Skip to main content

Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XXI 1935 Heft 2"

See other formats


XXL Band 


1935 


Heft 2 


Internationale A^itsclirift 


f“ 

P L 1 

tur 

isychoanal 


Olfixtenes Organ der Internationalen Psydioanalytisdien Vereinigung 



H cFAusscscbcn 

von 



Sigm. Freud 



Unter Mitwirkung 

von 


Felix Boehm 

Berlin 

G. Bose A. A. Brill 

Kalkutta New York 

Lucile Dooley 

Washington 

M. Eitingon 

Jerusalem 

J. E. G. van Emden 

Haag 

S. Hollos Ernest Jones 

Budapest London 

J. W. Kannabid) 

Moskau 

Kiyoyasu Marui 

Sendai 

Karl Menninger 

Topeka 

S. J. R. de Mondiy M. W. Peck 

Rotterdam Boston 

Edouard Picbon 
Paris 

Philipp Sarasin 
Basel 


Haraid Sdijelderup Älfhild Tamm Y. K. Yabc 

Oslo Stodtholm Tokio 

redigiert von 

Edward Bibring Heinz Hartmann Sandor Rado 


Wien Wien New York 


C, D, Daly.. Der Kern dies Ödipuskomplexes* 

Franz Alexander. Über den Einfluß psydiisdier Faktoren 

auf gastrointestinale Störungen 

Felix Deutsch.Über Euthanasie 

Edward Giover. Das Prohiem der Zwangsneurose 


P. M. van WuIfften^Palthe .. Koro. Eine merkwürdige Angsthysterie 
Edmund Bergler und Ludwig 

Eideiberg. Der Medianismus der Depersonalisation 

Vorläufige Mitteilungen — Referate 












1) Die in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse" veröffentlichten Beiträge 
werden mit Mark 25.— per sechzehnseitigen Druckbogen honoriert. 

2) Die Autoren von Originalbeiträgen sowie von Mitteilungen im Umfange über zwei 
Druckseiten erhalten nach Wahl zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes. 

3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache 
zur Verfügung stellen, werden vom Verlag getragen; die Autoren solcher Beiträge erhalten 
kein Honorar. 

4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenschrift (ein¬ 
seitig und nicht eng geschrieben). Es ist erwünscht, daß die Autoren eine Kopie ihres Manu¬ 
skriptes behalten. Zeichnungen und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß be¬ 
schränkt sein. Die Zeichnungen sollen tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst 
reproduziert werden kann. 

5) Mehrkosten, die durch Autorkorrekturen, das heißt durch Textänderungen, Einschal¬ 
tungen, Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursacht werden, werden 
vom Autorenhonorar in Abzug gebracht. 

6 ) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch und auf Kosten des Autors ange¬ 
fertigt. Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge 

bis 8 Seiten für 25 Exemplare Mark 15.—, für 50 Exemplare Mark 20.— 


9 


99 25 

99 

99 20.—, 

„ 50 

>9 

99 25.— 

17 

» 24 „ 

« 25 

99 

r 

6 

„ 50 

99 

„ 40.— 

25 

M 32 99 

25 

99 

« 35 *—» 

s, 50 

99 

1. 


Mehr als 50 Separata werden nur nach besonderer Vereinbarung mit dem Verlag an¬ 
gefertigt. 


Wir machen hiemit unsere Autoren auf folgendes aufmerksam; 

Nach den gesetzlichen Bestimmungen kann bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungs¬ 
jahr einer Arbeit folgenden Kalenderjahren über Verlagsrechte (Wiederabdruck und Über¬ 
setzungen) nur mit Genehmigung des Verlages verfügt werden. Auf Grund eines generellen 
Übereinkommens, das wir mit dem „International Journal of Psychoanalysis" getroffen haben, 
steht es jedoch jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages der letzt¬ 
genannten Zeitschrift das Recht der Übersetzung und des Wiederabdrucks einzuräumen. 

Die Genehmigung einer Wiederveröffentlichung oder Übersetzung in einem anderen 
Organ muß, um Berücksichtigung finden zu können, zugleich mit Übersendung des Manu¬ 
skriptes verlangt werden. Redaktion 


Redaktionelle Mitteilungen und Sendungen aus allen Ländern mit Ausnahme der U. S. A. 
bitten wir zu richten an Dr. Edward Bibring und Dr. Heinz Hartmann, p. A. Internationaler 
Psychoanalytischer Verlag, Wien, L, Börsegasse ii. 

Redaktionelle Mitteilungen und Sendungen aus den U. S. A. an Dr. Sandor Rado, 324 West, 
86th Street, New York City. 

Bestellungen und geschäftliche Zuschriften aller Art an 

Internationaler Psydboanalytisdier Verlag, Wien I, Börsegasse 11. 







Internationale Zeitschrift 
für Psy<Jioanalyse 

Heraus3e3el)en von SigHl. FrCud 


XXL Band 


1935 


Heft 2 


Der Kern des Ödipuskomplexes* 

Von 

C. D. Daly 

Kalkutta 

L Einführung 

Zwei sehr bekannte Fälle aus der psychoanalytischen Literatur, der eine von 
Freud, der andere von Groddeck veröffentlicht, scheinen mir die in meinen 
ersten Untersuchungen über den Mutterkomplex^ mitgeteilte Theorie zu be¬ 
stätigen. Auf Freuds berühmten Fall aus der „Geschichte einer infantilen 
Neurose*", der heute als der „Wolfsmann** bekannt ist, bezieht sich James 
Strachey,^ wenn er die prädisponierenden und die auslösenden Ursachen der 
Neurose vergleicht. Ich gebe zunächst eine kurze Zusammenfassung seiner 
Arbeit: 

Charcot vertrat (die ausschlaggebende Bedeutung einer ererbten prädisponieren¬ 
den Ursache in der Ätiologie der Hysterie. Dieser Ansicht stand die von Breuer 
und Freud entgegen, daß der auslösende Faktor — nämlich das psychische Trauma — 
tatsächlich für die Entstehung und Form der Erkrankung entscheidend sei. Immer¬ 
hin behielten damals die prädisponierenden Ursachen, insbesondere der „hypnoide 
Zustand“ Breuers, noch ihre Geltung. 

Weitere Forschungen (1893 bis 1896) zeigten, daß die auslösenden Traumen in der 
Regel mit einer ganzen Reihe traumatischer Ereignisse verknüpft waren, die sich bis 
in die frühe Kindheit zu rück verfolgen ließen. Schließlich kam Freud sogar von der 
Theorie der Notwendigkeit eines „infantilen Traumas“ ab; er ersetzte sie durch die 
Theorie von der „infantilen Phantasie“. Entsprechend mußte die Lehre von der 
„auslösenden Ursache“ neu, und zwar in den Ausdrücken der dynamischen Libido- 
theorie, formuliert werden. Als wesentlich wurde gezeigt, daß das Unbefriedigt¬ 
bleiben libidinöser Strebungen, prädisponierende Faktoren vorausgesetzt, zum Aus¬ 
bruch der Neurose führt. Zu einem solchen Unbefriedigtbleiben kam es entweder 

**■) Aus dem Englischen übersetzt von Helene Reiff. 

1) Da ly, Imago XIII, 1927 und XIV, 1928. — Brit. Journ. of Med. PsychoL, 1930. 

2) Strachey, Int. Journ. of PsA., XII, 1931. 

Int Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXI/2 

INTERNATIONAL 
&■ PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 












wurde die durch äußere odir inne«M T auslösenden Faktor 

jenes Ausmaß hinaus, welches di ^ 

spätP^X‘=I^oanalyse« betonte Freud 
Beispiel, wie ein Mehr oLr Weiher ^“^te zum 

auslösenden Faktor ^ infantilen Neurose als auf dem späteren 

^"t:£r:-£-i^-.^rgi=SiF-^-S=z 

ÄÄ H" --ts 

TrÄei“ ““ ii' G-«“ <1- 

Der Leser jener Arbeit wird bemerkt haben, daß Strachey nur von der 
rszene und von den Kastrationsdrohungen spricht, aber das zwanghafte 

f ' 7Todesfurcht uner- 

nt laßt, Freud fuhrt beides zu Beginn seiner Schilderung an und ver- 

Er cheinungen als besondere Reaktionen auf die Unterleibserkrankung der 
Ph^nTment ' allgemeine ätiologische Bedeutung des 

Ruth Mack-Brunswick,^ wohlgemerkt einer Frau, war es Vorbehalten 

ithtfs Mutter aufzudecken. Damit ermög¬ 

lichte sie das Abreagieren der Affekte, die sich in der Verdrängung verbargen 

Sie war imstande eine der interessantesten unter den bisher bekannten Psycho¬ 
analysen zu beenden, was für uns überaus lehrreich ist. ^ 

_ Kein Analytiker hat aber die Beziehung zwischen diesem Fall und dem 

übersi;i;r;;;;ri;7^^ 

mann, und das trotz der Tatsache daß^dk aLchheß^ pnze Neurose beim Wolfs- 

durch Mack-B.unswlck 

4) Ruth Mack-Brunswick, Int. Ztschr. f. Psa., XV, 1929. 








































Der Kern des Ödipuskomplexes 167 

Menstruationskomplex“ bemerkt; niemand hat auch den Fall des Wolfs¬ 
mannes mit der tiefen Intuition Groddecksin Zusammenhang gebracht, der 
in seinem Werk „Das Buch vom Es“^ sehr klar und unabhängig von meinen 
Untersuchungen die Bedeutung der Monatsblutung in der Ätiologie der Neu¬ 
rosen wie auch viele andere Aspekte des Mutterkomplexes entwickelt hat. 
Die Würdigung seiner Funde würde es möglich machen, über die Grenzen, die 
der Genius Freuds hier gezogen hat, hinauszugehen. Mit der Redlichkeit des 
Wissenschafters wies Freud auf diese Tatsachen in „Totem und Tabu“ hin; er 
sagt dort, in der Besprechung des Ursprungs der Religion: „Wo sich in der 
Entwicklung die Stelle für die großen Muttergottheiten findet ...., weiß ich 
nicht anzugeben.“® Daraus kann man vermuten, daß es ihm auch nicht voll¬ 
kommen gelungen ist, das parallele Rätsel in der ontogenetischen Entwicklung 
zu lösen. Wie ich anderswo zu zeigen versucht habe, besteht dieses darin, daß 
der Haß gegen den Vater auf die Mutter übertragen wird, und 
zwar infolge der traumatischen Verdrängung des männlichen 
positiven Ödipuskomplexes. Ich stelle die Hypothese auf, daß der Um¬ 
schwung des Gefühls gegen die Mutter und die völlige Verdrängung des 
Wissens um die anziehendsten Elemente weiblicher Geschlechtlichkeit infolge 
der Furcht vor Tod und Kastration durch die Hand des Vater eintreten, 
und daß diese Furcht besonders durch die Beobachtung der Monatsblutung 
der Mutter bestärkt wird. 

In seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“^ sagt Freud über die 
infantile Amnesie; „..., daß die nämlichen Eindrücke, die wir vergessen 
haben, nichtsdestoweniger die tiefsten Spuren in unserm Seelenleben hinter¬ 
lassen haben und bestimmend für unsere ganze spätere Entwicklung geworden 
sind. Es kann sich also um gar keinen wirklichen Untergang der Kinder¬ 
eindrücke handeln, sondern um eine Amnesie, ähnlich jener, welche wir bei 
den Neurotikern für spätere Erlebnisse beobachten, und deren Wesen in einer 
bloßen Abhaltung vom Bewußtsein (Verdrängung) besteht. Aber welche 
Kräfte bringen diese Verdrängung der Kindheitseindrücke zustande? Wer dieses 
Rätsel löste, hätte auch die hysterische Amnesie aufgeklärt.“ Dem könnte man 
hinzufügen, daß er auch den Schleier lüften würde, der um die religiöse Hysterie 
liegt. Diese ist ein spätes Produkt der Kräfte, die in der Phylogenese zur 
Hemmung des Sexualimpulses beitrugen, indem die Frau im Zustand der 
Brunst aus dem Gegenstand der größten Anziehung für den 
Mann zu dem seiner größten Furcht wurde; einer Furcht, die 
durch den Kastrationskomplex ihre Verstärkung und durch 
das Menstruationstrauma ihre Bestätigung erfuhr. 


5) Groddeck, Das Buch vom Es, 3. Aufl. 1934, Int. Psa. Verlag, Wien. 

6 ) Freud, Ges. Schriften, Bd. X, S. i8o. 

7) Freud, Ges. Schriften, Bd. V, $.49!. 

»• 













i68 


C D. Daly 



II. Über die Rolle der Geschlechtlichkeit der Mutter in der 
Genese des Ödipuskomplexes 

Es ist einer der interessantesten Züge des Ödipusmythos, daß die Inzest¬ 
schranke unbewußt überschritten wurde. Im Augenblick, da Ödipus die 
Verbrechen, die er unbewußt begangen hat, bewußt erkennt, vermag sein Ich 
das Wissen um seine Taten nicht zu ertragen — das hebt die Sage hervor. Die 
Scham, die er empfindet, entspringt vor allem dem Wissen um seine blut¬ 
schänderischen Beziehungen zu seiner Mutter, das Gefühl der Schuld und Reue 
bezieht sich auf den Vatermord. — 

Der Mythos stellt die Erfüllung der verdrängten vatermörderischen und 
blutschänderischen Wünsche dar; die Selbstverstümmelung des Ödipus zeigt 
die volle Entwicklung des strafenden Über-Ichs. In der psychoanalytischen 
Theorie vom Ödipuskomplex wird jedoch meiner Meinung nach nicht hinreichend 
erklärt, was die Verdrängung jener vatermörderischen und blutschänderischen 
Wünsche verursachte. Nur zur Erklärung des Mythos wird festgestellt, daß die 
Blendung der Kastration gleichzusetzen ist, und daß sie die Strafe darstellt, die 
er einst von seinen Eltern fürchtete: der Wunsch, den er einst gegen den Vater 
hegte, hat sich in seinem Innern gegen sein eignes Selbst gewendet, zur Selbst¬ 
bestrafung und Sühne seiner Schuld; das Über-Ich ist siegreich gewesen. 

Gemäß der allgemein angenommenen psychoanalytischen Theorie wird die 
Inzestschranke durch die Kastrationsangst aufgerichtet, und diese wird ver¬ 
stärkt durch die Entdeckung des Knaben, daß die Mädchen keinen Penis haben; 
das Fehlen des Penis überzeugt den Knaben davon, daß auch er sein Glied 
verlieren könnte. Die Kastrationsangst entwickelt sich — und zwar gestützt 
auf Befürchtungen, die aus der oralen Aggression stammen — zuerst der 
Mutter gegenüber, welche die Neigung des Kindes zur Masturbation unter¬ 
drückte. Die Kastrationsdrohungen finden ihre Bestätigung in der Penislosig- 
keit der kleinen Mädchen, aber diese Entdeckung muß nicht notwendig als 
Trauma wirken. 

Daß der kleine Knabe, der doch sonst sexuelle Dinge sehr aufmerksam beob¬ 
achtet, während der Ödipusphase nicht bemerkt, daß die Mutter und alle 
weiblichen Wesen (ich schließe hier auch alle weiblichen Tiere mit ein, die zu 
beobachten er Gelegenheit haben mag, insbesondere Hündinnen) sich ana¬ 
tomisch von ihm selbst unterscheiden, bedeutet einen Grads eelischerBlind- 
heit, der nur das Resultat einer bereits früher eingetretenen und 
bisher noch nicht erkannten Verdrängungsphase sein kann. 

Sind denn Mütter während der frühen Kindheit ihrer Söhne so vorsiditig, 
daß sie in deren Anwesenheit alle augenscheinlichen Merkmale ihrer 
Geschlechtlichkeit verbergen? Jedermann weiß, daß sie das nicht sind. 
Viele Mütter kleiden sich in Gegenwart ihrer ganz kleinen Kinder an und aus, 
baden, gehen auf die große und kleine Seite, ja wechseln sogar ihre Binde, denn 



































Der Kern des Ödipuskomplexes 


169 


sie meinen alle, die Kinder seien eben noch zu klein, um diese Dinge zu 
begreifen. Sehr oft schlafen Kinder während ihrer ersten Lebensjahre im 
Schlafzimmer der Eltern, oft sogar in deren Bett; und es ist gar nichts Un¬ 
gewöhnliches, daß Eltern in diesem gemeinsamen Schlafraum den Koitus voll¬ 
ziehen, in der Meinung, daß die Kinder schlafen. Um wieviel weniger machen 
sich solche Eltern Gedanken darüber, wenn es sich um harmlosere Dinge des 
Alltags handelt, gleich den erwähnten. 

In Wahrheit erfreut sich das Kind in seinen ersten Lebensjahren meist 
einer völligen Vertrautheit mit dem Körper der Mutter; diese Vertrautheit 
umfaßt das Schauen, Tasten, Hören, Riechen und Schmecken ihres Körpers. 
Die Annahme F r e u d s,® daß der kleine Knabe von der Geschlechtlichkeit 
seiner Mutter nichts wisse, scheint mir daher unzulänglich; das Wissen 
des Kleinkindes um die Sexualität ist weit vollständiger als sogar die Psycho¬ 
analyse bisher zugeben will; das Nichtwissen ist erst das Resultat einer Verdrän¬ 
gung. Es muß etwas geschehen sein, was die Verdrängung jeder Erinnerung an 
die Geschlechtlichkeit der Mutter bewirkt hat. Die spätere Amnesie entstand 
erst, weil infolge des Menstruations- und des Gebärtraumas die 
männliche, bzw. die weibliche Phase des frühen Inzestkomplexes 
verdrängt wurden. 

Meine Theorie besagt, daß die Inzestschranke um das Trauma der Men¬ 
struation zentriert ist, und daß dieses das Kind vorübergehend mit Wider¬ 
willen und Abscheu gegen die zuvor so anziehende Mutter er¬ 
füllt. Ich habe die Konflikte, die sich aus dieser Anziehung und Abneigung 
ergeben, als „Menstruationskomplex“ bezeichnet. Nach der Bepgnung mit 
dem Menstruationstrauma macht der Sohn eine Phase rein weiblicher psychi¬ 
scher Entwicklung durch,» den sogenannten negativen Ödipuskomplex, in 
welchem er sich mit der Mutter identifiziert und ein Kind vom Vater er¬ 
sehnt.^» 

Später pflegt mit der sich entfaltenden Sexualität des Knaben der positive 
Ödipuswunsch wieder durchzubrechen, wenn auch in einigermaßen ver- 

8) Freud, „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, Ges. Schriften, Bd. V, S. 69 f. 

9) Diese weibliche Entwicklung schließt alle dazugehörigen Phantasien in sich, wie: mit 
blutender Wunde kastriert zu werden; Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt, 

Bestimmte Umstände können dazu führen, daß diese Entwicklungsphase bestehen bleibt, 
und so verschiedene weibliche Charakterzüge zustande kommen. 

10) Dieser Wunsch nach einem Kinde vom Vater erleidet dasselbe Schicksal^ wie der 
gleiche Wunsch des kleinen Mädchens — er wird enttäuscht und verwandelt sich in Angst, 
die noch durch das Wissen von der Schmerzhaftigkeit des Gebärens verstärkt wird; der 
Wunsch selbst wird verdrängt. Viele Mütter prägen dem Kinde das Wiwen von den 
Gebärschmerzen geradezu auf, um sie durch die erweckten Schuldgefühle an sich zu binden. 
Das bewirkt eine neuerliche Verstärkung früherer Geburtsphantasien, wie der vom Platzen 
des Leibes oder, daß der Doktor das Kind durch Aufschneiden des Leibes zutage fördere, 
'i. a,; bei all diesen Phantasien mag die Vorstellung vom Bluten der Mutter das wichtigste 
sein —, entsprechend der Wichtigkeit der Blutung in der Phylogenese, die zu übersehen man 
gegenwärtig noch zu sehr bereit ist. 














änderten Formen und oft begleitet von neuerlicher Masturbation, neuerlichem 
Bettnässen usw. Und hier wird nun die früher von der Mutter gegen die in¬ 
fantilen Masturbationsneigungen angewandte Kastrationsdrohung aufs neue 
als Erziehungsmittel gebraucht, jetzt aber ebenso häufig vom Vater wie von 
der Mutter; die Eltern unterstützen einander bei der Unterdrückung der 
Sexualität des Kindes. In dieser Entwicklungsphase, d. h. nachdem der Knabe 
die Erinnerung an seinen positiven Ödipuskomplex und an den Körperbau 
seiner Mutter, insbesondere das Wissen um ihre Blutungen, verdrängt hat, be¬ 
wirkt nun die Wiederentdeckung^^ der Tatsache, daß Frauen keinen Penis 
haben, — er hatte der Frau den Besitz des Penis zugeschrieben, um über das 
Wissen von ihrer blutenden Vagina und die daraus entspringende Todesfurcht 
hinwegzukommen, — Reaktionen im Sinne seiner Kastrationsängste. Die Vagina, 
die er nun beobachtet, ist meist die einer Schwester oder einer Spielgefährtin, 
denn die Tage der Vertrautheit mit der Mutter sind vorüber. Daher ist häufig 
eine nicht blutende Vagina die Ursache seiner späteren Ängste, und eine 
solche fördert wiederum den Lauf der Verdrängung und dient als D^ck- 
erinnerung für die frühere mehr traumatische Erfahrung von den Scheiden¬ 
blutungen der Mutter. Erneute Bekanntschaft mit der Monatsblutung in 
dieser Periode führt zu verstärkten Kastrationsängsten und kann die Passivität 
des Knaben dauernd fixieren. 

Das Menstruationstrauma trägt vorwiegend die Schuld daran, daß aus der 
geliebten Mutter die verhaßte, aggressive und zerstörende Mutter wird (daß 
die Mutter die oralen, analen und onanistischen Strebungen gehindert hat, hat 
diesen Haß vorbereitet). Aber auch dieser Aspekt ihrer Person fällt der Ver¬ 
drängung anheim, sobald der Sohn die angenommene passive, weibliche Haltung 
auf gibt und sich aufs neue mit dem Vater identifiziert, indem er wieder eine 
aktive, männliche Rolle aufgreift. Ich möchte hier noch einmal die Tatsache be¬ 
tonen, daß es in der modernen Zivilisation hauptsächlich die Mutter ist, weichein 
den frühen Lebensjahren jene unterdrückenden Erziehungsmaßnahmen handhabt, 
die bei primitiven Völkerstämmen Knaben gegenüber von Männern durch¬ 
geführt werden.^* 

Im Mythos von Perseus und Andromeda,^* welcher der sekundären Phase des 
Inzestkomplexes entspricht, erschlägt Perseus, der Sohn und Held, zuerst die ver¬ 
haßte Mutter, die Medusa; nach dieser Tat tötet er den verhaßten Vater, der nun 
bei^ der Schwester sein Rivale ist. Der Vater hatte die Mutter überwältigt (= ka¬ 
striert) und war nun im Begriff gewesen, die Tochter (= Schwester) zu schwängern. 
Perseus heiratet dann die Tochter und gebraucht das blutige Haupt der Mutter 
( ^ Syml>oI 'des Todes und der Kasträtlon = menstruierende Vagina), um alle seine 
Feinde zu Stein zu verwandeln. Das bedeutet, daß der Sohn, mit Hilfe der Identifi- 

o) Es ist eine W i e d e r entdeckung, weil die infantile Theorie, daß das Genitale bei 
beiden Geschlechtern die gleiche Form habe, erst in der Zeit nach dem Menstruationstrauma 
aufm« (mit dieser Meinung befinde ich mich im Gegensatz zur Lehre Freuds). 

12) Da ly, Brit. Journ. of Med. PsychoL, 1930. 

13) Daly, Int. Journ. of PsA., XI, 1930. 
































Der Kern des Ödipuskomplexes 


zierung mit beiden Eltern, seine Furcht vor der Kastration und vor dem Tode (sym¬ 
bolisiert durch das blutende Haupt der Mutter, d. h. den abgeschnittenen Penis) auf 
seine verhaßten Rivalen versohiebt, während er die Schwester heiratet, eine Frau, die, 
soweit sein Unbewußtes in Betracht kommt, nichts von dem blutigen Zeichen des 
erwachsenen Weibes (d. h. seiner Mutter) zeigt und deshalb dem Ideale näherkommt. 
(In der frühen Kindheit der beiden hat die Schwester noch nicht menstruiert.) Wir 
können auch aus dieser Mythe schließen, daß die Blutung der Mutter der trauma¬ 
tische Faktor ist, der die Libidohemmung verursacht, denn die Blutung verwandelt 
die Feinde in Stein, d. h. macht sie impotent. Die Verwandlung der Feinde in Stein 
ist nur die Projektion seines eigenen Menstruationstraumas auf sie. 

In der sekundären Phase des Inzestkomplexes wird die Idee einer blutenden 
Wunde stets auf den gehaßten Vater verschoben — der Vater wird von 
Künstlern, die Themen wie St. Georg und der Drache, oder tapfere Ritter, 
die schöne Frauen befreien, usw. behandeln, als ein Ungeheu'er dargestellt, dem 
der Kopf abgehauen ist, so daß die blutende Wunde zu sehen ist; neben dem 
Ungeheuer wird eine Heldin nackt gezeigt, eine Idealgestalt, weiß und rein, 
ohne Merkmal der Leidenschaft. Das anscheinend sinnlose Hassen, das sich 
namentlich gegen den Tyrannenvater, schließlich aber auch gegen die Mutter 
richtet, entstammt dem Seelenleid und der Seelenangst, die durch den Anblick 
der Blutungen bei der Mutter verursacht wurden; so ist die Mutter die un¬ 
mittelbare Ursache des unerträglichen Leidens. Aller Haß gegen den Vater, 
dessen der Sohn früher fähig war, wird jetzt auf die Mutter verschoben; sie gilt 
nun als ein böses und krankes Wesen. Haß und Abscheu sind umso größer, 
als die Mutter vorher anziehend und zärtlich gewesen und vom Kind 
leidenschaftlich geliebt worden war; dadurch wird die traumatische Wirkung 
der Situation nur erhöht. Das Gefühl für die Frauen und für Sexuelles 
überhaupt erfährt eine völlige Umkehrung, und es kommt dadurch häufig zur 
Regression auf die anale Stufe. Der dieser Phase zugehörige Trotz wird ver¬ 
stärkt, indem er sich mit dem blutigen Bild der Menstruation verbindet. So 
entsteht dasjenige, was die Psychoanalyse als „analen Sadismus‘‘ bezeichnet; der 
Sadismus gehört dem Menstruationstrauma an, der Trotz der ursprünglichen 
analen Phase. 

Ich vermute, daß der entscheidende Faktor bei den Zwangsneurosen und den 
Psychosen ein zu schweres Menstruationstrauma ist, und zwar gerade, weil es 
den Gedanken bestätigt, daß alle sexuelle Befriedigung Kastration und Tod 
in sich schließt. Ein beträchtlicher Teil des Hasses auf der „anal-sadistischen 
Stufe“, der früher als primär galt, ist meiner Überzeugung nach (jedenfalls 
soweit es sich um Zwangsneurosen handelt) erst die Folge der regressiven Ver¬ 
stärkung eines ursprünglichen Hasses durch das Menstruationstrauma. 

Wenn wir nun unser Wissen um die Zwangsneurosen und ihre religiösen 
Widerspiele in Zusammenhang mit der Bedeutung bringen, die der Mutter¬ 
komplex aus dem Menstruationstrauma gewonnen hat, werden sowohl unsere 
theoretischen Bemühungen um die onto- und phylogenetische Entwicklung 















einen neuen Antrieb erhalten, als auch unsere therapeutischen Bemühungen 
dem Ziele näherkommen; denn unsere Arbeit wird nun nicht mehr gestört 
sein durch die rein männliche Einstellung der Forscher, diese Folgeerscheinung 
ihrer eigenen homosexuellen Entwicklung. 

Unsere sogenannte Zivilisation hat bisher zumeist aus Eitelkeit, Furcht und 
Eifersucht die Frauen unterdrückt, ihre Evolution auf gleicher Linie mit der 
des Mannes gehemmt und so dem Fortschritt unserer Art bestimmte Grenzen 
gesetzt denn es leuchtet ein, daß die volle seelische Entwicklung unserer 
Art nur das Ergebnis der seelischen Entwicklung beider Geschlechter sein kann. 

Die Todesangst ist die Ur-Angst — sie ist biologisch bedingt, während die 
Angst vor der Kastration sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch später 
als Phänomen der sozialen Erziehung entstanden ist; sie ist rein psychologisch 
begründet. Die Kastrationsdrohung verstärkt die tiefere Furcht vor dem 
Tode. 

Was das Trauma durch die Menstruationsblutung betrifft, haben wir schon 
früher darauf hingewiesen, daß selbst unter heute lebenden Wilden ein Kontakt 
mit Menstruationsblut eine so schwere innere Drohung bedeutet, daß der 
betreffende Mann dahinsiecht und stirbt; oder aber das Geschehnis erweckt 
einen so unbezwinglichen Haß in dem Mann, daß er die Frau tötet. 

Es gelang der Psychoanalyse leicht, den Kastrationskomplex zu demon¬ 
strieren, da dieser in jeder Analyse so rasch seine Belege findet. Der Men¬ 
struationskomplex hingegen hat bei den Forschern zu sehr an die eigenen 
tiefsten Verdrängungen gerührt. 

Wenn nach dem Gesagten durch den Menstruationskomplex die Liebe des 
Sohnes zur Mutter in Haß, Widerwillen und Abscheu^^^ verwandelt wird, so 
kann sein Aggressionstrieb als Sadismus auf dem ursprünglichen Wege ver¬ 
bleiben und die schon bestehende Auffassung des Koitus als eines sadistischen 
Aktes befestigen; oder der Aggressionstrieb kann einer Regression zur analen 
oder zur oralen Stufe unterliegen und auf einer von ihnen fixiert werden und 
verstärkt so neuerlich orale oder anale Charaktereigenschaften. Hat aber die 
Männlichkeit des Knaben schweren Schaden erlitten, so daß er sich passiv 
homosexuell einstellt, dann besteht die dritte Möglichkeit: Sein Sadismus kann 
sich in Masochismus verwandeln. In der Regel ergibt sich ein mittlerer Weg: 
Der Mann ist aggressiv und sadistisch gegen seine weiblichen Objekte, jedoch 
passiv und unterwürfig gegen die Ersatzpersonen des Vaters. Manchmal ist 
er Feigling und Rohling zugleich, grausam gegen alle, über die er Gewalt hat; 
oder er benimmt sich — als Reaktionsform — tapfer bis zu einem Grade, daß 
er tollkühn handelt, wo alle Vernunft Vorsicht gebieten würde. 


13*) Vgl. die Träume im zweiten Teil dieser Arbeit. 
































Der Kern des Ödipuskomplexes I 73 


III. Bemerkungen über Freuds „Geschichte einer infantilen 

Neurose^*^^ 

Wir wollen uns jetzt mit einigen Einzelheiten aus Freuds berühmter „Ge¬ 
schichte einer infantilen Neurose‘^ auseinandersetzen, die mir eine Bestätigung 
meiner theoretischen Anschauungen zu erbringen scheinen: 

Der Patient erleidet in seinem achtzehnten Jahr nach einer gonorrhoischen Infek¬ 
tion einen psychischen Zusammenbruch. Seine frühen Jahre wurden von einer 
Neurose beherrscht, die unmittelbar vor seinem vierten Geburtstag begann, einer 
Angsthysterie, die sich in eine Zwangsneurose mit religiösem Inhalt verwandelte und 
bis in sein zehntes Jahr dauerte. Diese Verwandlung ist recht wichtig für unsere 
Theorie, denn sie zeigt das Rückschreiten von genitaler Angst zu analem Zwang. 

Das erste, was Freud in der Geschichte dieses Falles hervorhebt, ist ein Gescheh¬ 
nis, das nicht später als im vierten Lebensjahr des Kindes vorgefallen sein konnte: 
Der Knabe hört die Mutter, die den Arzt nach dem Bahnhof begleitet, unterwegs 
über ihren Gesundheitszustand klagen; ihre Worte machten, wie Freud sagt, einen 
unzerstörbaren Eindruck auf das Gemüt des Kindes; es wendet sie im späteren 
Leben beständig auf sich selbst an. Der Zustand, auf den sie anspielte, waren ihre 
häufigen Scheidenblutungen; die Worte, die sie gebrauchte, lauteten: „Ich kann so 
nicht weiterleben.*' 

Freud analysierte den Vorfall später nur auf der Regressionsstufe der Zwangs¬ 
neurose, aber nicht auf der genitalen Stufe; der Grund dafür war, daß ihm die Uni¬ 
versalität des Komplexes, dessen Mittelpunkt die Vaginalblutung ist, bewußterweise 
unbekannt geblieben war. Wir werden alsbald sehen, daß er, gerade weil er diesen 
Faktor nicht analysierte, auch nicht imstande war, die Analyse restlos zu Ende zu 
führen. Und zwar lag dies daran, daß ohne Analyse des Menstruationskomplexes sich 
keine volle Mutterübertragung auf den Analytiker entwickeln kann. 

(Wahrscheinlich war es nicht nur Zufall, daß Freud in seinen „Vorlesungen zur 
Einführung in die Psychoanalyse“ zwei Fälle weiblicher Patienten wählte, in denen 
die Scheidenblutung eine Rolle spielt; in dem einen der beiden Fälle sind Konflikte 
in bezug auf die Periode von wesentlicher Bedeutung für die Zwangsneurose; an 
diesen als typisch hingestellten Fällen entwickelte Freud seine Theorien über die 
Bedeutung von Symptomen, die Fixierung der Traumata und das Unbewußte [17., 18. 
und 19. Vorlesung].) 

Wir möchten nun weiter auf das Erlebnis des kleinen Knaben mit dem Schmetter¬ 
ling hinweisen: Eines Tages lief er einem schönen gestreiften Schmetterling nach und 
hoffte, ihn zu fangen; plötzlich ergriff ihn jedoch entsetzliche Angst vor 
dem Geschöpf und schreiend gab er die Verfolgung auf (vom Autor gesperrt). 

Freud verfolgte den Vorfall zurück bis zu einem Erlebnis mit einem Dienst¬ 
mädchen, welches in dem Kinde eine sexuelle Erregung erweckt hatte, indem sie es 
vor sich urinieren ließ; dabei hatte sie mit Kastration gedroht. Es kam ein weiterer 
— für uns sehr wichtiger — Punkt ans Licht: nämlich ein Irrtum des Patienten be¬ 
züglich des Namens des Mädchens; er glaubte, es sei derselbe Name gewesen wie der 
seiner Mutter. Als er später das sexuelle Erlebnis mit jenem Mädchen erzählte, bei 
dem er sich seine Gonorrhöe holte, zeigte er einen Widerstand, deren Namen zu 
nennen; es stellte sich heraus, daß er Matrona lautete —das weist darauf hin, daß 
das Erlebnis mit dem Dienstmädchen eine Deckerinnerung war. Freud stellt fest. 


14) Freud, Ges. Schriften, Bd. VIII. 












174 


C. D. Daly 


daß die Scham, die den Wolfsmann daran hinderte, den Namen der Mutter zu 
nennen, auf Verschiebung der früheren Scham vor dem Dienstmädchen zurückging. 

Wir können diese Auslegung jedoch nicht als vollständig gelten lassen. Der 
Akt des Urinierens hat an und für sich unbewußten inzestuösen Inhalt. Freud 
wies vor langer Zeit schon darauf hin, daß das Bettnässen bei Knaben einer 1 
Pollution gleichzusetzen sei („Drei Abhandlungen usw.“); ich habe in meiner 
Schrift über den Menstruationskomplex gezeigt, daß das Schamgefühl ur¬ 
sprünglich auf der Verdrängung inzestuöser Wünsche des Kindes beruht. 

Freud bemerkte, daß das Urinieren des Kindes dessen Art war, seine ( 
Männlichkeit zum Ausdruck zu bringen, und betonte dabei, daß diese J 
Männlichkeit ursprünglich gegenüber der Mutter zum Ausdruck komme. 1 
Daher gehe auch seine Scham offensichtlich schon auf die frühesten und ' 
nicht erst auf die später verdrängten libidinösen Regungen zurück. Nach 
unserer Theorie sind die anziehenden Gerüche vor der Menstruationszeit 
zuerst imstande, des Kindes frühe Leidenschaft für die Mutter aufs äußerste zu 
erregen, während später die Blutung, infolge der Assoziation mit den Todes- ! 

und Kastrationsdrohungen, und auch der mit der Blutung selbst auftretende, 1 

ganz anders geartete Geruch die traumatische Verdrängung der inzestuösen 
Neigungen herbeiführen. 

Wir wollen zu unserer Betrachtung des Vorfalles mit dem Schmetterling zurück- ! 

kehren. Die Analyse zeigte, daß der die Flügel öffnende und schließende Schmetter- I 

hng symbolisch eine Frau bedeutete, die die Schenkel öffnet und schließt; der Patient * 

hob besonders hervor, daß das Insekt schön war — er wurde anfänglich davon an- 
g^ogen; als es sich aber auf eine Blume setzte und auf dieser vermutlich die Flügel 
Öffnete und schloß, rannte er plötzlich schreiend davon. 

Das Insekt kann den Knaben nur an etwas erinnert haben, was einst schön 
gewesen war und sich dann plötzlich in etwas Häßliches und Schreckliches 
verwandelt hatte. War das nicht vielleicht die blutende Vagina seiner Mutter? 

Um diese Hypothese weiter zu verfolgen; Einst hatte die schöne Mutter ihm 
große Vertraulichkeit gestattet, hatte ihn als kleines Kind vielleicht sogar 
zwischen ihren Beinen spielen lassen, wie das so viele Mütter tun; alles an 
ihr war anziehend gewesen — wie sie aussah, wie sie schmeckte, wie sie sich 
anfühlte, wie sie roch, wie ihre Stimme klang; dann, nachdem er zuvor schon 
mit dem Tode oder mit der Kastration bedroht worden war, oder sich in der 
Phantasie davor gefürchtet hatte, sah er eines Tages ihren blutenden Zustand. 

Wir verstehen, daß er entsetzt War. 

Während wir diese Möglichkeit im Sinn behalten, wollen wir uns fragen; 

Lehrt die Psychoanalyse, daß eine Bemerkung wie die der Mutter dem Arzt 
gegenüber einen derartigen traumatischen Einfluß auf das Kind haben kann, 
wenn sie an keinerlei tatsächliches Erlebnis anknüpft? Oder sollen wir an¬ 
nehmen, daß die ererbte abergläubische Angst vor dem Menstruationsblut, die 
mit der Todes- und der Kastrationsfurcht in Zusammenhang steht, das Kind 
































- Der Kern des Ödipuskomplexes _ ^75 

für die späteren traumatischen Vorfälle prädisponiert, die sich in der onto- 

etischen Entwicklung aus tatsächlichen Drohungen und Erlebnissen ergeben? 
Dann muß die Psychoanalyse zugeben, daß die Bedingungen, die im Leben der 
Tiere als Brunst bezeichnet werden, irgendwo in der Ontogenese noch ihren 
seelischen Einfluß ausüben. 

Freuds Patient erzählt, es habe ihn ein „unheimliches“ Gefühl überkom¬ 
men, als der Schmetterling sich auf die Blume setzte. Also müssen wir, den 
Lehren Freuds entsprechend, annehmen, daß ihn das Insekt an etwas er¬ 
innerte, was ihm einst vertraut gewesen, was er aber verdrängt hatte. Hier 
sind zwei Auslegungen möglich; Entweder handelt es sich um die Genitalien 
der Mutter und das öffnen ihrer Schenkel, durch das ihre (vielleicht blutige) 
Vagina sichtbar wurde; oder es handelt sich um die Urszene; denn obgleich die 
Assoziationen dafür keinen Beweis erbrachten, ist es vielleicht erlaubt zu ver¬ 
muten, daß der Schmetterling, der sich auf der Blume niederließ, auch den 
Vater symbolisierte, wie dieser geschlechtlichen Verkehr mit der Mutter hatte 
und dadurch, der Vermutung des Kindes gemäß, ihre Blutung verursachte. 
Wir wissen, daß es im Volksaberglauben heißt, die Menstruationsblutung werde 
dadurch hervorgerufen, daß ein Dämon Geschlechtsverkehr mit dem Mäd¬ 
chen habe, oder dadurch, daß eine Schlange es beiße. Die Mythologie sagt uns, 
daß Gottes Sein in einer Rose ruhe; im Paradies der Brahmanen z. B. 
wohnt Gott in einer silbernen Rose. In der Volkssage hören wir auch, daß die 
Frauen zur Zeit der Menstruation Gott gehören.^® 

Wir ziehen den Schluß, daß das Menstruationstrauma die stärkste 
Furcht vor dem Vater verursacht, nämlich die Todesfurcht, und 
durch die „blutende Wunde“ auch die Kastrationsfurcht und die noch tiefere 
Furcht, gefressen zu werden, vermittelt. 

Im Unbewußten (ebenso wie wir es für die phylogenetische Entwicklung 
annehmen) hat der Vater allein das Recht, die Frau bluten zu machen, d. h. 
sie zu deflorieren; daraus entstand, unserer Hypothese nach, der Gedanke, daß 
die Menstruation durch den Vater verursacht werde, denn möglicherweise war 
der Wilde ebensowenig wie die Kinder heute imstande, zwischen der durch die 
Defloration hervorgerufenen Blutung und jener zu unterscheiden, die durch 
die Menstruation — oder wie im vorliegenden Fall durch ein Unterleibsleiden 
— bewirkt wird. 

Freuds Analyse fördert sehr klar zutage, daß die Angst vor dem Wolf die 
Furcht, vom Vater gefressen zu werden, bedeutet. Diese war datlurch ent¬ 
standen, daß der Knabe Zeuge des Koitus der Eltern geworden war. Ich habe 
anderswo^® auf den phylogenetischen Ursprung dieser so leicht zu erweckenden 
Furcht hingewiesen und dargelegt, daß sie das Mittel war, durch das der Vater 
die Horde in Zucht hielt. 


15) Siehe die Traumbeispiele im zweiten Teil dieser Schrift. 

16 ) Daly, Brit. Journ. of Med. PsychoL, XII. 
















Betrachtung des vermuteten Einflusses izuwenden, den 
jene zufällige Bemerkung der Mutter dem Arzte gegenüber auf das Leben des Pa¬ 
tienten ausubte. Freud bespricht, welche Rolle in der Zwangsneurose des Patienten 
das InterMse ani Blut spielte, stellt aber nicht fest, daß es das Resultat der Regression 
und der Zuruckverschiehung des Wissens um die Blutung der Mutter auf die anale 
Stufe war. Er nimmt an, die Tatsache, daß der Charakter des Knaben nunmehr 
ein sadistisch-analer wurde, sei das Resultat unterdrückter Onanie. Die alte Kinder¬ 
rau hatt dem Knaben nämlich gesagt, er werde eine Wunde bekommen, wenn er 
onaniere. 


Die alte Nanja ist jedenfalls nur ein Mutterersatz; auch wenn also die Mutter 
selbst niemals eine ähnliche Drohung geäußert hat, müssen wir dennoch (psy¬ 
chologisch) annehmen, daß die Kastrationsdrohung von der Mutter ■— d. h. 
von der Frau kam. Aber die Kastration wird auch vom Vater gefürchtet, 
denn phylogenetisch kommt die Drohung in den Pubertätsriten vom Vater 
(oder dessen Ersatzpersonen), obgleich dieser Teil der Erziehung inzwischen 
von der Mutter übernommen worden ist. In der Ontogenese glaubt der Sohn, 
daß der Vater die Mutter kastriert habe. Die Menstruationsblutung der Mutter 
bestätigt die Kastrationsangst, vermittelt aber auch die tiefere Furcht vor dem 
Tode, d. h. die Angst davor, von dem Vater gefressen zu werden. Daraus 
erklärt sich, daß in Träumen,!^ in der Mythologie und in der Kunst die 
Scheidenblutung so leicht nach oben auf den Mund verlegt wird. 

Freud erzählt, daß der Patient, als er gehört hatte, im Stuhl eines Dysen¬ 
teriekranken finde sich Blut, sehr unruhig geworden sei und erklärt habe, in 
seinem eigenen Stuhl sei Blut, er werde an Dysenterie sterben. Wir können 
annehmen, daß er in dieser Furcht sich mit der Mutter identifizieren wollte, 
von deren Blutungen er in dem Gespräch mit dem Arzt gehört hatte. 

In seinem späteren Identifizierungsversuch (als er viereinhalb Jahre alt war) 
sieht er von jeder Erwähnung des Blutes, die er selbst nicht mehr verstand, 
ab, denn „er verstand sich nicht mehr, vermeinte sich zu schämen und wußte 
nicht, daß er von Todesangst geschüttelt wurde, die sich in seiner Klage aber 
unzweideutig verriet“. 

Der Patient wünscht den Eindruck zu erwecken, daß er sich nicht etwa nur 
einbilde, er habe sich geschämt, sondern, daß er sich vielmehr wirklich ge¬ 
schämt habe, denn es handelt sich hier um die Verdrängung seines auf die 
Mutter gerichteten Verlangens unter der Todesdrohung; diese Verdrängung 
bewirkt die tief sitzende Scham — es gibt nichts, dessen sich der zivilisierte 
Mann mehr schämt, als des Koitus mit der Mutter. Indem die Menstrual¬ 
blutung die Furcht vor dem Tode und vor der Kastration erweckt, bewirkt sie- 
die Verdrängung der männlichen Phase des Ödipuskomplexes. Hinter dem 
Menstruationstrauma liegen die tiefste Leidenschaft für die Mutter und der 


17) Siehe die Traumbeispiele, in denen das Bluten aus dem Munde via Verschiebung dazu 
dient, die Scheidenblutung zu symbolisieren. 





























Der Kern des Ödipuskomplexes 


177 


tiefste Haß gegen den Vater. Daher kann, wenn der Menstruationskomplex 
nicht aufgelöst wird, keine Analyse als vollendet angesehen werden. 

Ich zitiere Freud aufs neue: „Dysenterie war ihm offenbar der Name der 
Krankheit, über die er die Mutter klagen gehört hatte. ... Unter dem Einfluß 
der Urszene erschloß sich ihm der Zusammenhang, daß die Mutter durch das, 
w^as der Vater mit ihr vorgenommen hatte, krank geworden sei, und seine 
Angst, Blut im Stuhle zu haben, ebenso krank zu sein wie die Mutter, war die 
Ablehnung der Identifizierung mit der Mutter in jener sexuellen Szene.. 

Wir können diesem Befund Freuds teilweise zustimmen. Meine Studien 
der Gepflogenheiten wilder Völkerstämme bestätigen den Widerwillen primi¬ 
tiver Männer, auf irgend eine Weise bewußt mit Frauen identifiziert zu 
werden. Dieser Widerwille hat seinen Ursprung hauptsächlich in der aber¬ 
gläubischen Furcht von den Blutungen, die alle weiblichen Funktionen be¬ 
gleiten —- Defloration, Menstruation, Gebären. Unser Haupteinwand gegen 
Freuds Befund lautet, daß hier nicht ein Einzelfall vorliegt, sondern ein 
typisches Phänomen. Aus der ergänzenden Analyse des Falles werden wir 
jedoch zu beweisen versuchen, daß sich der Patient in einer tieferen Schicht tat¬ 
sächlich im sexuellen Sinn mit der Mutter identifizierte. 

IV. Ruth Mack-Brunswicks Ergänzung der „Geschichte einer 

infantilen Neurose“ 

Wir wollen nun die besonders interessante Ergänzung der Freudschen 
Geschichte einer infantilen Neurose durch Ruth Mack-Brunswick be¬ 
trachten. Sie stellt fest, daß die zweite Analyse die Funde Freuds in allen 
Einzelheiten bestätigte und kein neues Material ans Licht brachte: „Wir hatten 
uns ausschließlich mit einem ungelösten Übertragungsrest zu beschäftigen.“ 

Diese Bemerkung ist überaus bedeutungsvoll, wenn wir bedenken, daß gerade der 
Teil der Mutterübertragung, der von dem Patienten nicht völlig durchlebt wurde, 
sich auf seine Identifizierung mit der Mutter bezog. Diese ging so weit, daß er zu 
bluten wünschte wie sie; dieses Bluten sollte durch Ersatzpersonen des Vaters 
(Freud, Professor X, usw.) verursacht werden, und zwar auf ähnliche Art wie, 
seiner Meinung nach, die Blutung der Mutter in der Urszene verursacht worden war, 
d. h. durch einen die Kastration in sich schließenden Koitus. Die Erregung, die ihn 
erfaßte, als der Professor sein Instrument (= Penis) nahm und einen Pickel (= Penis) 
des Patienten entfernte, wobei er ihm eine blutende Wunde (= Kastration und men¬ 
struierende Vagina) beibrachte, bestätigt, daß er sich völlig mit der Mutter identi¬ 
fizierte. 

Mack-Brunswick arbeitete auch die weitere Identifizierung heraus, die darin 
liegt, daß er ein Geschenk (= Kinder) vom Vater begehrt. Sie sagt mit vollem 
Recht: „Wenn der Patient wirklich so vollständig von seiner femininen Einstellung 
zum Vater geheilt gewesen wäre, wie es den Anschein hatte, hätte diese Unterstützung 
nie vermocht, eine solche Bedeutung in seinem Gefühlsleben zu erlangen.“ Ferner 
bemerkt sie: „Dennoch erscheint es mir unwahrscheinlich, daß eine Analyse bei einem 
männlichen Analytiker möglich gewesen wäre.“ 
















178 


C D. Daly 


Wir geben zu, daß in diesem besonderen Fall das erzielte Resultat der 
zweiten Analyse dadurch möglich wurde, daß der Analytiker eine Frau war. 
Mack-Brunswick erweitert ihre Feststellung, indem sie sagt: „Es ist etwas 
ganz anderes, ob man die Rolle eines Verfolgers gegenüber einer weiblichen 
(also schon kastrierten) paranoischen Patientin einnimmt, oder einem Mann 
gegenüber, für den die Möglichkeit der Kastration noch besteht. Man muß 
sich vergegenwärtigen, daß in der Psychose der Inhalt der Angst als real an¬ 
genommen wird; der psychotische Patient fürchtet sich wirklich davor, daß 
man ihm seinen Penis abschneidet, und nicht vor einer symbolischen Handlung 
von seiten des Analytikers. Die Phantasie erhält bei der Psychose Realitäts¬ 
wert. Die Situation der Analyse bedeutet damit für den Patienten eine zu 
große Gefahr. In diesem Fall mag das Geschlecht des Analytikers tatsächlich 
eine Rolle spielen.“^® 

Wir wollen uns nun die doppelte Bedeutung des Symbolismus des Blutes 
vor Augen halten. Es symbolisiert sowohl das Leben als auch den Tod. Freud 
erkannte in dem vorliegenden Fall, daß die auf die Dysenterie bezügliche Angst 
des Sohnes Todesangst war, und daß diese in unlöslichem Zusammenhang mit 
dem Bluten stand, ferner auch die Angst davor war, vom Wolf (Vater) ge¬ 
fressen zu werden, und zwar von einem Wolf, der den Fuß (Penis) vorstreckt. 

Was ist nun die wirkliche Ursache der Identifizierung des Sohnes mit der 
Mutter? Wir nehmen an, daß sie eine instinktive Abwehrmaßnahme zur 
Selbsterhaltung ist, bei welcher der Sohn in der Phantasie seinen Penis und 
seine Männlichkeit opfert, um sein Leben zu erhalten. Er ordnet sich dem 
Vater völlig unter, identifiziert sich mit der blutenden Mutter und verlangt 
nach der Kastration als einem Äquivalent der Defloration und der Schwänge¬ 
rung. Das erklärt, warum durch die symbolische Kastration des Patienten 
masochistische Erregung anstatt Angst hervorgerufen wurde: das Blut wird 
nämlich nun aus einem Symbol des Todes zu einem des Lebens, und dem Ich 
bleibt die Angst vor völliger Vernichtung erspart. Mack-Brunswick ist sich 
darüber offenbar klar, denn wo sie davon spricht, daß die Operation Er¬ 
regung anstatt Angst hervorrief und so eine passive Koitusphantasie darstellt, 
fügt sie mit weiblicher Intuition hinzu, daß offenbar auch eine Geburts¬ 
phantasie daran beteiligt sei. 

Für jede Frau sind Leben und Tod inniger miteinander verbunden als für 
den Mann. Seelisch gesunde Frauen erleben beim Gebären eine Ekstase, die in 

i8) Die von Mack-Brunswick aufgeworfene Frage ist sehr wichtig und wird künftig 
eingehender Erforschung bedürfen. Wenn wir bedenken, daß die erste Belehrung des Kindes 
durch die Mutter erfolgt, kann sich die Notwendigkeit ergeben, daß sich der Patient *Her 
Behandlung durch eine Frau unterzieht, wenn die Analyse — insbesondere als Lehranalyse — 
vollkommen sein soll. Die Männer dürfen sich hier nicht durch ihren männlichen Narzißmus 
irreführen lassen. Es ist auch möglich, daß manche Fälle sich mehr für eine Behandlung 
durch das andere Geschlecht eignen; vielleicht erfordern diese einen Wechsel des Analytikers, 
sobald ein gewisser Punkt der Analyse erreicht ist. 

























Der Kern des Ödipuskomplexes 


179 


ihrem vollen Umfang dem männlichen Geschlecht unbekannt bleibt; patho¬ 
logische Fälle bilden vielleicht eine Ausnahme, aber es ist doch zweifelhaft, ob 
selbst der völlig Invertierte im Orgasmus die Ekstase einer Frau erlebt oder 
auch nur seelisch die Krone aller Leidenschaft, die Ekstase des Gebärens, nach¬ 
empfinden kann. Eine durchaus gesunde Frau erreicht mit dem Erlebnis des 
Gebärens den Gipfel menschlichen Lustempfindens— eine Tatsache, auf die 
der Mann allezeit unbewußt eifersüchtig gewesen ist. 

Beim Manne finden wir Steigerungen der Ekstase erstens in dem Augen¬ 
blick, da er den Widerstand seines Libidoobjektes bricht,^® was in der Phylo¬ 
genese in Beziehung stand zu der Defloration des im Zustand der Brunst be¬ 
findlichen reifen jungen Weibes, das dadurch libidinös an den Urvater ge¬ 
bunden wurde; und zweitens auf der analen Stufe, da er Stuhlmassen in sich 
ansammelt, um masochistisch zu leiden (bei der analen schweren Geburt eines 
symbolischen Kindes), was eine der Folgen seines Neides, seines Weiberhasses 
und seiner Homosexualität ist. 

Im gemeinsamen Orgasmus kommt der Mann der weiblichen Ekstase nur 
nahe; die weit größere leidenschaftliche Freude des Gebärens bleibt ihm ver¬ 
sagt. Die leidenschaftliche Lust einer gesunden Frau beim Gebären wird 
jedem unvergeßlich bleiben, der sie einmal mit angesehen hat — allerdings wird 
man in unseren zivilisierten Staaten nur selten Augenzeuge dieses hochinter¬ 
essanten Phänomens. Die eindrucksvolle Beobachtung gebärender Frauen in 
Krankenhäusern bestätigte in mir die Richtigkeit der Befunde Groddecks. 

Mack-Brunswick erklärt, eine erfolgreiche Behandlung fordere, daß das 
gesamte unbewußte Material bewußt gemacht und die Motivierung der Krank¬ 
heit klargelegt worden sei. Ich stimme dem zu, und das glückliche Ergebnis 
des vorliegenden Falles infolge der Entwicklung der Mutterübertragung be¬ 
weist, daß dieses Ideal unerfüllbar wird, sofern wir nicht dem Mutterkomplex 
seinen Platz voll und ganz einräumen. Das heißt, wir können nicht hoffen, 
den Vaterkomplex aufzulösen, wenn wir den Mutterkomplex ignorieren. Wir 
hindern sonst den Patienten, sich der Periode der Mutter zu erinnern und die 
Affekte abzureagieren, die mit seiner größten Furcht und seinem größten Haß 
dem Vater gegenüber und seiner tiefsten leidenschaftlichen Liebe zur Mutter 
verknüpft sind. 

Mack-Brunswick stellt ferner fest, daß an dem Rückfall des Patienten nach 
der ersten Analyse die Erkrankung Freuds die Schuld trug. Sie sagt: „Es ist nicht 

19) Es ist ein Lustgewinn dieser Art, welcher häufig die Bemühungen mancher männlicher 
Psychoanalytiker zunichte macht, denn sie denken mit übergroßer Freude an den schließ- 
lichen Erfolg der Behandlung des Patienten, sehen mit unbewußter aggressiver Lust der 
Überwindung seines Widerstands entgegen. Ich habe einen Analytiker mit offenkundigem 
Vergnügen bemerken gehört; „Unsern entscheidenden Kampf (battle royal) haben 
wir noch nicht gehabt." Damit enthüllte er die zugrunde liegende Verschiebung verdrängter 
libidinöser Tendenzen auf den Patienten. Es handelt sich um etwas, was man als „elterlichen 
Komplex“ des Analytikers bezeichnen könnte — er fordert die Unterwerfung des Patienten. 












schwer, den Zusammenhang einzusehen. Der drohende Tod einer geliebten Person 
läßt alle Liebe, die man ihr zuwendet, aufblühen. Aber diese Liebe des Patienten i 
zu seinem Vater — Freud stellt ja für ihn den Vater dar — bedeutet die größte ^ 
Gefahr für seine Männlichkeit; dieser Liebe freien Lauf lassen, war ja verbunden mit I 
der Notwendigkeit der Kastration. Diese Gefahr wehrt der Narzißmus des Patienten 
mit allen Kräften ab: Die Liebe wird teils verdrängt, teils in Haß verwandelt. Die 
Folge dieses Hasses ist der Todeswunsch gegen den Vater. So verstärkt Freuds Er¬ 
krankung die gefahrvolle passive Liebe des Patienten und den damit zusammenhän¬ 
genden Kastrationswunsch so sehr, daß die Abwehr und Feindseligkeit einen neuen 
Mechanismus der Abfuhr nötig macht; und dieser ersteht ihm in Form der Pro- 
jektdon.‘‘ 

■■■■• ‘ ’ »v'ii 

Ich möchte dazu folgendes bemerken: Als der Patient den Gedanken faßte, 
daß sein Vaterersatz vielleicht sterben werde, waren die Grundlagen seines 
seelischen Lebens unterminiert, und infolgedessen lebten die verdrängten Kon¬ 
flikte neu auf. Wie mir die Analyse zu ergeben scheint, hatte der Patient 1 
seinen tiefen Haß gegen den Vater und seine leidenschaftliche Liebe zu seiner I 
Mutter verdrängt und das infolge eines psychischen Traumas, welches durch 
ein Wissen um die Scheidenblutung der Mutter verursacht worden war — 
(dasselbe kann meiner Meinung nach jedem Kind durch die Menstrualblutung 
seiner Mutter geschehen); mit der Scheidenblutung ist Todesdrohung ver¬ 
knüpft —' infolgedessen hatte der Patient seine Männlichkeit unterdrückt 
und war passiv homosexuell gegen seinen Vater geworden, d. h. er hatte sich 
mit der Mutter identifiziert und seine libidinösen Wünsche auf den Vater ge¬ 
richtet, wobei er alles Wissen um seine frühere Leidenschaft für die Mutter 
verdrängte. So war er imstande, seine Todesfurcht bis zu einem gewissen Aus¬ 
maß zu überwinden. Nun lebte die Todesangst infolge des drohenden Todes 
seiner Vater-Imago neu auf. Überdies erweckte die später stattfindende 
„Operation^‘ die Kastrationsangst aufs neue, die früher durch die Todesangst 
verstärkt worden war. 

Aus einigermaßen ähnlichen Gründen schmückt der Sohn die Mutter mit 
einem Phallus und schreibt ihr eine Aggressivität zu, die dem Vater gehört: 

So kommt er um die unangenehmen Gedanken herum, die der Augenschein 
ihres Blutens ihm aufgedrängt hatte, und läßt sich gleichzeitig die Möglichkeit 
offen, später wieder um ihre Liebe zu werben, diesmal aber als Frau. Bevor 
dies jedoch geschehen kann, muß die verschobene Rivalität mit dem Vater 
durchgearbeitet werden — zahlreiche Beweise für alles dies finden sich in der 
Durga-Mythe der Hindu-Mythologie. 

Dieser Vater, den er nun (aus verdrängtem Haß und verschobener Liebe) 
auf eine passiv-homosexuelle Art liebt, ist operiert worden und hat daher in 
der Phantasie dasselbe blutige Aussehen, das den Sohn dazu veranlaßte, seine 
inzestuöse Liebe zu seiner Mutter zu verdrängen. So wurden seine doppelt 
bedingten Todeswünsche freigemacht. 

Wir sehen, daß Freuds Krankheit nicht nur die Liebe des Patienten an- 





































Der Kern des Ödipuskomplexes i8i 

fachte, sondern schließlich all seinen verdrängten Haß gegen beide Eltern 
freisetzte, ein Zustand, gegen den sein Ich nicht erfolgreich anzukämpfen ver¬ 
mochte, wie sich wohl begreifen läßt. Wir verstehen nun wohl leichter, warum 
eine Frau ihm helfen konnte, seine Konflikte aufzulösen, und eine Kur zu 
vollenden vermochte, die zuvor einem erfolgreichen Abschluß schon so nahe 
gewesen war. Der Patient war nicht so sehr bemüht, seine Männlichkeit vor 
der Kastration zu schützen — das zeigt seine Erregung, als er (symbolisch) 
kastriert wurde und blutete (obgleich dies auf eine andere Stufe gehört) —, 
sondern er strebte danach, sich seine Abwehrmittel gegen die Todesfurcht zu 
erhalten. Die völlige Identifizierung eines Sohnes mit der Mutter, die nach 
mancherlei Zwischenfällen auf das Menstruationstrauma folgt, scheint an¬ 
zudeuten, daß das Individuum die Vorstellung der Kastration der der völligen 
Vernichtung durch Gefressenwerden vorzieht. Der Leser möge an jene Träume 
denken, in denen der Patient seinen Penis opfert, um sein Löben zu retten. 

In dem Fall meines Patienten „X“ zeigt einer seiner Träume deutlich, daß 
die Furcht vor dem Gefressenwerden hinter der Kastrationsangst steht; — 
normalerweise verstärkt diese die Todesangst. In diesem Traum war der 
Patient schon kastriert und hoffte, daß der Vater (in der Gestalt eines Tigers) 
seine Genitalien fressen, ihn aber am Leben lassen werde. 

Hinter der Furcht vor dem Bluten liegt phylogenetisch die Anziehung der 
weiblichen Brunst, deren ontogenetische Parallele der Tropismus der Frau ist. 
Der Geruch der weiblichen Genitalien wird vom Erwachsenen nur im Zustand 
der Leidenschaft lustvoll erlebt, zu anderer Zeit wirkt er abstoßend. 

Frauen lassen instinktiv die Menstruation eintreten, wenn sie die Leiden¬ 
schaft eines Liebhabers neu entfachen wollen, denn sie wissen sehr gut, daß 
dieser Zustand die Begierde eines Liebenden wieder zu entzünden imstande ist, 
die, wie sie etwa fürchten, durch seine Abwesenheit abgeschwächt worden sein 
mag.2» Die Menstruation errichtet im Wege des Tabu eine Schranke, die in 
Wirklichkeit die Inzestschranke ist, die Vorstellung des Blutens erweckt un¬ 
bewußt Aggressivität und Männlichkeit. Diese müssen aber beherrscht werden, 
weil die Frau zur Zeit tabu ist. So errichtet jede Menstruation die Inzest¬ 
schranke für den Mann, denn während ihrer Dauer ist die Frau für ihn eine 
Mutter. Sobald sie vorüber ist, befriedigt er in der normalen Sexualbetätigung 
auch die unbewußten inzestuösen Phantasien. 

Bevor wir zur Betrachtung paralleler Fälle übergehen, möchte ich noch 
einige Einzelheiten des Wolfsmann-Falles kurz erwähnen. Erstens wollen wir 
die Möglichkeit erwägen, ob nicht das Kind, da die Mutter an dauernden 
Blutungen litt, leicht tatsächlich Blut zu Gesicht bekommen konnte, vielleicht 
auch in der Urszene im Augenblick, da der Vater sich zurückzog. Zweitens 
möchte ich dem Einwand zuvorkommen, ich hätte Freuds Material erweitert 

20) Ich habe dafür unverkennbare Beweise erlebt — der Leser vergleiche aber auch 

Groddecks Beobachtungen im „Buch vom Es", 3.Aufl. 1934. Int. Psa. Verlag, Wien. 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXI/2 ^ 















n 


182 


C. D. Daly 


oder übermäßig interpretiert, obgleich es klar sei, daß er, der in täglichem 
Kontakt mit dem Patienten stand, weit mehr Gelegenheit gehabt haben müsse, 
richtige Schlüsse zu ziehen. Ein solcher Einwand wäre jedoch nicht triftig: 
Ebensowenig dürfen Anthropologen Einspruch dagegen erheben, daß ihr Ma¬ 
terial von Psychoanalytikern auf Grund ihres Wissens um die unbewußte 
Symbolik, das durch die psychoanalytische Forschung gewonnen worden ist, 
neu interpretiert wird. Drittens ist bisher noch nicht erwähnt worden, daß 
das Wort „Schleier“ in allen solchen Fällen eine wichtige Rolle spielt. Es wird 
von Patienten, Analytikern, Schriftstellern und Dichtern immer gebraucht, 
wenn auf Dinge hingewiesen werden soll, hinter denen der Menstruations¬ 
komplex verborgen liegt. Ich habe in dieser kurzen Zusammenfassung des 
Wolfsmann-Falles vom „Schleier“ nicht gesprochen, weil seine Bedeutung sehr 
viel klarer in dem Material Groddecks zutage tritt, das wir nun betrachten i 
wollen. 1 

V. Eine weitere Bestätigung der Bedeutung des Menstruations¬ 
komplexes durch Groddecks Fall des Herrn D.^^ 

Ich stelle den Fall im folgenden zunächst im Anschluß an den Krankheits¬ 
bericht Groddecks dar. 

Wer diesen Bericht gelesen hat, wird wissen, daß der Patient, ein junger deutscher 
Offizier, an häufigen Anfällen von hitzigem Fieber litt, an Geschwüren, Ohnmächten, 
Herzstörungen, Skleroderma usw. Er war oft gefährlich krank, „vermutlich“ auch 
„syphilitisch“. 

Seine Analyse zeigte, daß er Fieber bekam, wenn an seinem Ödipuskomplex ge¬ 
rührt wurde und die „syphilitischen“ Symptome wieder auftraten, wenn man sich 
der Impotenzvorstellung näherte. 

Das Fieber war, wie sich herausstellte, das Ergebnis dnes Schamgefühls darüber, 
daß er gegen seine Mutter gleichgültig geworden war, die er früher leidenschaftlich 
geliebt hatte; die „Syphilis“ hingegen war ein Mittel, seinen Vater zu strafen an > 
seinem eigenen Geschlechtsorgan, das den Vater als Erzeuger symbolisierte. Im I 
Vordergrund jedoch stand die Leidenschaft für die Mutter, und nach Groddecks , 
Meinung bewiesen die Anfälligkeit, die Häufigkeit und die Dauer der Krankheit, wie j 
sehr der Patient immer noch an die Mutter-Imago gebunden war. Er wünschte, 
seinem Vater zu gleichen, damit er die Mutter besitzen könne. j 

Er war bei Frauen der Gesellschaft (entsprechend dem Mutterideal) impotent, bei 1 
Prostituierten (entsprechend dem verdrängten Mutterersatz) hingegen potent. Die | 
Anfälle von Skleroderma erwiesen sich als Selbsbestrafung dafür, daß er ein später 
geborenes Geschwister loszuwerden wünschte — offenkundig eine Folge seiner I 
Leidenschaft für die Mutter. Ihre Schwangerschaft und das spätgeborene Kind | 
hatten ihn mit Mord- und Rachegedanken erfüllt. 

Der Gedanke an Syphilis entsprang dem Mutterkomplex, der so stark war, daß er 
immer wieder neue Symptome hervorbrachte. Alle Ärzte ließen sich täuschen. Der 
Patient glaubte, daß er syphilitisch sei, weil er, wie er sagte, einmal Verkehr mit 
einer Prostituierten hatte, die einen Schleier trug. Es leuchtet ein, daß seine 

21) Groddeck, Das Buch vom Es, 3. Aufl. 1934, Int. Psa. Verlag, Wien. 






























Der Kern des Ödipuskomplexes 


183 


vermutliche“ Syphilis einerseits eine Selbstbestrafung für sein unbewußtes Inzest¬ 
verbrechen (Beziehungen zu Prostituierten = Mutter) war, anderseits ein Ausdruck 
seiner Weiblichkeit und seines unbewußten Wunsches, von der Mutter 

geschwängert zu werden.^^ 

Als er Zweifel in Groddecks Gesicht las, sagte er: „Alle Straßenmädchen, die 
einen Schleier tragen, sind syphilitisch.“ Groddeck war dieser Gedanke neu, aber, 
da er ihn für vernünftig hielt, forschte er weiter. 

„Sie glauben also, daß dieses Mädchen Sie infiziert hat?“ 

„Ja“, sagte der Patient und fügte sofort hinzu: „Ich weiß aber nicht, ob ich in¬ 
fiziert wurde. Sicher nicht später, denn ich habe seither nie mehr Verkehr mit 
einer Frau gehabt. Den Morgen darauf bekam ich Angst, und ich ging zu einem 
Arzt, um mich untersuchen zu lassen. Er trug mir auf, in einigen Tagen wieder¬ 
zukommen. Das tat ich, erhielt aber aufs neue die Weisung, wiederzukommen; das 
ging einige Zeit so, bis er mir eines Tages halb lachend und halb ärgerlich sagte, 
daß ich ganz gesund sei und von Syphilis nicht die Rede sein könne. Seither habe 
ich mich von zahlreichen Ärzten untersuchen lassen. Keiner hat es gefunden.“ 

„Aber Sie standen doch, bevor Ihre Erkrankung während der Kriegszeit begann, 
in antiluetischer Behandlung?“ fragte Groddeck. 

„Über mein eigenes Verlangen. Ich dachte, daß meine Kopfschmerzen, mein 
Beingeschwür, mein Armleiden, alles von Syphilis herrühren müsse.“ (Syphilis = Schwän¬ 
gerung durch die mit einem Penis ausgestattete Mutter oder durch den Vater in der 
passiven Phase.) „Ich hatte alles gelesen, was über Skleroderma geschrieben worden 
ist, und manche Autoren bringen es mit Syphilis in Zusammenhang.“ 

„Aber Sie waren erst fünfzehn Jahre alt, als es anfing?“ 

„Mit hereditärer Syphilis“, fiel er ein. „Ich habe niemals ernstlich an die Infek¬ 
tion geglaubt, sondern dachte, daß mein Vater syphilitisch gewesen sei.“ 

Er schwieg eine Weile; dann sagte er: „Wenn ich mich recht entsinne, trug das 
Mädchen, von dem ich sprach, gar keinen Schleier. Im Gegenteil, ich weiß 
genau, daß sie nicht den kleinsten Fleck auf dem ganzen Körper hatte. 
Ich zog sie nackt aus, ließ das elektrische Licht die ganze Nacht brennen, betrachtete 
sie nackt vor dem Spiegel, las ihr Buch — mit einem Wort, es ist ganz ausgeschlos¬ 
sen, daß sie krank war. In Wirklichkeit hatte ich schreckliche Angst, ich sei ein 
hereditärer Syphilitiker. Deshalb ging ich zum Arzt, und ich erzählte ihm den 
Lügenbericht, daß das Mädchen verschleiert gewesen sei, weil ich meinen Verdacht 
gegen meinen Vater nicht eingestehen wollte, und seither habe ich jene Lüge so oft 
wiederholt, daß ich sie schließlich selber glaubte. Jetzt aber nach der analytischen 
Behandlung weiß ich ganz bestimmt, daß ich niemals dachte, das Mädchen sei syphi¬ 
litisch, und daß sie keinen Schleier trug.“ Betroffen von der Absonderlichkeit dieser 
Erzählung, fragte Groddeck den Patienten um seine Einfälle zum Wort „Schleier“, 

Es kamen zunächst zwei Antworten: „Der Witwenschleier“ und „Raphaels Ma¬ 
donna mit dem Schleier“. Aus diesen beiden Assoziationen ergab sich eine lange 
Reihe anderer, welche Groddeck zusammenfassend bespricht: 

Der Witwenschleier führte sofort zum Tode des Vaters und der Trauer der 
Mutter. Daraus ergab sich alsbald, daß D. im Lauf seines Kampfes um die Ver¬ 
drängung des Inzestwunsches seine Mutter mit der Prostituierten identifiziert hatte; 
er hatte S'ie fiktiv mit dem schwarzen Schleier bedacht und sie in der Phantasie 
Zu einer Syphilitikerin gemacht, weil sein Unbewußtes glaubte, daß es auf diese 
Weise mit dem nächsten Wunsch leichter fertig werden würde: Die Mutter mußte 
und sollte aus seinem erotischen Leben ausgeschlossen werden. Wer an Syphilis er- 

22) Vgl. den Durga-Mythos. 


13 ’ 

















krankt ist, darf vom Mann nicht begehrt werden; deshalb mußte seine Mutter als 
Syphilitikerin gelten. Das gelang aber nicht — wir werden bald sehen, warum — 
und so mußte ein Ersatz gefunden werden. Dies geschah mit Hilfe der Schleier¬ 
assoziation, und um die Schranke zu verstärken, wurde die Vorstellung ausgearbeitet, 
daß der Vater syphilitisch gewesen sei. 

Daß der Patient nicht an die Syphilis der Mutter geglaubt habe, sei leicht zu be¬ 
greifen, sagt Groddeck; aber Herr D. habe daran einen anderen Gedanken ge¬ 
knüpft, der sich in der Assoziation der „Madonna mit dem Schleier“ zeigte. D. machte 
seine Mutter unnahbar, unbefleckt und schaltete so den Vater völlig aus; dies hatte 
noch den weiteren Vorteil, daß er von sich selbst nun glauben konnte, er sei gött¬ 
lichen Ursprungs, von einer Jungfrau geboren. 

Um seinen Inzestwunsch zu verdrängen, trotzte er seiner Mutter und würdigte 
sie gleichzeitig zu einer syphilitischen Prostituierten herab. 

Groddeck hat uns noch mehr über diesen außergewöhnlich lehrreichen 
Fall zu sagen, doch ist es angezeigt, an dieser Stelle eine weitere Betrachtung 
der bereits dargelegten Tatsachen in bezug auf meine eigene. Theorie einzu¬ 
schieben, d. h. auf die Theorie, daß der Menstruationskomplex der 
Kern des männlichen oder eigentlichen Ödipuskomplexes und 
die Hauptursache der Verdrängung desselben ist. Die Einzelheiten 
dieser Verdrängung werden in dieser Arbeit an anderer Stelle erörtert. Wir 
haben im vorangehenden Bericht nur Menstruation mit Syphilis gleichzusetzen 
und werden den Ursprung der Erkrankung des Patienten verstehen. Jede 
„unbefleckte“ Göttin bedeutet auch eine Verleugnung der Sexualität und 
der Menstruation der Mutter; sie stellt die Verdrängung des Sexuellen und ein 
„Ideal“ dar. Die Erinnerung an die Monatsblutung der Mutter fällt ebenfalls 
der Verdrängung anheim, desgleichen die Erinnerung an die aggressive Be¬ 
gierde, die jenes Bluten einst im Sohn erweckt hatte. Übrig bleibt als einziges 
Anzeichen der durchlebten Konflikte gewöhnlich nur ein größeres oder ge¬ 
ringeres Ausmaß sadistischer Grausamkeit, und auch diese wird häufig durch 
übermäßige Zärtlichkeit wieder verdeckt. 

Die Anspielungen auf den Schleier, die Herr D. im Zusammenhang mit 
seiner eingebildeten Syphilis macht, liefern, wie ich glaube, sehr wertvolle 
Beweise für meine Theorie. Phylogenetisch läßt sich der Ursprung des 
Schleiers darauf zurückführen, daß die Hülle, welche die Sexualorgane der 
Frau zur Zeit ihrer Brunst verbarg, d. h. das Mittel, das der Isolierung ihres 
Reizes diente, Gegenstand einer Verschiebung von unten nach oben wurde. 
Vielleicht wurde der Schleier zuerst benützt, um zu verhindern, daß die ge¬ 
fährlichen Tropismen sich ringsum verbreiteten; später mag er dazu gedient 
haben, die sichtbaren Zeichen der Menstruation zu verbergen, die als immer 
wiederkehrende Krankheit galt.^^ Aus den gegebenen Assoziationen zeigt sich, 
daß auch wohl eine enge Beziehung zwischen der Prostituierten, bei der 
Herr D. sich die Infektion geholt zu haben glaubte, und dem unbewußten 
verdrängten Mutterkomplex besteht, der in den Hinweisen auf die Madonna 


23) Daly, Imago, XIV, 1928. 






























Der Kern des Ödipuskomplexes 185 

zum Ausdruck kommt. Was kann diese parallele Assoziation sein? Geht es 
dabei nicht um den Schleier? Was der Schleier ist, können wir aus den Be¬ 
merkungen des Patienten mit Gewißheit erraten, obgleich er die Nennung 
der Sache noch unterdrückt. Wenn wir anstatt Schleier „Monatsbinde*^ setzen, 
ist das Geheimnis enthüllt; doch infolge der Intensität des Menstruationstabu 
wurde diese Mitteilung unterdrückt. Ob das Mädchen damals ihre Monats¬ 
blutung hatte oder nicht, wissen wir nicht, aber die Assoziation zwischen 
Schleier und Anzeichen von Krankheit auf dem Körper zeigt sich 
darin, daß er seine ursprüngliche Mitteilung, er habe sich bei einer kranken 
Prostituierten Syphilis geholt, ableugnet — das sieht sehr nach einem Wider¬ 
stand aus. Vielleicht heuchelte er, weil er sein allzu schmerzliches, und tief 
verdrängtes Geheimnis, die Menstruation der Mutter betreffend, nicht preis¬ 
geben wollte. „Wenn ich mich recht entsinne,** — eine solche Wendung muß 
uns wohl mißtrauisch machen! — „trug das Mädchen von dem ich sprach, gar 
keinen Schleier. Im Gegenteil, ich weiß genau, daß sie nicht den kleinsten 
Fleck auf dem ganzen Körper hatte.** Hier haben wir den wahren Grund für 
die Ableugnung seiner ersten Mitteilung. Er flieht vor dem Gedanken, daß 
seine Mutter krank sei (= menstruiert); und er verschiebt den Gedanken 
ebenso wie in der Kindheit auch jetzt wieder auf den verhaßten Vater. Auch 
möchte er seine verdrängten muttermörderischen Neigungen nicht enthüllen.^^ 
Der Gedanke, daß er krank werde, wenn er mit einer menstruierenden Frau 
verkehre, hat sich dem Mann schon früh in der Phylogenese tief eingeprägt; und 
vielleicht war er ganz früh in der Geschichte des Menschen wifklich wahr. 
Denn, wie ich schon anderswo darlegte, kann die Kongestion, die im Körper 
der Frau dadurch entsteht, daß sie zur Zeit ihrer physiologischen Bereitschaft 
nicht befruchtet wird (d. h. durch die Unterdrückung ihrer Brunst zur Zeit 
der Pubertät), eine bakteriologische Infektion erleichtert haben; möglicher¬ 
weise sind daher die Geschlechtskrankheiten des Menschen gleichzeitig mit 
dem Inzestgesetz entstanden. Dies ist nur eine Hypothese, aber eine, welche 
die Bakteriologie auf Grund der Wahrscheinlichkeit stützen kann, denn Bak¬ 
terien entwickeln sich in solchen kongestionierten Organen besonders gut; 
Psychologen anderseits, welche sich die Theorie des „Es** zu eigen gemacht 
haben, werden der Ansicht zustimmen, daß das unbefriedigte „Es**, unfähig, 
sein Endziel der Befruchtung zu erreichen, sehr wohl eine „Schwängerung** 
des Körpers mit Krankheitskeimen erleichtert haben kann. Groddeck 
würde meine Hypothese jedenfalls gelten lassen. Sollte es nur Zufall sein, daß 
Herrn D.s Krankheit begann, kurz nachdem seine Mutter schwanger geworden 
war? Sie war nun doppelt krank, und an beiden Übeln trug der Vater die 
Schuld. Alles Wissen darum, sowie um die Geburt seines kleinen Bruders 
und um seine grausamen Wünsche gegen die Eltern und diesen kleinen 
Rivalen verdrängte er. 


24) Dürkheim, La prohibition de l’incest, L’ann^e sociolog., 1898. 















i86 


C. D. Daly 


Die Assoziationen des Patienten lassen in uns keinerlei Zweifel bezüglich der 
Bedeutung des Schleiers. Denn er bringt seine Mutter mit dem schwarzen 
Schleier (= Tod) in Beziehung erstens zu der Prostituierten, die Krankheit 
symbolisiert, zweitens zur Syphilis und drittens zur Madonna. Auf der einen 
Stufe, der der Verdrängung, kann er keine Beziehungen zur Mutter haben, weil 
sie eine Prostituierte und Syphilitikerin ist, weil sie menstruiert, dem Vater ge¬ 
hört, usw.; auf der anderen, auf der des projizierten Ideals, kann er keine Be¬ 
ziehungen zu ihr haben, weil sie eine unbefleckte Jungfrau ist, ein geschlechts¬ 
loses Wesen, obgleich der Schleier anzeigt, daß sie dennoch ein menstruierendes 
Weib ist. Mit diesen beiden Stufen stehen sein Fieber und seine Impotenz in 
Zusammenhang, der Ausbruch der Krankheit hingegen mit der späten Schwan¬ 
gerschaft der Mutter. 

Ich möchte nun Freuds ursprüngliche Theorie über das Verhalten vieler 
männlicher Neurotiker, die gegenüber einer sozial gleichstehenden Frau 
impotent, bei Prostituierten aber potent sind, dahin erweitern, daß dabei im 
Unbewußten der Menstruationskomplex mitwirkt. In der Phase nach dem 
Menstruationstrauma ist die Mutter gleich der Madonna „ideaP^ der Sohn gibt 
in diesen Fällen häufig nicht zu, daß die Mutter menstruiert, und fürchtet 
stets, daß er krank werden könnte, wenn er mit einer Prostituierten Verkehr 
hat. Diese Furcht ist mehrfach determiniert: einerseits symbolisiert die Pro¬ 
stituierte im Unterbewußtsein die verdrängte „menstruierende^^ Mutter, die er 
sehnsuchtsvoll begehrt und gleichzeitig haßt, und der er in seiner Identifizie¬ 
rung mit dem Vater dasselbe tun möchte, was dieser ihr seiner Meinung nach 
tat: sie bluten machen und sie schwängern. Auf dem Wege seiner späteren ver¬ 
drängten passiven Homosexualität fürchtet er aber auch umgekehrt, nachdem 
er Verkehr mit der Prostiuierten gehabt hat, daß die Mutter ihrerseits ihn 
geschwängert, krank, d. h. syphilitisch gemacht haben könnte. Diese Furcht 
wird durch Gedanken an den Vater verstärkt, dem er in der Kindheit den 
Tod wünschte (diesen Wunsch verschob er auf die Mutter), und durch Scham 
vor der Mutter, die, das fühlt er, seine Tat als Untreue gegen sie auffassen und 
überdies merken wird, daß er sich immer noch sexueller Betätigung erfreut, 
obgleich er diese sehr sorgfältig vor ihr verbarg und sie nur insgeheim betrieb; 
denn alle seine späteren Beziehungen zur Mutter zeigten nichts anderes als 
zärtliche Liebe. 

Ich bin deshalb der Meinung, daß „Schleier“ die Monatsbinde symbolisiert 
und auf der tiefsten Regressionsstufe die Windel. Eine häufig gebrauchte 
Wendung lautet: einen Schleier über etwas Schmähliches oder Unangenehmes 
breiten; das Schmähliche oder Unangenehme wird hier symbolisch mit der 
„Schande der Frau verglichen, ein Zustand, der ihr, wie ich gezeigt habe, in 
der Phylogenese durch die Inzestschranke auf gezwungen wurde, und dessen 
unvermeidliches Ergebnis die Unterdrückung jener mit der weiblichen Brunst 




































verknüpften sexuellen Reize war, denen der Mann einst nicht zu widerstehen 

'"^iSchstwahrscheinlich verursachte in der Phylogenese die Tatsache, daß die 
u während ihrer Brunst nicht geschwängert wurde, beim Menschen jene 
rkc Blutung, die als Menstruation bekannt ist; auf dem Wege der Re- 
! ssion zu der früheren kannibalistischen Stufe (deren ontogenetische Par- 
°Me sich in dem Kinde an der Mutterbrust zeigt) verwandelte dieses Bluten 
die normale aggressive Seite des Sexualtriebs in Sadismus und setzte an Stelle 
dir Zärtlichkeitskomponente jene der Grausamkeit und des Hasses. 

Der Abscheu, der durch den Anblick der Blutung der Frau hervorgerufen 
wird, erfordert, daß der daraus entstehende Haß im Leiden des Sexualobjektes 
seelische Befriedigung erfahre, bevor dem Angreifer normale Befriedigung 
zuteil werden kann. Das Ausmaß des geforderten Leidens steigert, sich in 
extremen Fällen bis zur Notwendigkeit zu töten, damit sexuelle Befriedigung 
eintreten kann. 

VI. Belege für die psychologische Bedeutung der Scheiden¬ 
blutung in einer Arbeit Lampl-de Groots^® 

In den Arbeiten Lampl-de Groots interessiert uns besonders folgender 
Fall: Eine Patientin beschrieb ihre Phantasien in bezug auf Spitalspatienten 
und sprach von einem Gefühl schaudernder Lust, das sie überkomme, 
wenn sie sich die schmerzhaften blutenden Wunden vorstelle. Es 
überrascht uns nicht, zu hören, daß diese Patientin auf dem Wege ihres Penis¬ 
neides und Wetteifers die Vorstellung einer blutenden Wunde auf die Eichel 
ihres Bruders verschoben hatte. Daß ihre Furcht vor dieser blutenden Wunde 
sich in Wirklichkeit auf ihre eigene Person bezieht, und das auf dem Wege ihrer 
Identifizierung mit ihrer Mutter, zeigt sich klar aus ihrer Christus-Identifi¬ 
zierung. Eine weitere Interpretation dieser Identifizierung besagt,^ daß das 
kleine Mädchen nach dem Menstruationstrauma ihre Männlichkeit aufgibt 
und den Vater, den sie früher als Nebenbuhler betrachtet hatte, zu ihrem 
Objekt macht. 

Jene „schaudernde Lust*' erinnert an das ähnliche Gefühl des Wolfsmanns 
beim Anblick des Blutes, das bei seiner kleinen Operation floß; ferner auch 
an die angstvolle Freude, die junge Mädchen in der Pubertät bei ihren ersten 
Menses empfinden. Das Schaudern gehört dem verdrängten Kastrations¬ 
komplex und dem Menstruationstrauma an sowie dem damit verknüpften 
sichtbaren Beweis der Verletzbarkeit des weiblichen Körpers;^® in unbewußtem 
Widerspruch dazu steht die stolze Freude über den Beginn des reifen Alters 
und das Wissen des jungen Mädchens, daß es nun Männern ebenso begehrens¬ 
wert sein wird, wie seine Mutter einst dem Vater war. 


25) Lampl-de Groot, Int. Ztschr. f. Psa., XIII, 1927* 
16) Horney, Int. Ztschr. f. Psa., XIX, 1933. 

















Ohne hier auf die mythologische Bedeutung der heiligen Seitenwunde näher 
ge en (siehe z, B. Pfister: „Die Frömmigkeit des Grafen Zinzendorf“) 
emerken wir, daß die Vatergottheit im Zusammenhang mit der blutenden 
SteX A gefürchtet wird. So nimmt der Sohn, der schließlich an 

A g A-’^ ä'e^’gowheit trat, diesen Schrecken vor dem Vater, symbolisiert 
durch die blutende Wunde, wieder auf sich, nachdem er ihn infolge des Z 
strations- und des Menstruationskomplexes auf das Weib verschoben hatte 

unserer menschlichen oder männlich-homosexuellen 
Seilschaft notwendig; es wurde die schwindende Furcht des Mannes vor 
Gott (dem Vater) dadurch verstärkt, daß seine größere Furcht vor der Frau 
m den Dienst der verdrängenden Kräfte gestellt wurde. So wurde auch die 
utter introjiziert und bildet fürderhin einen Teil des strafenden Über-Ichs 

primitiveren Stadium in 

der Sitte der Subinzision bei wilden Völkerstämmen. Hier flößen die Älteren 
durch das Bluten der Schnitte die sie sich in den Penis machen, den Initiierten 

Irrr schwindende Autorität, indem sie die Kastrations¬ 

angst verstärken. Auf diese Weise sichern sie sich die völlige Unterwerfung 

so weit, daß sie sich der Initiierten als 
homosexueller Objekte bedienen, bevor sie ihnen einen heterosexuellen 

säcHit"^ Befriedigung ihrer Leidenschaft erlauben. So wird hier der Sohn tat- 
sachlich zur Ehefrau gemacht.^^ 

mittelhr"' Lampl-de Groots findet sich zwar kein un- 

TedT? Menstruationstrauma, wohl aber eine für uns 

auß Z Patientin wurde während der Pubertät von einem 

außerordentlich starken Widerwillen gegen jegliche sexuelle Tendenzen erfaßt 

«füh • d- Minderwertigkeits- 

setf (= männlich zu 

sein). Sie verriet Neid, Eifersucht und deutlich erkennbare muttermörderische 

N igjgen, hinter denen die tiefere Leidenschaft ihres negativen ödipus- 

fnrLkht wT r., iT Kastrationskomplex 

off d Schuldgefühle zwangen sie, sich seelisch zu kastrieren, so- 

ihrem Gatten keine Befriedigung finden, weil sie in ihrem negativen ödipus- 
komplex fixiert war Wie bei Knaben fällt auch bei Mädchen "die 

donstT^"^^^' Menstrua- 

tionstrauma. 

(Der zweite Teil dieser Arbeit wird im nächsten Heft der Zeitschrift veröffentlicht werden.) 


> 1932- 


27) Rohe im, Imago, XVIII, 




































über den Einfluß psychischer Faktoren 
auf gastrointestinale Störungen 

L 

Allgemeine Grundsätze, Ziele und vorläufige Ergebnisse 

Von 

Franz Aiexandier 

Chicago 

Die Erforschung des Einflusses psychischer Faktoren auf gastrointestinale 
Störungen, die uns gegenwärtig am Psychoanalytischen Institut in Chikago 
beschäftigt, ist nur ein Teil eines umfassenderen Arbeitsplanes, nämlich der 
systematischen Ergründung des Einflusses psychischer Faktoren auf die ver¬ 
schiedenen vegetativen Systeme, auf das Kreislauf-, das Atmungs- und das 
endokrine System. Der Grund dafür, daß wir mit der Erforschung paralleler 
Fälle von gastrointestinalen Störungen beginnen, ist ein dreifacher: 

1. Ich machte in früheren Jahren bei Fällen von Magenneurosen gewisse Be¬ 
obachtungen, die mir nicht nur typisch für derartige Erkrankungen schienen, 
sondern auch wichtig für die Ätiologie peptischer Geschwüre, die eines der 
großen Rätsel der internen Medizin ist. Bei einem Patienten mit einer 15 Jahre 
alten chronischen Magenneurose, der vorübergehend auch ein peptisches Ulkus 
bekommen hatte, konnte ich sehr deutlich eine Beziehung zwischen Gefühls¬ 
konflikten und gastrischen Symptomen verfolgen. Mit zunehmender Er¬ 
fahrung empfand ich immer stärker den Wunsch, eine Anzahl ähnlicher Fälle 
zu studieren, durch die jener Zusammenhang bestätigt werden mochte. In 
der Privatpraxis ist die Auswahl passender Fälle nicht immer möglich; die Er¬ 
richtung des Instituts für Psychoanalyse in Chikago, das vor allem der For¬ 
schung dienen soll, hat mir die gewünschte Arbeitsgelegenheit geboten und 
zugleich die Möglichkeit, taugliche Parallelfälle auszuwählen. 

2. Der zweite Grund dafür, daß wir mit dem Studium des Gastrointestinal¬ 
trakts begannen, lag in der sowohl von Organikern als auch von Psycho¬ 
analytikern anerkannten Tatsache, daß die Verdauungsorgane vom seelischen 
Apparat mit Vorliebe dazu benutzt werden, gewisse Gefühlsspannungen zu 
erleichtern. Der Zusammenhang zwischen psychischen Reizen und physischem 
Ausdruck ist hier unmittelbar und verhältnismäßig einfach. Orale Auf¬ 
nahme- und aggressive Wegnahme-Tendenzen wie auch anal-sadistische und 
zurückhaltende Impulse stehen in einer längst bekannten Beziehung zu Ekel, 


i) Dies ist der erste Teil eines Symposions, an welchem F, Alexander, Catherine 
Bacon, George Wilson, Maurice Levine und Harry Levey teilgenommen haben. Ver¬ 
öffentlicht in Psa. Qu., V0I.III, 1934; aus dem Englischen übersetzt von Helene Reiff. 












igo 


Franz Alexander 


Erbrechen, Verstopfung und Durchfalld“ Auf diesem Gebiet konnte unsere 
Forschungsarbeit daher von anerkannten Voraussetzungen ausgehen, wir hatten 
festeren Boden unter den Füßen als etwa auf dem Gebiet der Atmungsorgane 
oder auf dem der inneren Sekretion. 

3. Schließlich konnten wir aus der von Internisten bereits geleisteten For¬ 
schungsarbeit Nutzen ziehen. Denn die interne Medizin erkennt in zunehmen¬ 
dem Maße, welche Bedeutung bei vielen Störungen des Gastrointestinaltrakts 
psychischen Erscheinungen als verursachenden Faktoren zukommt. 

Obgleich wir von wertvollen psychoanalytischen und medizinischen Beob¬ 
achtungen ausgingen, mußten wir doch erkennen, daß alle Feststellungen 
sowohl der Organiker als auch der Psychoanalytiker unvollständig geblieben 
waren. In der Medizin ist die Haltung in bezug auf die Ätiologie gewöhnlich 
folgende: Sobald nachgewiesen ist, daß das Symptom keinerlei organischen 
Ursprung hat, glaubt man sich berechtigt, auf psychische Faktoren zu 
schließen, wenn sich nur im Verhalten des Patienten das zeigt, was man ge¬ 
meinhin als „Nervosität“ bezeichnet. Ist eine solche Diagnose gestellt und 
mit Hilfe verschwommener Wendungen der Alltagssprache, wie etwa „nervöse 
Erschöpfung“, „labile Persönlichkeit“, „Überarbeitung“, oder eines Gemisches 
von alten und neuen Fachausdrücken wie „Neurasthenie“, „Psychasthenie“, 
„Psychopathie“ und anderen mehr oder weniger unbestimmten Bezeichnungen 
formuliert, so hält sich der Arzt bereits für fähig, eine Therapie vorzuschrei¬ 
ben. Die allgemeine Ansicht geht dahin, daß das Nervensystem des Patienten 
durch Sorgen, Befürchtungen, Unzufriedenheit mit seinem Dasein oder ein¬ 
fach nur durch zu große Verantwortung oder allzuviel Arbeit zu schwer be¬ 
lastet sei. Und es besteht nur geringe Neigung dazu, die psychische Situation 
des Patienten gründlicher zu erforschen. 

Ich möchte die Bedeutung ei ner so ausgezeichneten Publikation, wie sie 

I») Hier einige Hinweise auf die ursprünglichen Beobachtungen verschiedener analytischer 
Autoren: 

Über den grundlegenden Zusammenhang zwischen Nahrungstrieben und erotischen Trieben 
siehe Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Sehr. Bd. V. 

Über die Abwehr- oder Zuriiekweisungstendenz im Erbrechen siehe Ferenczi, S.: Hy¬ 
sterische Materialisationsphänomene, Hysterie und Pathoneurosen, Int. Psa. Verl., Wien, 1919. 
Siehe auch: Ekel vor dem Frühstück, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. V, S. 117, 119. 

Über den Einfluß von Komplexen auf den Darm siehe Ferenczi: Hysterische Materiali¬ 
sationsphänomene, loc. cit., S. 16, 

Über psychische Faktoren bei Konstipation und bei Diarrhöe siehe 
Freud, S.: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges. Schriften, Bd. VIII. 
Abraham, K.: Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge in Traum und 
Neurose, Int, Ztschr. f. Psa., Bd, VT, S. 64, 1920; Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter, 
Int. Ztschr. f. Psa. Bd. IX, S. 21, 1923; Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido, 
Int. Psa, Verl., Wien, 1924. 

Jones, E.: Papers on Psycho-Analysis, New York, Wm. Wood and Co., 1923, S. 6S1. 
Alexander, F.: The Medical Value of Psychoanalysis, New York, N. W. Norton and 
Co., 1933, S. 197. 


J 



































. Buch „Nervous Indigestion“ von Walter C. Alvarez^ ist, gewiß nicht 
SLbsetzen, doch ist die Stellungnahme des Autors zu den psychischen Fak- 
” eanz und gar die eben beschriebene. Trotzdem bedeuten seine Arbeiten 
‘Tdfe von Rulel H. Oppenheimer,- George M. Underwood^ Albert 

T Sullivan® und W. B. Cannon’ — um nur einige wenige Publikationen 

iünKSter Zeit zu nennen - unbedingt einen Fortschritt auf diesem Gebiet. 

zeigen eine klare Erkenntnis der Tatsache, daß psychische Faktoren or- 
aanische Störungen verursachen können, und sie versuchen überdies, durch 
Lefältige klinische Beobachtung oder durch Experimente festzustellen, welche 
Art von Störungen vom Gefühlsleben aus entstehen können. Sie versuchen 
iedoch nicht, die psychische Situation genau zu beschreiben oder tiefere Be¬ 
ziehungen zwischen gewissen Typen von Gefühlsfaktoren und gewissen physio¬ 
logischen Vorgängen aufzudecken. Dasselbe gilt von allen ähnlichen r- 
beiten, mögen sie von Internisten oder Physiologen stammen — ausnehmen 
muß ich nur ein Werk von George Drap er und Grace Touraine auf das 
ich noch zurückkommen werde. 

Ich will hier keine in Einzelheiten gehende kritische Würdigung der psycho¬ 
analytischen Literatur auf diesem Gebiet geben. Der bahnbrechenden Arbeit 
Georg Groddecks, Felix Deutschs und Ernst Simmels gelang es, die 
Erkenntnis der hysterischen Konversionsmechanismen über das Gebiet des 
willkürlichen und des sensorischen Systems hinaus auf organische Erkrankun¬ 
gen auszudehnen. Im allgemeinen besteht bei der analytischen Betrachtung 
organischer Vorgänge eine allzu große Neigung, somatische Phänomene als 
unmittelbare Äußerungen eines bestimmten psychischen Inhalts zu deuten. 
Die Tatsache, daß organische Symptome in der Regel das Endergebnis einer 
Kette von organischen Vorgängen sind, wird in der analytischen Literatur 
fast niemals genügend berücksichtigt. Deutsch, der auf diesem Gebiet 
größere methodologische Sorgfalt an den Tag legt als andere psychoanalytische 
Autoren, unterscheidet in einer früheren Schrift ganz scharf die anfäng¬ 
lichen Störungen der Innervation und die morphologischen Veränderungen, 
die sich nach einer lange andauernden fu nktionellen Störung solcher Art 

2) Alvarez, Walter C.: Nervous Indigestion, New York, Paul B. Hoeber, 1931. 

1 Alvarez. Walter C.: loc. cit. und Light from the Laboratory and the Clinic on the 
Causes of Peptic Ulcers, The American Journal of Surgery, Vol. 18, S. 207 231, Nov. 1932. 

4) Oppenheimer, Rüssel H.: Gastro-Intestinal Mamfestations of the Psychoneurotic 
State, The Journal of the Medical Association of Georgia, Vol. 21, S. 431—433, Nov. 1932. 

5) Underwood, George M.: Emotional and Psychic Factors in the Production o 
Gastro-Intestinal Diseases, Texas State Journal of Medicine, VoL 27, S. 798—800, Marz 1932. 

6 ) Su Ui van. Albert J. und Chan dler, C. A.: Ulcerative Colitis of Psychogenic Origin, 
Yale Journal of Biology and Medicine, Vol. 4, S. 779—796. Juh 1932- 

7) Cannon, W. B.: Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage, Ed. 2, New York, 

D. Appleton and Co., 1929. . jt>^- 

8) George Dr aper und Grace Allen Touraine: The Man-Environment Unit and Peptic 

Ulcer, Archives of Internal Medicine, Vol. 49, S. 615—662, April 1932. 


.1 















192 


Franz Alexander 


ergeben können.® Diese Auffassung bildete, wie der Leser merken wird, die 
Grundlage unserer Theorie von der Entstehung peptischer Geschwüre. Aber 
selbst Deutsch hält sich bei der Deutung organischer Fälle nicht immer 
folgerichtig an diese Ansicht. So deutet er z. B. in einem Falle die Lungen¬ 
blutung als den unmittelbaren Ausdruck von Geburtsphantasien.*® Es erscheint 
uns dies um so weniger folgerichtig, als er an derselben Stelle die Möglichkeit 
in Betracht zieht, daß psychische Reize zu verstärkter Adrenalinbildung führen 
und so Veränderungen des Blutdrucks hervorrufen. Die Blutung ist also nicht 
der unmittelbare Ausdruck einer Phantasie, sondern das Ergebnis einer Blut¬ 
drucksveränderung, wenn auch der gesamte Vorgang durch einen ganz 
spezifisch psychischen Reiz (spezifische Phantasien oder Wünsche) eingeleitet 
wurde. Es leuchtet nicht ein, daß das Endergebnis, die Blutung, in einem 
solchen Fall eine einfache und unmittelbare Beziehung zu einer speziellen 
Phantasie habe. Zweifellos folgt die Konversion im vegetativen Nervensystem 
nicht immer genau denselben Regeln wie im willkürlichen und im sensorischen 
System, d. h. wie auf dem Gebiet, für welches die ursprüngliche Auffassung 
der hysterischen Konversion formuliert worden ist. Während bei der Kon¬ 
versionshysterie die unbewußte Strebung unmittelbaren Ausdruck in physi¬ 
schen Störungen findet, liegt bei organischen Prozessen, die vom vegetativen 
Nervensystem beherrscht werden, zwischen psychischem Anreiz und organi¬ 
schem Endergebnis häufig eine längere Reihe physiologischer Vorgänge. Es 
ist ein methodischer Irrtum, wenn man ein organisches Symptom psycholo¬ 
gisch zu deuten versucht, obgleich es erst Endergebnis eines physiologischen 
Zwischenprozesses ist — man sollte vielmehr zuvor die Beziehungen zwischen 
psychischen Faktoren und jenen vegetativen Nervenerregungen verstehen 
lernen, die eine Kette organischer Vorgänge einleiten, deren Endergebnis erst 
die organische Störung ist. Ein Magen- oder Duodenalulkus ist das unmittel¬ 
bare Ergebnis einer Störung der motorischen und sekretorischen Funktionen, 
diese Störung aber kann durch Faktoren des Gemütslebens hervorgerufen 
worden sein. Das Endergebnis, das Ulkus, kann jedoch nicht psychologisch 
gedeutet werden, denn es hat an und für sich keinerlei psychischen Sinn. 
Was tatsächlich als unmittelbare Wirkung psychologischer Faktoren gedeutet 
werden kann, ist die Hyper- oder Hyposekretion und die Veränderung in der 
motorischen Aktivität und der Blutfülle des Magens. Ähnlich drückt sogar 
psychogenes Erbrechen nicht immer etwas Psychisches aus (z. B. Abscheu), 
obgleich die Bedingungen im Magen, die zum Erbrechen führten, durch 
psychische Faktoren hervorgerufen worden sein können.^^ 

- ----- % 

Deutsch, F.: Biologie und Psychologie der Krankheitsgenese, Int. Ztschr. f. Psa., 
VIII, 1922. 

10) Deutsch. F.: Der gesunde und der kranke Körper in psychoanalytischer Betrachtung, 

Int. Ztschr. f. Psa., XII, 1926. i- / / 

11) Selbstverständlich stelle ich nicht in Frage, daß auch im vegetativen Nervensystem 






























^ über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale S törungen 193 

Die psycho-physiologische Forschung muß also ihr Augenmerk gleichmäßig 
auf psychologische und auf physiologische Kausalketten richten und darf die 
beiden Reihen nicht verwirren. 

Von diesen Überlegungen ausgehend, haben wir in den letzten zwei Jahren 
am Institut für Psychoanalyse in Chikago ein systematisches Studium der 
psychischen Faktoren bei gastrointestinalen Fällen betrieben. Nunmehr dehnen 
wir unsere Forschungsarbeit auf andere vegetative Systeme aus — auf das 
Atmungs- und das Kreislaufsystem. Die leitenden Grundsätze unserer Studien 
lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen: 

1. Unsere erste Annahme oder die Flypothese, nach der wir arbeiten, lautet, 
daß die psychischen Ursachen somatischer Störungen spezifische sind. Man 
kann sie als bestimmte Gefühlseinstellungen des Patienten gegen seine Um¬ 
gebung oder gegen seine eigene Person bezeichnen. Die entsprechende Kenntnis 
dieser ursächlichen Faktoren kann im Verlauf der analytischen Behandlung 
des Patienten erlangt werden — keine andere Methode, auch keine noch so 
sorgfältige psychiatrische Anamnese, kann die Analyse ersetzen. 

2. Die bewußten psychischen Vorgänge im Patienten spielen eine unter¬ 
geordnete Rolle bei der Verursachung somatischer Symptome, da bewußte 
Gefühlsregungen und Neigungen durch das willkürliche System zum Aus¬ 
druck gebracht und abreagiert werden können. Somatische Veränderungen 
infolge von manifest auftretenden Gefühlen, wie Ärger, Furcht und ähnlichen 
heftigen Affekten, sind akuter Art und spielen nur eine auslösende Rolle. 
Verdrängte Strebungen jedoch führen zu chronischen Innervationen, die 
ihrerseits eine chronische Dysfunktion der inneren Organe hervorrufen. 

3. Die Lebensumstände des Patienten üben in der Regel nur einen auslösenden 
Einfluß auf die Störung aus. Unser Verständnis der psychischen Ursachen muß 
sich auf die Kenntnis der Entwicklung der Persönlichkeit des Patienten grün¬ 
den — nur aus ihr lassen sich die Reaktionen auf akute traumatische Situa¬ 
tionen erklären. 

Unsere Forschungsarbeit will ergründen, welche Beziehung spezifische Fak¬ 
toren des Gefühlslebens oder spezifische Konfliktsituationen erstens zu einem 
spezifischen vegetativen System und zweitens zu bestimmten spezifischen 
organischen Äußerungen innerhalb dieses Systems haben. Dies ist unser theore¬ 
tisches Ziel. Daneben hoffen wir auch Feststellungen über die therapeutische 
Wirksamkeit der Psychoanalyse in solchen Fällen zu machen und Kriterien 
zu geben für die Entscheidung, welche Kranken einer psychoanalytischen Be¬ 
handlung bedürfen, und welchen durch praktische Veränderungen ihrer Le¬ 
bensweise geholfen werden kann. 

Ich will nunmehr in einigen allgemeinen Sätzen unsere bisherigen Ergebnisse 
darlegen. Es ist uns nützlich erschienen, eine vorläufige (rohe) Einteilung 

häufig ein spezifisch psychischer Inhalt unmittelbaren Ausdruck finden kann, z. B. beim Er¬ 
röten, psychogenen Schwitzen, bei durch Gefühlsmomente vermehrter Peristaltik. 




















194 


Franz Alexander 


unserer Fälle in drei Gruppen vorzunehmen. Wir unterscheiden in bezug 
sowohl auf die somatischen Symptome als auch auf die typische psychische 
Konfliktsituation eine erste Gruppe von Magenkranken, die zahlreiche 
Patienten mit geringfügigen subjektiven gastrischen Symptomen wie epigastri¬ 
sche Beschwerden, Ekelgefühl, Sodbrennen, Aufstoßen usw., aber auch schwere 
Fälle von peptischem Geschwür sowohl des Magens wie des Duodenums 
umfaßt. Die zweite Gruppe setzt sich aus Fällen zusammen, bei denen das 
Symptom der Diarrhöe vorherrscht; die Krankheit wird in der Regel als 
muköse oder spastische Kolitis diagnostiziert, sie zeigt die Symptome schmerz¬ 
hafter Krämpfe und Entleerungen, und häufig wechselt Diarrhöe mit Ver¬ 
stopfung ab. Die dritte und letzte Gruppe besteht aus Fällen, bei denen das 
Symptom der chronischen Obstipation vorherrscht. Wir werden unter Bezug¬ 
nahme auf diese drei Gruppen vom gastrischen Typus, vom Kolitistypus 
und vom Obstipationstypus sprechen. 

Zunächst richteten wir unser Augenmerk auf die manifesten Gefühlsbezie¬ 
hungen des Patienten zu seiner Umgebung und versuchten zu entscheiden, ob 
bestimmte offen zutage tretende Gefühlseinstellungen samt ihrem unmittel¬ 
baren dynamischen Flintergrund als typisch für die verschiedenen Gruppen 
von organischen Erkrankungen bezeichnet werden konnten. Zu diesem Zweck 
konnten wir das analytische Material von Patienten verwerten, deren Analyse 
nicht völlig durchgeführt worden war, oder auch von solchen, von denen 
man nur Anamnesen aufgenommen hatte. Selbstverständlich machte eine Reihe 
von Patienten eine vollständige Analyse durch; bei einer Anzahl von Fällen 
aber begnügten wir uns damit, die oberflächliche Einstellung sowie deren un¬ 
mittelbaren unbewußten Flintergrund festzustellen. In der Regel können die 
unbewußten Konfliktsituationen, welche die dynamischen Quellen der ober¬ 
flächlichen Einstellungen sind, dargelegt werden, bevor noch eine vollständige 
analytische Rekonstruktion ihrer Genese durchgeführt worden ist. 

Unser zweites Ziel war, bei ausgewählten Fällen ein möglichst vollständiges 
Bild der analytischen Geschichte des Patienten zu entwerfen. Ich muß be¬ 
tonen, daß dieses zweite Problem im gegenwärtigen Stadium unserer For¬ 
schungsarbeit nur untergeordnete Bedeutung hat. Gleichartigkeit der Genese 
ist kaum zu erwarten, denn wir wissen ja, daß ähnliche Konfliktsituationen 
sich auf sehr verschiedenem individuellem Hintergrund entwickeln können. 
Zunächst wollten wir feststellen, ob sich bei Fällen mit den gleichen organi¬ 
schen Syndromen ein konstanter Parallelismus der psychischen Merkmale 
findet. Darauf wird ein genauerer Vergleich der Einzelheiten in der Ent¬ 
wicklungsgeschichte der Patienten folgen. 

Was das erste Problem betrifft, fiel uns schon in der jetzigen Phase unserer 
Arbeit auf, daß tatsächlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit bestimmte Arten 
der Konfliktlösung bei den verschiedenen organischen Gruppen wiederkehren 
und für sie charakteristisch zu sein scheinen. Diese Konstanz in den Konflikt- 





































lösungen wird noch auffälliger, wenn wir die Gefühlsstrebungen des Patienten 
aus dem Gesichtspunkt der folgenden drei Grundtendenzen beschreiben: 
I als Wunsch zu empfangen oder zu nehmen, 2. als Wunsch zu geben oder 
zerstörend abzusondern und auszuscheiden (zu eliminieren) und 3. als Wunsch 
zurückzuhalten. Ich möchte betonen, daß diese Analyse der Gefühlseinstellungen 
keine willkürliche war, sondern sich uns aufdrängte, während wir unsere 
Fälle studierten. Außerdem erheben wir keinen Anspruch auf Originalität für 
die Unterscheidung dieser drei Grundneigungen — Nehmen, Eliminieren 
und Behalten —, denn das Wissen um diese drei elementaren Neigungen 
bildet die Grundlage für die ursprüngliche Konzeption der prägenitalen Ten¬ 
denzen der oralen, urethralen und analen Erotik. Die Analysen der analen 
Neigungen durch Jones und Abraham, in denen zwischen anal zurückhalten¬ 
den und anal-eliminierenden Tendenzen unterschieden wird, und Ferenczis 
Ideen über die Amphimixis anal zurückhaltender und urethral eliminierender 
Tendenzen in der genitalen Sexualität haben es ermöglicht, daß wir diesen 
Gesichtspunkt bei Fällen von gastrointestinalen Störungen folgerichtig ver¬ 
werten.^^ 

Von gleichartigen Konfliktlösungen abgesehen, fanden wir eine bemerkens¬ 
werte Ähnlichkeit der oberflächlichen Einstellungen und das besonders bei 
den gastrischen Fällen, aber auch in fast ebenso starkem Maße bei den Kolitis¬ 
typen. Da wir bisher nur eine kleine Zahl von Fällen mit chronischer psycho¬ 
gener Obstipation studiert haben, können wir über typische oberflächliche 
Einstellungen und typische Konfliktlösungen bei diesen Patienten noch nichts 
Endgültiges sagen. 

Dafür, wie diese Konfliktlösungen entstehen, haben wir noch keine vor¬ 
herrschend konstanten Züge finden können. 

Wo wir von einer typischen oberflächlichen Einstellung (gefühlsmäßiges Ver¬ 
halten gegen die Umgebung) und einer typischen Konfliktlösung sprechen, ist 
nicht, wie ich betonen möchte, bloß etwa eine Strebung gemeint, die sich als 
eines unter anderen ebenso stark hervortretenden Merkmalen feststellen läßt, 
sondern stets eine vorherrschende zentrale dynamische Strebung. Die vorherr¬ 
schende oberflächliche Einstellung, die der Patient gewöhnlich schon in 
den ersten Behandlungsstunden äußert, und die ersten typischen Übertragungs- 
manifestationen sowie auch die dahinterliegenden dynamischen Konflikt¬ 
situationen lassen sich in der Regel bald und ganz klar erkennen. 

Wir beschränken uns im vorliegenden Bericht auf die Darlegung der typi¬ 
schen oberflächlichen Einstellungen und der dahinterliegenden dynamischen 

12) Jones, E.: Papers on Psycho-Analysis, New York, Wm. Wood and Co., 1923, S. 696 
bis 704. 

Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido, Int. Psa. Verl., Wien, 

1924. 

Ferenczi, S.: Versuch einer Genitaltheorie, Int. Psa. Verl., Wien, 1924, S. 7—27. 










196 


Franz Alexander 


Situationen; nur bei einigen wenigen Fällen geben wir in kurz gefaßten Kran 
kengeschichten das genetische Material. Die Aufgabe, die wir uns hier stellen 
ist, die verschiedenen Typen von gastrointestinalen Fällen hinsichtlich der 
eziehung zu beschreiben, die das äußere Verhalten der Patienten, ihre Gefühls- 
einstellung und ihre psycho-sexuellen Manifestationen zu den bestimmenden 
unbewußten Tendenzen haben. 

Das Material für unsere Forschung liegt in der Form von zum Teil wört- i 

liehen Berichten über jede analytische Behandlungsstunde jedes Patienten vor. i 

In diesen Berichten sind alle freien Einfälle des Patienten sowie alle Deutun- 
pn des Arztes ausnahmslos enthalten. Eine Veröffentlichung dieser Berichte ' 
in ihrer ursprünglichen Form ist nicht geplant, doch werden spätere Publi- ' 
kationen Einzelheiten des Materials bringen. 


I. Der gastrische Typus 

Diese Gruppe zählte neun Fälle: sechs Duodenalulzera (von denen drei zur 
Zeit der Analpe noch aktiv waren) und drei gastrische Neurosen. Das Stu¬ 
dium dieser Falle bestätigte meine früher gemachte Beobachtung, daß gastri¬ 
sche Symptome häufig im Zusammenhang mit intensiven oral empfangenden 
Begierden auftreten, mit dem Wunsch, betreut und geliebt zu werden, der in 
der Repl mehr odp wpiger stark verdrängt ist. Bei den meisten Fällen be¬ 
steht die Konfliktsituation darin, daß starke oral empfangende Tendenzen 
verworfen werden, weil sie sich mit dem Streben des Ichs nach Unabhängigkeit 
und Aktivität nicht vertragen. Die bewußte Einstellung dieser Patienten ließ 
Sich folpndermaßen ausdrücken: „Ich bin tüchtig, tätig, produktiv; ich gebe 
jedem, helfe andern Menschen, nehme Verantwortung auf mich, sorge gern 
für andere, bin gern Führer und eine auf sich selbst gestellte, tätige oder 
sogar apressive Persönlichkeit.“ Gleichzeitig finden wir im Unbewußten 
genau die entgegengesetzte Einstellung: ein überaus heftiges Verlangen nach 
Liebe und das Bedürfnis nach Abhängigkeit und Hilfe. Diese Tendenzen waren 
bei den meisten unserer Fälle verdrängt, wurden vom Patienten geleugnet 
und standen im Zusammenhang mit heftigen Konflikten. 

Die nächst Fpge ist nun, warum der Wunsch, geliebt zu werden und zu 
empfangen, bei diesen Patienten so konfliktreich wird, daß er stark verdrängt 
und uberkompensiert werden muß. Es ist überaus charakteristisch für diese 
Patienten, daß sie in ihren jetzigen Lebensbeziehungen jede Abhängigkeit ver¬ 
meiden und gerade das Gegenteil der infantilen oral empfangenden Haltung 
einnehmen: wir sehen in ihnen häufig die Neigung, zu geben anstatt zu emp¬ 
fangen, zu fuhren, anstatt sich auf andere zu stützen, Verantwortung auf sich 
zu nehmen, anstatt andere für sich sorgen zu lassen. Es leuchtet ein, daß sich 
als Reaktmn auf diese Überkompensationen im Unbewußten die Sehnsucht 
nach ppsiver Abhängigkeit steigern muß, denn diese Menschen leben über 
ihre seelischen Mittel, indem sie ihr Bedürfnis nach Hilfe von außen her so 

































heftig unterdrücken und verleugnen. Daß ihre außerordentlich große und 
übermäßig betonte Unabhängigkeit und die Anstrengungen, die sie im Leben 
machen, das entgegengesetzte unbewußte Hilfsbedürfnis in ihnen steigern, 
bedarf keiner weiteren Erklärung. Die Frage jedoch ist, worauf ihre phobische 
Ablehnung der Rolle eines empfangenden und abhängigen Menschen beruht, 
eine Ablehnung, die zuweilen zu einem grotesk übertriebenen Widerstand 
dagegen führt, irgendwelche Hilfe von außen anzunehmen. Bei allen unseren 
Fällen finden wir im Unbewußten eine tiefliegende orale Regression zu der 
parasitischen Situation des kleinen Kindes, die sich bei den meisten dieser 
Menschen mit der Einstellung und den Idealen des erwachsenen Ichs nicht ver¬ 
trägt und deshalb verworfen werden muß. Die Analyse unserer Fälle zeigt 
unter den spezifischen Gründen dafür, daß das Ich jene parasitisch infantilen 
Forderungen verwirft, zwei vorherrschende Motive: i. eine narzißtische Krän¬ 
kung infolge der infantilen Ansprüche, die sich an der Oberfläche als Minder¬ 
wertigkeitsgefühl äußert, und 2. Schuldgefühl und Furcht. 

1. Wir wollen zunächst das erstgenannte Konfliktmotiv, das Minder¬ 
wertigkeitsgefühl, eingehender betrachten. Das übermäßige infantile 
Verlangen zu empfangen erzeugt ein Gefühl der Minderwertigkeit, es läuft dem 
Streben des Ichs nach Unabhängigkeit, Überlegenheit, Aktivität und Gro߬ 
mut zuwider.^® Dies führt zu dem typischen Mechanismus der Überkompen¬ 
sation. Bei den meisten unserer Fälle findet diese Überkompensation nicht nur 
in Phantasien von tätiger Tüchtigkeit Ausdruck, sondern hat auch im Leben 
zu einer wirklich aktiven und verantwortungsvollen Haltung geführt, zu 
wirklicher Tüchtigkeit und zu Erfolg oder wenigstens zu ehrlichen Bemühun¬ 
gen in dieser Richtung. Die Neigung, sich aufs äußerste anzustrengen, ist für 
diese Patienten überaus charakteristisch. Diese kompensierende Einstellung 
auf übermäßige Betätigung und Freigebigkeit (Großmut) steigert jedoch wieder 
den verdrängten Wunsch zu empfangen, das Verlangen nach Abhängigkeit und 
Liebe. Diese Patienten gestatten sich offenkundig selten die Freude, etwas 
zu empfangen, und gerade deshalb — als Reaktion auf ihre übermäßigen An¬ 
strengungen — wächst in ihnen die Sehnsucht, Ruhe zu haben und von andern 
versorgt zu werden. 

Ich habe eine der möglichen Lösungen dieses Konflikts zwischen der Sehn¬ 
sucht zu empfangen und ihrer Verwerfung in einer früheren Arbeit beschrie- 
ben.i^ Sie bestand in derabwechselndenBefriedigungderbeideneinanderwide,r- 

13) Abraham hat den Zusammenhang zwischen oralen Charakterstrebungen und der 
Großmut, die er als einen oralen Charakterzug ansieht, beobachtet. Die Tatsache fiel ihm 
auf, doch erklärte er sie durch Identifizierung mit der gebefreudigen Mutter und merkte 
nicht, welche Rolle die Überkompensation in diesem Zusammenhang spielt. Dasselbe gilt von 
seiner Erklärung dafür, daß sich das Verlangen zu saugen in ein Bedürfnis zu geben wandelt. 
Abraham, K.: Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung; Psychoanalytische Studien 
zur Charakterbildung, Int. Psa. Verl., Wien, 1925. 

14) Alexander, F.: The Neurotic Character, Int. Journ. of PsA., XI, 1930. 

Int Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXI/a ^4 














Franz Alexander 


198 

Streitenden Tendenzen; aktive und passiv« Befriedigungen wechseln mit¬ 
einander ab oder werden durch verschiedene Lebensbeziehungen gleich¬ 
zeitig erreicht. Ich verweise auf den Fall eines Mannes, der der tätige 
Führer eines großen Industriekonzerns war und dabei in überaus infantiler 
Abhängigkeit von seiner Frau lebte. Obgleich dieser Patient einige neurotisch¬ 
gastrische Symptome auf wies, findet sich beim gastrischen Typus diese Lösung 
nur selten. Patienten dieses Typus führen in der Regel lange Zeit hindurch ein 
einseitiges Leben der überaus starken aktiven Arbeit und Verantwortlich¬ 
keit, und das dynamische Gleichgewicht zwischen der Befriedigung passiv¬ 
empfangender und der aktiv-gebender Tendenzen wird nachdrücklich von der 
letztgenannten beherrscht. Diese dynamische Situation haben wir sowohl bei 
männlichen als auch bei weiblichen Patienten gefunden. 

2. Neben dem Motiv eines Minderwertigkeitsgefühls, das durch die un¬ 
bewußte Neigung, von andern etwas zu empfangen, hervorgerufen wird, ist 
auch eine Schuldreaktion ein ständiges Motiv für die Verdrängung re¬ 
zeptiver Tendenzen. Der übermäßig starke Wunsch, von andern etwas zu 
empfangen, den ich nunmehr als „parasitische Rezeptivität"^ bezeichnen will, 
erzeugt nicht nur ein Gefühl der Minderwertigkeit oder der Scham, sondern 
auch ein Schuldgefühl und die Neigung, diese rezeptive Haltung durch 
Geben zu kompensieren, durch tatsächliches Geben wirklicher Werte — 
Liebe, Hilfe, Bemühung zum Wohl anderer, produktive Tätigkeit jeder Art, 
Besonders stark zeigt sich die Schuldreaktion in Fällen, bei denen die oral 
aufnehmende Tendenz einen oral-sadistischen Zug bekommen hat, weil sie 
früh im Leben auf Hindernisse gestoßen ist. Bei Männern und Frauen wandelt 
sich der Wunsch zu empfangen unter dem Einfluß früher Enttäuschung in 
das Verlangen, aggressiv zu nehmen, „Wenn es mir nicht gegeben wird, muß 
ich es mir nehmen.“ In der Regel vermischen sich jedoch passiv empfangende 
und oral-aggressive Tendenzen, wir finden gleichzeitig den Wunsch zu emp¬ 
fangen und den zu nehmen. Wir begreifen, daß eine derartige oral-aggressive 
Gier nicht nur zu einer Hemmung der Angriffslust führen muß, sondern es 
dem Individuum auch erschwert, seinen Wünschen, etwas zu empfangen, 
nachzugeben, — es wird einem solchen Menschen unmöglich, Hilfe und Liebe 
von jenen anzunehmen, die er im Unbewußten zu berauben wünscht. 

Bisher hat unsere Arbeit noch keinen andern ständigen Hintergrund für 
den Ursprung der starken Regression zu der parasitischen oral empfangenden 
Haltung aufdecken können als die gewöhnlichen Konflikte auf dem Gebiet der 
genitalen Sexualität, Konflikte, die auf rings um die Kastrationsangst gruppier¬ 
ten Schuldgefühlen im Menschen beruhen. 

Bei weitaus den meisten unserer Fälle stellten wir fest, daß die passiv emp¬ 
fangenden und die oral-aggressiven Tendenzen innerlich verworfen wurden. 
Bei einem Patienten jedoch wurde die Neigung zur oralen Abhängigkeit vor¬ 
wiegend durch äußere Umstände und weniger durch innere Verwerfung 






































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


199 


versagt. In einem anderen Fall zeigt^e sich ein Gemisch von äußeren und 
inneren Hemmungen der Neigung zu empfangender Abhängigkeit. Bei zwei 
vor kurzem behandelten Patienten, die an peptischem Geschwür mit schweren 
Rückfällen litten, waren die überaus starken oral empfangenden Begierden 
nicht erfolgreich verdrängt noch überkompensiert, sondern deutlicher ins 
Bewußtsein gedrungen. Die Geschichte beider Fälle ergab frühes und großes 
orales Entbehren in der Kindheit. Anscheinend konnten diese beiden Pa¬ 
tienten infolge ihrer Leiden in der Kindheit und im späteren Leben sich offener 
an ihre rezeptiven Begierden klammern. 

Ohne Zweifel herrscht aber in unseren gastrischen Fällen ein innerer Kon¬ 
flikt wegen des heftigen Abhängigkeitsbedürfnisses vor; diese Tatsache mag 
die Erwartung erwecken, daß man einen Persönlichkeitstyp mit Oral-Charakter- 
zügen (mit überkompensiertem Oralsadismus und oraler Abhängigkeit) finden 
wird, der besonders zu Magenstörungen neigt. Vielleicht wird sich dieser 
Menschentyp als der „Geschwürtypus‘" erweisen, den viele Internisten so 
eifrig zu beschreiben suchen. Tatsächlich sind in den letzten Jahren ver¬ 
schiedene Kliniker wie v. Bergmann,i5 Westphal,^« Alvarez,^^ Hart¬ 
man,^® Draper^® und andere dahin gelangt zu vermuten, daß Wesenszüge 
der Persönlichkeit bei der Entstehung peptischer Ulzera eine Rolle spielen. 
Sie stellen fest, daß gewisse Persönlichkeitstypen stärker zu peptischen Ge¬ 
schwüren neigen als andere. Wes tphal hebt die Labilität des vegetativen Nerven¬ 
systems als charakteristisch für Patienten mit einem Ulkus hervor. Sein Lehrer, 
Bergmann, mißt dem Einfluß des vegetativen Nervensystems auf die Ent¬ 
stehung peptischer Geschwüre ebenso große Bedeutung bei und ist geneigt, 
auch psychische Faktoren in Betracht zu ziehen. Einige amerikanische Ärzte 
beachten die Rolle der Persönlichkeit sogar noch mehr. Alvarez bezeichnet 
den tätigen und tüchtigen jüdischen Geschäftsmann der „go-getter‘* Art als 
den Typus, der ganz besonders zum peptischen Ulkus mit Rückfällen neigt.^® 
Hartman beschreibt als „Geschwürtypus‘‘ einen Mann, der aus seiner 
Wesensart heraus sich bemühen muß, Hindernisse, auf die er stößt, zu 
überwinden. 2 ^ Er sagt, daß die Indianer Südamerikas oder die chinesischen 
Kulis niemals an Magengeschwüren leiden, und erklärt die Tatsache aus der 

15) V. Bergmann, G.: Ulcus duodeni und vegetatives Nervensystem, Berliner klinische 
Wochenschrift, Bd. 50, Dezember 1913. 

16) Westphal, K.: Untersuchungen zur Frage der nervösen Entstehung peptischer 
Ulzera, Deutsches Archiv für klinische Medizin, Bd. 114, 1914. 

Westphal, K. und Katsch, G.: Das neurotische Ulcus duodeni, Mitteilungen aus den 
Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie, Bd. 2^, 1913. 

17) Alvarez, Walter C.: loc. cit. 

18) Hartman, Howard R.; Neurogenic Factors in Peptic Ulccr, Medical Clinics of North 
America, Vol. 16, Nr. 6, S. 1366. 

19) Draper, George und Touraine, Grace: loc. cit. 

20) Alvarez, Walter C.: Light from the Laboratory and the Clinic on thc Causcs of 
Peptic Ulcers, The American Journal of Surgery, Vol. 18, S. 225, 1932. 

21) Hartman, Howard R.: Ipc. cit. 
















1 


Franz Alexander 


stoischen, fast apathischen Haltung und dem Mangel an Strebsamkeit und 
Ehrgeiz bei diesen Rassen. Nach ihm ist das Ulkus eine Krankheit der zivili¬ 
sierten Welt und befällt hauptsächlich den strebsamen und ehrgeizigen Mann ' 
der westlichen Zivilisation. 

George Drap er und Grace Touraine sind zu einer ähnlichen Annahme i 
gelangt.22 ihrem Studium der Strebungen in der Persönlichkeit des Patienten ■ 
lag größeres psychologisches Wissen zugrunde, als Kliniker in der Regel be¬ 
sitzen; sie verließen sich nicht völlig auf den allgemeinen Eindruck, den ein i 
guter Kliniker von dem Persönlichkeitstypus empfängt, mit dem er zu tun ■ 
hat. In ihrer Schrift führen sie eine Reihe von Krankengeschichten an, und | 
zwar handelt es sich, wie sie sagen, zum Teil um „analysierte Fälle‘‘, zum Teil I 
um solche, die einer sorgfältigen anamnestischen Prüfung unterzogen wurden. U 
Infolge ihrer feineren psychologischen Methoden waren sie imstande, unter M 
die Oberfläche zu dringen und außer gewissen offen erkennbaren Persönlich- H 
keitsfaktoren eine typische Konfliktsituation zu entdecken. Sie kommen dem 3 
Bilde, das ich soeben entworfen habe, recht nahe. Als typisch für ihre Pa¬ 
tienten führen sie einen männlichen Protest, eine Verwerfung unbewußter 
weiblicher Tendenzen an, und zwar jener Tendenzen, die wir, unseren psycho¬ 
analytischen Studien folgend, lieber als oral empfangende und oral-sadistische J 
Impulse bezeichnen; diese stehen, wie wir wissen, in inniger Beziehung zu Strebun- ■ 
gen, die gewöhnlich als weibliche angesehen werden. Drap er vervollständigte 
seine Studien auch durch anthropologische Messungen. Seiner Beschreibung | 
nach wird der Geschwürtypus psychologisch durch männlichen Protest charak¬ 
terisiert; anatomisch ist er der asthenische oder „longitudinale^^ Typus. i 

Auch wir waren zu Beginn unserer Studien geneigt anzunehmen, daß sich 
gastrische Symptome und selbst peptische Geschwüre bei einem gewissen Per¬ 
sönlichkeitstypus häufiger entwickeln dürften als bei anderen Typen, doch : 
lassen uns die Ausnahmen, denen wir schon in einem früheren Stadium unserer I 
Forschung begegneten, ein so einfaches und allgemeingültiges Ergebnis kaum , 
noch erwarten. Uns erscheint nicht so sehr ein bestimmter Persönlichkeits- i 
typus charakteristisch als vielmehr eine typische Konfliktsituation, die sich bei 
ganz verschiedener Persönlichkeitsstruktur entwickeln kann. Wenn auch ge¬ 
wisse Typen stärker dazu neigen, einen. Konflikt zwischen empfangenden und I 
aktiv gebenden Tendenzen zu entwickeln und ihn durch Überkompen- 1 
sationsmechanismen zu lösen, sehen wir doch, daß unter den entsprechen- I 
den äußeren Bedingungen dieser Konflikt auch bei anderen Charakter- J 
typen entstehen kann. ji 

Bei einem unserer an peptischem Geschwür leidenden Patienten zum Beispiel • 
— einem Mann von sechsundvierzig Jahren, der einer dreiwöchigen anamnesti- , 
sehen Analyse unterzogen wurde — war die Befriedigung der oral empfangen- V i 
den Tendenzen weit mehr durch die äußere Lebenslage unmöglich geworden S 
Z2) Drap er, George und Touraine, Grace: loc. cit. | 


























über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


201 


als durch eine tief lokalisierte innere Verwerfung der passiven Wünsche. 
Während der Kindheit und der Jugendjahre war seine Lust zu empfangen in 
starkem Maße befriedigt worden, er hatte nichts vom Führertypus gehabt, es 
hatte ihm im Gegenteil aller Ehrgeiz gefehlt, der sich bei Menschen, die an pep- 
tischem Geschwür leiden, doch so häufig findet. Er heiratete eine sehr begabte, 
kluge und rührige Frau, die dem Führertypus angehörte und ihm geistig über¬ 
legen war. Seine Heirat enttäuschte alsbald seine Erwartung, in der Gattin eine 
so überlegene Persönlichkeit zu finden, daß sie ihm Ersatz für die gebefreudige 
Mutter hätte sein können. Nicht daß die Frau sich nach der Heirat geändert 
hätte, sie widmete sich aber von Anfang an nur der Förderung ihrer eigenen 
Laufbahn, studierte und leistete produktive Arbeit. Überdies war das Sexual¬ 
leben der beiden höchst unbefriedigend. Die Frau war frigid, und der Patient litt 
an Ejaculatio praecox. Der Gatte bekam nichts von der Gattin, und da seine 
rezeptiven Tendenzen keine Befriedigung fanden, verfiel er bald in eine Hal¬ 
tung des Wettstreits mit seiner Frau, zumal diese auch in pekuniärer Hinsicht 
die Hauptstütze des Haushalts war. Anstatt von seiner Frau bemuttert zu 
werden, wurde er durch ihre Überlegenheit zu Ehrgeiz und Strebsamkeit ge¬ 
trieben, die er verabscheute. Darin stand er im Gegensatz zu der Mehrzahl 
unserer gastrischen Fälle, die ja in der Regel ihre tätige und verantwortungs¬ 
volle Rolle lieben. Ich habe hinzuzufügen, daß er in seinem Streben keinerlei 
Erfolg hatte und in seinem Beruf stets mittelmäßig blieb. Auf der Höhe dieser 
Konfliktsituation, nach zwanzigjähriger Ehe, trat als Folge eines peptischen 
Geschwürs eine schwere Blutung ein. Doch hatte er alle die Jahre hindurch an 
gastrischen Symptomen gelitten, hauptsächlich an Schmerzanfällen, die sich 
einige Stunden nach dem Essen einstellten und durch Nahrungsaufnahme ver¬ 
schwanden, sowie auch an chronischer Hyperazidität. Das ülkus entwickelte 
sich, nachdem diese gastrischen Beschwerden i8 Jahre angedauert hatten. 

Kurz nach jener Blutung ging er eine neue sexuelle Beziehung ein mit 
einer Frau von mütterlicher Wesensart, die ganz das Gegenteil seiner Gattin 
war. Seine Frau wolle ihm nie etwas kochen, klagte er, die andere aber tat 
das. Sie war ein nettes, sanftmütiges, alltägliches Geschöpf, das ihn nicht zu 
unerfüllbarem Ehrgeiz aufstachelte. Mit ihr konnte er ein bescheidenes bür¬ 
gerliches Leben führen, das, wie er offen zugab, sein einziges Ideal war. Seit 
er sexuelle Beziehungen zu ihr aufgenommen hat, sind alle Symptome ver¬ 
schwunden. Das Leben selbst hat hier eine Kur durchgeführt, indem es ihm 
die Befriedigung seiner rezeptiven Tendenzen ermöglichte. 

Schon dieses einzige Beispiel zeigt, daß nicht ein bestimmter Persönlichkeits¬ 
typus von primärer Bedeutung ist, sondern die ungestillte Sehnsucht, von 
andern etwas zu empfangen. Hier schuf die spezifische äußere Situation, in 
der der Patient lebte, durch äußere Entbehrung einen Konflikt, ganz ähnlich 
demjenigen, der bei der Mehrzahl der Fälle durch innere Entbehrung erzeugt 
wird. 






















202 


Franz Alexander 


Der typische Konflikt zwischen den verdrängten infantilen Wünschen, von 
andern etwas zu empfangen, und den Forderungen eines männlichen Ichs 
erklärt die folgende interessante Beobachtung. Die Magensymptome eines 
meiner früheren Patienten traten regelmäßig auf, wenn er im Kino oder im 
Theater eine Szene sah, in der der Held Schwieriges und Gewagtes voll¬ 
brachte und seine ganze Kraft auf sein Tun konzentrieren mußte. Unsere 
Beobachtungen über den Zusammenhang zwischen passiv empfangenden Ten¬ 
denzen und Magensymptomen bringen uns auf die folgende Erklärung: Daß 
der Patient sich mit einem so überaus heldenhaften und männlichen Charakter 
identifizierte, rief eine Reaktion des infantilen rezeptiven Teils seiner Per¬ 
sönlichkeit hervor, und diese Reaktion äußerte sich in Mageninnervationen, 
die zu starkem Sodbrennen und epigastrischen Beschwerden führten. Nach¬ 
dem er sich mit einem Grad von Angriffslust und Kühnheit identifiziert hatte, 
der über seine Kräfte ging, forderte das Kind in ihm seine Rechte, und zwar 
in der Form einer Flucht aus aller Gefahr in die sichere Obhut an der Mutter¬ 
brust. Diese Regression zur infantilen Einstellung als Reaktion auf Gefahr tritt 
deutlich in traumatischen Neurosen zutage, in Fällen von traumatischem 
Mutismus und traumatischer Abasie, in denen das Ich des Patienten als Reak- 
ticrn auf das Trauma häufig alle im Lauf der Entwicklung erworbenen Fähig- 
keiten aufgibt, die Fähigkeit zu gehen und zu sprechen verliert und zu der 
völlig hilflosen Situation des kleinen Kindes zurückkehrt. 

Nachdem ich nun die typische psychische Situation beschrieben habe, die 
wir bei unseren gastrischen Fällen feststellen konnten, will ich kurz zu er¬ 
klären versuchen, auf welche Weise verdrängte oral empfangende und oral¬ 
aggressive Impulse zu gastrischen Symptomen und sogar zu einem peptischen 
Geschwür des Magens oder des Duodenums führen dürften. Die Erklärung, die 
ich Vorbringen werde, stellt einen Versuch dar, das ständige Vorherrschen 
intensiver oral empfangender und oral-aggressiver Tendenzen — also der Auf¬ 
nahmetendenzen, wie ich sie mit einem gemeinsamen Namen nennen möchte 
mit den organischen Vorgängen der Geschwürbildung in Zusammenhang 
zu bringen. 

Die meisten Kliniker stimmen darin überein, daß peptische Geschwüre durch 
gewisse physische Veränderungen der sekretorischen und der motorischen 
Funktion des Magens, vielleicht auch durch Veränderung der Blutversorgung 
hervorgerufen werden. Viele Fälle von peptischem Ulkus entwickeln sich 
nach einer langen Periode der subjektiven Symptome epigastrischer Beschwer¬ 
den und chronischen Sodbrennens. Es liegt nahe anzunehmen, daß das pep- 
tische Geschwür selbst das Endergebnis gewisser Dysfunktionen des Magens där- , 
stellt, welche im Lauf der Zeit zu morphologischen Veränderungen, d. h. zur J 
Ulzeration des Gewebes führen. W^ahrscheinlich ist entweder der verminderte 
Widerstand der Magenwände gegen den Magensaft oder, in anderen Fällen, 
eine chronische Hypersekretion der verursachende Faktor. Das ätiologische 
































Problem besteht darin, die Ursachen dieser chronischen Veränderungen der 
Magenfunktion, die schließlich zu einem Ulkus führen, zu ermitteln. 

Die Annahme, daß Ulzera das Endergebnis eines vorangehenden chroni¬ 
schen Zustandes der funktionellen Störung des Magens sind, berechtigt uns 
dazu, ausgesprochene Fälle von Ulkus mit gastrischen Neurosen zu ver¬ 
gleichen. Bestätigt wird diese Hypothese auch durch die Tatsache, daß wir 
in funktionellen wie in organischen Fällen dieselbe Konfliktsituation vor¬ 
finden. Auch Westphal stellte in Fällen von Magenneurose und von pep- 
tischem Geschwür betreffs der allgemeinen Konstitution das gleiche Bild fest.^® 
Er schließt auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Magenneurosen 
und peptischen Geschwüren und ist sogar geneigt, das Ulkus als erschwerende 
Komplikation der Neurose zu betrachten. 

Im Licht der psychoanalytischen Theorie ist es nicht schwer zu verstehen, 
warum sich die Ernährungsfunktionen ganz besonders dazu eignen, jene ver¬ 
drängten oder äußerlich unerfüllten rezeptiven Tendenzen zum Ausdruck zu 
bringen, die bei allen unseren Fällen vorherrschen. Der infantile Wunsch, zu 
empfangen, umsorgt und geliebt zu werden, von jemand anderem abzuhängcß) 
findet seine idealste Erfüllung in der parasitischen Situation des Säuglings. 
So verknüpfen sich die Gefühle des Empfangenwollens, der Wunsch, geliebt 
und umsorgt zu werden, in einem frühen Lebensabschnitt aufs innigste mit den 
physiologischen Ernährungsfunktionen. Gefüttert zu werden wird das Ur- 
symbol des Geliebtwerdens. 

Wenn der intensive Wunsch, etwas zu empfangen, geliebt zu werden, von 
anderen abzuhängen, von dem erwachsenen Ich verworfen wird und infolge¬ 
dessen in den normalen Lebensbeziehungen keine Befriedigung finden kann, dann 
bleibt nur der Weg der Regression offen: der Wunsch, geliebt zu werden, ver¬ 
wandelt sich in den Wunsch, gefüttert zu werden. Die verdrängte Sehnsucht 
nach Liebe und Hilfe setzt die Innervation des Magens in Bewegung, die seit 
dem Beginn des Extrauterinlebens aufs engste mit der ursprünglichsten Form, 
etwas zu empfangen, verknüpft ist, nämlich mit dem Vorgang des Gefüttert¬ 
werdens. Diese Innervation bildet einen chronischen Anreiz für die Funk¬ 
tionen des Magens und führt zu dessen Dysfunktion, da ja dieser Reiz 
nichts mit dem normalen, organisch bedingten zu tun hat, nämlich mit dem 
Nahrungsbedürfnis, sondern aus Gefühlskonflikten entspringt, die von dem 
physiologischen Zustand des Hungers völlig unabhängig sind. Jene Individuen, 
die infolge der beschriebenen Konfliktsituation ihren übermäßig starken Trieb 
zu empfangen verdrängen und verleugnen müssen, drücken ihn in der schwei¬ 
genden physiologischen Sprache der Magenfunktionen aus. Ein solcher Magen 
benimmt sich andauernd so, wie es normalerweise nur während der Nahrungs¬ 
aufnahme oder unmittelbar zuvor der Fall sein sollte. Je stärker die Befriedi- 

23) Westphal, K.: Untersuchungen 2;ur Frage der nervösen Entstehung peptischer 
Ulzera, Deutsches Archiv für klinische Medizin, Vol. 114, i 9 i 4 ' 

















904 


Franz Alexander 


gung jedes Verlangens, etwas zu bekommen, im Leben verworfen wird, desto 
größer wird der unbewußte Wunsch — wir können ihn mit Recht als 
Hunger bezeichnen nach Liebe und Hilfe sein. Das Verlangen zu essen 
entspringt bei solchen Menschen nicht aus organischem Hunger, die Nahrung 
ist ihnen vielmehr ein Symbol für Liebe und Hilfe. 

Mein Eindruck ist also, daß der Magen unter dem fortgesetzten chronischen 
Reiz sich andauernd so benimmt, als ob er verdaute. Eine chronische Hyper- 
motilität und Hypersekretion können die Folge sein. Der leere Magen wird 
andauernd jenen physischen Reizen ausgesetzt, die unter normalen Bedingun¬ 
gen nur zeitweise wirksam werden, nämlich wenn er Nahrung enthält oder 
e en aufnehmen soll. Wahrscheinlich sind der nervöse Magen, epigastrische 
Beschwerden, Sodbrennen und Aufstoßen Manifestationen dieses chronischen 
Erregungszustandes, der manchmal sogar zur Geschwürbildung führen kann. 

Die Frage, ob es an einer konstitutionellen oder erworbenen Schwäche des 
Magens liege, daß es nur bei manchen Fällen von gastrischer Neurose zur 
Bildung eines Geschwürs kommt, muß vorläufig unbeantwortet bleiben. 

Für die Richtigkeit der angeführten Annahmen gibt es eine Reihe experi¬ 
menteller und klinischer Beweise. Alvarez bezeichnet in einer seiner jüngsten 
Arbeiten eine derartige chronische Reizung des leeren Magens als einen der 
ätiologischen Faktoren bei peptischem Geschwür.*^ 

Sehr interessant in dieser Hinsicht sind die Experimente Silbermanns, der 
durch Scheinfüttern mittels einer künstlichen ösophagusfistel bei Hunden 
Magengeschwüre erzeugte.26 Die Nahrung, die der Hund schluckt, fällt zu 
Boden, das Tier schnappt aufs neue danach und frißt bis zu drei Viertelstunden 
lang gierig. Das Ergebnis ist eine starke Reizung der Magensaftabsonderung 
in dem leeren Magen, die regelmäßig zu einer Ulkusbildung führt. Der Vor¬ 
gang, der sich in den von uns beobachteten Patienten vollzieht, läßt sich mit 
dieser Scheinfutterung von Hunden vergleichen. Der Zustand chronischer 
Magenanregung, in dem sie sich befinden, wird nicht durch den Ernährungs¬ 
prozeß verursacht, sondern ist eine Reaktion auf den psychischen Anreiz der 
Sehnsucht, geliebt zu werden und etwas zu bekommen, oder des Verlangens, 
aggressiv zu nehmen, was nicht freiwillig gegeben wird. Infolge des Minder¬ 
wertigkeitsgefühls, das durch die Rezeptivität hervorgerufen wird, und des 


Ppnrfr Lat>oratory and the Clinic on the Causes of 

leptic Ulcers, The American Journal of Surgery, Vol. i8, 1932. 

„Die größte Schwierigkeit bei Patienten mit einem hartnäckigen Ulkus oder mit der Nei- 
gung zur Ulkusbildung hegt vielleicht darin, daß die gastrischen Zellen auch dann fort- 
tahren. Saure abzusondern, wenn der Magen keine Nahrung enthält, die die Säure aufsaugen 

krankte PaH Studieren, wie der an einem Ulkus er- 

^ankte Patient auf Scheinfutterung reagiert, und es ließe sich daraus unser Wissen über die 

MagerieT/Absonderung von Magensaft in Gang halten, während der 

25) Silbermann, I. S.: Experimentelle Magen-Duodenal-Ulkuserzeugung durch Schein¬ 
futtern nach Pavlov, Zentralbl. f. Chir., Vol. 54, S. 2385-2392, 1927. 

































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


205 


Schuldgefühls, das die aggressiven "Wünsche erzeugen, sind diese Tendenzen 
verdrängt worden und können nicht normal auf dem Wege willkürlicher 
Innervationen abreagiert werden. Indem sie nach Entladung streben, werden 
sie in den Wunsch, gefüttert zu werden oder zu essen, konvertiert. Das ist 
die Ursache der Magendysfunktion. Selbstverständlich ist außer einer weiteren 
psychologischen Erforschung ähnlicher Fälle auch eine weitere Stützung dieser 
Ansichten seitens der Physiologie notwendig. 

Eine sehr interessante Bestätigung der Annahme, daß einer der verursachen¬ 
den Faktoren der Ulkusibildung in der fortgesetzten Sekretion unter dem Ein¬ 
fluß chronischer psychischer Reize (orale Phantasien und orale Tendenzen) 
liege, findet sich in den experimentellen Untersuchungen von Henning und 
Norpoth®* (Deutschland), eine weitere in einer Arbeit von Asher Winkel¬ 
stein*’ (Amerika). Henning und Norpoth stellten bei Magenkranken eine 
maximale Dauersekretion der Magendrüsen während der Nacht fest. Die Mehr¬ 
zahl dieser Patienten hatte ein Ulcus duodeni. Eine starke nächtliche Se¬ 
kretion zeigte sich auch bei Fällen von chronischer Gastritis, ferner bei Pa¬ 
tienten, die eine „vegetative Neurose“ hatten, ohne magenkrank zu sein. Ähn¬ 
lich beobachtete Winkelstein hohe Säurekurven bei Patienten mit einem 
durch Scheinfüttern („psychische“ Fütterung) erzeugten Ulkus. Ferner zeigten 
die Patienten mit einem Magen- oder einem Duodenalgeschwür im "Vergleich 
mit Kontrollversuchen hohe nächtliche Säurekurven. Diese Beobachtungen 
stehen durchaus im Einklang mit unseren Ansichten. Sie bestätigen die Emp¬ 
findlichkeit der Magensekretion gegen Nervenreize bei Patienten mit einem 
Ulkus und zeigen auch, daß bei diesen Kranken tatsächlich eine fortgesetzte 
Sekretion stattfindet. Anscheinend ist nicht der absolute Grad der Hyper¬ 
azidität von Bedeutung, sondern der chronische Zustand von Magenerre¬ 
gung, die chronische Magensaftsekretion. Wir können als Ergebnis unserer 
Untersuchungen diese Beobachtungen dahin ergänzen, daß die in Frage stehen¬ 
den Kranken von oralen Tendenzen und oralen Phantasien beherrscht werden 
und daß wir diese für die psychischen Reize halten, welche die fortgesetzte 
Magensaftsekretion verursachen. 

Ich möchte schließlich eines noch einmal betonen: Unsere Gesamtauffassung 
von den psychologischen Faktoren bei peptischen Geschwüren gründet sich auf 
die analytisch festgelegte Tatsache, daß der Wunsch nach Abhängigkeit und 
Hilfe, den wir bei allen unseren Kranken so regelmäßig entdeckt haben, im Un¬ 
bewußten gefühlsmäßig mit dem Wunsch, gefüttert zu werden, verknüpft ist. 
Wir behaupten nicht, diesen Zusammenhang aufgedeckt zu haben, sondern 

26 ) Henning, N. und Norpoth, L.: Untersuchungen über die sekretorische Funktion 
des Magens während des nächtlichen Schlafes, Archiv für Verdauungskrankheiten, Bd. 53, 
S. 64, 1933. 

27) Winkelstein, Asher: A New Therapy of Peptic Ulcer, American Journal of the 
Medical Sciences, VoL CLXXV, S. 695, Mai 1933. 















Franz Alexander 


206 


verweisen auf die zahlreichen psychoanalytischen Schriften, in denen er von 
verschiedenen Autoren beleuchtet worden ist.^® 

Diese Erklärung soll nicht als ein Versuch angesehen werden, eine allgemein¬ 
gültige ätiologische Theorie für peptische Geschwüre aufzustellen. Sie bezieht 
sich lediglich auf eine beschränkte Anzahl beobachteter Fälle, und wir haben 
keinerlei Beweis dafür, daß peptische Geschwüre sich nicht auch auf einer 
anderen und vielleicht nicht psychogenen Grundlage entwickeln können. 
Überdies setzt sich unser Material leider nur aus Fällen von Duodenalgeschwü¬ 
ren zusammen, und infolgedessen beschränken sich alle unsere Schlußfolgerun¬ 
gen auf diese Art von Geschwüren. 

Eine letzte Frage muß nun noch beantwortet werden. Wir fanden bei 
unseren Fällen von peptischem Geschwür und Magenneurose eine starke Re¬ 
gression zu der infantilen oralen Rezeptivität und Aggression. Weiters sahen 
wir, wie diese infantilen Strebungen von äußeren Umständen gehemmt werden, 
häufiger aber von dem inneren Konflikt, der durch die oral-rezeptiven und 
oral-sadistischen Impulse erweckt wird; dieser Konflikt führt zu Über¬ 
kompensation, zu allzu großer Unabhängigkeit, und diese wieder macht 
jede normale Befriedigung des so allgemein menschlichen Wunsches, sich auf 
andere zu stützen und sich von anderen helfen zu lassen, unmöglich. Wir ver¬ 
standen, daß dadurch die infantile Sehnsucht nach Abhängigkeit noch größer 
werden muß, daß diese Sehnsucht den gefühlsmäßig mit ihr verknüpften 
Wunsch gefüttert zu werden mobilisiert, und daß dieser letztere zu einem 
dauernden Reiz für den leeren Magen wird und dessen Dysfunktion ver¬ 
ursacht. Alles das ist klar, steht im Einklang mit unserem psychologischen 
und physiologischen Wissen und erklärt die beobachteten Tatsachen. Wir 
finden aber die gleichen, oral-rezeptive und oral-aggressive Tendenzen be¬ 
treffenden heftigen Konflikte, die Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle 
und den typischen Überkompensationsmechanismus verursachen, bei 
vielen Formen der Neurose. Die psychologische Situation, die wir bei 
unseren Fällen von peptischem Geschwür und gastrischer Neurose beschrieben 
haben, ist keineswegs eine spezielle, auf solche Patienten beschränkte. Die 
Konvertierung des Wunsches, geliebt zu werden und etwas zu bekommen, 
in Mageninnervationen kann also nur als eine der vielen möglichen dynami¬ 
schen Folgen derselben unbewußten Konfliktsituation gelten. Warum be¬ 
stimmte Individuen gerade diese physiologische Lösung wählen, muß un¬ 
beantwortet bleiben — die Frage gehört dem bisher noch dunklen Gebiet der 
„NeurosenwahP‘ an. Am wahrscheinlichsten ist folgender Sachverhalt: Wenn 
gewisse unbekannte organische Faktoren mit der oben beschriebenen psycht)- 

28) Bezüglich des Zusammenhanges zwischen oraler Befriedigung in der Säuglingsperiode 
und der Freude am Nehmen und Beschenktwerden verweise ich auf die ursprünglichen Beob¬ 
achtungen Freuds und Abrahams. 

Freud, S.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Sehr,, Bd. V. 

Abraham, K.: Psychoanalyt. Studien zur Charakterbildung, Int. Psa. Verl., Wien, 1925« 





































207 



über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 

dynamischen Konstellation Zusammentreffen, führen sie im Verein mit 
diesen zur Geschwürbildung. Die Tatsache, daß sich orale Regression 
stets und Überkompensation sowie Verdrängung der oral-rezeptiven und 
oral-aggressiven Strebungen sehr häufig haben feststellen lassen, berechtigt uns 
jedoch zu der Vermutung, daß diese psychodynamische Situation der be¬ 
deutsamste psychische Faktor in der Ätiologie des Duodenalgeschwürs ist. 
Der Beitrag der Psychoanalyse zu diesem Problem endet mit der Beschrei¬ 
bung der typischen psychodynamischen Bedingungen, die für die Erkran¬ 
kung an Ulcus pepticum charakteristisch sind. 

IL Der Kolitistypus 

Eine andere Lösung desselben Konflikts wurde als typisch für die zweite 
Gruppe von Patienten erkannt, die ich als Kolitistypus bezeichne. Sie umfaßt 
Fälle, die man gewöhnlich muköse oder spastische Kolitis nennt; Verstopfung 
wechselt mit schmerzhafter, oft muköser Diarrhöe ab, die häufig auch von 
Krämpfen begleitet ist. Wir haben fünf Fälle ausgewählt, bei denen das 
Symptom der Diarrhöe vorherrscht. 

Einer unserer Patienten hatte drei Jahre hindurch sechs bis zwanzig Ent¬ 
leerungen täglich. Um sicher zu sein, daß keine organischen Faktoren in Be¬ 
tracht kommen, haben wir bisher von Fällen mit ulzerierender Kolitis ab¬ 
gesehen. 

Oberflächlich betrachtet sind diese Kranken ganz anders als die gastrische 
Gruppe. Während die meisten unserer gastrischen Patienten alle ihre rezep¬ 
tiven Tendenzen, ihr Hilfsbedürfnis, ihren Wunsch nach Abhängigkeit nach¬ 
drücklich in Abrede stellen, betonen die an Kolitis leidenden vor allem, daß 
sie von anderen nicht bekämen, was ihnen gebühre, obgleich sie selbst sehr 
^ hilfsbereit, großmütig und voll Interesse für andere seien. Während die Kran- 

^ ken vom gastrischen Typus häufig wirklich tüchtig, hilfreich und gro߬ 

mütig sind oder sich mindestens ernstlich bemühen, das alles zu sein, machen 
die Kolitiskranken in dieser Hinsicht nur schöne Worte. Zwar waren manche 
vor ihrer Erkrankung aktiv und tüchtig, später aber fanden sie sich leicht in 
eine abhängige Lage, was bei den gastrischen Patienten durchaus nicht der 
Fall ist. Sie geben ihre Arbeit bereitwillig auf; wenn sie überhaupt arbeiteten, 
so geschah es in der Regel nur infolge äußerer Notwendigkeit; es fehlte ihnen 
die Strebsamkeit und der Ehrgeiz, die für den gastrischen Typus charak¬ 
teristisch sind. 

I Der Unterschied zwischen dem gastrischen und dem Kolitistypus ähnelt 

dem zwischen einer Phobie und einer Zwangsneurose. Bei der Phobie besteht 
J Angst vor bestimmten Handlungen, die im Unbewußten eine gefürchtete 

symbolische Bedeutung haben, und diese Handlungen sind^ gehemmt — auf die 
Straße zu gehen, ist zum Beispiel symbolisch für Prostitutionsphantasien und 


i 














2o8 


Franz Alexander 


Wird deshalb vermieden. Schreiben als Symbol des Inzests oder jemanden 
berühren als Symbol eines Mordwunsches werden durch Angst gehemmt; 
aber wir finden bei der Phobie keinerlei neurotische Mechanismen, die es 
ermöglichen würden, die verbotenen Strebungen doch auszuführen. 

Wird die Phobie jedoch zur Zwangsneurose, so kann sich der Patient jede 
symbolische Befriedigung gestatten, wenn er nur bestimmte Bedingungen 
erfüllt. Wenn er sich an bestimmte kompensierende Symptome hält, wird er 
auf die zurückgewiesenen unbewußten Tendenzen nicht länger mit Angst- 
und Schuldgefühlen reagieren: Er kann auf die Straße gehen, wenn er geyrisse 
Zeremonien ausführt; wenn er sich zuvor die Hände wäscht, darf er einen 
anderen berühren; die abgelehnten Tendenzen dürfen befriedigt werden, vor¬ 
ausgesetzt, daß durch andere symptomatische Handlungen für die in Sym¬ 
bolen phantasierten Verbrechen Buße getan, der phantasierte Schaden wieder 
gutgemacht wird. 

Gleich den Phobikern sind viele unserer gastrischen Fälle unter keiner Be¬ 
dingung imstande, sich bewußt eine freie Hingabe an ihre rezeptiven oder 
oral-aggressiven Tendenzen zu gestatten; zumindest müssen sie andauernd 
gegen diese Tendenzen ankämpfen. Unsere Kolitiskranken hingegen können 
gleich den Zwangsneurotikern an andere Forderungen stellen und sich helfen 
lassen, wenn sie nur dafür in der Form schmerzhafter Entleerungen bezahlen. 
Es finden sich bei ihnen, unbewußt und oft sogar auch bewußt, dieselben oral¬ 
rezeptiven und habgierig aggressiven Tendenzen wie bei den gastrischen 
Fällen, aber sowohl die Angst als auch das Minderwertigkeitsgefühl sind be¬ 
seitigt, wahrscheinlich infolge der symbolischen Bedeutung des physiologischen 
Symptoms, der Diarrhöe. Diese bedeutet Wiedererstattung dessen, was sie 
anderen wegzunehmen wünschen; weiters bedeutet sie auch Aktivität und 
Aggression im Gegensatz zu passivem Aufnehmen. 

Bei diesen Kranken wird das untere Ende des Intestinaltrakts, dessen Funk¬ 
tion vorwiegend in der Ausscheidung besteht, mobilisiert und zu vermehrter 
Tätigkeit angeregt. Sie geben anale oder vielmehr intestinale Werte als Kom¬ 
pensation für orale Rezeptivität und Angriffslust und schaffen so einen Aus¬ 
gleich zwischen dem Streben aufzunehmen und dem zu eliminieren. Bei 
zweien unserer Kranken — beide Büromädchen — war der Neid gegen die 
jüngere Schwester, die sie in der rezeptiven Rolle des kleinen Kindes ersetzt 
hatte, bedeutsam. Bei einer der beiden Patientinnen wirkte die Anwesenheit 
der jüngeren Schwester auslösend auf die Diarrhöe. „Ich will ihr nichts weg¬ 
nehmen, und wenn ich ihr etwas nehme, so bezahle ich dafür‘‘, ist die dyna¬ 
mische Formel dieses Symptoms. 

Bei einem überaus erfolgreichen Geschäftsmann, der eine schwere Kolitis 
hatte, stellten wir fest, daß er, kaum dem Kindesalter entwachsen, im Wett¬ 
streit mit seinem Vater für die Familie gearbeitet hatte. In den Jünglings¬ 
jahren wurde er ihre Hauptstütze. Das Leitmotiv seines Daseins ist eine Phan- 


































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 209 

tasie, wie er den Eltern geholfen habe. „Ich habe meine Mutter von meinem 
schwachen Vater weggeholt, aber nur um ihr zu helfen. Ich unterstützte nicht 
nur sie, sondern auch ihn.“ Er brachte es zu etwas im Leben, und stets war sein 
Leitmotiv: „Ich gebe anderen viel, deshalb ist mein Erfolg wohlverdient.“ 
Dieser Ausgleich der Gefühle bleibt bestehen, bis er 44 Jahre alt ist. Dann 
verliert er auf dem Höhepunkt seiner erfolgreichen Laufbahn all sein Geld. 
Zu geben und mit Geld zu bezahlen, war für ihn das Mittel gewesen, sich 
innerlich im Gleichgewicht zu halten. Während er bemüht ist, sein Geschäft 
neu aufzubauen, befällt ihn eine überaus schwere Kolitis. Er hat sechs bis 
zwanzig Entleerungen täglich; diese dienen nun demselben inneren Zweck 
wie früher die Geldzuwendungen an andere. 

Solche Patienten müssen nicht nur ihr aus oraler Aggression stammendes 
Schuldgefühl erleichtern, sondern haben noch einen anderen innern Konflikt 
zu lösen — den des Minderwertigkeitsgefühls, das durch ihre oral-rezeptiven 
Tendenzen verursacht wird. Bei einer unserer Patientinnen erkannten wir 
ganz klar, daß die Diarrhöe nicht nur Ersatz bedeutete, sondern auch den 
narzißtischen Sinn männlicher Aktivität hatte und die männlichen Strebungen 
der Patientin zum Ausdruck brachte.^® Bei allen unseren weiblichen Fällen 
vom Kolitistypus fanden wir, daß die weibliche genitale Einstellung aus zwei 
Gründen verworfen wurde. Erstens gilt sie als die untergeordnete Rolle, weil 
sie gefühlsmäßig eng mit den parasitischen oral-rezeptiven Tendenzen ver¬ 
knüpft ist; zweitens wird sie wegen ihrer aggressiv-sadistischen Kastrations¬ 
bedeutung zurückgewiesen. Die aggressive Kastrationstendenz der weiblichen 
Wünsche ist stets eine Reaktion darauf, daß die passiv-rezeptiven Tendenzen 
unbefriedigt geblieben sind, und wir glauben, daß die weiblichen rezeptiven 
Tendenzen meistens erst dann zurückgewiesen werden, wenn sie jene aggres¬ 
sive Bedeutung angenommen haben. Bei allen unseren Patientinnen be¬ 
deutet die Diarrhöe sowohl Wiedergutmachung von Kastrationswün¬ 
schen als auch männliche Aktivität im Gegensatz zu weiblicher Re- 
zeptivität. Bei einer unserer Kranken kommt der Wunsch der 
Wiedergutmachung oder Wiedererstattung durch die Diarrhöe in einer 
tiefen Schicht dem Verlangen gleich, ein Kind zu gebären. Daß die 
Diarrhöen sowohl Ersatzleistung als auch männliche Aktivität bedeuten und 
manchmal auch einen aggressiven Sinn haben, konnten wir feststellen, indem 
wir wiederholt beobachteten, unter welchen psychologischen Bedingungen ein 
Anfall von Diarrhöe zustande kam; besonders lehrreich waren Träume, aus 
denen die Patienten mit einem Anfall von Diarrhöe erwachten. Das kon¬ 
stanteste und auffälligste Merkmal, das den spezifischen Charakter dieser Fälle 

29) über den Zusammenhang des Defäkationsaktes mit dem Wunsch, etwas zu leisten, mit 
Selbstachtung und dem Gefühl der Produktivität siehe Abraham, K.: Ergänzungen zur 
Lehre vom Analcharakter, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. IX, S. 27, 1923. 

Ferner Jones, E.: Anal-Erotic Character Traits, Papers on Psycho-Analysis, New York, 
Wm. Wood and Co., 1923, S. 691. 

















Franz Alexander 


210 


bestimmt, ist der Wunsch nach Ersatzleistung, eine Reaktion auf das 
Schuldgefühl, das aus rezeptiven und aggressiven Raubtendenzen (Kastra¬ 
tionswunsch) entsteht. 

Wir sind vorläufig noch nicht imstande, eine in Einzelheiten gehende phy¬ 
siologische Theorie dafür aufzustellen, auf welche Art und Weise der Wunsch, 
etwas wieder zu erstatten und zu geben (Produktivität), und aggressive Ten¬ 
denzen zu den physiologischen Veränderungen führen, aus denen die Kolitis¬ 
symptome entstehen. Es ist jedoch leicht zu begreifen, warum das untere 
Ende des Intestinaltrakts, dessen Hauptfunktion in der Ausscheidung besteht, 
ganz besonders dazu taugt, Aktivität, Aggression und den Wunsch zu geben 
zum Ausdruck zu bringen. Wir nehmen an, daß durch einen Mechanismus 
ähnlich jenem, den wir bei den gastrischen Fällen feststellten, die Peristaltik 
des Darmes unter dem andauernden psychischen Anreiz des Wunsches aus¬ 
zuscheiden und zu geben von den normalen physiologischen Regulierungs¬ 
mechanismen unabhängig wird. Normalerweise wird die Peristaltik durch 
den Intestinalinhalt periodisch reguliert, bei den in Frage stehenden Neuro¬ 
tikern aber wird sie durch eine psychische Tendenz angeregt, die mit dem 
Ernährungsprozeß nichts zu tun hat. Diese Erklärung fußt auf anerkannten 
Feststellungen der Psychoanalyse, und zwar auf dem Satz, daß der Intestinal¬ 
inhalt im Unbewußten symbolisch einerseits einen wertvollen Besitz und eine 
Gabe bedeutet, anderseits ein Mittel der Aggression. Die unbewußte Einstel- 
lung, nach welcher der Intestinalinhalt ein wertvoller Besitz ist und die Exkre¬ 
mente ein Geschenk an andere sind, entspricht der frühen koprophilen Ein¬ 
stellung des Kindes, bevor es die negative Einstellung des Ekels vor den Exkre¬ 
menten entwickelt. Daß durch die Ausscheidefunktion auch sadistische oder 
aggressive Tendenzen zum Ausdruck kommen, entspricht anderseits der Ein¬ 
stellung, die sich entwickelt, sobald das Kind gelernt hat, negative Gefühle des 
Abscheus gegen diese Funktion zu hegen. Wir haben bei allen unseren Patienten 
ein Gemisch beider Tendenzen gefunden, größerer Nachdruck aber liegt bei 
den Kolitisfällen auf der Auffassung der Diarrhöen als Ersatzleistung. Wir 
verweisen bezüglich dieser psychologischen Zusammenhänge auf die zahlreichen 
psychoanalytischen Schriften über dieses Thema, insbesondere auf die Ar¬ 
beiten von Jones, Brill und Abraham über Analerotik.^® 

30) Über die Auffassung des Intestinalinhaltes als Geschenk siehe Freud, S.: Über Trieb¬ 
umsetzungen insbesondere der Analerotik, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. IV, S. 125, 1916. 

Ferner auch Jones, E.: Anal-Erotic Character Traits, Papers on Psycho-Analysis, New 
York, Wm. Wood and Co., 1923, S. 691. 

Über die Beziehung zwischen Verschwendungssucht und neurotischer Diarrhöe siehe be¬ 
sonders Abraham, K.: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter, Int. Ztschr. f. Psa., 
Bd. V, S. 117, 1919. 

Über die Auffassung des Defäkationsaktes als Wiedererstattung siehe Geza Röheim: 
Heiliges Geld in Melanesien, Int. Ztschr. f. Psa., Bd, IX, 1923, Röheim schildert in dieser 
Schrift, daß bei den Begräbniszeremonien der Tongainsulaner die wertvollsten Besitztümer 
des Stammes dem toten Häuptling in das Grab mitgegeben werden, gleichzeitig 

































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


2II 


Diese Darlegungen sollen nicht als Versuch auf gef aßt werden, eine all¬ 
gemeingültige ätiologische Theorie für die spastische Kolitis aufzustellen. 
Immerhin ist es uns gelungen, einen Zusammenhang zwischen den Diarrhöen 
und den verdrängten unbewußten Wiedererstattungs- und Aggressionsten¬ 
denzen nachzuweisen. Wir können jedoch nicht behaupten, daß sich die 
Kolitis in jedem Fall unbedingt auf psychogener Grundlage entwickle. 

Im Zusammenhang mit unseren Feststellungen ergibt sich eine interessante 
Frage bezüglich der wohlbekannten Wirkung, die Angst auf die Beherrschung 
des Schließmuskels und der Peristaltik ausübt. Man kann im allgemeinen 
sagen, daß Angst alle aktiv-aggressiven Mechanismen des Individuums in Be¬ 
wegung setzt. Can non hat zum Beispiel gezeigt, wie Angst bei Flunden die 
Adrenalinbildung mobilisiert, und er betont die teleologische Bedeutung dieser 
Erscheinung, indem er die anregende Wirkung des Adrenalins auf die Muskel¬ 
tätigkeit und auf den Umsatz von Kohlehydraten hervorhebt, — beides ist für 
das Tier bei der Verteidigung gegen äußere Gefahr notwendig. Cannon 
weist auch auf noch andere Wirkungen des mobilisierten Adrenalins hin, 
zum Beispiel auf eine gewisse Veränderung in der Blutverteilung, die bei ver¬ 
mehrter Muskeltätigkeit von Nutzen ist.^^ Nicht so leicht ist vom teleologi¬ 
schen Standpunkt aus zu verstehen, daß auch die Defäkationsfunktion dem 
Zweck der Verteidigung oder des Angriffs dienen sollte. Die Erfahrungen der 
Psychoanalyse zeigen jedoch, daß die Defäkationsfunktion im Gefühlsleben 
eng mit aggressiven Tendenzen verknüpft ist, — auf dieser Tatsache beruht 
der analytische Begriff des Analsadismus. Furcht mobilisiert Aggression, 
und mit dieser ist die Ausscheidung der Exkremente psychologisch verknüpft. 
Bei einem feigherzigen Menschen geraten unter der Einwirkung von Angst 
die Eingeweide in Bewegung, anstatt daß er auf den Feind losginge. Der Re¬ 
flexmechanismus, durch den unter der Einwirkung von Angst die Darmtätig¬ 
keit angeregt wird, ist ein Beispiel für die pathologische, aber allgemein 
verbreitete Erscheinung, daß ein Nervenimpuls vom willkürlichen auf das 
vegetative System übergeht. An Stelle eines Muskelangriffs tritt eine symboli¬ 
sche infantile Ausdrucksform der Aggression, denn die Entleerung bedeutet 
symbolisch einen Angriff. 

aber auch die Männer des Stammes ihre Exkremente auf das Grab entleeren. Über 
die sadistische Bedeutung des Defäkationsaktes siehe Abraham, K.: Zur narzißtischen 
Bewertung der Exkretionsvorgänge in Traum und Neurose, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. VI, S. 64, 
1920. „Zur sadistischen Bedeutung der Defäkation zurückkehrend, will ich erwähnen, daß 
die Patientin, welche ihre Familie im Traume durch ihre Exkretionen tötet, in hohem 
Grade mit nervösen Diarrhöen behaftet war. Die Psychoanalyse ergab neben den uns ge¬ 
läufigen Ursachen dieses Symptoms eine sadistische Wurzel. Die Diarrhöen stellten sich als 
Äquivalente unterdrückter Wutausbrüche heraus. Andere analysierte Krankheitsfälle haben 
mir diesen Zusammenhang bestätigt; so kenne ich eine Neurotika, die auf jedes Ärger oder 
Wut erregende Erlebnis ebenfalls mit Diarrhöe reagiert." S. 66. Siehe auch Brill, A. A.; 
Psychoanalysis, Philadephia and London, W. B. Saunders Co., 1913, S. 274/75, 

31) Cannon, W. B.; Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage, Ed. 2, New York, 
ü. Appleton and Co., 1929. 










212 Franz Alexander 


Diese interessanten Tatsachen regen zu weiteren Mutmaßungen an. Der 
allgemein anerkannte, aber doch recht sonderbare Zusammenhang zwischen 
der Ausscheidung von Exkrementen und feindseliger Angriffslust ist vielleicht 
nicht nur ein infantiler, sondern auch ein archaischer Mechanismus. Mög¬ 
licherweise besteht ein fundamentaler psychogenetischer Zusammenhang 
zwischen aktiv-aggressiven Impulsen und den Innervationen der Ausscheidungs¬ 
organe. Sie gehören vielleicht derselben Kategorie an. Bei Tieren finden sich 
zahlreiche Beispiele dafür, daß Sekretions- und Ausscheidefunktionen dem 
Zweck der Verteidigung und des Angriffs dienen (Ausspritzen schädlicher 
Stoffe). Vielleicht entsteht die sadistische Bedeutung desDefäkationsaktes nach 
eben diesem psycho-physiologischen Muster. 

III. Der Obstipationstypus 

Ich komme nun zu der dritten Gruppe, dem Obstipationstypus. Unsere 
Arbeit auf diesem Gebiet befindet sich noch im Anfangsstadium. Daher muß 
ich mich auf einige wenige Bemerkungen beschränken, die sich aus dem Ver¬ 
gleich meiner früheren Erfahrungen mit den Beobachtungen an fünf Patienten 
im Institut ergeben haben. Man soll an Hand einiger Fälle und vereinzelter 
Beobachtungen aus einer zeitlich zurückliegenden Praxis nicht generalisieren. 
Überdies ist nur bei einem einzigen unserer jetzigen Patienten die Obstipation 
das Hauptsymptom. Daher sind bei den übrigen vier Fällen die oberflächliche 
Einstellung und die Konfliktlösungen, welche für den Obstipationstypus 
charakteristisch sein könnten, notwendig mit anderen, stärker hervortretenden 
Merkmalen vermengt. Immerhin lassen sich einige Strebungen feststellen, die 
charakteristisch zu sein scheinen.^^^. Eine pessimistische Einstellung gegen die 
Hilfeleistung anderer oder der Zweifel, sich auf andere verlassen zu können, 
scheinen vorzuherrschen. Diese Patienten erhoffen sich offenbar von nieman¬ 
dem etwas, ganz im Gegensatz zu Abrahams oralen Typen. Gleichzeitig be¬ 
steht ein mehr oder minder bewußtes, sehr starkes Gefühl der Verpflichtung 
zu geben, von dem der Patient sich zu befreien sucht, indem er auf alle be¬ 
wußten rezeptiven Tendenzen verzichtet. „Ich kann von niemandem etwas 
erwarten, deshalb brauche ich auch niemandem etwas zu geben. Ich will 
behalten, was ich habe.‘‘ 

Einer meiner an Obstipation leidenden Patienten denkt unablässig über 
seine gefühlsmäßigen oder finanziellen Verpflichtungen gegen andere Men¬ 
schen nach. Immer wieder muß er sich klarlegen, daß er seinen Bruder nicht 
unterstützen und kein Geld an die und die Frau schicken dürfe, weil er damit 
im Grunde nur Schaden anrichten würde. Bei Gefühlsbeziehungen zeigt er 
die gleiche Einstellung. Ein heftiges Schuldgefühl befällt ihn, wenn er Frauen 

31®) In der Zwischenzeit seit der über ein Jahr zurückliegenden Abfassung dieser Arbeit 
haben sich die folgenden Beobachtungen an einer Reihe von Obstipationsfällen voll be¬ 
stätigen lassen. 

































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


213 


im Stich läßt, die in bezug auf ihn Hoffnungen hegen; er versucht, dieses 
Gefühl der Verpflichtung dadurch loszuwerden, daß er nichts von anderen 
annimmt, ja es sich nicht einmal gestattet, irgendeine Gabe zu erwarten. Mit 
irgendwelchen Fragen, die Geben oder Schenken betreffen, will er nichts zu 
schaffen haben. Er hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Seine 
Verpflichtungen gegen die Geschwister hat er auf eine sehr charakteristische 
Art und Weise geordnet. Sein Einkommen wird automatisch in bestimmte 
Teile geteilt, ein Teil dient der Prämienzahlung auf eine Lebensversicherungs¬ 
polizze für seinen Bruder, ein zweiter findet für eine Lebensversicherung der 
Schwester Verwendung, ein dritter für seine eigene Lebensversicherung. Den 
Rest verbraucht er ziemlich vernünftig und nicht allzu sparsam. Er will, wie 
er sagt, nicht weiter darüber nachdenken müssen, wen er unterstützen soll. 
Dieses Problem soll aus seinem Leben verbannt sein, und für ihn selbst soll 
automatisch gesorgt werden. 

Einer der Patienten Wilsons®^’’ zeigt ein auffallend ähnliches Bild. Dieser 
sechsundzwanzig Jahre alte Architekt leidet an einer Zwangsneurose und 
gleichzeitig an hartnäckiger Obstipation, der er durch den fortgesetzten Ge¬ 
brauch von Abführmitteln steuert. Der Vater des jungen Mannes hat seit drei 
oder vier Jahren große finanzielle Schwierigkeiten und wird von seinen beiden 
Söhnen bi? zu einem gewissen Ausmaß unterstützt. Daß er den Vater unter¬ 
stützen muß, hat in dem Patienten einen offenen Konflikt hervorgerufen. Er 
sagt, er würde gern von zu Hause wegziehen, doch sei dies unmöglich, weil 
man daheim sein Geld brauche. Seine Rationalisierungen sind etwa folgende: 
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich zu Hause nicht mehr beisteuere. 
Täte ich es aber, so würde mein Vater das Geld nur für unnütze Dinge aus¬ 
geben. Daher ist es besser, wenn ich spare, damit ich ihm helfen kann, wenn 
er sich geschäftlich völlig zugrunde gerichtet hat.“ Seine gefühlsmäßige Ein¬ 
stellung gegen die Familie ist ähnlich. Die Eltern verdienten gar nicht, daß 
er sie liebe und achte, denn sie hätten Schuld an seiner Neurose. Leute wie 
sie sollten überhaupt keine Kinder in die Welt setzen dürfen. Im Unbewußten 
hat er infolge dieser feindseligen Einstellung ein starkes Schuldgefühl gegen 
Vater und Bruder. Diesem Schuldgefühl ist es hauptsächlich zuzuschreiben, 
daß er in seiner Laufbahn keinen Erfolg hat. Immer wieder betont er, daß 
er von niemandem etwas erhoffe; alles was er brauche, müsse er selbst er¬ 
werben. Doch zweifle er sehr an seiner Fähigkeit dazu, deshalb müsse er 
sparsam sein mit dem, was er habe. 

Dieser Fall zeigt den wohlbekannten Mechanismus des analen Zurückhaltens 
als Reaktion auf die Hemmung des oralen Triebes.*^ 

3i'>) Wilson, George W.: Typical Personality Trends and Conflicts in Gases of Spastic 
Colitis, in Symposium on the Influence of Psychologie Factors upon Gastro-Intestinal 
Disturbances, Psa. Quarterly, vol. III, pp. 501—588, 1934. 

32) Abraham erklärt die neurotische Sparsamkeit von Menschen, bei denen eine Hem¬ 
mung dagegen besteht, daß sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen: „Die Lust am Er- 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXI/2 

















214 Franz Alexander 


Die Abneigung gegen jede Verpflichtung, etwas zu geben, gründet sich in 
einer tieferen Schicht auf eine starke Kastrationsangst, von der der Patient 
sich zu befreien sucht, indem er auf seine oralen Tendenzen verzichtet und sie 
in Abrede stellt. 

Ich möchte hier auch auf den Fall von chronischer Obstipation verweisen, 
den ich bei einer anderen Gelegenheit beschrieben habe.^® Es handelte sich dort 
um eine vernachlässigte Ehefrau, die Gattin eines egozentrischen Künstlers, die 
während ihrer zweijährigen Ehe an hartnäckiger Obstipation litt. Das Leiden 
fand spontane Erleichterung, als ihr der Gatte eines Tages einen Blumenstrauß 
brachte, das erste Geschenk seit der Eheschließung. Auf diese Gabe reagierte 
sie mit einer spontanen Entleerung — zwei Jahre hindurch hatte sie keine 
solche gehabt. Das Geschenk des Gatten hatte die dynamische Formel „Da ich 
nichts bekomme, brauche ich auch nichts zu geben‘‘ zerstört. 

Außer der positiven Wertung des Intestinalinhalts als Besitz fanden wir bei 
unseren Patienten auch eine anal-sadistische Einstellung, deren Unterdrückung 
zum analen Zurückhalten beitrug.^^ Der psychologische Zusammenhang 
zwischen den zwei verschiedener! Einstellungen, zwischen dem Zurückbehalten 
von etwas Wertvollem und der Hemmung des Ausscheidens wegen dessen 
aggressiver beschmutzender Bedeutung, konnte folgendermaßen rekonstruiert 
werden: Die feindselige Zurückweisung der Pflicht, etwas zu geben, führt zu 
der Einstellung: „Schön, wenn ich schon durchaus etwas geben muß, dann 
sollst du also etwas bekommen, aber nichts Besseres als Exkremente^^ Die 
ambivalente Einstellung gegen das Exkrement macht den Wechsel der Auf¬ 
fassungen möglich. Die konflikthafte Zurückweisung der anal-sadistischen 
Einstellung bildet die Grundlage der Obstipation. 

Obstipation als Zurückweisung der Pflicht, zu geben, entspricht der posi¬ 
tiven Wertung der Exkremente als Besitz, während Obstipation als Ergebnis 
gehemmter Aggression der negativen Einstellung gegen den Intestinalinhalt 
entspricht. So kann also die Obstipation ebenso wie die Diarrhöe entweder 
aus der positiven oder aus der negativen Besetzung des Defäkationsaktes re¬ 
sultieren, das heißt entweder aus der Weigerung, etwas Wertvolles abzugeben, 
oder aus der, das Exkrement zum Zweck des Angriffs zu gebrauchen. 

Ein zweiundvierzig Jahre alter Patient, der seit langem an chronischer Ob¬ 
stipation litt, hatte eine starke Hemmung des Sexualtriebs. Er bekam heftige 
Kopfschmerzen, sooft sich ihm Gelegenheit zum Verkehr mit einem sexuell 

langen begehrter Objekte erscheint hier verdrängt zugunsten der Lust am' Festhalten 
vorhandenen Besitzes.“ Psa. Studien zur Charakterbildung, S. 42, Int. Psa. Verl., Wien, 1925. 

33) Alexander, F.; The Medical Value of Psychoanalysis, New York, W. W. Nortoa 
and Co., 1923, S. 197. 

34) per in tieferen Schichten bestehende Zusammenhang zwischen Obstipation und 
Kastrationsangst ist seit Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose“ bekannt. Daß die 
Obstipation jedoch auch durch eine Hemmung anal-sadistischer Impulse hervorgerufen werden 
kann, wie es sich bei dreien unserer Patienten deutlich zeigt, ist meines Wissens nicht so 
allgemein bekannt. 




































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 215 

t 

anziehenden Mädchen bot. Die Analyse zeigte, daß in seinem Unbewußten 
der Sexualakt analer Beschmutzung gleichkam. Nachdem dieser Zusammen¬ 
hang bewußt geworden war, verschwanden die sexuellen Hemmungen und die 
Obstipation des Patienten, und er ging so spät im Leben seine erste sexuelle 
Beziehung ein. 

Eine ähnliche Einstellung gegen die Sexualität ist auch für zwei Fälle von 
chronischer Obstipation unter den Patienten Wilsons sehr charakteristisch. 
Beide Patienten haben die Neigung, stets Sexualobjekte zu wählen, auf die sie 
herabsehen; gleichzeitig äußern sie eine überkompensierte Angriffslust gegen 
Frauen. Das manifestiert sich als Impotenz und Ejaculatio praecox — sie ver¬ 
sagen sich jede Aggression gegen Frauen. Ein unmittelbarer Zusammenhang 
dieser Einstellung mit der Obstipation ist durch die Analyse noch nicht er¬ 
hellt worden. 

Somit haben wir auch unsere bisher an der dritten Gruppe gemachten Beob¬ 
achtungen dargelegt, ohne jedoch behaupten zu wollen, sie schilderten typische 
Einstellungen und Konfliktlösungen von solcher Gültigkeit, wie jene Mecha¬ 
nismen sie haben, die bei den gastrischen und den Kolitisfällen zu finden sind. 
Daß wir diese Beobachtungen überhaupt in die vorliegende Schrift mit auf¬ 
nehmen, erscheint nur insofern gerechtfertigt, als die beschriebenen Mechanis¬ 
men mit einer wohlbekannten Gefühlsreaktion in Einklang stehen, mit der 
Tatsache nämlich, daß die Tendenz, Exkremente zurückzuhalten, häufig eine 
feindselige Zurückweisung der Pflicht, zu geben, ausdrückt, die typisch ist für 
Fälle mit oraler Versagung und Hemmung der Aneignungstendenzen.®® 

Zusammenfassung und Schlußfolgerungen 

Wenn man die bei jeder einzelnen von unseren drei Gruppen (gastrischer 
Typus, Kolitistypus und Obstipationstypus) vorherrschenden Konfliktsitua¬ 
tionen und deren Lösungen miteinander vergleicht, so lassen sich die Unter¬ 
schiede durch die folgenden schematischen Formeln zum Ausdruck bringen: 

Das am stärksten hervortretende Merkmal der gastrischen Fälle (gastrische 
Neurosen und Duodenalgeschwüre) sind intensive Wünsche, etwas zu bekom¬ 
men und zu nehmen (Aufnahme- und Einverleibungstendenzen); der Patient 
kämpft gegen diese Tendenzen innerlich an, weil sie mit heftigen Konflikten 
verknüpft sind, die sich als Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle äußern und 
in der Regel dazu führen, daß die in Frage stehenden Tendenzen abgeleugnet 
werden: „Ich will nichts nehmen, nichts bekommen. Ich arbeite und bin 
tüchtig und habe keine solchen Wünsche.“ Unsere Annahme geht dahin, daß 
die Magensymptome durch verdrängte und auf gestaute rezeptive Tendenzen 
und aggressive Raubtendenzen bedingt werden, die chronische psychische 

35) Über das 2 urückhalten der Exkremente im Zusammenhang mit Eigensinn und Bosheit 
siehe Abraham, K.: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. IX, 
S. 29, 1923. 

15 » 
















2i6 


Franz Alexander 


Erreger der Magenfunktion sind. In manchen Fällen werden die Wünsche, 
etwas zu bekommen oder zu erwerben, nicht innerlich durch Konflikte ge¬ 
hemmt, sondern äußerlich durch die Lebensumstände. 

Die dynamische Formel der Kolitisfälle lautet: „Ich habe das Recht, zu 
nehmen und zu fordern, denn ich gebe immer reichlich. Trotz meines Wun¬ 
sches, etwas zu bekommen oder mir etwas zu nehmen, brauche ich weder ein 
schlechtes Gewissen zu haben, noch mich minderwertig zu fühlen, denn ich 
gebe immer etwas für das, was ich bekomme.'" Wir nehmen an, daß die 
Diarrhöe nicht nur Aggression ausdrückt, sondern auch das Geben wirklicher 
Werte ersetzt. ) 

Bei den Obstipationsfällen schließlich läßt sich der dynamische Hinter¬ 
grund des Symptoms folgendermaßen ausdrücken: „Ich nehme nichts und be¬ 
komme auch nichts, daher brauche ich auch nichts zu geben." Wir halten die 
Obstipation für eine Reaktion auf die Verpflichtung, zu geben. In tieferen 
Schichten ist das starke Gefühl der Verpflichtung, etwas zu geben, mit der 
Kastrationsangst verknüpft. 

In Anbetracht des auffallenden Parallelismus, den die dynamische Struktur 
der gastrischen Fälle zeigt, besteht wohl kaum ein Zweifel darüber, daß in¬ 
tensive Aufnahmetendenzen von passiv-rezeptiver sowohl als auch von aggres- 
siv-wegnehmender Art den Inhalt des chronischen psychischen Reizes bilden, 
der die sekretorische und motorische Dysfunktion des Magens bewirkt. Diese 
Tendenzen sind in der Regel durch innere Zurückweisung besonders stark 
geworden, weit seltener dadurch, daß der Wunsch nach Liebe, Fürsorge und 
Abhängigkeit im äußeren Leben keine Befriedigung fand. Wenn diese Im¬ 
pulse aus dem willkürlichen System ausgeschlossen sind, können sie durch die 
normalen Lebensbeziehungen der Patienten nicht genügend befriedigt werden 
und kommen infolgedessen durch vegetative Innervationen (Dysfunktion des 
Magens) zum Ausdruck. 

Unsere Forschungsarbeit vermag also zu erklären, weshalb eine Reihe von 
Ärzten den Eindruck gewonnen hat, daß sich unter den Fällen von Ulcus 
pepticum besonders häufig Menschen finden, die im Leben übermäßig aktiv 
sind, Verantwortung auf sich nehmen und sich aufs äußerste anstrengen. Un¬ 
sere Analysen zeigen, daß hier übergroße Aktivität, Tüchtigkeit und ehr¬ 
geiziges Bemühen Kompensationen sind, die starke rezeptive Tendenzen und 
Abhängigkeitswünsche verdecken; die letzteren sind so stark geworden, weil 
sie nicht einmal in normalem Ausmaß zum Ausdruck kommen können. Ein 
Circulus vitiosus ist hier am Werk. Die hohen Anforderungen, die diese Men¬ 
schen in bezug auf Tüchtigkeit, Aktivität, Produktivität und Erfolg an sich 
stellen, veranlassen sie zu übermäßig großen Anstrengungen; diese wirken auf 
die entgegengesetzte, rezeptive Seite ihres Wesens, so daß immer stärkere Über¬ 
kompensationen notwendig werden. Die gastrischen Symptome stehen in un- 




































über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


217 


naittelbarem ursächlichem Zusammenhang mit den Aufnahmetendenzen, nicht 
aber mit dem offen zutage tretenden Bild der Überanstrengung und über¬ 
großen Aktivität. 

Ebenso sicher scheint uns, daß der Inhalt des chronischen psychischen 
Reizes, der bei der Kolitis die vermehrte Peristaltik bewirkt, entweder i. ein 
narzißtischer Wunsch, zu produzieren, ist und insbesondere ein Verlangen, 
etwas wiederzuerstatten (Exkrement = Gabe), oder 2. ein anal-sadistischer 
Impuls, der das Exkrement als Angriffswaffe benutzt. Bei diesen Kranken 
werden die psychischen Impulse, etwas wieder zu erstatten, zu produzieren 
oder anzugreifen, durch das vegetative anstatt durch das willkürliche System 
zum Ausdruck gebracht. Die Defäkationsfunktion, die symbolisch Geben und 
Angreifen bedeutet, ersetzt entweder das Geben wirklicher Werte an andere 
(Wiedererstattung, Produktion) oder den Angriff auf andere. 

Es muß betont werden, daß die verschiedenen Arten der oberflächlichen 
Einstellung manchmal vermengt erscheinen, wie ja auch ein und derselbe Fall 
verschiedene organische Symptome aufweisen kann. Einer unserer gastrischen 
Patienten zeigt neben den vorherrschenden gastrischen Symptomen auch eine 
periodische Neigung zu Diarrhöe. Die Diarrhöefälle haben fast alle eine inter¬ 
mittierende oder periodische Obstipation aufzuweisen, deren psychologische 
Bedeutung wir noch nicht haben feststellen können. Vielleicht entsteht die 
Obstipation dieser Patienten nur durch physiologische Mechanismen. Das 
folgende Diagramm darf daher nur als vereinfachtes Schema gelten. Es bringt 
die offen zutage tretenden und die unbewußten psychischen Merkmale zum 
Ausdruck, die sich bei den extremsten oder besonders typischen Fällen zeigen, 
den gemischten Typen wird es aber nicht gerecht. Die dritte Spalte, in der 
Einstellungen und Mechanismen des Obstipationstypus verzeichnet sind, ist 
nur unter Vorbehalt hinzugefügt worden. Sie soll vorwiegend der Anregung 
weiterer Forschungsarbeit dienen, und wir werden sie ohne Zögern abändern, 
sobald wir zu neuen Erkenntnissen gelangen (siehe das Diagramm Seite 218). 

Unsere Arbeit führt uns zu der Schlußfolgerung, daß sich der Gastro¬ 
intestinaltrakt, entsprechend seinen drei Hauptfunktionen, des Aufnehmens, 
Behaltens und Ausscheidens, ganz besonders dazu eignet, diese drei Grund¬ 
tendenzen zum Ausdruck zu bringen, wenn ihre normale Äußerung durch das 
willkürliche motorische System oder den Sexualapparat infolge innerer Kon¬ 
flikte gehemmt ist. 

Das obere Ende des Gastrointestinaltrakts eignet sich, seiner normalen 
Funktion entsprechend, dazu, rezeptive oder aggressive Aneignungstendenzen 
auszudrücken, das untere Ende hingegen taugt für die Äußerung der Ten¬ 
denz, etwas zu geben, oder der, etwas zu behalten. Sowohl die Aufnahme¬ 
ais auch die Eliminierungstendenz kann einen mehr aufbauenden (erotischen) 
oder einen mehr zerstörenden Zug haben: 
















2i8 


Franz Alexander 


Aufnehmen 



passives Empfangen 
aggressives Nehmen 


Eliminieren 


— Geben positiver Werte (Wiedererstattung, Geburt) 

- aggressives und sadistisches Ausscheiden (Angriff, 
Beschmutzung) 



Gastrischer Typus 

Kolitistypus 

Obstipationstypus 

Typische be- 

„Ich will weder etwas 

„Ich habe das Recht, et¬ 

„Ich nehme nichts, da¬ 

wußte Ein- 

bekommen noch etwas 

was zu nehmen und zu 

her brauche ich auch 

Stellung zur 

nehmen. Ich habe keine 

fordern, weil ich selbst reich¬ 

nichts zu geben** 

Umgebung, 

derartigen Wünsche. Ich 

lich gebe. Ich brauche 


schematisch 

bin unabhängig, aktiv 

wegen meiner rezeptiven 


ausgedrückt 

und tüchtig** 

Wünsche weder Minder- 
wertigkeits- noch Schuld¬ 
gefühle zu haben, denn 
ich gebe etwas als Gegen¬ 




leistung** 

* 

Der tiefere 

Die verleugneten und 

I. Der dauernde Wunsch, 

I. Die Zurückweisung 

dynamische 

verdrängten oral-rezep¬ 

für oral-aggressive Tenden¬ 

der Pflicht zu geben. 

Hintergrund 

tiven und oral-aggressi¬ 

zen einen Ersatz zu leisten. 

bewirkt durch Furcht 

der Sym¬ 

ven Tendenzen werden 

und 

vor Verlust (Kastra¬ 

ptome 

in die ursprüngliche 


tionsangst), und 


Form konvertiert: in 

2. der Wunsch, in eliminie¬ 

2. die Hemmung anal¬ 


den Wunsch, gefüttert 

render (und nicht oral-re¬ 

sadistischer Impulse 


zu werden oder zu essen. 

zeptiver) Art und Weise 

(feindselig und auf zer¬ 


Diese Tendenzen bilden 

aktiv und aggressiv zu sein. 

störende Art und Weise 


einen chronischen psy¬ 

üben einen dauernden Reiz 

zu geben) 


chischen Reiz für den 

auf die Peristaltik aus, der 



Magen, einen Reiz, der 

von den Verdauungsfunk¬ 



von den Verdauungs¬ 

tionen unabhängig ist. 



funktionen unabhängig 

Die Diarrhöe ersetzt das 

sind die chronischen 


ist 

Geben wirklicher Werte, 

hemmenden Reize, die 



ernstliches Bemühen und 
wirkliche Aktivität sowie 

zur Obstipation führen 



auch Aggression 


Inhalt der 
psychischen 



Behalten aus 

Reize, welche 

I. Bekommen 

1. Geben (Wiedererstattung 

I. Angst vor Verlust 

die Dys¬ 


des Bekommenen oder des 


funktion ver¬ 


Genommenen) 


ursachen 

2 . Nehmen 

2. Aggressive Eliminierung 

2. Angst, Schaden afl*f 




zurichten 


Ich bin überzeugt, daß eine Analyse der Gefühlseinstellungen des Indivi¬ 
duums zu seiner Umgebung aus dem Gesichtspunkt der drei Grundtendenzen: 












































219 



über den Einfluß psychischer Faktoren auf gastrointestinale Störungen 


I. bekommen und nehmen, 2. behalten und 3. geben, nicht nur das Verständ¬ 
nis gastrointestinaler Störungen fördern, sondern auch von allgemeiner Bedeu¬ 
tung sein wird. Diese drei Gruppen der Gefühlstendenzen scheinen von grund¬ 
legender Art zu sein, und ihre Erkenntnis macht die weitere Analyse der Ge¬ 
fühlsreaktionen des Individuums gegen seine Umgebung, einschließlich der 
sexuellen Beziehungen, möglich.^® 

Es scheint mir, daß die Analyse des Inhalts der männlichen und weiblichen 
Sexualität als eines Gemisches dieser drei Grundtendenzen den vagen Aus¬ 
drücken wie „aktiv‘‘ und „passiv'S „männlich“ und „weiblich“ mehr spezifische 
Bedeutung gibt. In der prägenitalen Sexualität erscheinen diese drei 
Grundtendenzen unvermischt. In den späteren Ausgestaltungen des Sexual¬ 
lebens lassen sich aktive und passive, männliche und weibliche Strebungen als 
ein verschieden proportioniertes Gemisch jener elementareren Tendenzen be¬ 
trachten. Mir scheint, daß eine solche Analyse der Sexualorganisation zu 
einer weit präziseren Beschreibung führen wird, als wir sie heute besitzen. 

Freilich muß es künftiger Forschungsarbeit überlassen bleiben festzu¬ 
stellen, ob sich die dynamische Beziehung des Individuums zu seiner Um¬ 
gebung erschöpfend auf jene drei Gruppen von Grundtendenzen redu¬ 
zieren läßt. 

Physiologisch kann der Lebensprozeß sehr gut als eine Kette der fol¬ 
genden drei Hauptfunktionen beschrieben werden: Aufnahme von Sub¬ 
stanz und Energie aus der Umgebung, teilweises Behalten (z. B. für das 
Wachstum) und Ausscheidung — Ausscheidung der Endprodukte des 
Stoffwechsels, Ausscheidung von Substanzen zum Zweck der Fortpflanzung 
und dauernde Abgabe von thermischer und mechanischer Energie. Es wäre 
durchaus nicht überraschend, wenn sich herausstellte, daß die elementarsten 
psychischen Tendenzen des Individuums diesen drei biologischen Prozessen 
zuzuordnen sind, das heißt, daß — wie Ferenczi in seiner „Genitaltheorie“ 
annimmt — die psychische Dynamik der biologischen Lebensdynamik ent¬ 
spricht. 


36) In einer seiner frühen Schriften (1918) schlägt Ernest Jones eine Betrachtung der 
Liebesbeziehungen auf dieser Basis vor: Anal-Erotic Character.Traits, Papers on Psycho- 
Analysis, New York, Wm. Wood and Co., 1923. „Sowohl auf der psychologischen als auch 
auf der physiologischen Seite der Liebe ist der größte Teil des Liebeslebens dem Prototyp 
des Gebens und Nehmens nachgebildet.“ S. 700, 

















über Euthanasie' 

Eine klinische Studie 
Von 

Felix Deutsch 

Wien 

Die analytische Forschung hat über den Tod und die Todesangst viel Be¬ 
deutsames gefunden, seit der Todestrieb als der Antipode des Eros erkannt 
worden ist. Freud hat in seinem Aufsatz „Zeitgemäßes über Krieg und Tod‘‘, 
und in „Totem und Tabu“ ausführlich das Todesproblem behandelt. Meine 
Gedanken über Euthanasie bezwecken daher weder, den Ausführungen 
über den Anteil des Schuldgefühls an der Todesangst etwas Wesent¬ 
liches hinzuzufügen, noch auch etwa neue Beweise dafür zu erbringen, daß 
die Todesangst sich zwischen Ich und Über-Ich abspielt, oder daß sie als eine 
Verarbeitung der Kastrationsangst auf gef aßt werden kann. 

Die folgenden Ausführungen sind auch keine literarischen, keine philosophi¬ 
schen Auseinandersetzungen. Soweit die schöne Literatur herangezogen wird, 
handelt es sich nur um zufällig Angeflogenes. Von dieser Seite das Problem 
zu bearbeiten, steht meines Erachtens denen zu, die sich mit Geisteswissen¬ 
schaften befassen. 

Was hier mitgeteilt werden soll, ist zumeist am Krankenbette Todkranker 
Erlauschtes, aus dem sich mir ein psychologisches Verstehen des glücklichen 
Sterbens ergeben zu haben scheint. 

Es sind mehrere Jahre her, als sich im Spital folgender Fall ereignete: 

Eine junge Lehrerin wurde in eine wenig aussichtsvolle Behandlung genommen, 
nachdem sich im Gefolge einer Gebärmutteroperation wegen krebsiger Neubildung 
diese im ganzen Körper auszubreiten begann. Besonders das Knochensystem wurde 
in raschem Tempo von der bösartigen Krankheit betroffen. Es war kein Zweifel, 
daß die Arme sich bei dem zunehmenden Kräfteverfall ebenso der Natur ihrer Er¬ 
krankung, wie auch der Unmöglichkeit einer Heilung bewußt sein mußte. Trotzdem 
trug die Patientin eine auffallende Ruhe zur Schau, lächelte gewissermaßen überlegen, 
wenn man an ihr Bett trat, beteuerte, keine Schmerzen zu haben, obwohl dies kaum 
glaublich war, und lehnte narkotische Mittel direkt ab. Dieses Verhalten hätte man 
geradezu bewunderungswürdig nennen müssen, wenn nicht auch im Äußeren der 
Patientin allmählich eine Veränderung vor sich gegangen wäre, die im schärfsten 
Gegensatz zu der fortschreitenden Todeskrankheit stand. Sie legte in ihr Spitals¬ 
hemd, wenn auch diskret, farbige Maschen, kämmte ihr dürftiges Haar stets mit 
größter Sorgfalt und färbte ihre Lippen mit kräftigem Rouge, als ging es zu einem 
Feste und nicht dem unerbittlichen Ende entgegen. 

Erkundigungen bei ihren Bettnachbarinnen über ihr sonstiges Benehmen brachten 
keine Aufklärung. Sie zeige sich vollkommen geordnet, sei mit allen gütig und 
freundlich und für Hilfeleistungen, auf die sie, da sie keine Angehörigen hatte, an- 


i) Vortrag, gehalten in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 12. Dezember 1934 * 



























über Euthanasie 


221 


ewiesen war, stets dankbar. Der einzige Besucher, der in den Nachmittagsstunden 
mehrmals wöchentlich an ihrem Bette sitze, sei ein älterer Polizeiinspektor, der mit 
ihr leise Gespräche führe. 

Der diensthabende Arzt, der beauftragt wurde, sich mit diesem Herrn ms Einver¬ 
nehmen zu setzen, brachte in Erfahrung, daß dieser Verkehrsbeamte der Vorsitzende 
eines spiritistischen Vereines sei, dem auch die Patientin angehöre; er käme nur, weil 
die Patientin durch seine Anwesenheit sich stets beglückt fühle. 

Die Patientin machte uns nun folgendes Geständnis; Der Wachebamte ege, wenn 
er komme, seine Hände auf die ihren; sie fühle ein wohltuendes Gefühl in ihrem 
Körper, und nun rufe der Mann ihren verstorbenen einzigen Bruder 
_ er könne dies wirklich —, der dann mit ihr wie seinerzeit in der Kind- 

Wir ließen uns dieses Auge des Gesetzes kommen. Es erschien ein mehr als 
simpler, geistig recht beschränkter älterer, behäbiger Mann, der uns ^teuerte, daß 
er imstande sei, verstorbene Geister zu rufen, indem er sich in einen Trancezustand 
versetze. Wir ließen uns dies gleich demonstrieren. Er verfiel rasch in die Auto¬ 
hypnose, redete mich als Bruder an und sprach viel Unsinn. Es war nicht schwer, 
die Autohypnose durch einen anderen Geist, eine imaginäre Schwester, die man aus 
dem Äther rief, in eine echte Hypnose zu verwandeln. — Der Mann landete spater 
als Paranoia auf der Klinik. Doch dies nur nebenbei. - Wir aber störten diesen 
Richter auf Erden nicht in seiner die Todkranke so beglückenden Behandlung. Die 
Kranke starb bald darauf mit einem verklärten Gesicht. Keine Sterbensangst hatte 
die Tage vor ihrem Tod, obwohl sie ihn kommen «ah, verbittert. — In einer seligen, 
vielleicht schuldfreien, vom Gesetz — dem Polizeiinspektor — sanktionierten Be¬ 
ziehung zu ihrem Bruder blieben ihr bis zu ihrem Ende Schmerzen erspart. 

Seither sind Jahre vergangen — aber der Fall hatte einen nachhaltigen Ein¬ 
druck hinterlassen. j- • j 

War das die Euthanasie, die Kunst des glücklichen Sterbens, die jeder so 

gerne erlernen möchte? -t— W^as ist Euthanasie? ^ 

Schon bei Cicero finden wir diese Frage und von Augustus berichtet 
sein Biograph, „wenn er gehört hatte, daß irgend jemand ohne Qual ver¬ 
schieden sei, betete er, daß ihm und den Seinigen eine ähnliche Euthanasie 
beschieden sein möge“. Ein Todesbehagen! Das Wort hat später vielfach 

seine Bedeutung gewandelt. • u- u • 

Manche glauben, es heiße angesichts des gewissen Todes „in Schönheit 
sterben“. Das hieße dem Wort eine Bedeutung geben, die dem Zuschauer 
des Sterbens die Flauptrolle zuweist. Erwirbt man denn den Nachruf der 
Euthanasie, stirbt man in Schönheit, wenn man auf die Zuschauer des Sterbens 
einen erhebenden Eindruck macht? 

In einem Nachruf auf einen seinerzeit an der Pest verstorbenen Arzt, der 
sich freiwillig zum ärztlichen Dienste bei Pestkranken gemeldet hatte, hieß 
es: „Er hat schön, ja erhaben zu sterben gewußt — und das ergreift, befreit 
und erhebt zugleich.“ Wen aber? Nicht den Sterbenden — die Zurück- 
gebliebenen! 

Bei manchen, die für eine Idee starben, könnte man fast den Eindruck 
haben, als würden sie in durchsichtigem Narzißmus vor dem Tode in eine 

















222 


Felix Deutsch 


Nachwelt blicken, der sie zwar nicht mehr Idbend angehören werden, von der ; 
sie aber die Kränze des Nachruhms erwarten. 

Ein großer und gütiger Arzt unserer Zeit, Nothnagel, meinte, daß i 
Euthanasie, wörtlich übersetzt, die Kunst, das Lebensende sanft zu gestalten 
sanft sterben zu lassen, bedeute. 

Eine Aufgabe, die nicht so schwer zu erfüllen wäre, wenn das Sterben nur 
physisch qualvoll wäre. Qualvoll ist jedoch vor allem die seelische Todesangst. ' 
Damit hat uns längst die Psychoanalyse bekannt gemacht. 

Wie sollte man mit ihr fertig werden? Jeder Mensch weiß, daß er einmal ] 
sterben muß. Der Tod bedeutet damit für ihn eine reale Gefahr. Das ist wohl 
richtig; aber die Größe der Gefahr ist doch verschieden. Sollte es niclit viel¬ 
leicht darauf ankommen, mit welcher Kraft Eros und die Todestriebe auf- ^ 
einanderprallen? 

Alle Triebtendenzen haben auch ihre biologischen Quellen. Wenn die or¬ 
ganische Tätigkeit zu Ende geht, wenn die innersekretorischen Vorgänge im¬ 
mer schwächer werden, ist es klar, daß auch die Quellen der Triebe zu versie¬ 
gen beginnen. Nur wenigen ist es aber vergönnt, den Lebensablauf so zu beenden, i 
daß die Organe einfach durch ihr Altern ihre Funktion einstellen, der Zelltod ^ 
einfach durch den Aufbrauch der Kräfte und Säfte eintritt. Trifft dies aber 
ausnahmsweise zu, dann werden Lebenstriebe und Todestriebe immer 
schwächer; ihr Kampf gegeneinander klingt von selbst ab, da ihre Macht in 1 
gleicher Weise geringer wird. Die Todesangst wird überflüssig, denn die Ge- 1 
fahr von Innen gegen das Ich durch die inneren Triebansprüche, die Gefahr I 
von Außen durch Bedrohung durch Krankheit fällt weg; da keine Gefahr | 
signalisiert wird, braucht keine Angst als Schutzvorrichtung sich zu melden. 1 
Doch fast me endet das Leben so, daß die Organe an der schließlichen Er- fl 
müdung ihrer Funktion sterben, sondern fast immer sind es Krankheiten oder fl 
äußere Einflüsse, die den normalen Ausklang des Lebens jäh unterbrechen. So fl 
kann der Tod in uns nicht ausreifen und wir gebären, wie ein Dichter sagt, in fl 
uns „unseres Todes tote Fehlgeburt“. fl 

„Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer fl 

Daß es nicht unser Tod ist, einer der fl 

Uns endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen. fl 

Der große Tod, den jeder in sich hat fl 

Das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“ (Rilke) fl 

Da nun das Leben meist nicht durch normalen Ablauf endet, so ist die Bedro- fl 
hung durch die Krankheit, die zum Sterben und zum Tode führt, ein Vorgang, | 
auf den eine Mobilisierung aller Triebkräfte erfolgen muß. Wenn der Körpef fl 
bedroht ist, dann wird die Libido von den Objekten zurückgezogen und den fl 
erkrankten Organen zugewendet. Die Objektlibido wird geringer, die nar- fl 
zißtische Libido mehrt sich. Jede derartige Bedrohung wird aber auch als fl 
Aggression von außen empfunden, als Strafdrohung. Die gegen das Ich ge- fl 


































über Euthanasie 


223 


richtete Aggression führt zu einer Abwehr, die sich in einer Steigerung der 
Aggression gegen die Außenwelt äußern kann, oder aber umgekehrt in einem 
lustvoll empfundenen masochistischen Leidenserlebnis. Je mehr jedoch die 
Erkrankung als eine unabwendbare Gefahr gewertet wird, vor der es kein 
Entrinnen gibt, also auch keine Möglichkeit der Abwehr, je mehr sich das Ich 
aufgibt, desto mehr steigert sich die Todesangst, aus der dann oft die Flucht 
in die Psychose einen Ausweg darstellt. Es kann dann die Krankheit wie ein 
realer Angreifer und Verfolger empfunden werden und entweder eine Paranoia 
gintreten oder aber eine tiefe Depression bis zur Melancholie sich einstellen, 
die die Bedrohung durch die Krankheit als eine Bedrohung vom Über-Ich her 
umwertet. Dieser nunmehr von Innen drohenden Gefahr entzieht sich der 
Kranke häufig durch Selbstmord. „Wenn das Ich weder fliehen noch kämpfen 
kann, dann vollstreckt es selbst das drohende Unheil“ (Rado). 

Wir sehen also: Zwischen den wirkenden Kräften der Aggressionen, der 
Angst, dem Schuldgefühl und den Instanzen, von denen sie ausgehen, muß ein 
Ausgleich, eine Versöhnung erfolgen, damit das Sterben nicht qualvoll wird. 
Damit es darüber hinaus noch glücklich werden kann, ist mehr 
als diese Versöhnung notwendig. Vor der Versöhnung dieser Trieb¬ 
kräfte jedoch sucht jede derselben noch durch Steigerung ihrer Intensitäten 
oder durch deren Absättigung sich zu entlasten. So sehen wir besonders bei 
manchen Tuberkulösen, wie diese Aggressionsneigung gegen die Außenwelt 
mit dem Fortschreiten der Krankheit sich oft Ins Ungemessene steigern kann. 

Der Versuch der Abwehr durch Aggression vor dem Tode ist auch In der 
scherzhaften Geschichte illustriert, die von einem Mann erzählt, der von einem 
wütenden Hund gebissen wurde und, statt sich die rettende Injektion zu holen, 
ruhig sitzen bleibt, einen Bleistift herausnimmt und zu schreiben beginnt; und 
als ihn sein Freund anrief: „Was machst du denn da, jede Minute Ist doch kost¬ 
bar, was schreibst du?“, antwortete der Mann: „Ich schreibe mir die Namen 
derer auf, die ich noch vor meinem Tode beißen will.“ 

Ein Dichter hat auch dieses letzte lustvolle Erlebnis im Stetben, 
die Aggression gegen die Außenwelt, richtig erkannt. Arthur Schnitzler 
läßt in seinem Schauspiel „Die letzten Masken“ einen schwer Lungen¬ 
kranken, einen armen Journalisten, noch eine letzte Bitte aussprechen. 
Er sieht seinen Tod herannahen und bittet den Arzt, einen Freund kommen 
zu lassen, einen erfolgreichen Schriftsteller, dem er noch etwas Wichtiges sagen 
wolle; eine Bitte, die ihm der Arzt nach langem Zögern zu erfüllen verspricht. 
Sein Bettkamerad fragt Ihn, was er denn dem Manne noch zu sagen hätte. Da 
verrät er ihm, daß er ihm noch einmal sagen möchte, wie sehr er ihn verachte, 
wie er ihn hasse, daß er ihm zeigen möchte, wie wertlos und niedrig alles sei. 
Was jener geschaffen habe, und wenn er auch Erfolg gehabt habe, so sei dies 
alles nichts, denn er selbst habe mehr noch erreicht und besessen — des an- 












224 


Felix Deutsch 


deren Frau; sie habe nur ihn geliebt und sei nur darum nicht bei ihm ge¬ 
blieben, weil er arm gewesen sei. 

Da fordert ihn der andere Kranke auf, eine Art Generalprobe vor dem 
Kommen des Mannes zu machen und ihm alles zu sagen, was er dem Besucher 
sagen wolle. Der Lungenkranke willigt ein, und nun spielen sie die Szene, in 
der der Sterbende noch einmal seinem ganzen Haß freien Lauf läßt. Als dann 
der Besucher wirklich kam und eine wichtige Mitteilung erwartete, verab¬ 
schiedete ihn der Kranke mit inhaltslosen Worten. Die Aggression hatte sich 
schon erschöpft, und der Kranke stirbt versöhnt und glücklich. 

Wie unerträglich der Todesgedanke bei Menschen werden kann, die in ihrem 
Beruf gewohnt waren, ihre Aggressionen los zu werden, wenn einmal ihnen 
selbst der Tod droht, leuchtet in einer kurzen Nachricht auf, die vor einiger 
Zeit zu lesen war. Ein Sojähriger Chirurg, der zeitlebens ein sehr beschäftigter, 
erfolgreicher Operateur gewesen war, erfährt, daß er ein Darmleiden habe, an 
dem er operiert werden müsse — und begeht Selbstmord. 

Wenn sich die Aggression nicht mehr nach außen wenden kann, wenn der 
Sterbende aus Kraftlosigkeit der aktiven Muskelaktionen beraubt ist, ist es be¬ 
greiflich, daß ihn diese Unfähigkeit der Abfuhr der Angst durch die Motili¬ 
tät den gegen sich gerichteten Aggressionen wehrlos ausliefert. Wie groß muß 
diese Angst doch sein, wenn hier die Bedrohung den ganzen Körper trifft, wo 
doch schon die Verlustdrohung durch die Erkrankung eines einzigen Organs 
qualvoll empfunden wird! Denn ein Organverlust wird im Unbewußten 
häufig auch gleichzeitig als Objektverlust in der Außenwelt gewertet. 

Das zeigt recht anschaulich eine Spitalsbeobachtungj 

Eine alte, im Leben immer sehr tätige Klavierlehrerin, deren Mann gestorben war, 
und die dann imt ihrem Sohn der immer liebevoll für sie gesorgt hatte, zusammen¬ 
wohnte, erkrankte an Zuckerkrankheit und m deren Gefolge an einer Wunde am 
Bein dl? sich nicht schließen wollte. Ihr Sohn pflegte sie aufopfernd; doch da der 

ausdehnte, mußte sie das Spital aufsuchen, wo wir ihr 
schheßhch die Eröffnung machten, daß das Bein amputiert werden müsse. Nach 
einer kurz dauernden Depression, die von schweren Angstzuständen begleitet war, 
wat bei der sonst immer besonders lebensbejahenden alten Frau ein merkwürdiger 
Zustand auf. Sie behauptete, ihr Sohn liebe sie nicht mehr, kümmere sich nicht 
um sie, vernachlässige sie, halte es mit der Ärztin, und nun sei ihr das ganze Leben 
nichts mehr wert. Trotz aller Beschwichtigungsversuche und doppelten Liebes- 
ezeugungen des Sohnes erklärte sie ihm und, besonders in seiner Abwesenheit, uns, 
daß er sie nicht mehr hebe und sie verlassen habe. Als glücklicherweise durch die 
Behandlung der Wundprozeß zum Stillstand kam und der Patientin eröffnet werden 
konnte, daß die Operation nicht mehr notwendig sei, gab sie binnen kurzem ihre 
Liebesverlustideen wieder auf. Sie hatte den Verlust des Beines mit dem des Sohnes 
gleichgesetzt. 


Je plötzlicher und je umfangreicher die Bedrohung durch eine gefährlich 
empfundene Krankheit sich gestaltet, umso größer ist die Angstentwicklung. 
Darauf wurde schon seinerzeit als auf eine mögliche Erklärung des großen Angst- 

































über Euthanasie 


225 


affektes bei Angina pectoris hingewiesen. Daß hier die Bedrohung durch die 
Krankheit einer weitgehenden psychischen Bearbeitung unterliegen kann, 
konnte vor vielen Jahren an einem Kranken mit Angina pectoris gezeigt wer¬ 
den, der trotz seiner Anfälle analytisch behandelt wurde. 

Das Merkwürdige an seiner Krankheit war, daß seine schweren Schmerzanfälle in 
der Brust unter meist unverständlichen Bedingungen auftraten, bei Anlässen fehlten, 
wo sie zu erwarten waren, während sie unter Umständen auftraten, die sie eher 
hätten verhüten können. Seine analytische Behandlung wurde erst dadurch aktuell, 
daß man ihm eine Heilung schließlich nur durch eine Operation versprechen zu 
können glaubte, zu der sich aber der Patient nicht entschließen wollte. Von seinen 
Anfällen sprach er immer so: „Jetzt ist der Teufel wieder in der Brust los, jetzt hat 
er mich wieder gepackt.“ In der Analyse zeigte sich, daß dieser Teufel niemand 
anderen als die Mutter bedeutete, und wenn in der analytischen Situation die Be¬ 
ziehung zur Mutter und seine Haßeinstellunig gegen sie zur Sprache kam, dann 
wurde er von einem so schweren und bedrohlich aussehenden Anfall gepackt, daß 
die Analyse in diesem Moment unterbrochen werden mußte. Wie sehr die ambi¬ 
valente Beziehung Zur Mutter diese, nach Auffassung aller Ärzte als Todeskrankheit 
zu wertende Erkrankung beeinflußte, zeigte sich in einigen recht durchsichtigen 
Situationen. 

Wenn er z. B. zur Behandlung ins Krankenhaus ging, das in einer Straße lag, die 
„Favoritenstraße“ heißt, dann blieben die Anfälle aus. Wenn er aber in ein 
anderes Spital kam, das in einer „Pelikangasse“ genannten Straße lag, dann 
schilderte er immer den Passionsweg, auf dem er, von Schmerzen geplagt, alle paar 
Schritte stehen bleiben mußte. Der Vogel Pelikan mit dem großen Schnabel und 
die liebliche Favorita waren die Repräsentanten seiner Doppeleinstellung zur Mutter, 
die er haßvoll liebte, und deren mit Angst beantwortete Strafdrohung die psychische 
Auslösung seiner Schmerzen war. Alle Situationen, die sich in dieser Doppeleinstel¬ 
lung repräsentierten, ergaben die gleichen Reaktionen. Mit der analytischen Lösung 
dieser infantilen Mutterbeziehung hörten die Anfälle des damals fast ^ojährigen 
Mannes auf und noch heute, nach acht Jahren, lebt er ein fast schmerz- und angst¬ 
freies Leben, von dem er mir, als ein mit dem künftigen Tode Versöhnter, dankbar 
berichtet. 

Inwiefern ist dieser Fall für unser Problem des glücklichen Sterbens zu ver¬ 
werten? Man muß sich fragen: War unser Patient überhaupt ein Sterbender? 
Wenn Totsein das Ende jeder biologischen Funktion, den Zelltod dar stellt, so 
ist Sterben der Vorgang, der dem Totsein vorangeht. Man dürfte daher nicht 
von „Sterbenden“ sprechen, wenn die Verbundenheit mit dem Folgezustand, 
dem Tod, nicht eintritt. Sterben ist gewöhnlich die Bewertung eines Zustan¬ 
des, der in continuo zum Tode führt. Sinngemäß dürfte man daher auch nicht 
von der Rettung eines Sterbenden sprechen, es sei denn, daß man doch eine 
scharfe Trennung zwischen den zwei Zuständen Sterben und Tod annehmen 
sollte. 

Wir waren sprachlich gewohnt, die Todesangst und die Sterbensangst als 
einen Begriff aufzufassen. Es scheint aber notwendig, die Sterbensangst ge¬ 
sondert von der Totseinsangst zu betrachten- — Schon die alten Griechen 
haben, wie bei Lessing in seiner Abhandlung „Wie die Alten den Tod ge- 












226 


Felix Deutsch 


bildet“ zu lesen ist, den Vorgang vor dem Tode und den Tod selbst durch 
zwei Namen gesondert bezeichnet. Sie nannten die Notwendigkeit zu sterben, 
den frühzeitigen, gewaltsamen, qualvollen, ungelegenen Tod Ker. Dagegen 
verstanden sie unter Thanatos den natürlichen Tod, dem keine Ker 
vorausgeht, oder den Zustand des Totseins ohne alle Rücksicht auf die vorher¬ 
gegangene Ker. Auch die Römer machten einen Unterschied zwischen Lethum 
und Mors. Unter Lethum verstanden sie die Quelle der Sterblichkeit und 
wiesen ihm die Hölle zum eigentlichen Sitz an, unter Mors jedoch den un¬ 
mittelbaren Tod, die Äußerung der Sterblichkeit auf unserer Erde, oder den 
Tod überhaupt. Während Mors und Thanatos als ein Genius mit nach ab¬ 
wärts gekehrter erloschener Fackel dargestellt wurde, erschien die Ker als 
ein Weib mit gräulichen Zähnen und mit krummen Nägeln, 
gleich einem reißenden Tier. 

Diese Zweiteilung rückt den eben erwähnten Fall in ein interessantes Licht. 
Der Sterbensangst erzeugende Geist, der Teufel in der Brust des Kranken, die 
angstvoll gehaßte Mutter, sollte das die „Ker“ sein, personifiziert in dem 
Schrecken erregenden Weibe der alten Griechen? 

In der Analyse haben wir die infantile Angst, die von der kastrierenden 
Mutter ausgehen kann, kennen gelernt. Es ist recht merkwürdig, daß sich 
durch eine Menge von Beobachtungen Sterbender diese Quelle der Angst ver¬ 
folgen läßt. Wir kennen z. B..die Gebärangst vieler Frauen, die sich zur Todes¬ 
angst steigern kann, eine Angst, die sie oft von jeher verfolgt: „Ich muß 
beim Gebären sterben.“ 

Ein junges Mädchen, das in starker Mutterbindung und Haßliebe ihrer Mutter 
zugetan war, hatte sich mit einem jungen Arzt verlobt, der seine Heirat durch einen 
tragischen Umstand hinauszuschieben gezwungen war. Er hatte bei einer Schwan¬ 
geren einen kriminellen Abortus durchgeführt, bei dem die Patientin zugrunde ge¬ 
gangen war, und es stand ihm eine gerichtliche Verfolgung bevor. Da er einen 
schlechten Ausgang des Prozesses befürchten mußte, wollte er bis zur richterlichen 
Entscheidung die Hochzeit hinausschieben. Durch das Drängen seiner Braut in die 
Enge getrieben, gestand er ihr die wahren Beweggründe seines Zögerns. 

Der Prozeß ging jedoch gut aus, der junge Arzt heiratete und kam einige Monate 
später mit seiner Frau zur Untersuchung ihrer Lunge, da sie in anderen Umständen 
war. Im Verlaufe der Untersuchung, bei der zwar nichts an der Lunge, jedoch eine 
auffallend erregte Herztätigkeit festzustetlen war, gestand die Patientin ihre Angst 
vor der bevorstehenden Geburt, und daß sie von Todesahnungen verfolgt werde. 
Sie glaube, daß ihr dasselbe Schicksal wie der unglücklichen Patientin ihres Mannes 
bevorstehe. Ich hörte lange nichts von ihr, bis ich an ihr Krankenbett gerufen wurde. 
Sie hatte kurz vorher unter allen aseptischen Kautelen normal entbunden, und der 
ratlose Mann wie der sich der vollkommenen Asepsis bei der Leitung der Gebutt 
bewußte Gynäkologe standen vor einem Rätsel. Bei der Patientin hatte unmittelbar 
nach der Entbindung eine hochgradige Pulsbeschleunigung, ein Herzjagen und hohes 
Fieber eingesetzt. Sie befand sich in einem schweren Angstdelir, in dem ihre Todes¬ 
angst unheimlich zum Ausdruck kam. Trotz aller therapeutischen Versuche war sie 
in zwei Tagen eine Leiche. 























über Euthanasie 


227 


Man darf annehmen, daß das Motiv dieser Angst in der Bestrafungsangst 
vor der gefürchteten Mutter zu suchen ist, und daß das Ich schließlich wehr¬ 
los vor dem strafenden Über-Ich kapituliert hat. 

Bei einer anderen Patientin, der diese ungünstige Mutterbeziehung durch die Ana¬ 
lyse bewußt war, tauchten laut ihrer nachträglichen Mitteilung, als sie durch einen 
schweren Unfall dem Sterben nahe war, mit eindrucksvoller Klarheit nichts als die 
Erinnerungen an die Mutter auf. Sie war sich der nahenden Todesgefahr vollkommen 
bewußt und empfand zwischen halber Ohnmacht und zeitweiligem Erwachen eine 
mehr als friedvolle Ergebenheit im Sterben: „Jetzt, Mutter, hast du mich dort, wo 
du mich haben wolltest“, war ihr Gedanke, und in dem Dämmerzustand dieser 
Stunden fehlte ihr jedes Angstgefühl. Die Patientin wurde gerettet. Später, in ihrer 
Rekonvaleszenz, holte sie noch ein wenig die unterlassene Angst nach, die sie sich 
vorher hatte ersparen können. 

Die Angstfreiheit dieser Patientin könnte man auch in dem lustvollen maso¬ 
chistischen Erleben der Sterbensempfindung suchen, in dem Masochismus und 
Todestrieb denselben Zielen zustrebten. Aber es scheinen hier noch tiefere 
Gründe für die Ersparung der Angst Vorgelegen zu sein. 

Die reale Lebensgefahr, die hier körperlich empfunden werden konnte, war 
der Patientin jedenfalls vollkommen bewußt. Die dadurch bewirkte Realangst 
konnte aber von ihr gut bewältigt werden, aus Gründen, auf die wir noch im 
Späteren zurückkommen werden, und die sich gegen die masochistische Er¬ 
gebenheit siegreich erwiesen haben. 

Auch bei der Angsthysterie sehen wir Todesangst, Angst vor augenblick¬ 
lichem Sterben auftreten, die sich in Befürchtungen vor Herzkrankheit, vor 
dem plötzlichen Totzusammenstürzen auf offener Straße äußern kann, ohne 
daß eine organische Erkrankung besteht. 

Das Qualvolle und bis zur Verzweiflung Unerträgliche dieser neurotischen 
Angst ließ einer sonst organisch gesunden, schwer angsthysterischen Patientin, 
die gleichfalls unter dem Drucke der ungelösten Mutterbeziehung stand, den 
Ausruf entschlüpfen: „Wie schön müßte das Sterben doch sein, wenn ich die 
Krankheit in allen Gliedern spüren könnte.*' Sie wollte damit etwa sagen: „Wie 
viel Angst könnte ich mir ersparen, wenn mein Körper organisch krank wäre, 
denn dann hätte ich meine Strafe und brauchte sie für meine Aggressionen 
nicht mehr zu befürchten." 

Was konnte aber unserer früheren Patientin noch die Angstfreiheit ver¬ 
mittelt haben außer diesem Sich-vollständig-Aufgeben als Opfer der Mutter? 

Es scheint, als wenn diese im Sterben erlebte Bestrafung, die weit über die 
Schuld, für die sie vollzogen zu werden drohte, hinausging, eine captatio 
henevolenfiae gewesen wäre, die an eine andere Adresse gerichtet ge¬ 
wesen war. 

Die Erklärung liegt in folgendem: Der behandelnde Arzt, dem die Pa¬ 
tientin grenzenloses Vertrauen schenkte, und der schützend die Hand 
über der Patientin hält, war für sie die Vaterimago, an die sich ihr Leiden 















228 


Felix Deutsch 


wendet: „Schau, wie ich mehr von ihr (der Mutter) leide, als ich 
verdiene/" Über diesem masochistischen Zurschautragen des Leidens, vor 
dessen Folgen sie sich durch den Vater geschützt fühlen konnte, vergißt die 
Patientin fast, daß es real zum Tode hätte gehen können. Aber sie* wußte: 
„Der Vater schützt mich ja doch zu guter letzt und rettet mich zu sich vor 
der Mutter."" Auch diese Einstellung muß angstersparend gewirkt haben. 

Diese Zuwendung zum großen schützenden Vater als dem Belohner für er¬ 
littene Leiden und dem Verleiher aller erdenklichen Freuden nach durch¬ 
gemachten Leiden spielt ja in den Göttersagen eine große Rolle. Der Fleld, 
der Taten vollbringt und der dem Tode im Kampf leichten Herzens ins Auge 
blickt, träumt von dem großen Vater, neben dem er im Jenseits thronen wird, 
wo es nur Seligkeiten gibt. In vielen Religionen spielt diese Erlösung durch 
Leiden und die Belohnung durch den Vater eine große Rolle. 

In diesem Sinne ist die folgende Beobachtung zu werten: 

Vor kurzem wurde ich zu einem sterbenden alten Juden gerufen, der in schwerem 
Todeskampf infolge einer Angina pectoris lag. Halb bewußtlos, nach Atem ringend, 
öffnete er auf Anruf wohl die Augen, antwortete aber auf Befragen über sein Be¬ 
finden nicht, sondern bewegte seine Lippen in stillem unverständlichem Gemurmel. 
Trotz der bedrohlichen Atemnot und des kalten Schweißes, der ihn bedeckte, war 
ihm nichts von Todesangst anzumerken. Die Söhne, die sein Bett umstanden und an 
die ich -mich wendete, in der Meinung, der sterbende Vater wünsche ihnen noch 
etwas zu sagen, machten mich aufmerksam, daß er nichts wünsche, sondern Sterbe¬ 
psalmen murmle, und daß man ihn darin nicht stören dürfe. 

Ein Arzt erzählte mir von einem an einer Lungenentzündung schwer er¬ 
krankten Türken, der in seiner Sterbestunde nicht zu bewegen war, im Bette 
zu liegen. „Denn wie darf ich vor Allah liegend erscheinen!"", konnte er noch 
sagen. Er starb, mit einer Blume in der Hand am Bettrand sitzend und mit 
einem friedvollen Lächeln auf den Lippen, 

Auch die Kirche sucht durch die Verleihung der Sterbesakramente, durch 
die letzte Ölung, ihre Kinder schuldfrei zu machen, damit sie angstfrei in ein 
erträumtes Jenseits eingehen. 

Auch Sokrates starb angstfrei, als er den Schierlingsbecher nahm. Wir lesen 
bei Plato: „Denn den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als 
sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dünkel, 
etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, 
nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen 
Gütern... Im Vergleich mit den Übeln, die ich als Übel kenne, werde ich 
niemals das, wovon ich nicht weiß, ob es nicht ein Gut ist, fürchten oder 
fliehen. — Unmöglich können wir Recht haben, die wir annehmen, der Tod 
sei ein Übel. Denn eines von beiden ist das Totsein, entweder so viel als nichts 
sein, noch irgendeine Empfindung von irgend etwas haben, wenn man tot ist, 
oder es ist eine Versetzung der Seele von hinnen an einen anderen Ort. Und 
ist es wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind, was für ein 


J 































über Euthanasie 


229 


größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer 
in der Unterwelt anlangt, nun dieser sich ,so nennenden‘ Richter hier 
entledigt, dort die wahren Richter antrifft, wäre das wohl eine schlechte 
Umwandlung? Ich wenigstens will gerne oftmals sterben, wenn dies wahr ist/‘ 
So sprach Sokrates vor seinem Tode. 

Was gibt also den Religiösen, was gibt Sokrates die Ruhe des Sterbens, die 
Ruhe vor dem Tode? Sie geben die Objektbeziehungen dieser Welt 
auf und vertrösten sich auf andere, jenseitige. Die dort werden gerechte 
Richter sein! Frei von der Drohung des Über-Ichs blüht ein neues, durch das 
Leiden und die Strafe des Todes abgebüßtes, schuldloses Leben in einer anderen 
Welt. Noch bevor Kriton ihm den Becher reicht, ruft Sokrates, als Xanthippe 
mit dem Kind am Arm jammernd und wehklagend erscheint, seinen Jüngern 
zu: „Seht, was sie treibt, schafft sie hinweg!'^ 

So verbietet sich Sokrates die libidinöse Objektbeziehung, will von der Liebe 
nichts wissen, erhöht sich narzißtisch, um über seinen Richtern stehen zu 
können. Sie können ihn nicht strafen; denn den Tod, vor dem jene und alle 
sich fürchten, empfindet er gar nicht als Strafe. Er ist und hält sich für 
weiser als jene. 

Zuweilen verfallen Patienten, wenn ihnen die drohende Todesgefahr be¬ 
wußt wird, in eine Psychose mit Megalomanie. So berichtet Schilder über 
einen Patienten, der die Erkenntnis des nahenden Todes durch Entwicklung 
einer Größenidee beantwortet: 

Es war dies ein schwerer Fall von Tuberkulose, bei dem das Krankheits- und 
Sterbensbewußtsein im Vordergrund stand. Der Kranke kann sich nicht genug tun 
in der Schilderung dessen, was er in der Krankheit alles gelitten hat. Endlich erhöht 
sich der Kranke in seiner Phantasie zur Gottheit. Er selbst sei Geist, Heiland, Jesus 
Christus. Mit sich selbst errette er wiederum die Menschheit. 

So kann der Kranke versuchen, durch narzißtische Erhöhung den Einbruch 
in sein Ich zu verhüten, die drohende Vernichtung zu verleugnen, gewisser¬ 
maßen zu verneinen. 

In dem schon erwähnten Schauspiel „Die letzten Masken“, läßt der Dichter 
einen lungenkranken, hohlwangigen, mit dem letzten Atemzug kämpfenden 
armseligen Komödianten auftreten, der zwischen Husten und Atemringen die 
Glanzrollen großer Künstler rezitiert, um sich und seinen Bettkameraden zu 
beweisen, daß er es viel besser könne, als die großen Künstler mit dem Publi¬ 
kumserfolg. Nicht nur deren Rollen trägt er vor, auch deren Stimmen imi¬ 
tiert er, gleichsam um zu zeigen: Wenn er sie wäre, dann hätte er es noch 
besser gemacht als sie. So vergißt er die Welt, die Menschen um sich, ja er 
vergißt fast, trotz dem schmerzenden Husten, daß der Tod so nahe ist, und 
ist für den Rest seiner Tage glücklich. 

Sterben heißt aber ebenso die Liebesobjekte verlassen, wie von ihnen ver¬ 
lassen werden. Dieser Objekt Verlust weckt die Angst, wenn sich kein 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXIJz 16 
















230 


Felix Deutsch 


Ersatz bietet. Um ihr vorzubeugen, klammern sich manche Sterbende, aus 
der Doppelrichtung ihrer Liebesbeziehung heraus, an ihre Angehörigen und 
sind nur angstfrei und sterben auch so, wenn alle um sie versammelt sind. 

Der bekannte Kliniker Nothnagel berichtet von einem alten Freund, daß er 
seinem Arzt das bindende Wort abnahm, ihm gewiß zu eröffnen, wenn nach mensch¬ 
licher Voraussicht sein Ende eintreten würde. Er litt an einer Verkalkung der 
Kranzadern des Herzens und davon abhängigen Anfällen. Gelegentlich eines solchen 
wurde ihm von seinem ärztlichen Berater gesagt: „Jetzt wird es voraussichtlich 
ernst.“ Da berief er seine Familie und mit dieser verbrachte er weltabgeschlossen 
noch einige Tage in heiterer Seelenruhe, ausgeglichen, friedvoll das Ende erwartend. 

Eine herzkranke Patientin, die ihr nahendes Ende kommen sah, ließ ihre erwach¬ 
senen Kinder nicht einen Moment von ihrem Bette, nannte sie lieblos, wenn sie 
das Zimmer verließen oder gar eine Zeitlang wegblieben, und wurde von Angst 
und Unruhe verzehrt, wenn sie sie nicht sah. Ja schließlich verfiel sie, als sich die 
Krankheit hinzog, und ihre Angehörigen nicht mehr diesen kontinuierlichen Auf¬ 
enthalt im Krankenzimmer durchführen konnten, in eine Art Dämmerzustand, in 
dem sie sich mit allen vereint fühlte. 

Es ist nichts Unbekanntes, daß Hysterien, wenn sie die Angst nicht bewälti¬ 
gen können, in einen Dämmerzustand verfallen. 

Vor Jahren konnte ich dies in hypnotischen Experimenten zeigen, als ich eine 
sehr angstfähige Patientin eine ln der Hypnose erlebte angstvolle Situation — sie 
verliere auf der Straße im Gedränge die Mutter — durch posthypnotischen Auftrag 
wieder erinnern ließ. Als die Erinnerung in ihr aufkeimte, überfiel sie eine so 
schreckliche Angst, die in ein hysterisches Angstdelirium überzugehen drohte, daß 
eine rasch einsetzende, das Erlebnis entwertende Hypnose notwendig wurde, um einen 
Dämmerzustand zu verhüten. 

Im Sterben scheinen nicht selten solche Dämmerzustände oder zeitweilige 
Amnesien die letzte Erkenntnis zu verschleiern. So behaupten vom Ertrinken 
Gerettete, die schließlich doch noch durch künstliche Atmung wiederbelebt 
werden konnten, sich überhaupt nicht an Angst erinnern zu können, manche 
geben sogar an, angenehme Empfindungen gehabt zu haben. Auch solche, die 
in Gefahr waren, wilden Tieren zum Opfer zu fallen, aber schließlich gerettet 
wurden, erzählen nachträglich, daß sie sich in einem traumartigen Zustand 
befunden hätten, in dem sie nichts von Angst verspürt hätten. Aber 
selbst Menschen, die durch Sichherunterstürzen aus der Höhe den Frei¬ 
tod wählen wollten, wissen nichts von Schmerzen im Momente des Aufschla¬ 
gens zu berichten. Vielmehr hätten sie ein unbeschreibliches Gefühl des Wohl¬ 
behagens verspürt. Ja, manche, die aus drohender Lebensgefahr sich noch be¬ 
freien konnten, wollen Erlebnisse der Kindheit in der Erwartung des Sterbens 
auftauchen gesehen und dabei geradezu ein Glücksgefühl empfunden haben 
(Nothnagel). 

Sollte der Regressionszug in die Kindheit zu den früheren Liebesobjekten 
sie so glücklich gemacht haben? 

Hier zeigt sich uns eine neue Seite des ganzen Problems. 

Wir hatten bisher gesehen, daß der Sterbende die Versöhnung mit der 

























über Euthanasie 


231 


Ananke, der unerbittlichen Notwendigkeit des Lebensabschiedes, auf mehreren 
W'egen zu erreichen versucht: durch Absättigung der Aggression, durch eine 
letzte Erhöhung seines narzißtischen Selbstgefühls, durch Entlastung seines 
Schuldgefühls auf dem Wege masochistischer Selbstbestrafung und damit Er¬ 
sparung von Angst, durch letztes Festhalten oder durch Aufgeben der Objekt¬ 
beziehungen und durch Vertröstung auf neue, unambivalente in einer anderen 
Welt. 

Kürzliche Beobachtungen am Sterbebette Todkranker haben noch eine, wie 
es scheint, tiefere Quelle des glücklichen Sterbens aufgezeigt. 

Eine Frau in mittleren Jähren, die in kinderloser Ehe gelebt hatte, kommt vor 
kurzem im Endstadium einer schweren Herzklappenentzündung, aus der es kaum eine 
Rettung gibt, in Behandlung. Sie leidet schwer. Aber durch eine glückliche Über¬ 
tragung auf mich trägt sie die Todeskrankheit mit der unverminderten Zuversicht, 
durch mich wieder gesund zu werden. Eines Tages tritt eine neue, schwere Kom¬ 
plikation hinzu und damit die tragische Wendung ein. Mit einem Male weiß sie es: 
Sie muß sterben, auch ich werde ihr nicht helfen können. Sie verfällt in eine De¬ 
pression, gibt zu verstehen, daß sie von mir nichts wissen will, ist für niemanden zu¬ 
gänglich. Die Herztätigkeit verschlechtert sich, sie beginnt zu erbrechen, verweigert 
die Nahrung, klagt nicht, wendet sich aber von allen ab, schließt die Augen, wenn 
man an ihr Bett herantritt. Sie wird verschlossen negativistisch. 

Diese Wendung gegen das eigene Ich, wenn das unausweichliche 
Schicksal erkannt wird, in eine wirkliche Melancholie, hat schon Schilder 
durch klinische Beobachtungen belegt. Er berichtet von einer Patientin 
mit Mastdarmkrebs und zwei Patientinnen mit Brustkrebs, die nach der Mitteilung 
über die Art ihrer Erkrankung in eine schwere Melancholie verfielen. Eine krebs- 
kranke Patientin weiß davon, daß sie sterben muß; sie nimmt diese Erkenntnis nicht 
ruhig hin. Sie entwickelt einen Abwehrmechanismus gegen diese Erkenntnis, indem 
sie ihre Krankheit auf eine Verfolgung bezieht, welche von außen kommt, eine Ver¬ 
folgung, gegen welche sie sich zuerst durch heftige Aggressionen wehrt, um dann 
in eine Melancholie zu verfallen. 

Bei unserer herzkranken Patientin nun verschlechtert sich der organische Zustand 
zusehends. Die Unfähigkeit, Nahrung aufzunehmen, erscheint als die natürliche 
Folge der Stauung in den inneren Organen. Da, eines Morgens, empfängt uns die 
Patientin heiter und lächelnd, wie wenn nun die Trauerarbeit beendet wäre. Auf 
Befragen über ihr Befinden erklärt sie, es gehe ihr ganz gut. Sie verlangt ihre Lieb¬ 
lingsspeisen zu essen und verzehrt sie mit Appetit, ohne zu erbrechen. Und nun 
übersteigert sich dieses Umschlagen in heitere Seligkeit. Sie wird ganz oral. Nur 
das Essen interessiert s>ie. Aber sie wird auch liebeshungrig, kann nicht erwarten, 
daß ihr Mann kommt (während das Interesse für die anderen Personen zusehends 
abnimmt), verlangt von ihm Zärtlichkeiten, will von ihm geküßt werden und beißt 
ihn, wenn er es tut, in die Nase. Bei alledem ist die Patientin zeitlich und räumlich 
geordnet und, wenn auch überlegen, krankheitseinsichtig. Nur eine kleine, aber 
bedeutsame Namens Verwechslung, die sie an ihrem Manne vornimmt, erhellt blitz¬ 
artig den tieferen Sinn ihres glücklichen Sterbens, Sie hält daran fest, wie ihrem 
Manne ahnungslos auffällt, daß er nicht, wie richtig, „Victor“, sondern „Hermann“ 
heiße, und ruft ihn auch stets mit diesem Namen an. Wer war nun „Hermann“? 
Es war, wie sich herausstellte, ihr verstorbener Bruder, an dem sie in abgöttischer 
Liebe gehangen war, und nach dessen Tode sie sich erst zur Ehe entschlossen hatte. 








Felix Deutsch 


1 


232 


Auf dem Regressionsweg der Libido sinkt die Kranke also immer 
mehr zur oralen Stufe. Bei dem Aufgeben ihrer Objektbeziehungen 
wird sie nun nicht abgeklärt ergeben in ihr Schicksal wie die Religiösen in 
ihrer Zuwendung zu den künftigen Liebesobjekten in einem Jenseits, sie wird 
nach kurzer Depression ekstatisch glücklich in dem Diesseitigsten ihres Lebens, 
in der Wiederfindung und der glücklichen Wiedervereinigung mit dem in¬ 
fantilen inzestuösen Liebesobjekt. Bald darauf stirbt sie nach kurzer Agonie 
einen leichten Tod. 

Seither haben wir dem Sterben vieler Menschen zugesehen. Die meisten 
starben in Auflehnung oder verbittert oder bis zur letzten Minute auf die Er¬ 
rettung hoffend, meist nicht in voller Kenntnis ihres Leidens, „einen kleinen 
Tod‘^ 

Vor kurzem standen wir im Spital am Totenbette zweier alter Männer, denen 
ebenfalls ein restlos glückliches Sterben vergönnt gewesen ist, das uns einerseits \ 
durch die Gleichartigkeit, wie durch die Einfachheit seiner Motivierung in Er¬ 
staunen versetzte, anderseits uns die durch den früheren Fall erlaubte Annahme 
über den psychologischen Vorgang bei der Euthanasie bestätigte. Diese Be¬ 
obachtungen wären uns sicherlich entgangen, wäre nicht unser Blick durch die 
frühere Erfahrung geschärft gewesen. 

Der eine dieser Patienten war ein früherer Beamter, ein witziger Alter, der mit 
ebensoviel Jammern wie logischer Beweisführung und Beredsamkeit uns klar zu 
machen bestrebt war, daß er ein verlorener Fall sei. Es ging ihm wirklich ganz 
miserabel. Viele, trotz Operation im Körper sich ausbreitende Metastasen eines Kar¬ 
zinoms der Vorsteherdrüse hatten zu einer schweren Anämie mit zunehmendem 
Kräfteverifall geführt, so daß es uns von Tag zu Tag rätselhafter wurde, welche 
Kräfte den Armen noch am Leben hielten. Der Bestand der roten Blutkörperchen 
war bereits auf ein Fünftel gesunken. Ganz im Gegensatz dazu veränderte sich sein 
Wesen. Je schlechter es ihm von Woche zu Woche organisch ging, um so geringer 
wurden seine Klagen, ja, ischließlich mußte man ihn geradezu auffordern, seine Be¬ 
schwerden mitzuteilen. So warteten wir auf seinen Tod und freuten uns täglich 
um so mehr, wenn er uns am nächsten Morgen mit seinem klugen Lächeln empKng 
und sich nach unserem Befinden erkundigte. So schien er mit oft fast strahlender 
Heiterkeit, die nur selten durch doch zu heftig mahnende Schmerzen getrübt wurde, 
dem Tod entgegen zu gehen. 

Wir suchten, durch die Erfahrung belehrt, dieser Euphorie auf den Grun/d zu , 
gehen. Obwohl er ein gebrechlicher Greis war, hatte er erst vor etwa 6 oder 8 Jahren j 
zum zweitenmal geheiratet, eine schüchterne, reizlose etwa 40jährige Frau, der die 
Aussichtslosigkeit seines Zustandes wohl bekannt war, und die sich ängstlich nach j 

der voraussichtlichen Dauer seiner Krankheit erkundigte. Er äußerte sich auf unser | 

Befragen besonders lobend über sie, rühmte ihre Fürsorge und Zärtlichkeit. Wir ^ 
fragten ihn nach ihrem Vornamen. Er sagte; „Fanny.“ Es stimmte nicht. Wir 
ließen die Frau kommen. Sie hieß anders, bestätigte uns, daß er sie in der letzten 
Zeit wohl mit „Fanny“ angeredet habe; sie hätte es aber nur für ein Versprechen 
gehalten und nicht weiter darauf geachtet. Wir ließen nicht locker und brachten 
schließlich heraus, daß dies der Name seiner jüngeren Schwester gewesen war, die, 
ebenso wie deren Mann, seit Jahren gestorben war. Er hatte auch eine ältere 

































über Euthanasie 


233 


Schwester gehabt namens „Katharina“. Als man ihn nach dem Namen seiner ersten 
Frau fragte, saigte er wirklich „Katharina“. Aber es war ebenso falsch. Wir forschten 
ihn vorsichtig über die jüngere Schwester aus, nnd er sprach von ihr in den höchsten 
Tönen, von dem Manne aber recht geringschätzig, und sagte, daß er mit ihm zeit¬ 
lebens auf schlechtem Fuß gestanden sei. Trotz unseres Vorhaltes war er nicht oder 
nur für Augenblicke bereit zuzugeben, daß seine Frau doch nicht „Fanny“ hieß, 
während er den Irrtum bei der Nennung seiner ersten Frau rascher einsah und korri- 
— Aber sein Ende zog sich doch länger hinaus, so daß er aus äußeren Grün¬ 
den an eine andere Anstalt abgegeben wurde, wo er, wie wir in Erfahrung brachten, 
bald glücklich und ohne Kampf eines Tages für immer einschlief. 

Es war naheliegend, daß wir in einem anderen, durch Zufall bis ins Detail 
ähnlichen Fall, gleich zu Beginn die Nachforschungen in der gleichen Weise 
anstellten. 

In Kürze dargestellt, handelt es sich wieder um einen älteren Mann, der schon 
öfters das Spital wegen Lungenblähung und Herzmuskelentartung aufgesucht hatte 
und immer wieder gebessert werden konnte. Diesmal schien ihn das Schicksal er¬ 
eilt zu haben. Sein Zustand verschlechterte sich so, daß eines Tages, da der Fall 
hoffnungslos schien, mit jeder Therapie ausgesetzt wurde. Auch der Kranke hielt 
sichtlich seinen Tod für besiegelt. Er lag die nächsten Tage teilnahmslos, den 
Rücken uns zugekehrt, nahm keine Nahrung, ließ Harn unter sich und schien, wie 
die Pflegeschwestern meinten, verwirrt zu sein. Ein aufgegebener Fall, erfuhr er nur 
die notwendigste ärztliche Beachtung. Aber er starb nicht, sondern wurde mit 
einem Male zusehends weltzugekehrter und heiterer. Seine Nahrungsaufnahme 
besserte sich ebenso schnell und unerwartet. Und so waren wir in der Lage, mit 
photographischer Treue an seinem Bette denselben Tatbestand wie bei dem anderen 
Patienten zu erheben. Auch er war zum zweitenmal mit einer um vieles jüngeren 
Frau verheiratet, die sich nur in diesem Fall recht wenig um ihren Mann kümmerte. 
Auch hier die Verwechslung der Namen, indem er der zweiten Frau den Namen 
der jüngeren Schwester gab. Ebenfalls die selige Verklärtheit, wenn er von ihr — 
der Frau, der Schwester — sprach. Auf den Vorhalt des Irrtums wurde er un¬ 
sicher, korrigierte ihn kurzdauernd, wurde aber, wenn auch nur vorübergehend 
depressiv. In diesem Fall besserte sich der organische Zustand so weitgehend, daß 
der Patient in häusliche Pflege genommen werden konnte. Wir erfuhren, daß er 
bald darauf, nachdem er die Tage ebenso glücklich und ohne Klage verbracht hatte, 
eines Morgens tot im Bett angetroffen wurde. 

Man darf annehmen, daß in allen drei Fällen wie auch in dem in der Ein¬ 
leitung erwähnten ersten Fall die Wiederbelebung der infantilen Schwester¬ 
beziehung am aktuellen Objekt mit zur Euphorie, zur Angstfreiheit und auch 
zur Lebensverlängerung beigetragen hat. Fragt man nach den Voraussetzun¬ 
gen, die die Euthanasie ermöglichen, so kann man sagen, daß sie eintritt, 
wenn alle Aggressionen schweigen, wenn die Todesangst ver¬ 
flogen und von Schuldgefühl nicht mehr die Rede ist. Wodurch 
wird dieses Glück im Sterben möglich? Dadurch, daß auf dem Regressions¬ 
weg der Libido zu den infantilen Liebesobjekten, an die man in der frühen 
Kindheit anscheinend mit den größten Schuldgefühlen gebunden war, schuld¬ 
frei zurückgefunden werden kann. Nur wenige werden so weit gelangen. Daß 
bei einer so tiefen Regression auch die Formen der Lustbefriedigung bis zur 















234 


Felix Deutseh: Über Euthanasie 


oralen Stufe sinken, ist nur selbstverständlich. Vor der Schuldfreiheit muß 
aber die Schuld durch die erlebte Erkenntnis des Todes mit allen psychischen 
Folgen abgezahlt und gebüßt werden. 

Dies hat mit dichterischer Sehergabe Rilke in folgende Verse gebracht: 

„O Herr, gib’ jedem seinen eignen Tod, 
das Sterben, das aus jenem Leben geht, 
darin er Liebe hatte, Sinn und Not; 
mach*, daß er seine Kindheit wieder weiß; 
das Unbewußte und das Wunderbare 
und seiner ahnungisvollen Anfangsjahre 
unendlich dunkelreichen Sagenkreis/* 





































Das Problem der Zwangsneurose' 

Eine e n t w i c k 1 u n g s g e s c h i c h 1 1 i c h e Studie 

von 

Edward Glover 

London 

Der Fortschritt im Verständnis der Zwangsneurosen wurde beträchtlich be¬ 
hindert durch die natürliche Neigung des Klinikers, seine Bemühungen auf 
die charakteristischen klinischen Züge der Krankheit zu konzentrieren. Auf 
diese Weise beschränkte er jedoch den Spielraum seiner ätiologischen Unter¬ 
suchungen. Das Studium der verschiedenen Übergangs- und Mischtypen zeigt, 
daß die wirkliche Bedeutung der Zwangserscheinungen nicht richtig gewürdigt 
werden kann, ehe nicht die Beziehungen dieser Erkrankung einerseits zur 
Hysterie, anderseits zu den Psychosen festgestellt sind. Jene Geneigtheit, die 
Zwangsneurosen als isoliertes klinisches Gebiet zu behandeln, wurde durch 
die Besonderheit und Kompliziertheit des Symptombildes noch begünstigt. 
Freud hat selbst auf diese Kompliziertheit hingewiesen und bedauert, daß 
die Symptomabweichungen nicht gesammelt worden sind. Tatsächlich ist der 
Grad der Verzweigung einer Neurose an sich schon bedeutsam. Je weitläufi¬ 
ger sich ein Symptombau ausbreitet und die Ich-Struktur durchdringt, desto 
wahrscheinlicher entspricht er einer Phase der Ich-Entwicklung. Die Kom¬ 
pliziertheit der Zwangsneurose ist, mit anderen Worten, abhängig von dem 
Umfang, der Stärke und der Elastizität ihrer Abwehrfunktionen. Die Zwangs¬ 
neurose ist ja bekanntlich die elastischeste aller Neurosen. Und es ist gut, daß 
es so ist, hat sie doch eine wichtige und schwierige Aufgabe zu erfüllen, die 
darin besteht, eine regressive Flucht vor den durch die fortschreitende Ent¬ 
wicklung hervorgerufenen Angstzuständen zu ermöglichen und zugleich 
dieser Regression entgegenzuwirken. Das ist natürlich nicht die erste oder 
einzige Richtung der Abwehr. Wir haben einige Ursache anzunehmen, daß im 
Falle des Erwachsenen ein Puffer von Verdrängungs- und Konversionsmecha¬ 
nismen die Angstzustände, die durch den Ansturm der Sexualität und die 
Lebensbedingungen des Erwachsenen jäh ausgelöst werden, bis zu einem ge¬ 
wissen Grad noch unmittelbarer unwirksam macht. Die klinische Unter¬ 
suchung zeigt jedoch, wie häufig hinter der Struktur der Angsthysterie 
zwangsneurotische Schichten zum Vorschein kommen. Wenn die hysterische 
Abwehr nicht imstande ist, die Regression zum Stillstand zu bringen, so ist 
es diese Zwangsschicht, die bereit ist, die vermehrte Last auf sich zu nehmen. 

Was für das beim Erwachsenen beobachtete Zwangssymptom gilt, das gilt 
um so mehr für die Phase des „Zwangsprimates‘‘, die i ch etwa zwischen den 

i) Vortrag, gehalten auf dem XIIL Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern 
am 30. August 1934; hier um einiges erweitert. Aus dem Englischen übersetzt von August 
Ber anek. 









236 


Edward Glover 


Altersstufen von achtzehn Monaten und drei bis dreieinhalb Jahren ansetzen 
möchte. Wenn die Zwangsneurose dazu dient, die Tatsache zu verschleiern, 
daß es in den Triebkonflikten für den Patienten ohne ihre Hilfe gegen das Ab¬ 
gleiten in die Psychosen kein Halten gäbe, so dient die Zwangsphase der 
Kindheit dazu, die Tatsache zu verschleiern, daß ohne ihre Wirkungen für 
ein Kind niemals ein Fortschreiten über die „normale Allgemeinpsychose“ des 
ersten Lebensjahres hinaus möglich wäre. 

Bevor ich darangehe, diese These über die Entwicklungs- und Abwehrfunk¬ 
tionen der Zwangsmechanismen näher auszuführen, ist es notwendig, daß ich 
einige allgemeinere Erwägungen vorausschicke, die sich auf die Natur der 
Symptome und die Methoden, mittels welcher diese am vorteilhaftesten unter¬ 
sucht werden können, beziehen. Die analytische Forschung ist noch immer 
stark beeinflußt durch die Tatsache, daß die ersten Untersuchungen die Exi¬ 
stenz einer Ödipuskernsituation erschlossen haben. Diese, wie es damals schien, 
für drei- bis fünfjährige Kinder charakteristische Erscheinung wurde als allen 
psychopathologischen Zuständen gemeinsam erkannt, und seither war es stets 
die Gepflogenheit der Analytiker, ihr ätiologisches System rings um diesen 
Kern anzuordnen. Die Entwicklungsfaktoren betrachtete man ursprünglich 
ausschließlich im Rahmen der libidinösen Entwicklungsphasen, wobei der Ein¬ 
fluß konstitutioneller Anlagen natürlich einbezogen wurde. Unter diesen 
Voraussetzungen gingen die Psychoanalytiker nun daran, versuchsweise ätiolo¬ 
gische Systeme zu errichten. Und für einige Zeit ging alles gut. Diese oder 
jene Neurose bildete sich natürlich um den Kernkomplex, verdankte aber ihre 
besonderen Züge bestimmten Fixierungsstufen. Diese Fixierungsstufen waren 
durch eine regelmäßige Reihenfolge der Triebprimate in Verbindung mit spe¬ 
ziellen Triebkonflikten, wie sie beim Kleinkind mit dem Durchschreiten dieser 
Primate auftauchen, bestimmt. So verdankte etwa die durch den üblichen 
Anlaß der Kastrationsangst ausgelöste Zwangsneurose ihre typischen klinischen 
Züge teils konstitutionellen Faktoren, teils vorzeitiger Ich-Entwicklung, dem 
besonderen Erlebnis der anal-sadistischen Ambivalenz, der Triebentmischung 
bei Versagung und einer bestimmten Form der Regression. Aber in dem Maße, 
als die Forschungen vertieft wurden, drohte dieses ätiologische System un¬ 
fruchtbar und nichtssagend zu werden. So konnten beispielsweise die gleichen 
Faktoren bei Rauschgiftsüchten und Perversionen beobachtet werden, und vor¬ 
zeitige Ich-Entwicklung, Entmischung und Regression sind jedenfalls eher 
generelle als spezifische Einflüsse. Das Studium der Psychosen ließ zunächst in¬ 
sofern eine genauere Ätiologie erwarten, als es weitgehende Differenzen der 
Entwicklung während des frühesten Säuglingsalters erschloß, die möglicher-^ 
weise für die klinischen Abweichungen verantwortlich zu machen waren. Aber 
die vergleichende Erforschung der normalen und pathologischen Charakter¬ 
entwicklung zeigte, daß es im Prinzip jedenfalls recht wenig war, was der 
Psychotiker den Normalen an Abnormalität lehren konnte. 































Das Problem der Zwangsneurose 


237 


So kam es, daß jeder Analytiker — wie die klinischen Ausdrucksformen des 
Falles jeweils auch aussehen mochten — den gleichen Phantasieinhalt, die 
gleichen typischen Mechanismen, die gleichen versteckten psychopathologi- 
schen Strukturen auf zeigen konnte. Auf diese Weise verloren die älteren 
Ätiologien sowohl an Lebendigkeit wie an Interesse. Wie sehr die Symptom¬ 
bildungen auch ineinandergreifen mögen, wie viele Übergangsformen von 
Neurosen und Psychosen es auch geben mag, es bleibt Tatsache, daß charak¬ 
teristische Unterschiede in Krankheitsform und Prognose bestehen. Und diese 
spezifischen Formen zeigen eine Hartnäckigkeit der Behandlung gegenüber, 
welche auf einen gewissen Grad von Beständigkeit der zugrunde liegenden 
Determinanten schließen läßt. Eine befriedigende Ätiologie muß diese 
Stabilität erklären können. Die konstitutionellen Faktoren werden im 
allgemeinen als verschieden angenommen, und wenn auch eine Anzahl von 
Umwelteinflüssen zweifellos aller infantilen Entwicklung gemeinsam ist, so ist 
doch eine offenbar größere Anzahl weitgehenden Abweichungen unterworfen. 
Charakteristische klinische Erscheinungen können aber wohl schwerlich auf 
zufällige Kombinationen vereinzelter und höchst individueller Faktoren zurück¬ 
geführt werden. Anderseits neigen die Psychoanalytiker dazu, sich allzu leicht 
mit der Feststellung auffälliger Umwelteinflüsse zu begnügen. Die Fixierungs¬ 
erlebnisse, die man anfangs als spezifisch betrachtet hatte, haben in den letzten 
Jahren viel von dieser ihnen zugeschriebenen Eigenschaft verloren, und einige 
von ihnen — z. B. die Beobachtung des elterlichen Koitus — können nicht 
länger als universelle Vorkommnisse angesehen werden. Auch bei vollständi¬ 
gem Fehlen solcher Erlebnisse konnten typische Neurosen nachgewiesen wer¬ 
den. Man ist daher versucht, nach spezifischen Faktoren in zwei Richtungen 
Ausschau zu halten: a) nach mehr oder weniger beständigen Kombinatio¬ 
nen endopsychischer Faktoren und b) nach Umwelteinflüssen, die, wenn 
überhaupt, so ausschließlich für die besondere Neurosenform des gegebe¬ 
nen Falles charakteristisch sind. 

* 

Es ist somit klar, daß umfassendere Untersuchungen analytischer Tatsachen 
notwendig sind, um die Bedeutung der Symptombildungen festzustellen. Die 
Suche nach isolierten Faktoren ist in Anbetracht der Ergebnisse nicht länger 
gerechtfertigt. Selbstverständlich werden die Untersuchungsmethoden, die 
hierbei zur Anwendung kommen können, einander sicherlich zum großen Teil 
überdecken. Aber wir können im großen und ganzen nicht weit fehlgehen, 
wenn wir eine der folgenden Methoden an wenden: 

I. wenn wir aufzuklären versuchen, welche spezifischen Affekt formen 
oder -kombinationen durch die Symptome abgewehrt werden. Darin liegt eine 
quantitative und qualitative Wertung der betreffenden Triebe beschlossen. Wir 
müssen, nebenbei bemerkt, nicht allein die Frage der spezifischen Trieb- 










Edward Glover 


238 


mischung und -entmischung, sondern auch die der spezifischen Affektmischung 
und -entmischung in Betracht ziehen; 

2. wenn wir aufzuklären versuchen, welche besonderen Mechanismen 
oder Kombinationen von Mechanismen in einzelnen Symptombildungen zur 
Anwendung gelangen; 

3. wenn wir aufzuklären versuchen, welche Entwicklungsphasen im 
Symptombau widergespiegelt oder verzerrt sind. Diese letzte Methode ist 
die bei weitem umfassendste und beinhaltet bis zu einem gewissen Grade die 
Probleme der charakteristischen Affekte und Mechanismen, hat aber einen 
ganz besonders innigen Zusammenhang mit der psychischen Struktur, Glie¬ 
derung und Schichtung. 

* 

Es mag sogleich hinzugefügt werden, daß mittels all dieser Methoden die 
Zwangsneurosen der Untersuchung leicht zugänglich sind. Besonders zutref¬ 
fend ist dies für das Studium der Mechanismen. Es ist ja interessant zu über¬ 
legen, daß Freuds frühe Entdeckungen in bezug auf die Bedeutung der Ver¬ 
schiebung hauptsächlich durch die Beobachtung zwangsneurotischer Fälle 
angeregt wurden. Das ist nur natürlich, weil infolge der Eigentümlichkeiten 
des Verdrängungsvorganges in dieser Neurose viel mehr Oberflächenerzeugnisse 
untersucht werden müssen als etwa im Fall der Angsthysterie. Vielleicht ist 
es schade, daß diese ursprüngliche Richtung der Untersuchung in späterer Zeit 
nicht nachdrücklicher verfolgt wurde. Beim Studium der klinischen Züge der 
verschiedenen Zwangserscheinungen läßt sich zum Zwecke der Untersuchung 
leicht eine Unterscheidung zwischen gedanklichen, sprachlichen und 
verhaltensmäßigen Endprodukten treffen. Diese Produkte lassen sich 
dann weiter recht ausführlich unterteilen in Übereinstimmung mit der Größe 
der psychischen Distanz, die zwischen den Triebabkömmlingen und deren 
möglichem Ausdruck in der Ausführung liegt. Genau genommen sollen hier 
zweierlei Beobachtungsreihen dargestellt werden: solche, die lediglich beim 
Studium der echten Zwangsneurosen im klinischen Sinne gemacht wurden, und 
solche, die sich beim Studium geringfügigerer Zwangserscheinungen im Gefolge 
anderer Neurosen oder bei anscheinend Normalen ergeben haben. Der Inhalt 
der Zwangs ge danken läßt sich nun in groben Zügen nach der folgenden auf¬ 
steigenden Reihe anordnen: aggressive Vorstellungen — sexuelle Vorstellungen 

Vorstellungen von Dingen, die für den Patienten sozial bedeutungsvoll sind 

Vorstellungen, die Sachverhalte sozial belangloser Natur betreffen — und 
mehr oder weniger sinnlose Vorstellungen. Das heißt, wie sehr sich auch in 
einer offenbar sinnlosen Zwangsidee der Trieb durch die Prozesse der Symboli-^ 
sierung, Verdichtung und Entstellung hindurch indirekt äußern mag, praktisch 
bleibt es Tatsache, daß der direkte Ausdruck verschwindend gering ist. Die 
Zwangserscheinung ist ein stark verschobener Abkömmling. In den Zwangs¬ 
zeremoniellen, bzw. -handlungen läßt sich eine ähnliche Anordnung 



























239 


Das Problem der Zwangsneurose 

nachweisen. Sinnlose oder triviale Zwänge sind sehr häufig, während sozial 
einordenbare Zeremonielle als Ausdruck sexueller oder aggressiver Zwangs¬ 
handlungen sehr selten sind. Ein Vergleich dieser beiden Typen macht es 
klar, daß die Zwangsgedanken viel mehr direkten Triebausdruck gestatten als 
die Zwangshandlungen. Die sprachlichen Zwänge sind nicht so leicht zu 
klassifizieren; dennoch sind auch sie einer weiteren Unterteilung nach den 
angedeuteten Richtlinien fähig. Nur scheinen hier obszöne und aggressive 
Äußerungen einen größeren Raum einzunehmen, als dies bei den beiden 
anderen beschriebenen Typen der Fall ist. 

Wenn wir zu den Hauptgruppen zurückkehren, so ist zu bemerken, daß 
jede von ihnen eine positive und eine negative Phase aufweist. Die Zwangs¬ 
gedanken gehen Hand in Hand oder wechseln ab mit Phasen von Zweifel und 
Grübelei. Zwangshandlungen sind mit fluktuierenden Phasen von Abulie 
(Unentschlossenheit) verbunden, während die sprachlichen Zwangserscheinun¬ 
gen häufig mit Schwierigkeiten im sprachlichen Ausdruck einhergehen. 

Es ist leicht zu sehen, daß diese komplizierten Verschiebungs- und Ersatz¬ 
vorgänge den Zwecken der Triebabwehr dienen, ganz besonders, wenn sie im 
Verein mit den Hemmungserscheinungen von Zweifel, Grübelei und Abulie 
auftreten. Sie erklären aber nur sehr unbefriedigend gewisse, bei manchen 
Zwangszuständen festgestellte Affektstörungen, welche im allgemeinen drei 
Typen angehören, nämlich: Schuldgefühisreaktionen, verbunden mit „verbote¬ 
nen“ Gedanken und Handlungen; Angst- oder Schreckreaktionen infolge der 
Nichteinhaltung von Sühne- oder Schutzzeremoniellen; und schließlich ein ge¬ 
wisser Grad von Gefühlsverarmung, durch den manchmal der Eindruck er¬ 
weckt wird, daß das Ziel des Zeremoniells die Affektbeherrschung sei. Dies ist 
aber nur dann richtig, wenn wir sagen, daß das Ziel der Zwangsneurose über¬ 
haupt darin besteht, das Auf tauchen unlustvoller Affekte zu bewältigen oder 
zu verhindern. 

Tatsächlich hat die auffällige Natur der gedanklichen und rituellen 
Zwänge unsere Aufmerksamkeit vom Kernproblem des Affektes abgelenkt. 
Einige klinische Beobachtungen der letzten Zeit haben mich zu dem Schluß 
geführt, daß die Erscheinungen, die wir gewöhnlich klinisch als Zwangs¬ 
neurosen bezeichnen, mit ihren bis ins Detail gehenden Zeremoniellen in 
Denken, Sprechen und Handeln in Wirklichkeit im neurotischen Sinne sehr 
überspitzte Endprodukte sind. Der primäre Zwangszustand ist wesentlich ein 
Affektzustand oder, besser, eine Folge alternierender Affekte mit sehr ein¬ 
fachem unbewußtem Vorstellungsinhalt. Der Grund dafür, daß solche Fälle 
nicht häufiger beobachtet und berichtet werden, ist der, daß im Bevmßtsein viel¬ 
leicht überhaupt kein Vorstellungsinhalt irgend eines Zwangstypus vorkommt 
und rituelle Handlungen als soziale Symbolismen verkleidet sind, wie etwa das 
wechselnde Wohnen in der Stadt und auf dem Land. Da es kein in die Augen 
springendes Erkennungsmerkmal für eine Zwangsreaktion gibt, neigt man 











240 


Edward Glover 


dazu, solche Patienten als einem psychotischen Typus zugehörig anzusehen, 
und zählt sie im allgemeinen zu den leichten Fällen von Depression. In 
den von mir beobachteten Fällen bestand die Affektfolge in einem Wechsel 
von gedrückter und gehobener Stimmung oder bot, um es anders auszu¬ 
drücken, das schnell wechselnde Erlebnis „guter“ und „schlechter" Affekt¬ 
zustände, wie sie sich im täglichen Leben ja häufig genug ergeben. Auf eine 
gute Gemütsverfassung muß eine schlechte folgen. Manchmal kommt es zu 
einer vorübergehenden Besserung — entsprechend einem Gefühl des Normal¬ 
seins; aber dieser, wenn auch sehr erstreibte, Zustand wird doch nur selten 
erreicht, und ein gewisser Grad von Gleichgültigkeit und Depression, 
der m schweren Fällen zu verschieden starken Depersonalisationen führt, 
ist das weit häufigere Ergebnis. Wo Zwangsaffekte sich im Bewußtsein 
rnit gedanklichen oder rituellen Zwangserscheinungen vereinigen, läßt 
sich allgemein beobachten, daß das Zwangselement vom Patienten zu aller¬ 
erst in einem guten Gefühlszustand gedacht oder ausgeführt werden muß 
und unmittelbar nachher in einem schlechten Gefühlszustand wiederholt wird. 
Das Auftreten einiger von diesen Symptomen kann man selbstverständlich 
überall bei den herkömmlichsten Zwangsneurosen nachweisen, so etwa, daß 
eine gute Gemütsverfassung als gefährlich angesehen, oder daß der Genuß an 
einer Zwanpidee als Schuld empfunden wird und durch eine Wiederholung 
dieser Idee im Zustand der Reue gesühnt werden muß. In all diesen Zwangs¬ 
affekten liegt eine Tendenz, durch Umkehrungen oder Überlagerungen Kom¬ 
plikationen herbeizuführen. So können zum Beispiel statt eines plötzlichen 
Umschwunges von „Es ist böse, sich gut zu fühlen“ in „Es ist gut, sich 
schlecht zu fühlen“ Reihen folgender Art Vorkommen: „Es ist böse, sich gut 
zu fühlen“ wird ersetzt durch „Es ist gut, sich gut zu fühlen“; dieses augen¬ 
scheinlich natürliche Gefühl wird gleichwohl als unnatürlich empfunden und 
verwandelt sich in „Es ist schlecht, daß es gut ist, sich gut zu fühlen“; daraus 
wird weiters „Es ist gut, sich schlecht zu fühlen“; das aber wird neuerlich — 
vermutlich vom Realitäts-Ich — als unnatürlich empfunden und verwandelt 
sich in „Es ist böse, daß es gut ist, sich schlecht zu fühlen“ und schließlich 
noch einmal in „Es ist böse, sich gut zu fühlen“. Dieses Affektspiel kann mit 
unzähligen Variationen ins Unendliche gehen. Nichtsdestoweniger haben diese 
emotionellen Zwangserscheinungen, ihrer Komplikationen entkleidet, einen 
Grundzug gemeinsam: einen Drang nach rapidem Wechsel von 
„guten“ und „schlechten“ Affektzuständen. 

* 

Wenn wir für einen Augenblick zu den, wie ich sie nannte, überspitzteren'^ 
Formen der Zwangsneurose zurückkehren, so zeigt die Beobachtung, daß sie 
auch der Unterteilung unter dem Gesichtspunkt derSubjekt-Objekt-Re- 
1 a t i o n fähig sind. Dies ist nicht so deutlich, wo die klinischen Komplikationen 
einer ausgiebigen Verschiebung zuzuschreiben sind, etwa dort, wo sich eine 




























Das Problem der Zwangsneurose 


241 


Beschmutzungsphobie rasch von einem Objekt zum andern ausbreitet. In 
manchen Fällen aber ist es klar, daß die Verschiebung nicht einfach von einem 
Objekt zum andern, sondern vom Subjekt zum Objekt erfolgt. So habe ich 
eine Patientin beobachtet, die nacheinander Zustände von Berührungszwang, 
Teile des eigenen Körpers betreffend, eine Reihe von Waschzeremoniellen, be¬ 
treffend ihre eigenen Kleider, dann eine Reihe von Beschmutzungs- und Berüh¬ 
rungszeremoniellen, die sich auf die Kleidung Außenstehender bezogen, und 
schließlich eine Reihe von Berührungszeremoniellen, betreffend entblößte Kör¬ 
perteile anderer, durchlief. Nachdem die Patientin diese Reihenfolge absolviert 
hatte, wiederholte sie den Vorgang nach der umgekehrten Richtung, indem sie 
mit objektgerichteten Zwängen begann und mit subjektgerichteten schloß. In 
der Regel ging dieses Hinundherpendeln allmählich vor sich; aber in Zuständen 
von Angst konnte ein heftigeres Umschlagen beobachtet werden, so z. B. ein 
Überspringen von einem Subjekt-Berührungszeremoniell, das heimlich im ge¬ 
schlossenen Raum praktiziert wurde, zu einem Objektzeremoniell, das auf der 
Straße oder im Autobus ausgeführt wurde. Die Patientin spielte, mit anderen 
Worten, nach rückwärts und vorwärts eine Ich-Objekt-Skala von Zwangs¬ 
erscheinungen und konnte, wenn nötig, heftigere, dem Ich geltende Angst 
durch einen solchen Sprung in Objektzwänge bewältigen und umgekehrt. 

* 

Wenn wir diese Beobachtungen zusammenfassen, so sehen wir, daß die 
verwickelten Zeremonielle offenbar auf das gleiche Ziel gerichtet sind, näm¬ 
lich, ein immer komplizierteres Netz von Begriffssystemen zu schaffen, durch 
welches der Affekt in fein verteiltem Zustand hindurchgehen kann. Wenn 
aus dem einen oder andern Grund diese Zeremonielle gestört werden, 
treten wiederum kompakte Affekte auf. In den rein affektiven Zwangs¬ 
zuständen, die ich beschrieben habe, können wir einen primitiveren 
Versuch erblicken, Affektqualitäten oder -intensitäten zu ändern oder zu er¬ 
setzen. Es ist klar, daß auch hinter diesem Zwangssystem ein ausgeprägtes 
System von Ich-Objekt-Beziehungen liegen muß, und zwar offenbar eines, das 
nicht den gewöhnlichen Regeln der Realitätsprüfung zugänglich ist. Es sei 
zugegeben, daß wir bisher noch keine spezifische ätiologische Formel gefunden 
haben. Aber wir haben hinreichende Erfahrungen zur Rechtfertigung dessen, 
was ich den entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt genannt habe. Dieser be¬ 
ruht auf folgenden allgemeinen Voraussetzungen: i. daß jene weitläufigeren 
Symptombildungen, die wir in der Analyse aller Fälle, gleichgültig welchem 
klinischen Typus sie angehören, zutage fördern, erstarrte Reste abnormer 
Funktionen sind, die jede Entwicklungsphase beisteuert; 2. daß die aus¬ 
schlaggebenden charakteristischen Züge jeder Erkrankung mehr dem ent¬ 
sprechen, was wir „einen Primat der Entwicklungsphasen und Mechanismen“ 
nennen können, als einem einfachen „Triebprimat“, wie wir zu denken ge- 











242 


Edward Glover 


wohnt sind, wenn wir von Fixierungen sprechen; 3. daß der Regressions¬ 
mechanismus eine Anzahl sowohl positiver wie negativer Funktionen besitzt, 
d, h. nicht bloß eine defensive Flucht darstellt. Die Regression bildete ja stets 
einen Schlüsselmechanismus in der Psychopathologie, aber sie wurde in der 
Vergangenheit zu sehr als Energieverschiebung auf gef aßt. Regression 
ist meiner Meinung nach zum großen Teil ein strategischer 
Rückzug auf eine frühere psychische Stufe: Nachdem sich der Patient 
durch diesen Rückzug die dieser früheren Stufe eigentümlichen 
psychischen Ansprüche, Vorrechte und Abwehrmethoden gesichert hat, geht 
er mit diesen neubelebten, aber veralteten Methoden wiederum an das Leben 
heran. Die sich bei der Anpassung ergebenden Besonderheiten machen den 
größten Teil des Symptombildes aus. Wenn wir sagen, daß die Gefahr der 
Regression darin bestehe, daß sie zu weit fortschreiten könnte, so ist damit 
auch ausgedrückt, daß jede Entwicklungsphase einen Zufluchtsort vor den 
Gefahren der vorhergehenden Etappe geboten haben muß. Wenn es gelegent¬ 
lich vorkommt, daß eine Flucht in Zwangsmechanismen den Patienten weiter 
in paranoide oder melancholische Regungen zurücktreibt, so dürfen wir füglich 
annehmen, daß der Primat der Zwangsmechanismen eine Reaktion auf die 
paranoiden und melancholischen Phasen der Entwicklung war und ist. 

♦ 

Alle diese Feststellungen bieten sicherlich nichts sonderlich Neues. Freud 
sagte vor langer Zeit von den Neurosen, daß sie nicht einfach Episoden in der 
Entwicklung darstellen, sondern daß jeder Entwicklungsphase ein eigener 
Typus von Angst zuzugehören scheine. Und es war Freud selbst, der vor 
etwa zwanzig Jahren für alle folgenden Entwicklungsätiologien die Voraus¬ 
setzungen schuf, als er in wenigen meisterhaften Sätzen eine hypothetische 
Rekonstruktion der primitiven Realitätsentwicklung gab. Er machte uns erst¬ 
malig auf die Rolle aufmerksam, welche Projektion und primäre Identifizie¬ 
rung, bzw. Introjektion bei der Errichtung der Ich-Objekt-Grenzen spielen. 
Diese frühen Aspekte erfuhren eine bedeutende Erweiterung in der von Melanie 
Klein angebahnten Arbeit, die zum Teil die Kluft zwischen Freuds hypo¬ 
thetischen Rekonstruktionen und seinen früheren klinischen Funden über den 
Zustand des Ichs und der Libido bei vier- bis fünfjährigen Kindern überbrückt. 
Jedenfalls können wir nun in groben Umrissen einige der besonderen Gemüts¬ 
verfassungen, Phantasiesysteme und Realitätssysteme angeben, wie sie in den 
drei ersten Lebensjahren bestehen. So sind wir etwa in der Lage, für die 
ersten eineinhalb Jahre die Existenz psychischer Objekte im Ich nachzuweisen,'^ 
und können die Projektion von Vorstellungen in die Außenwelt sowie frühe 
moralische Unterscheidungen zwischen guten und bösen Objekten innerhalb 
und außerhalb des Selbst — und damit das Vorhandensein von Über-Ich-In- 
stanzen — feststellen. 





























Das Problem der Zwangsneurose 


243 


Wir müssen jedoch erkennen, daß das Kind in Ermanglung einer Organisa¬ 
tion des Ichs — und ich denke dabei an die Tatsache, daß das frühere Ich 
vielteilig ist — während dieser Periode starken Affektschwankungen preis- 
aegeben ist, die ihrerseits ein heftiges Hinundherschwingen zwischen intro- 
jektiven und projektiven Vorgängen bewirken. Wie heftig und drängend 
diese Affekte sind, kann man aus den Unlustaffekten ersehen, mit denen 
melancholische, bzw. paranoide Zustände verbunden sind. Schon diese so¬ 
genannten pathologischen Zustände haben dazu beigetragen, die katastrophalen 
Gefahren, durch die sich das Kind in den ersten Lebensmonaten bedroht 
fühlt, zu mildern. Für diese Hilfe mußte aber ein Opfer gebracht werden. 
Das Kind, gehetzt durch die Drohung überwältigender Affekte, klammert 
sich bald an seine liebgewordenen Mechanismen von Introjektion und Pro¬ 
jektion, bald läßt es in ständigem Wechsel wieder von ihnen ab. Es ist dies 
jener verworrene und quälende Zustand des Seelischen, welchen die Zwangs¬ 
phase zu überwinden bestimmt ist. Und dies geschieht auf eine sehr einfache 
und wirksame Weise, nämlich durch Aufsplitterung der voneinander zu sehr iso¬ 
lierten Phasen von Introjektion und Projektion, indem diese sozusagen ineinan¬ 
der verwoben werden, durch Verminderung des Zeitabstandes zwischen ihnen 
und durch Ausnützung der Verschiebungsmechanismen zugleich mit der Ent¬ 
wicklung begrifflichen Denkens und Sprechens, wodurch gleichzeitig der Zu¬ 
gang zur Realität erweitert wird. Der Säugling produziert nicht nur rascheren 
Wechsel, sondern auch kleinere, an primitivere Gedankensysteme gebundene 
Quantitäten von Angst. Dies ermäßigt die Affekte und vermindert so die 
Notwendigkeit übertriebener Angst- und Schuldgefühle; ja diese werden 
schließlich so weit eingeschränkt, daß beinahe der Eindruck eines Mangels an 
Gefühlsregungen entsteht. 

Dies ist die wesentlichste Leistung der Zwangstechnik. Verdrängung spielt 
dabei sicherlich von Anfang an eine Rolle; aber Verdrängen heißt, sein ganzes 
Geld auf ein Pferd setzen, — es ist eine Alles-oder-nichts-Reaktion. Der elasti¬ 
schere Mechanismus der Verschiebung kommt in der Zwangsphase zu seinem 
Recht. Vom Gesichtspunkt der Realität aus ist er dem älteren, mehr auf den 
Zufall angewiesenen und angstauslösenden System, welches wir symbolisches 
Denken nennen, unendlich überlegen. 

♦ 

Nachdem wir so die Berechtigung, die klinischen Grenzen der Zwangs¬ 
neurose zu überschreiten, erwiesen haben, ist der nächste Schritt die Betrach¬ 
tung der unbewußten Phantasiesysteme, die sich bei Kindern und in verschie¬ 
denen pathologischen Zuständen Erwachsener finden. Ein guter Ausgangspunkt 
ist die Gruppe kindlicher Phantasien, wie sie von Melanie Klein, Melitta 
Schmideberg und anderen beschrieben wurden. Wie schon bemerkt, schaffen 
diese Systeme bis zu einem gewissen Grad eine Verbindung zwischen Freuds 
th eoretischer Auffassung des primitiven Ichs und seiner klinisch-analy- 









244 


Edward Glover 


tischen Erfahrung an drei- bis fünfjährigen Kindern. Die wesentlichen Züge 
dieser Phantasien sind folgende: Das Kind betrachtet sich selbst (seinen Kör¬ 
per) als eine Art Tummelplatz sowohl innerer wie äußerer Organe, die miteinan¬ 
der im Kampf liegen, bzw. einander lieben, und es betrachtet Umweltobjekte 
(z.B. die Eltern) in gleicherweise als Bündel einander bekämpfender, bzw. lieben¬ 
der Organe. Die beiden Systeme stehen auch miteinander in Wechselbeziehung: 
Einerseits können Teile des Kindes außenstehende Objekte repräsentieren, ander¬ 
seits Teile äußerer Objekte das Kind selbst. Das Leben besteht aus einer Reihe von 
Begegnungen (Kämpfen, Bündnissen usw.) zwischen diesen zusammengesetzten 
Ichen und zusammengesetzten Objekten, und das Kriegsglück hängt von dem 
Ausmaß ab, in dem die liebenden (guten) Teile über die hassenden (bösen) die 
Oberhand gewinnen. Dies ist wiederum von der Art der primitiven Impulse 
des Kindes abhängig und von dem Ausmaß, in dem sie vorwiegend durch 
Introjektions- und Projektionsvorgänge bewältigt werden. Bei der Beschrei¬ 
bung dieser Phantasien werden alle möglichen Bezeichnungen verwendet wie 
z. B. „introjizierter Penis‘S „gute'‘ oder „böse‘‘ Eltern usw., die eine genauere 
Erklärung erfordern. Man neigt dazu, Phantasieprodukte mit dynamischen 
Mechanismen zu verquicken. Doch davon soll später die Rede sein. Der Haupt¬ 
einwand, der möglicherweise erhoben werden könnte, wird zweifellos mit der 
Zeit widerlegt werden können. Die Phantasiesysteme wurden zu streng in den 
Begriffen der älteren — und viel schematischeren — „Primat‘‘systeme dar¬ 
gestellt, so z. B. die oralen und oral-sadistischen Phantasien. Es ist richtig, daß 
diese Primate durch Einbeziehung nicht nur der rein libidinösen, sondern auch 
der sadistischen Entwicklungsphasen erweitert worden sind. Aber es fehlt noch 
eine befriedigende Unterteilung dieser Phasen im Verhältnis zu einem differen¬ 
zierteren primitiven Ich, d. h. einem Körper-Ich, in welchem sich eine beträcht¬ 
liche Anzahl zusammengesetzter Faktoren vereinigt, um ein locker organi¬ 
siertes Ganzes hervorzubringen. Ebenso steht fest, daß sich bei dem Ver¬ 
such, diese früheren Phantasien mit dem in Einklang zu bringen, was wir nun 
die klassische Ödipussituation nennen können, eine gewisse Ängstlichkeit der 
Rekonstruktion gegenüber fühlbar gemacht hat. Wie dem auch sei, Körper¬ 
phantasien irgendwelcher Art bleiben sicherlich bestehen. Der nächste Schritt 
der Untersuchung ist der, zwischen solchen Phantasien zu unterscheiden, die 
sekundär die Entstehung von Affekten (Angst und Schuld) bewirken, und 
solchen, die einem Versuch von seiten der Psyche zuzuschreiben sind, be¬ 
stehende Affekte zu binden, d, h. die Spannungszustände durch Ausbau ent¬ 
sprechender Erklärungen zu vermindern, indem bestehende (bewußte und un¬ 
bewußte) Vorstellungen, z. B. symbolisches Denken, zu diesem Zweck benützt 
werden. Mittlerweile können wir jedoch ohne Bedenken die Ausdrücke „Intro- 
jektions-‘‘ und „Projektionsangst‘‘ und „Körperphantasien'^ (Verletzungen, 
Wiederherstellungen oder Erneuerungen des Subjekt- oder Objektkörpers) an¬ 
wenden. 





























^ Das Problem der Zwangsneurose 245 

Mein Interesse an der Bedeutung dieser Systeme für die Entwicklung wurde 
durch Beobachtungen an ein oder zwei Fällen von Übergangsneurosen des 
Typus der Rauschgiftsucht geweckt. Man konnte dabei nicht nur die gleichen 
Systeme von Körperphantasien beobachten, sondern es war offenbar, daß in 
dem Maß, als die Affektspannungen Zunahmen, psychisch ein Rückfall in 
heftigere Formen von Introjektion und Projektion eintrat. Ich habe von einer 
Patientin berichtet, bei der sich aus einer Zwangsphase eine Rauschgiftsucht 
und in der folgenden Abstinenz eine paranoide Krisis entwickelte. 
Als die Angst vermindert war, wurde die Symptomreihe umgekehrt. 
Dies brachte mich zur Annahme einer Beziehung der Rauschgiftsucht 
zur Paranoia, die in vieler Flinsicht durch die schon von Melanie Klein 
dargelegten Ansichten über die Entwicklungsrelationen der Zwangsneurosen 
zu den paranoiden Phobien bestätigt wird. Ich hielt die Rauschgift¬ 
sucht für ein Übergangsphänomen, bei dem die Projektionsmechanismen 
auf das Rauschgiftsystem lokalisiert werden und auf diese Weise das 
Realitäts-Ich von einer weitergehenden Störung befreien. Gewisse klinische 
Erwägungen machten in diesem Punkt Schwierigkeiten. Viele Süchte bauen 
sich offenbar auf einer melancholischen Grundlage auf. Auch einige Zwangs¬ 
neurosen haben eine melancholische Seite (siehe Abraham über den bei 
Melancholikern im Intervall auftretenden Zwangscharakter), während in 
anderen eine schizophrene Schicht nachgewiesen werden kann. Diese klinischen 
Beziehungen konnten durch die Analyse bestätigt werden. Die Folgerung 
daraus war klar: Ebenso wie es paranoide und melancholische Süchte gibt, muß 
es paranoide und melancholische Zwangstypen geben. Hier erwies sich das 
gewöhnliche klinische Bild der Zwangsneurosen eher als ein Hindernis. Denn 
es sind selten Zwangsneurosen zu sehen, in denen die paranoiden oder melan¬ 
cholischen Züge das klinische Bild beherrschen, sondern dieses weist gewöhn¬ 
lich eine Mischform auf. 

Ich hatte Gelegenheit, einige Paranoiafälle zu beobachten, in denen Zwangs¬ 
mechanismen noch wirksam waren, die eine gewisse Realitätsbeziehung 
innerhalb des Wahnsystems bewahren halfen. Der Grundzug ist in solchen 
Fällen das Vorhandensein sowohl „guter“ als „böser“ Verfolger.^ 

Außerdem war ich in der Lage, einige Fälle zu analysieren, die ich bereits 
in früheren Arbeiten beschrieben habe, nämlich Zwangsneurosen, in denen 
die Technik nur oder hauptsächlich auf Affekterlebnisse Anwendung fand, 

2) Ich habe kürzlich einen solchen Fall gelegentlich einer Konsultation gesehen. Der 
Patient hatte zeitweilig Einsicht in die möglicherweise wahnhafte Natur seiner Vorstellungen. 
Er stand unter dem Einfluß guter und böser Systeme äußerer Einmengung. Das gute System 
war ein System von „guter Beobachtung" und „Beherrschung“ mit dem Streben, ihn zu einer 
Art Welterlöser zu machen. Aber als es ihn zu sehr bedrängte — d. h. sich einmengte —, 
wurde dieses „gute“ System zu einem „bösen“, und der Patient reagierte wie bei gewöhn¬ 
lichem Verfolgungswahn, nämlich mit heftigem Toben. Die guten und bösen Systeme 
hatten den Charakter des Zwanges bewahrt. 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XXI/2 


17 






















246 


Edward Glover 



und die ursprünglich als leichte Depressionen diagnostiziert worden waren. 
Nun gelang es mir, hinter diesen „emotionellen Zwangszuständen“ einfache und 
klarumrissene Angsterscheinungen, die dem Körper, seiner Unversehrtheit 
und seiner Beziehung zu den Körpern der Objekte galten, kurz die bereits be¬ 
kannten Systeme der Körperphantasien zu entdecken. Der Schluß lag auf der 
Hand: Die Hauptfunktion des Zwangssystems muß in der vor¬ 
teilhaften Verbindung und Befestigung der Introjektions- und 
Projektionsmechanismen und gleichzeitig in der möglichst 
weitgehenden Ausschaltung der Nachteile einer zu ausschlie߬ 
lichen Abhängigkeit von irgend einem Mechanismus liegen. Diese 
Nachteile zeigen sich deutlich in den Affektstörungen der Melancholie, bzw. 
der Paranoia und in Affektschwierigkeiten melancholischer und paranoider 
Rauschgiftsüchte. Es ist anzunehmen, daß in einem Zustand, in dem haupt¬ 
sächlich böse Objekte introjiziert wurden, panische Angst droht, und daß die 
entgegensetzte Tendenz — „Bösesein“ auf Objekte zu projizieren — in ihrer ! 
Art ebenso gefährlich ist. Das Studium von Zwangszuständen, in denen Sub¬ 
jekt-Ob jekt-Relationen eine wichtige Rolle spielen, erweist die Richtigkeit 
dieser Annahme. In dem früher erwähnten Fall von Beschmutzungszwang 
konnte leicht ein Pendeln zwischen den Gefahren der Introjektion und denen 
der Projektion festgestellt werden. Wenn böse innere Objekte das Ich be¬ 
drohten, entwickelte die Patientin allmählich ein „Projektions“system von 
Zwangszuständen (Beschmutzungszeremonielle auf der Straße oder in öffent¬ 
lichen Verkehrsmitteln), indem sie sich realen äußeren Objekten zuwandte 
und durch dieses Abschwenken die „Introjektions“gefahren negierte. Wenn 
das ^,Projektions“system zu viel Angst erregt hatte, trat ein Umschwung zu 
den „Introjektions“typen der Zwangserscheinungen ein (Ausführung der Be- 
rührungszeremonielle in geschlossenem Raum). Wir sehen also, daß die Funk- | 

tion der Zwangsneurose nicht nur darin besteht, psychische Spannungen aufzu- i 

splittern — ehe diese das Stadium erreichen, in dem sie Panik hervorrufen — [ 

und ein rascheres Hinundherschwingen zwischen Introjektion und Projektion 
zu ermöglichen, sondern auch darin, durch Ausdehnung des Verschie¬ 
bungsmechanismus die erste feste Beziehung zwischen dem Ich 
und seinen Objekten zu entwickeln.^ 

3) In einer vor kurzem in der British Psycho-Analytical Society abgehaltenen Dis¬ 
kussion entstand eine gewisse Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der exakten Bedeutung der 
Worte „Ambivalenz“, „Präambivalenz“ usw. Auf Grund neuerer Arbeiten ist es klar, daß 
Abrahams Annahme einer vor der Periode des Zahnens anzusetzenden präambivalenten 
Phase nicht die heftigen Affektschwankungen, die in den ersten sechs bis neun Lebensmonaten 
auftreten, erklärt. Anderseits ist die ursprüngliche Feststellung, daß Zwangsneurotiker einen 
hohen Grad von Ambivalenz an den Tag legen, zweifellos zutreffend. Dies stimmt auch 
überein mit der Ansicht, daß das Kind, wenigstens im Alter von eineinhalb bis dreieinhalb 
Jahren, an gleichzeitigen Liebes- und Haßgefühlen gegenüber irgend einem Objekt wirklich 
leidet. Es hat, kurz gesagt, die Subjekt-Ob jekt-Relationen befestigt, Affekteinstellungen zu 
Objekten vereinigt und ein gewisses Gleichgewicht der Mechanismen erlangt. In formaler 


































Das Problem der Zwangsneurose 


247 


Die Zwangsmechanismen mildern mit anderen Worten die Schärfe der Intro- 
jektionen, verhindern unwiderrufliche Projektionen und binden durch ihre 
Elastizität beim Eingehen wechselseitiger Verbindungen das Ich an das Objekt. 

Nachdem wir die Faktoren, die zu den Zwangsphasen der Entwicklung An¬ 
laß geben, betrachtet haben, ist es nur folgerichtig zu untersuchen, wie es sich 
mit der Beziehung der Zwangssymptome zu den Phobien verhält. Von den 
letzteren nahm man gewöhnlich an, daß sie in einem weiter fortgeschrit¬ 
tenen Stadium der Entwicklung auftreten, und schrieb ihnen eine Reihe von 
charakteristischen Mechanismen zu. Hier sind jedoch einige klinische Hinder¬ 
nisse zu überwinden. Einerseits folgt aus der Arbeit von Klein, Schmideberg 
und anderen, daß die sogenannten phobischen Ängste modifizierte Reste ur¬ 
sprünglicher paranoider Ängste sind. Anderseits bestand über das Verhältnis 
der phobischen Angst zur Zwangsfurcht stets eine gewisse Unsicherheit. Manche 
Forscher pflegen von „Zwangsphobien*' zu sprechen, während andere diese Be¬ 
zeichnung als terminologischen Widerspruch empfinden. Es läßt sich natürlich 
immer darüber streiten, ob die phobischen Ängste primär sind, oder ob sie sich 
von früheren Zuständen paranoider Furcht herleiten. Aber es besteht keine 
Notwendigkeit zur Annahme, daß sie einen engen Zusammenhang mit Zwangs¬ 
systemen oder -phasen haben. Ich wenigstens finde diese Ansicht nicht sehr 
befriedigend. Gewiß bin ich ebenfalls der Meinung, daß viele Angstphobien 
einen ganz beträchtlichen Rest paranoider Angst enthalten, wenn auch in 
manchen Fällen dieser Rest so geringfügig ist, daß der Angstzustand praktisch 
genommen als primär gelten kann und hauptsächlich eine Abwehr genitaler 
Ängste darstellt. Aber es scheint mir bei Berücksichtigung der an klinischen 
Formen gewonnene Erfahrung unmöglich, zwangsneurotische Einflüsse auszu¬ 
schließen, gibt es doch so viele Fälle, in denen hysterische Angst mit Zwangs¬ 
erscheinungen verknüpft ist. Und gerade wo dieser Zusammenhang nicht 
offensichtlich gegeben ist, ist man in der Analyse gelegentlich in der Lage, ein 
ursprünglich zwischen eine Hysterieangst und eine primitive Projektionsangst 
eingeschaltetes Zwangssystem aufzudecken. In solchen Fällen hat es den An¬ 
schein, daß die hysterische Phobie ein isoliertes Fragment eines Zwangssystems 
darstellt. Ein einfaches Beispiel ist das einer Frau mit einer Phobie vor Wachs¬ 
tuch in einer bestimmten Farbe. Es war für sie unmöglich, an einem Geschäft 
für Wohnungseinrichtungen vorbeizugehen, ohne von Angst bis zum Grad des 

Hinsicht mag es deshalb richtig sein, von einem präambivalenten Stadium zu sprechen, d. h. 
im Sinne der Ich-Objekt-Organisation. Aber die Affektschwankungen, die vor dieser Periode 
auftreten, sind sicherlich heftiger und unlustvoller; so unlustvoll auch die Ambivalenz ist, ist 
sie doch ein beständigerer Zustand und bedeutet einen Fortschritt gegenüber den Haltlosig¬ 
keiten und Verzweiflungsausbrüchen, welche mit einer unkontrollierten Affektschwingung 
Hand in Hand gehen. Befriedigungsaffekte tragen zweifellos zur Erwerbung eines Gefühles 
der Sicherheit bei. Aber für lange Zeit ist dieser Einfluß auf vorübergehende Auswirkungen 
beschränkt. 


ir 
















5248 


Edward Glover: Das Problem der Zwangsneurose 


Unwohlseins befallen zu werden. In der Analyse erwies sich dies als das Endglied 
einer Kette zwanghafter Substitutionen. Als ursprüngliche Zwangsidee fand 
sich die bekannte Vorstellung, die Patientin habe ein Baby aus dem Kinder¬ 
wagen fallen lassen und so getötet. Das Wachstuch hatte dieselbe Farbe wie 
der Bezug des Kinderwagens. Hinter dem Zwangssystem bestand ein beträcht¬ 
licher Grad von „Körperangst"', und diese ließ sich in eine Angst der Pa¬ 
tientin vor ihrer Mutter auflösen, die während der frühen Kindheit ihrer 
Tochter Kleider von einer ähnlichen Farbe getragen hatte. Wenn man von 
einem unvermeidlichen Ausmaß an Überdeterminierung absieht, so weisen 
solche Fälle darauf hin, daß der Zusammenhang zwischen Angstphobien, 
Zwangsvorstellungen und Ängsten vom Projektionstypus wesentlich enger ist, 
als die klinischen Erscheinungen vermuten lassen. In der Frühzeit der Psycho¬ 
analyse sah sich Freud vor die Notwendigkeit gestellt, die bestehenden klini¬ 
schen Tatsachen neu zu klassifizieren. Nachdem er vorerst eine gewisse Ord¬ 
nung in den Beziehungen der verschiedenen „Aktualneurosen“ zu den 
Angstzuständen festgestellt hatte, gelang es ihm auch, seine ätiologischen For¬ 
meln zu klären. Aber seit dieser Zeit ist weder hinsichtlich einer systemati¬ 
scheren Klassifikation der Neurosen, noch der der Psychosen Nennenswertes 
geleistet worden. Es scheint, daß nunmehr die Zeit für weitere Bemühungen 
in dieser Richtung reif ist. 

♦ 

Im vorliegenden Beitrag wurde jener Fälle keine Erwähnung getan, in 
denen ein deutliches Ineinandergreifen von sexuellen Perversionen oder Phan¬ 
tasien einerseits und sexuellen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen ander¬ 
seits stattfindet. Es ist interessant zu beobachten, daß sich unter den klinischen 
Perversionen einige klar umrissene Typen finden, welche die gleiche, natürlich 
als sexuelle Regung verkleidete Tendenz zur Befestigung der Introjektions- und 
Projektionsmechanismen zeigen. Solange diese verschiedenen Zusammenhänge 
nicht bearbeitet sind, wäre es voreilig, im einzelnen die Aufstellung ätiologi¬ 
scher Formeln in Angriff zu nehmen. Der Zweck dieser Abhandlung ist es, 
darauf hinzuweisen, daß einer der fruchtbarsten Wege der ätiologischen For¬ 
schung der entwicklungsgeschichtliche ist. Wenn wir einmal über die frühen 
Manifestationen des Ichs, über die Wechselbeziehungen und Verbindungen der 
verschiedenen Mechanismen in den einzelnen Stadien und über das Verhält¬ 
nis dieser Verbindungen zu spezifischen Affekten genügend Klarheit haben, 
dann werden wir auch nach einer leistungsfähigeren Einteilung der klinischen 
Syndrome und nach einer exakteren Aussage über die ätiologischen Fak¬ 
toren, die jeweils in einem Falle wirksam sind, Ausschau halten können. 
























Koro 

Eine merkwürdige Angsthysterie 
Von 

P. M. vaii Wulfftcn^Palthc 

Batavia 

In der medizinischen Fachzeitschrift von Holländisch-Indien aus dem Jahre 
1895 findet man einen Artikel des Militärarztes J. C. Blonk, betitelt „Koro“.^ 

Er beschreibt dort ein Krankheitsbild, das ihm vom Hörensagen bekannt 
wurde und bei Buginesen und Makassaren (Volksstämme der Insel Celebes) Vor¬ 
kommen soll. Nach ihrer Angabe fühlen die an diesem Leiden Erkrankten zu¬ 
zeiten, daß ihr Penis die Neigung hat, sich in den Leib zurückzuziehen. Falls 
in solchen Augenblicken nicht rechtzeitig Hilfe geleistet werde, so geschehe 
dies tatsächlich, und der Kranke sterbe angeblich alsbald. 

Aus Angst davor nehmen diese Kranken den Penis kräftig in die Hand 
und lassen sich, sobald ihre Kräfte sie zu verlassen drohen, durch 
Freunde und Verwandte helfen. Mit großem Kraftaufwand wird dieses 
Manöver, von Angstzuständen begleitet, stundenlang ausgeführt. Wenn 
dann nach Stunden oder gar erst nach Tagen der Anfall vorüber ist, fühlen 
die Patienten sich äußerst ermattet. 

Blonk meint, daß dieser Zustand sich auf neurotischer Basis entwickelt, 
bezweifelt aber die Möglichkeit eines Zusammenhanges mit dem Geschlechts¬ 
leben. 

In dem einen Fall, dessen er sich bei seiner Beschreibung entsinnt, handelte es 
sich um einen intelligenten „Djaksa‘‘ (einen einheimischen Staatsanwalt), der 
ihm seinerzeit versprochen hatte, seine Hilfe anzurufen, sobald sich wieder ein 
Anfall zeigen würde. Dies ist jedoch niemals geschehen. 

Obgleich also alle diese Angaben aus zweiter Hand kamen, müssen wir doch 
dankbar anerkennen, daß Blonk der erste war, der die Aufmerksamkeit auf 
dieses Krankheitsbild gelenkt hat. 

Vorstman beschreibt im Jahre 1897 die gleiche „Krankheit'', die er in 
West-Borneo beobachtet hatte. Er gab diesem Leiden denselben Nariien, Koro, 
da ein anderer an diesem Ort unbekannt war. Er hatte einen eingeborenen 
Radja am Fußende seiner Schlafstätte sitzend angetroffen, umgeben von seinem 
Gefolge, unter welchem einem alten Mann eine besondere Rolle zuzukommen 
schien. Vorstman begriff im Anfang die Art des Leidens nicht, wurde je¬ 
doch durch einen Chinesen aufgeklärt. Dieser erzählte ihm nämlich, daß be¬ 
reits seit acht Tagen der Penis des Patienten die Neigung hätte, sich zurück¬ 
zuziehen. Der alte Mann hätte ihn festgehalten und damit das Leben seines 
Herrn gerettet. Trotz seinen Erkundigungen bei dem eingeborenen Regierungs- 


i) Geneeskundig Tydschrift voor Ned. Indie, 1895. 














P. M. van Wulfften-Palthe 


Verwalter konnte er nichts Näheres über diese Krankheit erfahren. Nur der j 
europäische Regierungsbeamte von Nangoh-Pino wußte zu erzählen, daß er j 

in einem Dorf die Leiche eines Malayen angefunden hätte, der angeblich an | 

dieser Krankheit gestorben sei. Irgend eine lokale Veränderung hätte er nicht 
konstatiert. 

Kurze Zeit nach seinem ersten Patienten traf Vorstman einen zweiten, 
einen Chinesen, der im Krankenhaus fortwährend seinen Penis festhielt; wenn 
die Ermüdung seiner rechten Hand ihm ein längeres Festhalten unmöglich 
machte, ersetzte er diese prompt durch seine linke. Er zeigte dabei stets 
Furcht, konnte jedoch durch gütliches Zureden und durch die Versicherung, 
daß ihm nichts geschehen werde, wenn er den Penis loslasse, beruhigt werden. 

Vorstman betrachtet Koro als eine Zwangsempfindung, die sich inhaltlich 
auf Ideen und Vorstellungen aus dem täglichen Leben beziehe. Seiner Meinung ^ 
nach herrscht in der Umgebung des Patienten der Aberglaube, daß der Penis 
sich in den Leib zurückziehen und dadurch den Tod verursachen könne. 

In seinen „Vorträgen über tropische Medizin'' schildert Kiewiet dejonge 
die Krankheit Koro in gleicher Weise, wie er sie in der obgenannten Literatur 
dargestellt fand. Da ihm selbst kein solcher Fall bekannt war und er mit Recht | 

die bisherigen Angaben für unzureichend erachtete, enthielt er sich weiterer I 

theoretischer Betrachtungen. | 

Im Jahre 1932 sah ich selbst einen Fall und berichtete hierüber Nach¬ 
stehendes 

„Vor einigen Jahren untersuchten wir einen Chinesen, der längere Zeit in 
West-Borneo gelebt hatte und auch an Koro litt. Er entzog sich jedoch nach 
einmaligem Gespräch der Untersuchung, so daß sich hieraus so gut wie kein 
Beweismaterial ergab. Wir hatten damals den Eindruck, daß der Anfall mit 
einem unbestimmten Angstgefühl anfing, einem dunklen Todesahnen, das sich 
sekundär durch die Befürchtung eines Zurückziehens des Penis in den Leib 
motivierte. Nach den Äußerungen unseres Patienten glaubten wir annehmen 
zu dürfen, daß mit diesem ,Koro' nicht allein Todesangst, sondern auch 
Furcht vor Kastration einherging. Außerdem hörten wir noch von einem 
Korofall bei einem malayischen Radja, wobei als Besonderheit zu vermelden 1 
wäre, daß die ganze Bevölkerung mit ihrem Herrscher in Angst lebte. Tage¬ 
lang war es in der Umgebung des Fürsten sehr unruhig; die Leute gingen 
nicht schlafen und verbrachten die Nächte im Gebet, bis im ,Kraton' die Ruhe 
zurückgekehrt und die Korofurcht wieder für einige Zeit vertrieben war, 
Dieser Patient war mir als typischer Psychastheniker bekannt. 

Auch aus Makassar bekamen wir Nachrichten über Korofälle bei den ge- ^ 

z) In De Langen und Lichtenstein, „Leerboek der Tropische Geneeskunde“ (Kolff & ! 

Co., Batavia, Java), Abschnitt „Psychologie en Neurologie in de Tropen“. | 


































Koro 


251 


bildeteren Eingeborenen; das heißt mit anderen Worten, nur bei den Gruppen 
der Bevölkerung, bei denen überhaupt Neurosen Vorkommen/" 

Trotz allen eifrigen Nachforschungen ist es uns nicht gelungen, mehr Einzel¬ 
heiten zu erhalten, bis vor einigen Monaten ein tuberkulöser, aus Kanton stam¬ 
mender Chinese in die C. B. Z. (Staatskrankenhaus in Batavia) aufgenommen 
wurde, der seinen Penis auf merkwürdige Art verankert hatte (Abb. i). 

Mit Hilfe eines Dolmetschers gelang es uns, von ihm interessante Einzel¬ 
heiten zu erfahren, so vor allem den Namen, den die Chinesen dieser „Krank¬ 
heit“ geben, nämlich ,,Shook Jong^' (mandarinisch: Shoo Jang)y was „Schrumpfen 
des Penis“ bedeutet. 

Shook Jong 

Schrumpfen - Penis (Sonne-männlich) 



Aus weiteren Gesprächen mit unserem Patienten und aus Informationen, die 
wir von Dr. Kwa, Batavia, bekamen, ergänzt durch mehrere Einzelheiten, die 
wir von Kennern des chinesischen Lebens erhielten, war festzustellen, daß es 
sich um zwei verschiedene Dinge handelt, die wir streng unterscheiden müssen: 
eine (phantasierte) Krankheit und eine Neurose. 

Allgemein bekannt bei Chinesen^) ist eine Krankheit, die man Shook Jong 
nennt. Diese Krankheit besteht in einer Schrumpfung des Penis, die auf be¬ 
stimmte Ursachen zurückgeht, von denen uns genannt wurde: geschlecht¬ 
licher Verkehr in allzu jungen Jahren oder übermäßiges Onanieren zu Zeiten, 
in denen noch die nötigen Kräfte fehlen, oder Urinieren gegen den Wind. 
(Vergleiche hiermit den Volksglauben in Europa, daß man eine „Erkältung"" 
bekomme, wenn man gegen den Wind uriniere: Erkältung hier = Gonorrhöe.) 

Bemerke man jene abnormale Neigung des Penis während des Koitus, dann 
dürfe man die Vagina nicht verlassen, trete es jedoch unter anderen Umständen 
ein, dann sei der Penis durch Helfer mit der Hand und mit dem Mund 
festzuhalten. Entschlüpfe der Penis unglücklicherweise, so sei die sichere Folge 
der Tod. 

In allgemeinem Gebrauch ist ein Instrument, welches den Penis festhalten 
kann, falls die oben beschriebene Art zu sehr ermüdet. Dieses Instrument, Lie 
Teng Hok genannt, ist die Dose einer alten feinen Waagschale, die täglich 
von chinesischen Goldschmieden und Apothekern gebraucht wird. Abb. 2 
zeigt, wie es für diesen speziellen Fall zu gebrauchen ist: Die beiden 

3) Alle weiteren Angaben beziehen sich auf Mitteilungen, die wir von Panton- und Hok- 
kian-Chinesen bekamen. Ob überall in China dieselbe Meinung herrscht, ist noch nicht 
festgestellt. 


i 










252 


P. M. van Wulfften-Palthe 


Hälften werden auseinandergeschoben, der Penis wird der Länge nach 
in die ausgehöhlte Schale gelegt, dann wird die andere Hälfte wieder darauf- 
und der kleine Ring am Stiele nach unten geschoben, und so werden beide 
Teile, mit dem Penis zwischen ihnen, zusammengeklemmt. 

Der chinesische Arzt, der seine klassische Praxis in einer Apotheke von 
Batavias ,.China town'* ausübte, fand dieses Mittel jedoch gefährlich. Er gab 
zu, daß es im Notzustand ein Hilfsmittel sein könnte und dann auch 
allgemein im Gebrauch wäre; aber, wie er sich ausdrückte, die Krankheit 
könnte dadurch keinesfalls geheilt werden. Dieses wäre allein möglich, wenn 
man alte chinesische Heilprinzipien anwende. Die Neigung des Penis, sich 
zurückzuziehen, zeige, daß das Fm-Prinzip, welches das Weibliche vorstellt, 
überwiegend sei gegenüber dem y«fjg-Prinzip, welches die Männlichkeit re¬ 
präsentiere. 

(Yang und Ying stehen für Himmel und Erde, Sonne und Mond, Tag und 
Nacht, warm und kalt, Leben und Tod, positiv und negativ, stark und 
schwach, männlich und weiblich.) 


Lie Teng Hok 
Wagschale Dose 








Um also die Krankheit zu heilen, müssen Ya^g-.-Medizinen eingenommen 
werden, Medikamente, die die Chinesen in Indien mit der Qualifikation ,,panas'^ 
(warm) andeuten, im Gegensatz zu den dingin'* (kalten) Medizinen, die das 
Ym-Prinzip vertreten. Als Beispiel für gute Medikation bei ..Shook Jong" 
nannte mir dieser ehrwürdige Medizinmann: Schießpulver mit Arak, Zinn mit 
Schwefel und viele heilkräftige Kräuter. 

Das Instrument Lie Teng Hok ist allgemein als ein Notmittel bekannt, je¬ 
doch auf Java nur schwierig zu bekommen, da die niederländisch-indische Re¬ 
gierung diese Waagschalen wegen der vielen Verfälschungen verboten hat. 

Unser oben genannter C.-B.-Z.-Patient hat sich auch mit einer eigenen Kon¬ 
struktion (einem Brettchen, an das der Penis mit zwei Bändern festgebunden 
ist, wobei zur größeren Sicherheit noch eine dicke, aus Eisen verfertigte Haar¬ 
nadel hinter diesem Brett angebracht war) behelfen müssen (Abb. 3). Als ich 
ihm jedoch ein Lie Teng Hok zeigte, klärte sich seine sorgenvolle Miene auf, 
und mit einem ..itoe dia" („das ist es‘") wollte er es nehmen. 

Wir haben also den Glauben an eine Krankheit vor uns, die in einer be¬ 
stimmten Gegend, bei einem bestimmten Volk, allgemein bekannt und ge¬ 
fürchtet ist, deren Folgen jedoch niemand gesehen hat. Aus eigener Erfahrung 
weiß man nichts, alles hat man vom Hörensagen, niemand hat jemals einen 
Menschen an den Folgen eines sich in den Leib zurückziehenden Penis sterben 
gesehen, was jedoch den Glauben an eine solche Möglichkeit keineswegs 




















SHOOK 

SHOO 





JONG 

JANG 



i 


1 





{ 

i 


f 

1 


Abb. I 























































Koro 


253 


schwankend werden läßt. Die Krankheit besteht, weil sie ein Recht dazu hat; 
so ist der allgemeine Volksglaube. Denn der Penis ist das Zentrum, das Essen¬ 
tielle des Lebens; ein Toter hat keinen Penis, bei ihm ist der Penis nach innen 
gezogen. Diesen Gedankengang dreht man nun um und sagt: „Wenn also der 
Penis Neigung zeigt, sich zurückzuziehen, wenn wir ihn schrumpfen sehen, 
dann droht Gefahr; sollte er wirklich verschwinden, dann heißt es sterben.“ 

Diese kollektive Phantasie ist eine typische Folge des primitiven Denkens; 
die mystische ,ypars fro befestigt trotz aller Evidenz den Glauben, 

daß ein Toter keinen Penis habe: Er kann ihn unmöglich haben. Genau 
so ist die hieraus erschlossene Folgerung, daß das Verschwinden des Penis den 
Tod herbeiführe, unwiderlegbar, wenn auch bis heute niemand mit seinen 
eigenen Augen einen anderen an Shook Jong zugrunde gehen sah und es 
in China bis auf den heutigen Tag noch genug Eunuchen gibt (welche nicht 
nur ihrer Testes, sondern auch des Membrums beraubt sind), die klar und 
deutlich die Unrichtigkeit dieser Meinung zeigen. 

Trotz alledem ist der Glaube daran so stark, daß es Chinesen gibt, die sub 
finem vitae an dem Geschlechtsteil ihrer Kinder saugen, oder ein Gewicht an- 
hängen, um ein Verschwinden zu verhindern. 

Aus diesem eingewurzelten Glauben, aus dieser kollektiven Phantasie über 
Krankheit und Tod im Zusammenhang mit der Lage der Geschlechtsteile, be¬ 
zieht nun diese Angsthysterie, das Koro, ihr Material. Die Erkrankten sind 
an erster Stelle Neurotiker, die wiederholt Anfälle von Angst und Zwangs¬ 
sensationen bekommen. Diese Angst findet ihren Ursprung in sexuellen Kon¬ 
flikten und ist eine Todesangst, welche sich sekundär zu der Angst vor dem 
Schrumpfen und Zurückziehen des Penis konkretisiert: also unter Benützung 
des Glaubens an die „Krankheit“ Shook Jong, 

Unser im Anfang genannter Patient erklärte, daß er seit Jugendzeiten 
Schwierigkeiten im Umgang mit Frauen hatte; er wagte nicht, mit ihnen zu 
verkehren und hatte damals auch noch nie koitiert. Sein sexuelles Bedürfnis 
war groß, weswegen er viel onanierte. Seine Eltern hatten ihn hiervor ge¬ 
warnt und ihm gesagt, es werde, falls er damit fortfahre, sein Penis schrumpfen 
und sich nach innen zurückziehen. Mit anderen Worten, sie hatten ihm mit 
Shook Jong gedroht. Dies hatte einen großen Eindruck auf ihn gemacht, 
und weil er trotzdem das Onanieren nicht lassen konnte, entstanden Angst 
und Zwangsgedanken, die sich wiederholten, und deren er nur durch eine 
feste Verankerung des Membrums Herr werden konnte. 

Hier sehen wir also den Freud sehen Kastrationskomplex lebendig vor uns. 

Wenn die Auffassung richtig ist, daß sich in Koro eine Kastrationsangst 
manifestiert, so ist zu erwarten, daß Koro auch bei Frauen vorkomme. Dies 
ist nun tatsächlich der Fall. Ein Arzt aus Borneo schrieb mir, daß dort 
Koro häufig, auch bei Frauen, auftrete. Diese hätten dann das Gefühl, daß 
die Schamlippen nach innen gezogen würden und daß die Brüste einschrump- 










254 P. M. van Wulfften-Palthe 


fen; eine Frau aus Kuala-Kapuas soll daran gestorben sein. Auch hier herrscht 
also die Vorstellung, daß ein Verschwinden der Geschlechtsmerkmale den 
Tod zur Folge habe. 

Zur Erklärung des Kastrationskomplexes bei den modernen Europäern 
sagt Freud, daß in früheren Zeiten die Kastration nicht allein in Volks¬ 
sagen, sondern auch im täglichen Leben (zur Strafe) eine so große Rolle ge¬ 
spielt hat, daß man es eine hereditär fixierte Reaktionsart nennen könnte, wenn 
man heutzutage Menschen sieht, die bei Bedrohung ihrer körperlichen Inte¬ 
grität Kastrationsangst zeigen. Es ist die Bedrohung, die Strafe 

In China ist die Kastration (hier = Abschneiden des Membrums) kein 
„Motiv der Urzeit“, sondern eine bis zum heutigen Tag lebende Wirklichkeit 
— als Strafe und um Eunuchen zu haben —, und hier sehen wir dann auch 
den Kastrationskomplex ganz unverhüllt zutage treten: bei Neurotikern als 
Angst und Zwang und bei Normalen als Glauben an die Krankheit Shook Jong. 
Daß in unserem Archipel auch der Glaube noch lebt, die Zerstörung des Geni¬ 
tales bedeute die Zerstörung des Lebens, sehen wir bei dem so häufigen Ab¬ 
schneiden oder Verletzen des Genitales als Selbstmordversuch, nicht allein als 
Regressionserscheinung der Schizophrenen, sondern gut durchdacht und ab¬ 
solut kaltblütig mit bewußter Begründung durchgeführt.^ 

Ist unsere Meinung über das Wesen von Koro richtig, dann wird es nur dort 
Vorkommen, wo es Neurotiker gibt, und wo die kollektive Phantasie über die 
Bedeutung des Penis für das Leben noch Allgemeingut ist. 

In meiner eigenen Praxis habe ich erfahren, daß zwei Bedingungen stets zu¬ 
trafen: Entweder waren die Kranken Chinesen aus China (wo wir sehr oft 
Neurotiker sehen) oder Eingeborene der besseren Stände mit europäischem 
Einschlag, das heißt also, die einzigen Eingeborenen, die eine Neurose bekom¬ 
men. Das gleiche gilt auch für die Fälle von Blonk und Vorstman (ein 
intelligenter Djaksa, ein eingeborener Radja, ein Chinese). 

Bei den malayischen Tanis (Bauern) und bei den hier zu Lande geborenen 
Chinesen habe ich Koro nie beobachtet, und auch verschiedene chinesische 
Studenten, bei denen ich mich jahrelang regelmäßig hierüber informierte, 
kannten Koro nicht und hatten nie davon gehört. 

Am Ende noch einiges über das Wort Koro. Im Buginesischen soll Koro 
„schrumpfen“ bedeuten und Matthes® spricht über eine „Krankheit“ Lasa 
Koro als „Schrumpfung des Genitales, eine Art Krankheit, welche bei Einge¬ 
borenen vorkommt und sehr gefährlich ist“. 

Im Makassarischen würde es „Gdring Koro“ heißen. 

Dieses wäre also ein absolutes Äquivalent von Shook Jong {shook = 

= schrumpfen). 

4) van WuIfften-Pa 1 1he, „Amok.“ Ned. Tydschr. v. Geneeskunde, No. 9, März 
1933. S. 77. 

5) Wörterbuch der Buginesischen Sprache. 1874. S.-31. 




















Es gibt jedoch noch eine andere Erklärung, die mir ein alter Chinese, der 
lange hier wohnte, gegeben hat. 

Seiner Ansicht nach lautet das Wort nicht Koro, sondern Kuw oder Kura 
und bedeutet „Schildkröte"". Nun ist der Kopf der Schildkröte, sowohl beim 
Malayen als auch beim Chinesen, der Ausdruck für den Penis, besonders der 
^lans penis, wie man bei uns auch wohl vom „Vögelchen"" (holländisch 
,vogeUje*') spricht. „Kwee Tho'* ist im Chinesischen sowohl Kopf der Schild¬ 
kröte als glans penis. Der Tatbestand, daß nun die Schildkröte ihren Kopf 
und runzeligen Nacken unter ihr Schild zurückziehen kann, suggeriert den 
Mechanismus, der beim Koro so gefürchtet ist, und hat ihm den Namen ge¬ 
geben. Diese Auffassung wurde mir durch verschiedene malayisch Sprechende 

IS 

Jong Tho 

Penis Kopf 

= glahs penis 

bestätigt, und obwohl sie wahrscheinlich nur auf einer Volksetymologie be¬ 
ruht, ist sie eigenartig genug, um hier angeführt zu werden. 

Die Untersuchung einer Erscheinung, die sowohl psychologisch als ethno¬ 
logisch von großer Bedeutung ist, hat vierzig Jahre nach der ersten schrift¬ 
lichen Darstellung einige Fortschritte gemacht, wenn auch noch viele Fragen, 
hauptsächlich über die ethnographische Verbreitung der SÄooÄ-/o>^g-Krank- 
heit und des Koro, unbeantwortet geblieben sind. 

Im Zusammenhang hiermit steht die Frage, ob der Gebrauch des sogenann¬ 
ten Penisstäbchens, welches in den Gegenden, die seit alters her stark unter 
chinesischem Einfluß stehen, sehr populär ist, mit dem Glauben an den sich 
zurückziehenden Penis zu tun hat: Mit anderen Worten, ob diese Stäbchen 
ursprünglich Vorbeugungsmittel zur Verhinderung eines derartigen Vorganges 
sind. 

Unsere Gedanken weisen uns um so eher in diese Richtung, als die anderen 
Auslegungen über die Bedeutung dieser Penisstäbchen unbefriedigend sind. 
Speziell die, daß das Penisstäbchen den Geschlechtsgenuß der Frau steigern 
solle, wie man sagte: augendam in coitu mulierum voluptatem'^ oder zur 

Verhütung der Päderastie diene, sind sicherlich unrichtig. 

Es ist wohl zu glauben, daß ein kleiner Stab {adia^ empalang, oetang) von un¬ 
gefähr 4 cm Länge, mit abgerundeten Spitzen, die kaum aus der Glans penis 
herausragen, einen erhöhten Reiz beim Koitus hervorrufen kann; es ist aber 
unmöglich, daß Instrumente, die weit aus dem Penis hervorstehen und mit 
scharfen Spitzen und Ecken versehen sind, von denen manchmal sogar zwei 



Kwee Tho 
Schildkröte Kopf 
*glans penis 













256 P. M. van Wulfften-Palthe 


vertikal durch den Penis gebohrt sind, überhaupt einen Koitus ohne ernst¬ 
liche Verletzungen der Vaginaschleimhäute gestatten. 

Sowohl Schrieke als Kleiweg de Zwaan® bezweifeln denn auch diese 
Ansicht über das Wesen der Penisstäbchen. Kleiweg de Zwaan führt eine 
magische Bedeutung an, während Schrieke die ursprüngliche Bedeutung der 



Abb. 4. Penisstab (aus Kleiweg de Zwaan, loc. cit.) 

■perjoratio penis in der Verwundung (Mutilation) des Genitales sieht (als 
„psychical technic to ■neutralise the evil energies at puberty“)', zu vergleichen also 
mit der Zirkumzision und mit der Durchlöcherung der Lippen, Ohrlappen 
und der Nase. 

Dies würde wohl die Perforation erklären, jedoch nicht den hindurchge¬ 
stochenen Stab, der — und dies ist in diesem Zusammenhang von großer 
Bedeutung — nach Gutdünken aus dem Penis entfernt werden kann. Wenn 



Abb. 5. Scharfgespitzter Federkiel durch die glans penis (aus Hovorka, loc. cit.) 

wir dann weiter noch sehen,^ daß die kleinen Stäbe während einer Reise und 
bei der Arbeit durch große Stäbe mit Knöpfen und verzierten Ecken oder 
durch scharf gespitzte Federkiele (Abb. 4 und 5) ersetzt werden, dann ist es 
ziemlich klar, daß diese Stäbe wenigstens mit der Steigerung des Geschlechts¬ 
gefühles nichts zu tun haben, und es gewinnt hierdurch die Hypothese an 

6 ) Kleiweg de Zwaan, Over de penisstaafjes der Inländers. Ned. Tydschr. v. Genees- 
kunde II® 1920. 

7) Hovorka u. Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin II, p. 179. Stuttgart, Stecker 
und Schröder, 1909. 






























Koro 


257 


Wahrscheinlichkeit, daß diese großen Stäbe oder Federkiele (die beim Koitus 
wieder durch einen kleinen ,,palang'' ersetzt werden) ursprünglich als ein 
zweckmäßiges Mittel gebraucht wurden, um das Zurückziehen des Penis zu 
verhindern. 

Daß die Stämme, bei denen diese Penisstäbe benützt werden, von dem ur¬ 
sprünglichen Zweck nichts mehr wissen, wenigstens sich hierüber nicht 
den verschiedenen Forschern gegenüber geäußert haben, ist 
keineswegs verwunderlich. 

Während ungefähr acht Jahren habe ich nach der Bedeutung und nach dem 
Vorkommen von Koro gefragt, aber niemand, kein Chinese und kein Einge¬ 
borener, wußte mir hierüber etwas zu sagen. Erst bis ich selber alles genau 
wußte und mit ihnen hierüber sprach, tauten sie auf, und dieselben Leute, die 
früher „von nichts gewußt hatten*^, berichteten mir nun mit einem verlegenen 
Lächeln haarfein alle Einzelheiten, obgleich es deutlich war, daß sie eigentlich 
nicht gerne hierüber sprachen, weil solche Themen doch „magisch‘‘ gefährlich 
und deswegen „tabu"‘ sind. 














Der Mechanismus der Depersonalisation 

Von 

Bdmund Bergier und Ludwig Eidciberg 

Wien 

Die bisher von sechs Wiener AutorenSchilder, Hartmann, Nunberg, 
Reik, Federn, Sadger, vorliegenden analytischen Arbeiten über Depersona¬ 
lisation haben, trotz wichtigen Beiträgen zum Problem, den Mechanismus 
der Krankheit teils als nicht aufhellbar festgestellt, teils Erklärungen geliefert, 
die zueinander in Widerspruch stehen. Eine Zusammenfassung der zitierten 
Arbeiten erscheint überflüssig, auch beabsichtigen wir nicht, gegen dieselben 
zu polemisieren. Wir begnügen uns damit, unseren Beitrag zu liefern, wobei 
jeder von uns eine ausführliche Krankengeschichte publiziert. Die analytische 
Kasuistik der Depersonalisation ist sehr unzulänglich. Sonderbarerweise gibt es, 
von einer Ausnahme (Sadger) abgesehen, keine analytische Krankengeschichte 
von Depersonalisationsfällen. Leider ist auch die S a d g e r sehe Kranken¬ 
geschichte bloß bedingt verwertbar, da sie, obwohl sie 1928 erschien, die 
metapsychologische Strukturierung der Persönlichkeit nicht berücksichtigt. 
Was von den übrigen Autoren veröffentlicht wurde, entstammt entweder 
ihrer voranalytischen Zeit (Schilder), ist rein psychiatrisch deskriptiv 
(Hart mann), begnügt sich mit kurzen, manchmal bloß wenige Zeilen 
umfassenden Andeutungen (Nunberg, Reik) oder verzichtet gar völlig 
auf Kasuistik. Ferner halten einzelne Autoren in ihren kasuistischen Mitteilun¬ 
gen chronisch zwei völlig disparate Probleme nicht genügend auseinander: die 
echte Depersonalisation, eine Krankheit sui generis, und die am Anfang oder 
im Verlaufe fast jeder Neurose vorkommenden passageren Depersonalisations¬ 
zustände. Auf diesen Übelstand hat Sadger mit Recht verwiesen. Der Un- 
geklärtheit des Problems und der Differentialdiagnose entspricht auch die 
düstere Prognose: Die Autoren enthalten sich entweder jeder Meinungsäuße¬ 
rung oder halten die Krankheit für unheilbar. 

I Die große Unsicherheit im Problem der Depersonalisation — denn dies ist 
u. E. das Charakteristikum des gegenwärtigen Standes der analytischen Deper- 
I sonalisationslehre — ist wohl der Tatsache zuzuschreiben, daß Freud zu dieser 
Frage niemals Stellung genommen hat. 

Die vollständigste Beschreibung der Depersonalisation stammt von 
Schilder: 

„Den Depersonalisierten erscheint die Welt fremd, eigentümlich, unheimlich, 
wie traumhaft... Auch die taktilen Eigenschaften der Gegenstände scheinen merk- 
würdig verändert. Aber die Patienten klagen nicht nur ü ber die Veränderung der 

1) Vortrag, gehalten in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 6 . Dezember 1933. 

2) Die interessanten Arbeiten von Searl und Oberndorf, die erst nach unserem 
Vortrag im Int. Journal of Psycho-Analysis erschienen, konnten hier nicht mehr berück¬ 
sichtigt werden. 


































Der Mechanismus der Depersonalisation 


259 



^(T’ahrnehmungsfunktion, sondern auch das Vor stellen erscheint verändert. Die 
Vorstellungen erleben die Patienten als blaß, farblos, manche geben sogar an, sie 
könnten überhaupt nicht vorstellen. Das Gefühlsleben zeigt gleichfalls schwere 
j Störungen. Die Patienten klagen, sie könnten weder Lust noch Unlust empfinden, 

Liebe und Haß sei in ihnen erstorben. In ihrer Persönlichkeit fühlen sich die 
Kranken grundlegend verändert und ihre Klagen gipfeln darin, sie seien sich selbst 
fremd geworden, sie seien wie tot und leblos wie Automaten. Die objektive Unter¬ 
suchung derartiger Kranker ergibt nicht nur die Intaktheit ihrer Wahrnehmungs¬ 
leistungen, sondern auch die Intaktheit ihres Gefühlslebens. Alle diese Patienten 
zeigen natürliche Affektreaktionen in Mimik, Haltung u. dgl. mehr, so daß wohl 
kaum angenommen werden kann, ihre Gefühle fehlten.“ („Entwurf zu einer 
Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage“, S. 38 ff.) 

Wir lassen vorerst zwei Krankengeschichten folgen und gehen dann auf den 
Mechanismus der Depersonalisation ein. 

Fall I. 

(Mitgeteilt von Eid eiberg) 

l Es handelt sich um eine jetzt 33jährige Patientin, die vor vier Jahren in meine 

' Ordination kam. Sie hatte damals bereits eine siebenjährige Analyse (mit längeren 

Unterbrechungen) hinter sich, die sie bei drei verschiedenen Analytikerinnen ab¬ 
solviert hatte. Ihre letzte Analytikerin schickte sie zu mir, weil sie der Ansicht war, 
daß in diesem Falle die Fortführung der Behandlung durch einen Analytiker des 
anderen Geschlechts vorteilhaft sein könnte. 

Die Patientin hat vor sieben Jahren die analytische Behandlung wegen quälender 
Gefühle von Entfremdung und „Gefühllosigkeit“ aufgesucht. Sie hatte vorher eine 
Reihe von Behandlungen bei einigen Nervenärzten ohne jeden Erfolg durchgemacht. 
Die analytische Behandlung führte zu einer Besserung, ohne aber die Heilung zu 
bringen. Die Besserung hielt nur während der Zeit der Behandlung an, jede Unter- 
] brechung derselben brachte eine Verschlimmerung. Die Patientin konnte ohne 
Analsye nicht auskommen und wünschte deren Fortsetzung. In der ersten Besprechung 
bat sie mich, die Geduld nicht zu verlieren und sie in Behandlung zu behalten, sie 
fühle sich wegen ihrer „schlechten Fortschritte“ sehr schuldbewußt, besonders ihrer 
i letzten Analytikeriin gegenüber, die sich so viel Mühe mit ihr gegeben habe und sie 
sicher nicht fortgeschickt hätte, wenn sie nicht jede Hoffnung und das Vertrauen zu 
ihrer Arbeitslust verloren hätte. 

Ich beruhige die Patientin, indem ich ihr erkläre, daß der Vorschlag eines Wech¬ 
sels des Analytikers nicht ein Zeichen der Abneigung ihrer Analytikerin ist, sondern 
daß bisweilen aus technischen Gründen die Fortsetzung bei einem Analytiker des ande¬ 
ren Geschlechts für die Behandlung vorteilhaft sein kann. Ihre Angst, daß ich die 
Geduld verlieren werde, sei unbegründet; ich verspreche ihr, sie, solange sie mit¬ 
arbeitet, nicht wegzuschicken. 

An die vorangegangenen Analysen erinnert sich Patientin nur spärlich und weiß 
auch über die analytische Terminologie wenig. Im Widerspruch zu ihrer sonstigen In¬ 
telligenz ist ihr Interesse und ihr analytisches Wissen geradezu kümmerlich. Ich 
' hätte zunächst erwartet, daß die Patientin das Material der vorangegangenen 

( Analysen als Widerstand verwerten würde, doch zeigte es sich bald, daß sie fast 

» alles, was in ihrer Analyse besprochen wurde, wieder vollkommen verdrängt hatte. 

^ Die Patientin machte sich deswegen schwere Vorwürfe und bemühte sich, durch er- 

^ höhte Aufmerksamkeit ihre Lücken auszufüllen. Es zeigte sich aber bald, daß diese 

Patientin, die meist alle möglichen Dinge gut auffassen und richtig schildern konnte. 


1 














26 o 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


dann wieder vollständig versagte und einen geradezu dementen Ein¬ 
druck machte. Sie verstand nicht, was ich sagte, sie merkte sich keine Deutung, es 
gab keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Stunden. 

Zunächst gab die Patientin ihrer Schwerhörigkeit die Schuld. Eine fachärztliche 
Untersuchung ergab eine leichte Herabsetzung des Hörvermögens auf einem Ohr, 
die zu gering war, um ins Gewicht zu fallen; zudem konnte die Patientin beob¬ 
achten, daß das schlechte Hören bloß zeitweise, besonders häufig während der 
Ordination, auftrat. Damit war die Möglichkeit einer psychischen Auffassung der 
Schwerhörigkeit bzw. ihrer Verstärkung gegeben. Ich meinte, daß wir in der 
Analyse vielleicht auch dieses Übel beseitigen werden, forderte aber die Patientin 
auf, vorläufig mich aufmerksam zu machen, wenn ich zu leise sprechen sollte. 
Die Analyse dieses Symptoms gelang erst viel später, und so mußte ich lange Zeit 
sehr laut sprechen. Es zeigte sich aber bald, daß auch mein lautes Sprechen die 
Schwierigkeiten nicht beseitigte. Die Patientin meinte vorerst, daß ich auf sie böse 
sei, da ich so laut spreche, „man ist immer böse, wenn man laut spricht“. Mein 
Hinweis, daß dieses laute Sprechen nur wegen ihrer Schwerhörigkeit erfolge, nützte 
wenig. Mehr Erfolg hatte ich, als ich den Versuch machte, diese Empfindung der 
Patientin zu deuten und ihr sagte, daß offenbar ein unbewußter Grund für diese 
Empfindung vorhanden sein müsse, wenn sie trotz meinen Versicherungen, die sie 
vernunftmäßig akzeptierte, das Gefühl, ich sei böse, nicht loswerde. Vielleicht sei der 
Sachverhalt so, daß sie im Unbewußten böse sei und dieses Gefühl auf mich pro¬ 
jiziere. Nach heftigen Widerständen gelang es, diese Deutung teilweise durchzu¬ 
setzen, wobei die Patientin erinnerte, daß sie diesen Mechanismus in ihren letzten 
Analysen lange Zeit gedeutet bekam, auch damals partiell akzeptierte und wieder 
vergaß. Ich habe im späteren Verlauf der Analyse die Erfahrung gemacht, daß 
diese Patientin Deutungen, die eingehend besprochen und verstanden wurden, immer 
wieder vollständig vergessen konnte, wobei nicht etwa die erlebnismäßige Erfassung, 
sondern auch die rein intellektuelle Erkenntnis verlorenging. In diesem Zeitpunkt 
der Analyse habe ich diese Eigenschaft der Patientin nicht gebührend fingeschätzt 
und glaubte, daß ich durch häufiges Wiederholen, „Durcharbeiten“, mit dieser 
Schwierigkeit fertig werden würde. Ich habe erst nach längerer Zeit erkannt, daß 
dies nicht der Fall war und daß diese Eigenschaft der Patientin die Analyse nicht 
nur in die Länge zog, sondern die Erreichung eines Resultates unmöglich zu machen 
drohte. Die Patientin fühlte sich in der Analyse wohl und hatte keine Lust, sie 
aufzugeben. Dieses Sichwohlfühlen war ihr aber unbewußt, real bedeutete die 
Analyse ein großes materielles Opfer, außerdem machte sich die Patientin schwere 
Vorwürfe, daß sie meine Zeit in Anspruch nahm, ohne vorwärtszukommen. 

In diesem Zeitpunkt wurde in dem Amt, in dem die Patientin angestellt war, ein 
höher qualifizierter Posten frei, und die Patientin fragte mich, ob sie sich um ihn be¬ 
mühen solle. Da sie sehr ehrgeizig war, hätte sie ihn gerne angenommen, fürchtete 
aber, daß sie infolge ihrer Krankheit den Anforderungen dieser neuen Stelle nicht ge¬ 
wachsen sein werde. Ich widersprach dem Kleinmut der Patientin, und tatsächlich 
bekam sie nach einigen Wochen den Posten, der viele Bewerber hatte. Es gelang 
ihr auch, trotz gewisser Anfangsschwierigkeiten, festen Fuß zu fassen und ihre kom¬ 
plizierte Arbeit zur Zufriedenheit ihres Chefs zu verrichten. Die Patientin schrieb 
diesen äußeren Erfolg der Psychoanalyse zu und meinte, daß sie früher nicht im¬ 
stande gewesen wäre, diese Arbeit zu tun. Es war tatsächlich bemerkenswert, daß 
die Patientin, die in der Analyse zeitweise so wenig auffassen konnte, so vieles 
vergaß und so wenig verstand, außerhalb der Analyse eine verantwortungsvolle Ar¬ 
beit leistete. 























Der Mechanismus der Depersonalisation 


261 


Dieser Erfolg war für mich und für die Patientin ein Grund für die Fortsetzung 
der Analyse, die weiter vorwiegend zusammenhanglos und äußerst monoton vor 
sich ging. 

Zu den wenigen Dingen, die die Patientin sich aus der früheren Analyse gemerkt 
hatte, gehörte die Erkenntnis, daß ihre Neurose durch Verdrängung von Sexualvor¬ 
stellungen entstanden war. Wenn sie gesund werden wolle, müsse sie diese Ver¬ 
drängungen rückgängig machen und sich zu ihrer Sexualität bekennen. Vor dem Be¬ 
ginn ihrer Analyse bei mir, während der Ferienunterbrechung bei ihrer letzten 
Analytikerin, hatte die Patientin den Versuch gemacht, ein Verhältnis anzuknüpfen, 
um auf diese — natürlich sinnlose — Weise ihre Fleilung zu beschleunigen. Es kam 
zu einem Koitus; die Patientin wurde defloriert, hatte aber weder einen Schmerz ver¬ 
spürt, noch eine Sexualerregung empfunden. 

Ich will nun kurz einige Daten aus der Lebensgeschichte der Patientin mitteilen. 
Sie war die einzige Tochter eines kleinen Beamten. Ihre Erziehung war ziemlich 
streng, sei litt besonders unter dem Geiz des Vaters, der seiner Frau wegen jeder 
geringfügigen Mehrausgabe schwere Vorwürfe machte. Die Patientin war eine gute 
Schülerin, mußte aber alles auswendig lernen und hatte deshalb zu ihrem Wissen kein 
rechtes Vertrauen. Ihre Krankheit begann in ihrem 16. Lebensjahr im Anschluß an 
eine Verliebtheit in einen Kollegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Patientin den 
Männern keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Nun trat ein eigentümliches Ge¬ 
fühl von Entfremdung auf; die Welt erschien ihr unwirklich, wie 
durch einen Schleier, außerdem stellte sich ein Zwang ein, sich selbst 
zu beobachten, der äußerst unangenehm empfunden wurde. Die Patientin glaubte 
damals, daß es sich dabei um Nachwirkungen ihrer gewollten Beschäftigung mit 
geistigen Dingen handelt. Sie war immer sehr ehrgeizig gewesen und hätte gerne 
viel gelesen und viel gegrübelt. Sie meinte, daß ihr das intensive Denken über 
geistige Probleme geschadet habe, und gab diese Gewohnheiten auf. Nach einigen 
Wochen besserte sich ihr Zustand, um allmählich vollkommen zu verschwinden. 
Auch die Verliebtheit in den Kollegen klang ab. Nach etwa einem Jahr machte 
sie die Bekanntschaft eines Mannes, der ihr gut gefiel und der sich um ihre Hand 
bewarb. Nun traten plötzlich das Entfremdungsgefühl und der Zwang zur Selbst¬ 
beobachtung wieder auf, und zwar viel stärker als vor einem Jahr. Dieser Zustand 
verschwand nicht mehr, seine Intensität wechselte aber; während der lange dauernden 
Analysen war er vorwiegend auf die Analysestunden beschränkt. 

Ich glaube die Stellungnahme der Patientin zu ihrer Defloration am besten zu 
illustrieren, wenn ich mitteile, daß die Patientin trotz großem Blutverlust nicht nur 
keinen Schmerz verspürt, sondern auch Zweifel an der vollzogenen Entjungferung 
hatte. Erst eine fachärztliche Untersuchung verschaffte ihr die Gewißheit. 

Die Patientin hatte nach diesem zwecklosen und mißlungenen Versuch, „sich zur 
Sexualität zu bekennen“, wieder den Mut verloren und wollte von der Sexualität 
nichts mehr wissen. Nach einiger Zeit verliebte sich die Patientin dennoch in einen 
Kollegen; als sie sich aber entschloß, mit ihm eine Beziehung anzuknüpfen, stellte es 
sich heraus, daß er impotent war. Die Patientin war geneigt, diese Impotenz als 
durch sie verschuldet darzustellen, erst als bei ihrem Freund ihr unverständliche Auf- 
regungszustänide auftraten, erkannte sie, daß auch er ein Neurotiker war und schickte 
ihn in die Analyse. 

Aus technischen Gründen, die mit der Analyse der Patientin zusammenhingen, 
wurden die Beziehungen zwischen beiden bald unterbrochen, wodurch eine unan¬ 
genehme Komplikation entstand. Da wir die Hoffnung hatten, daß diese Unter¬ 
brechung von nicht allzu langer Dauer sein werde, müßten wir uns mit ihr ab- 

Int. Zeitschrift f. Psychoanal37se, XXI /2 


x8 














202 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


finden. Für die Analyse der Patientin bedeutete dieser Zwischenfall einen starken 
Rückfall. Die positive Beziehung zum Analytiker verschlechterte sich, sie warf mir 
vor, daß ich ihren Freund ihr vorziehe, daß ich vor allem seine Interessen vertrete. 
Ihre Einstellung wurde mißtrauisch, zweifelnd. Alle diese Vorwürfe, die die Patientin 
mir machte, wären vom analytischen Standpunkt nur als wünschenswert zu bezeich¬ 
nen, da ich jetzt in der Lage war, ihre negative Einstellung zu mir ausführlich zu 
besprechen, nicht wünschenswert war aber, daß mit dem Auftreten dieser Wider¬ 
stände die Analysierbarkeit der Patientin wieder problematischer wurde, da ihre Ver¬ 
ständnislosigkeit sofort erheblich zunahm. 

Selbstverständlich wurde diese Verständnislosigkeit, die von der Patientin als an¬ 
geborene Dummheit und Minderwertigkeit aufgefaßt wurde, eingehend gedeutet. An 
zahlreichen Beispielen wurde der Patientin immer wieder gezeigt, daß sie die Dinge, 
die sie nicht verstanden hatte, an anderen Tagen leicht begriff, dann wieder konnte 
man auf Grund der Einfälle, die sich nachher einstellten, zeigen, daß die Deutung 
verstanden wurde. Natürlich begnügte ich mich nicht damit, der Patientin mit rein 
logischen Argumenten zu beweisen, daß ihre Dummheit nicht starr und unbeeinflu߬ 
bar sei, sondern zeigte ihr gleichfalls die unbewußte Seite dieses Symptoms, also ihre 
Aggression, die sie gegen mich auslebte, und die Selbstbestrafung durch die Selbst¬ 
herabsetzung und die Verlängerung der analytischen Behandlung. Viel, viel später, 
nachdem die Patientin die Deutung ihrer Verständnislosigkeit als eines neur¬ 
otischen Ab Wehrmechanismus akzeptiert hatte, passierte ihr folgendes Ver¬ 
sprechen: Sie wollte sagen „ich reagiere schon wieder mit Dummheit“, sagte aber 
„ich regiere mit Dummheit“. Durch mich auf dieses Versprechen aufmerksam 
gemacht, verstand sie es nicht, obwohl es so durchsichtig war; erst eine ausführ¬ 
liche Besprechung der Bedeutung der Worte reagieren und regieren führte zum Er¬ 
folg. Sie teilte mir eben nicht nur verbal mit, daß sie dumm sein wollte, sie agierte 
es gleichzeitig. So störend dieses Symptom für den Fortschritt der Analyse war, 
mußte man es trotzdem in Kauf nehmen. Nachträglich stellte es sich heraus, daß 
anschließend an die Verständnislosigkeit auch die Depersonalisation zunahm, die 
Patientin hörte nicht, was ich sprach, und verlor jeden Kontakt. ^ 

Ich hatte die Erfahrung gemacht, daß die Patientin verhältnismäßig noch am 
besten auf mein ruhiges freundliches Benehmen reagierte und setzte so die Behand¬ 
lung fort. Nach einigen Wochen besserte sich ihr Zustand ein wenig, und ich be¬ 
nutzte das „freie Intervall“, um die Analyse ergiebiger zu gestalten. Es gelang in 
dieser Zeit, ein Symptom, das der Patientin zeitweise sehr lästig fiel, das Erröten, 
teilweise zu analysieren. An diesem Symptom konnte der Patientin zunächst der 
Zusammenhang zwischen psychisch und organisch demonstriert werden. Sie sah 
hier, daß psychische Gründe, Haß und Scham, eine körperliche Veränderung er¬ 
zeugen können. Auf Grund von Träumen und Einfällen wurde eine psychische 
Analogie mit der Erektion des Penis hergestellt, und wir begannen uns mit der Ein¬ 
stellung der Patientin zum Penis zu beschäftigen. Der Penisneid wurde für kurze 
Zeit sichtbar, doch wurde die weitere Deutung durch Wiederauftreten von schwerer 
Verständnislosigkeit unterbrochen. 

Ich sagte der Patientin, daß ihr Widerstand sich der Verständnislosigkeit bedient 
und, abgesehen von den bereits besprochenen Gründen, noch die neurotischen Be¬ 
friedigungen verteidigt. Da ihr wegen ihrer Krankheit normale Befriedigungen nur 
spärlich zur Verfügung stehen, hat sie begreiflicherweise wenig Lust, die neuroti¬ 
schen aufzugeben. Es liegt im Wesen der analytischen Behandlung, daß sie die nor¬ 
malen Befriedigungsmöglichkeiten schafft, nachdem sie vorher die neurotischen zer¬ 
stört hat. So muß die Analyse vom Patienten gewissermaßen eine Art von Kredit 



































Der Mechanismus der Depersonalisation 


263 


verlangen, indem er auf Befriedigungen verzichtet, bevor er noch neue bekom- 
men hat. ^ ^ ^ 

Technisch schwierig war es, der Patientin zu zeigen, daß ein Symptom, das ihr 
lästig war, auch gleichzeitig eine unbewußte Befriedigung bedeuten konnte. Die 
Möglichkeit einer Befriedigung leugnete die Patientin energisch, und als ich ihr an 
Hand von Einfällen und Träumen das Vorhandensein einer Befriedigung im Symptom 
doch zeigen konnte, akzeptierte sie dies bloß vernunftmäßig. Dieselbe Schwierigkeit 
wiederholte sich bei der Besprechung ihrer Benommenheit, die sie als ein „Erstarren 
und Versulzen“ des Kopfes schilderte und die ebenfalls ein Konversionssymptom 
darstellte. Erst nachdem wir ihre Onanie durchbesprochen hatten, begann die 
Patientin an der Klitoris zu onanieren und mit dem Auftreten von bewußten Sexual¬ 
erregungen wurde ihr die früher gedeutete Befriedigung beim Erröten plausibler. 

Zweifellos war für das Zustandekommen dieser Erkenntnis die Tatsache maßgebend, 
daß sie jetzt nicht gezwungen war, mir analytischen Kredit einzuräumen, sondern 
daß die Analyse ihr zuerst eine neue Befriedigung gab. 

Die Patientin hatte die Gewohnheit, oft vor oder nach der Stunde das Klosett in 
meiner Wohnung aufzusuchen. Ich machte sie aufmerksam, daß dies auch einen 
unbewußten Grund haben müsse. Meine Vermutung wurde sofort energisch abge¬ 
lehnt, doch konnte die Patientin nicht verhindern, daß wir jetzt einiges über ihr 
Verhältnis zum Stuhl erfuhren. Unter anderem erz^lte sie, daß sie häufig obstipiert 
sei, daß sie gewöhnlich nur dann Stuhldrang bekomme, wenn sie keine Zeit zur Ent¬ 
leerung habe, und häufig „nachhelfen‘‘ müsse. Unter „Nachhelfen“-müssen verstand 
die Patientin folgende Handlung: Bei der Defäkation blieb die Kotstange in der 
Ampulle stecken, und es war unmöglich, die Defäkation zu beenden. Die Patientin 
mußte mit der Hand auf die Dammgegend drücken, und dann erst gelang die Stuhl¬ 
entleerung. Nun machte ich der Patientin den Vorschlag, auf dieses Zeremoniell zu 
verzichten, um durch die Versagung die Bedeutung dieser Handlung plastisch zu er¬ 
kennen. Diesen Vorschlag nahm die Patientin ungern an, und es zeigte sich bald, 
daß sie nicht in der Lage war, ihn auszuführen. Sie begründete es damit, daß ohne 
„Nachhelfen“ die Defäkation nicht erfolgen werde, und als ich ihr darauf den Rat 
gab, eine Obstipation zu riskieren, erklärte sie, daß das Nachhelfen noch eine zweite 
Bedeutung habe: sie schütze auf diese Weise ihren Mastdarm, der beim Durchtritt 
des Stuhles zerrissen werden könnte. 

Bei dieser Bemerkung der Patientin fiel mir der manuelle Dammschutz ein; da die 
Patientin medizinisch unwissend war, wagte ich nicht, diese Deutung auszusprechen. 

Da die Patientin für dieses Symptom keine Krankheiteinsicht hatte, war ich gezwun¬ 
gen, zunächst vernunftmäßig diese Handlung als ein neurotisches Geschehen zu 
isolieren, indem ich ihr mitteilte, daß andere Menschen hier ein anderes Verhalten 
zeigen. Im Anschluß an Träume und Einfälle konnte ich nun die unbewußte Be¬ 
deutung der Kotstange als Penis aufzeigen. Da sie ähnliche Mechanismen in der 
Analyse der Konversionssymptome gesehen hatte, war der Widerstand diesmal ge¬ 
ringer. Nach dieser Deutung konnte die Patientin einigemal, ohne nachzuhelfen, 
defäzieren, wobei sie ein angenehmes Gefühl hatte. Als ich ausführlicher auf das 
„Angenehme“ einging, meinte die Patientin, daß sie, wenn sie nicht nachhelfe, ein 
reines Gewissen habe. Nun mußte sie zugeben, daß das Nachhelfen offenbar eine 
verbotene geheime Lustquelle war. 

Die Entlarvung des Penis als Kotstange gestattete, das Problem des Penisneides in 
die Besprechung wieder aufzunehmen. Langsam beginnen wir diesen Kotpenis, der 
an Stelle des Penis „geschaffen“ wurde, als das anale Kind zu erkennen. Nun kommt 
eine Erinnerung an ein Lexikon, in welchem die Patientin zum ersten Male eine ge- 1 

18* ; 


1 


I 

















264 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


naue Darstellung der Geburt beschrieben fand. Das Wort Dammschutz taucht 
auf, sie erinnert sich nun genau an die Beschreibung des manuellen Dammschutzes, 
der vorgenommen wird, um den Damm während der Geburt vor dem Zerreißen zu 
schützen. Sie erkennt, daß das Nachhelfen eben jenen Dammschutz bedeutet, von 
dem sie seinerzeit gelesen hat. Das Auftauchen dieser Erinnerungen ist von starken 
Affekten begleitet, die Klarheit der gefundenen Lösung erzeugt eine große Befriedi¬ 
gung. Das Symptom verschwindet nun für längere Zeit, taucht aber im weiteren 
Verlaufe der Analyse noch gelegentlich, wenn auch nicht so hartnäckig, auf. 

Die Tatsache, daß die Patientin während ihrer Menstruation keine Obstipation und 
immer guten Stuhl hatte, scheint eine Bestätigung dieser Deutung zu sein. Die Men¬ 
struation bewies ihr, daß sie nicht schwanger war. 

Nach dieser Deutung versuche ich, auf Grund der vorhandenen Einfälle und 
Träume zu deuten und eine Verbindung zum Ödipuskomplex herzustellen. Man 
könnte glauben, daß die Patientin jetzt bereits reif für dieses Problem geworden ist. 
Wieder tritt aber als Widerstand Verständnislosigkeit ein. In dieser Zeit habe ich 
mein Wartezimmer neu eingerichtet und die Patientin reagiert darauf mit Haß und 
Neid, wobei ihr nur ein Bruchteil dieser Gefühle bewußt wird. Als ich sie bei den 
anschließenden Besprechungen auffordere, auf die Gefühle, die sie verspürt hatte, 
einzugehen, kann sie fast nicht sprechen. Einmal sagt sie, daß sie geglaubt hat, daß 
ich mit meiner Frau im Nebenzimmer verkehrt habe, die Patientin ist aber nicht 
imstande, diese Vorstellung zu schildern. Eingehend befragt, sagt sie „Sie gingen 
durch das Zimmer ..Es ist nicht möglich, mehr darüber zu erfahren, diese Worte 
sind die Darstellung, die sie geben kann. 

Die Analyse erfährt erst eine gewisse Belebung, als die Patientin die zeitweise unter¬ 
brochenen Beziehungen zu ihrem Freund auf nimmt und nach einer Zeit eine gewisse 
Befriedigung beim Verkehr erlebt. Sie ist nun wieder bereit, ihre Verständnislosig¬ 
keit ZU lockern, und wir wenden uns ihrer Schwerhörigkeit zu. Es zeigt sich jetzt, 
daß sie nicht nur schlecht hört, sondern auch das Gehörte zeitweise nicht versteht. 
Bei genauer Betrachtung finde ich, daß sie einen leicht verständlichen Satz, von d^m 
ein Wort ihr entgangen ist, nicht rekonstruieren kann. Darauf aufmerksam gemacht, 
berichtet sie, daß sie solche Rekonstruktionen nicht machen will und das Bedürfnis 
hat, jedes Wort einzeln und deutÜch zu hören. Tritt das nicht ein, zieht sie sich 
zurück. Diese Schwerhörigkeit trat nicht nur in der Analyse, sondern auch im 
Bureau auf, und die Patientin, die sehr ehrgeizig war, litt sehr darunter, daß sie zeit¬ 
weise nicht imstande war, ein Diktat richtig aufzunehmen. Von mir aufmerksam 
gemacht, daß man im allgemeinen beim Zuhören nicht unbedingt jedes Wort hören 
muß, und aus dem Zusammenhang ständig das undeutlich Gehörte ersetzt, muß sie 
ihr Verhalten rechtfertigen. Es ergibt sich die Frage, weshalb ihr Verhalten anders 
ist, und warum sie es nicht ändert, obwohl die tägliche Realität ihr das Irrationale 
dieses Benehmens anzeigt. Dieser Zustand tritt besonders dann ein, wenn die Patien¬ 
tin den Wunsch hat, gut zu hören; sie verspürt eine Erregung und ein leichtes Sumqien 
im Ohr. Vielleicht sei dieses Summen auch ein störendes Agens. Nun tauchen Er¬ 
innerungen an die Mutter auf, die ein ausgezeichnetes Gehör hatte und deswegen 
von der Patientin schon in der frühesten Kindheit beneidet wurde. Sie erinnert sich, 
daß sie längere Zeit mit dem Finger im Ohr bohrte, wobei sie ein angenehmes Gefühl, 
zugleich aber auch große Angst hatte, durch dieses Bohren taub zu werden. Allmäh¬ 
lich gelingt es, dieses Spiel als eine Art von Onanie zu entlarven, wobei auf Grund 
des Materials klar wird, daß es sich hier vorwiegend um anale Phantasien handelt. 
Schließlich erzählt die Patientin, daß sie ihren ganzen Körper immer sehr pflegt und 







































Der Mechanismus der Depersonalisation 


265 


sauber hält, mit Ausnahme der Ohren. Sie fürchtet sich, die Ohren gründlich 
zu reinigen, weil sie sie dabei verletzen könnte. . 

Nun wird der Versuch gemacht, einen Zusammenhang zwischen dieser kindlichen 
Form der Onanie und ihren Schwierigkeiten beim Hören herzustellen. Die Schwierig¬ 
keiten sind vorerst eine Strafe für ihre kindliche Onanie, ferner entstehen sie durch 
Sexualisierung des Ohres. Die Erregung und das Summen, das sie bei diesen Ge¬ 
legenheiten verspürt, sind Zeichen, daß das Ohr im erhöhten Ausmaße mit Libido, 
und zwar phallischer und analer Qualität, besetzt wird. Sie versucht die Worte auf¬ 
zunehmen, die die Bedeutung eines Penis und einer Kotstange haben. Von diesem 
Gesichtspunkt betrachtet, verstehen wir, warum sie jedes Wort genau hören will, und 
warum sie das undeutlich Gehörte aus dem Zusammenhang. nicht ergänzen will. Sie 
will ja nicht — im rationalen Sinne — hören, sondern mit den Worten 
onanieren. In dieser Maske gelingt es den verpönten phallischen und 
analen Triebregungen durchzukommen. Da das Ohr nicht für diese Art der Be¬ 
friedigungen gebaut ist, entstehen selbstverständlich die erwähnten Störungen. 

Nach diesen Deutungen bessert sich der Zustand der Patientin, und es hat den An¬ 
schein, als ob damit die Verständnislosigkeit endgültig zerstört worden wäre. Es er¬ 
hebt sich die Frage, ob diese Verständnislosigkeit und die Depersonalisa¬ 
tion nicht ein und dasselbe bedeuten. 

Während der Behandlung ist die Depersonalisation wesentlich geringer geworden, 
und ich möchte sie nun ganz kurz mit den Worten der Patientin, die ich einem 
Brief entnehme, den sie vor der Behandlung bei mir an ihre Analytikerin gerich\:et 
hat, skizzieren: „Hoffe, daß Sie doch noch einmal mit mir sprechen werden, sodaß 
ich daraufhin aus der S t a r rh e i t und Gefühllosigkeit herausgerissen werde... Sie 
meinten, es wäre nicht nötig, daß man, wie ich es tun zu müssen glaubte, sich ständig 
auf sich selbst besinnen müsse, immerfort in dieser krampfhaften Konzen¬ 
tration leben müsse... All die kleinen Freuden, welche mir noch verblieben, Be¬ 
obachtungen, welche ich über Xs Verhalten mir gegenüber anstellte, mein Bemühen, 
doch nicht so ganz wertlos vor ihm zu stehen, alles verschwindet langsam 
wie planmäßig, nur die Starre wird immer größer, immer unerträg¬ 
licher.“ So erscheint uns die Depersonalisation im wesentlichen durch drei Daten 
charakterisiert: Gefühllosigkeit, gesteigerte Selbstbeobachtung und 
Fremdheitsgefühl. Gefühllosigkeit oder Gefühlskälte finden wir bei vielen Patien¬ 
ten, entweder als hysterische Frigidität oder zwangsneurotische Affektlosigkeit, die 
Gefühllosigkeit unserer Patientin unterscheidet sich schon phänomenologisch von ihnen. 
Sie tritt akut auf oder nimmt wenigstens akut an Intensität zu und ist mit intensiver 
Angst verbunden. Der Kontakt mit der Außenwelt wird hier plötzlich ganz erheb¬ 
lich unterbrochen, die Patientin hat beinahe ein Weltuntcrgangserlebnis. Die Welt 
erscheint ihr verändert, wie durch einen Schleier. Sie versucht, diesen unerträglichen 
Zustand abzubrechen. Die Patientin schreibt in dem Brief: „Nein, die Sehnsucht nach 
Erlösung ist es sicher auch, die mich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen läßt, und 
was liegt näher, als bei meinem Hunger nach Liebe, bei der festen Überzeugung, nur 
durch Liebe gerettet werden zu können, in dieser Hinsicht alles zu versuchen? Was 
liegt näher, als der Gedanke, sich dadurch von dieser unüberwindlichen Angst vor 
allem Sexuellen zu befreien, daß man sich endlich an die Dinge heranwagt?“ 

Ich dachte zunächst, daß die Veränderung der Welt, von der die Patientin be¬ 
richtet, durch phallische und vor allem anale Konversionen in den Sinnesorganen zu¬ 
stande kommt, und daß die Patientin dann sekundär, durch die Veränderung in den 
W’ahrnehmungen frappiert, eine gesteigerte Selbstbeobachtung einschalte. Da aber 
durch die Besprechung dieser Mechanismen die Depersonalisation nicht geändert wird. 












266 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


kann meine Vermutung über die Bedeutung der analen Konversionen nicht zutref¬ 
fen, bzw. als Erklärung nicht ausreichend sein. Anschließend an ein verräterisches Ver¬ 
sprechen der Patientin, durch das sie ihren Kollegen ihre Beziehung zu X anzeigte, 
wenden wir uns dem unbewußten Exhibitionismus zu. Es gelingt nun, das 
häufige Erröten der Patientin damit in Zusammenhang zu bringen. Eine Reihe be¬ 
reits bekannter Symptome wird jetzt gedeutet. So litt Patientin an einer heftigen 
Angst vor dem Überraschtwerden beim Koitus, obwohl die reale Gefahr nur minimal 
war. Sie fürchtete, die Wohnungspartei des unteren Stockwerkes könnte das Bett¬ 
krachen hören und daraus Schlüsse auf ihren Lebenswandel ziehen. In Angstträumen 
sah sie die Eltern, die außerhalb Wiens wohnten, plötzlich zurückkehren und sie mit 
ihrem Freunde überraschen. Als ich der Patientin nun den Wunsch, ertappt zu wer¬ 
den, zeige und den Zusammenhang mit den Erinnerungen an kindliche Exhibitionen 
herstelle, begegne ich heftigem Widerstand. Das Material ist aber so reichlich, daß 
sie intellektuell die Deutung akzeptieren muß. Wir besprechen jetzt die Tatsache, 
daß sie so häufig vor oder nach der Stunde bei mir das Klosett aufsuchen muß. Sie 
erzählt, daß sie im Bureau sehr häufig das Klosett aufsucht, wobei sie an den Dienern 
Vorbeigehen muß. Als sie in ihrem 14. Lebensjahre den Entschluß gefaßt hatte, den 
Konkurrenzkampf mit den Männern aufzunehmen und geistig zu arbeiten, ging sie 
häufig mit einem Buch in einen öffentlichen Garten und hatte dabei den Wunsch, 
die Leute sollten sie wegen ihrer ernsten Lektüre bewundern. Sie wählte immer 
ernste Bücher, war aber nicht imstande, sie zu verstehen. Sie machte sich wegen 
dieser Heuchelei Vorwürfe und hatte deswegen schwere Minderwertigkeitsgefühle. 
Auch heute fällt ihr das Lesen von Büchern schwer, sie gerät dann in einen eigen¬ 
tümlich benommenen Zustand, in dem sie nichts versteht. 

Wir hatten bis dahin schon einigemal vom Penisneid der Patientin gesprochen, 
ohne sie vollkommen zu überzeugen. Sie berichtet jetzt, daß sie bei ihrem letzten 
Beisammensein mit ihrem Freund ein stolzes und angenehmes Gefühl hatte, als sein 
Penis in ihrer Hand groß und steif wurde. Wenn man nun endgültig auf den Penis 
verzichten muß — sagt die Patientin —, wenn die Analyse die Möglichkeit, einen 
neurotischen Ersatzpenis zu haben, durch Zerstörung der Konversionen aus der Welt 
schafft, erscheint diese Befriedigung der einzige Ausweg. Man besitzt zwar keinen 
Penis, der erigierbar wäre, aber die Macht, den Penis eines Mannes in Erektion zu 
setzen. Nun versteht sie ihren Haß gegen einen Bureaukollegen, der eine eigene Na¬ 
menstafel auf seiner Kanzleitür bekommen hat, während sie sozusagen namenlos 
bleibt. Es wird auch klar, weshalb sie von Niederlagen ihres Freundes träumt, obwohl 
sie bewußt das Beste für ihn ersehnt. In diesem Zusammenhänge wird nun die Ge¬ 
wohnheit der Patientin, zeitweise stehend zu urinieren, besprochen. Jetzt er¬ 
kennt die Patientin, daß sie durch diese Geste das Fehlen des Penis leugnet, daß sie 
sich wie ein Knabe benimmt. 

Bei der Adresse eines Briefes an ihren Freund vergißt sie das Wort „junior“, ob¬ 
wohl sie bereits die Erfahrung gemacht hat, daß die Briefe ihres Freundes, der den¬ 
selben Vornamen hat wie sein Vater, an den Vater weitergeleitet werden. Sie ist 
darüber zunächst maßlos verärgert und schiebt die Schuld auf den Vater des 
Freundes. Da das Ausmaß ihrer Erregung in keinem Verhältnis zu diesem Vorfall 
steht, und sie ihre eigene Schuld nicht sieht, gelingt es nur mühsam, eine vernunft¬ 
mäßige Betrachtung zu erzwingen, dann aber muß sie die verdächtige Affektgröße 
zugeben und auch hier ihre Exhibitionswünsche erkennen. Es ist selbstverständlich 
unmöglich, in dieser Arbeit den Gang der Deutungen sowie das Material und die Wi¬ 
derstände der Patientin ausführlich mitzuteilen. Ich beschränke mich darauf, einige 
Beispiele zu bringen. 



















Der Mechanismus der Depersonalisation 


267 


Da die Depersonalisationszustände im allgemeinen viel seltener und vor allem viel 
schwächer geworden sind, ersuche ich die Patientin, diese, soweit sie jetzt noch auf- 
treten, genauer zu beschreiben. Patientin erzählt nun, daß sie frühmorgens zum 
Fenster ihres Zimmers gehe und dort längere Zeit in der Betrachtung ihrer Kakteen 
verbringe. Dabei befinde sie sich in einem eigentümlich benommenen Zustande. Es 
fällt ihr ein, daß sie bei dieser Gelegenheit mangelhaft bekleidet ist und daß man sie 
aus der gegenüberliegenden Wohnung sehen kann. Diese Wohnung wird von einem 
Ehepaar bewohnt, das die Patientin früher sehr interessiert hat, da der Ehemann 
während ihrer Kindheit als Untermieter bei den Eltern der Patientin wohnte. Beim 
Fenster stehend, exhibitioniert sie, wobei die Benommenheit, in der sie sich dabei be¬ 
findet, sie der Verantwortung für diese Handlung enthebt; gleichzeitig kann sie in 
die gegenüberliegende Wohnung schauen und das Ehepaar, das die Vorhänge nicht 
zuzieht, beobachten. Die Kakteen bedeuten anale Kinder. Der Exhibitionismus 
und das Voyeurtum sind der Patientin unbewußt. Zum Unterschied 
von Depersonalisationszuständen zu Beginn der Analyse, hat die Patientin jetzt 
kaum ein Angstgefühl, die Intensität der Selbstbeobachtung ist wesentlich geringer, 
sie kommt sich fremd vor und hat ein Gefühl der Benommenheit. Die ganze Situation 
erscheint ihr wie ein Traum. Bald entsteht aber ein Unbehagen, die Patientin be¬ 
kommt leichte Schuldgefühle: „Weil ich so verloren bin.“ Erst bei diesem Punkt 
gelingt es ihr, den Zustand abzubrechen. Wir verstehen den Unterschied, da die 
Patientin, die vor der Analyse sexuell abstinent gelebt hat, oder beim Versuche zu 
koitieren vollkommen unempfindlich blieb, jetzt bereits ein befriedigendes Verhältnis 
hat. Auch sonst ist die Zahl der Befriedigungen, die ihr zugänglich sind, viel größer. 
Ihre Arbeit, die Beziehung zu Kollegen, Bekannten und Eltern hat sich ganz wesent¬ 
lich gebessert. So erscheint das Bedürfnis nach dieser Art von Ersatzbefriedigung be¬ 
deutend schwächer und deshalb ungefährlicher. 

Die Erinnerungen aus der Kindheit, die einen Zusammenhang mit dem 
Voyeurtum und der Exhibition erkennen lassen, waren im wesentlichen 
analer Natur. Zwei davon möchte ich kurz erwähnen. Im fünften Lebensjahr hatte 
die Patientin folgendes Spiel: Nach Rückkehr des Vaters aus dem Amt lief sie ins 
Schlafzimmer und versteckte sich in der Welse, daß sie ihren Kopf unter das Bett 
steckte und das Gesäß in die Höhe hob. Die Eltern lachten darüber, insbesondere 
über ihre Dummheit, die in dem Glauben Ausdruck fand, es genüge, das Gesicht 
zu verstecken, um unsichtbar zu bleiben. Obwohl die Patientin sehr bald die Erfahrung 
machte, daß diese Art des Versteckens unvollkommen war, blieb sie bei diesem Spiel, 
weil es den Eltern gefiel und sie freundlich lachten. Der wahre unbewußte Grund 
war, daß die Patientin ein Mittel fand, ihre anale Exhibition sozusagen mit 
Bewilligung der Eltern zu befriedigen. Die Erfahrung, daß die „Dummheit“ 
besonders dann, wenn sie von änderen als echt angenommen wird, zur Befriedigung 
gewisser verbotener Wünsche nützlich sein kann, war zweifellos für die im späteren 
Leben der Patientin auftretende „Dummheit“ beispielgebend. 

Die zweite Erinnerung stützt sich auf eine Erzählung der Mutter, die anläßlich 
der Besprechung der Empfindlichkeit der Patientin dieser folgende Szene aus ihrem 
5. bis 6. Lebensjahr berichtete. Sie saß in der Küche auf dem Nachttopf, als plötzlich 
ein Freund der Familie die Wohnung betrat. Sie erschrak heftig und wurde leichen¬ 
blaß, die Mutter konnte sich diese besondere Schamhaftigkeit des kleinen Kindes 
nicht erklären. 

Auf Grund der Erfahrungen, die wir bei den Deutungen der neurotischen Abwehr- 
mechanismen bereits gemacht haben, ergibt sich folgender Zusammenhang: Die Trieb¬ 
regung im Es, die nach Befriedigung verlangt, ist anale Exhibition. Das Ich setzt sich 



















268 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


zur Wehr und verhindert die direkte Befriedigung durch Verdrängung. Da der Trieb¬ 
wunsch damit nicht erledigt wird, sondern immer wieder den Versuch macht, ins 
Bewußtsein vorzustoßen und seine Befriedigung zu erzwingen, reagiert das Ich auf 
diesen Angriff mit Angst und versucht wirksamere Maßnahmen zur Abwehr der an¬ 
stößigen Triebregung zu finden. Vom Über-Ich unterstützt, versucht das Ich zu¬ 
nächst, durch genaue Selbstbeobachtung im Sinne einer verschärften Kontrolle einen 
Damm gegen das Es aufzurichten. Das Betrachten und Beobachten wird für die Ab¬ 
wehrfunktion mobilisiert und beherrscht nun die Funktionen des Ichs. Es gelingt 
auf diese Weise tatsächlich, den exhibitionistischen Triebwunsch abzuwehren. Wie 
die Erfahrung in diesem Falle zeigt, ist die Patientin allen Exhibitionswünschen in 
weitem Bogen ausgewichen. Wenn das der ganze Sachverhalt ist, so wäre dies ein 
Fall von vollkommener Abwehr einer Es-Strebung, wie wir sie bei den anderen neu¬ 
rotischen Mechanismen, die ja immer Kompromißbildungen sind, nicht kennen. 
Bei genauer Analyse scheint aber dieser Standpunkt nicht gerechtfertigt. Es 
zeigt sich nämlich, daß der Exhibitionswunsch nur in seiner ursprünglichen 
Form abgewehrt wurde und in einer Maske das Ich überrumpelt hat. Das ge¬ 
steigerte Beobachten und Betrachten, das im Dienste des Über-Ichs 
zur Abwehr des Es erfolgt, stellt sich gleichzeitig der libidinösen 
Befriedigung der Schaulust zur Verfügun.g. Diese Befriedigung ist analog 
den anderen Befriedigungen bei den neurotischen Symptomen dem Patienten unbe¬ 
wußt. Erst ihre Aufdeckung, Deutung und Bewußtmachung eröffnet einen Zugang 
zum Verständnis und damit zur Zerstörung der Depersonalisation. Die Erfahrung, daß 
jedes neurotische Gebilde eine Kompromißbildung ist und gleichzeitig Anteile der 
Befriedigung und Abwehr enthält, wird neuerlich bestätigt. Analog den anderen 
neurotischen Abwehrmechanismen finden wir neben der bewußten Unlust eine unbe¬ 
wußte Lust, die mit der Befriedigung eines Partialtriebes verbunden ist. 

Schließlich ist auch hier, analog wie bei den Sexualisierungen, bei den übrigen 
neurotischen Abwehrmechanismen, die Funktion vom rationalen Standpunkt gestört. 
Die gesteigerte Selbstbeobachtung bei der Depersonalisation zeitigt Ergebnisse, die 
dem Ich fremd erscheinen und von ihm abgelehnt werden. Verglichen mit den Er¬ 
gebnissen von Selbstbeobachtungen Nichtdepersonalisierter, die uns als wertvolle 
künstlerische oder wissenschaftliche Beiträge zur Erforschung der Realität des Psy¬ 
chischen dienen, sind die Funde und Angaben der Depersonalisierten kümmerlich. 

Wir müssen nun die Wandlung des zunächst exhibitionistischen Triebanspruches 
untersuchen, um die daraus resultierenden Fragen zu beantworten. Wir sagten, daß 
der ursprüngliche Triebwunsch zuerst vom Ich abgewehrt wurde und dann in einer 
Maske das Ich überrumpelt hat. Wie war nun diese Maske beschaffen? Anstatt des 
Exhibitionismus trat Voyeurtum auf. Es erhebt sich die Frage, wieso diese 
Veränderung erfolgen konnte. Wir wissen aus Freuds „Triebe und Triebschicksale“, 
daß die Wendung ins Gegenteil eines der vier Triebschicksale bedeuten kann. An 
Stelle des Wunsches, seinen Körper zu zeigen, um auf diese Weise libidinöse Befriedi¬ 
gung zu erleben, trat der Wunsch auf, den Körper eines anderen zu beschauen. Unter 
Festhaltung dieser spezifischen Form der Befriedigung entwickelte sich beim Patienten 
die erwähnte Wendung. 

Ferner aber wurde dieser so veränderte Triebwunsch dem Ich nicht bewußt. Ich 
meine, daß auch das Voyeurtum hier nur unbewußt und nicht in der Form einer 
Perversion befriedigt wurde. Nach diesen Deutungen beginnen wir den merkwür¬ 
digen Verlauf der Depersonalisationszustände zu verstehen, die während der analyti¬ 
schen Behandlung vorwiegend auf die Stunde beschränkt waren. Gewiß spielt dabei 
die Realitätsanpassung insofern eine Rolle, als ja die Patientin sehr bald erkennen 




















Der Mechanismus der Depersonalisation 


269 


mußte, daß die Ordination des Analytikers der verhältnismäßig ungefährlichste Ort 
für das Auftreten des Symptoms war, und daß eine . Einschränkung auf die Stunde ein 
weiteres Arbeiten im Büro ermöglichte. Entscheidend aber für das Auftreten von De¬ 
personalisationszuständen vorwiegend während der Stunde scheint die analytische 
Situation zu sein, die ja für die Exhibitionswünsche der Patientin besonders geeignet 
war« Hier konnte sie mit der Begründung, daß es sich dabei um ihre Heilung handle, 
die sonst vom Ich verpönten Exhibitionswünsche befriedigen. 

Da sie schon in der Pubertät an Stelle des zu gefährUchen körperlichen Exhibitio¬ 
nismus den Versuch gemacht hatte, auf geistigem Gebiete diese Befriedigung zu ge¬ 
nießen, konnte sie hoffen, in der Analyse auf ihre Kosten zu kommen. Weshalb 
konnte aber dieser Vorsatz nicht ausgeführt werden, und weshalb war die Patientin 
nicht imstande, in der Analyse über sexuelle Fragen zu sprechen, obwohl sie in 
diesem Falle das strenge Ich mit dem Hinweis, daß es sich um eine vernünftige, der 
Gesundung dienende Maßnahme handelt, beruhigen konnte? Wir wissen, daß die 
Patientin es nicht tun konnte, und daß beim Versuche, es zu tun, die Depersonali¬ 
sation auftrat. Wir können diese Frage beantworten, wenn wir uns klar machen, daß 
sich die rationale Begründung (der Hinweis auf die Heilung) lediglich an das Ich 
wendete. Das Über-Ich aber, das ja in direktem Kontakt mit dem Es steht, wurde 
und konnte durch diese Maßnahme nicht getäuscht werden. Als das getäuschte 
Ich den Versuch machte, den maskierten Exhibitionswünsch zu befriedigen, erhob 
das Über-Ich Einspruch und zwang das Ich zur Abwehr. Daß diese Abwehr nicht 
vollkommen gelang, sondern daß unter dem Bilde der Depersonalisation doch eine 
partielle Befriedigung der verpönten Triebregung zustande kam, entspricht unseren 
Erfahrungen, dk wir in der Analyse der übrigen Abwehrmechanismen gemacht 
haben. 

F a 11 11 . 

(Mitgeteilt von Bergler) 

Eine 30jährige Rumänin — eine Sängerin — kommt in Analyse in einem Stadium 
völliger Verzweiflung: ohne reale Ursache hatte sie knapp vorher dem Manne, mit 
dem sie zusammen lebte, mitgeteilt, sie hätte ihn einige Male sexuell mit anderen 
Männern hintergangen. Der Zeitpunkt dieser Mitteilung fiel mit dem Stagnieren der 
aus einer Erbschaft stammenden Ertragsteile zusammen. Dieses Vermögen hatte seit 
sieben Jahren stets der Mann, in einer für die Patientin undurchsichtigen Weise, ver¬ 
waltet, wobei er die jeweilige Situation so zu konstellieren wußte, daß jeder 
Groschen, den die Patientin von ihm bekam, als Gnade, respektive Opfer hingestellt 
wurde. Er machte sie sozusagen „mit ihrem eigenen Gelde glücklich“, wie die Pa¬ 
tientin es in einem späteren Stadium der Analyse drastisch ausdrückte, und ver¬ 
geudete den Rest des Geldes am Spieltisch. Da das Vermögen fast zur Gänze er¬ 
schöpft war, war es für die Patientin — wie sich später herausstellte — klar, daß die 
Mitteilung der diversen Männerbeziehungen zum Bruch führen werde, das heißt in 
der Sprache der Patientin ausgedrückt: „Es war mir undeutlich bewußt, daß der 
Mann mich mit Recht hinauswerfen werde.“ Ebenso wenig bewußt, wie die dahinter 
lauernde unbewußte Selbstbestrafungstendenz, war der Patientin, daß ihre Mitteilung 
eine kindisch-kindliche Belastungsprobe der Liebe des Mannes sein sollte. 

Die Reaktion des Mannes auf das „Geständnis“ war vorerst eine tiefe narzißtische 
Kränkung (offenbar das einzige echte Gefühl, dessen dieser kalt-rechnende Mensch 
fähig war) und — der Entschluß, die Patientin einer analytischen Kur unterziehen zu 
lassen, wozu die zeitweilige Übersiedlung in eine Großstadt gehörte. Dieser Be- 
’^eis von „Edelmut“ steigerte die unbewußten Schuldgefühle der Patientin sehr be- 














270 Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


deutend — war sie doch in der ganzen Zeit vor dem Geständnis völlig auf Bestraft¬ 
werden (Hinauswurf) eingestellt — und führte zu wilden Verzweiflungsausbrüchen 
mit ernsten Suizidideen. Im unromantischen Licht der Realität besehen, bedeutete der 
Entschluß des Mannes, der Patientin nicht sofort die Türe zu weisen, lediglich das 
Ergebnis einer Rechenaufgabe: werden die noch vorhandenen Werte (die Reste der 
Erbschaft) in absehbarer Zeit zu realisieren sein oder nicht? Da der Mann zu einem ] 
positiven Ergebnis kam, drapierte er sich mit der Maske des verstehenden, über¬ 
legenen Mannes, bewilligte (mit dem Gelde der Patientin) die Analyse, nahm aber die 
sexuellen Beziehungen mit der Patientin nicht mehr auf. Einen geringen Anteil an 
seinem Entschluß hatte auch eine gewisse Gene vor den Verwandten, die dem Mann -j 
stets materielle Motive unterschoben und ihn nun, im Zeitpunkt der offensichtlichen ' 
Krankheit der Patientin, erst recht verurteilt hätten, wenn er sie sofort verlassen 
hätte. 

Die Patientin schilderte ihren Zustand vor dem Geständnis vorerst so, als sei sie 
das Opfer einer unheimlichen,^ imperativ drängenden Kraft, die zur Mitteilung ihrer 
„Schandtaten“ zwang. Dieser „Geständniszwang“ (Reik) war kombiniert mit einem ' 
Gefühl völliger Desorientiertheit bezüglich der eigenen Gefühle; „Ich habe mich ‘ 
überhaupt nicht ausgekannt, zweifelte an meinen Gefühlen zu Valeriu (Vorname des 
Mannes), ja ich zweifelte, ob ich überhaupt empfinden kann. Alles war plötzlich so 
unwirklich, so schal, so unwahrscheinlich. Waren meine Empfindungen unecht oder ; 
echt? War ich ich selbst? Was war mit mir los? Die Unmöglichkeit, diesen Zu- . 
stand, den ich als komplette Verrücktheit empfand, irgend jemandem auseinander- ; 
zusetzen, ohne für verrückt gehalten zu werden, trieb mich zur Verzweiflung.“ ! 

Diese spärlichen Angaben, unter Schluchzen und Verzweiflungsausbrüchen vorge- : 
bracht, ergaben in den ersten Tagen der Kur den Verdacht auf weit vorgeschrittene ; 
Depersonalisationsgefühle, wobei es aber vorerst unklar blieb, ob es sich um 1 
passagere, auf dem Höhepunkt eines aktuellen Konfliktes ja häufig auftretende : 
Entfremdungsgefühle handelte, oder ob eine komplett ausgebildete, seit : 
Jahren, ja Jahrzehnten vorhandene Depersonalisation sensu strictiori vorlag. Die ^ 
Patientin war so verzweifelt, daß die Entscheidung vorerst infolge der Unkenntnis 
des Materials unmöglich war. Für die zweite Möglichkeit — Depersonalisation — 
sprach das sonderbare Verhalten dieser Frau: minutenlang dauernde, kühlste, un¬ 
persönlichste Selbstbeobachtung mit minutiöser Schilderung ihrer Zustände wech- , 
selten mit rasanten Verzweiflungsausbrüchen und Zuständen stumpfer Verständnis- : 
losigkeit in der Kur derart ab, daß, wenn man nicht an eine Simulantin denken j 
wollte, der Gedanke schwerster Depersonalisation sich unmittelbar aufdrängte. Doch , 
war ein Eingehen auf diesen Symptomenkomplex unmöglich, da die Patientin jeden | 
derartigen Versuch mit den Worten „Also halten Sie mich doch für verrückt“ durch ' 
fassungsloses Schluchzen vereitelte. 

Die Familiengeschichte der Patientin ergab, daß sie einen älteren Bruder und zwei 9 
jüngere Geschwister hatte (eine Schwester und einen Bruder). Der ältere Bruder war I 
ein leichtlebiger Mensch, der große Teile des gemeinsamen Vermögens in geradezu 
läppischer Weise vergeudet hatte, der jüngere Bruder war ein Abklatsch des älteren; 9 
beide waren geistig bedeutungslose, sehr narzißtische, in Luxus aufgewachsene, für |H 
den Lebenskampf vollkommen untaugliche, sehr neurotische Menschen. Die Schwester H 
der Patientin war eine energische, unbewußt stark homosexuelle, herrschsüchtige fl 
Frau. Beide Elternteile waren tot: die Patientin war das Lieblingskind des Vaters ge- H 

3) Vgl. bezüglich des Gefühls des Unheimlichen eine Arbeit des Verfassers „The Psycho- 
Analysis of the Uncanny“, Int. Journal of Psa., XV, 1934, S. 215—244. 











































Der Mechanismus der Depersonalisation 


271 


wesen. Der Vater, ein Selfmademan, hatte die Patientin durch sein Verhalten sehr an 
sich fixiert; er hatte z. B. ^die Gewohnheit, unter der Maske von „Klapsen“, das heißt 
zärtlich gemeinten Berührungen, das Kind abzutasten. So nahm er die Patientin seit 
ihrer frühesten Kindheit bis zum 18. Lebensjahr morgens ins gemeinsame Bett der 
Eltern, wobei die Patientin, wie eine amnesierte Erinnerung ergab, ständige Angst 
hatte, sie könnte an das Genitale des Vaters „anstreifen“. Als die Brüste der Patientin 
sich in der Vorpubertät zu entwickeln begannen, tippte der Vater immer wieder auf 
die Brustwarzen und neckte sie mit ihrer großen Brust. Ein anderes beliebtes Spiel 
des Vaters bestand darin, sich an die Patientin, die über einen Tisch gebeugt war, 
heranzuschleichen und ihr einen zärtlichen Schlag auf die Gesäßbacken zu verab¬ 
reichen. Es wurde klar, daß die Patientin dieses Spiel immer wieder provozierte (so 
wunderten sich z. B. weder Vater noch Patientin, daß sie sich so häufig in der 
immerhin ungewöhnlichen Lage des Über-den-Tisch-gebeugt-Seins befand; dem Vater 
war lediglich unverständlich, wieso die Patientin ihn heranschleichen hörte und im 
„entscheidenden Augenblick“ eine halbe Wendung zum Vater machte), und daß ihre 
Angst im Bett, das Genitale des Vaters zu berühren, einem verdrängten unbewußten 
Wunsch entsprach und zugleich einem Signal des Ichs vor der Triebgefahr. 

Die Mutter der Patientin war eine stets vergrämte, asketische Frau, von der die 
Patientin zum Teil ihre unbewußten Identifizierungen im Über-Ich herleitete, die 
ausgesprochen sexualitätsfeindlich waren. Die Patientin betrachtete alles Sexuelle als 
eine ausgesprochene „Schweinerei“, ekelte sich offiziell davor. Sie war frigid, es 
bestand Klitoriserregbarkeit, bei der Onanie hatte sie Klitorisorgasmus. 

An die Kindheitsonanie kann sich die Patientin nicht erinnern, Pubertätsonanie 
wird zugegeben, die Phantasien sind verdrängt. Dagegen werden exhibitio- 
nistische Aktionen mit hysterischer Aufmachung schon aus früher Kindheit er¬ 
innert: „zufällig“ wurde sie nackt überrascht, Freunde sahen sie „zufällig“ sich ent¬ 
kleiden usw. Bewußt war lediglich eine starke Hemmung der Exhibition, wobei die 
rückwärtigen Körperpartien und die Brüste mit besonderen Verboten belegt waren; 
der Genitalpartien schämte sich die Patientin etwa im Badetrikot weniger als der 
Gesäßbacken. Es war für die Patientin unmöglich, ohne Bademantel in öffentlichen 
Bädern zu erscheinen. Die Brüste schnürte die Patientin stets bis zum Ausmaß des 
kaum Erträglichen zusammen. Ähnlich stand es mit den Voyeurwünschen der Pa¬ 
tientin; bewußt stärkste Hemmung, bei unbewußtem Schwelgen in diesen Phantasien. 
Wenn eine Vergleichsskala möglich wäre, ergäbe sie, daß die Exhibition eher vom 
Über-Ich der Patientin pardonniert war als das Voyeurtum. 

Die „sexuellen Verirrungen“ (das Wort stammt von der Patientin) bestanden in 
folgendem; Valeriu, der um 10 Jahre älter war, vernachlässigte sie; aus „Langeweile“ 
und „um sich an ihm zu rächen“, hatte die Patientin im Laufe der Jahre eine Reihe 
von sexuellen Beziehungen angeknüpft, die alle folgendem Typus entsprachen; der 
Mann war entweder wesentlich jünger als die Patientin oder entstammte einer sozial 
tiefstehenden Schicht. Bei allen diesen Beziehungen war die Patientin frigid, genoß 
im wesentlichen ihre Erniedrigung („Dirne“) und Angstlust in der Vorstellung, 
Valeriu könnte ihr daraufkommen. Als dies nicht der Fall war, schritt sie, wie früher 
hervorgehoben, zum Geständnis. 

Auf meine Frage, wie «ich die Patientin bei diesen Männern verhalten hatte, und 
wie sie sich selbst den Gegensatz in ihrem Wesen, das von Prüderie bis zur völligen 
sexuellen Ungebundenheit oszilliere, erkläre, antwortete sie; „Das ist ja das Sonder¬ 
bare; ich darf entweder nichts Sexuelles tun oder — alles. Normalerweise ekle ich 
mich vor dem Sexuellen, bin Dame, sexuell völlig ablehnend, bin über jeden Witz 
shockiert, dann wieder mache ich alles, was die Männer von mir verlangen. Im letz- 











272 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


teren Falle bin ich aber nicht ich selbst, bin ein Automat, heuchle Gefühle, lasse alles 
mit mir geschehen, komme mir völlig fremd vor, bin wie ein anderer Mensch, den 
ich dabei beobachte. Das ist ja das Furchtbare; in diesen Zuständen bin ich eigentlich 
ein schlechtes Frauenzimmer, eine Dirne. Jeder Mann, der mich anspricht, kann mich 
haben.“ Die weitere Exploration ergab, daß die Erkenntnis, eine „Dirne“ zu sein 
(das Wort war deplaciert, die Patientin stellte sich unter einer Dirne eine Person vor, 
die sich sexuell auslebt; nur daran dachte die Patientin bei ihrer Selbstbeschimpfung, 
das Pekuniäre spielte keine Rolle), den psychischen Zusammenbruch, der dem Ge¬ 
ständnis vorausging, zum Teil mitveranlaßt hatte. Dazu kam, daß die Patientin den 
Zustand der Entfremdung, in dem sie, wie ,sich später herausstellte, fast 
ständig lebte und der in den Perioden des Sich-als-Dirne-Fühlens stärker hervor¬ 
trat, als „Wahnsinn“ empfand. „Ein normaler Mensch fühlt sich selbst, ich aber bin 
eine Maschine, alles an mir ist Fieuchelei, ist unecht. Ich kann nie mit Bestimmtheit 
sagen, ob mich etwas stört — etwa das freche Verhalten eines Mannes —, oder ob 
es mir gleichgültig ist. Wenn ich nachzudenken beginne, komme ich zu keinem Re¬ 
sultat, bekomme Angst und dann kommt das Schrecklichste; ich verliere mich voll¬ 
kommen, löse mich sozusagen in meine Bestandteile auf, bin nicht da. Dabei beob¬ 
achte ich mich ständig. Dann kommt eine dumpfe Verzweiflung über mich, es gibt 
keinen anderen Ausweg als den Selbstmord.“ 

Wie typisch in solchen Fällen, behauptete die Patientin vorerst, sie könne weder 
lachen noch weinen, weder sich freuen noch überhaupt empfinden. Diese Angaben 
werden — nach langen analytischen Bemühungen — von der Patientin dahingehend 
eingeschränkt, daß ihr Gefühlsleben „möglicherweise“ intakt sei, sie ihre Gefühle 
bloß nicht als solche empfinde, das heißt, als „richtig und echt“ anerkenne. Objektive 
Intaktheit der Gefühle und Empfindungen bei Perzeption des Gegenteils war, ver¬ 
bunden mit der Anklage der „Dummheit“, eines der stärksten Argumente der 
Patientin für ihren supponierten „Wahnsinn“. 

Die Besprechung der psychischen Genese ihrer Entfremdungszustände, wobei vor¬ 
erst die Depersonalisation als Abwehrmechanismus gegen unbewußte sexuelle 
Wünsche aufgezeigt wurde, bewirkten mit der parallel laufenden positiven Üb>r- 
tragungssituation eine Beruhigung der Patientin. Es wurde der Patientin gezeigt, daß 
sie sich nicht bloß des Verdrängungsmechanismus und der hysterischen 
Symptombildung (die Patientin hatte eine Reihe konversions)hysterischer Sym¬ 
ptome, siehe später) bediente, sondern auch die Entfremdung in den Dienst ihrer 
Abwehr stellte. Die Durchbesprechung der Ödipussituation in der Übertragung 
löste starke Widerstände aus, wobei sich die Patientin als der geschicktesten Verteidi¬ 
gungswaffe des Arguments der „Dummheit“ als einer konstitutionellen Gegebenheit 
— und der seit der Kindheit bestehenden Depersonalisation bediente. 

Ein weiteres Eingehen auf die Depersonalisationszustände ergab, daß diese mit 
Sicherheit seit der Pubertät der Patientin zu registrieren waren. Das erste Erleben der 
Depersonalisation war nicht sicherzustellen. Das scheinbar auslösende Moment war 
jeweils sehr verschieden: die Depersonalisationszustände traten entweder ohne äußere 
Ursache, also als Antwort auf intrapsychische Vorgänge auf, oder ausgelöst durch ein 
Wort mit sexuellem Doppelsinn, den Anblick eines Mannes, vielfach genügte schon 
das Sichöffentlichzeigen (Spaziergang, Gesellschaft). Regelmäßig waren aber die De¬ 
personalisationszustände bei jedem sexuellen Beisamniensein mit einem Mann. Alle 
diese „auslösenden Ursachen“ erwiesen sich als agents 'provocateufs^ der gemeinsame 
Nenner lautete; sexuelle, d. h. verbotene Phantasie oder Realität. 

Welches war nun der Inhalt der sexuellen Phantasien aus der Ödipuszeit? Es ergab 
sich, daß neben genitalen vorwiegend anal-exhibitionistische Tendenzen;] 

























Der Mechanismus der Depersonalisation 273 


vorherrschend waren. So weigerte sich die Patientin z. B. zeitweise in der Analyse, 
auf dem Sofa zu liegen. Sie schlug vor, sie werde mit dem Rücken zum Arzt sitzen. 
Als Begründung gab die Patientin an, sie sei sofort „stärker“ entfremdet, wenn sie liege. 
Die Deutung der sexuell perzipierten Übertragungssituation (Vergewaltigungswünsch, 
genitale Exhibition und Abwehr derselben) führte zu keiner Änderung im Verhalten 
der Patientin. Es zeigte sich, daß sie in ihrer selbstproponierten Lage in der Analyse 
(Sitzen mit dem Rücken zum Analytiker mit starker Vorwärtsbeugung) die früher 
erwähnte Situation mit dem Vater wiederholte, in welcher der Vater der über den 
Tisch gebeugten Patientin von rückwärts zärtliche Schläge auf die Gesäßbacken gab. 
Somit exhibierte die Patientin anal, da der Rücken den Blicken preisgegeben war, 
und erwartete die anale Vergewaltigung. Dabei ersparte sie sich Schuldge¬ 
fühle: sie war für das, was „hinter ihrem Rücken“ vorging, nicht verantwortlich, 
vermied das Sichzeigen (wobei aber das Sichzeigen wieder lediglich genital gemeint 
war), war völlig passiv (unbewußt faßte sie das Sichniederlegen als sexuellen Kon¬ 
sens auf) und schob für alles und jedes dem anderen die Verantwortung zu. Es be¬ 
stand also bei der Patientin quasi eine offizielle genitale und eine inoffizielle 
anale Sexualität. Letztere war das Ziel der Wünsche, wobei sich aber die Patientin 
erst durch das genitale Alibi die gewünschte anale Befriedigung ge¬ 
stattete. Man hatte bei der Patientin auch sonst — z. B. bei ihren Schilderungen 
des Koitus — den Eindruck, daß sie sich unbewußt in ungemein raffinierter Weise 
der Genitalität (an der sie infolge vorwiegend analer Libidowünsche desinteressiert 
war) als Alibi vor ihrem Über-Ich zu bedienen versuchte. So war bei ihr der Koitus 
im wesentlichen — Realitätsanpassung: als sie z. B. eines Tages von einem Manne wäh¬ 
rend des Koitus aüfgefordert wurde, obszöne Worte^ analen und oralen Inhalts aus¬ 
zusprechen, hatte sie ein geradezu „erschütterndes“ Erlebnis, das sie in die degoutier- 
ten Worte faßte: „Also nicht bloß tun, auch sagen soll man solche Schweinereien.“ 
Dabei war der Eindruck nicht abzuweisen, daß das Aussprechen der obszönen Worte 
der Patientin peinlicher war als der Koitus selbst. In Wirklichkeit hatte der Mann, 
der dieses Verlangen stellte, die Patientin, freilich ohne es zu wissen, gezwungen, sich 
zu ihren unbewußten analen und oralen Phantasien zu bekennen, die sie gerade 
hinter der genitalen Hingabe verbarg. 

Die genitale Betätigung hatte dergestalt für die Patientin ein Janusgesicht: 
einerseits verwendete sie sie unbewußt als Rechtfertigung ihrer analen (oralen) 
Wünsche, wobei sie die Fiktion aufrechterhalten wollte, als sei bloß das Genitale 
„sexuell“, anderseits war ihr persönliches Vermeiden alles Genitalen, respektive ihre 
genitale Frigidität eine captatio des Über-Ichs nach der Formel: ich empfinde ja 
nichts dabei, bin also unschuldig; wenn ich trotzdem koitiere, tue ich es, weil der 
Mann es will, und weil Erwachsene eben diese Form der Sexualität nun einmal aus¬ 
üben. Dieses ständige Jonglieren war aber ein Versuch mit untauglichen Mitteln: er 
ging von der Fiktion aus. Anales, Orales, Exhibitionistisches und Voyeurtum seien 
nichts Sexuelles. Da dieser Versuch des Ichs, das Über-Ich zu beschwindeln, mißlang, 
griff die Patientin unbewußt zu anderen Mitteln im Kriege mit ihrem grausamen 
Über-Ich. 

In der Analyse konnte folgende Rekonstruktion des Vorganges beim jeweiligen 
Einsetzen der Entfremdung vorgenommen werden: Scheinbar ohne äußere Ur¬ 
sache (= unbewußte Phantasie) oder durch eine „Nichtigkeit“ provoziert (= Sexuali¬ 
sierung der Realität, meist eine exhibitionistische Verlockung), kam die Patientin in 
einen sonderbaren, mit Angst verbundenen Zustand des „Sichnichtauskennens“, der 

4) Siehe die Arbeit des Verfassers „Über obszöne Worte“. Erscheint in The Psychoanalytic 
Quarterly. — Vorläufige Mitteilung: diese Zeitschrift 1934, S. 112. 
















274 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


sich in Gedanken wie: „Ist alles wirklich?“ „Bin ich ich?“ „Habe ich überhaupt Ge- i 
fühle?“ „Es ist alles so unecht wie im Kino“ widerspiegelte. Diese Meditation in i 
Form von Zweifeln führt zu keinem Ergebnis — „ich werde immer unsicherer“ —, 
die Patientin „verdummt“ und die Angst verstärkt sich. „Verdummung“, so be- 
zeichnete es die Patientin, war ein Zustand, in welchem sie einen geradezu dementen 
Eindruck machte; die einfachsten, ihr sonst leichtverständlichen Zusammenhänge 
wurden unfaßbar, eine psychische Verständigung unmöglich. Parallel damit läuft ein 
chronisches, minutiöses Registrieren eigener Gefühlsregungen, vom Beginn des „An- > 
falles“, respektive Ausbleiben erwarteter Affekte. Dieses mit Angst verbundene 
„Sichnichtauskennen“ mit konsekutiver „Verdummung“ + Selbst¬ 
beobachtung + Angst und Verzweiflung als Abschluß bilden eine Trias, die bei 
der „großen Entfremdung“ (wie die Patientin in späteren Analysestadien ihren Zu¬ 
stand nannte) stets bei der Patientin auf trat; das Ende der Attacke war ein Ver¬ 
zweiflungsanfall, resp. ein dumpfes, hoffnungsloses Dahinbrüten. Doch dui^chlief der 
Vorgang nicht immer die ganze Skala der Trias; manchmal — „die kleine Entfrem¬ 
dung“ — war der Patientin bloß die Selbstbeobachtung, die „Verdummung“, mit ■ 
konsekutiver Verzweiflung bewußt. Die Angst trat bei der großen Entfremdung 
zweimal auf: initial und terminal. Die letztere kombinierte sich mit den den Anfall | 
abschließenden Schuldgefühlen und Verzweiflungsausbrüchen. 

Die Analyse ergab, daß alle drei Glieder der Trias Leistungen des Ichs 
waren und dessen Versuche, das Über-Ich zu kaptivieren, darstellten. Die auf- i 
tauchende anal-exhibitionistische Tendenz wird vom Ich in der Weise abgewehrt, daß 
dieser Trieb wünsch vorerst verleugnet wird. Das „Verdummen“ stellte ein Plädoyer 
an die Adresse des Über-Ichs dar, des Inhalts: „Es ist nicht wahr, daß ich solch einen 
Wunsch habe.“ Das heißt: das „Verdummen“ war ein Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen des 
Sinnes des Wunsches und die intellektuelle Unsicherheit ein Registrieren der Folgen ' 
dieser Abwehr. Dies erklärt auch, weshalb die Patientin immer wieder behauptete, sie 
sei eben tatsächlich dumm. Dieses „Dumm-sein“ war ihre beste Verteidigungswaffe i 
gegen das Über-Ich und — die Analyse, ein unerläßliches Requisit, um überhaupt ■ 
existieren zu können. Die Angst war, wie immer, Signal des Ichs vor der drohenden 
Triebgefahr und Abwehr des unbewußten Wunsches, wirkte also ebenfalls im Sinne ' 
der Triebabwehr. Das Ich geht sogar noch einen Schritt weiter, leistet gewissermaßen 
eine Fleißaufgabe, und beweist dem Über-Ich durch minutiöse Kontrolle seiner selbst, ; 
daß es über seine Regungen wacht, und versucht damit die Strenge des Über-Ichs zu ' 
mildern, etwa nach der Formel: „Ich passe schon selbst auf.“ Zugleich hat aber diese ; 
Leistung des Ichs zur Folge, daß fast das ganze Ich in diesem Aufpassen 
auf sich selbst aufgeht und der übriggebliebene Teil bloß Klagelieder auf den . 
veränderten Zustand des Ichs anstimmen kann. 

Zugleich werden aber in diese Selbstbeobachtung auch Es-Regungen , 
hineingeschmuggelt: der verpönte exhibitiomstische Wunsch kommt in der Form 
des Voyeurtums, des Sichselbstbeschauens, wieder. Freilich bloß in einer Maske: j 
Offiziell ist dieses Selbstbeobachten eine Hilfsdienstleistung für das Über-Ich, ein M 
Versuch, es zu beschwichtigen. Im Effekt dient er aber auch dem Ausleben der ■ 
Voyeurwünsche. Diese Umkehr: Exhibitionismus in Voyeurtum, geht um so leichter ■ 
vor sich, als beide ursprünglich der gleichen Tendenz entspringen: dem Wunsche, 9 
sich selbst zu beschauen. Gibt es doch nach Freud keinen Exhibitionisten, der fl 
nicht bei diesem Akte auch sich selbst — durch Identifizierung mit dem Voyeur — fl 
lustvoll beschaute.® Ähnlich steht es mit dem unbewußten Lustgewinn aus der^H 
Sexualisierung der nach innen rückgewendeten Destruktion der Pa-jfl 

5) Siehe die Arbeit „Stendhal, Ein Beitrag zur Psychologie des narzißtischen Voyeurs“, 








































Der Mechanismus der Depersonalisation 


275 


tientin: Bewußt ist die Selbstbeobachtung quälend. Sie soll ja dem Über-Ich nicht 
bloß sagen, daß man auf sich aufpaßt, sondern auch damit bestraft: Wie kann ich 
denn genießen, ich leide ja. Zugleich wird aber die Strafe erotisiert und lustvoll 
genossen. 

Nun gibt es aber Situationen, in denen die Es-Tendenzen ganz eindeutig durch¬ 
brechen. So hatte z. B. die Patientin, die hier beschrieben wird, Zeiten, in welchen 
sie „unheimliche Dummheiten“ aufführte, d. h. ihre Dirnenphantasien auslebte. Sie 
war aber, wie sie mit Recht betonte, bei sexuellen Handlungen nie sie selbst, d. h. sie 
war entfremdet. Der Vorgang bei solchen Durchbrüchen war kompliziert. Er stellte 
ein Gemisch von intendierter und sofort mißlungener Über-Ich-Amovierung, wie in 
den manischen Zuständen, dar („manchmal dachte ich mir: ach was, es ist ja ohnehin 
alles egal“), von Einschaltung der früher beschriebenen Depersonalisationsmechanis¬ 
men, von Beschwichtigung des Über-Ichs durch Leiden, von Auf-Vorrat- 
Anlegen von Depots an „Quälmaterial“ usw. Auch war bei den „Durchbrüchen“ 
eine ständige Captatio des Über-Ichs nach der Formel: „Ich genieße nicht, ich leide, 
alles Sexuelle ist mir ekelhaft“, zu konstatieren. Das Ausleben der Dirnenphantasien 
war also „getarnt“ und die Patientin wählte das hübsche Wort, sie verhalte sich nach 
meiner Darstellung wie ein Hochstapler, der nie unter seinem eigenen Namen auf- 
treten kann. 

Nur in einem Punkt noch war der Lustgewinn der Patientin — von der maso¬ 
chistischen Lust abgesehen — ein fast lückenloser, lediglich durch den beschriebenen 
Mechanismus gemilderter: Die Voyeurlust wurde ausgiebiger genossen. Die früher als für 
die Depersonalisation geradezu charakteristisch hervorgehobene Selbst¬ 
beobachtung, d. h. die Übertreibung dieser normalen Ich-Funktion im Dienste des 
Über-Ichs, bewirkte ein ständiges Sichbeschauen. Dieses minutiöse Registrieren 
eigener Vorgänge war offiziell der Polizeibericht an das Über-Ich und die Captatio: 
Tu mir nichts, ich passe ja selbst auf. Inoffiziell war es narzißtisches Selbst¬ 
beschauen, geradezu gefahrlos genossen mit Über-Ich-Bewilligung, weil in seinen 
Diensten. Das Alibi des „Polizeiberichtes“ deckte so das Ausleben der 
Voyeurlust. 

Nun hatte, wie früher hervorgehoben, die Patientin eine Reihe hysterischer Kon¬ 
versionssymptome produziert, die sich im Bereich des Mundes abspielten. So 
litt die Patientin z. B. an einer Eßstörung mit Erbrechen, die zeitweise so stark war, 
daß das Zähneputzen mit der Zahnbürste bei der Morgentoilette bereits Erbrechen 
hervorrief. Auch war die schwere Berufsstörung — die Patientin war unfähig, ihr 
gesangliches Können zu zeigen, und war bei öffentlichem Auftreten weitgehend ge¬ 
hemmt —, von der Abwehr exhibitionistischer Tendenzen abgesehen, oral und anal 
determiniert. Neben oralen Fellatiophantasien erwies sich für das Unbewußte der 
Patientin der Gesang als Flatus, der Mund als Anus. Singen bedeutet also nach dem 
unbewußten Vokabular der Patientin: öffentlich einen Flatus lassen. Anders formu¬ 
liert: Da der Flatus auch Penisersatz darstellt,® bedeutet das Singen neben einer Penis¬ 
demonstration auch: seine Penislosigkeit Öffentlich beweisen. Dies führt zum Kastra¬ 
tionskomplex der Patientin. 

Die Patientin hatte sich als Kind mit der Tatsache, Mädel und nicht Bub, d. h. 
penislos zu sein, nicht abgefunden. Geradezu unwahrscheinlich klang die Angabe 

Buch des Verfassers „Talleyrand-Napoleon-Stendhal-Grabbe“. Psychoanalytisch-biographische 
Essays. Int. Psa. Verlag, Wien, 1935. 

6 ) Bezüglich der komplizierten Überdeterminierungen des Flatus sei auf eine Arbeit des 
Verfassers „Zur analen Trieberregung“ (erscheint in der Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse) 
verwiesen, wo auch eine Zusammenstellung der einschlägigen Literatur zu finden ist. 



















276 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


der Patientin (im zweiten Jahr der Analyse!), daß sie vielfach heute noch stehend im 
Klosett uriniere und dabei ein Zwangslachen produziere. Die Brüste hatten für die 
Patientin deutliche Penisbedeutung, die Erregung der Brustwarzen war bei der Pa¬ 
tientin Voraussetzung der sexuellen Erregung. Dazu mag auch das früher geschil¬ 
derte Verhalten des Vaters in der Pubertät (Streicheln und Berühren der Brüste) bei¬ 
getragen haben. Die Verleugnung der Penislosigk^it — in ihren Träumen kam die 
Patientin immer wieder mit einem symbolisch angedeuteten Penis vor — konnte der 
Patientin an einem Traum demonstriert werden, in welchem sie ihren Briider ah | 
Chinesen verkleidet mit einem langen Zopf sah. Unter anderem bedeutete der Traum: j 
Wenn also ein Mann Frauenkleider und Zopf tragen kann, wie eine Frau, und trotz¬ 
dem Mann bleibt, ist der Geschlechtsunterschied überhaupt unsicher, also kann auch 
ich ein Mann sein. Zugleich wird die Aggression (Neid) gegen den Bruder sichtbar: ' 
„Chineser“ ist — wie der Patientin bekannt war — im Wiener Dialekt eine Ver- \ 
höhnung. Die bekannte Gleichsetzung von Zopf und Penis spricht im gleichen Sinne 
der Verleugnung der Penislosigkeit. Diese Verleugnung wird von der Patientin zum 
Teil mittels des analen Penis (Kind) vorgenommen. Beweisend war wieder ein Traum, 
in welchem die Patientin vor der Schwester defäziert, worauf diese vorschlägty Milch \ 
n den Topf zu gießen., Diese anale Geburt mit sekundärem Stillen des Neugeborenen 
(Milch), eröffnete den Zugang zu einer Reihe analer Phantasien, deren letzter Aus- ; 
Täufer die Rückwendung der Aggression (Wunsch des Penisraubes am Bruder [Vater]) ' 
gegen die eigene Person darstellte und sich pathologisch auswirkte. Gerade 
das Festhalten der Männlichkeitswünsche in Verbindung mit den nicht erledigten ' 
Ödipusphantasien bedingten ja die Frigidität“^ der Patientin, Ein Residuum dieser 
analen Penisphantasien war der Flatus, wobei diese Penis- (Flatus-) Exhibition stark 
gehemmt war. Die Patientin kam sich beim Singen sehr häßlich vor, was eine Ver¬ 
arbeitung ihrer Kastrationsphantasien war, da der Mund unter anderem den kastrier- < 
ten Anus (später: die kastrierte Vagina) bedeutete. 

Bezeichnend für die besondere Empfindlichkeit der analen Phantasien bei der Pa- j 
tientin war die Tatsache, daß das Durchbesprechen derselben wohl den stärksten ; 
Widerstand der Patientin während der ganzen Kur hervorrief. Auch leugnete die ’ 
Patientin lange Zeit jede Affinität zu analen Dingen. Erst die Erkenntnis, daß sie 
beim Defäzieren Angst hatte, es könnte „von unten“ etwas in den After gelangen m 
(anale Vergewaltigungsphantasien), die Tatsache vieler analer Träume und vor allem ■ 
die Erinnerung, daß viele ihrer Familienmitglieder noch heute anal stärker m 
„interessiert“ sind, wie die Patientin es ausdrückte^ machte sie stutzig. So hatte z. B. .■ 
der älteste Bruder (36 Jahre!), wenn er zu Besuch war, die Gewohnheit, morgens und W 
abends völlig unbekleidet im Zimmer herumzugehen und Flatus von sich zu geben, ■ 
Im selben Sinne sprach die Erinnerung an eine Wurmerkrankung der Patientin, die M 
sie mit 18 Jahren mitmachte, die zu taktlosesten, nicht versiegenden Witzen in der ■ 
ganzen Familie Anlaß bot. Auch konnte der Patientin gezeigt werden, daß ihre ■ 
sonderbare, nach vorn gebeugte sitzende Stellung auf dem Analysesofa neben den frü- fl 
her hervorgehobenen Determinanten im wesentlichen einer „Klosettstellung“ entsprach: fl 
einerseits Demonstration des Kotpenis, d. h. Rückgängigmachen der Kastration, fl 
anderseits Einladung zu einer masochistisch zu genießenden analen Vergewaltigung. 9 

Diese Lust, die die Patientin aus der Sexualisierung des nach innen rückgewendeten fl 
Destruktionstriebes bezog, war eine der stärksten Triebfedern der Patientin, wie denn fl 
überhaupt ein so ausgeprägter Depersonahsationszustand, wie die Patientin ihn auf- H 
wies, ohne Vorherrschen dieser Elemente nicht vorstellbar ist. Es war geradezu 

7) Näheres im gemeinsamen Buch des Verfassers mit E. Hitschmann, „Die Geschlechts- 
kälte der Frau“. Wien, Verlag Ars Medici, 1934, 







































Der Mechanismus der Depersonalisation 


277 


grotesk, in welchem Ausmaß die Patientin jede auch nur entfernt auftauchende 
Möglichkeit innerhalb und außerhalb der Analyse zu Lust vollen Selbst¬ 
quälereien ausnützte. Diese Lust hatte verschiedene Zuflüsse: Sie war vorerst un¬ 
bewußtes Strafbedürfnis als Rückwendung aggressiver Tendenzen gegen die Mütter 
aus der Ödipussituation, ferner unbewußtes Strafbedürfnis für aktive Kastrations¬ 
phantasien am Vater und den Brüdern, endlich Über-Ich-Bestrafüngen für Inzest¬ 
phantasien. Darüber hinaus aber wurden diese unbewußten Strafen sexualisiert, durch 
die Prämie dieser geheimen Lust verlockt, immer wieder provoziert und dadurch 
erst perpetuiert. Die beim Normalen in relativ hohem Maße gelungene Abfuhr der 
Destruktion nach außen war praktisch zum Teil mißlungen, die Bindung an den Eros 
nur in sexuell-perzipierten Selbstquälereien (die zutiefst ein Überwältigt-, d. h. anal 
Koitiertwerden durch den Vater bedeuteten) zustande gekommen. 

Dieser Lustgewinn in der Depersonalisation führte auch dazu, daß die Patientin 
so spärlich und so spät den Zugang zu ihren Depersonalisationszuständen ermöglichte. 

Es wäre unrichtig, den restlichen Teil des Ichs der Patientin, der nicht im Dienste 
des Über-Ichs stand, als völlig machtlos und bloß den Verlust seiner Integrität beklagend, 
darzustellen. So rebellierte dieses Ich z. B. zeitweise gegen die Affektlosigkeit und 
nahm zu folgendem Auskunftsmittel Ausflucht: Es übersteigerte seine winzi¬ 
gen Affekte, brachte sich selbst in einen Zustand künstlicher, unechter 
Siedehitze, um nur ja etwas zu empfinden. Es war dies auch eine vergebliche 
Methode, der Entfremdung zu entfliehen. Die Patientin faßte nach einiger Zeit, als 
ich ihr in der Analyse diesen Vorgang erklärte und sie meine Erklärung angenommen 
hatte, diesen Tatbestand in einen Brief wie folgt zusammen: 

„Vor der Entfremdung versuche ich mich dadurch zu schützen, daß ich mich 
an die Dinge, über die ich spreche, krampfhaft klammere. Aus der Angst heraus, 
vollkommen den Faden zu verlieren, neige ich zu Übertreibungen. Dinge, 
die mich innerlich beschäftigen, verlieren, sobald ich sie ausspreche, vollkommen 
an Wichtigkeit. Sie lösen sich vollständig auf. Ich habe das Gefühl, als spräche 
ich aus einem hohlen Raum in einen hohlen Raum. Es entstehen starke Angst¬ 
gefühle, ich falle innerlich zusammen, die Stimme klingt wie aus weiter Ferne.“ 
Diese Übersteigerung der Affekte — ganz en passant mit den Worten 
„neige ich zu Übertreibungen“ angedeutet (die Patientin war offenbar über die 
Deutung narzißtisch gekränkt) — ist nach meinen Erfahrungen unabhängig von der 
Diagnose, z. B. Hysterie, Zwangsneurose, narzißtische Neurose usw. in vielen Fällen 
nur ein Zeichen der intrapsychischen Abwehr einer dahinter lauern¬ 
den latenten Depersonalisation. 

Das, was die Patientin mit den Worten „ich klammere mich an die Dinge“ nennt, 
bestand darin, daß sie entweder tatsächlich sich an Dinge klammerte (Zigarette, 
Taschentuch, Tasche, Armhalten, Umklammern von Lehnen usw.) und sich so von 
ihrer Realität überzeugte, oder sie klammerte sich an Worte. Es war z. B. ein typi¬ 
scher, sich regelmäßig wiederholender Tatbestand, daß die Patientin bei einer Er¬ 
klärung, die ich ihr geben wollte, mich mit den verzweifelten Worten unterbrach: 
„Bitte sprechen Sie jetzt nicht, ich verstehe kein Wort.“ Dahinter war nicht nur 
der unbewußte Widerstand und die überstarke Aggression gegen den Analytiker, 
ferner das Vorherrschen von Phantasien sichtbar, sondern vor allem die Entfremdung 
des Gehörten: die Patientin hörte vorerst Sätze, dann klammerte sie sich an Worte, 
zuletzt an Buchstaben. Hierauf folgte der typische Verzweiflungsausbruch: „Ich bin 
doch dumm, mir ist nicht zu helfen“ usw. 

Die Dirnenphantasien der Patientin gingen von einem vierfachen unbewußten Mi߬ 
verständnis aus: Sie glaubte zuerst, die Dirne sei die Frau, die sich „sexuell auslebt“. 

Int. Zeitsclir, t Psychoanalyse, XXI /3 


19 















278 


Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 


ferner werde die Dirne angesprochen (d. h. Schuldgefühlsersparnis: „Ich kann ja nichts 
dafür, der andere hat die Verantwortung“), drittens b^zog die Patientin ihre Dirnen¬ 
phantasie aus dem Arsenal der Kinderjahre, in welchen die asketische Mutter zur . 
Dirne gestempelt wurde, weil sie — trotz Askese und Sexualverboten — mit dem 
Vater koitierte. Das Entscheidende aber war, daß die Dirne mit ihrer Sexualität 
öffentlich exhibitionierte. Die Patientin identifizierte sich also mit der er¬ 
niedrigten Mutter, rächte sich in anderer Schicht am Vater nach der Formel; „Wenn 
du mich nicht liebst und die Mutter vorziehst, gebe ich mich aus Rache jedem Mann 
hin“, wobei zugleich die Lust und Strafe für die Ödipusphantasien in Form der Selbst¬ 
erniedrigung einkassiert wurde. 

Endlich sei der starken unbewußten Homosexualität der Patientin gedacht, die ur¬ 
sprünglich der Mutter galt, wobei einerseits die Männlichkeitswünsche der Patientin 
zur Geltung kamen, anderseits ihr starker Narzißmus: sie liebte in den Objekten 
vielfach sich selbst,® die jüngeren und sozial erniedrigten Männer repräsentierten 
ein Entwicklungsstadium der Patientin selbst. Anderseits, zog sie wieder die sexuelle 
Situation ins „Harmlose“: indem sie die Liebhaber zu Kindern machte, bewies sie 
dem Über-Ich, daß die Sexualität keine Sexualität sei nach ihrer Formel: Kinder 
sind asexuell. 

Die Patientin hatte in ihren „asketischen“ Zeiten die sonderbare Vorstellung, 
alles Sexuelle müsse sich unter Vermeidung jedes sexuellen Wortes abspielen, am 
liebsten wäre ihr, wenn man dabei über — Philosophie gesprochen hätte. Sie er¬ 
innerte lebhaft an eine frigide Patientin, die sich von ihrem Freund lediglich unter 
folgender Bedingung koitieren ließ: Der Mann mußte über — Literatur sprechen. Der 
Sinn war der einer Schuldgefühlsentlastung, indem sie den realen Koitus in eine No¬ 
velle von der Sexualität — der anderen verwandelte.® Auch beklagte sich die Patien¬ 
tin über das Infantile der ganzen Sexualität, wobei sie sehr erstaunt war, als ihr ein 
Mann mitteilte, das Infantile der Frau sei für den Mann gerade das Begehrenswerteste. 1 
Wie sehr die Patientin im ständigen Abwehrkampf gegen ihre Dirnenphantasien war, ; 
sei an zwei von ihren Fehlhandlungen demonstriert: Die Patientin wurde von einem ^ 
Bekannten gefragt, in welchem Hotel sie tanze. Sie will wahrheitsgemäß den Fünfuhr- j 
tee des Grand Hotels, nennen, der Name entfällt ihr und sie antwortet: Im J 
G.-Cafe. Nun hat, wie der Patientin bekannt war, dieses Cafe den Ruf eines Dirnen- * 
lokals. Oder: In der Analyse wurde in Anbetracht des Künstlerelends über den 
künftigen Beruf der Patientin gesprochen, und sie erwähnte den Vorschlag eines Be¬ 
kannten, Leiterin einer Autofahrschule zu werden. Plötzlich setzt sich die Patientin , 
ganz unmotiviert am Analysensofa auf, verläßt also die liegende Stellung und be- , 
kommt einen Angstzustand. Die Analyse ergab als Sinn der Handlung den unbe- ' 
wußten Gedanken: Ich tauge ja höchstens zur Dirne, Dieser Gedanke wurde mit 
Angst abgewehrt, wobei die horizontale Lage am Sofa mit Dirnesein gleichgesetzt , 
wurde. 

Die Analyse der Patientin wurde zwei Jahre sechsmal wöchentlich durchgeführt, ; 
im dritten dreimal wöchentlich, und mußte infolge äußerer Schwierigkeit auf eine 
wöchentliche Aussprache reduziert werden, d. h. die Behandlung wurde praktisch ■ 
abgebrochen. Der Erfolg bestand in einer Besserung des Befindens der Patientin, in • 
einem Verschwinden der hysterischen Symptome, Verzicht auf das Ausleben der 
„Dirnenphantasien“, Erreichen einer ruhigeren Stimmungslage. Das Entscheidende; : 

8) Siehe die gemeinsame Arbeit mit Jekels: „Übertragung und Liebe.“ Imago, XX, I 934 * ■ 

9) Siehe einen ähnlichen Fall im Abschnitt „Anonymer Koitus“ meiner Arbeit „Über M 

einige noch nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung“. Int. Zeitschr. f. Psa., S 
XX, 1934. bzw. Int. Journal of Psycho-Analysis (London) 1935. fl 













































r 

Der Mechanismus der Depersonalisation 279 


die Depersonalisationszustände wurden gemildert, keineswegs be¬ 
seitigt. 

Sehr interessant war der Modus vivendi, den die Patientin mit ihren Depersonali¬ 
sationszuständen einging. Sekundär wurde nämlich die Depersonalisation zum Teil 
in den Dienst der infantilen Lustbefriedigung gestellt und diese nach dem Mechanis- 
nius „Bestechung des Über-Ichs durch Leiden“ zwar nicht ausgelebt, aber doch an 
dieser Lust zu nippen versucht. So sagte z. B. die Patientin: „Wenn Valeriu mich 
geschlagen hätte, hätte ich es auch nicht zur Kenntnis genommen.“ Das heißt: Ich 
lasse mir mein unbewußtes masochistisches Vergnügen durch logische Kritik — 
Prügel: unwürdiger Zustand — nicht stören. Oder die Patientin fragte: „Warum 
nahm ich nicht zur Kenntnis, wenn Valeriu lieb mit mir war?“ Da Valeriu mit dem 
Vater identifiziert wurde und die Patientin mit dem Vater keinen Inzest begehen 
durfte, schützte sie sich vor der Kritik des Über-Ichs, indem sie die Lust scheinbar 
nicht zur Kenntnis nahm. — Auch bediente sich die Patientin der Depersonalisation 
zum Ausleben ihrer Dirnenphantasien. 

Anderseits wurde die Sexualisierung der rückgewendeten Destruktion 
unbewußt voll genossen und immer wieder provoziert. Es wurde bereits hervorge¬ 
hoben, wie sehr die Patientin jede Strafe, Strafandrohung und Strafmöglichkeit eroti¬ 
sierte. In dieser unausrottbaren Lust bediente sich die Patientin auch des Mechanis¬ 
mus der Naivität: Sie war z. B. sehr abergläubisch, was bei ihren zwangsneurotischen 
Zügen nicht weiter verwunderlich war. (Man denke an den starken Sadismus und 
die Ambivalenz der Patientin.) Doch nahm sie — scheinbar paradox — lediglich 
den Aberglauben mit günstiger Prophetie zur Kenntnis, den mit negativer ent¬ 
fremdete sie oder lehnte ihn bewußt als Unsinn ab. In Wirklichkeit war dieser „Opti¬ 
mismus“ wieder eine masochistische Aktion: Da die Patientin aus ihrem unbewußten 
Strafbedürfnis ohnehin alles ins Ungünstige leitete, war die nachfolgende Enttäuschung 
um so tiefer. Ausgepolstert wurde freilich der „Fall“ (so bezeichnete sie ihre zer¬ 
störten Hoffnungen) durch die unbewußt genossene Lust aus der Sexualisierung 
der rückgewendeten Destruktion. 

Die Widerstände der Patientin waren von größter Hartnäckigkeit: ständiges 
Beleidigtsein (sie war zeitweise von mimosenhafter Empfindlichkeit), besondere 
Intoleranz gegen die Übertragungssituation (was das masochistische Ge¬ 
nießen der Versagung nicht aus-, eher einschloß), stärkste, provokanteste Ag¬ 
gression mit dem unbewußten Bestrafungswünsch. So sagte z. B. die 
Patientin nach eineinvierteljähriger Analyse einmal wütend: „Das einzige, was sich 
geändert hat, ist, daß ich früher das Busenleibchen so fest schnürte, daß ich kaum 
atmen konnte, und daß ich das jetzt nicht mehr tue.“ Freilich verstand die Patientin 
nicht, daß in dieser Aggression eine Anerkennung der Lösung von Sexualhemmungen 
lag. Weitere Schwierigkeiten waren: ständiges Hervorheben des Arguments der 
Unheilbarkeit, der supponierten eigenen „Dummheit“, hinterhältiges Ver¬ 
schweigen von Material und — last not least — die fast unlösbaren materiel¬ 
len Schwierigkeiten, d.h. Mittellosigkeit bei früherem großem Reichtum. So 
muß die Patientin aus anderen, hier nicht wiederzugebenden Gründen, trotz prakti¬ 
scher Lösung der Beziehung zu Valeriu weiter in derselben Wohnung leben, was sie 
masochistisch grandios auswertete. Kurz, die Patientin präsentierte ein buntes Ge- 
mengsel von hysterischen, zwangsneurotischen und Moral-insanIty-Zügen und bot die 
konzentriertesten Schwierigkeiten einer Hysterica, einer Zwangsneurose, einer agie¬ 
renden Psychopathin und — einer Depersonalisation. 


19* 









28 o Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg 

Die beiden hier auszugsweise wiedergegebenen Krankengeschichten zeigen 
eine Reihe verblüffender Gemeinsamkeiten. Vorerst sei auf die im Zen¬ 
trum stehenden anal-exhibitionistischen Trieb wünsche^® beider Patientinnen 
verwiesen. Als Beispiele seien genannt: Fall I: Klosettbesuch in der Wohnung 
des Analytikers, öffentliches Bücherlesen usw. Fall II: Gesangstörung, Sitzen 
auf dem Analysesofa mit dem Rücken zum Arzt, Verhalten in öffentlichen 
Bädern. Der Penisneid beider Patientinnen ^eht so weit, daß sie noch als Er¬ 
wachsene stehend urinieren. Ganz analog sind die Abwehrmechanismen: die 
Entfremdung und die „Verdummung“, die großzügige Verständnislosigkeit 
mit langem Festhalten an diesem Widerstand sind gewiß keine Zufälle. Ebenso 
kongruent sind die Schaulust und die nach innen gewendete sexualisierte De¬ 
struktion bei beiden Fällen, wobei die Schaulust unter der Maske des Polizei¬ 
berichtes an das Über-Ich eingeschmuggelt wird. Die Gemeinsamkeiten ließen 


io) Wir meinen damit die unbewußten Wünsche, die hier wie in anderen neurotischen 
Abwehrmechanismen nur latent vorhanden waren. Da manche Autoren den Unterschied 
zwischen Perversion und Neurose vernachlässigen und etwa die in der Paranoia abgewehrte, 
aus dem negativen Ödipuskomplex stammende passive Einstellung zum Vater mit der mani¬ 
festen Homosexualität gleichsetzen, erscheint es wichtig, hervorzuheben, daß wir mit dieser 
Bezeichnung nicht die Perversion meinen. In der vorläufigen Mitteilung „Zur Theorie und 
Klinik der Perversion“ (I. Z. f. Ps. XIX) und in der ausführlichen Arbeit unter demselben 
Titel (Jahrb. f. P. u. N., B. 50) hat Eidelberg gezeigt, daß der Unterschied zwischen Neurose 
und Perversion nicht darin besteht, daß erstere den Partialtrieb abwehrt, den die zweite be¬ 
jaht, sondern daß beide den Partialtrieb abwehren. Bejaht wird in der Perversion nicht der 
Partialtrieb, sondern die perverse Handlung, die ähnlich einem Symptom, bereits 
ein Abwehrprodukt, eine Kompromißbildung darstellt. Sie unterscheidet sich vom neuroti¬ 
schen Symptom erstens durch die Art der Befriedigung, die hier mit Orgasmus einhergeht, 
zweitens durch eine weitergehende Berücksichtigung der Allmachtswünsche des Ichs. 
Fenichel hat in seiner Arbeit „Über Angstabwehr, insbesondere durch Libidinisierung“ 
(I. Z. f. Ps. XX) den Versuch gemacht, durch eine kritische Revue einiger analytischer 
Arbeiten auch zu diesem Problem Stellung zu nehmen. Leider ist ihm dabei eine Reihe 
von Mißverständnissen unterlaufen, vor allem bei Jones und Laforgue. Weiter glaubt 
Fenichel Eidelberg zu zitieren, indem er ihn auf die Frage: „Wieso kann das Ich den 
perversen Impuls bejahen“, antworten läßt; „Dieser Unterschied im Verhalten des Ichs ist 
dadurch bedingt, daß bei der Bildung der perversen Handlung der kindliche Größenwahn des 
Ichs in weit größerem Ausmaß berücksichtigt wird, als beim neurotischen Symptom“, während 
Eidelberg damit die Frage; „Wieso bejaht das Ich die perverse Handlung“, beant¬ 
wortet, nachdem er den Beweis erbracht hatte, daß perverse Handlung und perverser 
(infantiler) Impuls nicht identisch sind. Dieses Verhalten des Ichs wird verständlich, 
wenn wir Punkte (S. 621) der zitierten Arbeit berücksichtigen, in welchem für die Genese 
der Perversion zwei Momente verantwortlich gemacht werden; erstens die Regression zu 
einer der drei Stufen, zweitens die Zugehörigkeit zu einem der drei Typen (siehe „Theore¬ 
tische Vorschläge“, I. Z. f. Ps., B. XX, S. 114). Entscheidend für die Wahl der Perversion als 
Abwehrmechanismus ist demnach jener kindliche Größenwahn, der uns als konstitutionell 
gegeben bei dem narzißtischen Typus entgegentritt. 

Das Ausmaß des Mißverstehens Fenichels wird dadurch illustriert, daß er die Behaup¬ 
tung Eideibergs; „Perverse und Neurotiker wehren also den Partialtrieb ab; der Unter¬ 
schied zwischen beiden besteht nicht in der Bejahung bzw. Abwehr eines Partialtriebes, son¬ 
dern in dem Verhalten des Ichs zu den Abwehrmechanismen“, in der gleichen Arbeit, aller¬ 
dings ohne Eidelberg zu zitieren, übernimmt, und einige Zeilen später dennoch die Frage 
nach der Ursache der Bejahung des perversen Impulses (nicht Handlung) stellt. 






















Der Mechanismus der Depersonalisation 


281 


sich bis in Details fortsetzen, wobei der vorhandene rassische, kulturelle und 
Miheuunterschied beider Fälle gar keine Rolle spielte. 


Versuchen wir nun, auf Grund dieser beiden Fälle den Mechanismus der 
Krankheit aufzuhellen. Wir vertreten den Standpunkt, daß der vom Ich ab¬ 
gewehrte Es-Wunsch eine aus dem Ödipuskomplex stammende, vorwiegend 
anale Exhibition ist. Ob die bei der Depersonalisation konstant vorkom¬ 
mende unbewußte Exhibition mit der analen Komponente verbunden sein 
muß, können wir noch nicht entscheiden. Dagegen ist unseres Erachtens für 
die Krankheit Depersonalisation der Abwehrmechanismus ein spezifi¬ 
scher. Die Wirkungsweise dieses spezifischen Mechanismus — wir schlagen 
vor, ihn den „Mechanismus der Depersonalisation“ zu nennen — 
stellen wir uns folgendermaßen vor: 

Durch ein äußeres Ereignis, dem lediglich die Rolle eines Ageni provocateur 
zukommt (Sexualisierung der Realität), oder durch ein intrapsychisches (eine 
unbewußte Phantasie), wird ein verdrängter Gedanke anal-exhibitionistischen 
Inhalts vorbewußt. Darauf setzt die Abwehr des Ichs ein, die im wesent¬ 
lichen eine Über-Ich-Kaptivierung durch das Ich darstellt. Und 
zwar treten auf: 

1. Angst. 

2. Verleugnung, in Form von Unwirklichkeitsgefühl, „Sichnichtaus- 
kennen“, Auffassungsstörungen, Zweifeln, intellektueller Unsicherheit (bis zur 
Projektion). 

3. Selbstbeobachtung. 

4. Der Anfall wird abgeschlossen durch eine neuerliche Angstattacke, 
Schuldgefühle und Verzweiflungsausbrüche, bzw. dumpfes Hinbrüten. Es sei 
ausdrücklich hervorgehoben, daß nicht jeder Anfall alle hier geschilderten 
Stadien durchlaufen muß; andererseits sind Selbstbeobachtung und die Ver¬ 
leugnungsmechanismen stets vorhanden. 

ad I. Die Angst ist wie gewöhnlich die Abwehr des unbewußten Wunsches 
und zugleich Signal des Ichs vor der drohenden Triebgefahr. Da die Angst die 
vom Über-Ich verpönte Handlung inhibiert, dient sie auch dem Über-Ich. 
Die bewußte Rationalisierung lautet: Ich werde wahnsinnig. 

ad 2. Die Verleugnung ist ebenfalls an die Adresse des Über-Ichs gerichtet 
und soll etwa sagen: Es ist nicht wahr, daß ich diesen analen voyeur-exhibitio- 
nistischen Wunsch hege. Die intellektuelle Unsicherheit ist zum Teil die Per¬ 
zeption des inneren Konflikts. Bewußt spiegelt sich die Verleugnung des 
Wunsches in Form der Erkenntnis: Ich kenne mich nicht aus, resp. „ich bin 
nicht vorhanden“. 

ad 3. Die Selbstbeobachtung im Dienste der Realitätsprüfung ist die normale 
Funktion des Ichs im Aufträge des Über-Ichs. Bei der Selbstbeobachtung des 
















282 Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg j 

Entfrem 4 eten biedert sich das Ich an das Über-Ich in der Form an, | 
daß große Teile des Ichs in den Dienst dieser vom Über-Ich dik¬ 
tierten Funktion treten. Das Ich wird mit seinen eigenen Waffen ^ 
geschlagen. Es ist etwa so, wie wenn eine politische Organisation eine De- ; 
monstration veranstaltet, die die Polizei nur unter der Bedingung gestatten : 
will, daß die Demonstranten von einem großen Polizeiaufgebot flankiert wer¬ 
den. Die Organisation stellt nun selbst Ordner zur Verfügung, übernimmt also 
quasi Funktionen einer Hilfspolizei. Das Motto ist: Wir sind ohnehin 
brav. So erklärt sich das von den Autoren wiederholt beobachtete Phänomen, 
daß bei Depersonalisation „an Stelle des Affekts Selbstbeobachtung tritt'^ 
„Die Depersonalisierten verwandeln sich in eine psychische Beobachtungs- 
station‘" (beide Zitate von Reik). Ein Teil der intellektuellen Unsicherheit ist 
wieder Perzeption der capitis diminutio des Ichs, 

Nun kann der Mensch psychisch nicht allein von Beweisen seiner Bravheit 
an die Adresse des Über-Ichs leben. Wo liegt also der geheime Lustgewinn ; 
der Depersonalisierten? 

Vorerst ist zu sagen, daß das Ich des Depersonalisierten eine unzuläng¬ 
liche Methode der Es-Abwehr und Über-Ich-Unterwerfung wählt. Das Ich 
stellt sich fast zur Gänze dem Über-Ich zur „freiwilligen^^ Hilfsdienstleistung 
zur Verfügung, der kleine übriggebliebene Teil registriert schmerzlich den Ver¬ 
lust seiner Integrität. Die Lust liegt also in der Befriedigung der sexuali- 
sierten, nach innen rückgewendeten Destruktion. ^ 

Ist aber dieser Lustgewinn das „einzig Positive^' der Depersonalisation? Ge¬ 
wiß nicht. Kein Zweifel, daß gewisse Es-Tendenzen — vor allem anale, ex- 
hibitionistische und Voyeurlust — sich durchsetzen. Sie tun es aber • 
unter falscher Flagge. Anders ausgedrückt: Die unbewußten Es-Wünsche 
setzen sich zum Teil durch, werden aber infolge Einengung des Ichs vom Ich 
nicht als zu sich gehörig aufgefaßt, sind sozusagen ichfremd, und die Lust ; 
liegt zum größten Teil bloß im selbstbeobachtenden Re- | 
gistrieren und Demonstrieren an die Adresse des Über-Ichs, wobei nar¬ 
zißtisches Sichselbstbeschauen genossen wird.^^ i 

. _ ^ _ I 

, ii) Es handelt sich also um die Verwandlung eines aktiven in ein passives Triebziel. ' 
Wir gehen auf die Frage, weshalb der Exhibitionist aktive, der Voyeur passive Triebziele be- ' 
friedigt, aus Platzmangel nicht ein und verweisen auf unsere Arbeit „Der Mammakpmplex ‘ 
des Mannes" (I. Z. f. Ps. XIX, S. 572). Zur Richtigstellung eines Mißverständnisses von ; 

1 . Her mann bezüglich unserer Definitionen „aktiv" und „passiv" bemerken wir folgendes: ■ 
Hermann ( 1 . Z. f. Ps. XX, 1934, S. 263) sagt: „Auch die Begriffsbestimmung von Bergler 
und Eidelberg, wonach aktiv gleich geben, passiv gleich auf nehmen bedeuten sollen, ver¬ 
sagt hier, da der Mann seinen Penis der Frau gibt, ihren Körper aber mit der Umarmung 
aufnimmt, die Frau Penis, Samen und Körper des Mannes aufnimmt, sich selbst gibt." 

In Übereinstimmung mit Hermann sind wir der Ansicht, daß die in der analytischen ■ 
Literatur noch geübte Gleichsetzung der Begriffe aktiv und männlich unrichtig ist. Da nach : 
Freud jeder Trieb aktiv ist und die Frau ebenso wie der Mann Triebe befriedigt, würde 
eine solche Bezeichnung, solange man an der einheitlichen Libido festhält, zu Widersprüchen ■ 
führen. — Dagegen kann man, nachdem die Aktivität für Mann und Frau als zur Trieb- ' 

1 































Der Mechanismus der Depersonalisation 283 

Das selbstbeobachtende Registrieren von verpönten Es-Tendenzen 
hat den Vorteil, daß diese verpönten Wünsche doch — wenn auch mit nega¬ 
tivem, angeberischen Vorzeichen — indirekt genossen werden 

Es wurde früher hervorgehoben, daß das Ich der Patienten den Verlust seiner 
Integrität schwer beklagte, da der größte Teil desselben sozusagen vom Über¬ 
leb indirekt okkupiert war, d. h. in seinen Diensten die Spionage- 
tätikeit der Selbstbeobachtung ausübte. Diese Selbstbeobachtung war 
in höchstem Ausmaß quälend, führte zu einer Spaltung des Ichs in eine dem 
Über-Ich sich freiwillig unterwerfende Satrapie mit einem machtgeschwellten 
Denunziantenheer und einem winzigen, sein Unglück beklagenden Ich-Teil. 
Die wahre Lust der Depersonalisation ist also narzißtische Voyeurlust. 

Trotzdem darf man sich den übriggebliebenen Teil des Ichs der Depersonali- 
sierten, das zwar an Haupt und Gliedern gekürzt und verstümmelt ist, nicht 
als absolut machtlos vorstellen. Es wurde bereits hervorgehoben, welche 
Triebtendenzen hineingeschmuggelt wurden und auf welchem Umweg das 
geschah. 

Für die katastrophale Rolle des Ichs bei der Depersonalisation, das 
der Situation eines Tieres in der Autotomie vergleichbar ist, spricht auch die 
Tatsache, daß es kein Zufall sein kann, daß bei Beginn jeder Neurose passa- 
gere Depersonalisationszustände auftreten, wie dies Nunberg mit Recht 
hervorhob, ohne freilich, unserer Meinung nach, eine plausible Erklärung hie- 
für zu liefern. Es ist dies, wie einzelne Autoren meinen, offenbar der Zeit¬ 
punkt, in welchem das Ich überwältigt wird und sich noch nicht wehren 
kann. Das Symptom und die Verdrängung scheinen bereits einer höher orga¬ 
nisierten Abwehr anzugehören. 

Die Prognose der Depersonalisation galt bisher als ungünstig. Kein Analy¬ 
tiker hat die Depersonalisation bis heute in seinen Publikationen für heilbar 

befriedigung zugehörig akzeptiert wurde, sich einem zweiten Problem zuwenden: der Frage 
nach aktiven und passiven Triebzielen. Wenn man nun als Befriedigung eines aktiven Trieb¬ 
zieles jene Handlung bezeichnet, die kurz mit dem Wort „geben“, als Befriedigung eines 
passiven Triebzieles Handlungen, die mit dem Wort „aufnehmen“ umschrieben werden 
können, findet man sowohl beim Mann als auch bei der Frau bestimmte Handlungen, die 
„aufnehmen“ und „geben“ bedeuten. Unsere Begriffsbestimmung würde bloß dann Ver¬ 
sagen, wenn man sie für die Behauptung: niännlich ist gleich aktiv, verwenden wollte. Da 
uns eine solche Definition vollkommen fernliegt, glauben wir, daß gerade an diesem Beispiel 
die Brauchbarkeit unserer Formulierung klar zum Vorschein kommt und anzeigt, daß die 
Verwendung der Bezeichnung aktiv und passiv nur auf eine der jeweiligen Triebbefriedigung 
dienende Handlung anzuwenden ist. Anstatt also zu sagen: „Im Geschlechtsleben ist der 
Mann aktiv“, sagen wir lediglich: Die Handlung des Mannes, die zur Befriedigung des Trieb¬ 
wunsches, „den Samen der Frau zu geben“, dient, ist aktiv. Gleichzeitig wird sein passiver 
Wunsch, „den Körper der Frau empfangen“, durch eine andere Handlung befriedigt, und 
diese ist passiv. Unsere Definition bezieht sich nicht auf die Gesamtheit der Hand¬ 
lungen des Individuums, sondern immer nur auf eine einzelne Handlung und wurde von uns 
für diesen Zweck aufgestellt. 

12) Ebenso wie die Diagnose recht schwankend war. Fast hätte man den Eindruck, daß 
Depersonalisationszustände häufig übersehen werden. 

















^^4 __Edmund Bergler und Ludwig Eidelberg i 

erklärt. Wir meinen, daß dieser absolute Pessimismus nicht ganz gerechtfertigt j 
erscheint. Doch setzt die Therapie vor allem die Kenntnis des Mechanismus j 

der Krankheit voraus, d. h. ein Ansetzen am richtigen Punkt. Ferner sehr | 

lange Zeiträume: Gilt schon für die Analyse eines schwereren Falles von 
Zwangsneurose ein Minimum von 2 bis 2^/2 Jahren, muß bei der Entfremdung 
mit dem doppelten Zeitraum gerechnet werden. Gewiß ist es nicht sehr hoff¬ 
nungsvoll, wenn man ein halbes Jahrzehnt als Behandlungsdauer präliminiert, 
aber —amicus Plato, magis amica veritas» Auch darf man nicht vergessen, daß 
die Erfahrungen mit depersonalisierten Patienten vorläufig recht spärlich 
sind. Ferner, daß man die Erwartungen nicht allzu hoch spannen darf; Die 
Schwäche des Ichs, die Sexualisierung der gegen die eigene Person gerichteten 
Destruktion, der chronische Verlauf und der geradezu raffiniert zu nennende 
Abwehrmechanismus bedingen Vorsicht bei der therapeutischen Zielsetzung. 
Auch ist zu bedenken, daß dies bloß für die schwersten Fälle von neurotischer 
Depersonalisation gilt.^^ Einer der Autoren (Bergler) hat bei einem schweren 
und zwei leichteren Fällen, deren zusammenhängende Darstellung Vorbehalten 
bleibt, ihn selbst überraschende Erfolge in einem Zeitraum von 2V2, 1^/4 und 
2 Jahren aufzuweisen gehabt, deren zwei erste derzeit bereits 3 bzw. 2 Jahre l 
ohne Rezidiv geblieben sind. | 

yc j 

Wir wollen noch, bevor wir schließen, einige Punkte unterstreichen, die ein¬ 
zelne unserer Vorgänger als für die Depersonalisation bedeutsam hervorge- 1 
hoben haben. So Schilders Widerlegung der Gefühlstheorie Österreichers, 
Hartmanns und Sadgers Hinweis auf die Bedeutung der Exhibition, 
Reiks Betonung des masochistischen und analen Faktors. Freilich können wir 
uns mit den übrigen Ausführungen dieser Autoren über die Depersonalisation 
keineswegs identifizieren. 


Zusammenfassung. 

Auf Grund des mitgeteilten Materials wird der spezifische „Mechanismus 
der Depersonalisation*^ als Über-Ich-Kaptivierung wie folgt beschrieben; 
Der libidinöse Triebwunsch des Es ist eine vorwiegend anale Exhibition. 
Das Ich wehrt diesen Wunsch ab, wobei vorerst Angst und Verleugnung in 
Form von Unwirklichkeitsgefühl, Auffassungsstörungen, Zweifeln, intellektu¬ 
eller Unsicherheit, Verzweiflungsausbrüchen usw. entstehen. Ein großer Teil 
des Ichs biedert sich dem Über-Ich an und stellt sich diesem in einer 
Art von Autotomie als „Hilfspolizei** in Form der gesteigerten Selbst¬ 
beobachtung zur Verfügung. Die normale Funktion des Ichs: Selbst- 

13) Überflüssig hinzuzufügen, daß unsere Ausführungen sich lediglich auf Neurosen 
.und nicht auf Psychosen beziehen. 

14) Allerdings meinen die beiden Autoren nicht das von uns hervorgehobene narzi߬ 
tische Beschauen und Zurschaustellen. 








































Der Mechanismus der Depersonalisation 


285 


beabachtung im Dienste des Über-Ichs, wird ins Gigantische gesteigert, das Ich 
mit den eigenen Waffen geschlagen. Der abgewehrte Triebanspruch über¬ 
rumpelt das Ich, indem er eine Wandlung von Exhibitionismus ins 
Voyeurtum durchmacht und dann unter der Maske der die Es-Wünsche ab- 
w^hrenden Selbstbeobachtung vom Ich akzeptiert wird. Dabei wird bei diesem 
unter der Maske des „Polizeiberichtes'^ an das Über-Ich eingeschmuggelten 
narzißtischen Sichselbstbeschauen die nach innen gewendete sexualisierte De¬ 
struktion ausgiebig genossen. Nachträglich wird die Exhibition unter dem 
Schutz des inzwischen ausgebildeten Mechanismus der Depersonalisation teil¬ 
weise zur Befriedigung zugelassen. 

Analog den bereits bekannten Abwehrmechanismen, wie Konversion, Pro¬ 
jektion usw., ist der „Mechanismus der Depersonalisation"' eine Kompromi߬ 
bildung, an der alle drei Instanzen beteiligt sind. Seine Lust, die aus der Be¬ 
friedigung der Schaulust resultiert, ist dem Ich unbewußt. Ähnlich manchen 
neurotischen Abwehrmechanismen ist die Depersonalisation ichfremd und 
mit Krankheitseinsicht verbunden. 












VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN 

In dieser Rubrik erscheinen die Beiträge in der Reihenfolge ihres Einlaufes hei der Redaktion 


DAS PROBLEM DER QUANTITÄT IN DER NEUROSENLEHRE. 

Vortrag von Ludwig Eid eiberg, 

gehalten im Seminar über theoretische Grundlagen der Psychoanalyse am lo. November 1933. 

Die Psychoanalyse hat sich die Untersuchung der Quantität als ökonomischen Ge¬ 
sichtspunkt zu eigen gemacht. Die Unmöglichkeit exakter quantitativer An¬ 
gaben gilt aber bei manchen ßeurteilern als Argument, um ihr den Charakter einer 
Naturwissenschaft abzusprechen. Die Psychoanalyse verzichtet jedoch nicht auf eine 
quantitative Betrachtungsweise. Solange die Maßeinheiten fehlen, benützt sie für 
diese Betrachtungsweise die Methode des Vergleichens. Es handelt sich nun darum, 
diese vergleichende Betrachtung so auszubauen, daß sie überprüfbar wird. 

Bei einem Zwangsneurotiker werden wir z. B. beachten, wie häufig seine Zwangs¬ 
symptome Auftreten, wieviel Zeit er zu ihrer Erledigung benötigt usw. Wir wissen, 
daß eine quantitative Änderung, wenn sie einmal eine gewisse Größe erreicht hat, bei 
bestimmten Vorgängen eine Änderung in der Qualität mit sich bringt. Wir befinden 
uns hier in Übereinstimmung mit anderen Naturwissenschaften, die ebenfalls — man 
denke etwa an die Farbenlehre — Qualitäten quantitativ aufgelöst haben. 

Viel komplizierter ist es schon, zwei verschiedene Patienten in bezug auf quanti¬ 
tative Momente zu vergleichen. Ein Vergleich ähnlicher Symptome bei verschiedenen 
Kranken wird aber einem Erfahrenen noch gelingen, der Vergleich von zwei ver¬ 
schiedenen Symptomen erscheint dagegen für eine quantitative Untersuchung nicht 
mehr verwendbar, so z. B. der eines zwangsneurotischen und eines hysterischen Kon¬ 
versionssymptoms. 

Auch beim Vergleich von Symptomen derselben Entwicklungsstufe erheben sich große 
Schwierigkeiten. Versuchen wir z. B., die prägenitale Konversionsneurose, das Stot¬ 
tern, mit einem zwangsneurotischen Symptom zu vergleichen, so zeigt weder die 
phänomenologische Beschreibung, noch die Verwertung genauer analytischer Details 
einen Weg, der zu einer quantitativen Schätzung der analen Libido führen würde. 
Die Frage, ob der anale Anteil der Libido beim Stottern größer, kleiner oder gleich 
dem bei jenem zwangsneurotischen Symptom ist, kann nicht beantwortet werden. 

Auf Grund der Arbeit Freuds über libidinöse Typen glaube ich jedoch, eine ver¬ 
wertbare Methode für diese Untersuchung gefunden zu haben, die ich hier kurz mit- 
teilen möchte. 

Wir wissen, daß in jedem Symptom alle drei Instanzen berücksichtigt erscheinen, 
und es erhebt sich die Frage, ob wir imstande sind, den quantitativen Anteil dieser 
Instanzen im einzelnen Symptom vergleichsweise anzugeben. Sollte die Unter¬ 
suchung zeigen, daß bei denselben Symptomen der quantitative Anteil derselben 
Instanzen immer der gleiche bleibt, so könnten wir dann ein anderes Symptom, das 




























Vorläufige Mitteilungen 


1287 


I 




derselben Entwicklungsstufe angehört, von diesem Gesichtspunkt untersuchen und 
das Ergebnis mit dem ersten vergleichen. 

Vielleicht würde dann die quantitativ verschiedene Beteiligung der einzelnen In¬ 
stanzen einiges Licht auf die Frage nach der Ätiologie der Neurosen werfen.^ 

Auf der Einteilung und Einordnung der Neurosen unter Berücksichtigung dieses 
quantitativen Momentes könnten wir Untersuchungen aufbauen, um vier weitere 
Fragestellungen zu beantworten, die ich folgendermaßen formulieren möchte: i. Ist 
der quantitative Anteil von Eros und Thanatos bei jeder Neurose gleich groß; oder 
finden wir bei bestimmten Neurosen immer die gleichen Werte? 2. Ist die Inten¬ 
sität der Abwehr einer Es-Regung immer dem Ausmaße dieser Regung entsprechend 
oder finden sich bei verschiedenen Neurosen regelmäßig verschiedene Abwehr¬ 
intensitäten? 3. Ist die Tendenz zur Aktivität und Passivität bei allen Neurosen gleich 
oder liegen bei den einzelnen Neurosen regelmäßige diesbezügliche Befunde vor? 
und 4. Hat das Lust- bzw. Nirvanaprinzip bei allen Neurosen die gleiche quan¬ 
titative Bedeutung? 

Die Neurosen sind Ergebnisse von Abwehrvorgängen, entstanden im Kampfe mit 
Libidoansprüchen, die einer der drei kindlichen Entwicklungsstufen angehören. Da 
aber bei jedem Menschen Teile der Libido auf den einzelnen Entwicklungsstufen 
fixiert geblieben sind, kann wohl als pathologisch nur ein quantitatives Übermaß 
dieser Libido in Betracht kommen. Dieses Übermaß der Libido, von dem wir vor¬ 
läufig nur eine unklare Vorstellung haben, könnte bei einer solchen vergleichenden 
Untersuchung der Neurosen besser umschrieben werden. 

Die beiden Grundtriebe Eros und Thanatos sind lediglich als Triebgemische — 
Sexualtriebgemisch und Aggressionstriebgemisch — der analytischen Forschung zu¬ 
gänglich. Wir kennen beim Erwachsenen vier verschiedene Qualitäten des Sexual¬ 
triebgemisches, denen bestimmte Quantitäten entsprechen. Wurde im Laufe der Ent¬ 
wicklung das Sexualtriebgemisch auf einer der Entwicklungsstufen länger zurück¬ 
gehalten (fixiert), als der Norm entspricht, oder kehrt infolge von Versagung der 
weiter fortgeschrittene Anteil des Sexualtriebgemisches zu einer früheren Stufe zu¬ 
rück (Regression), dann wird diese gegenüber der Norm verschiedene Placierung der 
vier Qualitäten des Sexualtriebgemisches zum Ausgangspunkt von Neurosen. 

Wir unterscheiden Objektlibido und narzißtische Libido. Unter Objektlibido 
verstehen wir jene Libido, die der Außenwelt zugewendet ist, und der meiner 
Meinung nach die vier verschiedenen Qualitäten zugehören: die orale, die anale, die 
phallische und die genitale. 

Die narzißtische oder Ich-Libido hat die drei Anteile der psychischen Persönlichkeit 
in quantitativ verschiedenem Ausmaß besetzt. Diese Verteilung der Libido ist zum 
größeren Teil konstitutionell bedingt und verhältnismäßig nur wenig beeinflußbar. 
Im Allgemeinen finden wir eine quantitativ geringe Verschiebung der Libidomengen 
vom Es gegen das Über-Ich. 

Das Aggressions- und Sexualtriebgemisch hat mit seinem quantitativ größeren 
Anteil, der qualitätslosen narzißtischen Libido die drei seelischen Instanzen, das Es, 

i) Siehe dazu Eideiberg, Theoretische Vorschläge, Int. Ztschr. f. Psa., XX, S. 114. 













288 


Vorläufige Mitteilungen 


Ich und Über-Ich besetzt. So verfügen diese drei Anteile über ein entsprechendes 
Ausmaß an Libido. Betrachten wir die Wirkungsweise dieser Anteile gesondert, 
so können wir bestimimte Vermutungen über ihre Ziele aussprechen. Diese ge¬ 
sonderte Betrachtung der drei Instanzen wird nur dort möglich sein, wo ein intra¬ 
psychischer Konflikt entstanden ist. Der ideal Gesunde eignet sich für die Unter¬ 
suchung nicht. Wir können uns lediglich auf Grund der bei Neurotikern gewonne¬ 
nen Ergebnisse eine Vorstellung von den normalen Verhältnissen bilden. Ent¬ 
sprechend den zwei Triebgemischen (Aggressions- und Sexualtriebgemisch) können 
wir zwei Gruppen von Aufgaben, bzw. Zielen bei jeder der drei Instanzen finden. 

Versuchen wir nun die Entstehung eines Symptoms schematisch zu skizzieren. 
Pat. A. hat auf einer der drei infantilen Entwicklungsstufen durch Zusammenspiei 
von konstitutionellen und akzidentellen Momenten Fixierungen bzw. Regressionen 
erfahren. Infolge dieser Fixierungen bzw. Regressionen befindet sich ein der Norm 
gegenüber vergrößerter Anteil der Libido auf einer der drei Stufen. Setzen wir beispiels¬ 
weise die Gesamtmenge der Objektlibido mit lo Einheiten und postulieren wir, daß sie 
normalerweise folgende Zuordnung zeigt: 2 auf der oralen, 2 auf der analen, 2 auf 
der phallischen und 4 auf der genitalen. Wir nehmen an, daß der Normale diese 
Libidoquantitäten im allgemeinen befriedigen kann. Der Neurotiker hat infolge der 
oben erwähnten Fixierungen diese Aufteilung der Libido nicht vollzogen, sondern 
einen größeren Anteil auf einer der drei ersten Stufen belassen. Nehmen wir nun an, 
daß wir imstande sind, diese Quantitäten zu messen, und daß wir als Ergebnis einer 
solchen hypothetischen Messung bei dem Pat. A. folgendes Resultat finden: Orale 
Stufe 4 E., anale Stufe 2 E., phallische Stufe 2 E., genitale Stufe 2 E. Wir nehmen 
nun weiter an, daß unser Körper unter bestimmten gleichbleibenden Bedingungen die 
Libidoqualitäten in der normalen Einteilung befriedigen kann. Wir wissen, daß 
uns vorläufig eine direkte Beobachtung dieser Vorgänge nicht möglich ist, 
und daß wir gezwungen sind, auf Grund der psychologischen Untersuchungen 
uns — selbstverständlich schematisch — die Funktionen und die ent¬ 
sprechenden Apparate zu skizzieren. Wenn wir nun annehmen, daß der Körper die 
Libidoqualitäten nur in einer bestimmten, allerdings bis zu einem gewissen Punkt 
variablen Einteilung befriedigen kann, so können wir zur Illustration folgende Bei¬ 
spiele bringen: Bei der Befriedigung der oralen Qualität werde unserem Körper 
Nahrung einverleibt. Die Menge dieser Nahrung ist an bestimmte Grenzen gebunden, 
die im Interesse unseres Körpers nicht unter- oder überschritten werden dürfen. Wir 
wissen, daß in den entsprechenden Organen bestimmte regulatorische Funktionen ein¬ 
gebaut sind, die die Wahrung der quantitativen Grenzen überwachen. Bei dem Pat. A. 
findet sich nun eine Menge von oraler Libido, deren Befriedigung, da ihre Quanti¬ 
tät der Norm gegenüber gesteigert ist, von den entsprechenden Organen (Mund, 
Magen) abgewehrt wird. Da seine orale Sucht so groß ist, daß ihre Be¬ 
friedigung unter den bestehenden Bedingungen nicht möglich ist, wird der un¬ 
befriedigte Anteil in das Es verschoben (verdrängt). Während nun bis zu diesem 
Zeitpunkte das Es lediglich eine qualitätslose Libido enthalten hat, ändert sich jetzt 
das Bild, indem zu der stets vorhandenen qualitätslosen (narzißtischen) Libido etwas 
neues, nämlich nicht narzißtische, sondern Objektlibido dazugekommen ist. Theo¬ 
retisch ergeben sich nun zwei Möglichkeiten. Die dazugekommene Objektlibido, mit 







































Vorläufige Mitteilungen 


289 



der Qualität „oral“, kann diese Qualität verlieren und in qualitätslose (narzißtische) 
Libido verwandelt werden, oder sie behält weiter ihre Qualität. Nehmen wir an, das 
erste hat stattgefunden, d. h. die Libido hat die orale Qualität aufgegeben und ist 
narzißtisch geworden, und fragen wir nach den Folgen dieser Metamorphose. Der 
quantitative Anteil der narzißtischen Gesamtlibido hat gegenüber der Objekt¬ 
libido eine Steigerung erfahren. Verbleibt dieser dazugekommene und veränderte 
Anteil im Es, so hat sich damit auch das Verhältnis der quantitativen Anteile der 
drei Instanzen verändert. Fragen wir nun, welche Folgen diese Wandlung und Wan¬ 
derung der Libido für das Individuum haben wird, bzw. in welcher Form wir mit 
psychoanalytischen Methoden diesen Vorgang wahrnehmen können. 

Es ist wahrscheinlich, daß diese Verschiebung der Libido nicht zur Neurosen¬ 
bildung führt. Das Fehlen der 2 E. auf der genitalen Stufe wird wahrscheinlich nur 
eine quantitative Herabsetzung dieser Funktion nach sich ziehen, ohne irgendwelche 
neurotische Symptome (Impotenz, Frigidität) zu bilden. Das Individuum wird 
gegenüber dem ideal Gesunden weniger genital interessiert sein. Die Zunahme der 
narzißtischen Libido wird eine geringere Abhängigkeit von der Außenwelt zur 
' Folge haben. Das intrapsychische Gleichgewicht wird sich zugunsten jener Instanz, 

in der die definitive Placierung der dazugekommenen Libido stattgefunden hat, ver¬ 
schieben. In allen Handlungen wird nun dieser Anteil der Persönlichkeit stärker 
berücksichtigt werden. Diese Vermutungen werden durch die Arbeit Freuds über 
Kbidinöse Typen gestützt. Freud vertritt dort den Standpunkt, daß eine ver¬ 
schieden große Verteilung der Libido auf die seelischen Instanzen die libidinösen 
Typen zur Folge hat, aber allein keine Neurose bildet. 

Ganz anders, wenn der dazugekommene Anteil der Libido seine Qualität nicht 
verliert, und wenn nun im Es außer der narzißtischen auch ein Stück Objektlibido, 
in diesem Falle oraler Qualität, vorhanden ist. Diese Objektlibido, die nicht mehr der 
Außenwelt zugewendet ist, sondern gegen das Ich vordrängt, wirkt auf den intra¬ 
psychischen Schauplatz wie ein Fremdkörper. Ihr Auftreten bedeutet eine Gefahr 
für das Ich, das ja sozusagen vom Es wie ein Stück der feindlichen Außenwelt auf¬ 
gefressen werden soll. Das bisher „harmlose“ Zusammenspiel der drei seelischen 
Instanzen, in dem die Entscheidungen der Gesamtpersönlichkeit nach der Art eines 
* Kräfteparallelogramms stattfanden, verwandelt sich plötzlich in ein erbittertes 

j Ringen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um eine stärkere Berücksichtigung einer 

der drei Instanzen, also etwa um Betätigungen, die mehr dem erotischen als dem 
Zwangs- oder narzißtischen Typus entsprechen, sondern um Zerstörung einer Instanz. 
Auf diese Gefahr reagiert das Ich mit dem Signal „Angst“ und versucht, vom Über¬ 
leb unterstützt, den Es-Angriff abzuwehren. Diese Abwehr wird durch die Bildung 
des neurotischen Symptoms durchgeführt. Es handelt sich dabei immer um ein 
Kompromiß, in dem niemals das Es vollkommen unterdrückt erscheint. Ein Teil 
des Ichs geht verloren und wird vom Es besetzt, das um diesen Preis auf eine voll¬ 
kommene Eroberung der Ichs verzichtet. Dieser vom Es besetzte Anteil des Ichs, 
der nun nach den Gesetzen des Es verändert wird, wird dort, wo wir mit einem 
, Symptom zu tun haben, von dem übrigen, gesund gebliebenen Anteil des Ichs als 
I, Fremdkörper betrachtet. Er ist Ich-fremd und das Ich versucht ihn abzustoßen. 
Wir wissen, daß es (z. B. bei neurotischen Charakteren, Perversionen, Psychosen) Ab¬ 
wehrmechanismen gibt, in denen dieser Sachverhalt komplizierter aufgebaut ist. 

















290 


Vorläufige Mitteilungen 


Nicht nur das Ich wird teilweise vom Es besetzt, so daß wir in der Neurose 
die Es-Wünsche als Ich-Funktionen maskiert vorfinden, auch Teile des Über-Ichs 
werden vom Es überschwemmt; ich will an dieser Stelle an die Sexualisierung der 
Moral erinnern. 

Die nachfolgende Tabelle zeigt schematisch die Aufteilung der beiden Trieb- 
gemische auf die einzelnen Instanzen. 


THANATOS £ffOS 



AGGRESS/ONSTRIE BGeMlSCH 



SEXUALTRIEBGEMISCH 



ÜBER- 

ICH ICH 



ANALE STUFE 





GENITALE STUFE 





















































REFERATE 


Aus der Literatur der Grenzgebiete 

STEHR ALFRED, S.-R. Dr. med., Dr. rer.polit.: „Arzt, Priesterarzt und Staatsmann.“ I. Teil: 

Ärztliche Synthese, 2. Teil: Arzt und kranke Kultur. Verlag der Ärztlichen Rundschau, 

Otto Gmelin, München 1933, m Seiten. 

In seinem eigenartigen Büchlein versucht der Verfasser Erfahrungen und Gedanken, die 
ihn bald 40 Jahre beschäftigt hatten, zusammenzufassen und niederzulegen. „Die Harmonie 
des menschlichen Strebens überhaupt, die Gesundung der sozialen Formen, die Findung des 
gleichen Weges für alle Menschen erschien mir einer Lebensarbeit wert.“ 

Frühzeitig fühlte er sich von einem Forschungsgebiet angezogen, das später unter .dem 
Titel „Soziale Hygiene“ bekannt wurde, im Sinne dner Sozialwissenschaft, „welche nicht nur 
Vorteile und Schädigungen der wirtschaftlichen Technik behandelt, sondern auch die der 
sozialen Gesundung dienenden Berufsgruppen des Priesterarztes — des Arztes im en¬ 
geren Sinne und des Sozialarztes — zusammenfaßt und auf ein gleiches Ziel einstellt“. Dieses 
Studium der Sozialpolitik und der Staatswissenschaften drängte ihn schon vor 30 Jahren zu 
einer Synthese, die auch in seinem doppelten Doktorat seinen Ausdruck fand (Dr. med. und 
Dr. rer, polit.). So entstand in ihm der Gedanke, dem ärztlichen Denken auch innerhalb 
der politischen Welt dominierende Stellung zu verschaffen, und die Weltanschauung des 
Staatsmannes mit der des Arztes zur Deckung zu bringen. 

Die Arbeit zerfällt in zwei 'Teile. Im ersten Teil sucht er den Entwicklungsgang des Arzt- 
tums aufzuzeigen, mit den sumerischen Zeiten anhebend, über das Hippokratische Zeitalter 
hin bis in die Neuzeit, vergißt weder die Machtstellung des katholischen Christentums mit 
seinem christlichen Priesterarzte, noch die Probleme der modernen sozial-kapitalistischen 
Weltordnung, um seine Grundsätze herauszuarbeiten, welche Ärzte, Priesterärzte und Staats¬ 
männer in die gleiche Richtung ärztlichen Handelns einstellen sollen. Im zweiten Teil 
schildert er erst die Pathologie der europäisch-amerikanischen (abendländischen) Kultur, das 
Versagen der Autorität des christlichen Prinzips und argumentiert mit dem Versailler Ver¬ 
trag, der bestimmt, „was dem deutschen Volk geraubt werden soll, und wie der Raub be¬ 
sonders unter die Nachbarn Deutschlands verteilt wird“. Er schildert den Niedergang von 
Staat und Wirtschaft und schließlich an Hand von eindringlichem Zahlenmaterial die Ent¬ 
artung von Familie und Nachwuchs. 

Ob die von ihm vorgeschlagenen Wege zur Therapie der Kultur gangbar sind, darüber 
muß wohl die Zukunft entscheiden. Zur Gesundung der internationalen Beziehungen durch 
das christliche Prinzip schlägt er z. B. vor, „den Zankapfel Elsaß-Lothringen nach Schweizer 
Muster zu neutralisieren, mit oder ohne Anschluß an die von der gleichen alemannischen 
Bevölkerung bewohnten Schweiz, so daß Frankreich und Deutschland sich überhaupt nicht 
mehr berühren“. Er fordert Hebung der Staatsautorität und Sicherung eines Existenzmini¬ 
mums usw. Vor allem sei „die krebsartige Wucherung des individual-kapitalistischen Wirt¬ 
schaftssystems“ zu bekämpfen. 

Er empfiehlt, „die großen christlichen Feste mehr für Gesundung und Neuaufbau der 
Familie nutzbar zu machen“, z. B. Weihnachten als Gelegenheit zu verwenden, um das Thema 
»Kind und Zukunft des Volkes“ der Neuzeit angepaßt in Vorträgen (Predigten) zu erörtern 
und dieses Fest zugleich zum Ehrentage der Mutter als Gebärerin der Zukunft zu gestalten 
und Ostern als Fest des Geistes zum Ehrentage des Familienvaters zu erheben usw. „Hier 
liegen“, bemerkt der Verfasser, „noch reichliche Möglichkeiten für den Priesterarzt“. 

Mit einem sozialpolitischen Gesundungsprogramm schließt die Arbeit. „Die Angehörigen 












292 Referate 


der freien Berufe" — so können wir da lesen — „sind entsprechend anzuhalten, ein unangreif¬ 
bares Familienkapital zu bilden." Der Autor fordert Gesundung des Familiensinnes, „Drosse¬ 
lung der nächtlichen Genüsse, Förderung der Domestikation durch einfachste Ffeimstätten 
mit Radioanschluß in jeder Wohnung", Musik zu den Mahlzeiten, Ausrottung der Aso¬ 
zialen usw. 

Schließlich tritt er warm für die Versöhnung der abendländischen Völker ein, „damit sie 
gewappneter seien gegenüber dem bedrohlichen Wachstum der asiatischen Völker^ die auf 
dem Sprunge stehen, die europäisch-amerikanische Kultur zu verdrängen". 

„Gegen dieses drohende Unheil hilft keine Vogel-Strauß-Politik. Es gilt, rechtzeitig eine 
gemeinsame Plattform des Handelns zur Rettung der kranken europäisch-amerikanischen 
Kultur zu formen." 5^ 

Aus der psychiatrisch-neurologischen Literatur 

OBERHOLZER E.: Zur Differentialdiagnose psychischer Folgezustände nach Schädeltraumen 

mittels des Rorschachschen Formdeutversuchs. Vorläufige Mitteilung an Hand der Aus¬ 
wertung eines Einzelbeispiels. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 

Die Besprechung der obenstehenden Arbeit auf eine Einladung der Redaktion hin bedarf 
an dieser Stelle wohl noch einer sachlicheren Begründung als nur der Feststellung, daß es be¬ 
sonders Psychoanalytiker waren, die den Rorschachschen Versuch der Psychoanalyse dienst¬ 
bar zu machen versucht, und mit ihm auch andere Gebiete der Psychiatrie betreten haben. 
Die vorliegende Arbeit stellt eigentlich das Gegenstück zu Rorschachs zweiter Ver¬ 
öffentlichung dar, der einzigen, mit der er selber seine „Psychodiagnostik"^ noch weiter¬ 
führen, und in ihrem letzten Drittel zusammen mit Oberholzer den Versuch selber mit 
der Psychoanalyse verknüpfen konnte, mittels der bedeutsamsten Versuchsfaktoren, der 
Kinästhesien und der Farbantworten. In jenem Falle^ handelt es sich um die eingehende 
Ableitung und Darstellung einer einzelnen komplizierten Neurose aus dem Versuchsprotokoll 
und die Konfrontierung des Psychogramms mit dem aus der Psychoanalyse Oberholzers 
gewonnenen Bilde; hier bei einem klinisch strittigen posttraumatischen organischen Syn¬ 
drom noch um ein weiteres, um die Differenzierung des organischen Symptomenanteils vom 
rein neurotischen bzw. unfallneurotischen. Es war auch offenbar die Absicht des Ver¬ 
fassers, dem bisher einzigen ausführlich publizierten Beispiel eines Psychogramms ein zweites 
mit wesentlich anderen Anomalien, solchen der intellektuellen Leistungsfähigkeit, beizufügen. 

Ein Versuch, der so weit auseinanderliegende psychiatrische Krankheitsbilder, wie eine 
Neurose und ein organisches Syndrom aufzufangen und wiederzuspiegeln vermag, daß seine 
Ergebnisse denjenigen der Psychoanalyse bzw. der psychiatrisch-neurologischen Befundsauf¬ 
nahme standhalten können, verdiente grundsätzlicheres Interesse und eingehendere Pflege als 
ihm bis jetzt beschieden waren. Mußte doch jeder eingehenderen Veröffentlichung über 
eine Untersuchung mit dem Rorschachschen Versuch eine Darstellung des Experimentes 
vorausgeschickt werden; auch der vorliegenden. 

Hier sei nur soviel hervorgehoben: Der Rorschachsche Versuch ist ein Wahrnehmungs¬ 
experiment. Seine Voraussetzung, daß schon im Wahrnehmungsvorgang des einzelnen die 

1) Rorschach, Psychodiagnostik, Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungsdia¬ 
gnostischen Experimentes (Deutenlassen von Zufallsformen). Ernst Bircher Verlag in Bern 
und Leipzig 1921. Zweite Auflage Hans Huber Verlag, Bern 1932. 

2) Rorschach, Zur Auswertung des Formdeutversuchs für die Psychoanalyse. Nach 
dem Tode des Verfassers herausgegeben von Emil Oberholzer. Zeitschrift für die ge¬ 
samte Neurologie und Psychiatrie, 82, 1923, Festschrift für Bleuler. Abgedruckt in der 
zweiten Auflage der „Psychodiagnostik". 




































Referate 


293 


ganze Persönlichkeit mit ihrer Intelligenz, ihrer Begabung, ihrer Erlebnisfähigkeit und auch 
ihren allfälligen psychischen Störungen enthalten sei, wird durch seine Ergebnisse immer 
wieder bestätigt. In der Erfassungs- und Verwertungsmöglichkeit dieses individuellen Wie 
der Wahrnehmung liegt zugleich das Wesentliche und Ingeniöse des Rorschachschen 
Versuchs. 

Zehn festgelegte und in gleicher Reihenfolge präsentierte Zufallsbilder bieten ungezählte 
Wahrnehmungsmöglichkeiten, von denen die jeweils gegebenen Deutungsantworten die 
Grundlage der Versuchsfaktoren bilden. Zu den wichtigsten gehören: das Prozent der 
gut gesehenen Form-, das der Tier-, der Original- und der Vulgärantworten; die Anzahl 
der Bewegungs- und der Farbantworten, ihr gegenseitiges Verhältnis = der Erlebnistypus, 
Rorschachs typologisches Koordinationssystem sozusagen; dann die Erfassungsmodi, der Er¬ 
fassungstypus der gesehenen Entitäten und ihre Sukzession bei den einzelnen Tafeln. Diese 
Werte, bzw. ihr gegenseitiges Verhältnis, behalten für das Individuum eine auffällige Kon¬ 
stanz, mögen auch die Inhalte der Antworten bei verschiedenen Aufnahmen wechseln. Dies 
gilt auch von den beiden Versuchen des vorliegenden Falles. 

Oberholzer skizziert zuerst die verschiedenen kaum zu vereinenden Auffassungen über 
die psychischen Unfallsfolgen nach Schädel- und Hirntraumen* gibt dann die Darstellung 
eines solchen Gutachtenfalles, wie er von verschiedenen Experten psychiatrisch — nicht 
neurologisch — im wesentlichen gleich gesehen, aber verschieden interpretiert wurde, einmal 
als Unfall- (Begehrungs-) Neurose, dann als organischer Defektzustand, und fügt zwei im 
Abstand von zehn Tagen auf genommene Rorschachsche Versuche an, den ersten nur als 
Verrechnung, den zweiten als Beispiel eines vollständigen Protokolles wie es zum eigent¬ 
lichen Psychogramm unerläßlich ist. Zum Vergleich ist noch das Versuchsprotokoll samt 
Verrechnung eines gesunden Intelligenten beigegeben. 

Als ganz augenfällige Abweichung von diesem Normalbefunde zeigt sich eine schwere 
Beeinträchtigung der Erfassungsmodi, der Repräsentanten der intellektuellen und logischen 
Funktionen, was allein eine Neurose ausschließt. Im einzelnen sind es hier die Ganzant¬ 
worten vor allem, die fehlen bzw. durch sekundäre, konfabulierte G. ersetzt sind, die durch 
ihren stereotypen Inhalt auch noch die organische Perseveration demonstrieren. Andere 
Versuchsfaktoren, wie das schlechte Form- und das hohe Tierprozent, der Mangel an 
Kinästhesien und die ungewöhnlich lange Versuchsdauer, gestatten dem Verfasser Funktion¬ 
störungen und Defekte der psychischen Leistungsfähigkeit einzeln abzuleiten und herauszu¬ 
stellen: Erschwerung und Verlangsamung der psychischen Vorgänge, mangelnde Präsenz und 
Assoziationsarmut, Schwerbesinnlichkeit und Schwerfälligkeit, Perseveration im Dienste von 
Verlegenheitskonfabulationen, Hilflosigkeit gegenüber höheren Anforderungen und ver¬ 
wickelter Aufgabenfolge, Mangel an Kombinationsfähigkeit, leichte Kritik und Urteilslosig¬ 
keit und eine leichte Merkfähigkeitsstörung. Nicht nur die Ausfälle zeigt dieser Versuch^ 
sondern auch die ursprüngliche Intelligenzstufe und den Grad der noch erhaltenen Wahr- 
nehmungs-, Auffassungs- und Aufmerksamkeitsfähigkeit, und zwar an den vorwiegend guten 
Formen mit den nicht stereotypen Inhalten der Detailerfassungen. Aus anderen Faktoren 
wie den Kleindetailantworten geht hier beides, Verlust und Besitzstand, hervor. 

Hinsichtlich der Affektivitätsstörung läßt der Mangel an stabilisierenden Bewegungsant¬ 
worten eine Affektlabilität, und Zahl, Qualität sowie gegenseitiges Verhältnis der Farbant¬ 
worten eine große Emotivität annehmen. Die Stärke der Farbantworten schließt eine psycho¬ 
gene Depression aus. Daß die Einbuße an intellektueller Einfühlung und Anpassung größer 
sein muß als die affektive Ansprechbarkeit, geht aus dem Verhältnis der Vulgärantworten zu 
den Farbantworten hervor. 

Die Zusammenfassung der Interpretationen des bisherigen Versuchsbefundes kann sich' nur 
^uf einen Defektzustand im Sinne des organischen Syndromes beziehen* Differentialdia¬ 
gnostische Abgrenzungsmöglichkeiten des Rorschachschen Versuchs gegenüber anderen or- 

Int. Zeitschr. t Psychoanalyse, XXI/2 


20 














294 


Referate 


ganischen Syndromen und gegenüber der Oligophrenie und die Kenntnis der Ätiologie lassen 
diesen Befund noch genauer als posttraumatischen Schwächezustand (Kräpelin) oder post¬ 
traumatische Hirnleistungsschwäche (Poppelreuter) präzisieren. Damit ist aber nicht 
alles ausgeschöpft. Ein Farbenschock, d. h. der direkt oder indirekt nachzuweisende Stupor 
gegenüber den farbigen Tafeln, weist auf eine neurotische Komponente neben deni organi» 
sehen Befunde. Qualitative Identität der beiden Versuchsbefunde und fehlende anatomische 
Deutungen sprechen gegen Versicherungs- bzw. Rentenneurose und machen eine sekundäre 
Psychoneurose wahrscheinlich. 

Im Resume, das nur den Weg, nicht jeden einzelnen Stützpunkt angeben kann, muß diese 
Ableitung an Reiz und Überzeugungskraft einbüßen. Auch so wirkt die Übereinstimmung 
dieser Blinddiagnose mit den gutachtlichen Schlußfolgerungen des zweiten Experten, Doktor 
Brun, verblüffend: ...Verschiedene objektive neurologische Symptome, die zweifellos als 
Residuen einer organisch-zerebralen Herdläsion aufzufassen sind ... Auch die psychiatrische 
Prüfung ergibt das eindeutige Bild eines mittelschweren organisch-psychischen Defektzu¬ 
standes ... Keine Simulation oder auch nur Aggravation — Gegenwärtig Erscheinungen 
einer sekundären Psychoneurose... 

; Daß diesem Resultate über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt, wegen der 
diagnostischen Unsicherheiten gerade auf einem Gebiete, das in der hochentwickelten 
schweizerischen sozialen Unfallgesetzgebung und der damit zusammenhängenden ausgedehnten 
psychiatrisch-neurologischen Gutachtertätigkeit eine besondere Rolle spielt, ist von zuständi¬ 
ger Seite schon erkannt worden. Blum nennt in einer Arbeit „Zur Begutachtung von 
Hirn- und Schädeltraumen“ (Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1933, Nr. 30) An¬ 
wendung und Ausbau des Rohrschachschen Versuchs beim Hirntraumatiker durch Ober¬ 
holzer eine wertvolle Bereicherung der Untersuchungstests. 

Beim Vergleich des klinischen Untersuchungsergebnisses mit dem Psychogramm, den Ver¬ 
fasser im einzelnen nun durchführt, tritt eine wesentliche Eigentümlichkeit des Rorschach- 
schen Versuchs, nämlich auf die formal-strukturellen Momente alles Psychischen, nicht auf 
dessen Inhalte abzuzielen, hier weniger gut demonstrierbar hervor als in anderen Fällen. Wie 
den Inhalten der Deutungsantworten nur bedingte Bedeutung zukommt, so erfaßt der Ror- 
schachsche Versuch die psychischen Inhalte nur indirekt und in zweiter Linie. Bei einer 
Neurose beispielsweise verrät der Rorschachsche Versuch ein Konversionssymptom, aber nicht 
notwendigerweise die spezielle hysterische Lähmung oder Frigidität; er zeigt die Angst an, 
aber nicht die Phobie oder den freien Angstanfall. 

Dieser Mangel an Anschauung läßt den Versuch lange spröd erscheinen, bis allmählich 
auch die Verrechnungen ihr Leben bekommen und dann den ganzen Vorsprung dieser ab¬ 
strakt-formelhaften funktionellen Darstellungsweise vor jeder klinischen Beschreibung und 
Typisierung enthüllen. Gewiß ist auch das Ziel des Rorschachschen Versuchs kein anderes 
als die Verrechnung zu interpretieren, ihr also im Psychogramm sprachlichen Ausdruck zu 
geben. Aber es ist doch etwas grundsätzlich anderes, ob eine Funktionsstörung oder eine 
Persönlichkeit in einen festen Typus eingeordnet bzw. beschrieben wird, oder ob ihnen in 
einem so umfassenden Bezugssystem ihr zugehöriger Ort bestimmt werden kann. 

Eine zweite Schwierigkeit des Rorschachschen Versuchs besteht darin, daß man sich für 
das Psychogramm trotzdem nie mit der Verrechnung allein begnügen kann, sondern stets 
die Stellung der einzelnen Faktoren zueinander und die Genese jedes einzelnen, also stets 
das ganze Versuchsprotokoll mitberücksichtigen muß, was die vorliegende Arbeit, die auf 
Schritt und Tritt über das rein Rechnerische und Zahlenmäßige des Befundes hinausgeht, be¬ 
sonders eindringlich illustriert. 

Weitere Schwierigkeiten bereitet die Notwendigkeit der ebenso unerläßlichen wie nicht 
eben leicht zu erwerbenden Erfahrung mit dem Rorschachschen Versuch, und sie erklären 
vollends seine eingangs festgestellte geringe Verbreitung. Wie die korrekte Bewertung und 


































Referate 


295 


Formulierung einer Antwort die Kenntnis vieler Deutungen der gleichen Entität zur Vor¬ 
aussetzung haben muß, so müßten einem bei der Aufstellung eines Psychogramms die Durch¬ 
schnittswerte und die Verhältnisse von normalen Versuchsbefunden und die der hauptsäch¬ 
lichsten psychiatrischen Krankheitsbilder präsent sein, von den Oligophrenien zu den Schizo¬ 
phrenien und von den Neurosen zu den organischen Syndromen. 

Für das Gebiet, dem Verfasser diese vorbildliche Analyse eines Einzelfalles entnahm, hat 
er auch die als letzte Schwierigkeit erwähnte Aufgabe erfüllt, in einer Arbeit, die unter dem 
gleichen Titel im Bericht über den 1 . Internationalen neurologischen Kongreß in Bern 1931 
erschienen ist. 

Die Sprödigkeit ihrer Resultate und all die erwähnten Schwierigkeiten mögen manchen 
vom Rorschachschen Versuch abschrecken. Doch von den reichen Möglichkeiten, die ihre 
Überwindung bieten kann, ist das referierte Beispiel einer Differentialdiagnose nur eine. 
Und darf nicht die Psychoanalyse selber dafür angeführt werden, daß gerade in das frucht¬ 
barste psychologische Neuland besonders mühselige Wege führen? F. Weil (Basel) 

Psychotherapeutische Praxis, Vierteljahrsschrift für praktische ärztliche Psychotherapie, Her¬ 
ausgeber Dr. Wilhelm St ekel, Band i, Heft 3. 

Der erste Artikel von A. Kronfeld (Berlin) hat den Titel: „Gibt es einen Tod an 
Neurose?“ A. Kronfeld bejaht die Möglichkeit eines Todes durch Neurose, er weist auf 
die intensive Beteiligung der Vaguserscheinungen am körperlichen Ablauf bestimmter Affekte 
hin und spricht die Ansicht aus, daß bei entsprechender Intensität des Affekts und ge¬ 
nügender körperlicher Disposition auch jenseits des Status thymicolymphaticus ein Herztod 
durch neurotische Reaktion beobachtbar sei. Er illustriert seine Annahme durch den Fall 
eines Turnlehrers, den die Angst vor gerichtlicher Verfolgung wegen sexueller Delikte an 
halbwüchsigen Mädchen unter Erscheinungen eines vagalen Kollapses zum Tode führte. Er 
meint, daß die Angstreaktion in diesem Falle so intensiv ausgefallen sei, weil aus den Ver¬ 
gehen neben der kriminellen Schuld auch die infantile Schuld wirksam wurde und dadurch 
die Angst des Patienten aus Kastrationsangst, Vitalangst und Gewissensangst sich zusammen¬ 
setzte und so eine übermächtige Quantität erlangte. 

Der zweite Fall, den Kronfeld berichtet, litt an einer nervösen Eßstörung, die, wie die 
kurze analytische Untersuchungszeit ergab, deutlich infantilen Motiven, Phantasien und 
Wunschvorstellungen ihre Entstehung verdankte. Die Patientin aß sehr wenig und nahm 
sofort nach jeder Mahlzeit regelmäßig Abführpillen, bis dreißig Tabletten täglich neben 
Bitterwasser und Sennatee, um möglichst schleunig den „Unrat“ aus ihrem Leib zu ent¬ 
fernen. Kronfeld leitet aus der kurzen Krankengeschichte als neurosenätiologische Basis 
einen phallisch-aggressiven Charakter, maßlosen Penisneid, Übernahme der männlichen Rolle, 
latente Homosexualität, Haß- und Rivalitätsgefühle gegen beide Geschlechter ab. Vielleicht 
betont er die aus dem Material deutlich sichtbare Angst vor der Gravidität und die Abwehr 
der Schwangerschaftsphantasien zu wenig. Die neurotische Erkrankung führte zum Tode der 
Patientin durch enorme Abmagerung und Verhungern. 

W. Bircher (Zürich) schreibt „Vom Nervenzusammenbruch“. Er faßt den Nervenzu¬ 
sammenbruch als ökonomisches Problem und spricht mit Ja net von einem „konstanten, in¬ 
dividuellen Einkommen an ,energie psychique*“. Er unterscheidet zwei Formen des Nerven¬ 
zusammenbruchs; die eine sei bedingt durch mangelnden Zufluß aus der Quelle der psychi¬ 
schen Energie beruhe also auf biologischer Basis. Er nennt als Ursache dieser Form Mangel 
an akzessorischer Nahrungsfaktoren (Mangel an bestimmten Mineralsalzen, Vitaminen, 
Lipoiden, Enzymen usf.), Übermaß an Toxinen, Eiweißspaltprodukten, Alkaloiden, Allergenen, 
mikrobiellen und chemisch noch nicht faßbaren Giften, Stoffwechselleiden, Zirkulations¬ 
störungen, Zahnwurzelgranulom. 

Die zweite Form, der der Aufsatz sich hauptsächlich widmet, wurzle in der schlechten 

20 ^ 













2 g 6 


Referate 


Verteilung der psychischen Energie. Ein angeführter Fall wird durch Muskelentspannung» 
Atemübungen, vor allem Summen in verlängerter Ausatmung zur inneren Konzentration 
gebracht und so in ihm aus der „Anarchie des Denkens“ langsam eine „Hierarchie der 
Werte“ gebildet. Überhaupt sei die wichtigste Aufgabe des Psychotherapeuten, seinem Pa¬ 
tienten zu helfen, in den Geschehnissen seines Schicksals den Sinn aufzudecken oder zu 
schaffen. Die Sinngebung setzt die Anerkennung der Naturgesetzlichkeit voraus und führt 
zum transzendenten, religiösen Sinn hin. „Wenn aus Sinnlosigkeit Sinn wird, wird auch Liebe 
aus Haß oder Angst; so werden Sinn und Liebe eins.“ 

„Biopsychische Betrachtungsweise des Asthmas“ ist der Titel eines Artikels von A. Fried- 
länder (Freiburg i. Br.), wobei er unter „biopsychisch“ die Mischung von seelischer mit 
körperlicher Therapie versteht; so etwa wird möglichst flüssigkeitsarme Kost, reichliche Er¬ 
nährung, bei auftretenden Beklemmungen warmer Stamm- und kalter Kopfumschlag, und 
täglich mehrmalige Atemgymnastik nach erteilter Anweisung, kombiniert mit aufm.unternder 
und hypnotischer Behandlung, eventuell St ekelscher Analyse. Der Verfasser ist dafür,, daß 
der Arzt in das krankhafte Geschehen möglichst wenig mit Arzneien eingreife, sondern daß 
er bestrebt sei, „die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers naturgemäß zu unterstützen“. 

„Zur Psychotherapie des Asthma bronchiale“ schreibt Ernst Jolowicz (Paris). Er tritt 
vor allem für die psychische Behandlung des Asthmaleidens ein und schildert an einigen 
Fällen die durch oberflächliche Analyse zutage geförderten affektiven Anlässe der Erkran¬ 
kung, bzw. der einzelnen Anfälle (Fixierung an die Mutter, unterdrückter Zornaffekt usw.). 
Die kathartische Entladung führe zur Kupierung des Anfalls. Der Verfasser meint, daß der 
Psychotherapie auch für Fälle mehr somatischer Genese ein größerer Spielraum eingeräumt 
werden muß. 

„Experimenteller Hypnotismus“ nennt sich ein Artikel von J. Fla tau (Berlin). Der 
Verfasser versteht darunter, „daß i. Versuche anzustellen seien, was das Wesen des Hypno¬ 
tismus, wieweit die Wirkung der sogenannten hypnosigenen Mittel, und 5 as Verhalten der 
Hypnotisierbarkeit dem experimentellen Hypnotismus zuzurechnen seien. 2. Sind psy¬ 
chische und psychophysische Verhaltensweisen und Abläufe normaler und nicht normaler 
Art unter Einwirkung des Hypnotismus zu studieren.“ Der Verfasser meint, der experimen¬ 
telle Hypnotismus habe differenzialdiagnostische und forensische Bedeutung. Er breitet sich 
über die differenzialdiagnostische Bedeutung weiter aus und schildert zwei Fälle von un¬ 
klarem Erbrechen, die durch hypnotische Exploration und Untersuchung als hysterisch 
sichergestellt wurden. Es gelte durch den experimentellen Hypnotismus Krampfzustände, 
Veränderungen der Herztätigkeit, Erröten und Schwitzen zu erzeugen und zu überprüfen. 
Fla tau tritt für die Hypnose als Therapie ein, meint allerdings, es müsse sich um eine 
dem Fall angemessene Beeinflussung handeln, „deren Weg sich aus dem, was die Analyse ge¬ 
bracht hat, ergeben wird“. 

A. Gallinek (Amsterdam) erscheint mit einer Mitteilung über „Sexualtrieb.und Eisen¬ 
bahn“, ausgehend von einem Fall, der durch zwanghaftes Eisenbahnfähren, eventuelles 
Schwarzfahren im dicht besetzten Abteil zur Sexualbefriedigung kam. Verfasser spricht von 
„Eisenbahnfetischismus“ und versucht, ihn auf infantile Erlebnisse zurückzuführen. Als 
tiefste Determinante nimmt er die „animale Lust“ an der Fortbewegung an, die er mit 
J. H. Schulz von sexuellen Gefühlen unterscheidet. R. Stcrba (Wien) 


Aus der psychoanalytischen Literatur 

BENEDEK, THERESE: Some Factors Determining Fixation at the Deutero-Phalüc Phase. 
Int. Journal of PsA., XV/4. 

Frau Benedek knüpft in dieser Arbeit theoretische Überlegungen an eine ausführliche 
klinische Studie über einen Fall von Homosexualität, der nach dem Typus eines über- 






















Referate 


297 


kompensierten Flasses, wie ihn Freud in seiner Arbeit „Über einige neurotische Mecha¬ 
nismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität“ beschrieben hat, gebaut war; sein 
ursprüngliches Objekt war aber in diesem Falle kein Bruder, sondern der Vater selbst 
gewesen. Der Patient war aus Kastrationsangst auf der „deutero-phallischen“ Stufe fixiert 
und wies neben seiner Perversion phobische und paranoide Züge auf. 

Der Patient war ein einziges Kind. Als er elf Jahre alt war, starb sein Vater. Am Anfang 
der Analyse glaubte er, ihn nur zu lieben. Die Mutter war eine strenge und in Zärtlich¬ 
keiten sehr zurückhaltende Natur. Dennoch war der Patient noch als Erwachsener von 
ihr, die ihn wie ein Kind behandelte, völlig abhängig. —- Im ii. Lebensjahre wurde der 
Patient homosexuell verführt; im 17. und 18. versuchte er kleinere Annäherungen an 
Frauen, seither war seine Sexualbetätigung ausschließlich homosexuell. Das Merkwürdige 
war, daß er seine homosexuellen Objekte offenkundig nicht liebte; vielmehr, war er bestrebt, 
so zu werden, wie sie, er beneidete sie um ihre Männlichkeit. Er fühlte im Verlaufe der 
Analyse, daß der homosexuelle Verkehr für ihn einen Kampf bedeutete, jeder einzelne Akt 
eine Introjektion, durch die er sich ihm fehlende Männlichkeit zu holen suchte. Der Akt 
bedeutete für ihn; ein Vater stärkt die Männlichkeit seines Sohnes und macht ihn zu 
einem Manne, wie er selbst einer ist. — Dabei interessierte den Patienten am Manne im 
Grunde einzig der Penis. Er beobachtete die sinnliche Erregung des Partners, hatte dabei 
wenig zärtliche Gefühle und wechselte häufig und leicht die Objekte. Er war narzißtisch- 
phallisch orientiert. — Frauen erschienen ihm als ideale asexuelle Wesen, die doch nur 
Männer nehmen, die männlicher sind als er selber. Sein Über-Ich war ein mütterliches. 

Die Psychoanalyse ergab: Grundlegend war die Angst vor dem weiblichen Genitale als 
vor einer Kastrationsgefahr. Im Vordergründe standen schwere Hemmungen einer ge¬ 
steigerten Exhibitions- und Schaulust. Er vermied auf jede Weise, etwas „intim Weib¬ 
liches“ zu sehen, je männlicher die Objekte seines Schautriebs, desto besser. In seiner frühen 
Kindheit war dieser Schautrieb noch ungehemmt gewesen. Die Hemmung begann im vierten 
Lebensjahre, als der Patient eine zweimalige Phimosenoperation erfuhr. (Die vorangegangene 
„konservative Behandlung“ der Phimose hatte die Peniserogeneität frühzeitig geweckt bzw. 
gesteigert.) Von der Operation an wollte das Kind nicht mehr zur Mutter ins Bett, sondern 
einzig zum Vater. Er wählte nunmehr den Vater zum Objekt, aber weniger in einer 
Mutteridentifizierung, als vielmehr in einer Art narzißtischer Identifizierung mit ihm selbst. 
Diese war von seiner „Objektliebe“ nicht zu trennen und wurde die Hauptkomponente 
seiner Libidoökonomik. Es war deutlich, daß Erlebnisse, die unbewußte Erinnerungen an 
die Mutter mobilisierten, die Homosexualität verstärkten. Er hatte u. a. die paranoide Idee, 
ein Mann könnte ihn in Gegenwart seiner Mutter attackieren, und die Mutter dadurch 
etwas von seiner Perversion erfahren — ein Beweis für die Bedeutung der unbewußten Be¬ 
ziehung zur Mutter in seiner Homosexualität. Er war auch tatsächlich in seinen Lebens¬ 
verhältnissen vom Urteil der Mutter und anderer Frauen sehr abhängig, wollte sich von 
Frauen geliebt fühlen, meinte aber, dazu nicht männlich genug zu sein und sich erst 
Männlichkeit vom Vater holen zu müssen. Die Homosexualität war ein Versuch, sein 
Selbstgefühl wiederherzustellen, das ihm durch die Operation verlorengegangen war. Die 
normale Über-Ich-Bildung wurde nicht vollendet, sondern der Patient behielt ein archaisches 
mütterliches Über-Ich. 

Vor der Operation hatte der Patient schon das weibliche Genitale gekannt und libidinöses 
Interesse daran genommen. Erst als das Trauma die Kastrationsangst in die Höhe trieb, pro¬ 
jizierte er diese Angst auf die Mutter, die schon kastriert war. Die starke Entwicklung 
des Schautriebs hatte wohl schon die Funktion, Kastrationsgedanken zu überkompensieren. 
Nach der Operation fühlte er sich der Mutter gleich und rebellierte gegen diese Identifi¬ 
zierung. 

Die Entwicklungsgeschichte der Erogeneität des Penis sei, meint Frau Benedek, noch 















298 


Referate 


wenig studiert. Er sei zunächst ein passives (wir möchten sagen: urethralerotisches) Lust¬ 
organ. Nur wenn die Entwicklung der Peniserogeneität zur eigentlich „phalHschen" schon 
vollzogen sei, wenn der volle Ödipuskomplex sich entwickle und untergehe, entwickle sich 
das normale Bild. Dies scheine die Voraussetzung für die volle Über-Ich-Bildung nach dem 
Vatervorbild. 

Im vorliegenden Falle hatte die Operation den Penis des Jungen schon vorher bedroht. 
Dies sei schuld daran, daß sich in solchem Ausmaße ein mütterliches Über-Ich entwickelte, 
wenn nicht schon oral-sadistische Konflikte nach Klein und Jones hier den Grund gelegt 
hatten, was die Analyse nicht eindeutig nachweisen konnte. 

Die Ambivalenz den homosexuellen Objekten gegenüber, stammte aus den frühen 
Aggressionsneigungen gegen den Vater. Auch die Strenge des mütterlichen Über-Ichs 
entsprach der Stärke dieser Aggression. 

Perversionen sind aus Angst vor der Sexualität erfolgende Überbesetzungen eines Partial¬ 
triebes, dessen Betätigung das Angstmotiv leugnet, und dessen Überbesetzung das Ich be¬ 
fähigt, den anstößigen Rest der infantilen Sexualität zu verdrängen. Von solcher Art 
scheint Frau Benedek auch die Überbesetzung der (homosexuellen) Phallizität des Pa¬ 
tienten. Das erinnere an Jones’ „deutero-phallische“ Phase, einer Verstärkung des phalli- 
schen Narzißmus aus reaktiven Gründen bei Steigerung der Kastrationsangst. Woher 
nimmt das Ich die Energie zur Errichtung solcher Überkompensationen, solcher „Gegen¬ 
besetzungen“ zur Abwehr von Angst? Nach Freud aus „desexualisierter Libido“, die ge¬ 
wonnen wird anläßlich von Regressionen, die mit Triebentmischungen einhergehen. Die 
Aggression, die bei solcher Entwicklung frei werde, entwickle, meint Frau Benedek, teils 
freie Aggressionsneigung, teils schlage sie sich zum Über-Ich. Eine solche Benutzung von 
Destruktionsenergie sei die wesentliche Bedingung für die Errichtung der Gegenbesetzungen 
der deutero-phallischen Phase. Die Frage nach den konstitutionellen Verhältnissen der 
Bisexualität könnte vielleicht damit Zusammenhängen, insofern ein größeres Quantum 
Destruktion vielleicht einer gesteigerten Männlichkeit entspreche. 

Zusammengefaßt: die extreme Fixierung auf einem narzißtisch deutero-phallischen Sta¬ 
dium ginge zurück auf i. den Zeitpunkt, in dem ein schweres Kastrationstrauma eintrat; 
2. auf die Intensität dieses Traumas; 3. auf die Verhinderung der weiteren Entwicklung der 
Peniserogeneität durch das Trauma, was gleichbedeutend ist mit der Verhinderung der 
Entwicklung eines väterlichen Über-Ichs. — Die oralen und analen Besetzungen wurden nach 
dem Trauma durch Regression wieder mobilisiert; sie wurden von ihren ursprünglichen 
Zielen abgelenkt und dienten, besonders in ihren aggressiven Anteilen, dem Ich zur Er¬ 
richtung von Gegenbesetzungen. 

Die ausgezeichnete klinische Studie von Frau Benedek scheint uns sehr interessant, 
besonders der Hinweis auf die noch zu erforschende Entwicklungsgeschichte der Erogeneität 
des Penis. Aber zwei Bemerkungen seien in diesem Zusammenhänge gestattet: i. Die 
reaktive narzißtisch-phallische Besetzung des Penis ist von der primären aus der Erogeneität 
stammenden und biologisch bedingten libidinösen Besetzung des Penis sehr verschieden. Das 
beweist ja gerade dieser Fall, der ja schwer pathologisch, nämlich pervers und orgastisch 
impotent war; 2. es leuchtet ein, daß die reaktiven Gegenbesetzungen des Ichs von der 
Energie zielabgelenkter prägenitaler Impulse stammen. Es wurde nicht ganz klar, warum 
Frau Benedek in diesem Zusammenhänge auf die „Destruktionsenergie“ und die Trieb¬ 
entmischung so besonderes Gewicht legt. O. Fenichel (Oslo) 

EDDISON, H. W.: The Love Object in Mania. Int. Journal of PsA., XV/4. 

Maniker machen krampfhafte Anstrengungen zu libidinösen Objektbeziehungen, und zwar 
scheinen die Personen, die Objekte solcher Übertragungsaktionen werden, weitgehend gegen¬ 
einander austauschbar. Nicht einmal das Geschlecht der Betreffenden scheine wesentlich. 



























Referate 


299 


Die Beziehungen seien meist gleichzeitig sehr haßerfüllt („negative Übertragung") und vom 
Charakter einer passiven Oralität (der Patient möchte für sich sorgen lassen). — Eddison 
beschreibt zwei Fälle, bei denen es besonders deutlich wurde, daß sie gleichzeitig ein Objekt 
zum Hassen und eines zum Erfüllen ihrer Bedürfnisse brauchten. Es handle sich dabei um 
eine Re-Projektion der in der Melancholie introjizierten gehaßten Mutter. 

O. Fenichel (Oslo) 

HORNEY, KAREN: The Overvaluation of Love. A Study of a Common Present Day 

Feminine Type. PsA. Quarterly III, 4. 

Frau Horney beschreibt einen in vielen Varianten auftretenden modernen Frauentyp, 
dessen bezeichnendes Merkmal eine „Überschätzung der Liebe" ist, eine Pseudohypersexualität, 
die reaktiven Charakter trägt, da sich hinter ihr narzißtische und prägenitale Konflikte ver¬ 
bergen. Ihr Verhältnis zu Männern ist für sie von der größten Wichtigkeit, und doch bringen 
sie keine dauernde Bindung zustande; ihre Sehnsucht danach hat oft den Charakter einer 
„fixen Idee", während gleichzeitige Arbeitshemmungen von den Patientinnen weit weniger 
bemerkt oder beachtet werden; manchmal treten diese auch erst während der Analyse in Er¬ 
scheinung. Alle diese Patientinnen hatten auch eine Angst, wahnsinnig oder sonstwie „nicht 
normal" zu sein; in der Übertragung waren sie oft bestrebt, der Analytikerin zu zeigen, daß 
sie nichts erreichen könne; erotische „Aktionen" spielten eine große Rolle. Die Patientinnen 
wollten mit all dem eine Abhängigkeit von der Analytikerin vermeiden bzw. leugnen. (Sie 
benutzten, möchten wir sagen, Männer, um präödipale Mutterkonflikte abzuwehren.) Das 
unbewußte Ziel der Übertragungsaktionen war stets, die Eifersucht der Analytikerin zu er¬ 
regen oder ihr, der eine Neigung zu Sexualverboten zugeschrieben wurde, zu trotzen. Die 
Ambivalenz zur Analytikerin ist groß, die Übertragung oft fast paranoid. Es ist die Ab¬ 
wehr der maskulinen (präÖdipalen) Homosexualität, die zum Manne treibt. Innerhalb dieser 
maskulinen Homosexualität aber prävalieren sadistische und destruktive Impulse. Daß diese, 
wie bei anderen Frauen, durch liebevolles äußeres Betragen überkompensiert würden, kommt 
kaum vor. — Diese enorme Rivalität gegenüber den Mutterfiguren tritt besonders in der 
erotischen Sphäre in Erscheinung, und zwar in der Form von Projektionen. Die Phantasie, 
daß zum Zusammensein mit dem Mann ein Kampf mit der Frau nötig wäre, ist Ursache der 
Schuldgefühle, die die Sexualität hemmen. Die weibliche Hauptfigur, letzten Endes die 
Mutter, ist oft durch eine ältere Schwester repräsentiert, mit der die Patientin in der Kind¬ 
heit tatsächlich zu rivalisieren versucht hatte. Gegen die Rivalin gerichtete Vorwürfe wech¬ 
seln jetzt mit Selbstvorwürfen ab. — Die Angst, nicht „normal" zu sein, deckt oft eine Häß- 
lichkeits- oder sonstige körperliche Minderwertigkeitsangst („schlechte Kleidung"), die oft mit 
Männlichkeitswünschen abgewehrt wird, öfter aber noch durch ein übertriebenes Demon¬ 
strieren des Umstandes, daß man doch auf Männer Eindruck mache. — Das Minderwertig¬ 
keitsgefühl erweist sich in der Analyse als genital (man habe sich durch Masturbation ver¬ 
letzt o. dgl.); die Onanieschuldgefühle hängen mit typischen sadistischen Onaniephantasien 
zusammen. Es sind allesamt Frauen mit gesteigerten oralsadistischen Konflikten. Diese 
färben wohl von vornherein den von Frau Horney ebenfalls als charakteristisch für die 
hohen Rivalitätskonflikte hervorgehobenen ödipuskoniplex. Aggressive Haltungen Männern 
gegenüber sind zwar auch immer vorhanden, aber die Männer erscheinen hierbei als Ersatz¬ 
figuren für Frauen. 

Im ganzen seien folgende Faktoren für die „Hypersexualität" bestimmend: Wege zu 
anderen „sublimierten" Befriedigungsarten sind verlegt; homosexuell-destruktive Fixierungen 
müssen überkompensiert werden; endlich weist die Analyse oft frühe sexuelle Erlebnisse 
nach, die eine intensive Orgasmusangst zurückließen; die „Überschätzung der Liebe" ent¬ 
spricht dann einem ständigen Suchen nach etwas, was man gleichzeitig nicht finden will. 
Liebe erscheint den Patientinnen als Abhängigkeit — und diese wird gefürchtet. Oft ent- 













300 


Referate 


wickeln sie einen Despotismus, damit der Partner von der Patientin abhängiger sei als diese ! 
von ihm. Verletzte weibliche Eitelkeit und gesteigerte weibliche Rivalität treiben zu hohem j 
Ehrgeiz an; dieser wird dann unter Umständen auf den Ehemann verschoben. Die Kon¬ 
flikte zwischen dem hohen Ehrgeiz und dem geringen Selbstgefühl haben dann wieder weitere ^ 
komplizierende Folgen. — Alle diese Voraussetzungen lassen solche Frauen oft in einen Kon¬ 
flikt zwischen Mann und Arbeit geraten, so daß die Psychoanalyse dieser Konflikte eine ! 
akzidentelle persönliche Quelle aufdeckt für diesen aus soziologischen Gründen heute so typi¬ 
schen Konflikt. Daß eine solche persönliche Vorgeschichte gerade heute häufig in diesen Kon¬ 
flikt drängt, das, sagt Frau Horney mit Recht, ist eben Folge sozialer Faktoren, die der 
Analytiker als gegeben hinnehmen muß. (Aber, würden wir hinzufügen, auch das Häufiger¬ 
werden solcher persönlicher Vorgeschichten, auch das Hervortreten der prägenitalen ambi- j 
valenten homosexuellen Fixierungen müßte selbst wieder durch „soziologische" Faktoren, 
durch Änderung in Erziehung und Moral, erklärt werden.) I 

Zu bedauern ist, daß Frau Horney bei der Besprechung ihrer interessanten Beobachtun¬ 
gen die zahlreiche analytische Literatur über „reaktive Sexualität" und ähnliche Frauentypen 
nicht herangezogen hat. O. Fenichel (Oslo) 


KAUFMANN, M. RALPH: Projection, Heterosexual and Homosexual. PsA. Qu. III/i. 

Ein zwanzigjähriger Schizophrener beschuldigte seine Mutter, ihn sexuell zu begehren, so 
daß er durch ihre Schuld nun auch seinerseits nach ihr Verlangen trage. Die Formel seiner 
Abwehr lautete; „Ich liebe sie nicht — sie liebt mich.“ — Der gleiche Patient erklärte einen 
Mitpatienten für homosexuell, mit dem er bis dahin nicht gut gestanden hatte; von dem 
Augenblick dieser projektiven Beschuldigung an konnte er ihn besser leiden, offenbar, weil 
die Projektion andere Abwehrarten überflüssig machte. 

Die Projektion erfolgte beide Male nicht „ins Blaue", sondern der Patient bewies hiebei 
eine feine Spürnase für das Unbewußte der Mutter und des Mitpatienten. 

O. Fenichel (Oslo) 


ORGEL, SAMUEL Z.: Reactivation of the Oedipus-Situation. PsA. Qu. III/i. 

Orgel teilt eine Episode aus einer Analyse mit. Unter dem Eindruck von zufälligen 
(übrigens nicht sehr bedeutungsvollen) Begebenheiten im realen Leben eines Patienten brach 
im fortgeschrittenen Stadium der Analyse analytisches Material aus dem Bereich des Ödipus¬ 
komplexes mit seltener Plötzlichkeit in Übertragungsaktionen durch. Die nachträgliche ana¬ 
lytische Erfassung dieser Aktionen ermöglichte die Rekonstruktion der frühkindlichen Vor¬ 
kommnisse. O. Fenichel (Oslo) 


RÖHEIM, GEZA; The Evolution of Culture. Int. Journal of PsA. XV/4. 

„Die Entwicklung der Kultur": ein großes Thema. Vieles kann die Psychoanalyse dazu 
beitragen. Das wesentliche Problem, das auch in den kulturphilosophischen Büchern Freuds 
immer wieder gestreift wird, besteht darin, zu erkennen, wie weit die von der Psychoanalyse 
aufgedeckten Begleiterscheinungen bestimmter Kulturen als Ursachen, und wie weit sie als 
Folgen gesellschaftlicher Veränderungen und Institutionen aufzufassen sind. — Die Psycho¬ 
analyse hat Z.B. erkannt, daß die Energien, mit denen die Menschen die sogenannten ' 

„kulturellen Leistungen" betreiben, tatsächlich abgelenkte, sexuelle Triebkräfte sind j 

(Sublimierung). Es ist wahrscheinlich, daß die relativ verlängerte Kindheit des Menschen, j 

die biologische Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings (die selbst wieder phylogenetisch er- | 

klärt werden müßte) die erste Voraussetzung für die Entwicklung von „Kulturfähigkeit" war. J 

Aber sicher, kann man nicht etwa deshalb in mechanistischer Weise sagen: je länger einer- a 

seits die Kindheit, je länger anderseits eine von außen gesetzte Triebunterdrückung wäre, 1 

desto höher wäre die Kulturstufe. (Mechanische Unterdrückung macht Verdrängung, läßt das § 

































Referate 


301 


Unterdrückte im Unbewußten unverändert fortbestehen und stört auf diese Weise alle 
„sublimierten“ Tätigkeiten.) — Eine derartige mechanistische Schlußfolgerung liegt aller¬ 
dings auch Röheim fern. Nachdem er die Verlängerung der Kindheit als eine Bedingung 
der Kulturhöhe beschrieben hat, meint er zum Schluß, eine solche Entwicklungsverzögerung 
habe auch Gefahren, und sieht die heutigen Kulturschwierigkeiten als solche an. Aber er 
fragt — alle Kulturprobleme nur von der psychologischen Seite her angreifend — weder da¬ 
nach, was wohl die Ursache der sich steigernden „Kindheitsverlängerung“ sei, noch danach, 
ob die heutigen Kulturschwierigkeiten nicht auch andere äußere Ursachen in den materiellen 
Bedingungen der Gesellschaft haben könnten. R 6 h e i m legt z. B. großes Gewicht darauf, daß 
in höher entwickelten Kulturen das Über-Ich entwickelter (d. h. vollständiger introjiziert), 
die Analerotik stärker und verdrängter sei; aber er fragt nicht nach den materiellen Ur¬ 
sachen solcher Veränderungen der menschlichen Triebstrukturen, sondern scheint sie für 
eine Art biologischer Mutationen zu halten, die, selbst unbekannten Ursprungs, genügende 
Ursache für die Kulturveränderungen wären. 

Die kulturellen und nationalen Unterschiede, sagt Röheim einleitend, betreffen nicht 
das Es, denn dieses sei relativ uniform. Die Unterschiede liegen vielmehr in den „Ideal¬ 
setzungen“. Das scheint uns im wesentlichen richtig. Nur die Abhängigkeit dieser Ideal¬ 
setzungen von realen äußeren Faktoren, deren Differenzen an sich wieder zu erforschen sind, 
scheint uns weit stärkerer Unterstreichung zu bedürfen. Wo, wieweit und wie Triebäußerun¬ 
gen verboten oder zugelassen werden, scheint allerdings höchst charakteristisch für die 
spezifischen Kulturen. Aber diese Differenzen müssen dann aus ihren historischen mate¬ 
riellen Voraussetzungen erklärt werden! 

Die Manus (Margaret Me ad) nehmen „nur ein Ding ernst“, die kawas, ihre Handels¬ 
fahrten. Die Kinder sollen damit noch nichts zu tun haben, werden aber zu Scham in Ex¬ 
kretionsangelegenheiten erzogen. Die gesellschaftliche Ideologie gehe — analytisch gesprochen 
— darauf aus, Libido von der Genitalität auf die Analität zu verschieben (und dann dort 
noch zu verdrängen); aber dieser Prozeß scheine noch nicht alt zu sein. Das goldene Zeit¬ 
alter gelte dort auch als erst seit ein paar Generationen vergangen. — In Duau spielen die 
kune die gleiche Rolle wie dort die kawas. Die „analen Ideale“ zeigen sich etwa beim sagari, 
bei den großen Schenkfeiern. Das dort relativ gleichfalls starke genitale Element in der Cha¬ 
rakterbildung bringt Röheim in überzeugender Weise mit dem entwickelteren Ackerbau zu¬ 
sammen. Verboten sei dort das aggressiv-männliche Element, projiziert in die männliche 
schwarze Kunst des har au. Auch hier bestehe ein Idealzug vom Genitalen weg zum Prä¬ 
genitalen hin. Das sei, sagt Röheim mit Recht, gar nicht so sehr unterschieden von 
unserer Kultur, für die auch eine hohe Sexualmoral bei einer Hochschätzung des Eigentums 
charakteristisch sei. — Ganz anders sei es in Zentralaustralien: kein Eigentum, kein Handel, 
keine Verteilung. Aber die Männer betreiben gemeinsame Masturbation mit phallischen 
Scherzen und phallischen ernsten Gebräuchen (ijurunga). Die Gesellschaft hier sei nicht 
anal, sondern phallisch (mit Ausschluß der Frauen) orientiert. — Auf Samoa ist das größte 
gesellschaftliche Vergehen, mehr zu wissen oder mehr zu können als die andern. Die Kinder 
werden zu höchster Bescheidenheit angehalten. Sie leben nach einem moralischen „Kollektiv¬ 
schema“. — Die Yuma (Amerika) sind scheu und schweigsam, ein richtiges Traumvolk, und 
der wesentliche Inhalt all dieser Träume sei die Urszene. 

Was lehren diese Unterschiede? Bei den Primitiven seien nicht nur die Triebstrukturen, 
sondern auch die Ideale weitgehend uniform und gesellschaftlich vorgeschrieben. Das müsse 
Folge der Gleichförmigkeit der Erziehungsmaßnahmen sein, die diese Ideale reproduzieren. — 
Wir möchten hiezu bemerken, daß uns dies richtig, aber nicht gerade ein wesentlicher Unter¬ 
schied zwischen primitiver und zivilisierter Gesellschaft scheint. Auch bei uns sind Ideale 
und Denkweisen in einem ganz außerordentlichen Grade gesellschaftlich vorgeschrieben. Das 
Problem der Kulturdifferenzen kon^zentriert sich also nach der Frage, was die Unterschiede in 







302 


Referate 


den Idealsetzungen, in den Erziehungsmethoden und -inhalten bewirke. Macht die Ver- i 
Schiebung des Akzents von der Genitalität zur Analität ein Handelsvolk oder verschiebt sich i 
bei einem Handelsvolk der Akzent von der Genitalität auf die Analität? 

Wir meinen, daß bei der Art, an solche Probleme heranzugehen, die größten Differenzen 
zwischen der Röheimschen und meiner Auffassung liegen. j 

Allerdings ist es nicht nur, wie Röhe im meint, das Über-Ich, das in verschiedenen Ge¬ 
sellschaften in verschiedener Weise gebildet wird und verschiedene Inhalte aufweist. Die¬ 
selben materiellen Momente, die auf das Über-Ich einwirken, beeinflussen auch die Trieb¬ 
struktur selbst. — Röhe im diskutiert nur das Über-Ich, zitiert Gegensätze in den An¬ 
schauungen über die Entstehung des Über-Ichs bei Freud und Klein und findet bei man¬ 
chen Primitiven, vor allem im Dämonenglauben, viel Analogien zu den von Frau Klein auf¬ 
gedeckten oralsadistischen Kinderphantasien. — Wir glauben oft. Primitive hätten ein be¬ 
sonders strenges Über-Ich. So stelle sich Laforgue das primitive Leben als ganz erfüllt 
dar von Ängsten, Tabus und Hemmungen. Das sei nicht richtig. „Das Über-Ich ist aggressiv, 
aber nicht sehr tief introjiziert.“ (Und diese Formulierung Röheims ist besonders inter¬ 
essant, weil eben das auch für das Kind in unserer Gesellschaft zu gelten scheint; die er¬ 
warteten Strafen sind übertrieben streng, die strafenden Instanzen aber noch nicht introjiziert 
sondern die Strafe wird von der Außenwelt erwartet.) — In Zentralaustralien sind die 
urethralen und analen Impulse ungehemmt. (Und wie entstand bei Manus und in Duau 
Akzent und Hemmung dieser Impulse, wenn nicht durch Änderung der wirtschaftlichen 
Grundlagen?) Entsprechend seien die Götter in Zentralaustralien nicht „gut". Es fehlen 
sadistische und masochistische Perversionen, deren Voraussetzung ein strengeres, stärker trieb¬ 
unterdrückendes Über-Ich wäre. Dort gebe es, entsprechend dieser Triebfreiheit, weder 
schmachtende Minnesänger noch ein unbewußtes Strafbedürfnis, 

Im Gegensatz hiezu scheine eine stärkere Akzentuierung des Über-Ichs (der Triebverbote) 
einerseits, der Analerotik anderseits Voraussetzung der in Zentralaustralien rloch mangelnden 
„Zivilisation". (Aber offenbar, möchten wir nach psychoanalytischen Erfahrungen hinzu¬ 
fügen, sind diese Voraussetzungen der Zivilisation gleichzeitig Gefahren für sie. Und die 
psychoanalytische Kulturforschung wird immer mehr nach der Frage nach den äußeren Ur¬ 
sachen dieser für das Weitere verantwortlichen Triebstrukturveränderungen gedrängt.) —• 

In Duau, jener zivilisierteren Gesellschaft, deren Ähnlichkeit mit der unsrigen in puncto 
Sexualmoral und Analerotik Röheim betont hat, spiele „Geld" eine sehr große Rolle. Auch I 
darin stimmt diese Gesellschaft mit der unsrigen überein. Röheim behauptet nun, daß dem ' 
Geld in Duau keinerlei reale und wirtschaftliche Bedeutung zukomme, sondern daß es dort 
„noch" lediglich Objekt des analerotischen Sammeltriebes sei. Dies erscheint mir äußerst 
unwahrscheinlich, wir hoffen, demnächst an anderer Stelle zu zeigen, warum. Eine Kontrolle 
der diesbezüglichen Ansichten Rö heims wäre nur möglich bei genauer Kenntnis aller in der ^ 
Duau-Gesellschaft herrschenden wirtschaftlichen Momente, die uns Röheim nicht vermittelt, j 
Immer noch hält Röheim die wirtschaftliche Funktion des Geldes für eine „Rationali- f 
sierung" einer irrationalen analerotischen Funktion desselben; „Die Leute ersehnen nicht i 
eigentlich Geld, weil man dafür Dinge kaufen kann, sondern man kann für Geld Dinge j| 
kaufen, weil die Leute es ersehnen." Und er nennt den Zustand eines solchen „analeroti- ll 
sehen" Geldes den „narzißtischen Kapitalismus". — Dagegen ist es selbstverständlich 41 
wieder richtig, daß erst in einer Gesellschaft mit verstärkter Analerotik und verstärkten {J 
Analkonflikten, mit introjizierterem Über-Ich und mit' der Existenz von Geld und Han- | 
del (welche von diesen Kriterien sind primär, welche sekundär?) das aufzutreten be- fl 
ginnt, was wir „Analcharakter" nennen. Röheim meint, aus Befunden, wie daß nur bei S 
solchen Völkern Ackerbau und später Handel zu finden sind, zwingend den Schluß ziehen || 
zu müssen, daß Libidoverschiebung die Gesellschaft verwandle. Aber vielleicht bedingt auch 
auf andere Weise erzeugte Gesellschafts Veränderung Libido Verschiebung? Mag sein, daß fl 




























Referate 


303 


„wichtige Ich-Veränderungen“ oft „nicht das direkte Resultat der Anpassung an die Umwelt“ 
sind, „sondern des Drucks des Über-Ichs auf das Ich“; denn das Über-Ich (bzw. die Straf¬ 
androhung) ist nun einmal das Mittel, mit dem vorwiegend (aber nicht einzig) eine Gesell¬ 
schaft ihre Individuen umstrukturiert, ihre Ideologie reproduziert. Nennen wir aber alle 
diese hundertfachen Weisen, in denen durch gesdlschaftliche Institutionen Menschen zu für 
die Gesellschaft charakteristischen Triebstrukturen und Idealsetzungen gezwungen werden, 
„Über-Ich“ — so wird eben der Schluß gerade problematisch, den Röheim nunmehr zieht: 
Weil das eigentliche „Über-Ich“ bei unseren Analysanden anläßlich des Unterganges des 
Ödipuskomplexes entstehe, müsse für alle die in Rede stehenden Differenzen der Ödipus¬ 
komplex verantwortlich sein. Wie weit das der Fall ist, sollte eben erst Gegenstand der 
Untersuchung sein, während Röheim hier das Vorurteil vom Ödipuskomplex in seinem 
engsten Sinne als et origo** aller Dinge mitbringt. Der Unterschied scheint ihm ledig¬ 

lich darauf zu beruhen, daß die „Verlängerung der Kindheit“ mit dem Fortschreiten des kul¬ 
turellen Prozesses zunehme. Daß diese sogenannte Verlängerung der Kindheit direkte Folge 
materieller Realitäten sein könnte, kommt Röheim selbst dann nicht in den Sinn, da er 
selbst nicht nur die Erreichung der ökonomischen Unabhängigkeit als Kriterium des Ab¬ 
schlusses der „Kindheit“ angibt („ein Pitchentara-Kind erreicht einen beträchtlichen Grad 
ökonomischer Unabhängigkeit, wenn es sechs oder sieben Jahre alt ist“); sondern da er sogar 
schreibt: „Aber wir finden den gleichen Unterschied bei uns daheim, wenn wir Kinder der 
Bauernschaft oder des Proletariats mit denen der Aristokratie oder der reichen Bourgeoisie 
vergleichen.“ 

Daß bestimmte Sitten und Gebräuche, die direkt oder indirekt das Leben der heran- 
wachsenden Kinder beeindrucken, mögen sie direkt erzieherische sein oder nicht, für die 
Trieb- und Idealentwicklung der betroffenen Kinder von Bedeutung sein müssen, ist klar. 
Für die sogenannte AlknaYintjas\t\jLZ.tion in Zentralaustralien hat dies Röheim schon in 
früheren Arbeiten gezeigt, und er tut es hier wieder. Worauf es aber ankäme, wäre, nunmehr 
die Entstehung dieser speziellen Sitten und Gebräuche nicht aus mutationsartigen Libidover¬ 
schiebungen, sondern aus den materiellen Bedingungen des Lebens dieses Volkes (die auch 
Libidoverschiebungen verursachen) zu erklären. Röheim sieht hier nur einen Beweis dafür, 
daß das Verhalten der Eltern auf dem Umwege über Ödipuskomplex Ursache von Ideal¬ 
bildungen und damit von Kulturveränderungen ist. Er sieht aber nicht, daß dieses Ver¬ 
halten der Eltern selbst wieder real bedingt ist und deshalb nur als Mittler zwischen den 
realen Bedingungen und den erzeugten Kulturveränderungen wirkt. Was ist denn die , Ur¬ 
sache für die nach Röheim für die Kultur ausschlaggebende „Kindheitsverlängerung“, z. B. 
für die Entstehung der Latenzzeit, die Röheim nicht wie Freud für ein Charakteristikum 
der Menschenart hält, sondern von der er meint, daß sie den primitiven Gesellschaften noch 
mangle? 

Die heroischen Mythen, denen zufolge ein Heros sich aus der Menge der gewöhnlichen 
Volksgenossen leuchtend erhebt, kommen nach Röheim nur bei kultivierteren Völkern vor, 
weil die Primitiven weniger individuelle Charaktere haben. In Australien z. B. gebe es 
heroische Motive nur in pädagogisch gemeinten Erzählungen für Kinder, nicht in „ernsten“ 
Mythen. Bei uns hingegen sei das Heroische, das Individualistische, das Zivilisatorische 
bereits so weit gediehen, daß die Gefahren der „Kindheitsverlängerung“ sichtbar werden: 
„Jedermann rast in einem Zustand fieberhafter Hast herum, mit Nachdruck irgend etwas 
tuend, d. h. ständig seine sexuelle Potenz erprobend.“ Ist es nicht psychologistische 
Voreingenommenheit, bei Besprechung der „Hast des modernen Lebens“ nicht in erster 
Linie an die tatsächliche materielle Notwendigkeit dieser Hast zu denken? Den Prozeß der 
jjKindheitsverlängerung“, der also — wohl gemerkt — die Kinder der Aristokratie und der 
reichen Bourgeoisie stärker trifft, als die der Bauernschaft und des Proletariats, nennt 
Röheim einen „biologischen Prozeß“, der allerdings nicht einfach aus Erwachsenen Kinder 












Referate 


304 


mache, sondern nur verschiedene Mechanismen ins Werk setze, die einer Verlängerung der j 
kindlichen Situation entsprechen, 1 

Die Meinung Röheims, daß die speziellen Kulturen durch ein jeweiliges habituelles | 
„infantiles Trauma" bedingt seien, möchten wir also darauf reduzieren, daß die Grundlage I 
zu den beobachtbaren Differenzen der in verschiedenen Kulturen lebenden Menschen in der | 
Verschiedenheit der Erlebnisse zu suchen ist, die diese Menschen während ihrer Kindheit ! 
durchgemacht haben. 

Interessiert zur Kenntnis nehmen müssen wir wieder die Feststellung Roheims, daß 
die Untersuchungen Primitiver vielfach die Entdeckungen von Melanie Klein von der 
Bedeutung der Konflikte um den Oralsadismus bestätigen. Gesellschaftliche Institutionen, 
die auf solchen frühen oralsadistischen Konflikten beruhen, wären dann archaischer als der 
Totemismus, der schon auf eigentlicher Kastrationsangst basiert. 

Röheim vernachlässigt nun aber die Frage nach den Zusammenhängen zwischen der 
Erzeugung derartiger Ängste bei den Kindern und den materiellen Situationen der be¬ 
treffenden Völker, sieht in den zivilisatorischen Prozessen nicht oder weniger Produkte des 
sich komplizierenden Kampfes des Menschen mit seiner Umgebung um der Befriedigung 
seiner Bedürfnisse willen, sondern „eine Serie von Versuchen, mit infantilen Ängsten fertig 
zu werden". Die infantilen Ängste sind offenbar biologisch gegeben. Demgemäß unter 
scheidet Röheim primitive Kulturen, die vorwiegend der Abwehr der Angst der oral¬ 
sadistischen Mutterleibszerstörung dienen, Kastrationsangst-Ödipuskomplex-Kulturen und 
endlich Kulturen mit dem Hauptziel, magisch Getötete zu rekonstruieren. 

Daß vor Etablierung aller Kulturen kein Über-Ich und somit keine Strafe und keine 
Angst existierte, sei der wahre Kern der Sagen vom goldenen Zeitalter. Aber wann und 
wie brachen Angst und „Über-Ich" herein? — Jedenfalls brachen sie herein — und damit 
Phänomene wie das Strafbedürfnis, „die Sehnsucht der Menschheit nach Unglück", die 
Röheim — darin in Übereinstimmung mit dem an anderer Stelle von ihm befehdeten 
Laforgue — manifestiert sieht „in allen anti-individualistischen politischen Systemen". 
Politische Bestrebungen entstehen nach ihm nicht dort, wo reale gesellschaftliche Tatsachen 
ihr Entstehen herbeiführen, sondern sie entstehen dadurch, daß das Erstarken des Über-Ichs 
im Verlaufe des Zivilisationsprozesses auch ein Erstarken der Macht des das Individuum zer¬ 
störenden Todestriebes mit sich gebracht hat. O. Fenichel (Oslo) 

SHEEHAN-DARE, HELEN: On Making Contact With the Child Patient. Int. Journal 

of PsA., XV/4. 

Diese Arbeit zeigt in voller Schärfe den Unterschied zwischen der englischen Schule der 
Kinderanalyse und der von Anna Freud. — Anna Freud meint, in Übereinstimmung mit i 
der Auffassung, die sich in der Erwachsenenanalyse so sehr bewährt hat, daß Analysieren .j 
heiße, das Ich eines Menschen zur Auseinandersetzung mit seinen unbewußt gewesenen 
Konflikten zu zwingen, daß also die Voraussetzung einer analytischen Deutung das Vor¬ 
handensein eines Ichs sei, das sich mit dieser Deutung auseinandersetzen kann. Fehle so ein ^ 
Ich, so sei eine präanalytische Behandlung von irgend einer Art nötig.— Melanie Klein 
und mit ihr Miß Sheehan-Dare meinen, man könne mittels einer Deutung (eines Be- j 
nennens unbewußter Impulse) ein solches Ich herstellen. 

Das Problem, wie man erst einmal mit dem Kinde Kontakt findet, fällt für eine solche 
Auffassung weg. „Im allgemeinen ist, wenn einmal die erste richtige Spieldeutung gegeben j 
ist, ein Kontakt hergestellt, der, wenn er durch genügende weitere Deutung und eine 
wirkliche Zugewandtheit von seiten der Analytikerin bei jeder Gelegenheit und bei jeder .9 
Schwierigkeit unterstützt wird, das Kind durch eine lange Analyse bringen wird." — Durch M 
die richtige Deutung fühle das Kind sich verstanden und könne leichter auf die Verwirk- fl 
lichung seiner Phantasien verzichten, da es statt dieser das Verständnis erhalte. Freilich fl 

































Referate 


305 


sei es auch wichtig, auf die Einstellung der Mutter des Kindes der Analyse gegenüber Bedacht 
zu nehmen. 

Kontakt wird hier also durch Deutung und nur dadurch hergestellt. Das geschah z. B. 
auch bei einem mutistischen Kind, das taub schien, aber nur von ungeheurer Angst vor 
fremder und eigener Aggression erfüllt war. Daß die Analytikerin diese Aggressionsgedanken 
kenne und trotzdem weiterlebe, setze beim Kind die Intensität der Angst herab. — Die 
Gefahren falscher Deutungen seien in der Kinderanalyse geringer als beim Erwachsenen. 
Ein Erwachsener könne eine falsche Deutung aus Widerstand annehmen; ein Kind werde 
sein Spiel oder seine Spielhemmung nicht ändern, solange nicht die richtige Deutung 
gefallen sei. ^ 

Sind die Erfolge, über die die englischen Kinderanalytikeriiinen berichten können, ein 
Beweis für die Richtigkeit ihrer theoretischen Anschauungen, ein Beweis für die Möglich¬ 
keit, daß der Analytiker sich „direkt mit dem Unbewußten des Patienten in Verbindung 
setze“? Wir meinen, diese Erfolge seien auf noch zweierlei Weise denkbar: Entweder war 
doch noch ein Rest Ich vorhanden, das stark genug war, um die Deutung zu verarbeiten, 
oder — wahrscheinlicher — schafft das Aussprechen sonst verbotener Dinge durch die Analy¬ 
tikerin (als „Verführung“) eine Vertrauensatmosphäre und Entlastung von Schuldgefühlen, 
die das Ich dazu bewegen kann, in der Intensität seiner Widerstände nachzulassen. 

O. Fenichel (Oslo) 












KORRESPONDENZBLATT 

DER 

INTERNATIONALEN PSyCHOANALyTISCHEN 

VEREINIGUNG 


Redigiert vom Zentralsekretär Edward Glover 


I. Bericht über den XIII. Internationalen Psycho«^ 
analytischen Kongreß 

(Schluß) 

Plenarversammlung der Internationalen Unterrichtskommission 

Luzern, 30. Juni 1934 
Vorsitzender: Dr. Max Eitingon 

1. Der Vorsitzende Dr. Eitingon begrüßt die Versammlung, wirft einen Rück¬ 
blick auf die Ereignisse der letzten zwei Jahre und verweist auf die Aufgaben, die 
ihre Lösung von der Versammlung erwarten. 

2. Die Psychoanalytischen Lehrinstitute erstatten ihre Tätigkeitsberichte. Für das 
Berliner Institut spricht Dr. Müll er-Braunschweig, für das Budapester Institut 
Dr. Bali nt, für das Institut in Chikago Dr. Alexander, für das Institut im Haag 
Dr. Landauer, für das neugegründete Institut in Jerusalem Dr. Eitingon, für das 
Londoner Institut Dr. Glover, für das New-Yorker Institut Dr. Rado, für das 
Institut in Paris Mme. Bonaparte, für das Wiener Institut Frau Dr. Deutsch, 
für das W^iener Ambulatorium Dr. Hitschmann. Dr. Alexander bittet um eine 
Aussprache über prinzipielle Punkte seines Berichtes. Frl. Anna Freud und Dr. 
Bai int leisten der Aufforderung Folge; erörtert werden die Haltung der Institute 
gegenüber der Öffentlichkeit und Fragen der Finanzierung. 

Anschließend an die Berichte der Lehrinstitute spricht Dr. de Monchy über 
die Lehrtätigkeit in Amsterdam (Holland), Dr. Sachs über die Lehrtätigkeit in 
Boston (U. S. A.), Dr. Ra kn es über die Lehrtätigkeit in Oslo (Norwegen), Doktor 
Jekels über die Lehrtätigkeit in Stockholm (Schweden) und Dr. Sa ras in über die ^ 
Lehrtätigkeit in der Schweiz. \ 

Die Versammlung nimmt alle Berichte genehmigend zur Kenntnis. .1 

3 a. Der Sekretär Dr. Rado unterbreitet im Namen des Vorstandes der I. U. K. i 
Vorschläge zum weiteren Ausbau des Unterrichtswesens. Anfangs lag der psycho- 4 
analytische Unterricht in den Händen einzelner. Der Homburger Kongreß tat 1925 1 
den ersten organisatorischen Schritt, indem er den Zweigvereinigungen die Aufgabe jj 
übertrug, für den psychoanalytischen Unterricht besondere Einrichtungen zu schaf- m 
fen. Unsere führenden Gruppen haben in Erfüllung dieser Aufgabe der Reihe nach ■ 
psychoanalytische Lehrinstitute ins Leben gerufen. Diese Institute nahmen sich alle 
das von Dr. Eitingon im Jahre 1920 in Berlin geschaffene erste psychoanalytische 






























Korrespondenzblatt 


307 


Lehrinstitut zum Vorbild. Ihre Anzahl ist gegenwärtig auf neun gestiegen — das 
jüngste in der Reihe, das Institut in Jerusalem, ist abermals eine Schöpfung von 
L)r. Eitingon —, ihre Leistung hat sich vervielfacht, ihr Ansehen befestigt. Es ist 
ein Gebot der Zweckmäßigkeit, diesen tatsächlichen Verhältnissen, die eine organische 
Entwicklung hervorbrachte, auch in organisatorischer Hinsicht Rechnung zu tragen. 
Der eingebrachte Satzungsentwurf geht daher vom Grundsatz aus, daß die Erteilung 
psychoanalytischer Berufsausbildung die Aufgabe der psychoanalytischen Lehrinstitute 
ist, die von der 1 . U. K. anerkannt sind und unter ihrer Aufsicht wirken. Der Ent¬ 
wurf registriert die bestehenden anerkannten Lehripstitute, knüpft die Gründung 
neuer Lehrinstitute an die vorherige Genehmigung der 1 . U. K. und enthält eine 
Reihe von Einzelbestimmungen betreffs der Aufsichtsrechte und -pflichten der 
I. U. K. Die Institute sollen an die von der LU. K. aufgestellten „Internationalen 
Richtlinien für die Ausbildungstätigkeit“ (Oxford, 1929) gebunden sein, sonst aber 
ihren Betrieb — einschließlich der Ernennung ihrer Lehrkräfte — im eigenen Wir¬ 
kungskreis regeln. 

Für Orte, an denen die Voraussetzungen für ein psychoanalytisches Lehrinstitut 
noch nicht gegeben sind, sieht der Entwurf die Einrichtung psychoanalytischer Lehr¬ 
stellen vor. Der Entwurf macht die Errichtung solcher psychoanalytischer Lehr¬ 
stellen von der vorherigen Genehmigung der I. tJ. K. abhängig; diesbezügliche An¬ 
träge können von Gruppen wie auch von einzelnen Mitgliedern gestellt werden. Zur 
Wahrung des Unterrichtsniveaus soll ferner bei den Lehrstellen — im Gegensatz zu 
den Lehrinstituten — auch die Erteilung der Lehrbefugnis an die einzelnen Mitglieder 
der I. U. K. Vorbehalten bleiben. Wir erblicken in den Lehrstellen Keime, von denen 
wir hoffen, daß sie sich unter günstigen Umständen zu Lehrinstituten entwickeln 
werden. 

Die Neuregelungen des Entwurfes steigern, wie ersichtlich, die Aufgaben und da¬ 
mit auch die Verantwortung der LU.K., namentlich die Verantwortung des Vor¬ 
standes der 1 . U. K.,' der in der Zeit zwischen den Plenarversammlungen der 1 . U. K. 
interimistische Entscheidungen zu treffen haben wird. Dies macht gewisse Änderun¬ 
gen in der Organisation und Zusammensetzung der I. U. K. selbst erforderlich; diese 
Änderungen hat die Geschäftssitzung des Kongresses bereits in der Form von Statuten¬ 
änderungen durchgeführt. Nach den soeben beschlossenen neuen Statuten der 1 . P. V. 
besteht der Vorstand der 1 . U. K. aus drei Mitgliedern; alle drei werden direkt vom 
Kongreß gewählt. Außer aus ihrem Vorstand setzt sich die 1. U. K. zusammen aus den 
Lehrausschüssen der anerkannten Lehrinstitute und den Lehrausschüssen der an¬ 
erkannten Lehrstellen; die ersteren können aus höchstens je sieben, die letzteren aus 
höchstens je drei Mitgliedern bestehen. 

An den Entwurf, den Dr. Rado verliest und kommentiert, knüpft sich eine leb¬ 
hafte Diskussion, an der sich Drs. Jones, Federn, Bibring, Kubie, French, 
Anna Freud, Drs. Sachs, Fenichel und Helene Deutsch beteiligen. Dr. Rado 
beantwortet die gestellten Fragen; die Einzelprobleme sollen später in dem hier ge¬ 
schaffenen Rahmen schrittweise gelöst werden. Der Satzungsentwurf wird mit einer 
von Dr. Jones beantragten stilistischen Änderung einstimmig angenommen. (Der 
Wortlaut der „Satzungen der 1. U. K. betreffs Lehrinstitute und Lehrstellen [Luzerner 
Satzungen]“ ist in diesem Korrespondenzblatt im Anschluß an den vorliegenden Be¬ 
richt abgedruckt.) 











3o8 


Korrespondenzblatt 


3 b. Die Ansuchen um Genehmigung fzur Errichtung von Lehrstellen und zur Er- 
teilung von Lehrbefugnissen für diese Lehrstellen werden wegen der vorgerückten ! 
Zeit an den Vorstand der L U. K. verwiesen. Dr. Eitingon führt auf die Anfrage 
von Dr. Jones aus, daß für die Erteilung interimistischer Lehrbefugnisse seitens des 
Vorstandes der 1 . U. K. nur solche Mitglieder in Frage kommen, die sich bereits als ! 
Lehrkräfte an unseren Instituten betätigt und bewährt haben. In anderen Fällen 
bleibt die Entscheidung bis zur nächsten Plenarversammlung der 1 . U. K. in Schwebe. 
Die Versammlung efteilt dann ihre Zustimmung. ! 

3 c. Der Vorsitzende Dr. Eitingon schlägt im Hinblick auf den erweiterten ! 
Wirkungskreis der I. U. K. vor, daß das Plenum der I. U, K, sich alljährlich zu einer 
Tagung versammeln soll. Falls es die Zeitverhältnisse gestatten, wünscht er die 
nächste Plenarversammlung der I. U. K. im Sommer 1935 nach Paris oder Wien ein¬ 
zuberufen. Die Versammlung erteilt dazu per acdamationem ihre Zustimmung. 

3 d. Der Sekretär Dr. Rado bittet die Versammlung, sich der Sprachen- und * 
Übersetzungsfragen anzunehmen. Er beantragt, die Versammlung möge Dr. Ernest | 
Jones ersuchen, ein Redaktionskomitee einzusetzen, das unter seiner Leitung eine 
revidierte und erweiterte Auflage des Psychoanalytic Glossary herstellen soll. Der 1 
Antrag wird einstimmig angenommen. Dr. Jones nimmt die Betrauung an. j 

4. Anna Freud bringt die Laienfrage in bezug auf die Kooperation zwischen der 1 
New-Yorker und der Wiener Gruppe zur Sprache. Im Oxforder Abkommen ver- j 
pflichteten sich die europäischen Gruppen^ keinen Amerikaner zur Ausbildung zu- I 
zulassen, der nicht vorher vom Unterrichtsausschuß seiner Heimat als Kandidat, 
akzeptiert worden ist. Andrerseits stellte die New-Yorker Gruppe im Prinzip die 
Zulassung nichtärztlicher Kandidaten in Aussicht. Während die Wiener Gruppe 
ihren Verpflichtungen nachgekommen ist, konnte die New-Yorker Gruppe infolge 
der laienfeindUchen Haltung der Behörden ihre Zusage nicht erfüllen. Anna Freud 
fragt, wie sich die amerikanischen Gruppen unter diesen Umständen zum Oxforder 
Abkommen stellen. Dr. Lewin, Vorsitzender des New-Yorker Unterrichtsaus¬ 
schusses, betont, daß es sich in New York nicht etwa um veraltete und unbeachtete 
Gesetzesparagraphen, sondern um eine akute und mit größter Energie durchgeführte 
behördliche Aktion handle. Die Zulassung von Laienkandidaten würde die Schlie¬ 
ßung des Institutes und die behördliche Verfolgung der Vorschub leistenden Ärzte 
nach sich ziehen. Ähnliches berichten über Chikago Dr. Menninger, Vorsitzender 
der dortigen Gruppe, und Dr. Alexander, Direktor des dortigen Instituts. 

Dr. Lewin schlägt im Namen der New-Yorker Gruppe die Aufhebung des Oxforder 
Abkommens für die amerikanischen Gruppen vor. Er bittet jedoch die europäischen 
Institute, insofern sie nach eigenem Ermessen Laienkandidaten zur Ausbildung zu¬ 
lassen, dieselben vor Beginn der Ausbildung dahingehend aufzuklären, daß sie nicht 
in der Lage sein werden, ihre Studien am New-Yorker Institut fortzusetzen, bzw. 
der New-Yorker Gruppe als Mitglieder beizutreten. Der Vorschlag wird an¬ 
genommen. 

Frau Dr. Deutsch beantragt die Einsetzung eines Sonderausschusses, der sich der 
Sache der emigrierenden Lehranalytiker annehmen solle. Der Antrag wird ange- i 

nommen. In den Ausschuß werden gewählt: Dr. Alexander, Dr. Brill, Mme. | 

Bonaparte, Frau Dr. Deutsch, Dr. Jones, Dr. Sarasin und die drei Mit- j 
glieder des Vorstandes der 1. U. K. j 



































Korrespondenzblatt 


309 


Satzungen der 1 . U. K. über Lehrinstitute und Lehrstellen 
(Luzerner Satzungen) 

1. Die Erteilung psychoanalytischer Berufsausbildung ist die Aufgabe der Psycho¬ 
analytischen Lehrinstitute, die von der 1 . U. K. anerkannt sind und unter ihrer Auf¬ 
sicht wirken. 

2. Die Liste der gegenwärtig von der 1 . U. K. anerkannten und beaufsichtigten 
Lehrinstitute lautet (in der Reihenfolge ihrer Gründung): Berliner Psychoanalytisches 
Institut, Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Institute of Psycho- 
Analysis, London, New-York Psychoanalytic Institute, N^ederlandsch Institut voor 
Psychoanalyse, Haag, Lehrinstitut der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung, 
Budapest, Institute for Psychoanalysis, Chicago, Institut de Psychanalyse, Paris, Pale* 
stine Institut for Psychoanalysis, Jerusalem. 

3. Die Errichtung eines psychoanalytischen Lehrinstitutes bedarf der vorherigen 
schriftlichen Genehmigung der 1 . U. K. 

4. Die I. U. K. nimmt als selbstverständlich an, daß sich Mitglieder der 1. P. V. an 
der Gründung, bzw. dem Betrieb von Institutionen, die vorgeben, psychoanalytische 
Berufsausbildung zu erteilen, ohne von der I. U. K. anerkannt worden zu sein, nicht 
beteiligen. Die Lehrtätigkeit der Mitglieder der I. P. V. an andersartigen Lehrinstitu¬ 
tionen (Universitäten, Volkshochschulen usw.) wird durch diese Bestimmung nicht 
berührt. 

5. Die Satzungen, bzw. Satzungsänderungen der Lehrinstitute sind der 1 . U. K. zur 
Genehmigung vorzulegen. Sie dürfen keine Bestimmungen enthalten, die den Be¬ 
stimmungen der 1 . U. K. widersprechen. 

6 . Für die Lehrtätigkeit der Lehrinstitute sind im allgemeinen die von der 1 . U. K. 
aufgestellten „Internationalen Richtlinien für die Ausbildungstätigkeit“ maßgebend. 
Jedes Institut erläßt auf dieser Grundlage seine besonderen Ausbildungsbestimmun¬ 
gen; diese bedürfen der Genehmigung der I. U. K. 

7. Falls ein Lehrinstitut durch sein Verhalten das Ansehen oder die Interessen der 
I. P. V. schädigt, so kann ihm die 1 . U. K. die Anerkennung entziehen. 

8. Auf Grund der vorherigen schriftlichen Genehmigung der I. U. K. können 
Zweigvereinigungen oder auch einzelne Mitglieder der 1. P. V. an Orten, an denen 
es kein anerkanntes psychoanalytisches Lehrinstitut gibt, eine „Psychoanalytische 
Lehrstelle“ errichten. An solchen Lehrstellen können nur diejenigen Mitglieder 'der 
!• P« V. eine Lehrtätigkeit ausüben, denen die Lehrbefugnis durch die I. U. K. ad pet- 
sonam erteilt worden ist. Die für Lehrinstitute geltenden Bestimmungen sind auf 
die Lehrstellen sinngemäß anzuwenden. 

Aus dem Beschluß der Plenarversammlung der 1. U. K. zu Luzern, 
am 30. August 1934. 


Int. Zeitschr. f. Psyclioanalyse, XXI/2 


31 













310 


Korrespondenzblatt 


II. Bericht der Internationalen Unterrichts^s^ 

kommission 

Berliner Psychoanalytisches Institut 

September 1932 bis Juli 1934 

1. Bewegung der Hörerzahl. 

2. Arbeit in den Seminaren. 

3. Die Aushildungskandidaten. 

4. Lehr- und Kontrollanalytiker. 

5. Unterrichtsausschuß. 

7. Zahl der poliklinischen Patienten. 

I. Hörerzahl 

Die Einwirkung der veränderten äußeren Verhältnisse und des Weggangs einer 
Reihe prominenter Lehrkräfte (siehe 6 ) zeigte sich am stärksten in dem Absinken der 
Zahl der Hörer des Institutes. Die absolute Hörerzahl, die im Jahre 1932 im 
Durchschnitt der drei Quartale etwa 130 pro Quartal betrug, zeigte 1933 im Durch¬ 
schnitt etwa 63, und zeigt für die ersten beiden Quartale 1934 ein weiteres Absinken. 

Eine Übersicht über die Hörerzahlen ab Quartal Oktober bis Dezember 1929 er¬ 
gibt die folgende Tabelle: 

Absolute Hörerzahlen 


1929 

Jänner—März 

April—Juli 

Oktober—Dezember 
116 

1930 

118 

83 

153 

1931 

132 

III 

222 

1932 

164 

107 

138 

1933 

104 

64 

39 

1934 

34 

32 

•— 


2. Arbeit in deil Seminaren 

Das Absinken der Zahl der Hörer der Institutskurse hat auf die Intensität der Ar¬ 
beit in den einzelnen Kursen keinen Einfluß. Von dem Absinken det Hörerzahl sind 
im übrigen wesentlich nur die Vorlesungen, in denen außer den Aushildungs¬ 
kandidaten auch andere als Hörer teilnehmen dürfen, betroffen. In den Seminaren, 
in denen von jeher das Schwergewicht der Ausbildung lag, ist die Zahl der Teil¬ 
nehmer bereits immer beschränkt gewesen und daher der Rückgang der Teilnehmer¬ 
zahl nicht auffällig. Das Interesse und der Fleiß der Teilnehmer sind ausgezeichnet, 
es wird intensiv gearbeitet, sowohl in den technischen Seminaren (in denen die prakti¬ 
schen Fälle der Ausbildungskandidaten besprochen werden) als in den Seminaren 
über Freuds „Schriften zur Technik“, über Freuds „Theoretische Schriften“, über 
die „Krankengeschichten“ und die „Drei Abhandlungen“, als auch in den pädagogi¬ 
schen Seminaren und in dem von den Herren Boehm und v. Sydow geleiteten 
ethnologischen Seminar. 































Korrespondenzblatt 


311 


3. Die Ausbildungskandddaten 

Die Zahl der AusbiWungskandidaten ist von 34 im Herbst 1932 über 23 im No¬ 
vember 1933 auf 18 im Juli 1934 gefallen. Die Zahl von 18 bedeutet unter den ob¬ 
waltenden Verhältnissen eine immer noch respektable Größe. 

Unter den 18 Ausbildungskandidaten der Liste vom Juli 1934 befinden sich noch 
4 Ausbildungskandidaten der Liste vom Herbst 1932. Im Jahre 1933 Jahre 

1^34 (bis Juli) sind insgesamt 14 neue Kandidaten in Ausbildung genommen worden, 
davon 9 im Jahre 1933 und 5 im i. Halbjahr 1934. 

Die Zahl der Lehr- und Kontrollanalysen ergibt sich aus folgender Tabelle; 


% 



Herbst 1932 

November 1933 

Juli 1934 

Gesamtzahl der Kandidaten 

34 

23 

18 

davon in Lehranalyse 

20 

II 

16 

in Kontrollanalyse 

21 

16 

10 


4. Lehr- und Kontrollanalysen 

An Lehr- und Kontrollanalytikern sind zwischen dem Wiesbadener und dem 
Luzerner Kongreß durch Weggang aus Deutschland ausgeschieden: Bernfeld, Eitin- 
gon, Fenichel, Harnik, Reik, Simmel. Über die bisherigen Lehr- und Kon- 
trollanalytiker Boehm und Müller-Braunschweig hinaus sind neu mit der 
Durchführung von Lehranalysen und Kontrollanalysen betraut worden: 

Frau Benedek, Frau Jacobsohn, Frau Kempner, Frau Vowinckel. 

3. Der Unterrichtsausschuß 

Aus dem Unterrichtsausschuß schieden während der Berichtszeit die gleichen wie 
unter 4 erwähnten Namen aus. In der Jahresversammlung vom 18. November 1933 
wurden zu dem einzigen zurückbleibenden Mitglied des Unterrichtsausschusses neu 
hinzugewählt: Boehm und Frau Vowinckel. Müller-Braunschweig wurde 
zum Vorsitzenden bestimmt. Kooptiert wurden Frau Benedek und Frau Jacob¬ 
sohn. 

6. Die Bewegung der Dozentenschaft seit dem September 1932 

Aus der Dozentenschaft schieden seit dem September 1932 aus: 

Bernfeld (nach dem Quartal Oktober—Dezember 1932); Steff Bornstein (nach 
dem Sommerquartal 1933); Eitingon (nach dem Sommerquartal 1933); Fenichel 
(nach dem Sommerquartal 1933); Harnik (nach dem Quartal Jänner—März 1933); 
Jeanne Lampl de Groot (nach dem Sommerquartal 1933); Reik (nach dem Quar¬ 
tal Oktober—Dezember 1932); Reich (nach dem Quartal Jänner—März 1933); 
Simmel (nach dem Sommerquartal 1933); Staub (nach dem Quartal Jänner—März 

1933)- 

Das Ausscheiden von Alexander (1930), Rado (1931), Horney, Sachs aus der 
Dozentenschaft fällt vor die Berichtszeit. 

Neu zur Dozentenschaft hinzugezogen wurden; 

Kemper, Mette, Ada Müller-Braunschweig, v. Sydow (als Gast), Vo¬ 
winckel. 


* 1 * 














312 


Korrespondenzblatt 


Zusammen mit dem früheren Bestand an Dozenten, den Herren 

Boehm und Carl Müller-Braunschweig 
verfügt das Institut derzeit über 7 Dozenten gegenüber 12 vom September 1932. 

7. Zahl der poliklinisch behandelten Patienten 

Im erfreulichen Gegensatz zu dem Absinken der Hörerzahl scheinen die veränder¬ 
ten Verhältnisse so gut wie keinen Einfluß auf die Nachfrage nach therapeutisch¬ 
psychoanalytischer Behandlung zu haben. Der Durchschnitt der gledchzeitig laufen¬ 
den, von den Mitgliedern der D. P. G. und den Ausbildungskandidaten behandelten 
poliklinischen Fälle während der Jahre 1920—1930 betrug 72, die Zahl der im Juli 
1934 behandelten Fälle 65. Diese Zahl liegt kaum nennenswert unter dem Durch¬ 
schnitt. Die kaum veränderte Nachfrage nach analytischer Behandlung trotz so 
wesentlicher Veränderung der äußeren Verhältnisse ist wohl ein erfreuliches An¬ 
zeichen davon, wie sehr bereits d^s Vertrauen des Publikums in die therapeutische 
Wirksamkeit der Psychoanalyse Wurzel gefaßt hat. 

Die Sprechstunden in der Poliklinik werden abgehalten Montag, Dienstag, Don¬ 
nerstag, Freitag von den 4 Kollegen Boehm, Frau Fuhge, Frau Vowinckel, 
Witt, von denen jeder einen der 4 Tage übernimmt. 

IV. Quartal 1933 
I. Vorlesungen 

Carl Müller-Braunschweig; Einführung in die Psychoanalyse, I. Teil, ^Stun¬ 
den, Hörerzahl 15. 

Edith Vowinckel: Spezielle Neurosenlehre, II. Teil (Perversionen, Charakter¬ 
störungen, narzißtische Neurosen, Psychosen, Süchte), 6 Stunden, Hörerzahl 8. 

Eckart von Sydow (a. G.): Allgemeine Einführung in die Völkerkunde, II. Teil: 
Kunst und Gesellschaft der Naturvölker (mit Lichtbildern), 6 Stunden, Hörerzahl ii. 

II. Seminare, Übungen, Arbeitsgemeinschaften 

Felix Boehm; Seminar: Fehlhandlungen, Traum (Teilnahme ohne Einschränkung), 
6 Doppelstunden, Hörerzahl 17. 

Carl Müller-Braunschweig; Freud-Seminar: Theoretische Schriften, I.Teil. 
Nur für Ausbildungskandidaten und für Hörer mit Empfehlungskarte. 3 Doppel¬ 
stunden, Hörerzahl 14. 

Felix Boehm; Technisches Seminar. Nur für Ausbildungskandidaten. 3 Doppel¬ 
stunden, Hörerzahl 7. 

Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen). Nur für Ausbil- 
dungskandidaten. 

Eckart von Sydow und Felix B oehm: Ethnologische Arbeitsgemeinschaft. 4 Dop¬ 
pelstunden. Für Fortgeschrittene. Beschränkte Teilnehmerzahl. Hörerzahl 21. 

Carl Müller-Braunschweig: Pädagogisches Seminar. 3 Doppelstunden. Hörer¬ 
zahl 19. 























Korrespondenzblatt 


3^3 

I I. Quartal 1^34 

I I. Vorlesungen 

1. Edith Vowinckel: Einführung in die Psychoanalyse, II. Teil (Allgemeine Neu¬ 
rosenlehre). 

2. Carl Müller-Braunschweig: Psychoanalytische Technik. 

3. Eckart v. Sydow (a. G.): Probleme der psychoanalytischen Ethnologie. 

II. Seniiinare, Übungen, Arbeitsgemeinschaften 

4. Werner Kemper: Freud-Seminar: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.“ 

5. Felix Boehm: Freud-Seminar: Krankengeschichten, I. Teil. 

6. Carl Müller-Braunschweig: Freud-Seminar: Theoretische Schriften, II. Teil. 

7. Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen). 

8. Eckart von Sydow und Felix Boehm: Ethnologische Arbeitsgemeinschaft. 

9. Ada und Carl Müller-Braunschweig: Pädagogisches Seminar. 

IL Quartal 1934 
I. Vorlesungen 

Edith Vowinckel: Spezielle Neurosenlehre, I. Teil. Übertragungsneurosen 
(Hysterie, Phobie, Zwangsneurose und Aktualneurose). 7 Stunden, Hörerzahl 8. 

Alexander Mette: Aus der Psychologie des Tragischen und Dionysischen. 6 Stun¬ 
den, Hörerzahl 4. 

II. Seminare, Arbeitsgemeinschaften Übungen 

Werner Kemper: Freud-Seminar: Krankengeschichten, II. Teil. 7 Doppelstunden. 
Hörerzahl 9. 

Carl Müller-Braunschweig: Freud-Seminar: Schriften zur Technik. Vierzehn- 
; tägig, Hörerzahl 7. 

> Felix Boehm: Seminar über Karl Abrahams „Klinische Beiträge zur Psychoana¬ 

lyse“. 7 Doppelstunden, Hörerzahl 7. 

' Felix Boehm: Technisches Seminar. (Nur für Ausbildungskandidaten.) Vierzehn- 

^ tägig, Hörerzahl 5. 

Praktisch-therapeutische Übungen (Kontrollanalysen). Nur für Ausbildungs¬ 
kandidaten. 

» 

Ethnologische Arbeitsgemeinschaft (Eckart von Sydow und Felix Boehm). Vier¬ 
zehntägig, Hörerzahl 10. 

* I Referate über neuere — psychoanalytische und nichtpsychoanalytische — päda¬ 

gogische Literatur (Ada Müller-Braunschweig). Vierzehntägig, Hörerzahl ii. 
Pädagogisches Seminar (Ada Müller-Braunschweig). Vierzehntägig, Teil- 
i nehmerzahl 9. 

Pädagogische Arbeitsgemeinschaft (Carl Müller-Braunschweig). Vierzehntägig, 
Hörerzahl 10. 














Korrespondenzblatt 


314 


Chicago Institute for Psythoanalysis 

IV. Quartal 1933 
Vorlesungen und Seminare 
L Für Aus'bildungskandidaten und ausübende Analytiker: 

1. Dr. Horney: Technisches Seminar. 13 Hörer. 

2. Dr. Horney: Psychoanalytische Technik. 16 Hörer, 

3. Dr. Alexander: Seminar über psychoanalytische Literatur. 20 Hörer. 

4. Dr. Alexander: Theorie und Technik der Traumdeutung. 17 Hörer. 

5. Dr. Blitz,sten: Seminar über Traumdeutung. 17 Hörer. 

6. Dr. French: Realität und Triebschicksale. 9 Hörer. 

II. Ärzte: 

Dr. Horney: Ärztliche Diskussionsabende. 13 Hörer. 
Wahrend der Berichtsperiode wurden im Institut 51 Analysen durchgeführt, davon 
7 Lehranalysen, 19 Analysen zu Forschungszwecken und 2j therapeutische bzw. unter 
Kontrolle durchgeführte Analysen. 


Dansfc^'Norsfc Psyfcoanaiytisfc Fofcning 

In Ergänzung ihrer wissenschaftlichen Arbeit hat unsere neugegründete Gesell- 
schaft — wie Dr. Fenichel auf dem Luzerner Kongreß berichtete — einen be- 
schwdenen Anfang zur psychoanalytischen Lehrtätigkeit gemacht. Bisher beschränkt 
sich dieser Zweig unserer Arbeit hauptsächlich auf Lehranalysen. Dr. Fenichel 
fuhrt zwei solche Analysen mit Ärzten durch, ferner zwei mit Studentinnen, von 
denen es aber bisher noch mcht feststeht, ob sie sich später der Ausübung der Psycho¬ 
analyse zuwenden werden. Prof. Schjelderup und Dr. Raknes führen je eine 
Lehranalyse durch. 

Dr. Fenichel hielt Vorlesungen über Neurosenlehre. 

In der Arbeit des von Prof. Schjelderup geleiteten Psychologischen Universi- 
tatsinstitutes spielt die Psychoanalyse nunmehr eine bedeutende Rolle. Zum Staats¬ 
examen in Psychologie ist eine gewisse Kenntnis dieses Gegenstandes erforderlich. 

Dr. Raknes hielt im Rahmen seiner Dozentur an der Universität in Oslo Vor¬ 
lesungen über psychoanalytische Trieblehre (60 Hörer). Der gleiche Vortragende 
hielt auch ane Anzahl von Vorlesungen für Lehrer, und Frau Hoel sprach vor einer 
eihe von ^Seilschaften, so z. B. vor der Elternvereinigung der Nationalschule über 
„Kindhche Sexualität“. An der psychiatrischen Universitätsklinik hielten Fenichel 
und andere Mitglieder unserer Vereinigung Vorträge. Einer unserer Ausbildungs- 
kandidaten ist Assistent an dieser Klinik. Dr Qla Raknes 


Indian Psycfio^Analytical Institute 

Jahresbericht 1934 

Die Tätigkeit des Institutes konzentrierte sich hauptsächlich auf die Durchführung 
von Lehranalysen, für welche mehrere Ansuchen im Sinne des nunmehr geänderten 
ehemaligen Punkt 40 der Statuten Vorlagen. 





























Korrespondenzblatt 


315 


Zur psychiatrischen Ausbildung ist für die Kandidaten nunmehr der Besuch der 
psychologischen Klinik am Carmichael Colledge erforderlich, die vom Präsidenten 
der Vereinigung um die Mitte des Jahres eröffnet wurde. 

Die Sammlung der Beiträge für die Psychoanalyse zeigt bisher ein Totalergebnis 
von 1300 Rupien einschließlich der in diesem Jahre erzielten 250 Rupien, gegenüber 
550 Rupien im Vorjahr. 

Das Vermögen der Gesellschaft reicht derzeit noch nicht aus, um die zur Grün¬ 
dung einer Klinik erforderlichen Beträge aufzubringen. T. B. 


Institute of Psycho»Analysis, London 

Jahresbericht 1933—1934 

Seit dem Bericht auf dem Wiesbadener Kongreß 1932 waren die Bemühungen des 
Britischen Unterrichtsausschusses weitgehend auf die Festigung der bestehenden Or¬ 
ganisation gerichtet. Hievon abgesehen, war das bedeutendste Ereignis die Erweite¬ 
rung der zum Unterricht in der Kinderanalyse bestimmten Gruppe. Damit ging 
die Vergrößerung der Kinderabteilung des Institutes und der Klinik Hand in Hand. 
Das Institut hat das ganze Gebäude j6 Gloucester Place übernommen und ist nun in 
der Lage, eine größere Anzahl von Fällen ohne die Unzukömmlichkeiten, die bei 
einer gleichzeitigen Behandlung von Erwachsenen und Kindern in so beschränkten 
Räumlichkeiten unvermeidbar sind, zu behandeln. 

Klinische Arbeit 

Die Gesamtzahl der an der Klinik während des Jahres untersuchten Fälle betrug 98 
(49 m., 49 w.). Davon waren 86 Erwachsene (46 m., 40 w.) und 12 Kinder (3 m., 9 w.). 


Erwachsene: 

Bei der Untersuchung beraten . 24 (14 m., 10 w.) 

Zur Behandlung empfohlen.. 62 (32 m., 30 w.) 

Von diesen der Behandlung zu gewiesen .... 16 (9 m., 7 w.) 
Auf der Warteliste vorgemerkt. 46 (23 m., 23 w.) 

Kinder; 

Während der Untersuchung beraten . i (i w.) 

Zur Behandlung empfohlen. 11 (3 m., 8 w.) 

Von diesen der Behandlung zugewiesen _ 4 

Auf der Warteliste vorgemerkt. 7 

Warteliste: 


Die Anzahl der vorgemerkten Personen betrug am Ende des Jahres 166 gegenüber 


137 im Jahre 1933, und zwar: 

Erwachsene (85 m., 63 w.) .148 

Kinder. 18 


In Behandlung. Zu Ende dieses Jahres standen 51 Fälle in Behandlung, und 
zwar 39 Erwachsene und 12 Kinder. 




















3 i 6 


Korrespondenzblatt 


Ausbildung der Kandidaten 

Am 30. Juni 1933 standen 23 Kandidaten auf der regulären Ausbildungsliste, 
und zwar; 

Zur Erwachsenenanalyse: 15 in Ausbildung, 3 vorgemerkt zur Lehranalyse und 4, 
deren Ausbildung unterbrochen wurde. 

Zur Kinderanalyse: 3 Kandidaten, von denen 2 auch in der Ausbildung zur Er¬ 
wachsenenanalyse stehen. Während des Jahres kam i Kandidat zur Liste für Er¬ 
wachsenenanalyse hinzu, und einer wurde vom deutschen Unterrichtsausschuß 
zur Vervollständigung der Ausbildung zugewiesen. 

Dr. Scott wurde als praktizierender Analytiker (für Erwachsene und Kinder) 
anerkannt. 

Dr. Winnicott wurde als praktizierender Analytiker (für Erwachsenenanalyse) 
anerkannt. 

Am Jahresende standen 24 Kandidaten auf der Liste, und zwar: 


In Ausbildung. 14 

Zur Lehranalyse vorgemerkt . 2 

Zur Kinderanalyse vorgemerkt . 3 

(2 davon von der Erwachsenenliste). 

Ausbildung unterbrochen. 5 

13 Kandidaten stehen gegenwärtig in Analyse. 


8 Kandidaten sind unter Kontrolle mit der Analyse von 13 Fällen beschäftigt. 

Kontrollanalytiker: Dr. Brierley, Dr. Jones, Dr. Glover, Mrs. Klein, Doktor 
Payne, Dr. Rickmann, Mrs. Riviere, Miß Searl, Miß Sharpe, Dr. Strachey. 

Vorlesungen für Kandidaten 

Herbstperiode: Miß Searl: Psychoanalyse der Kinder. 

Frühjahrsperiode: Dr. Brierley: Sexualtheorie. 

Sommerperiode: Dr. Glover: Neurosenlehre. 

Praktische Seminare. Der Versuch, ein Gruppenkontrollseminar unter der 
Leitung eines Kontrollanalytikers durchzuführen, wurde fortgesetzt. Eine Anzahl 
solcher Sitzungen wurde in der Oktoberperiode von Mrs. Riviere und in der 
Januarperiode von Dr. Strachey geleitet. In der Sommerperiode wurden Einzel¬ 
seminare von Dr. Payne und Miß Searl durchgeführt. 

Theoretische Seminare. Diese wurden während der Oktober- und Januar¬ 
periode von Dr. Glover in monatlichen Sitzungen fortgesetzt. 

Seminare für Kinderanalyse. Diese Seminare wurden wie im Vorjahr unter 
der Leitung von Mrs. Klein weitergeführt. 

Externe Arbeit 

Während des Jahres wurden vom Public Lecture Committee zwei Kurse veran¬ 
staltet (über den ersten wurde im Int. Journal of PsA., Vol. XV, p. 114 berichtet). 
Der zweite Kurs, bestehend aus 6 Vorlesungen, wurde unter dem Titel „Familien¬ 
probleme“ im Frühjahr abgehalten. Die Teilnehmerzahl betrug 80 Hörer. 
































Korrespondenzblatt 


317 


I. Februar. Dr. M. D. Eder: Schwieriges Familienmilieu. 

8. Februar. Miß Searl: Kindheit und Pubertät. 

15. Februar. Miß B. Low: Brüder und Schwestern. 

22. Februar. Dr. S. Yates: Die Rückwirkung von Eheschwierigkeiten auf die 

Kinder. 

I. März. Dr. S. Isaacs: Widerspenstige Kinder. 

8. März. Miß E. Sharpe: Der Austritt aus dem Familienkreis. 

Miß Low führte während des Jahres zwei Arbeitsgemeinschaften mit 20 Teil¬ 
nehmern durch. In der einen wurde das Thema „Stufen in der Entwicklung des 
Individuums“, in der anderen das Thema „Das Unbewußte und seine Rückwirkung 
auf das bewußte Leben und Verhalten“ behandelt. 

Publikationen und Bücherverkauf 

Freuds „New Introductory Lectures“ wurden in diesem Jahre im Verlag der 
Hogarth Press und des Institute of Psycho-Analysis veröffentHcht. Der Verkauf von 
Büchern war im großen und ganzen zufriedenstellend. Es besteht eine ständige Nach¬ 
frage nach Freuds „Collected Papers“ und „Introductory Lectures“. 

Edward Glover, 

Sekretär 

Nedcriandsch Instituut voor Psychoanalyse, Haag 

Bericht, erstattet auf dem Kongreß zu Luzern, 1934 

Mit Rücksicht auf die Jugend unseres neuen Unternehmens und auf die Kürze der 
Zeit, die seit der Vereinigung der Lehrkräfte des Frankfurter psychoanalytischen In¬ 
stitutes mit dem früheren Institut in Haag verstrichen ist, wäre es unbillig, schon 
jetzt große Resultate zu erhoffen. 

Heuer sind 7 Lehranalysen in Durchführung begriffen. Derzeit werden keine 
Vorlesungen für die Ausbildungskandidaten abgehalten; deren theoretischer Unter¬ 
richt wird statt dessen in Arbeitsgemeinschaften durchgeführt, wo die geringen Teil¬ 
nehmerzahlen individuelle Arbeit ermöglichen. 

Dr. Reik und Dr. Landauer hielten zwei Kurse für an der Psychoanalyse inter¬ 
essierte Personen (15 bis 20 Hörer), während sich weitere Kurse und besondere Vor¬ 
lesungen in Vorbereitung befinden. 

Unsere Bemühungen gelten in erster Linie der Erweiterung von Wissen und Er¬ 
fahrung unserer Mitglieder. Zu diesem Zweck teilte sich die Vereinigung in zwei 
Arbeitsgemeinschaften, von, denen sich die eine nach dem Vorschlag von Helene 
Deutsch mit einer gemeinsamen Kontrollanalyse, die andere mit der Diskussion 
der verschiedenen Lösungen des Ödipuskomplexes befaßt. Diese wöchentlichen Ar¬ 
beitsgemeinschaften haben zur inneren Festigung der Vereinigung wesentlich bei¬ 
getragen. Dr. Karl Landauer, Amsterdam 

New York Psydioanalytic Institute 

1933—1934 

A. .Ausbildungsk urse (nur für Mitglieder und Ausbildungskandidaten) 

I- Dr. Sandor Rado: Ausgewählte Kapitel der psychoanalytischen Technik. 
8 Stunden (43 Hörer). 












3i8 


Korrespondenzblatt 


2. Dr. Sandor Rado: Mutterschaft und Genitalität. 8 Stunden (47 Hörer). 

3. Dr. Sandor Rado: Störungen der männlichen Potenz. 8 Stunden (47 Hörer). 

4. Dr. Sandor Rado: Technisches Seminar. 24 Doppelstunden (20 Hörer). 

5. Dr. Bertram D. Lewin: Probleme der Deutung. 10 Doppelstunden (15 Hörer). 

6 . Dr. Abraham Kardiner: Seminar über angewandte Psychoanalyse. 12 Vor¬ 
träge (9 Hörer). 

B. „Extension“-Kurse 

1. Die Anwendung der Psychoanalyse a/uf die soziale Fürsorge. Seminar für vor¬ 
geschrittene soziale Fürsorger (Drs. Broadwin und Glu eck). 12 Doppelstunden 
(23 Teilnehmer). 

2. Einführung in die Psychoanalyse. Vorlesungen für soziale Fürsorger 
(Drs. Broadwin, Kubie, Meyer). 10 Stunden (27 Hörer). 

3. Psychoanalyse und Medizin. Einführungskurs für Ärzte (Drs. Broadwin, 
Feigenbaum, Kardiner, Lehrman, Lorand, Meyer, Oberndorf, Rado, 
Schilder), ii Stunden (34 Hörer). 

4. Psychoanalyse und Pädagogik. Fortbildungskurs für Lehrer (Drs. Bonnett, 
Broadwin, Liss, Meyer). 15 Doppelstunden (16 Hörer). 

5. Populäre Vorlesungen über psychoanalytische Topik. Allgemein zugänglich 
(Drs. Brill, Daniels, Kenworthy, Lehrman, Meyer, Oberndorf, Rado). 
8 Stunden (durchschnittlich 24 Hörer). 

6 . Die Verwendung psychoanalytischer Gesichtspunkte in der sozialen Fürsorge. 
Seminar für soziale Fürsorger (Dr. Adolph Stern). 10 Doppelstunden (18 Hörer). 

7. Seminar für vorgeschrittene soziale Fürsorger. Fortsetzung von Kurs i 
(Dr. 1. T. Broadwin). 12 Doppelstunden (ii Hörer). 

8. Psychoanalyse und Recht. Einführungskurs für Richter (Dr. Bernard Glu eck). 
8 Stunden (durchschnittliche Hörerzahl 12). 

Palestine Institute for Psydio»Analysis, Jerusalem 

Bericht, erstattet auf dem Kongreß zu Luzern, 1934 

Die Arbeitsbedingungen sind in diesem kleinen Land, dessen Größe meist über¬ 
schätzt wird, sehr schwierig und die Anforderungen, die an uns gestellt werden, sind 
außerordentlich hohe. Wir müssen die äußerste Vorsicht üben, da manche Fälle, in 
denen unsere Hilfe in Anspruch genommen wird, oberflächlicher Art sind, während 
andere, wie etwa Fragen der Kindererziehung, so wichtig und dringlich sind, daß es 
nicht leicht ist, die Verantwortung zu übernehmen. 

Das „Palestine Institute for Psycho-Analysis“ wurde im Herbst 1934 eröffnet. 
Wir gaben den Behörden sein Bestehen unter diesem Namen bekannt und begegneten 
in dieser Hinsicht keiner Gegnerschaft. Man betrachtet es als ein Institut zur aka¬ 
demischen Weiterbildung, und dies ist so ganz in Ordnung. Bisher ergab sich kein 
Konflikt mit dem Educational Department und wir hoffen, daß dies auch in Hin¬ 
kunft nicht der Fall sein wird. Ich möchte mit aller gebotenen Vorsicht sagen, daß 
wir wahrscheinlich in der Lage sein werden, Lehrer zur therapeutisch-pädagogischen 
Arbeit einschließlich der Kinderanalyse auszubilden. In anderer Hinsicht ist die 
























Korrespondenzblatt 


319 


Frage der Laienanalyse hier sehr schwierig, und zwar in solchem Maß, daß wir nur 
bitten können, diese Angelegenheit vorläufig unserer Beurteilung zu überlassen. Ich 
hoffe, in zwei Jahren über die Durchführung ausführlich Rechenschaft ablegen zu 
können. Dr. M. Eitingon 

Sc&weizeriscjbe Gesellsdiaft für Psydioanalyse 

Bericht, erstattet auf dem Kongreß zu Luzern, 1934 

Wir besitzen kein Lehrinstitut im eigentlichen Sinn des Wortes, sind jedoch be¬ 
müht, für die Ausbildung künftiger Analytiker Vorkehrungen zu treffen. Wir 
unterbreiten deshalb dem Unterrichtsausschuß die Namen solcher Analysanden, die 
zur berufsmäßigen Ausübung des Faches geeignet scheinen. Es ist sodann Sache des 
Unterrichtsausschusses, zu entscheiden, ob eine zum Abschluß gebrachte Analyse als 
Lehranalyse bewertet werden kann, den Kandidaten in diesem Falle bei der Erlan¬ 
gung der nach den „Internationalen Richtlinien“ erforderlichen Ausbildung zu unter¬ 
stützen und ihn zur Aufnahme ah eines der bestehenden Lehrinstitute zu empfehlen. 

Analysanden, deren Studien der Psychoanalyse genügend weit vorgeschritten sind, 
werden zu den Veranstaltungen der Gesellschaft zugelassen, teils um ihnen Gelegen¬ 
heit zu weiterem Studium zu verschaffen, teils um sie mit praktizierenden Ana¬ 
lytikern in Fühlung zu bringen. 

Zu einem Lehrinstitut entstand, wie wir hoffen, ein Ansatz durch die Bemühun¬ 
gen unseres Kollegen Behn-Eschenburg,i der ein psychoanalytisches Seminar 
für eine Anzahl unserer jüngeren Kollegen anregte, dessen besondere Aufgabe das 
Studium praktischer technischer Probleme ist. 

An der Flochschule in Basel entfaltete Meng eine rege Tätigkeit und brachte in 
seinen Vorlesungen über pädagogische Psychologie die psychoanalytische Theorie 
hervorragend zur Geltung. Sarasin 

Lehrinstitut der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung, 

Budapest 
IV. Quartal 1933 
1 . Vorlesungen 

1. Frau K. F. Levy: Psychoanalyse für Pädagogen. 6 Vorlesungen (55 Hörer). 

2. Dr. Szüts: Depression, i Vorlesung (15 Hörer). 

3» Dr. 1 . Hol lös: Auszüge aus der Psychiatrie. 6 Vorlesungen (20 Hörer). 

II. Seminar für Ausbildungskandidaten 

4. Frau V. Koväcs: Technisches Seminar. 5 Stunden (14 Hörer). 

5 * Dr. M. Bali nt: Psychoanalytische Literatur über die Perversionen. 5 Stunden 
(8 Hörer). 

^ 6. Dr. E. Almasy: Psychiatrische Krankengeschichten (für nichtärztliche Aus¬ 
bildungskandidaten). 3 Stunden (15 Hörer). 















320 


Korrespondenzblatt 


I. Quartal 1934 

I. Vorlesungen für Pädagogen 

1. Frau Dr. K. Rotter: Verstehen und Erziehen. 

2. Dr. Szüts: Das hysterische Kind. 

3. Frau Dr. G. Lazar: Kindliche Angst. 

4. Frau K. F. Levy: Hemmungen. 

5. Dr. Pfeiffer; Das Spiel des Kindes. 

6 . Frau Dr.K. F. Levy: Asoziales Verhalten. Zusammen 6 Vorlesungen (6o Hörer). 

II. Seminar für Ausbildungskandidaten 

7. Frau Kovdcs: Technisches Seminar. 5 Stunden (12 Hörer). 

8. Dr. I. Hermann: Theoretisches Seminar. Diskussion von Freuds „Hemmunc^ 
Symptom und Angst“. 5 Stunden (12 Hörer). 

II. Quartal 1934 
I. Vorlesungen 

I'tau Dr. L. G. Hajdu: Masochismus, i Vorlesung (30 Hörer). 

2. Dr. L. Revesz: Hysterie. 2 Vorlesungen (30 Hörer). 

3. Dr. I. Hollos: Die Theorie der Traumdeutung. 5 Vorlesungen (40 Hörer). 

4. Dr. E. Almasy: Psychiatrische Krankengeschichten. 3 Vorlesungen (20 Hörer). 

II. Seminare für Ausbildungskandidaten 

5. Frau V. Kovacs: Technisches Seminar. 5 Stunden (ij Hörer). 

6. Frau A. Bdlint: Über Verdrängung. 2 Stunden (ij Hörer). 

Bericht, erstattet auf dem Kongreß zu Luzern, 1934 

Die Berichtsperiode stand unter dem Eindruck des Verlustes, den wir durch 

Vereinigung, besonders aber die 
Pohkhmk, betrachten es als unsere höchste Dankespflicht, den therapeutischen Geist 
zu pflegen, der in Ferenczi seine Verkörperung fand. 

Dr. Hollös folgte Ferenczi als Direktor; sonst ergaben sich keine Änderungen 
in der Leitung. 

1933 war ein Absinken der Vormerkungen zur Behandlung zu verzeichnen, deren 
Gesamtzahl 149 betrug. Hingegen ist die Zahl der in Behandlung stehenden Fälle 
im ständigen Anwachsen begriffen. 

1932 (Wiesbadener Bericht) ergab einen Durchschnitt von 25 Analysen mit iioBe- 
ha^lungsstunden wöchentlich. Zur Zeit werden 47 Analysen in 160 wöchentlichen 
Behandlungsstunden durchgeführt; ferner sind 25 Kinderanalysen mit 40 Behand¬ 
lungsstunden pro Woche im Gang. 

Leider besteht eine lange Vormerkliste von 75 Personen, von denen einige schon 
jahrelang warten. 

Der Vorsitzende des Unterrichtsausschusses Dr. Hermann berichtet über 17 Lehr- i 
analysen und 4 Kontrollanalysen. 

Statt in systematischen Kursen, die bei einer so geringen Zahl von Dozenten und 

Kan^daten schwer zu arrangieren sind, wurde die Hauptarbeit in folgenden Seminaren 
geleistet: 

I. Technisches Seminar, geleitet von Frau V. Kovacs. 


























Vorläufige Mitteilungen 


321 


2. Theoretisches Seminar, geleitet von L Hermann. 

3. Seminar über psychoanalytische Literatur, geleitet von M. Bali nt. 

Die Teilnehmerzahl betrug 10 bis 15 Hörer. Einige unserer älteren Kollegen 
nahmen öfters an den Diskussionen teil. Dr. Michael Bali nt 


The Washington^Baltimofc Psychoanaiytic Society 


I. Quartal 1933 

Dr. William V. Silverberg: Freuds Krankengeschichten. 10 Seminarabende 
(18 Hörer). 


11 . Quartal 1933 

Dr. Ernest E. Hadley: Traumdeutung. 6 Vorlesungen (ii Hörer). 

Dr. H. St.Sullivan: Die Psychiatrie der Schizophrenie. 8 Vorlesungen (18 Hörer). 


IV. Quartal 1933 

Dr. Lewis B. Hill: Die Theorie der Neurosen. 10 Vorlesungen (i^ Hörer). 

Dr. Ernest E. Hadley; Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 6 Seminarabende 
(12 Hörer). 

Dr. Lewis B. Hill: Technisches Seminar. 10 Stunden (4 Hörer). 

I. Quartal 1934 

Lucile Dooley: Spezielle Neurosenlehre. 10 Vorlesungen (13 Hörer). 

Dr. Ernest E. Hadley: Die Theorie der Traumdeutung. 6 Vorlesungen (6 Hörer). 
Dr. Ernest E. Hadley: Die Technik der Traumdeutung. 10 Seminarabende 
(12 Hörer). 

Dr. Lewis B. Hill: Technisches Seminar. 10 Stunden (6 Hörer). 


II. Quartal 1934 

Dr. Lewis B. Hill: Trieblehre. 5 Vorlesungen (ii Hörer). 

Dr. Lewis B. Hill; Technisches Seminar. 10 Stunden (6 Hörer). 

Dr. Lucile Dooley: Die Technik der Psychoanalyse. 8 Vorlesungen (12 Hörer). 

III. Quartal 1934. 

Dr. Lewis B. Hill: Allgemeine Neurosenlehre. 10 Vorlesungen (5 Hörer). 

IV. Quartal 1934 

Bernard S. Robbins: Die Theorie der Traumdeutung. 6 Vorlesungen (4 Hörer). 
Dr. Lucile Dooley; Technisches Seminar. 10 Seminarabende (7 Hörer). 

Dr. William V. Silverberg; Metapsychologie. 8 monatl. Vorlesungen (Oktober 
1934 bis Mai 1935) (25 Hörer). 

Dr. Harry St. Sullivan: Die Psychiatrie des Charakters und seine Abweichungen. 
8 monatl. Vorlesungen (Oktober 1934 bis Mai 1933) (23 Hörer). 

____ Dr. Ernest E. Hadl ey, Chairman 

i) Wir müssen leider mitteilen, daß Behn-Eschenburg seit der Abfassung dieses Be¬ 
richtes nach kurzem, schwerem Leiden verschieden ist. 














322 


Korrespondenzblatt 


III. Berichte der Zweigvereinigungen 

British Psycho*Anaiytical Society 

1 . Quartal 193 j 

16. Januar: Mrs. Klein: „A contribution to the psycho-genesis of manic-depres¬ 
sive States.“ 

6. Februar: Miß Sharpe: „Some unconscious determinants in the sublimations 
of pure Science and pure art.“ 

20. Februar: Miß Searl: „Infantile Ideals.“ 

6 . März: Dr. Payne: „A Conception of Fenaininity.“ 

20. März: Dr. Brierley: „Specific determinants in feminine development.“ 

II. Quartal 1935 

3. April. J. C. Flügel: Das Tannhäusermotiv. 

8. Mai. Symposion: Psychoanalyse und Erziehung. Dr. Edward Glover, Dr. I 
Susan Isaacs, Dr. Melitta Schmideberg. Die Diskussion wurde von Miß Barbara j 

Low eröffnet. j 

21. Mai. Barbara Low: Die psychologischen Kompensationen des Analytikers. Die 
Diskussion über das Symposion wird fortgesetzt. 

5. Juni. Walter Schmideberg: Agoraphobie und Schizophrenie, ein Beitrag zur 
Analyse der Psychosen. 

19. Juni. Die Diskussion über das Symposion wird nach Aufzeichnungen von 
Dr. Edward Glover fortgesetzt. ' 

Edward Glover, j 

Hon. Scientific Secretaiy j 

Dansk*Norsk Psykoanalytisk Forening 

I. Quartal 1935 

I. Februar 1935. Referatenabend über Glover: „War, Sadism, Pacifism.“ 

Dn Trygve Bratoy, Vinderen b. Oslo, Psykiatrisk klinik, und Frau Doktor 
Christensen, Oslo, Huitfeldtsgate 7, werden als Mitglieder auf genommen. 

8. Februar 1935. Kasuistischer Abend. Referent: Dr. Raknes. 

22. Februar 1935. Dr. Fenichel: „Das Phallus-Mädchen.“ 

Die symbolische Gleichung Penis — Kind nimmt unter Umständen bei beiden Ge¬ 
schlechtern die Form an: Penis — Mädchen. Diese spezielle Form ist von Bedeutung 
für Neurosenlehre (Perversionen), Mythologie, Religionspsychologie und Literatur¬ 
geschichte. ■ ij 

8. März 1935. Dr. Gero, Kopenhagen, a. G.: „Über orgastische Potenz und Prä- 
genitalität.“ 

Ein Fall von zyklothymer Neurose mit leichter Affektsperre bot das Bild eines 
äußerlich geordneten Seelenlebens. Die Analyse ergab, daß ein seinem scheinbar un¬ 
gestörten Sexual verhalten (ebenso wie in seinem sonstigen Lebensverhalten) Konflikte 
um einen ursprünglichen starken oralen Sadismus „gebunden“ waren. Die Probleme 
der Beziehungen zwischen Oralität und Genitalität, besonders der scheinbaren or¬ 
gastischen Potenz trotz starker oraler Fixierung wurden erörtert. 


























Korrespondenzblatt 


323 


15. März 1935. Kasuistischer Abend. Referent: Dr. Landmark. 

22. März 1935. Referentenabend über Bernfeld: „Die Gestalttheorie.“ 

29. März 1935. Dr. Fenichel: „Zur Theorie der psychoanalytischen Technik.“ 

Die in der Int. Ztschr. f. Psa. erscheinende Arbeit gleichen Titels, vermehrt um einige 
weitere Auseinandersetzungen mit den technischen Vorschlägen von Reich. 

5. April 1935. Kasustischer Abend. Referent Dr. Hoel. 

II. Quartal 1935 

14. Mai 1935. Kasuistischer Abend. Referent: Prof. Schjelderup. 

20. Mai 1935. Dr. Fenichel: „Der Trieb, sich zu bereichern.“ Das heute in den 
verschiedensten normalen und pathologischen Formen zu beobachtende triebhafte 
Verlangen, sich zu bereichern, bietet Gelegenheit, das Ineinander von Biologisch- 
Triebhaftem und gesellschaftlich Bedingtem zu studieren. Dieses hat sowohl auf die 
relative Verteilung der Libido auf die einzelnen PartiaJtriebe großen Einfluß, 
wie es auch den biologischen Triebansprüchen bestimmte Gegenstände zu geben 
vermag. — Die ibisherigen Untersuchungen über die Beziehungen von Geld und 
Analerotik sind in vielfacher Flinsicht ungenügend. 

31. Mai 1935. Referentenabend über Laß well: „Psychopathology and Politics.“ 

7. Juni 1935. Kasuistischer Abend. Referent: Dr. Brätoy. 

17. Juni 1935. Referentenabend über Cannon: „Bodily Changes in Fear, Hunger, 
Pain and Rage.“ 

21. Juni 1935. Referentenabend über die Arbeit von Piaget. 

24. Juni 1935. Dr. Fenichel: Gedanken über Selbstironie als Angstabwehr. Die 
Erkenntnisse der Psychoanalyse über Ironie und Humor ermöglichen in manchen 
Widerstandsformen innerhalb der analytischen Kur und — vor allem — in manchen 
Kinderspielen die Funktion der Selbstironie als einen spezifischen Mechanismus der 
Angstabwehr zu erkennen. 

I. Juli 1935. Dr. Nie. Hoel: „Zur Problematik der Hypochondrie.“ 

O. Fenichel 

Sekretär 

Deutsche Psyctoanalytisdie Gesellsdiaft 

» 

I. Quartal 1935 

I. Januar 1935. Dr. Roellenbleck: „Peer Gynt als erotischer Typ suigeneris/* 

Diskussion: Mette, Jakobsohn, Kempner, Herold, Benedek, Müller-Braunschweig. 
Weigert-Vowinokel, Kamm, Zeif (a. G.). 

21. Januar 1935. Frau Dr. Liebeck-Kirschner: „Frühe Wurzeln der Aktivität.“ 

Diskussion: Mette, Jakobsohn, Benedek, Müller-Braunschweig, Zeif (a. G.). 

5. Februar 1935. Dr. Ernst Lewy (a. G.): „Frühkindliches Erleben und Erwach- 
senen-Kultur bei den Primitiven (nach G. M. Mead),“ 

Diskussion: Herold, Kamm, Benedek, Buder-Schenk (a. G.), Müller-Braunschweig, 
Boehm. 

16. Februar 1933. Festsitzung in erweitertem Rahmen mit anschließendem geselligen 
Zusammensein anläßlich des 15jährigen Bestehens des Berliner „Psychoanalytischen 
Instituts“. 















324 


Korrespondenzblatt 


I. Dr. Boehm gibt einen Überblick über die Entwicklung und Tätigkeit des 
Instituts. 2. Dr. Müller-Braunschweig hält einen Vortrag über „Die erste 
Objektbesetzung des weiblichen KLindes in ihrer Bedeutung für Penisneid und Weib¬ 
lichkeit“. 

27. Februar 1935. Diskussion über den Vortrag vom 16. Februar nach einleitendem 
Referat Müller-Braunschweigs: Benedek, Boehm, Jakobsohn, Schultz-Hencke, 
Kamm, Weigert-Vowinckel. 

6 . März 1935. I. Frau Gertrud Göbel: „Analytische Unterhaltungen mit einer 
75jährigen Frau.“ 2. Frau Dr. Jakobsohn: „Über das Heilungsproblem in der 
Kinderanalyse.“ (Vortrag Luzern 1934.) Diskussion zu i. und 2.: Jakobsohn, Müller- 
Braunschweig, Buder-Schenk (a. G.), Schultz-Hencke, Kamm, Liebeck-Kirschner. 

20. März 1935. Frau Dr. Jakobsohn und Frau Dr. Benedek: „Kritisches 
Referat über Sandor Rado: Die Kastrationsangst des Weibes.“ 

30. März 1935. Dr. Steinfeld-Mannheim (a. G.): „Aus der Behandlung eines 
Falles von Zwangsneurose mit Berücksichtigung des Zwillingsproblems.“ 

Diskussion: Jakobsohn, Kempner, Schulte (a. G.), Graf (a. G.), Boehm. 

Adressenänderung: Frau Dr. med. Weigert-Vowinckel, Ankara (Türkei), 
Beivü-Palas-Oteli. 

Dr. Carl Müller-Braunschweig 

Schriftführer 


Finnisch*Schwe<iischc Psychoanalytische Vereinigung 

I. Quartal 1935 

31. Januar 1935. Kontrollseminar; Törngren: Patient. 

7. Februar 1935. Geselliges Zusammensein anläßlich des Besuches Dr. Rene 
Allendy, Paris. 

11. Februar 1935. öffentlicher Vortrag; Nielson: Sexuelle Aufklärung. 

12. Februar 1935. Referierabend; Ekman: Zur präÖdipalen Phase. 

18. Februar 1935. öffentlicher Vortrag; Nielson: Onanie. 

21. Februar 1935. Kontrollseminar; SandstrÖm: Patient. 

22. Februar 1935. öffentlicher Vortrag im Medizinerverein von Upsala; Törn¬ 
gren: Medizin und Psychoanalyse. 

25. Februar 1935. öffentlicher Vortrag; Ekman: Strafen. 

28. Februar 1935. Kontrollseminar; Ekman: Patient. 

II. März 1935. öffentlicher Vortrag; Törngren: Medizin und Psychoanalyse. 

14. März 1935. Kontrollseminar; Törngren: Patient. 

28. März 1935. Vorträge in der Sektion für Neurologie und Psychiatrie der 
schwedischen Ärztegesellschaft; Jekels: Die psychoanalytische Therapie; Tamm: 
Die Kindersexualität. 


Alfhild Tamm 
































Korrespondenzblatt 


325 


Magyarorszagi Pszidioanafitikai Egyesület 

I. Quartal 1935 

18. Januar 1935. Dr, I. Hermann; Über ein in der analytischen Literatur bisher 
vernachlässigtes Triebpaar (Sich-Anklammern und Sich-Losreißen). 

I. Februar 1935. Generalversammlung. Wahl des Vorstandes und der Funktionäre. 
Präsident Dr. Hollos, Sekretär und Vorsteher des Lehrausschusses Dr. Hermann, 
Leiter der Poliklinik Dr. Bali nt, stellvertretender Leiter der Poliklinik Dr. Revesz, 
Kassier Dr. Pfeifer, Biblothekar Dr. A 1 m ä s y. 

I. März 1935. Frau A. Bälint; Das Realitätsprinzip in der Erziehung. 

15. März 1935. Kasuistik, i. Frau Dr. M. Dubovitz: Aus der Analyse eines 
Kindes. 2. Frau Dr. L. G. Hai du: Epileptische Anfälle während einer Analyse. 

29. März 1935. Kasuistik, i. Dr. I. Hollos: Zur Frage der analytischen Auffassung 
der Epilepsie. 2. Frau E. Gyömröi: Aus der Analyse eines Homosexuellen. 

II. Quartal 1935 

12. April 1935. Dr. I. Hol lös: Referat des Buches von 1 . Hermann, „Die Psy¬ 
choanalyse als Methode“. 

IO. Mai 1935. Frau Dr. L. K. Rotter: Tiefenpsychologischer Hintergrund der 
inzestuösen Fixierung. 

24. Mai 1935. Dr. N. Sugar (als Gast): Blick in die Zukunft der Psychoanalyse. 

25. Mai 1935. Gedenks'itzung für Dr. S. Ferenczi. i. Dr. 1 . Hollös: Eröff¬ 
nungsrede. 2. Dr. G. Röheim: Ferenczi-Gedenkvortrag. Der Garten Eden oder die 
Psychologie der Menschheit. 

14. Juni 1935. Dr. L. Revesz: Referat über die Vierländertagung. 

21. Juni 1935. Dr. G. Dukes: Über die beschränkte Zurechnungsfähigkeit. 

Dr. I. Hermann 

Sekretär 

Ncderlandscfic Vcrecniging voor Psydioanalysc 

L und II. Quartal 1935 

26. Jänner 1935 (Leiden). Jahresversammlung. Vorstand ungeändert. In den Unter- 
richtsausschuß wird statt Dr. A. J. Westerman Holstijn^ welcher sich zurück¬ 
gezogen hat, Dr. H, G. van der Waals gewählt. 

Dr. H. C. Jelgersma und Dr. S. J. R. de Monchy bringen kurze Mitteilungen. 

9. März 1935 (Amsterdam). Dr. A. Stärcke: Die Rolle der analen und oralen 
Quantitäten bei den Systemgedanken. (Dieser Vortrag wurde in Heft I, 1935 der 
Int. Ztschr. f. Psa. veröffentlicht.) 

25. Mai 1935 (Haag). Dr. S. Weyl: Das Abenteuer (wird veröffentlicht). 

Dr. J. Tas, bisher außerordentliches Mitglied, wurde als ordentliches Mitglied auf¬ 
genommen. 

Als außerordentliche Mitglieder wurden aufgenommen: Dr. Jacques de Bus scher, 
14 rue Guinard, Gent, Dr. P. A. I. J. Nuysink, ii Koningskade, Haag. 

A. Endtz 

Sekretär 


Int, Zeitschr. t Psychoanalyse, XXI/2 


22 











1 


i i''^ ■. 


!|;,h 


J :! 


326 


Korrespondenzblatt 


Vcrccniging van Psychoanalytici in Nedcfland 

I. und II. Quartal 1935 

Als ordentliches Mitglied wurde Dr. A. Stärcke aufgenommen. Als Gäste sprachen 
Frau Dr. Jeanne Lampl-dc Groot über Masochismus, und Frau Dr. Schönber¬ 
ger, welch letztere Mitteilungen aus dem Kinderambulatorium in Wien brachte. 

Von unseren Mitgliedern hielt Frau Dr. Versteeg-Solleveld einen Vortrag 
über „Das Wiegenlied“, Dr. Landauer über „Weibliche Genitalfunktionen“ und 
über „Unlustvolle Verwirklichung lustvoller Phantasien“. Dr. Reik sprach einige 
Male über „Überraschung“, Dr. Watermann über „Masochismus“, Dr. Katan 
über Schizophrenie, während Dr. van der Waals das Buch von Bühl er, „Aus¬ 
druckslehre“, besprach. 

Jede vierte Sitzung setzte Dr. Blök die Besprechung einer Analyse fort. 

A. M. Blök 

Sekretär 


Societe Psydianalytique de Paris 

I. Quartal 1935 

15. Januar 1935. Vorsitz; Dr. A. Borei. 

Geschäftliche Sitzung; Der Ausschuß wird für das Jahr 1935 gewählt; Präsident 
Dr. Eduard Pichon; Vizepräsident Mme. Marie Bonaparte; Sekretär Dr. J. 
Leuba; Kassier M. Jean Frois-Wittmann. Über Antrag von Mme. Marie 
Bonaparte wird ein psychoanalytisches Seminar gegründet. Mme. Marie Bona¬ 
parte wird bereitwillig die Organisation übernehmen. Aufgabe des Seminars wird es 
sein, in technischen Sitzungen die Schriften Freuds sowie klinische Fälle gemeinsam 
zu studieren. 

Wissenschaftliche Sitzung; M. Dalbiez, eifriger Gast unserer Sitzungen, hält einen 
Vortrag über „Les criteres de Pinterpretation en psychanalyse et les exigences de la 
methologie scientifique“. Diskussion; MM. Lacan, Leuba, Mme. Marie Bonaparte, 
MM. Schiff, Loewenstein, Frois-Wittmann, Laforgue, Dalbiez. 

13. Februar 1935. Vorsitz; Dr. E. Pichon. 

Dr. P. Schiff; „Psychanalyse d’un crime incromprehensible.“ Diskussion; M. 
Pichon, Mme. Marie Bonaparte, MM. Laforgue, Odier, Godet, Spitz, Lacan, Dalbiez 
(a. G.), Schiff. 

19. März 1935. Vorsitz; Mme. Marie Bonaparte. 

Geschäftliche Sitzung; Monsieur Philippe Marette, 2, rue du Colonel Bonnet, 
Paris XVI, wird zum außerordentlichen Mitglied gewählt. Wir verzeichnen gerne die 
Kandidaturen von Herrn Dr. J. L. Pierre, 39 Avenue Charles Floquet, Paris VII, 
und des Sohnes von Mme. Marie Bonaparte, des Prinzen Peter von Griechen¬ 
land, 6 rue Adolphe Yvon, Paris XVI. (In der infolge der Ferien vorverlegten April¬ 
sitzung erfolgte die Wahl beider Kandidaten zu außerordentlichen Mitgliedern.) 

Wissenschaftliche Sitzung; Dr. Parcheminey; „Expose clinique d’un cas d’im- 
puissance.“ Diskussion; MM. Loewenstein, Codet, Schiff, Laforgue, Mmes. Morgen- 


J 





















Korrespondenzblatt 


327 


stein et Codet, MM. Frois-Wittmann, Odier, Pierre, Mme. Marie Bonaparte, M. Par- 
cheminey. 

Dr. J. Leu'ba 

Sekretär 


Wiener Psydioanalytisdie Vereinigung 

1. Quartal 1935 

9. Jänner 1935. Dr. Jeanne LampI-de-Groot: Referat über das Buch von 
Sandor Rado, „Die Kastrationsangst des Weibes“. Diskussion: R. Wälder, Hartmann, 
Federn, H. Deutsch, E. Kris. 

23. Jänner 1935. Anna Freud; Die Verwendung der analytischen Technik zum 
Studium der psychischen Instanzen (I. Teil). Diskussion: Fenichel (Oslo, a. G.), Federn, 
Eidelberg, M. Löwy (Prag-Marienbad, a. G.), G. Bibring, Sperling, H. Deutsch, 
Stengel, R. Sterba, R. Wälder, J. Lampl-de-Groot, E. Kris. 

6. Februar 1935. Anna Freud: Die Verwendung der analytischen Technik zum 
Studium der psychischen Instanzen (II. Teil). Die Diskussion wird auf den nächsten 
Abend verlegt. 

20. Februar 1935. Diskussion zum Vortrag Anna Freud: Die Verwendung der 
analytischen Technik zum Studium der psychischen Instanzen (II. Teil). Diskussions¬ 
einleitung: Anna Freud. Diskussion: J. Lampl-de-Groot, Hartmann, Federn, M. LÖwy 
(Prag-Marienbad, a. G.), Stengel, R. Sterba, R. Wälder, E. Kris. 

6. März 1935. Dr. Edith Buxbaum; Eine Rechenstörung. Diskussion: Federn, 
Hofifmann. — Dr. Editha Sterba: Eine Kinderbeobachtung. Diskussion: Anna Freud, 
Federn. — Dr. Eduard Hitschmann: Über Erweiterung der Traumbeobachtungen. 
Diskussion: Federn. — Dr. Paul Federn: Angsttraum und Schrecktraum. — 
Dr. Paul Federn: Über das Zeitgefühl beim hysterisch und beim melancholisch 
Deprimierten. Diskussiion: R. Sterba, Hartmann, Stengel, Max Müller (Bern, a. G.). 

20. März 1935. Dr. Robert Wälder: Über Zivilisation. Diskussion: Winterstein, 
Federn, E. Kris, Friedjung, M. Löwy (Prag-Marienbad, a. G.), Hartmann, Anna Freud. 

Geschäftliches: Dr. Yrjö Kulovesi (Tampere, Finnland) ist in die finnisch- 
schwedische psychoanalytische Vereinigung übergetreten. 

2. Quartal 1935 

24. April 1935. Dr. Ernst Jones (London, a. G.): „Über die Frühstadien der 
weiblichen Sexualentwicklung. Diskussion: H. Deutsch, W. Schmideberg (London, 
a. G.), R. Wälder, Anna Freud, B. Bornstein, Friedjung, Federn, J. Lampl-de Groot. 

13. Mai 1933. Dr. Michael Bali nt (Budapest, a. G.): „Zur Kritik der Lehre von 
den prägenitalen Organisationen.“ Diskussion: Federn, G. Bibring, J. Wälder, B. Born¬ 
stein, E. Kris, Anna Freud, J. Lampl-de Groot, A. Bälint (Budapest, a. G.), R. Wälder. 

29. Mai 1935. Dorothy Tiffany Burlingham: „Die Einfühlung des Kleinkindes 
in die Mutter.“ Diskussion: G. Bibring, Federn, M. Kris, E. Kris, B. Bornstein, Hart¬ 
mann, Anna Freud, Eidelberg, R. Wälder. 

Über die gemeinsamen mit der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung, der 
Prager Arbeitsgemeinschaft und der Societä Psicoanalitica Italiana durchgeführte 
Vierländertagung (8.—10. Juni) wird gesondert berichtet. 










328 


Korrespondenzblatt 


i 


19. Juni 1935. Dr. Erwin Stengel: „Die zwangsneurotische Persönlichkeit im 
schizophrenen Prozeß.“ Diskussion: Hartmann, Katan (Haag, a. G.), Eidelberg, Mack- 
Brunswick, Isakower, R. Wälder, Federn, Bergler. 

Geschäftliches: Das o. Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, 
Frau Else Heilpern-Fuchs, wird in die Wiener Vereinigung übernommen. 

Dr. Robert Wälder 

Schriftführer 


Psychoanalytickä skupina v C. S. R. 

(Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft in der C. S. R.) 

Die Arbeitsgemeinschaft nahm ihre Arbeit in Prag im Oktober 1933 auf. Schrift¬ 
führer der Arbeitsgemeinschaft ist Dr. Richard Karpe, Truhlarska 20, Praha. Vor 
ihrer Begründung hatte Dr. Em. Windholz einen Kurs: „Eii^fhhrung in die Psycho¬ 
analyse“ abgehalten (10 Abende, Teilnehmerzahl 10). Außerdem hielt Francis Deri 
zwei Vorträge über: „Traumdeutung“ (Teilnehmerzahl 20) und „Grundbegriffe der 
Psychoanalyse“ (Teilnehmerzahl ca. 100). 

Oktober bis Dezember 1933 

Steff Bornstein: Pädagogisches Seminar. 12 Abende, Teilnehnierzahl 20. 

Francis Deri: Theoretisches Seminar (für Fortgeschrittene): Zwangsneurose. 
3 Abende, Teilnehmerzahl 12—15. 

Francis Deri: Technisches Seminar (für Analytiker): 8 Abende, Teilnehmerzahl 8. 

Populäre Vorträge 

Edith Glück: Das Märchen vom Glück der Kindheit. 

Dr. Annie Reich: Die Ängste der Kinder und die Neurosen der Erwachsenen. 

Dr. Heinrich Löwenfeld: Wege der Charakterbildung. 

Teilnehmerzahl der Vorträge: 50—80. 

I. und IL Quartal 1934 

Steff Bornstein: Pädagogisches Seminar, 23 Abende, Teilnehmerzahl 30—-40. 

Steff Bornstein: Drei Abhandlungen über Sexualtheorie (für Pädagogen). 18 Kurs- 
stunden, Teilnehmerzahl 10. 

Francis Deri: Theoretisches Seminar (für Fortgeschrittene): Zwangsneurose (Fort¬ 
setzung), Hysterie; Traumdeutung, Reaktionsbildung und Sublimierung, ii Abende 
Teilnehmerzahl 14—18. 

Francis Deri: Technisches Seminar (für Analytiker). 12 Abende, Teilnehmerzahl 7 

Populäre Vorträge 

Steff Bornstein: Das Unbewußte der Eltern in der Erziehung der Kinder. Teil 
nehmerzahl 70. 

Steff Bornstein: Eß- und Schlafstörungen des Kindes. Teilnehmerzahl 150. 

Dr. Richard Karpe: Zivot a dilo Zigmunda Freuda (Leben und Werk Sigmunc 
Freuds). Teilnehmerzahl 25. 

















































Korrespondenzblatt 


329 


In Teplitz: 

Steff Bornstein: Über infantile Sexualität. 

III. und IV. Quartal 1934 

Steff Bornstein: Pädagogisches Seminar I. 5 Abende, Teilnehmerzahl 20—25. 
Steff Bornstein: Pädagogisches Seminar II. 7 Abende, Teilnehmerzahl 30—45. 
Francis Deri: Theoretisches Seminar (für Fortgeschrittene): Todestrieb und Maso¬ 
chismus. 4 Abende, Teilnehmerzahl 12. 

Francis Deri: Freud-Seminar (für Fortgeschrittene): Metapsychologie. 5 Abende, 
Teilnehmerzahl 15. 

Dr. Annie Reich: Freud-Seminar (für Anfänger). 7 Abende, Teilnehmerzahl 30—40. 
Francis Deri: Technisches Seminar. 5 Abende, Teilnehmerzahl 7. 

Am Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern 1934 wurde die 
Prager Arbeitsgemeinschaft der Wiener Gruppe angegliedert. 

Gastvorträge 

Dr. Edward Bi bring, Wien: Trieblehre (2 Vorträge). 

Dr. Robert Wälder, Wien: Allgemeine Neurosenlehre (2 Vorträge). 

Dr. Rene Spitz, Paris: Die Psychologie des Kleinkindes (4 Vorträge). 

Dr. Rene Spitz, Paris: John, ein unvollkommen untergegangener Ödipuskomplex. 
Dr. Rene Spitz, Paris: Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den 
Primitiven. 

Dr. Otto Fenichel, Oslo: Die Psychoanalyse der Langweile. 

Populäre Vorträge 

Francis Deri: Der Kampf um die Psychoanalyse. Teilnehmerzahl 70. 

Dr. Richard Karpe: Warum sind Erziehungsfehler unvermeidbar? (2 Vorträge). 
Teilnehmerzahl 60 und 180. 

In Brünn: 

• Francis Deri: Die Bedeutung des Traumes für die Psychoanalyse. Teilnehmer¬ 
zahl 200. 

Francis Deri 


IV. Änderung im Rcdaktionskomitec der Intern 
nationalen Zeitschrift für Psychoanalyse 

Herr Dr. Paul Federn hat seine Funktion als Mitredakteur der Internationalen 
Zeitschrift für Psychoanalyse niedergelegt. An seiner Stelle ist Herr Dr. Edward 
Bibring in das Redaktionskomitee eingetreten. Dieses Komitee besteht nun aus 
den Herren Dr. E. Bibring, Dr. H. Hartmann und Dr. S. Rado. 










: •: i ip 1 ' n i . 

. i i. ].. : i'.i 1 •. 


1>^(: i f Ü^i 


' .ir-* i ' 

li;..vr..ii'; >fv^.'s 1 .j-Sn- ' . ' ' ^‘' .( ' 

V ; < r ^ ^ ^♦ ■• -• • * /"v T /' ‘ ■ -y *:. * t.V' 

r*t{vjfih ./il^coicriyVi^'irnr^v; li^rriJirt^p^*»'::' ' *f ' i) ^ j 1 • vi 

,71 !»Ir.\'Tf 3 -<r'f!:' fiVl ’4 

Oj.‘ ^ i; i .•/Sh'^ci.A'V ; . A ;, . ^ .M«fi'^?Nbu:ri^ .d v i v ’•'• i| 

i"».'s :'-»irir!^‘r)i'J-l f^Ln'jCl/ *» fMt<' •"'ir''.''H’;r"j ‘ :< v .r ’ä 

-sL*;;.-. „ ';i;i '. / V fcuf Ln(.J iJ.i, .-‘. l- 

• •,; ■ ^Jih ^*>.ii;iv/ 'i-‘i : .Air (D; • j<iij j.?. r 


^V ;: f.v> 

. 1 Tu'/ I I 

..y^rlqfT-vr^- ‘7 . :-*'i ■ 3 ' 5 fi 3 ;tAhij!K«n'>j:Nw' ,iA!.- • 


ff- - ■;-t •> •rifi/.utlciV'M mi (1 :o !'0 |lfj 'j f fi :j(j.’J') . 

, ">11: ] « q ü^i , 

4 ^vU..;,. ..i'>qr 4 5 ij^ inu iqrr‘;M T^t.! ... t‘^C l aitiar 
^-'tTViüV «“r .^M'^-r-(.'j:,VJ,U ^ J7;.iiJjlJ^(v-fq ilQ»«, fti};!/;.yf S!/.vl*;l>i .Ä{ 
‘ '/. .oHl i>f»U Jr'f. v y li«: jnf 


ri- 7 . //. , 1 -t I.l : r 

: ivv^v/Pl .'CJ 

; ’ ii • 

yyjdf'^ -li 

•..r i ' 

■ '•' . ai 

; ,:•;.*? , • 

‘ r 

!Ü ; I ;.r l).M , \ : • 

> ; •• ' -.• ' V ': .^tl' 

- r A.: . • 1 

.fipv« 


li 


.\>' • - ul 

V i>:nff '.. .rbvAi >;>. .'1 *» i.=; V -1; 

■ilvAr ..: .. 


•ji 5 ix 3 U‘jL'>*f ‘ij( ( . ;. ^CJ / j .inj^T.^ 

^ r. ‘ 


• 7'isb *>3lij(iiOJianoiiAji<)S! ml ^iitnslyn/- .'vfj 

. >Vf ;4 )ül llr)fflD2ti >S a'^luiroiitin ,. 

7 jiM <i?. n<.A/l:ii;'I ri^'l :(T ’ri 

i lüVit/d -lA ;/i 5 l!:>r<? ii/< ,4;r^A';lA'iib /:> 7 AfKor(:>p; 

■'‘ d aOiinioL?! Ajc'jRT . '>'ijinio/(’ni...i/ijbli 3 ^ ^r.b rii .x:i- 

'te .lil bfu’i Vi r\ y rr: i T AJ i II .t<.T ,;; r i i cj WI A l ^ n .* 

■^T . ', . 



fei 



























THE 

PSYCHOANALYTIC 
QUARTERLY 

Fourth year of publication 

THE QUARTERLY 
is devoted to original contributions in 
the ficld of thcorctical, clinical and 
applied psychoanalysis, and is published 
four times a year. 

The Editorial Board of the QUAR- 
TERLY consists of the Editors: Drs. 
Dorian Feigenbaum, Bertram D. Lewin 
and Gregory Zilboorg. Associate Edi¬ 
tors: Drs. Henry Alden Bunker, Jr., 
Raymond Gosselin and Lawrence S. 
Kubie. Associated with the Editorial 
Board is a group of distinguished Ameri¬ 
can and European psychoanalysts. 


CONTENTS FOR APRIL mS: 

Bertram D. Lew in: Claiutrophobia. — Sandor 
Lorand: Fairy Tales and Neurosis. — WilliamJ. 
Spring: Words and Masses: A Pictorial Contribu- 
tion to the Psychology of Stammering. — Marie 
Bonaparte: The Murders in the Rue Morgue.— 
Hanns Sachs: Edgar Allan Poe. — Lieutenant- 
Colonel C. D. Daly: The Menstruation Complex 
in Literature. — Henry Alden Bunker. Jr.: Three 
Brief Notations Relative to the Castration Complex. — 
In memnriam William Her man. — Book reviews.— 
Current Psychoanalytic Literature. — Notes. 

Editorial Communications should he sent 
to the Editof~in~Chief: Dt. Dorian Feigen- 
bäum, 6o Grametcy Park, New York, N. Y. 

Foreign subscription price is $ 5.50; 
single issues, one dollar and 75 cents. 
A limited numher of back copies are 
available; volumes in original binding 
$ Ö.50. 

Business correspondence should he sent to: 

THE PSYCHOANALYTIC 
QUARTERLY PRESS 

372-374 BROADWAY, ALBANY, 
NEW YORK 


THE 

INTERNATIONAL 
JOURNAL OF 
PSYCHO-ANALYSIS 

Directed by 

SIGM. FREUD 

Edited by 

ERNEST JONES 


This Journal is issued quarterly. 
Besides Original Papers, Ab- 
stracts and Reviews, it contains 
the Bulletin of the Internatio¬ 
nal Psycho-Analytical Associa¬ 
tion, of which it is the Official 
Organ. 

Editorial Communications should he 
sent to Dr. Ernest Jones, 81 Harley 
Street, London, W. 1. 

The Annual Subscription is 50s per 
volume of four parts. 

The Journal is obtainable by sub¬ 
scription only, the parts not being 
sold separately. 

Business correspondence should be ad- 
dressed to the publishers, Balliere, 
Tindall & Cox, 8 Henrietta Street, 
Covent Garden, London, W. C. 2., 
who can also supply back volumes. 
















Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XXI, Heft 2 


(Ausgegeben im Juli 1935) 

INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Der Kern des Ödipuskomplexes. 165 

Über den Einfluß psychischer Faktoren auf 

gastrointestinale Störungen. 189 

Über^uthanasie... 22 (^ 

Koro. Eine "iSerl^urSige Angsthysterie. 249 

Eidelb erg: Der Mechanismus der Depersonalisation.... 258 

VORLÄUFIGE MITTEILUNGEN 

Ludwig Eidelberg: Das Problem der Quantität in der Neurosenlehre.... 286 

REFERATE 

Aus der Literatur der Grenzgebiete 

St ehr: Arzt, Priesterarzt und Staatsmann (S.) 291. 

Aus der psydiiairisdi-neurologischen Literatur 

Oberholzer: Zur Differentialdiagnose psychischer Folgezustände nach Schädeltraumen mittels 
des Rorschachschen Formdeutversuchs (Weil) 292. — Psychotherapeutische Praxis (R. Sterba) 295. 

Aus der psydioanalytisdien Literatur 

Benedek: Some Factors Determining Fixation at the Deutero-Phallic Phase (Fenidiel) 296. — 
Eddison: The Love Object in Mania (Fenichel) 298. — Horney: The Overvaluation of Love 
(Fenidiel) 299. — Kaufmann: Projection, Heterosexual and Homosexual (Fenidiel) 300. — Orgel: 
Reactivation of the Oedipus-Situation (Fenidiel) 300. — Roh eim: The Evolution of Gulture 
(Fenidiel) 300. Sheehan-Dare: On Making Contact With the Child Patient (Fenidiel) 304. 

KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG 

I) Bericht über den XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern (Schluß) 306. — 

II) Bericht der Internationalen Unterrichtskommission 310. — III) Bericht der Zweigvereini¬ 
gungen 322. — IV) Änderung im Redaktionskomitee der Internationalen Zeitschrift für Psycho¬ 
analyse 329. 


C. D. Daly: 

Franz Alexander: 

Felix D 0 sch: 

P. M. '^n^\^^u(^fien-PaW^ 
Edmund Bergler u. Ludxmg 


Preis des Heftes Mark 7.50. Jahresabonnement Mark 28.— 

Jährlich 4 Hefte im Gesamfumfang von etwa 600 Seiten 

Einbanddecken zu dem abgeschlossenen XX. Band (1934), sowie zu allen 
früheren Jahrgängen: in Leinen Mark 2.50, in Halbleder Mark 5.— 


Eigemümcr und Verleger: Internationaler Psydioanalytisdier Verlag, Ges. m. b. H., Wien I, Börsegasse ti. — Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. 
Freud, Wien. — Verantwortlich ßr die Redaktion; Dr. Edward Bibring, Wien VII, Siebenstemg. 3i. — Druck: Manzsche Budidrudterei, Wien IX. 

Printcd in Austria.