraufhin
seine sexuellen Phantasien nicht ins Gedächtnis kommen, so kann die bloße
Gelassenheit und Unverkrampftheit, die der Analytiker sexuellen Themen
gegenüber zeigt, diesen Widerstandsgedanken zur Entkräftung bringen.
Wichtiger als die eben diskutierte ist aber die Frage, ob die allgemeiner ge¬
stellte Aufgabe, den Widerstand des Patienten in unserem Beispiel aufzulösen,
noch auf einem anderen Wege gelöst werden kann als dadurch, daß man ihn
seine* Widerstandsgedanken entkräften läßt. — Ein solcher Weg scheint sich in
dem Verfahren anzubieten, dem Patienten seine verdrängten Impulse namhaft
zu machen. Im Beispiel würde dies Verfahren darin bestehen, daß man dem
Patienten zu irgendeinem Zeitpunkt geradezu oder in etwas verhüllter Form
zu verstehen gibt, daß er wohl einen feindseligen Impuls gegen seinen Schwager
in sich trage.
Wie eine solche. Mitteilung in unserem Beispiel auf den Patienten wirken
würde, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden; dazu enthält unsere Beispiels¬
erzählung viel zu wenig Bestimmungsstücke. Aber jeder Analytiker wird
Fälle erlebt haben, wo er mit derartigen Deutungen annähernd den gleichen
Erfolg erzielen konnte wie der, den der Analytiker unseres Beispiels mit seinem
andersartigen Vorgehen erreicht. Nehmen wir an, ein solches „direktes‘‘ Ver¬
fahren habe auch im Falle unseres Beispiels Erfolg; wie können wir das Zu¬
standekommen eines solchen Erfolges begreifen?
Eine Antwort liegt hier sehr nahe. Wenn mir jemand einen mir fremden
Gegenstand heimlich in mein Zimmer legt, so kann es sein, daß ich ihn tage¬
lang nicht bemerke. Wenn mir aber dann gesagt wird: „Überleg doch mal,
ob du nicht ein so und so beschaffenes Ding in deinem Zimmer gesehen hast'^,
so wird es häufig geschehen, daß ich sage: „Ach ja, ich erinnere mich dunkel,
einen solchen Gegenstand da gesehen zu haben."" Ähnlich könnte es ja auch zu
erklären sein, daß der Patient sich des verdrängten Impulses nur bewußt wird,
wenn man ihm die Erwartungsvorstellung gibt, einen Impuls von dieser und
dieser Beschaffenheit in sich vorzufinden, und ihn zum Nachschauen auf¬
fordert. — Dieser Gedanke hält aber einer genaueren Überprüfung nicht
stand. Ein verdrängter Impuls ist weder im System WBw. noch im System
Vbw. anzutreffen. Auch die exakteste und zutreffendste Erwartungsvorstel-
lung, die wir einem Suchenden geben, kann ihm die Suche nicht erleichtern.
Int Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
34
500
Hellmuth Kaiser
solange er in einem Raum sucht, in dem sich der gesuchte Gegenstand nicht
befindet. Und in sein Unbewußtes kann der Patient nicht hineinschauen.
Wenn gleichwohl in unserem Beispiel die Mitteilung an den Patienten, „Sie
sind Ihrem Schwager feindlich gesinnt“, ein Lebendig-ins-Bewußtsein-Treten
dieses Impulses bewirkt, so glauben wir das anders erklären zu müssen. Auch
diese Mitteilung kann ja unter günstigen Bedingungen geeignet sein, die
Aufmerksamkeit des Patienten auf seine Widerstandsgedanken hinzulenken
und eine Kritik dieser Gedanken anzubahnen. Eine solche Kritik wird näm-
lieh provoziert, wenn dem Patienten durch die bloße Vorstellung eines bei
ihm möglicherweise vorhandenen Haßimpulses gegen den Schwager eine so
viel zwingendere Erklärung seiner Fehlleistungen vor Augen gestellt wird,
als sie in seinen unzureichenden Rationalisierungen enthalten ist. Ist diese
Erklärung zutreffend, so hat sich gezeigt, daß die neu vorgeschlagene, von der
im Beispiel dargestellten scheinbar abweichende Methode, genau besehen nur
ein Spezialfall von dieser ist. Auch sie erreicht die Aufhebung des Wider¬
standes durch die Entkräftung der Widerstandsgedanken, nur daß sie einen
bestimmten technischen Kunstgriff benutzt, um die Aufmerksamkeit des Pa¬
tienten auf seine Widerstandsgedanken zu lenken.
Nun, diese Diskussion — d. h. die Diskussion über die Wirkung, die die
Namhaftmachung des verdrängten Impulses auf den Patienten ausübt — kann
nicht als durch das oben Gesagte erledigt gelten, wir sehen sie vielmehr als
gerade nur eingeleitet an. Aber ehe wir sie fortsetzen, müssen wir unsere Aus¬
einandersetzung von einer Einschränkung befreien, deren Wegfall die hier ver¬
tretenen Anschauungen zwar in eine sehr exponierte Stellung bringt, uns aber
anderseits zu ihrer Begründung und Erläuterung erheblich größere Freiheit
verschafft.
j. Die Struktur der Widerstände
Die Erweiterung des zu behandelnden Problemkomplexes, die wir im Sinne
haben, liegt in der Behauptung, daß unser kleines Beispiel einer Widerstands¬
auflösung auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen kann, d. h. wir behaup¬
ten, daß alle Widerstände dem im Beispiel explizierten in den wesentlichen
Strukturelementen gleichen, d. h. so weit gleichen, daß ihre Auflösung oder
Überwindung durch das prinzipiell gleiche Verfahren unter den gleichen Be¬
dingungen möglich oder begreiflich ist. Ausführlich gesagt: Wir behaupten,
daß jeder Widerstand einen falschen, d. h. nicht realitätsgerechten Gedanken
oc!ST)£nkakt enthält; daß das dynamische Moment des Widerstandes in einem
Betrag narzißtischer Libido ruht, die es bewirkt, daß diese Denkakte der
kritischen Aufmerksamkeit des erwachsenen Ichs des Patienten entgehen; daß
demzufolge eine Auflösung von Widerständen durch den Analytiker auf keine
andere Weise möglich ist, als dadurch, daß er die Aufmerksamkeit des Patien¬
ten den Widerstandsgedanken zuwendet, was, soweit nicht das Interesse des
Probleme der Technik
501
Patienten an seiner Heilung schon als Motor in Betracht kommen kann, durch
die Wirkung der zärtlichen Bindung an den Analytiker zustande kommt.
Ich bin gewohnt, auf diese Behauptung abwechselnd und annähernd gleich
häufig zwei Antworten zu hören. Die eine lautet, daß diese Behauptung
trivial, die andere, daß sie ungeheuerlich kühn sei. Ich erkläre mir dies Phä¬
nomen mit der Überlegung, daß die Behauptung einerseits nichts anderes ent¬
hält als eine etwas ausführlichere Darstellung der F r e u d sehen Grundgedanken,
wie sie etwa in den beiden Zitaten auf Seite 493 ausgedrückt sind (dies werde
ich am Schluß der vorliegenden Arbeit noch etwas zu verdeutlichen suchen),
daß sie aber anderseits konsequent zu Ende gedacht, zu gewissen zwingen¬
den Richtlinien für die Handhabung der therapeutischen Technik führt, die
nicht in gleichem Maße Gemeingut der analytischen Wissenschaft sind.
An sich scheint es kein unerlaubtes, ja nicht einmal ein ungewöhnliches Vor¬
gehen, wenn man untersucht, ob eine Auffassung, die in einem Spezialfall ein
gutes Verständnis der Vorgänge ermöglicht hat, sich auch bei anderen Fällen
sinnvoll anwenden lasse. Ehe wir aber in eine solche Untersuchung eintreten,
müssen wir uns doch mit einem Einwand auseinandersetzen, der sich in man¬
chen unserer Leser erheben wird und geeignet sein könnte, vor jeder Einzel¬
betrachtung ein allgemeines und darum schwer überwindliches Vorurteil gegen
unsere Behauptungen zu begründen.
Wir erwarten den Einwand oder vielleicht besser „Vorwurf“ des Intellek-
t^lismus oder Ratio nalismus. — „Wie“, könnte einer sagen, „hat dazu Freud I
vor mehr als zwanzig Jahren schon einleuchtend nachgewiesen, daß die bloße ^
Übermittelung von Wissen keine therapeutischen Effekte im Sinne der Ana- /
lyse hervorrufen kann, hat er dazu immer wieder die dynamische Natur der 1
Widerstände betont, damit heute jemand, der sich als Anhänger der Freud- ‘
sehen Lehre bekennt, die Behauptung vertritt. Widerstände beruhten auf Irr- i
tümern, und die Korrektur dieser Irrtümer bewirke Heilung? — Bedeutet das, )
nicht einen schweren Rückfall in überwundene Anschauungen, ja ein völliges /
Verlassen der psychoanalytischen Psychologie etwa im Sinn einer Annäherung
an die Anschauungen der Christian Science?“
Wir meinen, dieser Vorwurf trifft unsere Behauptung nicht. Wir glauben
nicht und haben nicht behauptet, daß ein Neurotiker durch eine Vermehrung
seines Wissens gesund wird, sei es ein Wissen um Widerstände oder um ver¬
gessene Kindheitserlebnisse, sondern wir glauben, daß seine Gesundung von
einer Umstellung seiner Libidoökonomie abhängig ist. Um diese zu ermög¬
lichen, müssen freilich seine Verdrängungen gelöst werden, und dies kann nur
geschehen durch die Aufhebung seiner Widerstände. Die Aufhebung der
Widerstände aber gelingt nur durch die Vermittlung von Einsichten (was —
wie schon gesagt — nicht identisch zu sein braucht mit einer Mitteilung von
Ansichten). Hier aber sind wieder dynamische Verhältnisse zu berücksichti¬
gen, und wir werden noch ausführlicher davon zu sprechen haben, wie sorg-
34 ’
502
Hellmuth Kaiser
faltig dies geschehen muß, damit die ökonomische Umstellung, die wir be¬
zwecken, wirklich zustande kommt. — Wenn man ein Vorgehen, das dieser
Skizzierung entspricht, ein intellektuelles nennen will, so mag man dies tun;
es läßt sich nichts dagegen einwenden; aber man verwechsele es nicht auf
Grund dieser Namengebung mit einem Verfahren, das bestrebt ist, dem Pa¬
tienten ein Wissen um die Ätiologie seiner Neurose und den Inhalt seines Un¬
bewußten zu übermitteln und sich davon Erfolg verspricht.
Wenn wir jetzt darangehen wollen, unsere Behauptung zu begründen, so
sind wir uns im klaren darüber, daß wir nicht hoffen dürfen, diese Aufgabe
vollständig bewältigen zu können. Die Formen der Widerstände sind zu
mannigfaltig, als daß man sie alle auf einem relativ beschränkten Raum be¬
sprechen könnte, vor allem aber ist das Phänomen „Widerstand'" (wir könn¬
ten auch sagen „Abwehr") ein recht kompliziertes, und zu seinem vollen Ver¬
ständnis würde wohl ein großes Stück Ich-Psychologie gehören, über das wir
noch nicht verfügen. Wir streben daher auch kein anderes Resultat an, als
den Leser zu überzeugen, daß es lohnend sein dürfte, weiterhin unsere Be¬
hauptung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen und die theoretische und prak¬
tische Brauchbarkeit unserer Betrachtungsweise zu erproben.
6. Übertragungswiderstände
Ich glaube, ein ganz wesentlicher Schritt zur Lösung unserer Aufgabe wird
getan sein, wenn es uns gelingt, zu zeigen, daß die sogenannten Übertragungs¬
widerstände sich analog zu den in unserem Beispiel beschriebenen auffassen
lassen, und daß das Entsprechende für die Möglichkeit gilt. Übertragungs¬
widerstände aufzulösen.
Wir sprechen von dem Vorliegen eines Übertragungswiderstandes, wenn der
Patie nt einen verdrängten infantil en Imp uls auf den Analytiker gew endet hat,
dergestalt, daß der Analytiker Objekt dieses Impulses geworden ist. — Diese
Formulierung ist nicht sehr genau, ja man könnte sie geradezu als unlogisch
bezeichnen. Der infantile Impuls ist nämlich (und das ist ein unabtrennbares
Korrelat zu seiner „Verdrängtheit") nach Triebziel und Triebobjekt aufs ge¬
naueste bestimmt. Um ein Beispiel zu geben; er mag beinhalten, dem Vater
— und zwar dem Vater, wie er dem Patienten in einer ganz bestimmten Ent¬
wicklungsphase seines dritten Lebensjahres erschien — den Penis abzubeißen.
Dieser Triebwunsch bleibt mit allen seinen Bestimmungsstücken als ein Ganzes
bestehen, so lange, bis er analytisch aus der Verdrängung befreit, d. h. vom Pa¬
tienten mit der ursprünglichen Intensität (die der Triebwunsch zur Zeit seines
Verdrängtwerdens besaß) als etwas Aktuelles wieder erlebt worden ist; er bleibt
also auch genau so bestehen, wenn er, wie wir uns ausdrücken, „in die Über¬
tragung gekommen" oder „auf den Analytiker übertragen" worden ist. Da¬
mit meinen wir nämlich, genau gesprochen, daß der Patient dem Analytiker
gegenüber Aktionen vorgenommen hat (das Wort Aktion im weitesten Sinne
503
Probleme der Technik
verstanden, so daß es Handlungen, Reden und Haltungen begreift), die mr
tnit dem verdrängten Impuls in einen genetischen Zusammenhang bringen
können, und zwar kraft eines beobachteten phänomenologischen Zusammen¬
hangs. Um das Beispiel fortzuführen, wollen wir annehmen, der Patient habe
plötzlich angefangen, den Analytiker „Dr. X.‘‘ anzureden, statt wie bisher
„Herr Dr. X. , Dies Phänomen als solches einen W^iderstand zu nennen,
wäre irreführend. Es tritt vielmehr in der Analyse immer erst auf, wenn schon
irgendein Widerstand beseitigt worden ist. Dagegen müssen wir natürlich den
Umstand, daß der verdrängte Impuls selbst nicht ins Bewußtsein des Patien¬
ten stürzt, der Wirkung eines Widerstandes zuschreiben.
Es ergibt sich nun, daß das betreffende Phänomen — wir können es
die — niema ls ohne gew isse charakteristische
Begleitumständ e auft ritt, die wir gleich beschreiben werden. Wir wollen nur
vorher darauf hinweisen, daß die behauptete Tatsache der Empirie entnom¬
men ist. Sie ist zwar mit der psychoanalytischen Ich-Psychologie gut verein¬
bar, sie erscheint auch plausibel, aber die Ich-Psychologie ist doch nicht weit
genug entwickelt;, daß man auf diese Tatsache, wenn sie uns nicht in der
Erfahrung der Praxis gegeben wäre, mit voller Sicherheit hätte schließen
können.
Wir beschreiben die in Rede stehenden „Begleitumstände“ der Übertragungs¬
aktion diesmal erst in der speziellen Gestalt, die sie etwa in unserem Beispiel
annehmen könnten; sie bestehen darin, daß der Patient entweder die Ände¬
rung seiner Anredeform nicht bemerkt oder für diese Änderung eine auf Ra¬
tionalität Anspruch erhebende Erklärung abgibt (zum Beispiel sagt, er wäre
darauf gekommen, daß die Anrede „Herr“ mit seiner unbürgerlichen Welt¬
anschauung nicht zusammenstimme).
Die generelle Beschreibung, die die beiden Fälle des Beispiels sowohl wie die
entsprechenden Phänomene beliebiger anderer Beispiele mitbegreift, wäre die:
Im Patienten geschieht etwas, das sein bewußtes Ich vor der Konfrontation
mit einer Ich-fremden Handlung bewahrt. — Es wäre natürlich verfehlt, die
Vorstellung zu erwecken, als ob die Übertragungsaktion zeitlich jener das Ich
schützenden Maßnahme voranginge. Vielmehr muß man wohl sagen, daß die
Übertragungsaktion in der betreffenden Form nur unter der Bedingung dieser
das Ich schützenden Maßnahme überhaupt stattfinden kann. — Wir wollen
diese Maßnahme mit dem Wort „Rationalisierung“ bezeichnen. Für den Fall
zwei des konkreten Beispiels trifft dieser Ausdruck jedenfalls zu, angewendet
auf die „Skotomisierung“ der Übertragungsaktion wirkt er etwas gezwungen.
Aber er läßt sich vielleicht im Interesse abgekürzter Ausdrucksweise tolerieren,
wenn wir uns klarmachen, daß die Skotomisierung der Übertragungsaktion
ja dazu führt, daß das Ich auf keine irrationalen Aktionen der eigenen Person
zu stoßen braucht.
Wir können nun unsere Behauptung, daß die Übertragungsaktion als solche
Hellmuth Kaiser
kein Widerstand sei, dahin ergänzen, daß der Widerstand vielmehr in den sie
begleitenden Rationalisierungen in Erscheinung trete. Das dynamische Mo¬
ment fällt dabei wieder einem Betrag narzißtischer Libido zu, die den Ich-
Schutz ermöglicht, indem sie die Aufmerksamkeit des Patienten von den Ra¬
tionalisierungen fernhält.
Die Auflösung des Widerstandes erfolgt nun in der Analyse in der Weise,
daß der Analytiker die Aufmerksamkeit des Patienten auf seine Rationali¬
sierungen lenkt. Handelt es sich dabei um eine Skotomisierung der Über¬
tragungsaktion, so hört der Patient entweder sogleich mit dieser Aktion auf,
um nach kurzer Zeit mit einem anderen, dem gleichen verdrängten Impuls
entstammenden einzusetzen, oder er produziert Rationalisierungen im engeren
Sinn des Wortes, also das, was wir früher „Widerstandsgedanken‘‘ nannten. Der
erste Fall liefert nichts Neues. Im zweiten Fall hat der Analytiker den Patien¬
ten nur auf eine geeignete Weise zu einem genauen Durchdenken dieses
Widerstandsgedankens zu veranlassen (was wieder auf sehr verschiedene Weise
und oft durch Handlungen und Haltungen ebensogut wie durch Worte mög¬
lich sein kann), damit die Widerstandsaktion verschwindet. An ihre Stelle
tritt dann in den weitaus selteneren Fällen ein echter Triebdurchbruch, in den
viel häufigeren eine neue, dem verdrängten Affekt näherstehende, d. h. ge¬
wöhnlich affektgefülltere Übertragungsaktion. Wie bald oder ob überhaupt
eine solche Entkräftung der Widerstandsgedanken zustande kommt, hängt
teils von der technischen Geschicklichkeit des Analytikers (hierüber wird
später noch ausführlicher gesprochen werden), teils von der Stärke und Eig¬
nung der verfügbaren Bindung des Patienten an den Analytiker ab.
Damit haben wir gezeigt, daß die gleiche Auffassung, die uns in jenem
ersten Beispiel die Natur des Widerstandes und die Möglichkeit seiner Auf¬
lösung in der Analyse verstehen half, generell auf alle Übertragungswider¬
stände anwendbar ist.
Wir müssen, ehe wir einen weiteren Schritt vorwärts tun, eine Lücke aus¬
füllen, die wir aus Gründen übersichtlicherer Darstellung in den obigen Aus¬
führungen gelassen haben. Die Skotomisierung der Übertragungsaktion und
die Produktion bewußter Widerstandsgedanken erschöpfen noch nicht alle
Möglichkeiten des die Übertragungsaktion begleitenden Ich-Schutzes. Seltener
wohl als die beiden anderen Fälle, aber immerhin noch häufig genug tritt der
Fall ein, daß der Patient seine Ü^^^ 2^war wahrnimmt, aber sie
do ch nicht als ei gene Aktion anerkennen will, indem er sie nämlich auf einen
ihm selbst unbegreiflichen, unwiderstehlichen Zwang zurückführt. Diese Er¬
scheinung kann manchmal zunächst einen sehr fremdartigen Eindruck hervor-
rufen. Bei genauerem Zusehen läßt sie sich aber auf den zweiten der beiden
oben besprochenen Fälle von Rationalisierung zurückführen. Die Behauptung
des Patienten, er habe keine Gründe für sein Tun, unterliege vielmehr einem
unwiderstehlichen Zwang, ist genau so unzutreffend wie die entsprechenden
Probleme der Technik
505
Äußerungen der Zwangsneurotiker. Eine sehr sorgfältige Untersuchung zeigt
immer, daß sich hinter dem Gefühl, gezwungen zu sein, eine wohl ausgebildete
Rationalisierung verbirgt, die durch die scheinbare fatalistische Unterwerfung
unter den unwiderstehlichen Zwang nur wieder gedeckt und vor der Kritik
des Verstandes geschützt ist. — Von diesem Gesichtspunkt aus ergeben sich
einige Betrachtungen über die Behandlung der Zwangsneurosen, die aber hier
vom Thema abführen würden und in einer anderen Arbeit Platz finden
müssen.
7. Charakterwiderstände
Wenn ich darangehe, in den nun folgenden Ausführungen den analogen
Nachweis für die Charakter widerstände zu führen, den ich im vorigen Ab¬
schnitt für die Übertragungswiderstände zu bringen versuchte, wird es zweck¬
mäßig sein, zunächst etwas über den Sinn zu sagen, in dem ich diese Bezeich¬
nung gebrauche. Ich habe bei Anwendung dieses Wortes annähernd die
gleic hen Phänomene im Auge, die Reich in seinem bedeutsanieirW^efE über
Charakteranalyse (auf dessen Inhalt ich, soweit er für die vorliegende Arbeit
in Betracht‘kommt, am Schluß noch eingehen werde) mit diesem Terminus
bezeichnet. In der Betrachtungsweise weiche ich etwas von ihm ab.
Der Charakter — hierin stimme ich mit Reich völlig überein — muß bei
jedem Patienten in der Analyse als Widerstand in Erscheinung treten.
Auch darin folge ich Reich, daß dieser Charakter ein System von dauernden,
anschaulich ein Ganzes bildenden Reaktionsweisen des Ichs darstellt und einen
Schutz gegen das Durchbrechen abgewehrter Triebströmungen und damit
gegen die für den Fall des Durchbruchs gefürchteten feindlichen Reaktionen
der Außenwelt bildet. — Ich glaube aber, daß man die entsprechenden
Erscheinungen im Verhalten der Menschen, die wir mit dem Begriff des
Charakters bzw. des Charakterwiderstands zu treffen suchen, erst dann zu
psychologisch voll befriedigenden Gestalten zusammenfassen kann, wenn ma n
die einzelnen Abwehrbildungen sich vorstellt als zusammengefaßt und organi¬
siert unter dem Primat einer für jeden Typus spezifischen Form der Selbst¬
gefühlsregulierung. — Je stärker das Selbstgefühlsgleichgewicht des Menschen
durch neurotische Störungen der Entwicklung und damit der Libidoökonomie
gestört ist, je archaischer das Regime der Selbstgefühlsregulierung ist, das er
zur Kompensation regressiv wieder in Kraft gesetzt hat, um so mehr erscheint
uns sein Charakter als eigenartig, seltsam oder verschroben, um so mehr im¬
poniert uns in der analytischen Behandlung sein Gebaren als Charakterwider¬
stand.
Die anschauliche Eigentümlichkeit, die das Verhalten, das wir dem Charakter¬
widerstand zuschreiben, von den Verhaltensweisen unterscheidet, die wir auf
einen Übertragungswiderstand beziehen, ist seine Unpersönlichkeit und der
Mangel affektiver Lebendigkeit, der an ihm spürbar ist. Wenn ein Patient
5o6
Hellmuth Kaiser
mit erheblichem, noch unaufgelöstem Charakterwiderstand Aggressionen gegen
den Analytiker äußert, so fühlt man sich als Analytiker auf eine seltsame
Weise davon unberührt. Man hat den deutlichen Eindruck, daß hier kein
Triebimpuls, mehr oder minder gehemmt oder verhüllt, zum Ausdruck
kommt, sondern als ob durch die betreffende Äußerung ein bestimmter,
unserer Einsicht noch unzugänglicher Zweck erreicht werden soll. Wenn die
inhaltlich vielleicht ganz gleichlautende Aggression als Element eines Über¬
tragungswiderstandes auftritt, so fühlt sich der Analytiker unvergleichlich viel
stärker als Objekt dieses Angriffs, selbst wenn er genau weiß und es aus dem
Wortlaut der Aggression beweisen könnte, daß der Patient „eigentliche^ seinen
’ Vater meint. — Ein solcher „Charakterpanzeree, der ja ein System ist, gebildet
aus vielen ineinandergreifenden Einzelzügen, hat nun nicht nur eine Ent¬
stehungsgeschichte, die es erlaubt, jedes seiner Elemente genetisch zu erklären,
sondern er hat auch einen aktuellen Sinnzusammenhang — etwa wie ein
paranoides Wahnsystem —, dessen Kernstück ein Ausdruck der für den Cha¬
rakter spezifischen Selbstgefühlsregulierung ist.
So ist der trotzhafte Charakter ausgezeichnet durch eine Art vorbewußter
Ideologie, die man etwa folgendermaßen in Worte fassen könnte: Alles geht
um die Auslöschung oder Kompensation eines entsetzlich beschämenden
^ Patienten anhaftet und ihn „rabenschwarz"^ oder „auf ewig
' ‘ verdammt"" erscheinen läßt. Dieser Makel nun kann überwunden werden
durch die unausgesetzte, pedantisch genaue und vor keinem Opfer zurück¬
schreckende Befolgung des Gesetzes. Durch die Befolgung dieses Gesetzes er¬
wirbt man Gerechtigkeit, man könnte sagen eine fallweise Erlösung. Durch
die Befolgung des Gesetzes verkümmert man sich die Freuden des Lebens und
zieht sich Leiden zu, aber man gewinnt dadurch ihm, dem Gesetz, oder seinem
imaginären Stifter gegenüber eine moralische Überlegenheit. Man erwirbt
dadurch gegen ihn, den Unbekannten (meist bleibt dieser Unbekannte auch
ungenannt, völlig nebelhaft und erscheint nicht einmal als Person), einen An¬
spruch. Dieser Anspruch allein hat Wert, nicht etwa seine Erfüllung, die so¬
fort das moralische Gleichgewicht wieder verschieben würde. — Dieses ist —
schon ein wenig ausgeschmückt — etwa das Grundschema, zu dem noch eine
Fülle individueller, von Patient zu Patient wechselnder Züge kommen. Von
diesem Gedankensystem weiß der Patient, wenn er in Behandlung kommt, so
gut wie nichts. An bewußten Äußerungen entsprechen ihm ganz kurze Be¬
merkungen, die, in knappste Form gekleidet, zunächst ganz farblos, alltäglich
und unwichtig anmuten, und die auch immer nur an Hand der Beurteilung
konkreter Einzelfälle geäußert werden. Hierfür ein paar Beispiele: „Ich bin
auch mit eingeladen worden."" Das „auch mit"" meint: „wo ich doch eigentlich
verdammt bin"". — Oder: „Tennis spielen? nein, das kommt nicht in Betracht.""
Dies „das kommt nicht in Betracht"" meint eigentlich: „das geht gegen das
Gesetz; ich würde mir damit etwas anmaßen, was mir nicht zukommt, und
Probleme der Technik
507
im Augenblick wäre ich aufs tiefste erniedrigt, der Lohn unendlicher Ver-
sagungen wäre dahin.“
Kommt ein Patient mit einem solchen Charakterpanzer in die Analyse oder
hat sich der Charakterpanzer — wenn nämlich der Patient in der Zeit eines
Symptomdurchbruchs in die Behandlung kam — in der Analyse wiederher¬
gestellt, so zeigt sich der von diesem Panzer ausgehende Widerstand darin,
daß der Patient nahezu völlig von seinem Streben nach Rechtfertigung aus¬
gefüllt ist und kein Interesse frei hat für einen Kontakt und eine Verständi¬
gung mit dem Analytiker. Die Analyse ist ihm wie alles, was er im Leben
beginnt, eine Gelegenheit, seinen Gehorsam gegen das Gesetz und dessen gänz¬
liche Erfolglosigkeit und Unbelohntheit zu erweisen. — (Wir möchten hier
die Zwischenbemerkung einschalten, daß auch der Charakterwiderstand auf
einer Übertragung beruht. Der Patient überträgt Kinderstubenerlebnisse und
kindliche Haltungen auf seine gesamte Umwelt, also auch auf die analytische
Situation. Wenn wir trotzdem die Begriffe „Charakterwiderstand“ und
„Übertragungswiderstand“ als nebengeordnete gebrauchen, so geschieht das,
^®11 ätis historischen Gründen — der Begriff „Übertragungswider¬
stand mit der Vorstellung der Affektübertragung sehr fest assoziiert
ist, während das, was am Charakterwiderstand als spezifisch imponiert,
eben gerade die ungewöhnliche Affektarmut ist. Seine Äußerungen sind
nicht sowohl Versuche eines Es-Triebes, sich, soweit es die Zensur ge¬
stattet, eine wenn auch unvollkommene Abfuhr zu erzwingen, als Ausdruck
einer .narzißtischen Tendenz zur Stützung eines gefährdeten Selbstgefühls.)
Nun können wir leicht zwischen dem schon besprochenen Übertragungs¬
widerstand und dem Charakterwiderstand die Parallele ziehen. Der Über¬
tragungsaktion dort entspricht hier das künstliche, affektarme, den Forderun¬
gen einer archaischen Form der Selbstgefühlsregulierung dienende Verhalten;
dazu gehören u. a. die Aussprüche, die wir auf Seite jo6 angeführt haben. Den
Rationalisierungen dort entspricht hier das, was wir im Hinblick auf den
trotzhaften Charakter seine vorbewußte Ideologie genannt haben. Dazu ge¬
hört das, was wir bei jenen Aussprüchen als ihren „eigentlichen“ Sinn be-
zeichneten. Wie die Übertragungsaktion notwendig verschwindet, wenn ihre
Rationalisierungen vom Patienten durchschaut und entwertet sind, so schwin¬
det der Charakterwiderstand in dem Maße, als die ihn stützenden Wider¬
standsgedanken, die „vorbewußte Ideologie“ also, der kritischen Aufmerksam¬
keit des Patienten zugänglich geworden ist, ein Prozeß, der vom Analytiker
wesentlichen ähnlichen Mitteln angeregt werden kann, wie sie bei der
Lösung eines Übertragungswiderstandes zur Anwendung kommen, nur daß
hier dem Analytiker eine viel ungünstigere Art von Bindung des Patienten an
ihn allein zur Verfügung steht.
5 o 8
Hellmuth Kaiser
8. Die Auflösung der Widerstände (Fortsetzung)
Wir nehmen jetzt die Diskussion der Frage wieder auf, wie die Namhaft¬
machung der verdrängten Impulse als ein Mittel der Widerstandsauflösung zu
werten ist. Es mag jemanden, der die analytische Praxis nicht aus eigener Er¬
fahrung kennt, seltsam berühren, daß wir mit solcher Hartnäckigkeit auf
diese Frage zurückkommen, obwohl die bisherigen Ausführungen zu zeigen
schienen, daß wir in der Bewußtmachung der vorbewußten Widerstandsge¬
danken ein brauchbares und dazu theoretisch als zweckmäßig erkennbares
Mittel, Widerstände aufzulösen, besitzen, und obwohl seit jenen von uns
zitierten, zirka 20 Jahre zurückliegenden Veröffentlichungen Freuds in fast
keinem Aufsatz über Analysentechnik die Warnung fehlt, ja nicht „Tiefen-
deutungen'^ zu geben, sondern in erster Linie Widerstände zu analysieren.
Nun, jeder Berufsanalytiker wird die Erklärung dieser Seltsamkeit parat haben:
Mag es in der historischen Entwicklung der analytischen Therapie, mag es in
der Natur des Gegenstandes liegen — das werden wir Heutigen noch nicht
entscheiden können —, die Tatsache besteht, daß wir in zahllosen Fällen der
Praxis den verdrängten Impuls oft mitsamt der Kindheitssituation, auf die er
zurückgeht, viel eher erkennen als die Widerstandsgedanken, die seine Ab¬
wehr ermöglichen. Ebenso wird dem Analytiker meist viel eher klar, daß das
Übertragungsverhalten des Patienten von einem gegen ihn gerichteten,
sagen wir: aggresiven Impuls getragen ist, viel, viel eher, als er versteht,
mit welchen Mitteln sich der Patient diese Tatsache verbirgt. — Konkret:
Setzen wir den Fall — der gewiß nicht so selten ist —, ein Analytiker be¬
obachte vier Wochen hindurch oder auch acht Wochen hindurch, daß sein
Patient ein Übertragungsverhalten zeigt, das sich ungeheuer friedlich und
unterwürfig gibt, und dem gleichwohl die Aggressivität durch alle Ritzen
schimmert, natürlich ohne daß der Patient dessen inne geworden ist; gesetzt
weiter, der Analytiker habe in systematischer Arbeit alles aufgeboten, die die
Einsicht des Patienten hintanhaltenden Rationalisierungen zu erkennen und
seinem Analysanden deutlich zu machen, ohne daß der gewünschte Erfolg
eingetreten ist, obwohl der Analytiker das Gefühl hat, daß auch der Blindeste
hier die aggressiven Impulse unter der Maske müßte erkennen können; ge¬
setzt endlich, der Analytiker erinnere sich des Grundsatzes, man solle (dürfe)
Deutungen geben, wenn der Patient dicht davor sei, das zu Deutende zu durch¬
schauen, wird dann nicht für den Analytiker, der sich der Richtigkeit seiner
Auffassung absolut sicher weiß, eine geradezu ungeheure Versuchung bestehen,
dem Patienten zu sagen: „Sehn Sie mal. Sie sagen das und das, verhalten sich
so und so, muß man das nicht in aggressivem Sinne auffassen?^" Ich be¬
haupte: ja! Ich selbst bin dieser Versuchung hundertmal unterlegen, sogar
ohne zu wissen, daß es sich dabei um eine Versuchung handelte, und mit der
Überzeugung, etwas sehr Vernünftiges zu tun. — Diese Tatsachen muß man
Probleme der Technik
509
sich vor Augen halten, um die Tragweite der folgenden Überlegungen richtig
einschätzen zu können.
Wir fahren fort: Das eben beschriebene Verfahren des Analytikers ist theo¬
retisch zu rechtfertigen nur in den Fällen, in denen die geschilderte Mit¬
teilung des Analytikers an den Patienten bei diesem zu einem blitzartigen
Durchschauen seiner Widerstandsgedanken führt. Die Erfahrung lehrt, daß
dies außerordentlich seltene Fälle sind, so seltene, daß sie praktisch überhaupt
nicht ins Gewicht fallen. Aber das Verfahren ist nicht nur theoretisch zumeist
nicht zu rechtfertigen, was ja unter Umständen nur etwas gegen die Theorie
beweisen würde, sondern es führt auch in der Praxis nicht zu dem gewünsch¬
ten Erfolg: der „echte“ affektgefüllte Triebdurchbruch tritt nicht ein.
Nun könnte man aber sagen, dies alles zugegeben, sei eben die Analyse eine
schwere Kunst, man könne nicht verlangen, daß der Analytiker jede bei ihrer
Ausübung sich stellende Aufgabe restlos löse, warum sollte er sich also nicht
aus einer Situation, die er auf korrekte Weise nicht lösen kann, auf eine
wenigstens unschädliche herausziehen, um einen therapeutischen Erfolg, der
ihm an dieser Stelle nicht beschieden war, nun an einer anderen gewinnen zu
können? Dieser, einer gewiß vernünftig-toleranten Gesinnung entspringen¬
den Argumentation müssen wir leider aufs schärfste entgegentreten, da sie auf
einer unrichtigen Annahme basiert. Das Verfahren der Inhaltsdeutung, wie
wir kurz sagen wollen, d. h. dasjenige, bei dem der Analytiker dem Patienten
den verdrängten Impuls namhaft macht, ist nur in zwei Fällen unschädlich.
Der eine ist der — wie schon gesagt so äußerst seltene —, in dem das Ver¬
fahren mit dem korrekten zusammenfällt, der zweite ist der, in dem der
Patient die Deutung affektlos ablehnt. In diesem zweiten Fall ändert sich
aber auch die analytische Situation in nichts, und der Analytiker steht nach
wie vor vor dem gleichen Problem. In allen übrigen Fällen aber richtet die
Deutung Schaden an, also in all den Fällen, in denen der Patient die Deutung
einleuchtend findet (gleichviel, ob er dabei affektlos bleibt oder eine Emotion
verrät), und in den Fällen, wo er sie mit einem gewissen Affekt ablehnt. In
diesen Fällen nämlich bahnt das Verhalten des Analytikers eine spezielle Form
des Widerstandes beim Patienten an, die zwar nicht unüberwindlich ist, deren
Überwindung aber noch schwerer gelingt, als die des bisherigen, und sehr er¬
hebliche Zeit kostet.
Diese Erscheinung habe ich in besonders krasser und eindrucksvoller Weise
bei den Patienten kennengelernt, die ich als trotzhafte Charaktere bezeichnet
habe.
Ich möchte die Vorgänge, die sich in einem solch krassen Fall im Patienten
abspielen, an einem Beispiel ein wenig ausführen: Ich sagte einem Patienten
vom Typ des trotzhaften Charakters, dessen Charakterwiderstand soweit ge¬
lockert war, daß er einen aggressiven Impuls auf mich übertragen hatte, nach
längeren aber erfolglosen Versuchen, seine Rationalisierungen zu zerstören:
510
Hellmuth Kaiser
„Sehn Sie sich das mal genau an, wie Sie sich mir gegenüber verhalten""; hier
ließ ich nun eine gedrängte Übersicht all der Aktionen und sonstigen Äuße¬
rungen folgen, die mir den zwingenden Eindruck der Aggressivität erweckt
hatten — „kann man das anders auffassen als so, daß Sie in Wirklichkeit einen
Zorn auf mich haben, diesen Affekt aber in der und der Weise verschleiern?“
Der Patient, der alle seine Affekte sehr sorgsam zu verbergen pflegte, war
erschüttert. Er wurde ersichtlich blaß, seine Augen weiteten sich. Mit heiserer
und unsicherer Stimme sagte er: „Ja, das leuchtet mir ein. — Wie furchtbar!“
Ich war sehr befriedigt über diesen Erfolg, ich war auch noch sehr befriedigt,
als der Patient sich am nächsten Tage wieder beruhigt hatte und bei irgend¬
einer Gelegenheit sehr gelassen von dem Wutaffekt sprach, den er mir gegen¬
über gehegt. Der therapeutische Erfolg der Auflösung dieses Übertragungs¬
impulses schien voll eingetreten zu sein. Nun, ich brauche nicht zu sagen,
daß ich nach geraumer Zeit merken mußte, daß ich mich vollkommen getäuscht
hatte. Die Erregung, die der Patient gezeigt hatte, war ja nicht die, die zu
einem Wutaffekt gehört, wie es hätte sein müssen, wenn es sich um einen
Triebdurchbruch gehandelt hätte, sondern war ein Ausdruck der Angst und
der Abwehr. Seine Beruhigung kam nicht davon, daß dies Stück Übertragung
nun gelöst und ein Affektbetrag seine Abfuhr gefunden hatte, sondern beruhte
auf einer neuen erfolgreichen Abwehr. Diese Abwehr entsprach einer Ver¬
arbeitung, die man etwa folgendermaßen in Worte fassen könnte: „Ich habe
wohl diesen Wutaffekt. Aber das ist nicht schlimm. Solche Affekte kriegt
man eben in der Analyse; das gehört dazu und hat nichts weiter zu bedeuten;
in Wirklichkeit, im Leben (d. h. außerhalb der Analyse) bin ich doch ein an¬
ständiger Mensch, der keine bösartigen Impulse mit sich herumträgt."" Diese
Abwehr konnte erst überwunden werden, nachdem es mit den größten
Schwierigkeiten in zahllosen kleinen Schritten gelungen war, diese ganze Ge¬
dankenfolge — ungefähr in dem zitierten Wortlaut — der Aufmerksamkeit
des Patienten zugänglich zu machen. Dann erst kam es zu einem unverkenn¬
baren Wutausbruch gegen mich mit dem erwünschten therapeutischen Erfolg,
d. h. dem Überspringen aus der Übertragungssituation auf das infantile
Vorbild.
Man könnte nun meinen, daß wenigstens bei leichteren Neuroseformen das
Verfahren der Inhaltsdeutung unschädlich sein könnte. Ich habe leider noch
keine Gelegenheit gehabt, dies exakt nachzuprüfen. Ich stehe aber unter dem
Eindruck der merkwürdigen Tatsache, daß ich bei leichteren Neuroseformen,
bei denen ich zufriedenstellende therapeutische Erfolge erreichte, und wo ich
häufiger scheinbar mit gutem Effekt Inhaltsdeutungen gegeben habe, nie an¬
nähernd so intensive Triebdurchbrüche erzielen konnte, wie bei schweren
narzißtisch gepanzerten Trotzcharakteren, bei denen ich auf jede Inhalts¬
deutung verzichtet hatte. Ich bin überzeugt, daß die Affektreaktionen, die
meine Inhaltsdeutungen in den erwähnten Fällen provozierten, insofern „un-
Probleme der Technik
5”
echt waren, als die Triebäußerung nicht der Lösung des Widerstandes, son¬
dern der Suggestion zu verdanken war. Der Triebimpuls, den der Analytiker
selbst bezeichnet hatte, war verharmlost, er wurde nicht in der Realität er¬
lebt, sondern in einer vom Analytiker geschaffenen Laboratoriumsatmosphäre.
Ich habe Gründe, die so zustande gekommenen Heilwirkungen als Über¬
tragungserfolge zu betrachten, soweit sie nicht einem für den Patienten frei¬
lich nicht unersprießlichen Umbau der Neurosensymptomatik zu verdanken
waren.
Aus diesen Betrachtungen ergibt sich für die Technik der analytischen
Therapie die Konsequenz, daß sie, praktisch gesprochen, von Inhaltsdeutun¬
gen überhaupt keinen Gebrauch zu machen hat, sondern ihr Ziel allein durch
das Auflösen von Rationalisierungen anstreben muß, da nur ein solches Vor¬
gehen mit ihrem Ziel wirklich vereinbar ist.
Diese Vorschrift scheint sich von den Anweisungen, die dem Ausbildungs¬
kandidaten in Kursen, technischen Seminaren und Kontrollanalysen gegeben
werden, durch nichts als eine etwas pedantisch anmutende Rigorosität zu
unterscheiden, denn auch dort wird üblicherweise vor „zu frühen"" oder „zu
tiefen"" Deutungen gewarnt, und als Reich in Seminaren und Schriften ein¬
schärfte, man müsse jeden Widerstand von der „Ich-Seite"" aus angehen, man
müsse dem Patienten zunächst immer erst zeigen, mit welchen Mitteln er ab¬
wehrt und diese Abwehrmittel zersetzen, hat ihm hierin eigentlich niemand
widersprochen. Sollte es wirklich mehr sein als ein aus der blassen Theorie
entsprungener Radikalismus, wenn wir hier behaupten, es mache einen ent¬
scheidenden Unterschied, ob man die Inhaltsdeutung als letzten Schritt einer
Widerstandsauflösung noch zulasse oder verwerfe, und für ihre strikte Ver¬
werfung plädieren? Wir behaupten: ja, und glauben, ungefähr alles, wenn
auch in etwas gewaltsam zusammengedrängter Form, angeführt zu haben, was
sich aus der Theorie zugunsten dieses Radikalismus ergibt und was uns diesen
Radikalismus als geboten erscheinen läßt. Aber wir glauben auch, daß die
angeführten Argumente so lange keine wirklich überzeugende Wirkung ent¬
falten können, als sie nicht durch ein Stück anschaulicher Darstellung ergänzt
worden sind, einer Darstellung dessen, was sich denn nun ergibt, wenn man
versucht, mit der gegebenen Vorschrift Ernst zu machen. Davon soll im
nächsten Abschnitt die Rede sein.
9. Die Praxis der konsequenten Widerstandsanalyse
Als erstes muß das merkwürdige Faktum konstatiert werden, daß der Unter¬
schied zwischen einer konsequenten Widerstandsanalyse und einer solchen,
die „am Schlüsse"" Inhaltsdeutungen zuläßt, im Hinblick auf die anschaulich¬
erlebnismäßige Seite der Dinge ganz unvergleichlich viel größer und ein¬
drucksvoller ist, als man nach den scheinbar so mageren Unterschieden in ihren
theoretischen Formulierungen annehmen sollte. Um Mißverständnisse zu ver-
512
Hellmuth Kaiser
meiden, müssen wir vorausschicken, daß sich dieser Unterschied natürlich
nicht schon in dem Moment voll herstellt, in dem man sich entschließt, grund¬
sätzlich auf Inhaltsdeutungen zu verzichten. Man muß erst durch diesen Ver¬
zicht auf die eigenartige und anfangs sehr imponierende Schwierigkeit auf¬
merksam geworden sein, für jede Widerstandssituation den Weg zu den sie
fundierenden Rationalisierungen zu finden, und man muß schon ein wenig
diese Schwierigkeit überwunden und sich gewöhnt haben, die „gleichschwebende
Aufmerksamkeit*" derart zu erweitern, daß ein viel größerer Teil des gegen¬
wärtigen Ichs des Patienten in erheblich schärferer Beleuchtung als bisher in
ihr Blickfeld gerät. Die Zunahme der Fähigkeit, auf diesem Gebiet Nuan¬
cen zu sehen, die man in — sagen wir — einjährigem Training erwirbt, steht
nicht zurück hinter der Verfeinerung des DifferenzierungsVermögens, die man
im gleichen Zeitraum im Hinblick auf die Gestaltung unbewußter Triebstruk¬
turen erlebt, wenn man erstmalig mit der analytischen Arbeit beginnt. Ich
hatte einmal Gelegenheit, zu hören, wie zwei Analytiker, nennen wir sie A
und B, von denen B sich einige Zeit in der Anwendung der konsequenten
Widerstandsanalyse geübt hatte, A dagegen nicht, sich über eine schwierige
Patientin des A unterhielten. A gab einen kurzen Bericht ihrer Beschwerden
und schilderte dann ihr affektlos-unzugängliches Verhalten in der Analyse,
zeigte, wie sie sich bewegte, sprach und auf dem Sofa lag, erzählte, was er
alles versucht habe, der Situation Herr zu werden, und begann dann laut zu
denken. Was er äußerte, waren scharfsinnige, zum größten Teil überzeugende
Hypothesen über die Triebentwicklung der Patientin, soweit sie für die gegen¬
wärtige analytische Situation belangvoll war. „Ja, aber das kann ich ihr
doch jetzt nicht sagen**, setzte er jedesmal resigniert hinzu, worauf wir anderen
zustimmen mußten. Was ihm weiterhin einfiel, waren immer neue, an sich
nicht unwahrscheinliche Erklärungen, die das Verhalten des Patienten aus
Kindheitserlebnissen und Triebkonstellationen verständlich machen sollten,
dazu auch geeignet waren, aber keinen Aufschluß gaben über das, was jetzt zu
tun sei. Hier griff nun der Analytiker B ein und stellte an A eine Reihe von
Fragen, die das Verhalten der Patientin in der Analyse betrafen, insbesondere
ihre Einstellung zur Behandlung selbst, die Äußerungen, die sie darüber getan
hatte, die Motivierung, mit der sie ihre Behandlung, von deren Erfolglosig¬
keit sie sich überzeugt zeigte, immer noch fortsetzte. Es zeigte sich, daß A
eine Menge dieser Fragen ganz gut beantworten konnte, daß er recht anschau¬
lich eine Reihe von Szenen aus der Analysenstunde beschrieb, daß er aber
diese bewußten und gedanklichen Stellungnahmen der Patientin als unwesent¬
lich vernachlässigte, weil sie ja doch „nicht glaubwürdig** und „nur der Aus¬
druck der Angst vor der eigenen Aggressivität der Patientin** seien. Mit dieser
letzten Bemerkung hatte er zweifellos recht, aber er hatte übersehen, daß in
eben diesen ungereimten und widerspruchsvollen Stellungnahmen der Patien¬
tin das erste Bollwerk der Widerstandsfestung lag, deren vielleicht imponieren-
Probleme der Technik
513
dere, dem Zentrum nähere Forts er mit dem Fernglas seines guten tiefen¬
psychologischen Blicks studiert hatte, ohne ihnen einen Schritt näherkommen
zu können.
Dieser Festungsvergleich führt uns auf ein Problem, das bei der konsequen¬
ten Widerstandstechnik eine große Rolle spielt, und dessen Erörterung — die
sich freilich mit noch sehr vorläufigen Resultaten begnügen muß — geeignet
sein könnte, ein wenig in die konkrete Kleinarbeit dieser technischen Methode
Einblick zu gewähren. Wir wollen es das Problem der Aktualität nennen.
IO. Das Problem der Aktualität
Der Vergleich der Neurose mit einer zu erstürmenden Festung scheint —
vielleicht allerdings nur wegen meiner laienhaften Vorstellungen von der Be¬
lagerungskunst — den Gedanken zu involvieren, als ob über die Reihenfolge,
in der man sich mit den einzelnen Widerständen (die im Bilde durch die ver¬
schiedenen Gräben, Drahtverhaue, Bollwerke und Fortgürtel repräsentiert
werden) auseinanderzusetzen habe, kein Zweifel bestehen könne. Dem ist aber
keineswegs so. Das läßt sich wieder am besten an einem Beispiel erläutern:
Der Patient beginnt die Stunde mit Schweigen. Der Analytiker hat den Ein¬
druck, der Patient schweige, um die Verantwortung für das erste Wort nicht über¬
nehmen zu müssen, sie vielmehr auf den Analytiker abzuschieben, und er äußert
diesen Gedanken. Der Patient geht darauf nicht ein, sondern sagt, leicht aggressiv:
„Haben Sie denselben Satz nicht schon in der vorigen Stunde einmal gesagt? Sie
sagen eigentlich immer das gleiche. Na ja, das wird wohl so zu den Vorschriften der
Analyse gehören!" Der Analytiker erkennt, unter anderem aus dem Stimmklang,
mit dem der Patient seine Äußerung vorbringt, daß dieser dem für ihn heiklen
Problem der Verantwortungsabschiebung auszuweichen und seine dort bereit-
liegende Angst durch eine Aggression zu verdecken sucht, diese Aggression aber
wieder aus Ängstlichkeit insofern abmildert, als er den persönlichen Vorwurf (Sie
sagen immer das gleiche) in einen allgemein gegen die Analyse gerichteten um¬
wandelt (das gehört wohl zu den Vorschriften der Analyse), wobei die ursprüng¬
lichere Angriffsrichtung noch durch die leise Ironie, die in seinen Worten mitklingt,
angedeutet bleibt.
Man könnte hier zweifeln, ob der Analytiker, das Ausweichen des
Patienten kurz beschreibend, auf das erste Thema, das des Schweigens, zurück¬
kommen solle, oder ob er sich vorläufig nur mit der letzten Äußerung des
Patienten zu beschäftigen habe. Das letztere Verhalten hat nämlich das Be¬
denkliche, daß der Patient möglicherweise auch hier wieder ausweicht und
nun ein drittes Thema anschlägt und so fort, so daß man beim Analysieren
vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne daß irgendein Punkt wirklich
erledigt wird. Diesem Bedenken gegenüber ist zuzugeben, daß es wirklich
begründet ist. Es kann wirklich so gehen, daß der Patient auf jede noch so
sachgerechte Bemerkung des Analytikers hin das Thema wechselt, ja es kann
sogar sein, daß auch der nach dem fünften oder sechsten Themawechsel an-
Hellmuth Kaiser
5H
gestellte Versuch des Analytikers, dem Patienten das Fluchtartige seiner Ge¬
dankensprünge zu zeigen, von jenem mit einem neuen Gedankensprung be¬
antwortet wird. Das heißt es kann geschehen, daß es dem Analytiker nicht
gelingt, einen der sukzessiven Widerstandsmechanismen des Patienten auf den
ersten Anhieb so zu treffen, daß der Patient nicht mehr vor der Einsicht in
den Widerstandscharakter seiner Äußerung ausweichen kann. Nun ist es
aber keineswegs immer falsch, etwas zu versuchen, was möglicherweise erfolg¬
los ausgeht. Die andere Möglichkeit, die der Analytiker hat, nämlich auf
das erste Widerstandsphänomen (das Schweigen) weiter einzugehen, ehe das
zweite oder das jeweilig letzte wirklich erledigt ist, verspricht noch weniger
Erfolg. Es kann zwar leicht geschehen, daß bei einem solchen Vorgehen der
Patient sich zu dem, was der Analytiker über sein erstes Widerstandsphänomen
sagte, zustimmend äußert; das liegt dann aber nur daran, daß dieses erste Pro¬
blem für den Patienten inzwischen seine Bedeutung verloren hat, daß es un¬
aktuell geworden ist.
Wir können uns den Sachverhalt theoretisch etwa so klarmachen: Wir
hatten es als das Mittel zur Auflösung von Widerständen erkannt, den Patien¬
ten zu veranlassen, seine Widerstandsgedanken zu überprüfen. Dazu genügt
aber nicht, daß man dem Patienten den Teil seiner Widerstandsgedanken, den
er geäußert hat, wiederholt und ihm demonstriert, welche weiteren Gedanken
dahinterstehen müßten. Er kann sich das alles anhören, ohne die entsprechen¬
den Denkakte wirklich in seinem Innern zu vollziehen, ohne sich — wenn
dieser Ausdruck gestattet ist — dafür intellektuell verantwortlich zu fühlen,
ohne den Wahrheitsgehalt dieser Gedanken oder den Mangel eines solchen
wirklich zu erleben. Wenn man mit einem gesunden erwachsenen Menschen
über irgendein ihn affektiv nicht zu stark berührendes Thema diskutiert, so
wird man es im allgemeinen immer erreichen können, daß er jeden beliebigen
Gedanken, den er oder den man selbst in der Diskussion geäußert hat, soweit
durchdenkt, daß er darin enthaltene Unstimmigkeiten bemerkt. Man muß
nur die einzelnen Denkschritte genügend, d. h. der Auffassungsfähigkeit des
anderen entsprechend, klein wählen. Bei einem Patienten, den man zum
Durchdenken seiner Widerstandsgedanken veranlassen will, findet man un¬
günstigere Bedingungen. Man hat es mit einer Kraft zu tun (der narzißti¬
schen Gegenbesetzung), die die Aufmerksamkeit des Patienten von dem
Thema, auf das wir ihn bringen wollen, fernhält. Dieser Kraft kann, wie wir
weiter oben ausführten, die zärtliche Bindung an den Analytiker entgegen¬
gestellt werden — wenn sie verfügbar ist. Stellen wir uns etwa vor, der Pa¬
tient unseres Beispiels habe eine genügend tragfähige zärtliche Bindung an den
Analytiker entwickelt, so würde es vielleicht genügen, wenn der Analytiker
auf die ironisch-ausweichende Bemerkung des Patienten etwa zur Antwort
gäbe: „Sie weichen ja aus!'‘, um den Patienten zur gedanklichen Verarbeitung
der ersten Äußerung des Analytikers anzuregen. Aber das braucht nicht der
Probleme der Technik
515
Fall zu sein. Die Daten des Beispiels legen sogar eher die Annahme nahe, daß
der Patient zu einer solchen Bindung an den Analytiker noch gar nicht fähig
ist. Dies ist die Regel beim Bestehen eines schweren, etwa trotzhaften, noch
undurchbrochenen Charakterwiderstandes. Unter diesen Umständen kann
der Analytiker nicht erreichen, daß der Patient einen vom Analytiker an¬
gegebenen Gedankengang in sich aktiviert, ihn in Hinblick auf seinen Wahr¬
heitsgehalt durchdenkt, sondern der Analytiker ist darauf angewiesen,
sich mit dem Widerstandsgedanken zu beschäftigen, den der Patient
jeweilig aktiviert hat, deshalb aktiviert hat, weil er ihn zu der im
Augenblick nötigen Abwehr braucht. Es ist dann jede Äußerung des
Analytikers unwirksam, die nicht haargenau die aktuellste Widerstands¬
bildung des Patienten trifft. Ich weiß nicht, ob es korrekt ist, in dem
erwähnten Falle sich so auszudrücken, als ob gar keine zärtliche Bin¬
dung an den Analytiker bestünde. Vielleicht sollte man nur von der Schwäche
und geringen Tragfähigkeit dieser Bindung reden; denn es scheint plausibel,
daß^ bei vollständigem Fehlen einer solchen Bindung auch die Möglichkeit, den
Patienten zu analysieren, wegfiele. Immerhin schiene es mir nicht ganz un¬
lohnend, sich die Frage vorzulegen, ob nicht auch in der narzißtischen Über¬
tragungsbeziehung, die mit der Entfaltung des Charakterwiderstandes not¬
wendig verbunden ist, ein für die Analyse fruchtbar zu machendes Element
enthalten sein könnte. Nun, das ist ein Spezialproblem, das wir hier nicht
weiter verfolgen können. Dagegen läßt sich allgemein sagen: je stärker der
Widerstand und je schwächer die zärtliche Bindung, um so strenger muß das
Vorgehen des Analytikers auf Aktualität bedacht sein.
Dieser Forderung nach Aktualität kann der Analytiker bei einigermaßen
schweren Fällen nicht genügend gerecht werden, wenn seine Aufmerksam¬
keitshaltung nicht von ihr beeinflußt worden ist. Man wende dagegen nicht
ein, daß diese Bemerkung dahin tendiere, der „gleichschwebenden Aufmerk-
samkeit‘" des Analytikers ein Ende zu machen. Die Rede von der „gleich¬
schwebenden Aufmerksamkeit^' meint ja nicht, daß der Analytiker sein auf
Begabung, Erfahrung und Nachdenken beruhendes Gefühl für die psycholo¬
gische Bedeutung des Wahrgenommenen außer Funktion setze, sondern daß er
dies Gefühl möglichst ungestört von bewußt erzwungenen Aufmerksamkeits¬
spannungen zur Wirkung bringe. Es ist wahr, daß wie jede durch Über¬
legung gewonnene technische Einsicht, auch diese von der Aktualitätsforde¬
rung zunächst störend auf die gleichschwebende Aufmerksamkeit wirkt; aber
diese störende Wirkung verschwindet eben so rasch, wie die anderer die Tech¬
nik beeinflussenden Überlegungen.
Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Arbeit ein auch nur einigermaßen voll¬
ständiges Bild von der Arbeitsweise der konsequenten Widerstandsanalyse zu
geben; und ich werde mein Versprechen, die theoretischen Argumente durch
eine anschauliche Darstellung zu ergänzen, nur sehr unvollkommen einlösen
Int. Zeitschr. f, Psychoanalyse, XX/4
35
5 i 6
Hellmuth Kaiser
können. Aber um wenigstens so viel zu tun, wie der Raum erlaubt, möchte
ich unter Verzicht auf systematische Gedankenfolge eine analytische Situation
besprechen, deren Erörterung theoretisch nichts Neues ergeben wird, die aber
so oft in der Analyse vorzukommen pflegt, daß die Art, wie man sich ihr
gegenüber verhält, dem anschaulichen Bild der Analysenvorgänge einen cha¬
rakteristischen Zug verleihen kann.
!!• Das Reden in Anspielungen
Nachdem man einige Widerstände aufgelöst hat, ohne daß aber bisher ein
echter Triebdurchbruch erfolgt wäre, beginnt der Patient, der sich in einem
gewissen Zustand von Lockerung befindet, ziemlich lebhaft eine Reihe von
Einfällen zu äußern, die logisch nur in einer oberflächlichen Weise verknüpft
sind, die aber, im Zusammenhang betrachtet, als unverkennbare Anspielun¬
gen auf einen bestimmten Affekt und ein bestimmtes Kindheitserlebnis, in dem
der Patient mit jenem Affekt reagierte, aufgefaßt werden müssen.
Drei verschiedene Verhaltungsweisen des Analytikers kommen hier in Be¬
tracht und werden erfahrungsgemäß auch wirklich angewandt.
Das erste, wir wollen es das Deutungsverfahren nennen, besteht darin, daß
der Analytiker dem Patienten die von ihm gebrachten Anspielungen in ge¬
eignetem Zusammenhang noch einmal vorführt und ihm zeigt, wie wunderbar
sie zu dem Bilde einer bestimmten Szene mit bestimmtem Gefühlsgehalt zu¬
sammenpassen, so daß es doch mit dem Teufel zugehen müsse, wenn so viel
Übereinstimmung dem reinen Zufall zu verdanken sein solle, und die größte
Wahrscheinlichkeit dafür spreche, daß der Patient wirklich einmal eine solche
Szene, wenn nicht erlebt, dann doch wenigstens phantasiert habe. Darauf
wird der Patient im allgemeinen sehr erfreut und interessiert erscheinen und
— dankbar für die ihm zugewandte Fülle an Scharfsinn — eifrig noch einige
Einfälle bringen, die die Deutung bestätigen. Der therapeutische Effekt aber
wird ungefähr gleich Null sein.
Das zweite Verfahren, das wir das Andeutungsverfahren nennen möchten,
wird von Analytikern bevorzugt, die das erste als zu grob verurteilen. Es
besteht darin, daß der Analytiker dem Patienten die Einfälle, die er gebracht
hat, in geeigneter Beleuchtung und mit gewählter Betonung in der günstig¬
sten Reihenfolge zusammenstellt und abwartet, wie der Patient darauf re¬
agiert. Hier kann zweierlei geschehen. Entweder der Patient kann mit
dieser Zusammenstellung nichts anfangen, er versteht nicht, das ihm vom
Analytiker vorgelegte Rätsel zu raten, so bleibt alles wie bisher; oder er
findet die Lösung des Rätsels. Dann ergibt sich für den Patienten noch ein
Vergnügen mehr als im Falle des DeutungsVerfahrens; er darf nämlich nun
auch auf seinen eigenen Scharfsinn stolz sein. Aber der therapeutische Effekt
bleibt wiederum aus. Der Patient hat seinen verdrängten Impuls ja nicht er¬
lebt, sondern nur erschlossen, wie er das mit dem Impuls eines Wildfremden,
Probleme der Technik
517
von dem er die entsprechenden Äußerungen gehört hätte, ebensogut gekonnt
haben würde. Der W^iderstandsmechanismus Hegt eben nicht allein in der
Tatsache des Vergessens, sondern in gedanklichen oder sagen wir in reflektier¬
ten Akten, zum Beispiel in der nicht realitätsgerechten Akzentuierung, mit
der Deckerinnerungen dargestellt werden.
Das dritte Verfahren, das uns als das allein zulässige erscheint, ist das der
Widerstandsanalyse. Diese kann zum Beispiel darin bestehen, daß man den
Patienten auf die Zerrissenheit seiner Einfälle aufmerksam macht; manchmal
wird man ihm auch geradezu zeigen können, daß er intendiert, vom Analyti¬
ker erraten zu werden, oder ihm ein Rätsel aufzugeben. Das Merkwürdige
und Lehrreiche an diesem Vorgehen ist nun die Tatsache, daß in den weitaus
meisten Fällen die Zersetzung des Widerstandes nicht etwa den Impuls be¬
freit und die Erinnerungen aufsteigen läßt, auf die die Äußerungen des Pa¬
tienten in so unmißverständlicher Weise anspielten, sondern ganz andere, und
daß umgekehrt jene erst in einem viel späteren Stadium der Analyse lebendig
werden. Man erkennt daraus, daß zur Bildung der Abwehr oft Vorstellungs¬
material verwendet wird, das nicht zu dem unmittelbar abgewehrten Impuls
gehört, sondern zu einem noch viel tiefer verdrängten. Die an sich so reiz¬
volle Arbeit der Rekonstruktion vergangener Szenen aus wenigen und ver¬
sprengten Erinnerungsspuren ist zwar für den Privatgebrauch des Analytikers
nicht unwichtig, da er sich nur so ein ungefähres Bild der Neurosenentwicklung
seines Patienten verschaffen kann, aber für die unmittelbare Anwendung in
der Therapie kommt sie nicht in Betracht.
Man wird nun fragen, ob denn bei der konsequenten Widerstandsanalyse
der Analytiker überhaupt keine Gelegenheit habe, direkt von den infantilen
Trieben des Patienten zu reden. So fällt oft die Bemerkung, daß es doch
nötig sei, dem Patienten, der einen „echten Triebdurchbruch"^ produziert
habe, den Inhalt des dabei Geäußerten zu erklären. Man muß darauf ant¬
worten, daß hier nur ein Mißverständnis über das, was man unter einem
„echten Triebdurchbruch“ versteht, vorliegen könne. Tritt nämlich dies
Phänomen auf, so versteht der Patient seine Äußerungen so vollständig, wie
man es nur irgend wünschen kann. Es bleibt dem Analytiker tatsächlich
nichts im Sinne einer Erklärung oder Erläuterung der vom Patienten geäußer¬
ten Inhalte hinzuzusetzen. Dagegen ist etwas anderes zu tun, was geschehen
muß, wenn aller erreichbare therapeutische Gewinn aus dem Triebdurchbruch
gezogen werden soll. Der Analytiker muß dem Patienten, sozusagen in einem
Rückblick, die Widerstände noch einmal vor Augen führen, die dem gegen¬
wärtigen Triebdurchbruch vorgelagert waren und, wenn möglich, verständlich
machen, wieso gerade diese Widerstandsmechanismen geeignet waren, gerade
diesen Impuls und gerade diese Erinnerungen am Durchbrechen zu hindern.
Je weiter dabei der Analytiker in der Entwicklung der vorliegenden Analyse
zurückgreifen kann, um so besser. Der Grund hierfür ist einleuchtend. Um
35*
5 i8
Hellmuth Kaiser
einen echten Triebdurchbruch zu erzielen, ist es — glücklicherweise — nicht
notwendig, buchstäblich sämtliche Widerstandsgedanken mit gleicher Gründ¬
lichkeit zu zersetzen. Wenn die Hauptstränge des Widerstandsnetzes gerissen
sind, so genügt die Druckkraft des Impulses selbst, den Durchbruch zu er¬
zwingen. Dann bleiben aber Reste von Widerstandsmechanismen ungeklärt,
die oft eine Restitution des Widerstandes ermöglichen, während sie bei dem
beschriebenen Vorgehen mit relativ sehr geringer Mühe relativ sehr gründlich
beseitigt werden können.
Hiermit bin ich am Schluß des darstellenden Teils meiner Ausführungen
angelangt. Was übrig bleibt, sind einige historisch-kritische Bemerkungen, von
denen ich aus Gründen der Übersichtlichkeit die Darstellung selbst freihalten
wollte. Daß die Erörterung der Technik selbst, die eine große Fülle von
Einzelfragen und theoretischen Problemen involviert, milde gesprochen,
äußerst lückenhaft ist, habe ich schon gesagt. Ich kann nur hoffen, Interesse
für die vorgetragenen Probleme, nicht aber schon Zustimmung zu den ange¬
deuteten Lösungen hervorgerufen zu haben. Eine Bemerkung glaube ich dem
Leser noch schuldig zu sein, nachdem ich mich so sehr für eine — wenn man
will —- radikale oder rigorose Handhabung der Technik ins Zeug gelegt habe:
Alle Strenge der technischen Vorschriften ist nur soweit legitimiert, als sie
durch das therapeutische Ziel geboten erscheint. Immer droht die Gefahr,
daß aus einer vernünftigen Methodik ein Ritual wird, das nicht um des Ziels,
sondern um seiner selbst willen Gehorsam verlangt. Technische Regeln in
abstrakter Form sind nicht dazu da, angewandt zu werden, sondern verstanden
zu werden, um, auf noch wenig erforschten Wegen, Taktgefühl und Instinkt
des Analytikers zu verfeinern und zu bereichern. In der Gegenwart der ein¬
zelnen Analysenstunde müssen immer diese das letzte Wort haben.
12. Reichs Theorien zur Analysentechnik
Die entscheidensten Fortschritte in der Theorie der analytischen Technik,
die seit den Arbeiten Freuds zu verzeichnen sind, scheinen mir die von Wil¬
helm Reich stammenden zu sein. Ich möchte es daher nicht unterlassen, hier
zu ihnen wenigstens soweit Stellung zu nehmen, als sie die in der vorliegenden
Arbeit angerührten Probleme betreffen, um so weniger, als die Gedanken, die
ich mir über die Theorie der Technik gemacht habe, und von denen ich einige in
der vorliegenden Arbeit darzustellen versuchte, unmittelbar auf den Reich-
schen Gedanken und auf Anregungen beruhen, die ich in seinem Seminar
empfing, und für die ich mich ihm zu größtem Danke verbunden fühle.
Ich glaube, in Reichs technischen Lehren, deren Reichtum an fruchtbaren
Gedanken und einprägsamen Formulierungen hier natürlich in keiner Weise
ausgeschöpft werden kann, zwei Kernstücke zu erblicken, die er in der münd¬
lichen Unterweisung des Seminars mit der Eindringlichkeit des intuitiv Er¬
kannten— und vielleicht besser als in seinen Schriften — darzustellen wußte.
Probleme der Technik
519
Das eine beruht auf dem Gedanken, daß, wie die Neurose etwas organisch
Gewachsenes, bestimmt Strukturiertes ist, auch die Analyse, die sich die Abtra¬
gung und langsame Aufarbeitung dieses Gebildes zur Aufgabe setzt, einen be¬
stimmten, und zwar durch die Struktur der jeweils zu behandelnden Neurose
bestimmten, geordneten Verlauf nehmen muß. Reich folgert daraus mit
Recht, daß es nicht gleichgültig sein kann, auf welches Stück der sämtlichen,
von dem Patienten während einer Analysenstunde gezeigten Lebensäußerungen
der Analytiker sein Augenmerk richtet, um es zum Anlaß therapeutischen
Eingreifens zu machen. Er zeigt, daß durch die Natur der jeweils vorliegen¬
den Neurose eine Schicht oder richtiger die Repräsentanz einer Schicht aus¬
gezeichnet ist als diejenige, an der das therapeutische Vorgehen anzusetzen hat.
Damit eigab sich die Frage nach dem Kriterium, an dem man den richtigen
Angriffspunkt für die Mitteilungen an den Patienten erkennen könne. Auf
diese Frage hat Reich zwei Antworten gegeben, die nicht ganz auf der
gleichen Ebene liegen. Er sagt: Man mache sich aus allen Daten, die nur dem
bisherigen Verlauf der Analyse zu entnehmen sind, ein Bild von der Struktur
der Neurose, das sich natürlich im Lauf der Behandlung immer mehr vervoll¬
kommnet, und sehe nach, welches die oberste Schicht ist. Bei den Repräsen¬
tanten dieser Schicht setze man ein. Hier weiche ich von Reichs Anschau¬
ungen ab. Diese Anweisung ist theoretisch richtig, aber unanwendbar. Ob¬
wohl die Neurose jedes Patienten wirklich strukturiert ist und obwohl sich die
Struktur bei genügender Erfahrung und genügender intuitiver Begabung in
großen Zügen ziemlich frühzeitig erkennen läßt, so ist doch die feinere Struk¬
tur der Neurose viel zu kompliziert, als daß man sich auch nur in der unge¬
fährsten Weise im voraus ihrer bemächtigen könnte. Aber gerade auf diese
feineren Strukturnuancen scheint es mir entscheidend anzukommen. Reich
macht hier von einem fruchtbaren theoretischen Gedanken eine, ich möchte
sagen: zu rasche Anwendung auf die Praxis.
Die zweite Antwort, die er gibt, lautet sehr viel empirischer: Man hat durch
intensivste gefühlsmäßige Abtastung des vom Patienten in der Stunde gebote¬
nen Bildes herauszuspüren, wo er seine oberste, jüngste, lebendigste und darum
zugänglichste Schicht zutage treten läßt. Mit dieser Antwort Reichs stimme
ich vollkommen überein. Sie steht in enger Beziehung zu dem, was ich als
das zweite Kernstück seiner Lehre betrachten möchte.
Dies zweite Kernstück scheint mir in dem Satz ausgedrückt zu sein, man
müsse jeden Widerstand von der Ich-Seite her angreifen. Diesen Satz mit
größter Eindringlichkeit immer wieder eingeschärft zu haben, halte ich für
ein ganz besonderes Verdienst Reichs. Er hat darüber hinaus auch eine Fülle
technischer Wege angezeigt, die die Anwendung dieses Satzes illustrieren. Der
große Nachdruck, den Reich darauf legt, daß man Haltung, Gehaben, Rede¬
weise und vor allem Stimmklang des Patienten beachte und sie dem Patienten
bewußt mache, stellt eine sehr wichtige und zutreffende praktische Konse-
520
Hellmuth Kaiser
quenz aus den beiden „Kernstücken“ seiner Lehre dar. Dagegen hat Reich
es nicht verstanden, dem Satz, daß man den Widerstand immer von der Ich-
Seite angreifen müsse, seine volle Tragweite zu geben. Geht man dem Wahr¬
heitsgehalt dieses Satzes nach, so scheint sich mir zwingend dasjenige Stück
Theorie zu ergeben, daß ich in Abschnitt 3 und 5 der vorliegenden Arbeit dar¬
gestellt habe und das sich um den Begriff der „Widerstandsgedanken“ bewegt.
Dadurch, daß Reich hier in der Theoriebildung nicht weiterging, ist, scheint
mir, die eigentümliche Inkonsequenz in seiner Theorie der Technik möglich
geworden, die sich in seinem Buch über Charakteranalyse darin ausdrückt, daß
er wiederholt vorschreibt: „... zuerst dem Patienten klarmachen, daß er
Widerstände hat, dann welcher Mittel sie sich bedienen und schließlich, wo¬
gegen sie sich richten“ (Charakteranalyse, Seite 44, Zeile 16). Dies heißt nichts
anderes als; zum Schluß den Inhalt deuten! Dies hätte aber nur Sinn, wenn
nach der vollständigen Analyse der Mittel, mit denen der Patient abwehrt,
noch etwas zur Auflösung der Abwehr zu tun bliebe, ein Widerspruch, der
durch keine der Re ich sehen Ausführungen irgendwie aufgeklärt wird.
Ein drittes und wichtiges Stück der Reich sehen Lehre, die eigentliche Cha¬
rakteranalyse, möchte ich hier nur noch einmal kurz erwähnen, um zu sagen,
daß fast alles, was er zu diesem Thema sagt, mit meinen Anschauungen voll
verträglich ist, ja zum größten Teil als Konsequenz aus ihnen hergeleitet wer¬
den könnte. Nur in einem, theoretisch gesehen peripheren, praktisch aber
nicht unwichtigen Punkte, möchte ich ihm hier sehr entschieden widersprechen,
nämlich darin, daß er es für sinnvoll hält, dem noch unerfahrenen Analytiker
die Ausführung der Charakteranalyse zu widerraten. Es kommt mir dies
genau so verfehlt vor, als wenn man einem Schüler zunächst die phonetische
Schreibweise beibringen wollte, um ihn erst hinterher an die orthographische
zu gewöhnen. Die berechtigte Sorge um das Wohl des Patienten könnte
viel besser dadurch Berücksichtigung finden, daß man Anfängern leichtere und
weniger gefährdete Fälle zur Behandlung übergibt und sie nötigenfalls reich¬
licher kontrolliert als sonst üblich.
13. Die Formulierungen Freuds
Sehen wir uns die auf Seite 493 zitierte Freud sehe Formulierung des Grund¬
satzes der „modernen“ Technik an, so enthält sie die auch allen von uns aus¬
geführten Gedanken zugrunde liegende Erkenntnis, daß die wesentliche Auf¬
gabe der Analyse nicht in dem Erraten oder Erschließen der vom Patienten
vergessenen und verdrängten Kindheitserlebnisse besteht, wobei die Mitteilung
der gewonnenen Einsichten an den Patienten nur eine Frage der Ausdrucks¬
kunst ist, sondern daß es sich wesentlich darum handelt, eine Veränderung in
dem Patienten hervorzurufen, kraft deren ihm selber diese Einsichten zugäng¬
lich werden. Die Art dieser Veränderung hat Freud näher bestimmt als die
Auflösung der Widerstände des Patienten.
Probleme der Technik
521
Auch darüber, wie diese Aufgabe zu bewältigen sei, gibt die Formulierung
einige Auskunft. Die Widerstände sind vom Analytiker zu erkennen und
dem Kranken „bewußtzumachen“.
Lassen wir für den Augenblick diese, sozusagen taktische Frage der Analyse
noch unberührt und wenden uns dem zu, was man entsprechend als das
strategische Problem der Analyse bezeichnen müßte! Auch hierfür gibt die
These Freuds eine Richtlinie. Die Anweisung, die jeweilige psychische Ober¬
fläche des Patienten zu studieren, enthält ein Ordnungsprinzip für das Vor¬
gehen des Analytikers, das ihn nötigt, sich der gesetzmäßig verlaufenden Ent¬
wicklung, die sich im Patienten vollzieht, anzupassen, d. h. nicht gemäß dem
Fortschritt des eigenen Verständnisses für die Tiefenschichten des Patienten
vorzugehen, sondern entsprechend dem stetigen Wechsel dessen, was bei ihm,
dem Patienten, die psychische Oberfläche bildet.
Hieraus folgt aber für die Taktik die Verwerfung der Inhaltsdeutungen.
Diese Konsequenz braucht nur der nicht zu ziehen, der auch die von dem
Patienten in der jeweiligen Analysenstunde vorgebrachten „Inhalte“ mit zur
Oberfläche rechnet. Eine solche Auffassung des Begriffs „Oberfläche“ er¬
scheint aber äußerst unpsychologisch. Gesetzt den Fall, ein Patient erzähle,
beherrscht von einer Tendenz, den Analytiker ungeduldig zu machen, ein Er¬
lebnis aus seinem vierten Lebensjahr auf eine affektlos-langweilige Manier, so
gehört eben nur die affektlos-langweilige Darstellungsart zur Oberfläche, nicht
der Inhalt der Erzählung. Oder ein Patient verberge seine aggressiven, gegen
den Analytiker gerichteten Impulse in einem überhöflichen Verhalten, so kann
man doch nur dieses, nicht aber jene zur Oberfläche rechnen. Die Freud-
sche Formulierung sagt keineswegs nur: Man gehe von der Oberfläche aus
und dringe zur Tiefe vor, sondern man studiere die jeweilige Oberfläche,
d. h. man rühre eine zunächst tiefere Schicht erst dann an, wenn sie zur Ober¬
fläche geworden ist.
Was nun die positive Vorschrift für die Taktik angeht, so scheint sie mir
nicht ganz ausreichend, um das Verhalten des Analytikers vollständig zu be¬
stimmen. Der Ausdruck „die Widerstände dem Kranken bewußtmachen“
schließt wohl ein, daß man dem Patienten bewußtmache, daß er abwehrt;
aber in diesem Stück der Formulierung kommt weder deutlich zum Ausdruck,
daß man ihm die Mittel seiner Abwehr bewußtmachen müsse, noch daß man
ihm den abgewehrten Triebimpuls nicht namhaft machen dürfe. Wenn wir
auch oben versucht haben, zu zeigen, daß diese negative Vorschrift aus der
Anweisung, die jeweilige psychische Oberfläche zu studieren, abgeleitet wer¬
den könne, so daß für die Interpretation des „Bewußtmachens der Wider¬
stände“ gar nichts anderes übrig bliebe als die Vorschrift, die Tatsache der
Abwehr und ihre Mittel dem Patienten sichtbar zu machen, so müssen wir
doch zugeben, daß unsere Auslegung jedenfalls nicht als die sich eindeutig er¬
gebende bezeichnet werden darf. Was hier in dem Freudschen Texte fehlt,
522
Hellmuth Kaiser: Probleme der Technik
ist der Hinweis, daß es ein anderer Vorgang ist, einen verdrängten Impuls be¬
wußtzumachen, ein anderer, einen der Aufmerksamkeit des Patienten ent¬
zogenen vorbewußten Widerstandsmechanismus (Widerstandsgedanken nach
unserem Sprachgebrauch) ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Das
Wort „bewußtmachen"‘ kann eben für zwei topisch verschiedene Leistungen
verwendet werden: für die Überführung eines Impulses aus dem System LFbw.
in das System WBw. und für die Überführung eines Gedankens oder Reflek-
tionsaktes (womit wir archaische Vorstufen des Denkens der Erwachsenen
meinen) in das System WBw.
Auch der letzte Satz der Freud sehen Formulierung scheint mir nicht ganz
eindeutig. Die scharfe Trennung zwischen dem Auf decken der Widerstände
durch den Arzt auf der einen Seite und dem „Erzählen der vergessenen Situa¬
tionen und Zusammenhänge'^ durch den Patienten auf der anderen läßt sich
freilich am besten im Sinne unserer Auffassung, daß der Analytiker dem Pa¬
tienten das Vergessene und Verdrängte, das er, der Analytiker, erschließen
konnte, nicht vorzuhalten habe, verstehen. Dagegen spricht die Diktion des
Satzes: „... so erzählt der Kranke oft ohne alle Mühe... usw." nicht gerade
dafür, daß hier das Phänomen des „echten Triebdurchbruchs" angedeutet wer¬
den soll.
Ich habe mir nicht zur Aufgabe gesetzt, kritisch zu untersuchen, wieviel bei
der Betrachtung aller in den Freudschen Schriften enthaltenen Äußerungen
sich für oder gegen meine Auffassung Sprechendes entnehmen läßt; eine solche
Untersuchung würde einen starken Band füllen und auch nicht mehr zeigen,
als daß Freud eben kein ausgearbeitetes Gesetzbuch der analytischen Technik
verfaßt, sondern der lebendigen Entwicklung der analytischen Anschauungen
einen elastischen Ausdruck gegeben hat.
Was ich mit diesen letzten Ausführungen zeigen wollte, war nur, daß die
Gedanken, die ich dem Leser vorgelegt habe, der Richtung, in der Freud
seine Ratschläge zur Technik entwickelt hat, und die mir durch das bespro¬
chene Zitat in prägnanter Weise bezeichnet erscheint, durchaus nicht zuwider¬
laufen.
Die psychischen Entschädigungen des Analytikers^
Von
Barbara Low
London
Es ist schon viel über die Eignung des Analytikers für seine Arbeit ge¬
schrieben worden, über die Probleme, die sich aus der Übertragung und der
Gegenübertragung für ihn ergeben, auch über die besonderen Gefahren, die
ihm drohen, z. B. aus der Verstärkung seiner Allmachtsgefühle oder der Er¬
niedrigung seines Über-Ichs.
Weit weniger Beachtung hat bisher ein anderes Problem gefunden: welcher
Art ist die psychische „Kompensation'" der Versagungen, die sich der Analy¬
tiker unvermeidlich auferlegen muß? Zwar ist man sich heute allgemein
darüber klar, daß sich der künftige Analytiker einer — möglichst vollständi¬
gen — Analyse unterziehen muß. Genügt uns aber diese Einsicht? Es wird
angenommen, daß der Analytiker imstande sei, die Richtungen seines eigenen
Unbewußten zu erkennen und diese Erkenntnis so zu verwenden, daß er
während des gesamten Verlaufs der Analyse Herr seiner eigenen Seele bleibe.
Tatsächlich wissen wir aber, daß dieses Ideal nur bei außerordentlichen Na¬
turen zur Wirklichkeit wird. Wir wissen, daß die analytische Situation, wie
vom Patienten, so auch vom Analytiker zur Befriedigung unbewußter Wün¬
sche ausgenützt werden kann, besonders solcher der prägenitalen und der in¬
fantilen genitalen Phase (da ja diese beiden in der Analyse des Analytikers
meist nur zum Teil behandelt wurden); so kann es geschehen, daß die ana¬
lytische Situation sich in einen „Schauprozeß" verwandelt, um einen von
Edward Glover gefundenen Ausdruck zu gebrauchen, und den infantilen
Wunsch befriedigt, verbotene Sexualdinge zu betrachten; oder der Analytiker
unterliegt der Versuchung, der Tröster und Retter zu werden — damit haben
wir nur einige Möglichkeiten der mißbräuchlichen Verbildungen des analyti¬
schen Vorgangs erwähnt. Wenn aber die Analyse nicht fehlschlagen soll, muß
sich der Analytiker jede Befriedigung solcher Art versagen. Überdies wird
die Situation noch durch den scharfen Gegensatz erschwert, der zwischen den
beiden Teilnehmern besteht.
Andauernd auf die Befriedigung zu verzichten, die das geliebte und all¬
mächtige Kind ebenso wie der verehrte und allwissende Vater empfinden, auf
die Freuden (den Lustgewinn) des Exhibitionismus, des Sadismus und des
Masochismus, das ist wahrlich nicht leicht; und ebenso schwer ist es, sich mit
intellektueller Ungewißheit abzufinden, sein Urteil in Schwebe zu lassen, den
Wunsch nach tröstlichen raschen Lösungen auszuschalten. Noch schwerer
i) Nach einem auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern am
28. August 1934 gehaltenen Vortrag.
524
Barbara Low
ist es vielleicht, zugunsten eines freieren Ausblicks und einer volleren Ich-Ent-
wicklung auf die Überlegenheit des Über-Ichs zu verzichten, während der
Patient seinerseits in allen diesen Vorrechten sozusagen schwelgen darf.
Einen „vollkommen analysierten^* Menschen kann es nicht geben, das Es
und seine machtvolle Kraft können niemals hinweg analysiert werden, weil
das Unbewußte, wie Freud uns gezeigt hat, ohne Kompensation nur ein ge¬
wisses Ausmaß von Versagung ertragen kann: daher setzen wir anscheinend
eine fiktive Situation voraus, solange kein Ersatzvorgang sich ergeben hat.
An drei Versagungen, alle ebenso unvermeidlich wie beschwerlich, soll das
Gesagte belegt werden: Erstens besteht die Hemmung narzißtischer Lust¬
gewinnung, insbesondere der prägenitalen Stufe (z. B. Regungen der Un¬
geduld, des Ressentiments, der Vergeltung); zweitens die Störung der dog¬
matischen Sicherheit auf dem Gebiete des Verstandes; und drittens die Um¬
stellung des Über-Ichs — diese letzte bedeutet wohl den schlimmsten Zwang.
Um es kurz zu sagen: Der Analytiker ist genötigt, das Material des Patienten
zu übersetzen und zu deuten, ohne gefühlsmäßig darauf zu reagieren. Hier
stehen wir aber zwei Schwierigkeiten gegenüber: Sollte ihm diese Aufgabe mi߬
lingen, würde die Analyse zunichte werden; anderseits aber kann er nur,
indem er sein Gefühl in Tätigkeit treten läßt, zu einer richtigen Deutung
und Übersetzung jenes Materials gelangen. Die praktische sowohl wie auch
die theoretische Arbeit der großen Vertreter der Psychoanalyse bestätigt dies
und zeigt auch den Weg zur Lösung dieser konfliktvollen Aufgabe.
Seinen eigenen Gefühlsreaktionen auf das eigene Material freien Lauf zu
lassen, ist etwas ganz anderes, als auf die Gefühlsregungen des Patienten zu
reagieren; das erste ist unerläßlich für die analytische Arbeit, das zweite zer¬
stört sie. In Miltons „Verlorenem Paradies** träufelt der Geist Gottes dem
verstoßenen Adam drei Tropfen göttlichen Wesens in die Augen, worauf Adam
„mit seinem Blick ins Innerste und in den Kern des Schauens dringt** — läßt
uns das nicht an jene Gemütsbewegung denken, die die Kraft deutenden
Schauens in uns auszulösen vermag? Wie aber können wir zu diesem ge¬
langen?
Wir sind geblendet und können nicht nach innen schauen, solange das ein¬
verleibte Material „tot** ist; erst wenn das Gefühl in die dürren Knochen Leben
gehaucht hat, dann werden wir „sehend** gleich Adam. Das Wesentliche des
Vorgangs ist offenbar eine Form von Introjektion und Projektion des von dem
Patienten dargebotenen Materials — eine Situation, die der Beziehung zwischen
dem Künstler und seinem Gegenstand, der äußeren Welt, gleichkommt. Dieser
Austausch, dieses In-sich-Aufnehmen und Wieder-aus-sich-Herausstellen, ist
die Schaffensweise des Künstlers (auch den echten Wissenschaftler dürfen wir
als Künstler bezeichnen); und ohne diesen Austausch scheint keine „Kompen¬
sation** erreichbar. In einem „The Nature of the Therapeutic Action of
Psycho-Analysis** betitelten Aufsatz, der in der letzten Nummer des „Inter-
Die psychischen Entschädigungen des Analytikers
525
national Journal of Psycho-Analysis‘‘ erschienen ist, behandelt James Strachey
die Deutung, und zwar insbesondere jene, die er als „umwandelnde Deutung'*
bezeichnet. Er sagt: „Die therapeutische Wirkung der Psychoanalyse beruht
im Grunde auf der umwandelnden Deutung."
Ich glaube, daß Strachey hier das Problem aufgreift, auf das ich hinge¬
wiesen habe. Die umwandelnde Deutung ist meiner Auffassung nach das Er¬
gebnis jener Einsicht des Analytikers, die aus unmittelbarer freier Zugänglich¬
keit seiner eigenen Gefühlsregung geboren wird. Meiner Meinung nach ge¬
währt diese freie Zugänglichkeit dem Analytiker die Möglichkeit des erken¬
nenden Schauens (Vision) und befähigt den Patienten, der in engem Kontakt
mit ihm steht, in seinem Gefühlsleben freier zu werden und sich infolgedessen
zu ändern. Wir alle wissen, daß die Deutung — die Frage, wann, wie und in
welchem Ausmaß gedeutet werden soll — eines der wesentlichsten Probleme
sowohl für den Analytiker als auch für den Patienten ist, und daß die
Deutungsarbeit stets auch die Probe für den Analytiker in bezug auf sein
eigenes Unbewußtes bildet. Eines ist sicher: wenn die Deutung durch den
Analytiker sich im richtigen Augenblick ergibt und unbeirrbar auf ihr Ziel
lossteuert, kann sie die größte dynamische Wirkung auf das Unbewußte des
Patienten ausüben, kann einen Strom von Kraft ins Fließen bringen, zu neuer
Leistung einerseits, zu selbstschützendem aggressivem Widerstand anderseits.
Gerade weil sie die aktive aggressive Es-Energie des Patienten erweckt, kann
gleichzeitig auch die Es-Energie des Analytikers rege werden, um sich dem
Material (des Patienten), das nun ein Teil seiner Person geworden ist, zuzu¬
wenden, und dadurch werden neue und reichere Phantasien ausgelöst, be¬
gleitet von einem angenehmen Gefühl der Bewegtheit. Daraus muß sich eine
mehr wohlwollende Haltung auf seiten des Analytikers ergeben, welche die
unbewußte Feindseligkeit herabsetzt.
Was kann weiter geschehen, um der unbewußten Feindseligkeit vorzubeugen
— der unbewußten Feindseligkeit und der Rache für die Versagungen, von
denen ich bereits gesprochen habe? Kann Versagung in positiven Gewinn ver¬
wandelt werden? Sachs hat auf eine Seite der analytischen Arbeit hinge¬
wiesen, durch die der Analytiker dem schaffenden Künstler gleichgestellt wird,
nämlich auf das Teilhaben an dem Leben zahlreicher anderer Menschen. Nur
wenigen unter uns würde sich, abgesehen von unserer analytischen Arbeit,
diese Möglichkeit erschließen; sie ist uns wohl sonst nur durch künstlerisches
Schaffen gegeben, d. h. also nur so weit, als wir uns auf dem Gebiet der bil¬
denden Kunst, der Musik usw. schöpferisch zu betätigen vermögen. In diesem
„Teilhaben" nun kann die gesuchte Kompensation liegen.
Wir müssen aber sicher sein, daß dieses „Teilhaben" wirkliches Teil¬
nehmen und ein schöpferischer Vorgang sei. Wenn wir als mehr oder
weniger passive Zuschauer teilnehmen, wenn unsere Lust vorwiegend auf der
Befriedigung von infantiler Neugier und von Identifikationswünschen beruht,
526
Barbara Low
dann wird sich das so erlangte Lustgefühl nicht notwendig als wirklich dyna¬
mische Kraft erweisen; überdies kann sich hinter solcher Befriedigung leicht
Feindseligkeit verbergen, die um so häufiger auftaucht, je mehr wir lebende
menschliche Wesen betrachten. „Ach, wie bitter ist es, durch ein Fenster das
Glück anderer zu sehen“, schrieb einer unserer Dichter.
Wenn wir, anstatt nur „zuzuschauen“, aus den Erlebnissen, an denen
wir teilnehmen, „Leben zu schöpfen“ (living from) vermögen, dann
können die Hemmungen, von denen ich sprach, zu etwas Positivem werden;
an Stelle der vormaligen narzißtischen Befriedigung tritt die Lust, neues
Leben freizugeben, die eingeschränkten Forderungen des Über-Ichs werden
durch weniger verworrene Ich-Impulse ersetzt, die Eingeschränktheit durch
dogmatische Sicherheit wird von einer kühneren, begründeten Wißbegier ab¬
gelöst. Das Ergebnis eines solchen Austauschs wird den Analytiker befähigen,
sich nach zwei Richtungen hin zu entwickeln: er kann sich nun des ihm Be¬
wußten in weit größerem Ausmaß und viel ungezwungener bedienen, und er
kann weit mehr von seinem Unbewußten ans Licht bringen.
Was ich mit „Leben schöpfen“ bezeichnet habe — im Gegensätze zu bloßem
„Zuschauen“ — wird uns klarer werden, wenn wir uns der Beschreibung er¬
innern, die der Dichter Wordsworth von dem Wesentlichen im Vorgang des
dichterischen Schaffens gibt. Er sagt, dies Wesentliche sei „Gemütsbewe¬
gung, deren man sich gelassen erinnert“ (also, die man aufs neue, aber
Rtihezustand erlebt). Auch der Rat, den Hamlet der Schauspielertruppe
gibt, kann hier als Erläuterung dienen: „Seid nicht allzu zahm ... mitten in
dem Strom, Sturm und — wie ich sagen mag — Wirbelwind eurer Leiden¬
schaft müßt ihr euch eine Mäßigung zu eigen machen.“ Auf solche Art und
Weise können wir wirklich die gewünschte Situation herbeiführen, d. h. die
Fähigkeit erlangen, das Material des Patienten zu übersetzen und uns dabei
seinen unbewußten Bedürfnissen anzupassen, ohne ganz darin unterzugehen.
Wordsworth und Hamlet fordern Gemütsbewegung und Leidenschaft — auch
das psychoanalytische Verfahren erfordert diese — jedoch stets eingeordnet
in die analytische „Handhabung“, welche meiner Meinung nach der „Gelassen¬
heit“ und der „Mäßigung“ jener beiden entspricht. Wir alle kennen Beispiele
für jene „Gemütsbewegung im Zustand der Ruhe“ — ich möchte unter ihnen
hier vor allem die Technik Freuds herausheben. In seiner eigenen Dar¬
legung dieser Technik z. B. zeigt sein Stil (d. h. das AusdrucksmitteL seiner
Seele) tiefe Bewegung des Gemüts und größte Freiheit, diese Gemütsbewegung
zu verwenden: sein Verhalten seinem Material gegenüber, durch Worte und
Ideen zum Ausdruck gebracht, ist beinahe fröhlich zu nennen, und wenn wir
seine Schriften lesen, fällt uns die Übereinstimmung in dieser Hinsicht mit
dem Verhalten des Künstlers auf, der sich durch den Vorgang der Deutung
bereichert, eine negative Situation (negativ infolge der Kluft zwischen dem
einverleibten [introjizierten] Material und seinem eigenen Gefühlsstrom) in
Die psychischen Entschädigungen des Analytikers
527
eine positive verwandelt und ein sehr sublimiertes Machtgefühl befriedigt.
Soweit Freuds Stil in Betracht kommt, fühlen Anhänger und Gegner in
gleicher Weise dessen lösende und erhellende Wirkung — diese Wirkung ist
ohne Zweifel mit jener verwandt, die jeder große Künstler erzielt, ob nun ein
Michelangelo, ein Shakespeare oder ein Goethe. Seine Schriften scheinen in
freier Berührung mit seinen Phantasien zu stehen, lenkend bewegt von jener
Leidenschaft, die Hamlet von seinen Schauspielern fordert, und doch stets
unter der Kontrolle von „Mäßigung^^ und „Ruhe“.
In anderer Art und anderem Maß finden wir diese Verfassung auch bei
andern analytischen Schriftstellern, bei Ferenczi und James Glover z. B.,
um zwei zu erwähnen, die nicht mehr unter uns weilen. Und wenn wir auch
den grundlegenden Ideen des verstorbenen Groddeck vielleicht kaum zu¬
stimmen, werden wir doch erkennen, daß die freie Hingabe an die Phantasie
-Seinen Schriften Reichtum und Kraft gibt, zugleich auch seiner Behandlung
menschlicher Wesen Wirksamkeit verlieh.
Die offenbare Lust (aus Gefühlsbefriedigung entstanden), die den oben Er¬
wähnten offensichtlich aus ihrer inneren Freiheit erwächst, findet Widerhall
bei den Menschen, die mit ihnen in Berührung kommen: das meine ich, wenn
ich davon spreche, daß das „Teilhaben“ des Analytikers an den Erlebnissen,
die ihm mitgeteilt werden, auf den Patienten zurückwirkt. Wir müssen nun
forschen, was ein solches „Teilhaben“ tatsächlich ist.
Die Fähigkeit, äußeres Material in uns aufzunehmen, es zu formen und es
mit neuen Kombinationen neu zu erschaffen (die wesentliche Eigenschaft des
Künstlers) und anderseits das Vermögen, Material wieder zu geben, das in uns
durch eine Verschmelzung mit unserm individuellen Erleben Eingang gefunden
hat, muß auf oralem und analem Triebleben gegründet sein, wie schon viele
Forschungen über schöpferische Aktivität ergeben haben.
Produktion und Assimilation dieses Materials haben ihre Parallele in der
Aufnahme und Verarbeitung der Nahrung, teilweise auch in bezug auf die
Lustgefühle, die diese Vorgänge begleiten.
Wenn also der Analytiker an der Seite des Patienten und gemeinsam mit
diesem „sein eigenes Mahl einnehmen“ kann, wird ihm freie Lust (in ihrer
sublimierten Form) zuteil und das „Wiedererleben seines eigenen inneren Ge¬
setzes“ — so möchte ich es nennen. Und wie es etwas anderes ist, ob zwei
Menschen eine Mahlzeit miteinander teilen oder getrennt voneinander essen,
so entsteht etwas Neues aus diesem zusammenfließenden Leben, und dieses
Neue führt zu neuen Entwicklungen in dem Patienten. Es fällt mir hier einer
meiner eigenen Patienten ein — ein Schriftsteller und Dichter von einiger Be¬
deutung —; Wenn dieser seinen Phantasien freien Lauf zu lassen vermochte,
pflegte er zu sagen: „Mir ist, als ob ich eben ein gutes Essen verzehrte — ich
fühle mich reich und satt.“
Die Frage der Sublimierung bei diesen Vorgängen ist von großer Bedeutung
5^8
Barbara Low
für uns, denn von den Sublimierungen des Analytikers hängt ja so viel ab.
Dieses Problem verläßt uns nie. Wie weit ist uns „echte'" Sublimierung eigen,
und wenn sie „echt“ ist, wie weit kann sie gehen? Aus diesem Grunde habe
ich die Frage der „Kompensation“ aufgeworfen, denn es hat den Anschein,
als ob wir häufig einen Grad von Sublimierung voraussetzten, der gar nicht
erreicht werden kann, ja eine „Sublimierung“ forderten, die sich nur als eine
solche maskiert, insofern sie nämlich den Zusammenhang mit freien Phantasien
hindert.
Wenn Freud seine Fälle schildert, zeigt er häufig, daß er aus dem dar gebo¬
tenen Material „eigenes Leben schöpft“. Ein Beispiel: Als er eine Phase in dem
Fall des „Fräulein Elisabeth“ behandelt und ihre Blindheit gegenüber der Be¬
deutung bestimmter, sehr klarer Symptome — da schildert er, daß ihm gerade
zu diesem Zeitpunkt einfiel, wie er selbst einmal in einer gewissen Situation ganz
erstaunlich blind geblieben war und sich ein seltsamer Widerspruch zwischen
seinem unbewußten Wissen und seiner bewußten Beobachtung ergeben hatte;
und es folgt eine genaue Darlegung und weitere Deutung seines damaligen
psychischen Zustandes.
Es ist ganz klar, daß Freuds wachsende Fühlungnahme mit dem unbewu߬
ten Material ihm weit größere Freiheit gab: tatsächlich erzählt er, daß er nun
den Triumph eines lang begehrten Wissens fühlte, des Wissens, wie dem Un¬
bewußten seiner Patientin beizukommen sei; und in der nächsten Sitzung
machte die Analyse große Fortschritte. Dieses Beispiel — es ist nur eines
unter zahllosen, die sich in den Krankengeschichten Freuds auffinden lassen
— scheint mir klar zu zeigen, wie der Analytiker seine eigenen inneren Vor¬
gänge neu erlebt, während sich im Patienten neben ihm ein ähnliches Wieder¬
erleben vollzieht, ein Vorgang voll dynamischer Wirkung auf beide. Die Be¬
deutung dieser Tatsache ist von Freud und vielen anderen hervorgehoben
worden. Wahrscheinlich haben wir hier eine grundlegende menschliche Situa¬
tion vor uns —: das Bedürfnis nach solcher primitiven Beziehung und ihre
dynamische Wirkung. Edward Glover hat diese Situation folgendermaßen
beschrieben: Das kleine Kind im Patienten tritt in Beziehung zu dem kleinen
Kind im Analytiker, und das Ergebnis ist, daß das Patient-Kind ein gut Teil
seiner Angst los wird, denn da das überlegene kleine Kind (der Analytiker)
sich in Gefahr und Pein befunden hat und heil daraus hervorgegangen ist,
wird ihm das auch gelingen. Eine derartige Beziehung muß in jeder Analyse
vorhanden sein, denn ohne sie würde sich kein Gefühl der Bewegung ergeben;
die Analyse würde aufhören, ein lebendiger Vorgang zu sein, sie käme für den
Analytiker wie für den Patienten bloß auf eine „Kastration“ hinaus. Selbst¬
verständlich kommt es auf Qualität und Quantität dieser „Beziehung“ an.
Einer der Vorteile der „aktiven Therapie“ (im Sinne von Ferenczis
späterer Interpretierung) liegt vielleicht darin, daß sie ein starkes Gefühl der
Bewegung erzeugt, obgleich es wahrscheinlich mehr von den unbewußten Ein-
Die psychischen Entschädigungen des Analytikers
529
Stellungen als von der Technik abhängt, ob eine solche Dynamik zustande
kommt oder nicht.
Vorausgesetzt daß die Geschicklichkeit des Analytikers, beim Patienten das
Phantasieren zu „forcieren‘^^ und starke „Aktivität“ bei ihm zu dulden, nicht
bloß die Flucht vor tieferhegendem Sadismus des Patienten und den diesbe¬
züglichen Reaktionen des Analytikers verhüllt, mag es wohl der Ausdruck
freierer Triebregungen des Analytikers sein, welche eine positivere Ich-
Synthese im Patienten herbeiführen.
Es handelt sich dabei nicht um ein Reagieren auf die Phantasien des Patien¬
ten, sondern um etwas wie ein gemeinsames Liebesmahl; dieses und
die dadurch erreichte Blutsbrüderschaft befriedigen die legitimen Ansprüche
der oralen Stufe im Unbewußten und sublimieren die der genitalen Stufe im
Bewußten. Wenn man introjiziertes Material vornimmt und es gesetzmäßig
und einheitlich ordnet, so befriedigt man damit unbewußte Triebforderungen;
die Projektion des Materials in neuer Form befriedigt sublimierte bewußte
Wünsche. So arbeiten Künstler und Wissenschaftler, und so muß auch die
Arbeit des Analytikers vor sich gehen. Wir dürfen nicht, das hat Freud uns
gesagt, dem Patienten gegenüber die Rolle des Propheten, des Retters oder
des Trösters spielen, aber können wir nicht — ja müssen wir nicht — der
Liebhaber des vom Patienten projizierten Materials werden und es zu unserem
introjizierten „guten Objekt machen? Diese Liebe wird den Vorgang er¬
möglichen, den ich als „Teilhaben bezeichnet habe, wenn sie stark genug ist,
im Analytiker lustbetonte Phantasietätigkeit auszulösen. Es kann uns hier
vielleicht die Kinderanalyse zu Flilfe kommen. Der Kinderanalytiker vermag
uns zu zeipn, auf welche Weise jeder Analytiker seinem Phantasieleben einen
immer weiteren Spielraum geben kann, damit es schließlich zu einem freieren
Strömen zwischen ihm und dem Patienten komme. Denn der Kinderanalyti¬
ker muß, wenn er überhaupt Erfolge haben soll, in tiefer und instinktiver
Berührung mit dem Phantasieleben des Kindes stehen: er kann die Phantasie
nicht hinter verhüllende Worte zurückdämmen, wie es bei der Analyse Er¬
wachsener möglich ist.
Ich will nun die Andeutungen, die ich hier gemacht habe, kurz zusammen¬
fassen. Vielleicht läßt sich die Gefahr, die dem Analytiker droht, wenn er die
Fiktion aufrecht zu erhalten versucht, er bleibe im analytischen Vorgang frei
von jeder Gemütsbewegung, am besten in die Sätze zusammenfassen, die
Freud mit Bezug auf Leonardos Tragödie schrieb: „Der Künstler hatte
einst den Forscher als Flandlanger in seinen Dienst genommen; nun war
der Diener der stärkere geworden und unterdrückte ,seinen Herrn' ... er
liebte weder, noch haßte er, er forschte, anstatt zu lieben.“ Oder auch in die
Worte, die Freuds Vorgänger in der Person Hamlets zu einem spricht, der
sein Verbündeter sein möchte: „Ihr wollt tun, als kenntet Ihr meine Griffe;
Ihr wollt in das Herz meines Geheimnisses dringen; Ihr wollt mich von meiner
530
Barbara Low: Die psychischen Entschädigungen des Analytikers
tiefsten Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen: und in dem
kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreffliche Stimme, dennoch
könnt Ihr es nicht zum Sprechen bringen.“
Einen Weg zu erfolgreicher analytischer Leistung — erfolgreich für den
Analytiker sowohl wie für den Patienten — werden wir finden, wenn wir
uns wieder Freud zuwenden und seiner Beschreibung des Künstlers. Sie be¬
sagt, daß der Künstler (und für Künstler dürfen wir hier Analytiker setzen) in
seiner Beziehung zur Außenwelt (für die wir hier Patient setzen) seine eignen
unbewußten Wünsche umformt, indem er sie der Realitätsforderung anpaßt.
So umgeformt, präsentiert er sie wieder der Welt (dem Patienten) und schafft
durch diese Neugestaltung für sich und für die Welt ein Stück neuer Freiheit.
KLEINE BEimÄGE UND KASUISTIK
Erfolgreiche Behandlung einer schweren,
multiplen Konversionshysterie durch Katharsis^
Von
ßmil Simonson
Berlin
Der Fall, über den ich berichten will, verdient Interesse schon wegen
der ungewöhnlichen, durch ein ganzes Leben sich hinziehenden Häufung von zahl-
reichen unerledigten Konflikten und eingeklemmten Affekten, sowie auch in Hin¬
sicht auf das bei bloßer Katharsis ungewöhnlich tiefe Eindringen in die Zusammen¬
hänge zwischen Urkomplex und aktuellem Konflikt. Im November 1926 wurde
ich morgens 7 Uhr dringend zu der 58jährigen Portierfrau Bertha X. gerufen, weil
sie einen Schlaganfall mit Lähmung der linken Körperseite erlitten habe, sehr große
Schmerzen leide, auch plötzlich erblindet sei und wohl im Sterben liege. Bei der
ersten Inspektion lag die Frau mit der rechten Rumpfhälfte auf der äußersten Bett¬
kante, während das rechte Bein über den Bettrand hinaus frei nach abwärts hing.
Sie klagte über unerträgliche Schmerzen in der ganzen linken Körperhälfte, be¬
sonders im Arm und in der Herzgegend. Sie könne weder Arm noch Bein bewegen.
Bei leiser Berührung schrie sie laut auf. Meine vor ihre Augen gehaltene Hand
konnte sie nicht sehen. Die Untersuchung ließ keinen Zweifel, daß es sich nicht
um echte Lähmung, sondern um Parästhesien und hysterische Konversionen handelte.
An einer ihr unter die Nase gehaltenen Flasche mit Chlorkalk roch sie auf Auf¬
forderung ohne ein Zeichen der Abwehr gleichmäßig wohl 8— 10 Sekunden lang,
der Geruchssinn war also ebenfalls ausgeschaltet. Da sie immer wieder um Hilfe
und Beseitigung ihrer unerträglichen Schmerzen jammerte, versuchte ich, sie in
Hypnose zu versetzen, vorläufig nur zur suggestiven Einwirkung.
Die tiefe Hypnose gelang leicht und schnell, mit dem Erfolge, daß sie bald
ruhig und mit dem ganzen Körper im Bett liegen konnte, und daß unter ständigem
Zuspruch und leisem Streichen der Stirn die Schmerzen bald nachließen, auch
die Beweglichkeit der linken Extremitäten sich einstellte. In den nächsten Tagen
wurde sie täglich durch Suggestion in tiefer Hypnose weiter behandelt, zugleich
suchte ich durch Befragen über die Erlebnisse der letzten Zeit der Ursache des
Anfalls näherzukommen. Am dritten Tage konnte sie plötzlich die Farben an dem
Schmuck der an der Zimmerdecke hängenden Lampe unterscheiden, und so kehrte
in den nächsten Tagen das Sehvermögen zurück und verschwanden auch die
Parästhesien. Am vierten Tage berichtete sie, sie habe am Vortage mehrfach heftig
erbrechen müssen, weil sich plötzlich ein starkes Geschmacks- und Geruchsgefühl
nach Chlor eingestellt habe. Hier war also die Reizwirkung des eingeatmeten
Chlors auf ihrem Wege zum Perzeptionsorgan aufgehalten gewesen und hatte erst
am dritten Tage ihren Weg plötzlich fortgesetzt. Energetisch muß man sich den
i) Vortrag, gehalten in der Deutschen psychoanalytischen Gesellschaft am 13. Dezember
1932.
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
36
532
Emil Simonson
Vorfall wohl so erklären, daß die aktuelle Energie plötzlich gezwungen war, sich
vorläufig in Energie der Lage, sogenannte potentielle Energie, umzuwandeln, weil
der Weg versperrt war.
Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß die Besserung der Symptome auf dem Wege
der Übertragung als „Gefälligkeitsleistung“ zustande gekommen war, ohne daß
jedoch die Grundursachen damit beseitigt oder ermittelt waren. Vertrauen auf die
Dauer der Besserung war daher nicht am Platze. Der erste Rückfall Heß denn
auch nicht auf sich warten. Nach etwa einer Woche sieht sie wieder nur undeut¬
lich, das Herz will Stillstehen. Da eine Psychoanalyse bei dem Alter und dem
Bildungsgrade der Kranken nicht in Frage kam, entschloß ich mich, angesichts der
positiven Einstellung zum Arzt und der damit wohl zusammenhängenden Empfäng¬
lichkeit für tiefe Hypnose zu einem Versuch mit der alten Breuer-Freudschen
Katharsis, deren Technik ich zunächst ohne Abweichung zur Anwendung brachte.
Die Kranke begann, wie auch in den meisten der folgenden Behandlungen, mit
einer sehr lebhaften mimischen Darstellung von Furcht und entsetzter Abwehr, die
sehr bald in die dramatische Wiederholung eines Erlebnisses der letzten Monate
überging. Sie sieht ein Automobil, über das der Lenker die Gewalt verloren hat, in
rasender Fahrt auf sich zukommen und kann sich gerade noch auf die Bord¬
schwelle retten, während 20 Schritte weiter ein alter Mann totgefahren wird. Bei
diesem Vorgang, den ihre Augen sehen mußten, sei ihr das Herz fast stehen ge¬
blieben. Als ich im Laufe derselben Hypnose ihre Schläfen nochmals zwischen meinen
Händen drücke, erlebt sie unter höchster Affektäußerung einen dem dargestellten
Ereignis in gewisser Hinsicht analogen, 38 Jahre zurückliegenden Unfall. Sie hilft
während einer Schwangerschaft auf einem Gute bei der Erntearbeit. Während sie eine
Heulast auf einem Brett schräg aufwärts zum Heuboden karrt, bricht das morsche
Brett unter ihr zusammen. Während ihr beim Sturz nichts geschieht, wird ein unten¬
stehender alter Mann zu Tode getroffen. Nach dem Erwachen aus der Hypnose
kann sie wieder gut sehen und das Gefühl am Herzen ist geschwunden.
Auch dieser Erfolg war, wie zu erwarten gewesen, nicht von Dauer. Es folgte in
Abständen von einigen Tagen oder Wochen eine Reihe von Rückfällen, die sich
nicht nur durch Symptome von seiten des Herzens und der Augen ankündigen,
sondern sich meistens auf die linke Körperhälfte beziehen, dergestalt, daß sogar
Unfälle immer die linke Seite des Körpers treffen. Der Zusammenhang wird sich
im Laufe der Wiedergabe der einzelnen Anfälle ergeben.
Am 18. Dezember 1926 klagt sie über die Rückkehr klimakterischer Beschwerden
nach vieljähriger Pause, besonders aber über das häufige Gefühl aufsteigender Hitze
und sehr unangenehme Geruchsempfindungen. Da ihr nichts dazu einfällt, gehen
wir gleich zur Hypnose über. Sie sieht sich 10 Jahre zurück in ihrer früheren
Wohnung in der W.straße, wo sie sehr starke klimakterische Beschwerden mit
Ohnmachtsanfällen durchlebt. Sie schleppt sich mühsam bis zum Bett und wirft
sich darauf hin. Ihr Mann verbietet ihr das Austragen der Zeitungen. Der Arzt trifft
die gegenteilige Anordnung, sie solle die Arbeit nicht aufgeben. Er verordnet
scheußlich schmeckende Tropfen, nach denen die Stube noch wochenlang roch.
Da der Arzt das Fortsetzen der Arbeit angeordnet hat, wird er den Gesamtzustand
wohl auf Hysterie zurückgeführt haben, man darf daher vermuten, daß die scheuß-
Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis
533
lieh schmeckenden und riechenden Tropfen wohl Tctr. As. foet. gewesen sind.
Nach einigen 'Tagen nahm sie die Arbeit wieder auf und setzte sie noch zwei Jahre
wieder fort, obgleich sie dauernd an aufsteigender Hitze litt, so daß sie oft aus
der Stube laufen mußte. Nach Aufgabe des Zeitungstragens arbeitete sie am Kirch¬
hof. Ich schicke hier voraus, daß der Vater Totengräber gewesen ist. Als sie aus
Neugier einmal die Leichenkammer Öffnet, schlägt ihr ein scheußlicher Geruch
entgegen, und sie sieht die bereits in starker Fäulnis befindliche Wasserleiche eines
etwa V4 Jahre alten Kindes. Da sich niemand nach dem Verbleib eines Kindes er¬
kundigt hatte, nahm sie an, daß es sich um ein Verbrechen handeln dürfte. Nach
3 Tagen war die Leiche noch immer in der Kammer und verbreitete einen pest¬
artigen Geruch. Dann war sie verschwunden, aber es war kein frisches Kindergrab
vorhanden. Als sie nach 8 Wochen dem Gärtner half, ein freies Landstück für
Blumenpflanzung umzugraben, entsteht plötzlich ein furchtbarer Geruch, den sie
unter entsetztem Abwehr- und Würgebewegungen darstellt. Der Gärtner fällt in
Ohnmacht. Sie hatten die oberflächlich verscharrte Kindesleiche wieder ausgegraben.
Seitdem hat sie öfters Geruchshalluzinationen. Ob das wohl eine Strafe für ihre
Neugier sei? Den Ursprung des Strafbedürfnisses werden wir später kennenlernen.
Sie war mit ihrem Streben, etwaigen Verbrechen auf die Spur zu kommen, den
Kollegen und Vorgesetzten lästig, bei den Kollegen besonders unbeliebt gewesen,
weil sie allen Unregelmäßigkeiten immer auf den Grund ging. Dagegen war sie bei
ihren Beschäftigungen in Krankenhäusern immer sehr beliebt. Am 4. August 1914
ging ihr Mann in den Krieg, sie selbst arbeitete als von früher her geübte Kranken¬
pflegerin im Lazarett. Hier wird die Darstellung durch behaglich schmunzelndes
Lachen unterbrochen. Ein leicht verwundeter 21 jähriger Unteroffizier läuft ihr, der
47jährigen, immer nach. Während sie nach Feierabend in ihrer Kammer Ordnung
macht, umfaßt sie jemand von hinten und packt ihre Brüste. Sie schlägt ihn mit der
Faust ins Gesicht, daß die Nase blutet. Sie wird zum Chefarzt bestellt, der erst
streng mit ihr spricht, auf ihre Darstellung des Vorganges aber ihr Verhalten
billigt. Am 27. Dezember 1926 haben das Augenflimmern und die Parästhesien noch
immer nicht aufgehört. Ich frage nach früheren Erlebnissen, in denen der Vater
eine Rolle spielte, und spreche auch von der Bedeutung der Träume. Dieses vor¬
sichtige aktive Eingreifen öffnet ihr den Mund. Nachdem sie früher behauptet
hatte, sie träume nie, erinnert sie jetzt ohne Hypnose zwei Träume, von denen der
erste 26 Jahre zurückliegt, während sie den zweiten kurz vor ihrer Erkrankung
hatte.
I. Traum: Vor 26 Jahren träumt sie, der Vater, der damals schon 6 Jahre tot
war, sei gestorben, und sie habe den Auftrag erhalten, die Leiche anzukleiden. Aber
jedesmal, wenn sie näher herantrat, habe sich der Vater aufgerichtet und sie scharf
angesehen.
Am Tage darauf sei sie mit ihrem neun Monate alten Kinde im Krankenhause
gewesen, in dem sie arbeitete, und der Arzt habe das Kind untersucht und für ganz
gesund erklärt. Zu Hause sei das Kind dann im Wagen plötzlich steif geworden
und gestorben. Das entspreche einer allgemein durch ihr Leben gehenden Er¬
fahrung: Sobald der Vater ihr im Traum erscheine, gäbe es jedesmal eine Leiche
im Hause.
36*
534
Emil Simonson
2. Traum; Kurz vor ihrer jetzigen Erkrankung habe sie geträumt: sie komme nach
Hause, und der Vater rufe ihr entgegen, es sei gut, daß sie käme, sie müsse noch
einen Schein unterschreiben, ein erster sei schon geschrieben, genüge aber nicht. Dann
sei sie in die Stube gegangen, wo die Mutter krank im Bette lag und erfreut aus¬
rief, es sei sehr gut, daß sie käme, sie solle jetzt unter allen Umständen bei ihr
bleiben, dann werde sie sicher gesunden. Was das für ein Schein sei, wisse sie nicht.
Ob es sich um einen Totenschein handelte, habe ich damals zu fragen versäumt.
Bald nach diesem Traum sei die jetzige Krankheit eingetreten, deshalb habe sie
befürchtet, daß der Vater sie hole. Wir sehen hier, wie ein Traum den Tropfen
bildet, der das volle Faß in einem langen Leben verdrängter und unerledigter Er¬
lebnisse und eingeklejnmter Affekte, von denen wir noch viel hören werden, zum
Überlaufen gebracht hat. — Es sei aber im Hause kürzlich eine 26jährige junge
Frau an Grippe und Lungenentzündung erkrankt und binnen drei Tagen ge¬
storben. Das sei die durch die Erscheinung des Vaters angekündigte „Leiche im
Hause“, sie selbst sei also diesmal noch nicht gemeint gewesen.
Die Erzählung dieser beiden Träume geschieht ruhig und affektlos, am nächsten
Tage ist keine Besserung festzustellen. Deshalb provoziere ich, nunmehr in
Hypnose, nochmals die erzählten Vorgänge, die sie jetzt in höchster Leidenschaft
mimisch und dramatisch erlebt. Nach dem Tode des Kindes, dessen Einzelheiten
sie unter Schreien und Weinen darstellt, sieht sie verfallen aus wie eine Mutter, die
in Wirklichkeit ihr Kind eben plötzlich verloren hat. Der Puls ist fast fadenförmig
und flatternd. Auf Befragen gibt sie nach Ablauf des shockartigen Zustandes an,
sie habe entgegen der Meinung des unwissenden Arztes das Kind schon lange für
krank gehalten, es sei sehr stark und schwammig gewesen, habe mit 9 Monaten noch
keinen Zahn gehabt, während sich an der Leiche 7 Zähne fanden. — Am folgenden
Tage nach diesem Abreagieren gegen den Arzt liest sie kleine Schrift und sieht viel
klarer, auch die Parästhesien der linken Gesichtshälfte sind sehr gebessert, die
Stimmung ist heiter.
Am 2. Jänner werde ich wieder gerufen, weil sich von neuem Verschlimmerung
an den Augen und am Herzen bemerkbar macht. In der Besprechung ohne Hypnose
erzählt sie einen Vorfall aus ihrer Kindheit. Der Vater hatte einen kleinen Wand¬
schrank, an den heranzugehen den Kindern streng verboten war. Da sie Nasch¬
zeug darin vermutete, öffnete sie ihn, als der Vater einmal den Schlüssel hatte
Stecken lassen. Sie sah einen kleinen Fötus im Glase. Als sie das Glas in die Hand
nimmt, läßt sie es fallen, wofür sie von dem heimgekehrten Vater furchtbare Schläge
erhält. Da eine Änderung des Befindens nach dieser gleichmütigen Erzählung
nicht eintrat, ließ ich sie drei Tage später denselben Vorgang in tiefer Hypnose
nochmals erleben, diesmal unter starken Affektäußerungen. Nach Erledigung sieht
sie in derselben Sitzung einen weiteren Vorgang aus ihrem neunten Lebensjahre,
dessen Darstellung mit Lachen beginnt. Sie badet mit einer größeren Anzahl
Mädchen ihres Alters gemeinsam im Bache, eine 16jährige badet mit, bei der ihr das
Schamhaar auffällt. Sie verspottet das große Mädchen dieser häßlichen Entstellung
wegen so lange, bis diese ihr ärgerlich zuruft: „Du dummes Mädel, das haben alle,
das hat auch deine Mutter, du bekommst es auch.“ Darüber gerät sie in maßlose
Erregung, läuft nach Hause und benutzt die erste Gelegenheit, als die Mutter den
auf dem Hofe befindlichen, primitiven, ländlichen Abort aufsucht, sich so zu ver-
535
Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis
stecken, daß sie von unten her sehen kann, ob die Mutter wirklich diese häßlichen
Haare hat. Sie wird ertappt und bekommt für ihre Verruchtheit von der ent¬
rüsteten Mutter furchtbare Schläge, die sie aber gar nicht fühlt, weil sie immer
nur mit höchstem Entsetzen schreit, sie wolle das nicht haben, auch wenn sie groß
sei. Die Mutter, der bei dieser zügellosen Leidenschaft bange wird, sucht sie durch
die wiederholte Versicherung zu beruhigen, sie werde das nicht bekommen. Bei
ihrer ersten Entbindung mit 19*4 Jahren hätten dann die Hebamme und später auch
der Arzt gefragt, ob sie sich denn da rasiert habe. Erst mit 20 Jahren sei sehr
Spärlich etwas Schamhaar gewachsen.
Am nächsten Tage keine wesentliche Besserung, Augen und linke Körperseite
machen nach wie vor starke Beschwerden. Es fällt auf, daß sie während des Ge¬
spräches immer nach rechts schielt, als ob sie von dorther etwas Schlechtes fürchtet.
Da sie nichts Wesentliches anzugeben weiß, gehen wir gleich zur Hypnose über.
Sie sieht sich mit 16 Jahren auf dem Gutshof bedienstet, ist sehr umworben. Im
Nachbardorf ist ein Fest mit Tanz. Die Gutsherrin verbietet den Mädchen hinzu¬
gehen, weil es dort jedesmal zu einer Schlägerei kommt. Jäger, Kutscher und mehrere
Knechte erwirken nachträglich vom Verwalter die Erlaubnis, daß die Mädchen
mitgehen dürfen, gegen das Versprechen, sie gut nach Hause zu bringen. Beim
Tanz beginnt ein Knecht vom Nachbargut, der ihr schon lange nachgelaufen war,
Rempeleien, so daß ein Gendarm Ruhe schaffen muß. Um 2 Uhr machen sie
sich auf den iVgStündigen Heimweg durch den Schnee. Dabei müssen sie an einer
alten Eiche vorbei, die zwei Männer nicht umspannen können. Sie sieht aus der
Ferne etwas sich um die Eiche bewegen, warnt, trifft aber auf Unglauben. Als sie
dann an der Eiche vorbeikommen, wird der Gärtner, mit dem sie Arm in Arm
geht, von hinten erstochen, sie selbst erhält einen Messerstich über dem linken Auge
an der Haargrenze, muß 4 Wochen im Krankenhause liegen und noch mehrere
Monate einen Verband tragen. Der Mörder erhält 5 Jahre Zuchthaus. Nach
5 Jahren, als sie schon verheiratet war und bereits ein Kind hatte, kommt der
Mörder, um zu sehen, ob sie noch für ihn zu haben sei. Sie läßt ihn stehen und
geht schweigend ins Haus.
Nach dem Morde mußte sie bald nach Hause, weil die Mutter kränklich war.
Der Vater verbietet ihr ein für allemal das Tanzen. Ein Bruder nimmt sie trotzdem
einmal zum Tanzen mit, nach der Rückkehr bekommt sie vom Vater „ihre
Dresche , obwohl sie (mit i8V4Jahr) schon auf geboten war, so daß sie noch mit
geschwollenem Gesicht zur Trauung ging. Auf Befragen gibt sie zu, gedacht zu
haben, der Vater werde schon seine Strafe finden. Darüber habe sie sich Vorwürfe
gemacht, als er krank lag, und habe oft unter Tränen gebetet, daß er, wenn auch
siech, leben bleibe, damit sie ihn pflegen könne. Die Krankheit des Vaters sei auch
auf der linken Körperseite lokalisiert gewesen. Große zerfallende Geschwüre, die
ihr beim Verbinden Ekel eingeflößt hätten. Darüber habe sie sich ebenfalls Vor¬
würfe gemacht, alles was sie seitdem an Krankheit betroffen habe, habe sich nun¬
mehr immer an ihrer linken Seite abgespielt. Dieser Selbstbestrafung nach dem ius
talionis werden wir noch oft begegnen. Der Vater wollte sich nicht von der
Mutter, sondern nur von ihr pflegen lassen. Das bereitete ihr sehr große Genug¬
tuung. Aber als eines ihrer Kinder einmal in der Krankenstube spielte, habe es eine
'ij
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Emil Simonson
Tasse, aus der der Vater mit Vorliebe trank, zerbrochen. Auf ihr Schelten kam es
zu einem Zank mit dem Vater, der das Enkelkind nicht schelten lassen wollte.
Seitdem hat er ihr nie wieder beim Verbinden die Hand gestreichelt, was ihr sehr
schmerzlich war. Zuletzt hatte sich die Krankheit des Vaters zum Herzen hin¬
gezogen, das war das Ende.
Auf meine Zwischenfrage, ob sie noch weitere alte Träume, besonders den Vater
betreffende, erinnere, sagt sie erst nein, dann ja. Als sie noch nicht zur Schule ging,
also höchstens im 6. Lebensjahre stand, träumte sie, sie werde in den Stall geschickt.
Dort hängt ein großer, schlanker Mann, geschlachtet. Leih und Brust geöffnet wie
hei den geschlachteten Tieren, Während sie das erzählt, macht sie Würgebewegun¬
gen und verspürt einen süßlich unangenehmen Geruch, der jedoch nicht an Leichen¬
geruch erinnert. Auf die Frage, ob der Geruch sie an ein anderes Erlebnis erinnere,
erzählt sie; Ein um ein Jahr älterer Arztsohn, ihr Gespiele, ist gestorben und wird
in dem Familienerbbegräbnis, wo immer zwei Gräber übereinander liegen, beigesetzt.
Nach 4 Jahren stirbt die Arztfrau. Ihr Vater öffnet als Totengräber in ihrer Ge¬
genwart das Kindergrab. Der Knabe liegt angekleidet und anscheinend noch un¬
versehrt. Dort war der süßliche Geruch vorhanden. Bei Berührung fällt die Leiche
zusammen. Zu Hause erzählt der Vater der Mutter die Sache und meint, der Arzt
müsse wohl etwas getan haben, daß sich die Leiche so lange gehalten habe.
Nach diesem Zwischenspiel führe ich sie wieder auf das Traumbild von dem
geschlachteten Manne zurück durch die Frage, ob dieser sie an jemand erinnere.
Sie verneint und erzählt dann folgende Geschichte: Der Vater hat vor Jahren von
einem Manne im Nachbardorf Geld geliehen. Da er es nicht zurückgeben konnte,
entstand Feindschaft. Der Gläubiger lebte mit einer Wirtschafterin zusammen. Als
diese ein Kind gebar, erhielt der Vater spät abends einen Brief des Mannes, durch
einen geistig nicht normalen Bruder, mit dem Anerbieten, er solle das Neugeborene
als Ziehkind annehmen, dafür solle er noch so viel Geld erhalten, daß es mit der
alten Schuld 500 Taler sein würde. Die Eltern haben oft Ziehkinder gehalten, die
der Vater ebenso wie seine eigenen oft geschlagen habe. Der Vater will noch am
späten Abend ins Nachbardorf gehen, die Mutter dringt aber darauf, er solle heute
in der Nacht nicht mehr gehen, der Mann habe vielleicht Böses im Sinne, die
Sache habe Zeit bis morgen. In dieser Nacht hatte sie den eben wiedergegebenen
Traum.
Sie habe abends während der Warnung der Mutter gedacht, wenn der Vater nicht
wiederkäme, erhielte sie keine Schläge mehr. Der Vater war groß und schlank wie
die Leiche im Traum, der andere kleiner und dick, konnte also nicht der Ge¬
schlachtete gewesen sein.
Nachdem sie alles das unter Affektäußerungen in dieser langen Hypnose durch¬
lebt hat, ist sie am nächsten Tage heiter, hat zum ersten Male wieder gearbeitet,
die Berührung ist nicht mehr schmerzhaft. Der Blick ist während der Unterhaltung
nach links gerichtet, das linke Auge flimmert noch, das rechte nicht mehr. Sie hat
probeweise ohne blaue Brille Zeitung gelesen.
Bei einem Besuch vier Tage später fällt auf, daß sie, während wir auf Stühlen
einander gegenübersitzen, bei der Unterhaltung noch immer wie erwartend nach
links schaut. Die linke Schläfengegend schmerzt. Auf Befragen gibt sie ohne
T
Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis 537
Widerstand zu, daß der Totschläger ihr gefallen habe. Als er nach seiner Rückkehr
aus dem Zuchthaus bei ihr nachfragte und sie schon ihren Mann und zwei Kinder
hatte, auch von dem Manne schon schlecht behandelt wurde, weinte die Mutter
und sagte, vielleicht wäre es so besser geworden, aber sie habe ja den Taugenichts
durchaus haben wollen. Ihr Mann sei ein übel beleumundeter Müßiggänger ge¬
wesen, der in keinem Beruf aushielt. Sie habe ihn auch nur aus Trotz gegen die
Eltern geheiratet, die dagegen waren. Das alles berichtet sie ohne Affekt, daher
wird wieder Katharsis zu Hilfe genommen. Nunmehr sieht sie sich auf der Hoch¬
zeit ihres Bruders, der in ein Bauernhaus einheiratete. Die Feier dauerte drei Tage,
am dritten Tage ging sie nicht mehr hin, wohl aber ihr Mann. Als sie Brot
holen will, fehlt das Portemonnaie mit dem letzten Geld. Sie geht zum Hochzeits¬
haus, um ihren Mann zur Rede zu stellen. Dort wird Kricket gespielt, bei ihrem
Kommen fliegt ihr eine Holzkugel gegen die linke Schläfengegend. Das Trommel¬
fell ist geplatzt, lange ärztliche Behandlung folgte. Sie ist überzeugt, daß das ihr
Mann absichtlich getan habe. Nach dem Erwachen und am nächsten Tage ist sie
heiterer, die Schläfengegend weniger empfindlich. Zwei Tage später (9. Jänner)
bestehen von neuem Unruhe und Mattigkeit. Starke Sensationen der ganzen linken
Körperseite, „Prickeln ganz anderer Art als bisher“, Herzschmerz. Furcht, es könnte
sich von der linken Seite bis zum Herzen hinziehen und das wäre das Ende.
Hypnose. Sie sieht sich in der Kriegszeit als Straßenbahnfahrerin ihren Wagen
rückwärts ins Depot fahren. Dabei berührt sie mit der Hnken Seite ein herab¬
hängendes Kabel. Der ganze Wagen steht sofort in Flammen, sie mitten darin,
greift nach dem Herzen und fällt besinnungslos um. (Während der Katharsis liegt
sie in ihrem Bette.) 50 Menschen waren gefährdet, sie selbst stand lange in ärzt¬
licher Behandlung. Im Wachzustände fügt sie noch hinzu, das Prickeln sei so, wie
wenn man elektrisiert wird. Am ii Januar sind die Beschwerden vom Herzen
wieder heftig. Sie habe das Gefühl, es werde sich von links allmählich ganz aufs
Herz legen, und das sei denn wohl das Ende. Zunächst Unterredung ohne Hypnose.
Auf Befragen hatte sie schon früher angegeben, sie habe beim ehelichen Verkehr
nie einen Orgasmus empfunden, sondern erst nachher. Auf die Frage, ob sie sich
dabei einen anderen Mann vorgestellt habe, gibt sie es heute sofort zu. Als sie
Helferin im Krankenhause war und mit ihrem zweiten Kinde schwanger ging, habe
ein junger Arzt sich ihr eifrig genähert. Er wollte nach Amerika gehen und sie
nachkommen lassen. Sie lehnte das ab, habe aber Unannehmlichkeiten durch die
Eifersucht einer Schwester gehabt. Der Arzt sei bald nach Amerika gezogen und
habe noch einige Male geschrieben. Er wollte ihr eine Fahrkarte schicken, das Kind
solle sie mitbringen. Sie antwortete aus Pflichtgefühl nicht. — Das alles erzählt sie
ziemlich ruhig ohne sonderlichen Affekt. Am nächsten Tage keine Besserung, Un¬
ruhe noch vergrößert. Daher Katharsis. Was sie gestern in 10 Minuten erzählt hat,
durchlebt sie nochmals in fast 1V4 Stunden mit dramatischer Leidenschaft und in
dramatischer Gestaltung. Oft hört sie minutenlang zu, ehe sie ein Wort spricht,
und macht ablehnende Gebärden, wenn der Arzt beim Verbinden ihre Hände ab¬
sichtlich streift. Sie gibt die Eifersucht der Schwester wieder. Einmal hat sie der
Arzt nach einer Operation in eine Ecke gedrängt und redet sehr leidenschaftlich
auf sie ein. Sie lehnt ebenso leidenschaftlich immer wieder unter Hinweis auf ihre
Pflicht ab, kann ihm aber, wie aus ihren Antworten zu entnehmen, nicht verhehlen.
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Emil Simonson
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daß sie ihn liebt. Die eifersüchtige Schwester kommt hinzu. Denunziation. Ver¬
höre durch eine aus einer fernen Zentrale gekommene Oberin. Sie will auf ihre
Stellung verzichten, was aber nicht bewilligt wird. Nur wird sie bei der nächsten
Schwesternweihe der Helferinnen übergangen. Der Arzt geht daraufhin nach
Amerika, schreibt mehrmals, sie antwortet nicht. Den letzten Brief läßt sie nur
noch durch die Oberin öffnen.
Ihr Ehemann ist eifersüchtig. Sie durchlebt Nächte, in denen sie ihm das eheliche
Zusammenleben verweigert, worauf er sie schlägt und aus der Stube wirft. In
kalten Nächten hat er ihr sogar die Kleidung verweigert, so daß sie vor der Tür in
leichter Nachtkleidung sitzen mußte. „Wie oft habe ich bis morgens vor dem Hause
auf der Schwelle gesessen, bis er fortging, um dann an meine Arbeit zu gehen.“ Ihr
Mann war schön, aber blond. Sie hat ihn nur geheiratet, weil die Eltern dagegen
waren. Der Arzt war groß und hatte dunkles gewelltes Haar wie der Vater. Sie
kommt auf einen früheren Traum, wie sie im Bette liegt, rechts ihr Mann, links
der Arzt. Jede Berührung des Mannes ist ekelhaft, des Arztes sanft, wohlig durch
den ganzen Körper ziehend. Von hinten gesehen war es der Vater, von vorn der
Arzt. Das sanfte Streicheln der Stirn, das auf Suggestion bei der Hypnose wohlig
durch den ganzen Körper zieht, hat zur Verdichtung der beiden Ärzte zu einer
Person geführt. Daher Besprechung der Übertragung.
Nach dem Erwachen erkläre ich ihr, daß diese Sitzung den stärksten Umschwung
gebracht habe, das Herz werde jetzt frei sein. Am nächsten Tage ist der Druck
vom Herzen völlig geschwunden, sie fühlt starke Mattigkeit, die sie selbst be¬
schreibt „wie nach schwerer Krankheit“. Zur Nachbarin sägt sie, das sei entweder
Heilung oder das Ende. Das Offenlassen dieser Alternative mahnt zur Vorsicht
gegenüber der Frage, wieweit hier etwa Suggestionswirkung im Spiele ist. In den
Vordergrund treten jetzt Klagen über Schwellung und Schmerzen in den Beinen,
die ich zunächst auf innere Krampfadern zurückführe, da nichts zu sehen ist. Sie
lehnt die Möglichkeit von Krampfadern energisch ab. In den nächsten Tagen wird
die Müdigkeit größer, an beiden Unterschenkeln sieht man jetzt viele bläuliche.
Ein- bis Zwei-Mark-Stück große Infiltrationen, der Untergrund ist gerötet und
geschwollen. Die Schmerzhaftigkeit ist schon bei leichtester Berührung sehr groß.
Ich verordne Bettruhe und Umschläge. Da sie zwecks Nebenverdienstes seit
mehreren Jahren an einer zu einem Gut gehörigen Villa wäscht und plättet und
auch andere Hausarbeit macht, muß sie nunmehr diese Arbeit versäumen. Die
entzündlichen Knoten bleiben rätselhaft, ich vermute nach Analogie der von
Groddeck, Simmel u. a. mitgeteilten Fälle einen affektiven Zusammenhang und
greife aktiv ein durch die Frage, ob sie gern in die Villa zur Arbeit gehe. Die
Antwort lautet: Nein, sie wolle dort den sie immer gut behandelnden Menschen
nicht zu Dank verpflichtet sein. Ich frage weiter, wann die nächste Arbeitsperiode
bevorstand, als sie erkrankte? Antwort: Nach einer Woche. Dann hätte sie ihr
Weihnachtsgeschenk bekommen und wäre den Herrschaften verpflichtet gewesen.
Ihr jetziger Mann verdiene genug und wolle nicht, daß sie außer der Portierarbeit
noch außer dem Hause arbeite.
Bei einem Besuche nach drei Tagen sind die Beine nicht wesentlich gebessert,
daher Katharsis. Sie sieht sich während des Krieges mit ihrem auf Urlaub
anwesenden jetzigen Manne in schwerer Winterkälte auf der Reise, zu dessen in
J
Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis 539
der Provinz wohnenden erkrankten Bruder. Auf der Rückfahrt, teils im offenen
Wagen, teils in ungeheiztem Eisenbahnzuge, hat sie sich fast die Füße erfroren,
sonst hat sie nie an Frostbeulen gelitten, seitdem leidet sie viel an kalten Füßen.
Ich lege ihr nun unter den nötigen Erläuterungen über das Unbewußte in der
Hypnose die Frage vor, ob sie diese Erfrierungen nicht nach 10 Jahren repro-
^duziert habe, um den wohlmeinenden Arbeitgebern zu beweisen, daß es beim
besten Willen unmögHch sei, mit solchen Beinen am Waschfaß und am Plättbrett
zu stehen. Sie ist gleich geneigt, diese Erklärung anzunehmen und erzählt noch
weitere, sich aus der Hausordnung in der Villa ergebenden Unannehmlichkeiten,
die dazu beitragen, ihr die Arbeit zu verleiden. Die Sache werde aber jetzt immer
drängender, denn die Herrschaft habe ihr nicht nur ein reichliches Weihnachs-
geschenk ins Haus geschickt, sondern sende ihr außerdem häufig kleine Geldbeträge
und allerlei Eßwaren zur Pflege durch das Wirtschaftsfräulein, die dann jedesmal
sich erkundige, wann sie die Arbeit wieder aufnehmen könne. Das Fräulein er¬
zählt, der Herr Doktor wolle nur von ihr hergerichtete Plättwäsche tragen, er
habe vor kurzem die von einer anderen Frau fertig gemachte Wäsche sämtliche
Treppen bis zum Hausflur hinabgeschleudert. Nun sei die Frau Doktor in großer
Not. Ich riet ihr, Geschenke nicht mehr anzunehmen und der Herrschaft sagen
zu lassen, der Arzt habe die Wiederaufnahme dieser Außenarbeit für dauernd un-
mögheh erklärt. Das leuchtet ihr ein. Bevor ich sie wecke, erkläre ich ihr noch,
wie sie schon selbst angedeutet hat, ihre große Schwäche als analog dem Befinden
nach überstandener schwerer Krankheit. Aufgeweckt liegt sie nun frei mit dem
Kopf nach rechts. Auf Befragen: Sonst habe es im Kopf immer wie Gummiband
nach links gezogen. Das sei jetzt vorbei.
Nach einigen W^ochen ein Rückfall. Augenflimmern, das Herz will heraus¬
springen. In der Hypnose sieht sie ihren jetzigen Mann betrunken nach Hause
kommen. Früher hatte sie auf Befragen erklärt, sie lebe mit ihm in guter Ehe.
Jetzt berichtet sie, er sei Quartalsäufer, und sie müsse immer fassungslos weinen,
wenn er in diesem Zustande nach Hause komme. Ihr erster Mann sei nach einem
Betrugsverbrechen flüchtig geworden und verschollen. Nach ihrer Scheidung
hätten sich ihr gute Aussichten eröffnet, sie habe aber ihren jetzigen Mann, der
ihr nachgelaufen sei, obgleich er mehr als 10 Jahre jünger sei als sie, aus Trotz
geheiratet, weil seine Geschwister ebenso wie ihre Kinder und Geschwister dagegen
waren. Sie ist evangelisch, der Mann katholisch. Ihre Ehnder und Geschwister mit
Ausnahme eines Bruders hätten dauernd mit ihr gebrochen. Eine richtige Ehe habe
sie nie geführt, der Mann habe in den Jahren ihrer Ehe nur einige Male Kohabita-
tionsversuche gemacht. Wenn er betrunken nach Hause kam, hat sie Todeswünsche
gegen ihn gehabt, was wieder Anlaß zu Schuldgefühlen und zu Selbstbestrafung
gab. Am nächsten Tage hat sie weiter Herz- und Augenbeschwerden. Aus der
letzten Nacht berichtet sie einen Traum: Jefnufid will sie auf eifiey Wiese Übey
eine Bayyieye ins Wassey weyfen. Sie sagt: ,,Laß los, odey ich beiße diy die Hals-
schlagadey duychJ' Sie beißt auch zu und erwacht voll Angst mit einem Zipfel des
Oberbettes zwischen den Zähnen. Im Wachen kein Einfall. In der Katharsis sieht
sie sich als 12jähriges Mädchen. Ein 2—3 Jahre älterer Vetter ist auf Besuch an¬
wesend. Sie hat große Angst vor Pferden. Als einmal Pferde auf sie zukommen,
hält der Vetter sie fest. Sie beißt ihn in die Hände, läuft fort, will sich auf einen
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Emil Simonson
Zaun retten, stürzt in einen dahinterfließenden Bach und liegt mehrere Wochen
krank. Die Furcht vor Pferden geht bis in ihr siebentes Lebensjahr zurück. Während
sie an der Kirchhofsmauer spielte, kommt ein Wagen mit durchgehendem Pferd
auf sie zu. Der Vater reißt das Pferd am Zügel hoch, so daß es über ihr steht.
Mit begeistertem Ausdruck: „Der Vater war groß und stark, er hat oft durch¬
gehende Pferde aufgehalten.“
Da am nächsten Tage keine erhebliche Besserung eingetreten ist, demnach eine
unsichtbare Mauer sich dem Fortschreiten im Hinblick auf den Endzweck ent¬
gegenzustellen scheint, stelle ich mir die Frage, durch welchen Fehler ich selbst
dieses „Auf der Stelle Treten“ verschuldet haben könnte, und komme in Ansehung
der Ergebnisse der letzten Sitzungen hinsichtlich der Trunksucht ihres jetzigen Mannes
zu der Erwägung, ob ich nicht etwa meine Aufmerksamkeit allzu ausschließlich
auf die infantile Einstellung gerichtet und damit den aktuellen Konflikt ver¬
nachlässigt habe. Ich frage sie daher, ob der Vater getrunken habe. Das sei nur
einmal am Königsgeburtstag geschehen. Dieser Anblick habe ihr Schrecken und
Entsetzen eingeflößt. Nachdem sie und der Bruder aus der Stube geworfen waren,
habe sie im Stall fassungslos geweint. So wie jetzt, so oft der Mann angetrunken
nach Hause kommt. Ihre Mutteridentifizierung, die schon früher anläßlich der ihr
allein übertragenen Krankenpflege des Vaters in Erscheinung getreten war, kehrt
wieder, durch den im begeisterten Tone vorgebrachten Bericht, im Hause nenne sie
niemand Frau X., sondern Kinder und Erwachsene sagen nur „Muttchen“ zu ihr.
Nicht nur im Hause, sondern auch in der ganzen Nachbarschaft sucht man in
schwierigen Lagen ihren Rat. In der Tat ist sie sehr intelligent und stets hilfsbereit,
überhaupt eine Persönlichkeit, unter vielen Nullen eine Eins. Über ihren Bildungs¬
grad hinaus zeigt sie Verständnis für psychoanalytische Zusammenhänge. Nach Be¬
sprechung des Zusammenhanges bleibt sie fortan ruhig, wenn der Mann angetrunken
nach Hause kommt. Sie erörtert auch seine bedrohliche Krankheit und verträgt sogar
ohne Schuldgefühle die Überlegung, daß sie im Falle seines Todes sich allein besser
ernähren könnte. Er verdiene jetzt weniger und gebe ihr von seiner Einnahme nur
widerwillig für die Wirtschaft etwas ab, besonders in seinen Trinkperioden. „Er will
es ja nicht anders.“ Als sie später mir einmal ihre Besorgnis ausspricht, der Mann
könne als Kohlenfahrer in der Trunkenheit vom Wagen fallen und von seinem
eigenen Wagen überfahren werden, verträgt sie ruhig die Erörterung, ob diese Be¬
fürchtung nicht etwa Einkleidung eines nicht bewußtseinsfähigen Wunsches sei.
Nach dieser Sitzung ist sie heiter und mutig zu allmählich gesteigerter Arbeit,
macht auch Reisepläne. Seitdem hat sie nunmehr seit 5V2 Jahren ihre Portier¬
arbeit und ihre Wirtschaft besorgt. Von Heilung kann man trotzdem nicht sprechen,
sondern nur von Besserung. In schwierigen Lagen, besonders jetzt, wo der Mann
nur Gelegenheitsarbeit hat, produziert sie immer wieder einmal Symptome, die
eine kathartische Sitzung erfordern, aber es geht dann immer mit einer einmaligen
Sitzung ab. Bisweilen haben, besonders im ersten Jahre der wiedergewonnenen Ar¬
beitsfähigkeit, noch einzelne eingeklemmte Affekte sich vorgeschoben und eine
Sitzung erfordert. So sieht sie, als Herz und Augen sich wieder einmal bemerkbar
machen, in der Hypnose einen Leichenzug, in dem sie den Arzt Dr. N. erkennt.
Dr. N. war auch Kirchhofsarzt. Als eine Krankenschwester im Grunewald ver¬
giftet gefunden und in der Halle eingeliefert wird, erklärt sie der Arzt nach flüch-
j
Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis 541
tiger Untersuchung für tot. Sie kann sich nicht überzeugen, daß die Schwester
wirklich tot ist, macht Wiederbelebungsversuche, die nach 2 Stunden von Erfolg
gekröflt sind. Dieser Fall war mir aus Zeitungsberichten schon bekannt. Der
Arzt bringt sie aus der Arbeit, indem er erklärt, einer von beiden müsse gehen.
Frau V. M., die von der Sache hört, verschafft ihr andere Arbeit.
Auch der Vater erscheint ihr noch einmal im Traum; Es ist Krieg, auf der
Straße wird geschossen. Da führt sie der Vater in eine Mauernische und sagt:
„Hier werden sie uns nichts tun/' Am nächsten Tage erhält sie die briefliche
Nachricht, ihre in der Provinz wohnende Tochter müsse sich einer schweren
Kehlkopfoperation unterziehen. Sie hofft aber, die Erscheinung des Vaters im
Traum werde diesmal keinen Todesfall bedeuten, denn er habe ja selbst gesagt,
hier werden sie uns nichts tun. Die Tochter hat auch die Operation gut über¬
standen.
In den allerletzten Monaten hat sie noch einmal Flerzbeschwerden infolge eines
Traumes, in dem sie einen Soldaten ohne Kopf sieht. In der Hypnose kommt sie
auf ihren Sohn zu sprechen, der ohne Abschied von ihr in den Krieg gegangen «ei.
Nach dem Kriege sollte er als Gefangener von den Franzosen über Marseille mit
einem Trupp an die deutsche Grenze gebracht werden. In Marseille wurde den
Gefangenen streng verboten, das Lager zu verlassen. Ihr Sohn tat es trotzdem,
wie ihr später ein Mitgefangener erzählt hat, und ist seitdem verschollen. Der
Mitgefangene meint, er werde wohl im Hafen ermordet und beiseite geschafft
worden sein. Sie hat immer noch auf seine Wiederkehr gehofft. Jetzt aber, da sie
ihn ohne Kopf im Traum gesehen habe, besitze sie wenigstens die Gewißheit, daß
er tot sei, und das sei beruhigender als die bisherige Ungewißheit.
Zusammenfassend können wir sagen: Die Anwendungsmöglichkeit des Verfahrens
bleibt mehrfach begrenzt. Einmal durch die relative Seltenheit der dazugehören¬
den Empfänglichkeit für tiefe Hypnose. Dann wird die Methode überhaupt nur
für Hysterie in Frage kommen. Außerdem werden wir in erster Linie solche Fälle
für das Verfahren ins Auge fassen, für die eine klassische Freudsche Psychoanalyse
aus triftigen Gründen nicht in Frage kommt. — Auf der anderen Seite darf
geltend gemacht werden: Die heutige Katharsis unter Verwendung der durch die
Psychoanalyse erworbenen Erkenntnisse und Einsichten, die ein kombiniertes Ver¬
fahren ermöglichen, ist nicht mehr die historische Katharsis von Breuer und
Freud. Mit Hilfe dieser später gewonnenen Einsichten können wir heute doch
mehr in die Tiefe und in die Zusammenhänge eindringen als bei dem Neben¬
einander von Einzelergebnissen vor 40 Jahren. Wir können ferner den Fortfall des
Widerstandes in den tauglichen Fällen als ein Mittel großer Beschleunigung buchen.
Auch ein vorsichtiges aktives Eingreifen zur rechten Zeit dürfte unbedenklicher
sein als bei der Psychoanalyse, weil ein dadurch etwa geöffneter Irrweg in der
Katharsis in hohem Maße seine Korrektur in sich trägt, zumal die Übertragung
dabei weniger ein Gefahrenmoment bilden kann, als in der klassischen Psycho¬
analyse. Innerhalb dieser Begrenzung sollte die Neokatharsis, die ja auch Ferenczi
auf dem Oxforder Kongreß empfohlen hat, und die Simmel unter den Verhält¬
nissen der Kriegslazarette mit gutem Erfolg angewandt hat, öfter als bisher ver¬
sucht werden, zumal es Fälle gibt, die nach Katharsis förmlich schreien, so daß
sie sich durch Autokatharsis selbst zu helfen suchen.
542 Yrjö Kulovesi
Bemerkenswert sind noch die mehrfachen Traume, durch die das Unbewußte
einen Tag vorher das Programm der nächsten kathartischen Sitzung gewissermaßen
festlegt. Hit sch mann hat schon 1919 in dieser Zeitschrift einen solchen Fall
berichtet unter dem Titel „Über eine im Traume angekündigte Reminiszenz an ein
sexuelles Jugenderlebnis“. Bemerkenswert sind ferner ungeachtet der vielen, von
Groddeck und Simmel bereits berichteten Fälle, noch immer die Unterdrückung
des Wuchses der Schamhaare und die Reproduktion der Frostbeulen nach 10 Jahren
im Dienst eines im Unbewußten wirkenden Wunsches. Nicht häufig wird sich auch in
der Literatur eine solche Wirkung des Wiederholungszwanges finden, daß eine Frau
zweimal in ihrem Leben einen ungeliebten Mann heiratet, nur weil die Angehörigen
dagegen sind. — Nicht viele Analoga dürfte endlich in der Literatur der nach
53 Jahren erinnerte Traum aus dem 6. Lebensjahre mit seiner Bedeutung für die Ein¬
stellung zum Vater finden.^
Zusammengefaßt; Eine aus Katharsis und psychoanalytischen Erfahrungselementen
zusammengesetzte Behandlung kann heute in Fällen, in denen die Analyse nicht in
Frage kommt, mehr leisten, als die alte Katharsis vor 40 Jahren, und wir haben
Grund, den Hinweis Ferenczis über den Nutzen der von ihm sogenannten Neo¬
katharsis nicht außer acht zu lassen.
Bin Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen
Anfalls
Von
Yr^ö Kulovesi
Tampere, Finnland
Vor sechs Jahren hatte ich Gelegenheit, einen damals zehnjährigen Epileptiker
einige Wochen lang zu beobachten. Der Charakter des Knaben war insofern ent¬
wickelt, als er nach Möglichkeit die Realität zur Befriedigung seiner Triebe benutzte.
Er war ein äußerst hartnäckiger Trotzkopf, der sich allen Forderungen des Er¬
ziehers widersetzte. Einmal war ich mit ihm und seinem Vater beim Schwimmen
zusammen. Durch seinen Ungehorsam reizte er den Vater so, daß dieser schon
im Begriff war, ihn zu schlagen. Der Knabe stand ganz starr und unbeweglich da
und seine Züge spiegelten die masochistische Spannung, mit der er die väterlichen
Schläge erwartete, wider. Die Erwartung des masochistischen Genusses trat so klar
zutage, daß ich den Vater sofort darauf aufmerksam machte und ihm zu erklären
versuchte, daß der Knabe es nur auf eine Befriedigung durch die Schläge anlege.
2) Schließlich wird die Annäherung an die Ergebnisse einer klassischen Psychoanalyse noch
verstärkt durch den mehrfach hervorgecretenen Kastrationskomplex sowie durch den in der
Aussprache von Frau Reich mit Recht hervorgehobenen Umstand, daß die mehrfache
Äußerung „das ist die Heilung oder das Ende" den Wunsch bedeute, der Vater möge sie
nach Sühnung ihrer Schuld durch das ius talionis zu sich heimholen, damit sie im Tode mit
ihm vereinigt sein dürfe.
Ein Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls
543
Dann ergab sich leider nur kurze Zeit — Gelegenheit, den Knaben zu beob¬
achten. In dieser sozusagen psychoanalytischen Anamnese trat folgendes zutage;
Auf meine Frage, ob ihm schon als Kleinkind irgend etwas besondere Furcht
eingeflößt habe, erzählte er folgenden Traum, den er bei Ausbruch der Krankheit,
vor etwa fünf Jahren, geträumt habe:
f,Ein schwaYzey Bock versucht in das Zimmer einzudringen. Der Knabe will die
Tür zuschließenf der Bock aber dringt durch die Tür und nimmt ihn auf seinen
Schoß. Es ist ein Bock mit Händen^ der vom Arbeitszimmer des Vaters ins Schlaf¬
zimmer hereinkam,''
Der Knabe erzählt hierauf, daß er immer erschrickt, wenn der Vater ins Schlaf¬
zimmer tritt und er im Dunkeln des Vaters Kopf und Hände erblickt. Er erklärt,
daß er in dem Traume fürchtete, der Bock könne Mutter und Vater etwas Böses
zufügen. Unmittelbar anschließend assoziiert er sein großes Angstgefühl, als er
einst beim Schlachten eines Schweines den Schuß hörte.
Er behauptet, in seinem Anfall denselben schwarzen Bock bisweilen gesehen zu
haben. Auch fühlt er im Anfall, als ob ihm ein stumpfer Gegenstand wie ein
kleiner Finger in den Kopf hineingedrückt werde. Dieser Gegenstand scheint ihm
auch Ähnlichkeit mit einem Gänseschnabel zu haben. Als eifriger Zeichner wirft
er sofort ein Bild davon aufs Papier:
Auf meine Frage, was er zu Hause gezeichnet habe, antwortete er: einen Stier¬
kampf. In diesem Bilde will er einen auf der Erde liegenden Mann, den ein Stier
durch einen Stoß mit seinen Hörnern in den Bauch getötet hat, gezeichnet haben.
Unmittelbar darauf zeichnet er mir ein ähnliches Bild mit der Darstellung eines
Stiers, der gerade dabei ist, dem Kämpfer seine Hörner in den Leib zu rennen. Er
erklärt mir eifrig den Hergang des Stierkampfes, und auf meine Zwischenfrage,
was dann geschehe, ob er selbst der Stier sei, antwortete er: „Mir wird ein Bein
abgerissen und vorher werde ich mit einer Hornspitze gestoßen.“
Ich versuche weitere Assoziationen zu dem Bockstraum zu erhalten, da springt
er plötzlich von seinem Stuhle auf, betrachtet ernsthaft den auf meinem Schreib¬
tisch stehenden Erdglobus und richtet die Frage an mich: „Was gibt es eigentlich
im Innern des menschlichen Körpers?“ Die Assoziationen führen dann zu offen¬
sichtlichen Mutterleibsphantasien. In der nächsten Stunde fällt seine Aufmerksam¬
keit wieder auf den Globus, und er wiederholt seine Frage, diesmal aber in folgen¬
der Form: „Was gibt es im Innern des Kopfes?“ Ich muß hier die Bemerkung ein¬
flechten, daß der Knabe vor drei Jahren chirurgisch behandelt und tatsächlich
trepaniert worden ist. Ob er schon vor der Operation das Gefühl, daß ein stumpfer
Gegenstand in seinen Kopf hineingestoßen werde, gehabt hat oder erst nachher,
das vermochte ich nicht festzustellen. Entscheidend ist jedenfalls, daß er seinen
Kopf mit dem Mutterleibe identifiziert.
Die Mutter des Knaben erzählte mir, daß er dauernd an schwerer Obstipation
leide. Die Eltern hatten das Schloß von der Klosettüre entfernen müssen, weil der
544
Yrjö Kulovesi
Knabe sich dort immer wieder einschloß und sehr lange verblieb. Schließlich bekam
er eine Blutung in der Retina, weil er beim Stuhlgang seine Bauchpresse überspannte.
Einige Jahre später ist mir zu Ohren gekommen, daß die Obstipation sich so ver¬
schlimmert hat, daß der Knabe seinen Stuhl nicht mehr spontan absetzen konnte, und
daß die Eltern durch Fingereinführung die Scybala herausholen mußten. Er hat also
seine passiv-feminine Einstellung in dieser Beziehung verwirklicht. Eine weitere
analytische Aufhellung der Beziehungen zur Umgebung hat sich als unmöglich er¬
wiesen.
In einem zweiten Falle konnte ich ein 22jähriges Mädchen einer längeren
psychoanalytischen Untersuchung unterziehen, das seit acht Jahren als Epileptikerin
in ärztlicher Behandlung stand.
Ihren ersten epileptiformen Anfall bekam die Patientin mit vierzehn Jahren,
als sie eines Morgens beim Erwachen die Blutspuren ihrer ersten Menstruation ge¬
wahrte. Die erste Menstruation war für sie eine völlige Überraschung, da ihr bisher
nichts davon gesagt worden war. In der Folge bekam sie nun ihre Anfälle vorerst
regelmäßig im Zusammenhang mit der Menstruation. Schon vor dem ersten An¬
fall hatte sie einige Zeit Zuckungen in Armen und Füßen gehabt. Die Diagnose
zwang die Patientin, den Schulbesuch einzustellen. Sie verbrachte dann den folgen¬
den Winter im Hause des ältesten Bruders, der ihr ziemlich gleichgültig war. Dort
blieben die Anfälle völlig aus, kehrten aber sofort in unregelmäßiger Folge wieder,
als sie ins Elternhaus zurückkehrte.
Das Leben im Elternhause hat auch später meistens die Anfälle mobilisiert. Dies
wird verständlich werden, wenn wir weiter unten ihre sado-masochistisch-anale Libido¬
fixierung und ihr Verhältnis zur Mutter, also zum Über-Ich, näher beschreiben. Die
Patientin wohnte mit der Mutter und einer älteren Schwester zusammen; der Vater
war gestorben, als sie erst drei Jahre alt und die ältesten Geschwister dem Elternhause
schon entwachsen waren.
Die erste Reaktion der Patientin, die den verdrängenden Faktor ins Licht stellte,
war das schon in der ersten Analysestunde hervortretende Schamgefühl. Als ich
sie nämlich, sobald sie mir ihren Vornamen genannt hatte, nach einem zweiten
fragte, errötete sie und gab zögernd das Vorhandensein eines solchen zu. Dieser
zweite Vorname sei aber so unschön, ihre Mutter besitze den gleichen. Wir sehen schon
hier die Identifizierung mit der Mutter durch Schamgefühl verdrängt. Später
zeigte sich, daß sie in der Nähe der Mutter sogar das Gefühl hatte, an dieser sei
etwas Schmutziges, an das sie nicht rühren könne.
Das Verhältnis der Patientin zur Mutter war stark ambivalent, der Haß trat
dabei in den Vordergrund. Nur unmittelbar nach den Anfällen fühlte die Patientin
sich besser und sympathisierte mit der Mutter. Sie selbst nahm wahr, daß die
Anfälle mit diesem Gefühlswechsel in Zusammenhang standen. Erst wenn sie
sich, ohne mit der Mutter ein Wort zu reden, wieder mit Haß gegen diese
vollgeladen hatte, kam ein Anfall zum Durchbruch. Sie sagte, daß sie auch kurz
vor dem Anfalle das Gefühl habe, als wenn sie etwas Verbotenes getan und Strafe zu
erwarten hätte; dieses deutliche Schuldgefühl und Strafbedürfnis läßt annehmen, daß
sie in ihren Anfällen ihren Haß auslebte und dabei ihre Aggressivität gegen sich selbst
richtete. Auch das Verhalten der Mutter gegen die Tochter war aggressiv. Die Patientin
wurde, um nur ein Beispiel zu erwähnen, im elften Lebensjahre von der Mutter
Ein Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls
545
derart mit einem Riemen geschlagen, daß sich die ältere Schwester ins Mittel legen
mußte. Es ist dabei bemerkenswert, daß die Patientin unmittelbar nach dieser Er¬
innerung assoziiert, wie ein Student vor zwei Jahren sie zu vergewaltigen versuchte.
Also das Prügeln der Mutter xmd der Koitusversuch des Studenten sind in einem
nahen Assoziationszusammenhang. Noch während der Analysezeit hatte sie keine
Ahnung von ihrer Vagina und fragte mich mehrmals, was der Student eigentlich
mit ihr vorgehabt habe. Gleichzeitig studiert sie populäre medizinische Bücher,
um diese anatomischen Rätsel zu lösen. Schon als kleines Kind erinnert sie sich
Onanie geübt zu haben, aber nur in analer Form: sie suchte dabei das Klosett mehr¬
mals am Tage auf und versuchte „mit so wenig Papier wie möglich zurecht¬
zukommen“.
Die Patientin mußte abends immer wieder ihr Bett verlassen, um zu urinieren.
Auch in der analytischen Situation empfand sie Harndrang. Zu Hause im Bette
liegend, versuchte sie den Harndrang, wie sie sagte, dadurch niederzukämpfen, daß
sie ihre Hände gegen die Genitalien preßte. Bei der Erzählung dieser Form der
Onanie erwähnt sie, daß auch die Zuckungen in den Armen und Füßen abends im
Bette über sie kommen.
Schon als kleines Kind nahm sie oft in den Abort eine Rute mit und schlug sich
damit aufs Gesäß. Sie erinnert sich auch, abends im Bett phantasiert zu haben, daß
Heinzelmännchen sie aufs Gesäß schlügen, welches sie, um die Phantasie noch lebhafter
zu gestalten, entblößte. Als Kind fürchtete sie sich auch immer vor Gewitter und
bat die Mutter eindringHch, vom Fenster wegzugehen.
Im Zusammenhang mit masochistischen Schlagephantasien assoziiert die Patientin
typische Kastrationsphantasien und danach folgendes frühe Geschehnis: Sie saß auf
dem Schoß der Mutter in der Küche, die Mutter stillte sie und aß auch selbst von
einem Teller auf ihren Knien. Ein älterer Bruder der Patientin rief der Mutter
nun eine häßliche Bemerkung zu, über die sich diese so aufregte, daß sie plötzlich
einen „Nervenanfall“ bekam und stark zu schreien begann. Das Kind wurde durch
diesen Vorgang von der Mutterbrust plötzlich losgerissen. Bei der Erzählung dieser
Erinnerung, welche nicht verdrängt gewesen war, bekam die Patientin wieder
schwere Zuckungen.
Der starke Haß gegen die Mutter kann auch zum Teil darin seine Ursache haben,
daß sie von der Mutter nicht genügend an der Brust gestillt wurde. (Ich verweise
auf Freuds Arbeit „Über die weibliche Sexualität“.) Auch gegen den Bruder, der
den vorerwähnten Anfall der Mutter veranlaßt hatte, empfand sie ihr ganzes
Leben lang ein ganz besonders ausgeprägtes Haßgefühl. Jene orale Versagung mo¬
bilisierte noch als Erinnerung in der Analyse den Kastrationskomplex. Beide, die
orale Versagung und der Kastrationskomplex, stehen also in engem Assoziations¬
verhältnis zueinander. Wenn sie in der analen Phase die Scybala trotzig zurück¬
halten wollte, war der von Anfang an orale Haß schon auf die anale Zone verschoben
und mit dem Kastrationskomplex eng verknüpft.
In der frühen Obstipation kam eine Phantasie vom analen Koitus zum Ausdruck,
in welchem die Scybala den Penis, aber auch eine Mordwaffe darstellten. Als Penis
will sie sie zurückhalten, vor der Mordwaffe hat sie Todesangst.
Die Libido ist stark anal fixiert. Die Onanie war in der frühen Kindheit anal.
546
Yrjö Kulovesi
In der Kindheit ist sie schwer obstipiert gewesen und sie erinnert sich, daß man
ihr häufig Laxantien gegeben hat. Als Kind bildete sie anale Phantasien von der
Geburt und hatte auch Angst vor dem analen Koitus. (Auf dem Lande und in
kleineren Städten in Finnland sind die Klosette in doppelter Mannshöhe errichtet,
man muß zu ihnen über eine Treppe wie zu einem ersten Stockwerk hinaufgehen.
Die Exkremente fallen also drei bis vier Meter tief hinunter. Saß die Patientin als
Kind nun auf einem solchen erhöhten Klosett, so hatte sie immer die Angstvor¬
stellung, daß da unten aus der Tiefe ein Mann ihr etwas Böses zufügen könne; die
gleiche Angst hatte sie vor Ratten.) Daß die Onanie sich später auf den Urinier¬
zwang verschob, wird wenigstens teilweise aus einem Traum verständlich, in dem sie
einen von nackten weiblichen Figuren aus Stein gebildeten Springbrunnen sieht.
Sie fügte hinzu, daß diese Traumfiguren die edelste Angst des Weibes, nämlich die
des Geburtsaktes darstellen. Die nackten weiblichen Steinfiguren des Springbrunnens
sind in ihrem Traume der erigierte Zustand bei der urethralen Onanie und auch
Ausdruck des Geburtsaktes, den die Patientin stets als einen analen Vorgang phan¬
tasiert hat. Urethrale und anale Zone sind ganz nahe beieinander. Nachdem die Pa¬
tientin von ihrem Urinierzwang erzählt hat, den sie abends nach dem Schlafengehen
empfindet und gegen den sie durch Druck ihrer Hände auf die Genitalien ankämpft,
assoziiert sie unmittelbar darauf die Zuckungen in den Armen und Füßen.
Zu den früheren Phantasien des Geschlagenwerdens assoziiert sie ein Ereignis, bei
dem sie wahrscheinlich zum ersten Male ihre eigene Penislosigkeit erkannte. Sie
erinnert sich, daß sie mit vier Jahren mit einem gleichaltrigen Knaben auf einem
Sandhaufen spielte und seitdem den Knaben in allen Dingen nachahmte, sogar in
seiner fehlerhaften Sprechweise. In einem Traum während der Analyse taucht die
Erinnerung wieder auf, daß ihr einmal beim Spiel auf dem Sandhaufen ein Gegen¬
stand verlorengegangen sei. Und in mehreren anderen Träumen wiederholt sich
immer wieder dasselbe Suchen nach einem verlorengegangenen Gegenstand. Fol¬
gender Traum spricht für die Versuche zur Lösung des Problems, vor welches sie die
Wahrnehmung ihrer Penislosigkeit gestellt hat: Sie träumt, daß sie mit einem Weib
koitiert und selbst die Lage des Mannes dabei einnimmt. Im gleichen Traum tauscht
sie dann die Stellung so, daß sie von einem Weib koitiert wird. An den Genitalien
der beiden wächst ein Pilz heraus. Bei der Wiedergabe des Traumes stellen sich
die Zuckungen in den Armen erneut ein. Als sie nach Beendigung dieser Stunde^
dem Analytiker das Honorar übergibt, bricht sie ganz plötzlich wie von einem
Blitz geschlagen zusammen, so daß sie sich in der Hocke am Boden befindet; sie
steht aber sofort wieder auf.
Über die Lust, die Hände gegen das Genitale zu pressen, die die Patientin abends
im Bette überkommt, berichtet sie folgendes: „Wenn ich abends die Augen schließe,
wird es mir übel. Dann ist es für meine Hände schwer, den richtigen Platz zu
finden, sie wollen notwendigerweise etwas zu tun haben. Ich beiße mich in die
Lippen und kneife mich in die Oberschenkel, auf diese Weise entsteht ein Schmerz,
der mich irgendwie erleichtert.“
Sie erinnert sich auch, wie wohl es ihr war, als sie einmal wirklich körperlich
krank zu Bett lag, und wie schnell es mit diesem Sichwohlfühlen wieder vorbei war,
als sie genas.
In ihren Träumen wiederholt sich die Koitusphantasie immer wieder als blutige
Ein Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls
547
Mor^at. Wichtig ist besonders folgender Traum, weil sich darin auch die Wirkung
der Wahrnehmung ihrer ersten Menstruation offenbart:
,yEin Chinese verkauft auf der Straße Zeitungen. Dann tritt er in ein Zimmer;
dort heschafUgt er steh aber mit irgendeiner verbotenen Arbeit und vier Männer fallen
deshalb über ihn her. Einer von ihnen bleibt beiseite, während die drei anderen dem
Chinesen ihre Revolver an die Stirne setzen und ihn niederschießen. Ich selbst liege
krank zu Bette und betrachte von hier aus diese Vorgänge. Mir träumt noch weiter,
daß ich das Bett verlasse und merke, daß ich die Menstruation bekommen habe.**
An dieser Stelle weise ich noch darauf hin, daß sich bei beiden hier angeführten
Patienten die Koitusdarstellung von unten nach oben verschiebt.
Bei der Analyse dieses Traumes bekam die Patientin starke Zuckungen über den
ganzen Körper.
Der Chinese im Traume ist sie selbst. Ein paar Tage vorher hat sie einen
chinesischen Händler auf der Straße gesehen. Sie hält sich selbst für häßlich. In
deni Traume wird sie als schmutziger häßlicher Chinese, wie sie sich als sexuelles
Individuum mit der Mutter identifiziert hat, niedergeschossen. Die Männer im
Traume sind ihre vier Brüder, von denen der eine beiseite Stehende auch in der
Wirklichkeit eine Ausnahmestellung bei ihr einnimmt. Nach der Erschießung steht
sie ihm Traume auf und träumt weiter, daß die Menstruation eingetreten sei. In
der Wirklichkeit mobilisierte die Betrachtung des Blutes der ersten Menstruation
die unbewußte Phantasie vom Koitus als Mordtat und veranlaßte so bei ihr den
ersten epileptiformen Anfall.
Die Todesphantasien und die Todeswünsche, die sie besonders gegen die Mutter
hegte, sind der Patientin von Kindheit an eigen gewesen. Schon als kleines Kind,
als sie noch an den Rockschößen der Mutter hing, hatte sie stets Furcht, daß die
Mutter plötzlich sterben könne. Die Furcht vor dem Gewitter haben wir schon
erwähnt; sie mußte auch immer an das Bett der Mutter gehen, um sich zu über¬
zeugen, daß die Mutter auch wirklich atmete. All dies ist leicht zu verstehen,
wenn wir uns ihre frühen Koitusphantasien als Mordphantasien denken.
W^ährend der Zeit der Analyse las sie einmal in einer Zeitung von einem
Epileptiker, der in einen Brunnen gefallen und ertrunken war. Die folgende Nacht
wiederholt sich im Traume dieselbe Szene, die sie nach obiger Erzählung bei dem
Nervenanfall der Mutter schon als Brustkind erlebt hat. Dieser Anfall der Mutter
scheint also auch in ihren unbewußten Phantasien deren Tod zu repräsentieren.
Die Plötzlichkeit ihres eigenen Anfalles wie auch die Gleichsetzung des ganzen An¬
falls mit dem Tod ist auch von dieser Seite determiniert.
In der Zeit der Analyse starb derjenige ihrer Brüder, gegen den sie häufig
Todeswünsche gehegt hatte und der in der Küchenszene die häßliche Bemerkung
seiner Mutter gegenüber gemacht hatte. Als sie die Nachricht von dem Tode des
Bruders erhielt, verfiel sie sofort in einen epileptiformen Anfall.
Nach diesem Ereignis traten auch sado-masochistische Phantasien reichlich
hervor. Sie träumt von Soldaten, die ihre Füße so peitschten bis sie bluteten, ferner
wurde sie in Träumen von der Mutter mit der Rute geschlagen usw.
Die Übertragung in der Analyse war meistens negativ, sie äußerte sich in dem
gleichen trotzigen Schweigen vor dem Analytiker wie sonst vor der Mutter; dabei
hatte sie den schon erwähnten Harndrang. Als ihr masochistischer Wunsch, von dem
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4
37
548
Yrjö Kulovesi
Analytiker geschlagen zu werden, analysiert wurde, bekam sie wieder heftige plötz¬
liche Zuckungen über den ganzen Körper. Am Abend desselben Tages wurde ihr,
wie sie sagte, zu Hause übel, und als sie im Bett lag und das Licht gelöscht war, be¬
kam sie einen Anfall. Seit dem letzten epileptiformen Anfall waren damals drei
Monate vergangen. Die Anfälle waren in der Zeit der Analyse viel seltener ge¬
worden und die Krankheit äußerte sich nur in den Zuckungserscheinungen. In
derselben Nacht, als sie diesen letzterwähnten Anfall bekam, träumte ihr, daß die
Mutter gar kein Mitleid mit ihr zeigte, obgleich sie mit dem Selbstmord drohte.
Die Versagung in der Analyse hat diesen Traum hervorgebracht. In dieser Zeit
bekam sie zu Hause Öfters Nasenbluten und legte immer die blutigen Wattepfropfen
so hin, daß die Mutter sie unbedingt sehen mußte, um aus dem Mitleid der Mutter
einen sekundären Krankheitsgewinn zu ziehen.
Im ersten der beiden hier dargestellten Fälle ist die Libido typisch anal fixiert
und die passiv-feminine Einstellung gegen den Vater offensichtlich. Der Anfall
bedeutet den analen Koitus, gleichzeitig aber auch eine blutige Mordtat, also den
Tod. Hier sind sowohl Koitus als auch Tod in der gleichen Phantasie vereinigt.
Im zweiten Falle war es anfänglich etwas schwerer zu entscheiden, ob die Pa¬
tientin schon die genitale Phase erreicht hatte. Alle frühen Äußerungen der Libido
wiesen auf eine anale Fixierung: die frühe Onanie war anal und mit masochistischer
Perversität vereint. Erst später ist diese anfänglich anale Onanie zur urethralen
Zone und durch den Druck der Hände gegen die Genitalien gewissermaßen in die
genitale Zone verschoben worden. Von der Vagina hat die Patientin während der
Zeit der Analyse noch keine Ahnung. Es kann also gesagt werden, daß auch hier
die anale Zone dominierend ist.
In der analytischen Situation konnte nie ein epileptiformer Anfall hervorgerufen
werden. Statt dessen zeigten sich plötzliche Zuckungen in den Extremitäten und
auch im ganzen Körper, sobald die miteinander eng verknüpften Koitus- und Ka¬
strationsphantasien mobilisiert waren. Der Koitus bedeutete im Unbewußten eine
blutige Mordtat, also auch Kastration. Die Patientin hat schon früh die masochisti¬
sche Einstellung angenommen und Schmerzlust gefühlt. Das Verhältnis des Ichs
zum Über-Ich war das des moralischen Masochismus.
Der erste epileptiforme Anfall erfolgt an dem Morgen, an welchem sie der
Menstruation gewahr wird. In dem Traume von dem in den Kopf geschossenen
Chinesen wiederholt sich die Wahrnehmung des ersten Menstruationsblutes und
damit die Phantasie vom Koitus als einer blutigen Mordtat. Bei der Analyse dieses
Traumes treten die Zuckungen auf. Wir können also sagen, daß die Koitus¬
phantasie vielfach als Phantasie des Getötetwerdens determiniert ist. Der anale
Koitus bedeutet hier ebenso wie im ersten Falle das Getötetwerden.
Betrachten wir noch das Verhältnis des Ichs zum Über-Ich. Dieses Verhältnis,
d. h. der moralische Masochismus hat sich eigentlich niemals sehr weit von seiner
körperlichen Grundlage fortentwickelt. Der körperliche Charakter dieses Ver¬
hältnisses steht dauernd im Vordergrund, und gerade das rein somatische Gefühl in
der analen Zone verschiebt sich auf die anderen Muskelgebiete. Obgleich der anaJe
Koitus auch das Getötetwerden bedeutet, ist es doch möglich, daß die Todes¬
phantasie in ihrer archaisch-lebendigen Tiefe den epileptiformen Anfall hervor-
rufen kann. Vor dem Anfalle steigert sich das Sich-voll-Laden mit Haß gegen die
j
Ein Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls
549
Mutter immer mehr, die Patientin hat Todeswünsche gegen die Mutter, sie identi¬
fiziert sich gleichzeitig mit der Mutter. Die Folge ist, daß sie den Tod gegen sich
selbst richtet. Hier entsteht die Trieblegierung aus dem sexuellen Wunsch, koitiert
zu werden, aus dem Haß gegen die Mutter und schließlich aus dem Strafbedürfnis
zur Sühnung der Schuld. Das Über-Ich desexualisiert diese Trieblegierung immer
mehr und drängt den Haß, der sich dann im Anfall auslebt, immer stärker in den
Vordergrund.
In der Gewissensangst der Patientin, die offensichtlich unter der Wirkung ihres
Schuldgefühls steht, spielt die Kastrationsbedeutung eine weit entscheidendere
Rolle als zum Beispiel in der Gewissensangst des Zwangsneurotikers. Das Symptom
zeigt sich dann auch körperlich.
Krankheitsfälle wie diese beiden sind geeignet darzutun, daß das Verhältnis des
Ichs zum Über-Ich sich ursprünglich in einem rein körperlichen Gefühl ausdrückt.
Auch später, zur Zeit der Gewissensangst, wird noch dieses körperliche Gefühl als
Sphinkterangst mobilisiert. Der Kastrationskomplex mit allen dazugehörigen Phan¬
tasien hat dem Koitus die Bedeutung einer blutigen Mordtat gegeben. Dieses auch
in den Träumen so typisch symbolisierte Getötetwerden zeigt sich auch am tiefsten in
dem Verhältnis des Ichs zum Über-Ich. Dieses Verhältnis ist also anal und sado¬
masochistisch. Beide Triebe, sowohl der Sexualtrieb als auch der Haß, spielen hier
gleichzeitig ineinander und beide werden auch im Anfalle befriedigt. Der Anfall
bedeutet also ebenso Orgasmus wie Tod.
Zur Erniedrigung des Liebesobjektes
Von
Ludwig Eideiterg
Wien
In der Arbeit „Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“ hat Freud
eine Form von Potenzstörung beschrieben, die den Mann bei der ihm gleichwertigen
Frau befällt, während er bei einer sozial unter ihm stehenden, „erniedrigten“ Frau
voll potent ist. Diese Störung ist durch eine Spaltung zweier Strömungen, der sinn¬
lichen und zärtlichen, entstanden und hängt ursächlich mit starken Kindheits¬
fixierungen und der realen Versagung durch die Inzestschranke zusammen. Diese
Funde wurden von zahlreichen analytischen Forschern bestätigt. Auf Grund von
langjährigen Analysen kasuistisch differenter Patienten, die aber alle an dieser Form
von Potenzstörung litten, habe ich einige Momente gefunden, die mir als Ergänzung
der Freudschen Formulierung erscheinen.
Ich möchte als Beispiel zwei kurze Auszüge aus Krankengeschichten mitteilen, in
denen ich, ohne das Material ausführlicher vorzubringen, das an anderer Stelle zu¬
sammenhängend dargestellt wird, nur die Ergebnisse kurz skizzieren werde.
3 ^
550 L udwig Eidelberg __
Fall I; Ein Masochist. Das Sexualleben des 30jährigen Patienten sah vor Beginn
der Analyse folgendermaßen aus: Er hatte eine langdauernde, anscheinend ziemlich
gute Beziehung zu einer viel älteren Frau, bei der er potent war und die er wegen
ihrer Klugheit, Lebenserfahrung und ihres hohen Gesellschaftsranges schätzte; ander¬
seits hatte er seltenen Verkehr mit schmutzigen Prostituierten und drittens einige
„unglückliche Lieben“ zu schönen und klugen, „gleichwertigen“ Mädchen. Die Be¬
ziehung zu der älteren Dame, die zunächst als glücklich und harmonisch erschien —
ein Eindruck, der durch die sonst zahlreichen Konflikte des Patienten verstärkt
wurde — hatte bei näherer Betrachtung doch einen Haken. Patient hatte während
dieser Beziehung, oft knapp vor oder nach dem Koitus, das Bedürfnis, zu onanieren,
gab auch meistens diesem Wunsch nach. Seine Onanie-Phantasien waren rein maso¬
chistisch, er wurde in ihnen von Frauen, die meistens mit einem Penis ausgestattet
waren, mit Stuhl und Urin beschmiert.
Nachdem nach langjähriger Analyse die „unglücklichen Lieben“ als Folge seines
„masochistischen Mechanismus“^ und nicht der „bösen“ Außenwelt erkannt wurden,
ergab sich für den Patienten die Notwendigkeit, entweder ein Verhältnis mit einem
gleichwertigen Mädchen anzuknüpfen, oder eine andere Begründung für sein Ver¬
sagen zu finden. Der Patient versuchte zuerst, seine „Weltanschauung“ durch die
These, daß jeder Koitus, der nicht zur Zeugung eines Kindes führe, eine Sünde sei,
zu retten. Aus realen Gründen war aber auf lange Sicht keine Möglichkeit zur Auf¬
zucht eines Kindes gegeben. Endlich mußte der Patient durch den Hinweis auf seine
Beziehungen zu den Prostituierten und der älteren Frau zur Einsicht kommen, daß
er den Verkehr mit gleichwertigen Mädchen vermeiden müsse, da ihm auf Grund
der Analyse der wahre Inhalt seiner Sexualwünsche klar geworden sei.
Als im Laufe der Analyse diese verpönten Sexualwünsche als Abwehr des „nega¬
tiven“ Ödipuskomplexes erkannt wurden, als dem Patienten die Bedeutung seines
Mastdarmes als Vagina einzuleuchten begann, konnte er zum ersten Mal in seinem
Leben mit einem gleichwertigen Mädchen eine Beziehung anknüpfen. Es zeigte sich
nun, daß seine Potenz, die noch immer etwas labil war und nicht zu vollem Orgas¬
mus führte, durch jede Verstärkung der Identifizierung mit seiner Freun¬
din gestört wurde. Diese Identifizierung, die bereits eingehend analysiert worden
war, bildete einen der Gründe der Eifersucht des Patienten; sie trat auch während
des sexuellen Verkehres auf. Die Analyse konnte erheben, daß jede Sexualerregung
die Tendenz zur Identifizierung mit seiner Freundin verstärkte, wobei der aus dem
negativen Ödipuskomplex stammende weiblich-passive Triebwunsch in dieser Iden¬
tifizierung seine Befriedigung in maskierter Form erreichte. Unter dem Anschein
einer aktiven männlichen Betätigung im Sexualverkehr konnte die sonst abgewehrte
passiv-homosexuelle Strebung das Ich überrumpeln und befriedigt werden, indem
der Patient während des Koitus vorwiegend die Lustgefühle seiner Freun¬
din genoß. Da dieser Sachverhalt nur das Ich, nicht aber das Über-Ich täuschen
konnte, reagierte er mit Schuldgefühlen. Das Ich verspürte die Schuldgefühle, ohne
ihren wahren Grund zu wissen und verstand sie als Folge des Koitus. Weil dem Pa¬
tienten nur die männliche Rolle bewußt war, gab er ihr alle Schuld und glaubte, daß
i) Näheres in meiner Arbeit „Beiträge zum Studium des Masochismus". Int. Ztschr. f. Psa.,
XX, 1934.
_Erniedrigung des Liebesobjektes 551
jeder Koitus mit Schuldgefühlen verbunden sein müsse, während in Wirklichkeit die
Schuldgefühle nur wegen der weiblichen unbewußten Lustempfindungen ausgelöst
wurden. Um diese Schuldgefühle zu vermeiden, wich der Pat. jedem Koitus mit
einem gleichwertigen Mädchen aus. Beim Koitus mit schmutzigen Prostituierten
traten die Schuldgefühle nicht auf, da er sich mit ihnen nicht identifizierte. Ihr
Schmutz und ihre soziale Stellung schützten ihn gegen die sonst unbewußt ein¬
setzende Identifizierung. Da er selbst seine passiven, aus dem negativen Ödipus¬
komplex stammenden Wünsche abwehrte, war ihm eine Bejahung dieser Wünsche
unfaßbar. Die Frau erschien ihm nicht als ein anderes Wesen, das anderen Gesetzen
gehorcht, sondern als kastrierter, also „analer“ Mann. Die schmutzige Prostituierte
paßte in diesen Rahmen und zeigte dem Patienten die Folgen einer Bejahung der
passiven Hingabe. Die Tatsache, daß anständige Frauen koitieren, erschien ihm
unheimlich.“ Er mußte zwar zugeben, daß seine Mutter koitiert hatte, versuchte aber
die Enttäuschung dadurch abzuschwächen, daß er das Vorhandensein einer Befriedi¬
gung bei ihr negierte.
Wie ist nun seine Beziehung zu der älteren Dame zu verstehen? Weshalb hatte er
dort keine Schuldgefühle? Die Analyse ergab, daß diese Dame nicht, wie man zu¬
nächst glauben würde, Mutter-Imago, sondern vor allem Vater-Imago war. So wie
bei den Prostituierten ihr Schmutz und ihre erniedrigte Stellung ihn vor der
Identifizierung schützten, so bewirken hier der hohe gesellschaftliche Rang, die Lebens¬
erfahrung und Klugheit die Identifizierung. Tatsächlich hatte sich Patient eine
vollständige Identifizierung mit dem Vater nicht gestattet, er erschien ihm vielmehr
als ein mächtiges und weit über ihm stehendes Wesen. Eine Reihe von Eigenschaften,
die sein Vater hatte, bzw. — was noch wichtiger war — haben sollte, fand er bei dieser
Dame wieder. Während er jeder Vaterimago ängstlich aus dem Wege ging oder die
Gefahr einer passiv homosexuellen Beziehung durch den „masochistischen Mechanis¬
mus“ abwehrte, konnte er hier ohne Gefahr seine Passivität genießen, da es letzten
Endes doch nicht der Vater, sondern eine Frau war und der Koitus ihm seine männ¬
liche Rolle demonstrierte. Durch den Koitus mit dieser Frau konnte er den passiv¬
homosexuellen Wunsch negieren und sich sagen: „Es ist nicht wahr, daß ich vom
Vater koitiert werden will, im Gegenteil, ich koitiere den Vater.“ Da aber die mäch¬
tige passive Komponente seiner Libido durch diesen Koitus nicht befriedigt werden
konnte, war Patient zur Onanie gezwungen.
Fall II: Ein ambivalenter Charakter.
Der Patient, der eine längerdauernde Beziehung zu einer etwas älteren berufs¬
tätigen Frau X hatte, kam in Analyse, als er sich bei einer anderen Frau Y, die beson¬
ders hübsch war und mit der er sich gut verstand, als impotent erwies. Er hatte
vorher außer der Beziehung zur Frau X mit einer Reihe von Frauen Koitusversuche,
die nur ausnahmsweise und unvollkommen gelangen, unternommen. Diese Mi߬
erfolge ertrug er ohne großen Ärger und tat nichts, um sie zu beseitigen. Sein Mi߬
erfolg bei Frau Y aber deprimierte ihn tief. In der Analyse zeigte es sich, daß der
Patient die Tendenz hatte, alle Frauen, mit denen er gelegentlich Koitusversuche unter¬
nahm, auf irgend eine Weise zu erniedrigen. Nicht daß er diese Erniedrigung be¬
wußt, etwa in sadistischer Art, durchführte, er begnügte sich mit der vagen Emp-
2) Bezüglich des Problems des Unheimlichen sei auf die Arbeit E. Berglers „Das Un¬
heimliche“ verwiesen. Erschienen im Int.. Journal of Psa., XV, 1934.
552
Ludwig Eidelberg: Zur Erniedrigung des Liebesobjektes
findung, daß die sich ihm hingehende Frau irgendwie minderwertig sei. Einmal war
ihre Intelligenz dürftig, dann wieder hatte der sonst vollkommene weibliche Körper
einen kleinen Fehler, kurz, der Patient fand immer etwas, das er kritisieren konnte.
Da diese Kritiken meistens nach einem Koitus stattfanden, sah es so aus, als ob der
Patient eine Entschuldigung für das Mißlingen des Koitus suchen würde. Bald aber
zeigte es sich, daß in jenen Fällen, in denen Patient einen „Fehler“ der Frau rechtzeitig
entdeckt hatte, der Koitus besser gelang. Schließlich ergab die Analyse, daß der
Patient diese Tendenz auch bei Frau Y hatte, daß ihm aber dort ihre Verwirk¬
lichung nicht gelang. Der Patient hatte nicht die Fähigkeit, seine Wünsche sozusagen
ins Leere zu projizieren, er war psychisch gezwungen, die realen Verhältnisse dabei
mit zu berücksichtigen. Bei den Vorgängerinnen der Frau Y war ihm dies auch
restlos gelungen, während hier das reale Objekt dieser Erniedrigungstendenz nicht
entsprach. Dafür war es für seine, aus dem negativen Ödipuskomplex stammenden
weiblichen Identifizierungswünsche vorzüglich geeignet. An Hand eines reichen Ma¬
terials wurde in der Analyse diese Identifizierung immer wieder bewiesen. Die Er¬
niedrigungstendenz bedeutete den Versuch, diese Identifizierung zu verhindern,
um dann bei ihrem Fehlen den Koitus vollziehen zu können. Das Vorhandensein der
Identifizierung, d. h. das Anschwellen der Wünsche, koitiert zu werden, wo bewußt
lediglich der Wunsch zu koitieren verwirklicht werden sollte, zog die meiste Libido
an sich, verminderte dadurch die Intensität der männlichen Strebung. Gleichzeitig
reagierte das Über-Ich auf den maskierten Versuch, die Befriedigung in der passiven
Rolle zu erreichen, mit Schuldgefühlen. Dem Ich blieb der Vorgang unverständlich,
mit Trauer nahm es zur Kenntnis, daß es gerade bei der geliebten Frau zur Untätig¬
keit verurteilt blieb. Der Ausweg, den der erste Patient beschritt, war hier aus be¬
stimmten Gründen, die ich in der ausführlichen Publikation besprechen werde, nicht
möglich. Die Untersuchung der Beziehung zur Frau X. ergab, daß diese eine ganze
Reihe von Eigenschaften des Vaters hatte. Der Koitus mit ihr konnte stattfinden, da
die Identifizierung mit ihr wegen dieser Eigenschaften für den Patienten unmöglich war.
Gleichzeitig bedeutete dieser gelungene Koitus eine Abwehr und auch Befriedigung
der passiv-homosexuellen Beziehung zum Vater.
Die aus der Identifizierung mit der „kastrierten Mutter“ stammende passive Strö¬
mung konnte in diesem Koitus aber nicht befriedigt werden. Deshalb onanierte
Patient während dieser Beziehung oder versuchte immer wieder mit anderen Frauen
zu koitieren.
I
VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN
Ifi dieser Rubrik erscheinen die Beiträge in der Reihenfolge ihres Einlaufes hei der Redaktion
URWAHRNEHMUNGEN, INSBESONDERE AUGENLEUCHTEN UND LAUT-
VERDEN DES INNEREN
Vortrag von Imre Hermann,
gehalten in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung am 20. Oktober 1933
Unter Urwahrnehmungen möchte ich solche Wahrnehmungen verstehen, welchen
das Kleinkind ausgesetzt ist, welche aber später aus äußeren oder inneren Gründen
ausfallen. Als Beispiel einer Urwahrnehmung erster Art soll die Wahrnehmung des
Geruches, der der Genitalgegend des Erwachsenen entströmt, angeführt werden,
welchem das Kind, das mit seiner Nase in der Genitalhöhe sich bewegt, stets aus¬
gesetzt ist, das größere Kind und der Erwachsene hingegen, eben den Größen¬
verhältnissen zufolge, nicht. Als Beispiel einer Urwahrnehmung zweiter Art soll
die Inversion räumlicher Verhältnisse dienen, infolge welcher das Kleinkind vor¬
gewölbte Dinge gehöhlt sehen kann, das größere Kind und der Er¬
wachsene hingegen die Raumdaten eindeutig aufarbeiten und nur mit Mühe
und Absicht die Inversion erleben können. Die Urszene ist eine verwickelte Menge
von Urwahrnehmungen erster und zweiter Art. Im folgenden sollen zwei Ur¬
wahrnehmungen skizziert werden, deren Folgen sich in den Widerständen während'
einer Psychoanalyse ertappen lassen^ und die beide mit verschiedenen Angst¬
zuständen verwoben werden können. Gegen das Auftauchen beider wird im
reiferen Seelenleben ein ständiger Kampf geführt.
I. Augenleuchten. Der die Wirkung des plötzlichen Aufleuchtens in den
Augen des Gegenüberstehenden erfahren will, muß es selbst erfahren wollen. Leicht
gelingt dies bei künstlicher Beleuchtung in den Augen des Kleinkindes, wo bei ge¬
wisser Beleuchtungsrichtung und nicht auf den Beobachter akkomodierten Augen
an der Stelle der schwarzen Pupille ein rötliches Licht erscheint. Die desorientierende
Wirkung dieser Wahrnehmung läßt es verstehen, daß der Erwachsene Situationen,
in welchen er dieser Wahrnehmung ausgesetzt wäre, entschlüpft, und die ganz
flüchtige Errötung der Pupille des Gegenüberstehenden nicht zu seinem Bewußt¬
sein gelangen läßt. Wir können die Situation, in welcher das Kleinkind die Augen des
Gegenüberstehenden auf leuchten sieht, angeben: Das Kind sitzt auf dem Schoß eines
Erwachsenen (Mutter), das Licht kommt von seiner Rückseite; in gewisser Ent¬
fernung befindet sich ein anderer Erwachsener, Gesicht gegen das Licht und dem
ersten Erwachsenen (Mutter) zugekehrt, auf diesen akkomodierend. Direkte Er¬
innerung dieses Erlebnisses fand ich noch keine, hingegen mehrere Deckerinnerungen.
( 2 . B. eine Zigeuner-Amme, mit feurigen, schwefelartige Flammen werfenden Augen.
— Grün leuchtende Augen der Lämmer, der Vater aber mit blitzenden Augen
und mit feuerspeiendem Munde im wütenden Zorn, — Rot leuchtende, Furcht und
i) Hermann, Die Psychoanalyse als Methode. Int. Psa.-Verl. 1934, Abschnitt: Wider¬
stände.
554
Vorläufige Mitteilungen
Abscheu auslösende Augen der Katzen und blutunterlaufene Augen und erröteter
Kopf des zürnenden Vaters.)
Kulturhistorisch ist die Bekanntschaft des Menschen mit dieser Erscheinung leicht
nachzuweisen.^ Die ganze wissenschaftliche Optik der Antike baut sich auf die
Annahme des Feuer ausströmenden Auges auf. Noch Goethes Farbenlehre ist eine
Regression zu dieser. („Solche Erscheinungen sind desto angenehmer überraschend,
als sie gerade, wenn wir unser Auge bewußtlos hingeben, am lebhaftesten und
schönsten sich melden“ — sagt er in den Nachträgen zur Farbenlehre, auf Er¬
scheinungen hinweisend, welche als Deckwahrnehmung dieser Urwahrnehmung
gelten können.) Die Mythen über die Fierkunft des Feuers — zusammengestellt
von Frazer — sprechen eher für als gegen die Annahme, der primitive
Mensch hatte das „Feuer“: Licht, Röte, Auf blitzen der Augen gekannt und
gewertet. (Beim Koitus ist vom „Feuer“ höchstens die Warme, beim Reiben der
Hände Wärme und Geruch wahrnehmbar.)
Wir wissen, daß die Furcht vor dem Feuer bei den Säugetieren, so auch beim
Affen instinktmäßig ist. Diese Furcht hat ihren Teil an der Schamröte, welche
durch die entzündenden Augen des Gegenüberstehenden, dessen Blick man in der
Schamreaktion meidet, hervorgerufen wird. Tierbändiger sprechen davon, daß sie
in die Augen des Tigers schauen müssen, um sofort das Aufblitzen des grünen
Lichtes, das Anzeichen eines Wutanfalles, bemerken zu können.^ Die Identifizierung
des väterlichen Auges mit der Sonne (Abraham, Ferenczi) wird durch die
Kenntnis dieser Urwahrnehmung nahegebracht. Die Ehrfurcht vor dem Kinde —
in Analysen oft sehr auffallend {maxima dehetur puero reverentia) — kann auch
darin eine Wurzel haben, daß in den Augen des Kindes aus physiologisch-opti¬
schen Gründen das Aufleuchten eher bemerkt werden kann als in denen des Er¬
wachsenen. Entscheidend im Erlebnis mag auch der Umstand sein, daß gewisse
Affekte (Zorn, Angst) die Pupille erweitern und dadurch die Erscheinung auf¬
fallender machen.
Manche Kindheitserlebnisse werden viel klarer und verständlicher, wenn wir
diese Urwahrnehmung als Erlebnis einschalten.
2. Das Lautwerden des Inneren. Bekannte Furchtmotive lauten: im Schlaf
werde ich alles ausplappern, werde mich verraten; ich werde wahnsinnig und werde
dann fortwährend schreien müssen. Die Furcht vor dem Aussprechen und vor dem
Schreien ist in Träumen sehr exakt zu beobachten. Die manifesten Träume ent¬
halten überhaupt viel mehr Sprechstoff als gemeinhin angenommen oder erinnert
wird, die Traumzensur greift am leichtesten eben die Rede im Traume an. Eine
Art der Abwehr des inneren Lautwerdens im Traume ist die Anklammerung
an gehörte oder gelesene Worte. Doch bei weiterer Analyse kann — wie ich dies
bei vielen Träumen fand — diese Regel der Traumarbeit (Freud) aufgelöst und
zum eigentlich befürchteten, dem Ich angehörenden Inhalt des Lautwerdens vor¬
gedrungen werden. Auch bei gewisser Übung und Entfernung der diesbezüglichen
Widerstände wird aus dem manifesten Traum viel mehr Rede erinnert.
Woher kommt diese Furcht vor dem Lautwerden des Inneren? (Die bewußte
2) Vgl. auch Seligmann, Der böse Blick und Verwandtes. 1910.
3) Bei Tieren mit „Tapetum" liegt allerdings physiologisch ein anderer Sachverhalt vor
als beim Menschen.
Vorläufige Mitteilungen
555
oberflächliche Furcht vor Strafe ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung.)
Erstens bezeugt eine Erfahrung von früher Kindheit an, daß Gefahr und Krank¬
heit mit dem Lautwerden innerer Organ wie Herzklopfen, lautem Atmen, lauten Darm¬
bewegungen, Klopfen im Schädel, Ohrensausen als Einleitung eines Ohnmachts¬
anfalls, vergesellschaftet sind. Zweitens — und hier liegt die tiefere Urwahrnehmung
— lassen äußere Störungsreize durch den Mo röschen Reflex, welcher eine schnelle
Anspannung der neben dem Kopfe liegenden Arme verursacht, ein inneres Geräusch
laut werden, welches wahrscheinlich von der Anspannung des Trommelfells stammt.
Auch diese Urwahrnehmung ist dem Erwachsenen bei bewußt-geübter Beobachtung
zugänglich. Der Mo rösche Reflex, also die erste organisierte Angstreaktion —
mit der Bestrebung zur Anklammerung an die Mutter — geht mit einem inneren
Weckruf einher. Von da an bedeutet inneres Laut wer den Angst, Hilflosigkeit und
Gefahr. Es scheint besser zu sein, in visuellen Bildern zu träumen, auch wenn sie
angsteinflößende Bilder sind, als in Lautbildern, denn erstere sind stets der Außen¬
welt zugewiesen und daher besteht prinzipiell eine Fluchtmöglichkeit, wohingegen
durch das innere Lautwerden das Ich in die Gefahrzone hineingerissen wird, ohne
prinzipiell einer Fluchtmöglichkeit versichert zu sein, da es sich selbst nie ent¬
fliehen kann. Dem entspräche die wahrnehmungspsychologische Tatsache, daß das
Auge automatisch geschlossen werden kann, das Ohr hingegen nicht.
ANGSTHYSTERIE, ANGSTNEUROSE UND RHEUMATISMUS. Ein kriti¬
scher Beitrag zu Freuds „Angstneurose“.
Vortrag von Robert Fließ,
gehalten in der New York Psychoanalytic Society am 24. April 1934.
Wenn man Freuds klassische Arbeit aus dem Jahre 1895 „Über die Berechti¬
gung, von der Neurasthenie einen Symptomenkomplex als , Angstneu rose* abzu¬
trennen“ unter besonderer Berücksichtigung der angeführten Symptome liest, so sind
manche von diesen heute zu streichen, weil sie nach unserem jetzigen Wissen nicht
aktual-, sondern psychoneurotisch bedingt sind und — wie z. B. die folie du
doute — der Zwangsneurose oder — wie z. B. die Agoraphobie — der (Angst-) Hysterie
angehören. Von den in Freuds Aufzählung erwähnten Parästhesien wird ferner
der Schmerz, insbesondere derjenige, welcher nach Freud „durch eine Art Kon¬
version ... auf die rheumatischen Muskeln“ zustande kommt, untersucht. Er wird
als ein echter rheumatischer Schmerz, d. h. als ein Bewegungsschmerz, erkannt,
welcher auftritt, sobald (organisch) rheumatisch veränderte Muskeln (willkürlich oder
unwillkürlich) innerviert werden (s. unten!). Der Vortragende anerkennt die
Existenz einer selbständigen nosologischen Einheit „Angstneurose“, deren Symptome
dem größeren Teil der von Freud damals auf gestellten entsprechen und die ätiolo¬
gisch als Sexualstoffvergiftung aufzufassen ist. Das Symptomenverzeichnis Freuds
enthält mithin Symptome zweier körperlicher Erkrankungen: Angstneurose und
Rheumatismus, und zweier psychischer: Zwangsneurose und Angsthysterie.
Würde ein klinischer Fall (von den zwangsneurotischen abgesehen) sämtliche von
Freud aufgeführten Symptome aufweisen, so müßte man ihm statt der einen
Diagnose „Angstneurose“ eigentHch drei Diagnosen zuerkennen: Angsthysterie,
556
Vorläufige Mitteilungen
Angstneurose und Rheumatismus. Diese drei Diagnosen setzen aber drei ver¬
schiedene Ätiologien voraus und erfordern demgemäß drei verschiedene
spezifische Therapien.
Der Vortragende schildert nun einen solchen Fall (Ehefrau in der Menopause),
Er vergleicht zunächst das recht schwere Zustandsbild dieser Patientin Punkt für
Punkt mit den von Freud geschilderten Erscheinungen, wobei sich zeigt, daß Ver¬
treter aus jeder der 12 Erscheinungsgruppen vorhanden sind. Sodann berichtet er über
die fraktionierte Behandlung der Kranken. Eine eineinhalbjährige Analyse brachte
die ausgebreitete angsthysterische Symptomatik zum praktisch vollständigen
Schwinden: die durch schwere agoraphobische, claustrophobische und zahlreiche
andere Ängste völlig lebensunfähige Kranke erlangte normale Leistungsfähigkeit
wieder. Dabei wurden die von starken „neuralgisch^-rbeumatischen Schmerzen
begleiteten Angstanfälle zwar gemildert, blieben aber bestehen. Eine etwa ein halbes
Jahr nach Beendigung der Analyse begonnene mehrmonatige antirheumatische
Behandlung (sowohl der Muskulatur als auch der „fokalen*^ Quellen!) machte die
angstneurotischen Anfälle — deren Hauptsymptom Schweißausbrüche mit voran¬
gehendem Kältegefühl und einem Zwange, „sich steif zu machen“ (s. oben!), waren_
nunmehr vollständig schmerzfrei. Beseitigen ließen sich aber die Anfälle selber
nicht, denn die hiefür spezifische Therapie — die Ermöglichung einer adäquaten
Sexualbetätigung — war aus äußeren Gründen nicht zu erreichen.
In diesem Verlauf sieht der Vortragende die Bestätigung der oben vorgetragenen
(fast durchwegs Freudschen) Auffassungen durch eine Art therapeutischen
Experimentes.
REFERATE
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur
Psychotherapeutische Praxis. Vierteljahrsschrift für praktische ärztliche Psychotherapie.
Herausgeber: Dr. Wilhelm St ekel. Schriftleitung: Dr. Ernst Bien, Wien. Sonderheft:
Organneurosen.
Wilhelm Stekel gibt eine Vierteljahrsschrift für ärztliche Psychotherapie heraus, die den
Namen „Psychotherapeutische Praxis“ führt. Die Zeitschrift wendet sich nach dem Vorwort
Stekels an alle Psychotherapeuten, Psychiater und Neurologen, „um ihnen das Gemeinsame
und therapeutisch Wirksame aller Schulen zu übermitteln“. Das im März erschienene erste
Heft ist dem Spezialthema Organneurosen gewidmet.
Der Herausgeber stellt einen Artikel „Die Autonomie der Organe“ an die Spitze. Er
schildert darin eine Reihe konversionshysterischer Symptome und Hemmungen der Ich-
funktion von Organen. Er findet, daß ein solches Selbständigwerden des Organs fast immer
der Verhinderung, bisweilen aber auch der Darstellung verpönter libidinöser Wünsche dient;
er spricht von einem „Zerfall in Teilseelen“, die ein divergierendes Funktionieren der ein¬
zelnen Organe zur Folge habe. Dem Ausdruck „Teilseele“ entspricht Stekels Forderung,
die Psychoanalyse müsse in solchen Fällen zur „Psychosynthese“ werden. — Die Analyse der
einzelnen konversionshysterischen Symptome ist oberflächlich und durchwegs nur bis zu den
aktuellen Wurzeln des innern Konflikts geführt.
Max Löwy (Prag-Marienbad) spricht sich im Aufsatz: „Über Organneurosen und zu ihrer
Behandlung, speziell zur psychotherapeutischen“ für eine Mischung somatischer und psychi¬
scher Therapieprinzipien aus. Seine psychotherapeutischen Maßnahmen sind dabei weitgehend —
und von ihm selbst ausgesprochen — psychoanalytischer Herkunft, wobei er sich in erster Linie
zu Freud bekennt. Besonders sein Verständnis für die „Organsprache“ und seine einleuch¬
tenden Übersetzungen in den sprachlichen Ausdruck entsprechender Affektzustände sind be¬
achtenswert. Psychotherapeut und neurologisch-psychiatrisches Ambulatorium müssen ihm für
manche Anregungen und Anweisungen dankbar sein.
Arthur Kronfeld (Berlin) widmet den „Oesophagusneurosen“ einen Artikel. Er unter¬
scheidet zwei Formen, die sensibel-hyperalgische und die reflektorisch-spastische, wobei er
annimmt, daß die sensibel-hyperalgische stets die Primärform bildet. Schwere Oesophagus¬
neurosen führen zu lebensbedrohlichen Zuständen; auch leichte Formen aber fallen infolge
der akuten Beschwernisse in das Bereich der Kontraindikationop der psychoanalytischen
Therapie. Kronfeld hält zunächst eine gewalttätige Zerbrechung des Symptoms für
indiziert, die durch medikamentöse Therapie, durch Suggestion, durch mehrtägigen Dauer¬
schlaf und schließlich als letztes Mittel durch die Starcksche Dehnung des Oesophagus
bewerkstelligt werden kann. Die Ausführung dieser Therapien mit Ausnahme der Suggestions¬
therapie habe der Psychotherapeut zu vermeiden, aber zu überwachen und anzuordnen. Nach
der Zerbrechung des Symptoms beginne die psychotherapeutische Arbeit, die sich für Kron¬
feld im Sinne einer therapeutischen Analyse vollzieht. Als psychischen Inhalt des Symptoms
findet Kronfeld die Abwehr der Einverleibung. Im Krampf des Oesophagus drücke
sich ein Ambivalenzkampf zwischen Einverleibungstendenz und Überich-Abwehr aus. Die
Oesophagusneurose stehe zwischen Ekel, der der primären Abwehr der Einverleibung gewid¬
met sei, und Erbrechen, das die Rückgängigmachung der Einverleibung beabsichtige. Die Re¬
gression sei dabei eine auf verschiedene Stufen der frühkindlichen Libidoentwicklung, beson¬
ders auf die orale. Bisweilen, und zwar beim weiblichen Geschlecht, spielen auch genitale
Tendenzen eine Rolle im Symptom. In diesen Ausführungen steht Kronfeld auf dem
558
Referate
Boden der klassischen Analyse. Schließlich vergleicht Kronfeld den am Oesophaguskrampf
Erkrankten mit dem Spieler, der Kranke „versuche*' sein „Glück", er wolle im Grunde ver¬
lieren, es finde eine masochistische Unterwerfung unter das „Fatum" der Überich-Struktur
statt. Die „Strafe" sei der Tod, und zwar der Selbstmord — Gedanken, die uns nicht ganz
bündig scheinen, besonders da sie beweisenden und erläuternden Materials aus Analysen ent¬
behren.
In einem Artikel „Über Sexualstörungen" versucht Oswald Schwarz (Wien) zwischen
Psychoanalyse und Individualpsychologie die Brücke zu schlagen, ja er findet, daß beide Me¬
thoden in ihren Grundlagen verwandt seien, different geworden erst an den „weltanschau¬
lichen Grundanschauungen über das Wesen der menschlichen Existenz", und somit daran,
worin jede den Sinn des Lebens sieht, den das Kranksein verfehlt. Beide Lehren sehen das
zentrale Problem der menschlichen Existenz in der gleichen Forderung, nämlich in der
Stellung des einzelnen zu einem übergeordneten Ganzen. Freud sehe die Verfehlung in
einer mangelhaften Lösung aus den präödipalen und ödipalen Fixierungen, Adler im Mangel
der Wiedereinfügung in frei gewollte Mitgliedschaft, deren Vorbild die Familie mit ihren
Fixierungen sei. Völlig gleich seien beide Lehren in ihrer dialektischen Struktur. Für die
Störungen des Mannes genügt nach Schwarz’ Ansicht die individualpsychologische Methode
im allgemeinen. Man müsse sich aber der Führung des Patienten überlassen und seinem oft
symbolisch angedeuteten Verlangen nach Vertiefung des Verfahrens zur Analyse nachgehen.
O. Binnemann (Ballenstedt a. H.) erzählt in einem Artikel „Über psychogene Haut¬
veränderungen" über hypnotische Kuren und Hervorrufungen von Hauterkrankungen, ohne
tiefer auf die Genese und auf das Konversionsphänomen einzugehen.
Eugen Härnik (Budapest) tritt in einem Artikel, betitelt „Zur kombinierten Behandlung
der Organneurosen" dafür ein, daß in Fällen schwerer Organneurosen (Asthma, Kolitis) der
organische Therapeut mit dem Analytiker gemeinsam und in gegenseitigem Einverständnis
die therapeutische Aufgabe ausführe. R, Sterba (Wien)
Aus der psychoanalytischen Literatur
CORIAT, iSADOR H.: The Dynamics of Stammering. Psa. Quarterly, II, 2.
Die bekannten, verdienstvollen Forschungen C.’s über die spezielle Pathologie des
Stotterns werden hier noch einmal zusammengefaßt und ergänzt. Er legt dabei besonderes
Gewicht darauf, daß im Stottern ursprüngliche orale Verbaltungsweisen unverändert (also
nicht etwa ins Gegenteil verkehrt oder sonstwie modifiziert) fortbestehen oder wieder¬
kehren, daß also die Mundpraktiken der Stotterer identisch sind mit den autoerotischen
Mundspielen der kleinen Kinder. Man könne die prägenitalen Elemente ohne Rekon¬
struktion durch direkte Beobachtung des aktuellen Verhaltens der Patienten feststellen.
Das soll nicht etwa heißen, daß beim Stottern keine Regression vorliege. Daß Stotterer
vor Konflikten aus dem Bereiche des genitalen Ödipuskomplexes in die Wiedererweckung
älterer Lustformen ausweichen, besonders exhibitionistischer, analer, in erster Linie aber
oraler (saugender und beißender), wird ausführlich und mit Beispielen dargelegt; aber diese
alten Lustformen kommen als solche wieder. Es handle sich nicht, wie Ref. gesagt habe,
um eine „prägenitale Konversionsneurose“, da keine Konversion vorliege.
Die von C. beschriebenen Tatsachen sind zweifellos richtig, nur ihre Interpretation ist
problematisch. Daß in neurotischem Verhalten altes autoerotisches Verhalten enthalten
sei, gilt auch für jede Konversion, z. B. für die Hysterie, und daß dieses alte autorerotische
Verhalten völlig unverändert sei — das kann nicht stimmen, weil der Stotterer ja bewußt
nicht perverse Lust genießt, sondern unter seinem Symptom leidet. Auch wäre nicht
einzusehen, wieso, wenn das Beißen während des Stotterns nur Wiederkehr alter Beißlust
Referate
559
wäre, . sagen önnte, es sei dies regelmäßig ein „Selbstbestrafungsmechanismus“, oder
S^ott^rers „Reaktionsbildungen“ gegen kannibalistische Tendenzen
se en onnte. a le ursprünglichen Tendenzen im Unbewußten wirklich unverändert
tortbestehen — charakterisiert nicht das Stottern, sondern die Neurose überhaupt,
le dadurch zustande kommt, daß im Unbewußten unverändert erhaltene infantile Sexuali-
tat trotz der Verdrängung weiter wirkt. q Fenichel (Oslo)
MIDDLEMORE, MERELL: The Treatment of Bewitchment in a Puritan Community. Int.
Journal of Psa., XV, i.
In Salem, Massachusetts, brach im Jahre 1692 eine große Hexenepidemie aus. Mädchen
jm Alter zwischen 10 und 26 Jahren erkrankten plötzlich neurotisch; manche begannen
zu toben, andere wurden depressiv und litten an heftigen Schmerzen. Sie gaben dann
an, von bestimmten Personen behext zu sein, und viele der also Beschuldigten wurden
hingerichtet.
Der Autor macht uns nun mit den Methoden bekannt, die zur Heilung der Behexten
verwendet wurden. Da es sich um eine puritanische Gemeinde handelte, waren die Me¬
thoden der katholischen Exorzismen ausgeschlossen. Trotzdem wird der Analytiker immer
wieder verblüfft durch die weitgehende Übereinstimmung der hier tatsächlich vorgenom¬
menen Handlungen mit den Phantasien, die er im Unbewußten der Neurotiker und Kinder
nachweist, jener prägenitalen Denkwelt der Introjektion und Projektion. Alle Maßnahmen
laufen auf die Annahme hinaus, daß durch die Behexung ein böser Stoff in den Körper der
Behexten hineingeraten sei, dem unbewußt Samen-, Kot- oder Kindbedeutung zukommt,
und der nun wieder entfernt werden oder durch einen „guten Stoff" neutralisiert werden
müsse. Jenes geschieht hauptsächlich durch Übertragung auf ein Tier oder auf die Hexe
selbst — die gleichzeitig durch dieses „Berührungs-Ordal“ erkannt wird —, dieses meist durch
stofflich gedachte göttliche Gnade, mit der die Kranke sich identifiziert; oder aber auch
durch neuerliche Aufnahme von „Hexenstoffen" aller Art, wobei das Ineinander von „gut"
und „böse", „göttlich" und „teuflisch" charakteristisch ist. Endlich haben manche Me¬
thoden ganz den Charakter des magischen „Ungeschehenmachens". Bei allen Zeremonien
ist die Sexualsymbolik überaus deutlich. Oft spielen auch bloße Worte dank der „All-
macht der Worte“ die Rolle von Stoffen.
Merkwürdig ist, daß die Kranken deutlich nur auf Heilungszeremonien günstig reagierten,
die ihnen ein Stück Aktivität, also eine männliche Identifizierung, ermöglichten, während sie
Maßnahmen, die den katholischen ähnlicher waren, und bei denen sie sich feminin zu ver¬
halten hatten, ablehnten. O. Fenichel (Oslo).
OBERNDORF, C. P.: Folie ä deux. Int. Journal of Psa., XV, i.
Während zur Erklärung des Phänomens der Folie ä deux von nichtanalytischen Psy¬
chiatern hauptsächlich das konstitutionelle Moment herangezogen wird, liegt es für den
Psychoanalytiker näher, an die Wirkung der Identifizierung zu denken. Das Schema, mit
dem der Analytiker an die Untersuchung solcher Phänomene herangehen soll — meint
Oberndorf deshalb mit Recht — sei jener von Freud zur Illustrierung der hysterischen
Identifizierung konstruierte Fall, daß in einem Mädchenpensionat eine hysterische Epidemie
ausbreche, nachdem eines der Mädchen auf einen Liebesbrief hin einen hysterischen Anfall
bekommen hat — nur daß die „psychische Infektion“ sich hier auf zwei Menschen be¬
schränkt. Die Übergänge zur ,,Folie ä deux‘* seien fließend, denn schließlich gebe es ja
bei jeder Neurose „unbewußte Gegenspieler“ (neurotisches Verhalten der Eltern als Ursache
von Kinderneurosen). Der Autor analysierte ein Ehepaar, das in einer schweren ge¬
meinsamen Neurose lebte. Es stellte sich heraus, daß die Neurose jedes der beiden Partner,
wie selbstverständlich, durch seine Kindheitserlebnisse determiniert war, und daß trotzdem
die beiden Neurosen ineinander spielten, so daß sie sich zu einer größern Einheit ergänzten. Die
560
Referate
Kindheitsentwicklung der beiden war recht verschieden gewesen, aber schließlich bei beiden
in eine heterosexuelle Identifizierung ausgelaufen, in eine feminine (transvestitische) beim
Manne, in eine maskuline bei der Frau. Diese beiden Identifizierungen ergänzten sich nun
in einer merkwürdigen Ehe, in der die beiden sich von der ganzen Welt isolierten, ihren
Symptomen und einer sonderbaren Perversion lebten. Die vorehelichen neurotischen
Symptome beider änderten sich während dieses Zusammenlebens in unbewußter Anpassung
aneinander. Man konnte schließlich nicht sagen, wer von beiden der „Induzierende" und
wer der „Induzierte“ war. — Praktisch ergibt sich aus dem relativ guten Erfolg der
Analysen, daß man bei einer Folie ä deux beide Individuen einzeln behandeln muß. Bei
psychotischen Fällen müsse man die Partner trennen; könne man aber bei neurotischen
Formen beide gleichzeitig behandeln, so sei der Umstand, daß sie auch weiterhin mit¬
einander leben können, ohne zu erkranken, ein gutes Kriterium für den erreichten Erfolg.
O. Fenichel (Oslo)
SARKAR, SARASI LAL: The Psychology of Taking Prasad. Psa. Quarterly, II, 2.
„Prasad“ zu erhalten — das heißt: das, was jemand anderer. Höherer von seinem Essen
übrig gelassen hat, aufessen zu dürfen. Dies spielt in Mystik und Folklore Indiens eine
große Rolle. Man wird nach dem alten magischen Satz „man ist, was man ißt“ dem gleich,
dessen „Prasad“ man erhält. — Eine Analyse S.’s zeigte, daß von den Eltern
„Prasad“ zu erhalten, im Unbewußten einer Introjektion der Eltern gleichgesetzt war._
Die Geliebte des Patienten, eine Prostituierte, die ihn aushielt und an die er auf Grund
seines Ödipuskomplexes gegen seinen Willen gebunden war, gab ihm eines Tages
ein Stück von ihrem Essen in den Mund. Das rief bei ihm einen Gefühlssturm hervor; er
trennte sich von ihr und fing ein ganz neues Leben an. Die Analyse ergab, daß es ihn an
eine in der Kindheit erlebte Zeremonie erinnert hatte, bei der einer schwangeren Frau
vielleicht seiner Mutter — Essen gereicht wurde, wovon sie einem Knaben etwas abgab.
Der Patient hatte sich damals mit seiner Mutter und jetzt durch das „Prasad“ mit seiner
Geliebten identifiziert. Diese Identifizierung schaffte die Bedingungen, die es ihm ermög¬
lichten, sich von ihr zu trennen. O. Fenichel (Oslo)
WEISS, EDOARDO: A Recovery from the Fear of Blushing. Psa. Quarterly, II, 2.
Eine ausführlich und eine mehr kursorisch mitgeteilte Analyse zeigen die Wirksamkeit
der Beobachtung eines weiblichen Genitales für die Entstehung der Kastrationsangst bei
Knaben. Die Errötungsangst des einen Patienten ging darauf zurück, daß er nach dieser
Entdeckung sagen hörte, er sei „wie ein Mädchen“; er meinte, wenn man sehen würde, daß
er trotzdem noch einen Penis besitze, werde man ihn abschneiden; deshalb mußte er seine
exhibitionistischen Neigungen in pathogener Weise verdrängen. — Weiß betont aus diesem
Anlaß neuerdings die Notwendigkeit, in der Analyse die infantile Amnesie zu beheben,
was durch keine intellektuelle Einsicht in Triebzusammenhänge ersetzt werden könne.
O. Fenichel (Oslo)
Hans Bchn^rEschcnburg f
Die Familie von Hans Behn-Eschenburg stammt aus Lübeck. Der Großvater hat
in den Achtundvierzigerjahren als politischer Flüchtling auswandern müssen. Er fand
an der Hochschule in Zürich als Professor der englischen Sprache ein neues Wirkungs¬
feld. Der Vater wurde Ingenieur. Ihm verdankt die Technik außerordentlich wert¬
volle Erfindungen. In Örlikon, einer Vorstadt Zürichs, wurde am 23. Januar 1893
Hans Behn-Eschenburg geboren. Hier verlebte er seine ersten Kinderjahre. Sein
medizinisches Wissen und Können erwarb er sich an der Universität in Zürich. 1919
schloß er seine Universitätsstudien ab und heiratete kurz darauf. Schon früh von
der Psychiatrie angezogen, ging der junge Arzt in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau.
Rorschach war dort Oberarzt; in ihm fand Behn-Eschenburg einen hervorragenden
Lehrer, der ihn auch auf die Psychoanalyse Freuds hinwies und ihm die ersten
Anfangsgründe unserer Wissenschaft beibrachte. Nach seiner Assistentenzeit in
Herisau arbeitete Hans Behn-Eschenburg am Kinderspital und an der neurologischen
Poliklinik in Zürich. Gleichzeitig suchte er sich hier psychoanalytisch auszubilden
und ging dann für ein Jahr an das Psychoanalytische Institut Berlin, wo er die
reichsten Anregungen fand, besonders in seiner Kontrollanalyse bei Simmel. 1924
begann er in Zürich die psychoanalytische Praxis. Neben der ärztlichen Tätigkeit,
beschäftigte er sich intensiv mit den Problemen der Berufsberatung, den Fragen der
Vormundschaftsbehörden und der psychoanalytischen Pädagogik. Genau 10 Jahre
eines selbständigen Schaffens waren ihm beschieden, und er durfte die Genugtuung
haben, daß sein Können immer höhere Anerkennung fand, und daß immer mehr
kranke Menschen um seine Hilfe baten. Diesen Sommer organisierte er noch mit
größter Umsicht und Gewissenhaftigkeit den psychoanalytischen Kongreß in Luzern.
Aber am ersten Tag dieses Kongresses warf ihn wie ein Blitzstrahl aus heiterem
Himmel eine schwere Krankheit nieder, und dann starb er nach einem langen Monat
qualvollen Leidens.
Mag der äußere Lebensweg, den Hans Behn-Eschenburg gegangen war, einfach
und unbeschwert erscheinen, für ihn hatte doch jeder Schritt ein zähes Ringen be¬
deutet. Ringsum im Lebenskreis seiner frühesten Kindheit waren herbe Pflicht¬
erfüllung und unnachgiebiges Schaffen oberstes Gesetz gewesen; und dieser Ordnung
hatte er sich unterworfen, bedingungslos. Doch war er so geartet, daß ihn das
harte Gesetz seiner Väter zerbrach; unscheinbar war sein Körper und wenig kräftig.
Von stiller Schlichtheit war sein Wesen und ohne jedes Pathos, aber voll empfind¬
samer Liebe und Wärme.
Und zähe und zur äußersten Anstrengung entschlossen wie er seinen äußeren Weg
ging, hat er auch an sich, nach innen gearbeitet. Mit unerbittlicher Ehrlichkeit war
er in die Tiefen seines eigenen Wesens vorgedrungen, so tief, daß wir, die wir nahe
um ihn waren, schon lange ein Verstehen ahnten, welches das Leben selbst über¬
flüssig machen werde«
Das unentwegte Schaffen an sich selbst hat ihn zu einer reifen Menschlichkeit ge¬
führt. Man spürte die Ruhe und Güte eines überlegenen Menschen und von selbst
verstummten Zank und Eifern. Seine sachlichen, wissenschaftlichen Arbeiten sind,
klar und einfach, ohne jedes Wichtigtun, aber durchdacht und ehrlich. Ob er über
562
Hans Behn-Eschenburg •}•
klinische Probleme schrieb, über „Alkoholismus“ (1932), oder die „Vorgeschichte des
Ödipuskomplexes“ (1934), ob er sich mit künstlerischen Fragen beschäftigte, der
„Wirkung einer Analyse auf das Schaffen des Malers“ (1928), dem „Parallelismus
Ferdinand Hodlers“ (1931), oder ob er erkenntnistheoretisch-philosophische Themen
behandelte wie in seinem Vortrag „Über das Verhältnis von Raum und Zeit zum
unbewußten Seelenleben“, immer schöpfte er unmittelbar aus wirkUchem Erleben und
Erlebtem und brachte dadurch auch die wissenschaftlichen Fragen und Antworten
uns menschlich nahe.
Wie ein tiefes Vermächtnis liegt seine Arbeit über die Realitätsanpassung vor
uns, die er noch selbst uns in Luzern hätte vortragen sollen. Unerschrocken und
strenge fordert er darin von uns, die wir um den reichen Erkenntnisschatz der
Psychoanalyse wissen und ihn andern weitergeben wollen, daß vor allem wir in uns
selbst Ernst mit unseren Einsichten machen sollen, nicht es bewenden lassen beim
Verstandeswissen und -reden, sondern tiefer dringen müssen bis zum ureigensten Er¬
leben. Dann, aber nur dann, wenn die Analytiker selbst zu reifster Menschlichkeit
durchdrungen sind —- so sagte Hans Behn-Eschenburg noch kurz vor seinem Tode
zu mir — brauche es uns um die Zukunft der Psychoanalyse nicht bange zu sein.
Medard Boß, Knonau-Zürich
Inhaltsverzeichnis
des XX. Bandes (1934)
Seite
Franz A lexander: Über das Verhältnis von Struktur- zu Triebkonflikten 33
Anny Angel: Einige Bemerkungen über den Optimismus. 191
Michael Bali nt: Charakteranalyse und Neubeginn. 34
Moses Barinhaum: Zum Problem des psychophysischen Zusammen¬
hangs mit besonderer Berücksichtigung der Dermatologie. 241
Hans Behn-Eschenburg: Beiträge zur Vorgeschichte des Ödipus¬
komplexes . 200
Edmund Bergler: Über einige noch nicht beschriebene Spezialformen
der Ejakulationsstörung. 252
Helene Deutsch: Über einen Typus der Pseudoaffektivität („Als ob“) . 323
Karl Dreyfuß: Der Fall Wieland. Ein Beitrag zur Psychoanalyse der
traumatischen Epilepsie und zur Psychologie der narzißtischen Neurosen 210
Ludwig Eidelherg: Beiträge zum Studium des Masochismus . 330
Otto Fenichel: Weiteres zur präödipalen Phase der Mädchen. 151
— Über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung. 476
Sdndor Ferenczi (Nachlaß): Gedanken über das Trauma. 5
Imre Hermann: Einführung zu Ferenczis Gedanken über das Trauma 12
Eduard Hitschmann: Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes 459
>< Hellmuth Kaiser: Probleme der Technik. 490
Werner Kemper: Zur Genese der genitalen Erogeneität und des Orgasmus 287
Reni Laforgue: Der Widerstand im Endstadium der Analyse. 354
Bertram D. Lew in: Analyse und Struktur einer passageren Hypomanie 74
Barbara Low: Die psychischen Entschädigungen des Analytikers . 523
Heinrich Meng: Das Problem der Organpsychose . 439
^ Sandor Rado: Psychoanalyse der Pharmakothymie (Rauschgiftsucht)
I. Das klinische Bild . 16
Lillian Rotter: Zur Psychologie der weiblichen Sexualität. 367
Maxim Steiner:^2iS hat der Sexualarzt der Psychoanalyse zu verdanken? 85
Richard Sterba: Das Schicksal des Ichs im therapeutischen Verfahren . 66
Fritz Wittels: Mutterschaft und Bisexualität. 313
Edoardo Weiss: Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen
Anfall und zum Trauma... 419
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XX/4 38
Inhaltsverzeichnis
KLEINE BEITRÄGE UND KASUISTIK
H. Christof fei: Stuhldrang und Müdigkeit ..
Ludwig Eideiberg: Zur Erniedrigung des Liebesobjektes.
Else Fuchs: Zur Psychoanalyse des Stotterns.
Imre Hermann: Die Verwendung des Begriffes „aktiv“ in der Defini¬
tion der Männlichkeit.
Yrfö Kulovesi:'Em Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls
Max Loewy: Zur Bedeutung des Zahleneinfalls in der Analyse.
P. Schilder u. D. Wechsler: Was weiß das Kind vom Körperinneren?
Emil Simonson: Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen
Konversionshysterie durch Katharsis .
Seite
97
H 9
375
261
542
100
93
531
VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN
Edmund Bergler: Über obszöne Worte .
E. Bergler und L. Eidelberg: Der Mechanismus der Depersonalisation .
H. Flanders D u n b a r : Analytische Probleme in einem Fall von sozialer Angst.
Ludwig Eidelberg: Theoretische Vorschläge ..
Zur Erniedrigung des Liebesobjektes .
Paul Federn: Das Erwachen des Ichs im Traume. I. Die Orthriogenese .
Robert Fließ: Angsthysterie, Angstneurose und Rheuma .
J. Flärnik: Grundzüge der psychoanalytischen Charakterlehre .
Zur Frage der infantilen weiblichen Genitalorganisation .
Imre Hermann: Urwahrnehmungen, insbesondere Augenleuchten und Lautwerden des
Innern .
Karen Horney: Das Problem des weiblichen Masochismus .
II2
390
264
II4
2^3
109
555
105
102
553
390
REFERATE
Aus der Literatur der Grenzgebiete:
Grothe und Meng: Über interne und psychotherapeutische Behandlung der endo¬
genen Magersucht . (F. Deutsch) 392
Heinrich: Unsere Patienten und wir . ^H) 265
Schönfeld und Menzel: Tuberkulose, Charakter und Handschrift .. {Marseille) 392
Schulz: Das autogene Training . ' {Winnik) 265
Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur:
Bericht über die psychiatrische Literatur im Jahre 1931 .
Christoffel: Entwicklungspsychologische Bemerkungen zur
Curtius: Die neuropathische Familie.
Fessler: Ein Fall von posttraumatischem Transvestitismus....
Glanzmann: Pädiatrie und Psychiatrie .
H. F. Hoffmann: Über die Zwangsneurose..
. (Stengel) 393
Kinderpsychiatrie
(Fnedjung) 115
. (Stengel) 115
. (Winnik) 393
. (Friedjung) 116
. (Bergler) 394
Inhaltsverzeichnis
Seite
Psychotherapeutische Praxis. (Sterha) 557
Schneider: Psychiatrische Vorlesungen für Ärzte . (Schilder) 395
Schulhof ; Praktische Psychiatrie ..... (Stengel) 395
Aus der psychoanalytischen Literatur:
Alexander: On Ferenczi’s Relaxation Principle .. (Fenichel) 266
Brierley: Some Problems of Integration in Women . (Fenichel) 116
Bromberg and Schilder: Psychologie Considerations in Alcoholic Hallucina-
tions. — Castration and Dismembering Motives . (Fenichel) 267
Clark: Question of Prognoses in Narcissistic Neuroses . (Fenichel) 117
Coriat: The Dynamics of Stammering .. (Fenichel) 558
Daniels: Turning Points in the Analysis of a Case of Alcoholism. (Fenichel) 267
Fenichel: Flysterien und Zwangsneurosen. — Perversionen, Psychosen, Charakter¬
störungen . (Hitschmann) 267
Franklin: Family Reactions during a Case of Obsessional Neuroses.... 118
G 1 o V e r: A Psychoanalytic Approach to the Classification of Mental Disorders
(Autoreferat) 118
—: The Relation of Perversion-Formation to the Development of Reality-Sense
(Fenichel)
H e n d r i c k : Pregenital Anciety in a Feminine Passive Charakter. (Fenichel) 268
Flitschmann und Bergler: Die Geschlechtskälte der Frau . (Autoreferat) 269
Jelliffe: Glimpses of a Freudian Odyssey. (Fenichel) 398
Kardiner: The Bio-Analysis of the Epileptic Reaction . (Fenichel) 119
Kulovesi: Psykoanalyysi . (Autoreferat) 269
Lewin: The Body as Phallus . (Fenichel) 270
Menninger: Psychoanalytic Aspects of Suicide . (Fenichel) 398
Middlemore: The Treatment of Bewitchment. (Fenichel) 559
Mitglieder der ungarländischen psychoanalytischen Vereinigung:
Psychoanalytische Studien . (Sugar) 271
Oberndorf: Folie ä deux . (Fenichel) 559
Reich: Charakteranalyse . (Sterha) 399
— Charakteranalyse . (Sperling) 403
Reik: New Ways in Psycho-Analytic Technique . (Fenichel) 399
Revue fran9aise de Psychanalyse . (de Saussure) 405
Sarkar: The Psychology of taking Prasad . (Fenichel) 560
Searl: The Psychology of Screaming. (Fenichel) 274
— A Note on Symbols. (Fenichel) 407
Weiß: A Recovery from the Fear of Blushing . (Fenichel) 560
NACHRUFE
Hans Behn-Eschenburg f . (Boss) 561
Georg Groddeck f . (Meng) 408
Nikolaj Osipov f . (Windholz) 277
Milly Vosviniek f . <^ugar) 278
38 *
Inhaltsverzeichnis
KORRESPONDENZBLATT DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Mitteilungen des ZentrdlvorStandes
XIII. Internationaler Psychoanalytischer Kongreß . 125
Mitteilungen der Intefnationalen Unterrichtskommission
Chicago Institute for Psychoanalysis.
New York Psychoanalytic Institute . 127
Lehrkomitee der Washington-Baltimore Psychoanalytic Society .. 128
Berichte der Zweigvereinigungen
The American Psychoanalytic Association.. 128,412
Chicago Psychoanalytic Society . j2^^ ^12
New York Psychoanalytic Society. 279, 413
Washington-Baltimore Psychoanalytic Society. 130, 281, 413
British Psychoanalytical Society. 131^ 281, 414
Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft . 131^ 281, 414
Chewra Psychoanalytith b’Erez-Israel.
Japan Psycho-Analytical Society . J33
Magyarorszägi Pszichoanalitikai Egyesület. 134, 283, 415
Nederlandsche Vereenigung voor Psychoanalyse. 135, 416
Vereenigung van Psychoanalitici in Nederland. 283, 416
Societe Psychanalytique de Paris. 13^^ 284, 417
Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse . 13^^ 285, 418
Wiener Psychoanalytische Vereinigung .. 13^^ 286, 418
Mitgliederverzeichnis . o
Soeben erschien:
EDMUND BERGLER
TALLEYRAND ♦ NAPOLEON
STENDHAL» GRABBE
PSYCHOANALYTISCH-BIOGRAPHISCHE
ESSAYS
Geheftet RM 6.^ 0 In Leinen RM 8 .—
Aus dem Vorwort:
Die Titelbezeichnung „psychoanalytisch-biographische Essays^^
bedarf einer Erklärung. Eine analytisch-biographische Studie
hebt lediglich die für die betreffende Persönlichkeit entschei¬
denden unbewußten Motive hervor und verzichtet darauf,
mit der deskriptiven Biographik in Konkurrenz zu treten.
Die hier vorliegenden Studien über Talleyrand, Napoleon,
Stendhal und Grabbe sind im Anschluß an meine klinischen
Arbeiten geschrieben worden. Immer wieder reizte es mich, jene
Probleme, auf die klinische Erfahrungen mich hingelenkt hatten,
an historischen Gestalten aufzusuchen. So entstanden als Ergän¬
zung meiner Arbeiten über die Psychologie des Zynismus die
Studien über Talleyrand und Napoleon, in Fortführung der Unter¬
suchungen über die orale Phase der Libidoentwicklung, die über
Grabbe, und als Abschluß meiner Bemühungen um das Verständ¬
nis narzißtischer Phänomene — die Stendhal-Skizze. Diese Ent¬
stehungsgeschichte bewirkt, daß die Helden der folgenden Essays
auch als klinische Typen gesehen sind mit einer gewissen Einseitig¬
keit, der sich Verfasser bewußt ist, ohne sie meiden zu wollen.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN
Soeben
erschien:
ALMANACH
DER PiyCHOANALySE
19IS
Mit 6 Porträts. In Leinen RM 4.—
Mit der diesjährigen Ausgabe erscheint
der Almanach der Psychoanalyse
DAS ZEHKTE MAL
und zeigt aus diesem Anlaß einen besonders mannigfaltigen Querschnitt
durch die psychoanalytische Literatur
INHALT:
Sigmund Freud.Psycho-Analysis
Imre Hermann.Das psychoanalytisch Sinnvolle
Richard Sterba.. , Die psychoanalytische Therapie
Sandor Rado.. . Das Angstproblem
Paul Federn Die Zunahme der Süchtigkeit
Otto Fenichel ....... Zur unbewußten Verständigung
Alexander Szalay.Die ansteckende Fehlhandlung
Anna Freud.Die Erziehung des Kleinkindes vom psychoanalytischen
Standpunkt aus
Heinrich Meng.Die richtige Behandlung scheinbar straffälliger Kinder
Fntz Redl ..Gedanken über die Wirkung einer Phimoseoperation
Hans Zulliger.Pädagogen verfallen dem Fluche der Lächerlichkeit
Helene Deutsch.Don Quijote und Donquijotismus
Franz Alexander.Bemerkungen über Falstaff
Marie Bonaparte.Das magische Denken bei den Primitiven
Henri Godet.Das magische Denken im Alltagsleben
Edward Glover und
Morris Ginsberg.Symposium über die Psychologie von Krieg und Frieden
INTERNATIONALER
PSyCHOANALYTIKHER VERIAA / WIEN
THE
PSYCHOANALYTIC
QUARTERLY
Third year of publication
THE QIJARTERLY
is devoted to original contributions in
the field of thcorctical, clinical and
applied psychoanalysis, and is published
four times a year.
The Editorial Board of the QUAR¬
TERLY consists of the Editors: Drs.
Dorian Feigenbaum, Bertram D. Lewin
and Gregory Zilboorg. Associate Edi¬
tors: Drs. Henry Alden Bunker, Jr.,
Raymond Gosselin and Lawrence Kubie.
Associated with the Editorial Board is a
group of distinguished American and
European psychoanalysts.
CONTENTS FOR JULY 1934:
G. Zilboorg: The Problem of Constitution in
Psychopathology. — D. Feigenbaum: Clinical
Fragment». — H. A. Bunker, Jr.: The Voice as
(Female) Phallus. — L.S. Kubie: Body Symboli-
zation and the Development of Language. —
W.J. Spring: A Critical Consideration of Bernfeld
and Feitelberg’s Theory of Psychic Energy. — Special
Review: A. Parry: Tattoo, Secrets of a Strange
Artas Practiced Among the Natives of the United
States. Tattooing Among Prostitutes and Perverts.
Editorial Communications should he sent
to the Editor in Chief: Dr. Dorian Feigen¬
baum, 6o Gramercy Park, New York City.
Suhscription price is $ 5.50;
single issues i dollar and 75 cents.
A limited number of hack volumes are
available; volumes in original hinding
$ 6.50.
Business correspondence should be sent to:
THE PSYCHOANALYTIC
QUARTERLY PRESS
372-374 BROADWAY, ALBANY,
NEW YORK
THE
INTERNATIONAL
JOURNAL OF
PSYCHO-ANALYSIS
Directed by
SIGM. FREUD
Edited by
EBNEST JONES
This Journal is issued quarterly.
Besides Original Papers, Ab-
stracts and Reviews, it contains
the Bulletin of the Internatio¬
nal Psycho - Analytical Associa¬
tion, of which it is the Official
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Editorial Communications should be
sent to Dr. Ernest Jones, 81 Harley
Street, London, W. 1.
The Annual Suhscription is 50s per
volume of four parts.
The Journal is obtainable by sub-
scription only, the parts not being
sold separately.
Business correspondence should be ad-
dressed to the publishers. Balliere,
Tindall & Cox, 8 Henrietta Street,
Covent Garden, London, W. C. 2.,
who can also supply back volumes.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XX, Heft 4
(Äusgegeben im Dezember 1934 )
INHAL TSVERZEICHNIS
Edoardo Weiß:
Die Straßenangst und ihre Beziehung zum hysterischen Anfall
und zum Trauma.
Seite
A TO
Hänridi Meng:
Das Problem der Organpsychose. Zur seelischen Behandlung orga¬
nisch Kranker.
Editord Hitsdimonn:
Beiträge zu einer Psychopathologie des Traumes.
459
Otto Fenidiel:
über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung.
476
Hellmitth Kaiser:
Probleme der Technik.
490
Barbara Low:
Die psychischen Entschädigungen des Analytikers.
523
KLEINE BEITRÄGE UND KASUISTIK
Emil Simonson: Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis 531
Yrjö Kulovesi: Ein Beitrag zur Psychoanalyse des epileptischen Anfalls. 542
Ludwig Eideiberg: Zur Erniedrigung des Liebesobjekts.. caq
VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN
Imre Hermann: Urwahrnehmungen, insbesondere Augenleuchten und Lautwerden des Innern .. 553
Robert Fließ: Angsthysterie, Angstneurose und Rheumatismus. 555
REFERATE
Aus der psydiiatrisdi-neurologisdien Literatur
Psychotherapeutische Praxis (Sterba) 557.
Aus der psychoanalytischen Literatur
Goriat: The Dynamics of Stammering (Fenidiel) 558. — Middlemore: The Treatment of
Bewitchment (Fenidiel) 559. — Oberndorf: Folie ä deux (Fenidiel) 559. — Sarkar: The
Psychology of taking Prasad (Fenidiel) 560. — Weiß: A Recovery from the Fear of Blushing
(Fenidiel) 560.
Hans Behn-Eschenburg f (Boss) . c6i
Preis des Heftes Mark 7.50. Jahresabonnement Mark 28.—
Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 600 Seiten
Einbanddecken zu dem abgeschlossenen XIX« Band (1933), sowie zu allen
früheren Jahrgängen: in Leinen Mark 2.50, in Halbleder Mark 5.—
Eigentümer und Verleger; Internationaler Psychoanalytisdier Verlag, Ges. m. b. H., Wien I, Börsegasse ii. — Herausgeber; Prof. Dr. Sigm.
Freud, Wien. — Verantwortlidi für die Redaktion; Dr. Paul Federn, Wien VI, Köstlergasse 7. — Druck: Manzsche Buchdruckerei, Wien IX