‚INTERNATIONALE ZBITSCHRIFT
ÄRZTLICHE PSICHOANALYSE
= | OFFIZIELLES ORGAN
Be: En | DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
HERAUSGEGEBEN. VON
PROF. DR. SIGM. FREUD
REDIGIERT VON
DR. S. FERENCZI. un DR. OTTO. RANK
BUDAPEST 77223277 % WIEN
UNTER STÄNDIGER MITWIRKUNG VON:
Da, KARL ABRAHAM, BERLIN. — Dn. LUDWIG BINSWANGER, KREUZLINGEN. —
Da. PoUL BjERRE, StockHoLm. — DR.A. A, BRILL, New-York. — Dr, TRIGANT
BURROW, BALTIMORE. — Dr. M. D, EDER, London. — Da..J. VAN EMDEN, Haac.
Dr. M, EITINGON, BERLIN. — Dr. PAUL FEDERN, WIEn.— Dr,EDUARD HITSCHMANN,
Wien. — Dr. L. JEKELS, Wien. — Pror. ERNEST JONES, London. — D02.C,G.
: Jung, Zürıcn. — De. FRIEDR. S. KRAUss, Wien. — Dr, ALPHONSE MAEDER,
. Zürich, — DR. 3. MARCINOWSKI, SIELBECK. — Por. MORICHAU-BEAUCHANT,
Porriers. — Da. OSKAR PFISTER, Zürich. — Por. JAMES J. PUTNAM, Boston.
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Wien. -- De. J. SADGER, Wırn. — De.L.SEIF, München. — DR. A. STÄRCKE,
' Hutster-Heipe. — DR. A. STEGMANN, Da — Dk.M. WULFF, ODessa.
Ei JAHRGAN G, 1913:
HEFT 4. ‚JULI
HUGO HELLER & CIE.
LEIPZIG UND WIEN, 1. BAUERNMARKT 3
JÄHRLICH 6 HEFTE: BEI 40 BOGEN STARK M 18.- = K 210
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x ‚Di Frferhnonalo Zeitschrift für ärztliche Peyakoanalzust, die Prof. Si
Sigm.. Freud nunmehr herausgibt, stellt sich die Aufgabe, dem
ı Anfänger durch didaktische. Aufsätze eine Einführung in das Wesen und |
- die Übung ‘der Psychoanalyse zu, geben, den Vorgeschrittenen Gelegen-
ae zum Austausch ihrer Erfahrungen zu bieten und sie durch Kritiken
und Referate fortlaufend von der Entwicklung dieser Jagen Wissenschaft
zu unterrichten.
Die neue Beubrt wird -Ori gina xl: arbeiten zum ‚Abdruck ;
en von denen eine Erweiterung. unserer psychoanälytischen ‚Er-
kenntnisse zu erwarten ist, und Mitteilungen, durch welche die
bekannten Lehren erläutert und bestätigt werden sollen.
» Die Veröffentlichung umfangreicher dokumentarischer Arbeiten und
die Diskussion. der noch strittigen schwierigen Probleme der Psychoanalyse
bleibt nach wie vor dem „Jahrbuch für psychoanalytische und psycho-
pathologische Forschungen, Yediiör von C. G. Jung“, überlassen, während
die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften der von
Dr. Rank und Dr. Sachs redigierten „Imago“ vorbehalten: ist.
“
-Es erscheinen “jährlich ‘sechs Hefte der neuen Zeitschrift, jeden A
zweiten Monat abwechselnd mit „Imagof, im: Gesamtumfang- von ca.
. 36—40 Druckbogen zum Jahrespreis von M 18.——=K 21.60.
‘Auch wird ein gemeinsames Abonnement auf die beiden psycho:
rerien Zeitschriften zum BORIOMIEIER Gesamtjahrespreis yon M 30.—
—=.K 36. — eröffnet.
\ RR | .S Redaktion a Verlag. :
Für die Redaktion bestimmte Zuschriften und Sendungen an:
Dr. S. Ferenczi, Budapest, VII. Elisabethring 54.
Alle Manuskripte sind lkantnen. Arucktertig ER
Sämtliche Beiträge werden mit dem einheitlichen Satz von K 50. —
‘pro Prokkkhösin ‚honoriert,
°. Vonden, „Originalarbeiten“ und „itilungen erhalten die ie Mitarbeiter
je 50 Polrtge. gratie geliefert.
| Copyright 1913. Hueo Heller & Cie, Wien, I. Bauernm. 3. 5
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Originalarbeiten.
.
Der Gottmensch-Komplex.
Der Glaube, Gott zu sein, und die daraus folgenden
Charaktermerkmale.
Von Prof. Ernest Jones.
(Dezember 1912.)
Jeder Psychoanalytiker ist sicherlich Patienten begegnet, unter
deren unbewußten Phantasien sich auch eine sehr merkwürdige befand, in
der der Kranke sich selbst mit Gott identifizierte. Eine solche megaloma-
nische Phantasie wäre kaum verständlich, wenn wir nicht wüßten, wie
eng die Vorstellungen von Gott und Vater zusammenhängen, so eng, daß,
vom rein psychologischen Standpunkt aus, die erste einfach als ver-
größerte, idealisierte und projizierte Form der zweiten angesehen werden
kann. Die Identifizierung des eigenen Ich mit dem geliebten Objekt be-
gegnet in einem gewissen Ausmaß bei jeder Neigung und ist ein regel-
mäßiger Bestandteil des Verhaltens eines Knaben seinem Vater gegenüber;
jeder Knabe ahmt seinen Vater nach, stellt sich vor, daß er der Vater
ist, und bildet sich bis zu einem gewissen Grad nach ihm. Es ist
deshalb nur natürlich, daß ein ähnliches Verhalten sich in bezug auf
den vollkommeneren himmlischen Vater entwickelt, und in der Tat wird
das direkt eingeschärft sowohl in der religiösen Lehre, daß man danach
streben soll, dem göttlichen Vorbild so ähnlich als möglich zu werden
(d.h. es nachzuahmen), als auch in dem Glaubenssatz, daß jeder Mensch
ein Ebenbild Gottes ist und den göttlichen Geist in sich trägt. Der
Übergang von gehorsamer Nachahmung zur Identifizierung geht oft sehr
schnell vor sich und im Unbewußten kommt praktisch beides auf das
Gleiche hinaus. Die dem Gesandten in einem fremden Land oder dem
Gouverneur einer fremden Provinz anvertraute Funktion, seinen König
oder Staat zu repräsentieren, ist oft viel weiter ausgedehnt worden,
wenn es eine günstige Gelegenheit gestattete, sie gegen eine größere
Machtstellung einzutauschen; das römische Kaiserreich z. B. war dieser
Gefahr ständig ausgesetzt. In der Religion finden wir Andeutungen des-
selben Prozesses, wenn sie auch natürlich weniger deutlich sind. In
den Augen des Volkes bedeuten Gestalten wie Buddha, Mohammed,
314 Prof. Ernest Jones.
Petrus und Moses mehr als bloße Stellvertreter Gottes und wir finden,
daß auch geringere Propheten und Prediger im Namen Gottes mit einer
so überraschenden Autorität sprechen, daß der Gedanke, sie sei bloß
durch ihre Kenntnisse hervorgerufen, ausgeschlossen ist; anders ausge-
drückt: man fühlt mit Sicherheit, daß ihr bewußtes Verhalten für
gewöhnlich das Produkt einer unbewußten Phantasie ist, in der sie ihre
eigene Persönlichkeit mit derjenigen Gottes identifizieren.
Diese Phantasie ist durchaus nicht selten und begegnet vielleicht
hie und da bei allen Menschen ; natürlich ist sie bei Männern viel häufiger
als bei Frauen, wo dafür eine andere entsprechende einzutreten scheint,
nämlich, die Mutter Gottes zu sein. Doch gibt es eine Klasse von Menschen,
bei denen sie viel stärker ausgebildet ist als bei anderen und einen kon-
stanten und integrierenden Teil ihres Unbewußten ausmacht. Wenn
solche Leute verrückt werden, sind sie im stande, die Wahnidee, daß sie
wirklich Gott seien, offen auszudrücken. Beispiele dieser Art kann man
in jeder Irrenanstalt treffen. Im Zustande der Gesundheit, d. h. wenn
das Gefühl für die Realität und die normalen Hemmungen des Bewußt-
seins wirksam sind, kann sich die Phantasie erst nach dem Durch-
laufen der Zensur und daher nur in einer modifizierten, abgeschwächten
und indirekten Form zur Geltung bringen. Mit diesen äußeren Betäti-
gungen haben wir es hier zu tun und es ist das Ziel dieses Aufsatzes
zu zeigen, wie man von ihnen auf die Existenz eines — wenn man so
sagen darf — „Gottmensch-Komplexes“ schließen kann.
Dieser unbewußte Komplex hinterläßt, wie jeder andere wichtige,
deutliche Spuren seines Einflusses auf das bewußte Verhalten und die
bewußten Reaktionen ; die Analyse einer Anzahl von Individuen, bei
denen er scharf ausgeprägt ist, zeigt, daß die durch ihn hervorgerufenen Cha-
raktermerkmale ein ziemlich typisches und für diagnostische Zwecke hin-
reichend deutliches Bild konstituieren. Es ist verständlich, daß sie den
charakteristischen Merkmalen!) des Vaterkomplexes im allgemeinen ähneln,
da sie nur eine vergrößerte Form dieser sind. Tatsächlich bilden sie einen
Teil dieser ausgebreiteteren Gruppe, aber einen, der genügend selbständig
ist, so daß er es verdient, einzeln herausgehoben und von dem Rest der
Gruppe geschieden zu werden.
Die induktiven Verallgemeinerungen, zu denen ich auf Grund meiner
Beobachtungen gelangt bin, stimmen nicht ganz mit denen überein, die
1) Als Georg Meredith in „Der Egoist*“ seinen Helden mit einigen besonders
menschlichen Eigenschaften ausstattete, tadelten ihn seine Freunde, jeder für sich,
daß er ihre verborgenen Schwächen der Welt offen gezeigt habe; jeder sah nämlich
in des Dichters Beschreibung einen Spiegel seines eigenen Herzens. Die Charakter-
züge, auf die ich in diesem Aufsatz aufmerksam machen will, sind so weit verbreitet,
daß ich in Gefahr bin, mich einem ähnlichen Vorwurf auszusetzen, wie jeder Autor,
der sich bemüht, zu unserem Vorrat psychoanalytischer Kenntnisse etwas bei-
zutragen.
Der Gottmensch-Komplex. 315
man aus einer deduktiven Erwägung der Attribute, die Gott für gewöhnlich
zugeschrieben werden, erwarten könnte. Ein Hauptunterschied z.B. ist
folgender : Die Eigenschaft Gottes als Schöpfer ist für den gewöhnlichen
Geist wohl die eindrucksvollste, was sich in der Übereinstimmung zeigt,
mit der die Existenz Gottes durch die Frage: „Wer sonst könnte die
Welt geschaffen haben?“, oder durch abstrakte Erwägungen über die Not-
wendigkeit einer „ersten Ursache“ als gesichert hingestellt wird; unter
den dem Gottmensch-Komplex angehörigen Phantasien ist diese Eigenschaft
aber keineswegs die am meisten hervortretende oder typische, sondern am
auffälligsten und charakteristischesten sind wohl jene Phantasien, die
sich auf wirksame Macht im weitesten Sinne (Omnipotenz) beziehen,
und die meisten zu Tage tretenden Äußerungen des Komplexes können
mit den dahin gehörigen Ausdrücken bezeichnet werden, Nach meiner
Erfahrung ist die Hauptgrundlage des Komplexes in einem kolossalen
Narzißmus zu suchen und diesen halte ich für den wichtigsten Zug
der betreffenden Individuen. Alle Charakterzüge, die sogleich beschrieben
werden sollen, können entweder direkt vom Narzißmus abgeleitet wer-
den oder stehen in engster Verbindung mit ihm.
Übermäßiger Narzißmus führt unvermeidlich zu einer übertriebenen
Bewunderung für die eigenen Kräfte und Vorzüge, und zwar sowohl physische
als geistige, sowie zum Vertrauen in die eigene Weisheit. Zweipsychosexuelle
Triebe sind mit ihm besonders nahe verbunden, Autoerotik und Exhibi-
tionismus; es sind zwei der primitivsten und wir werden sehen, daß sie
eine höchst wichtige Rolle in der Bildung der Charakterzüge spielen.
Mit dem letzteren der beiden, dem Exhibitionismus, ist immer sein Gegen-
stück, der Schau- und Wissenstrieb, verbunden und auch dieser bringt
einige der Endresultate hervor. Aus der engen, gegenseitigen Verbin-
dung der vier Triebe, Narzißmus, Autoerotik, Exhibitionismus und Schau-
trieb erklärt es sich, daß eine scharfe Scheidung der resultierenden Cha-
rakterzüge nach ihrem Ursprung ganz unmöglich ist; viele derselben
können nämlich unter jeden beliebigen der vier eingereiht werden und
es ist daher wohl richtiger, sie als Ganzes und nicht gesondert zu be-
schreiben.
Eine andere allgemeine Bemerkung möchte ich noch machen, bevor
ich auf die Einzelheiten eingehe; ich will nämlich die Aufmerksamkeit
auf die charakteristische negative Art lenken, in der sich diese Triebe
in dem zu besprechenden Charakterbild äußern; übertriebene Bescheiden-
heit z. B. trifit man öfter als stark ausgeprägte Eitelkeit. Der Grund
ist, daß die ungewöhnliche Stärke der primitiven Triebe auch eine
Reihe ungewöhnlich starker Reaktionsformen hervorgerufen hat und
diese, da sie mehr an der Öberfläche des geistigen Lebens liegen
und besser im Einklang mit den sozialen Gefühlen stehen, sich meist
!) Siehe Stekel, Z. f. Psa. usw.
316 Prof. Ernest Jones.
direkt äußern. Tatsächlich kann man oft auf die Stärke der zu Grunde
liegenden Triebe nur aus der Intensität der durch sie hervorgerufenen
Reaktionsbildungen schließen.
Wir wollen die Reihe mit der Erwähnung einiger Äußerungen von
narzißtischem Exhibitionismus beginnen, d. h. dem Wunsch, die eigene
Person oder einen Teil davon zur Schau zu stellen, verbunden mit dem
Glauben an ihre unwiderstehliche Macht. Diese Macht, dieselbe, die dem
Tabukönig!) oder den Sonnen- und Löwensymbolen der Mythologie zu-
geschrieben wird, gilt für Gutes und Böses, für Schöpfung und Zer-
störung, ist also typisch ambivalent. In den zu beobachtenden Beispielen
dominiert das Element des Bösen, ein weiterer interessanter Unterschied
zwischen dieser Phantasie und der (modernen) Auffassung von Gott.
Die ersten Manifestationen sind, wie überhaupt die des ganzen Kom-
plexes, besonders typische Reaktionsbildungen. So ist auffallende Selbst-
zufriedenheit oder Eitelkeit nicht so häufig oder so charakteristisch als
eine übertriebene Bescheidenheit, die oft so scharf ausgeprägt ist, daß
sie an Selbstverleugnung grenzt. Der Betreffende äußert seine
festesten Überzeugungen in der vorsichtigsten Weise, er vermeidet das
Wort „ich“ im Reden und Schreiben und lehnt es ab, eine hervorragende
oder aktive Rolle im Leben zu spielen. Schon diese Übertreibung zeigt,
daß es sich um eine angenommene Eigenschaft handelt, nicht um einen
primären Charakterzug, sondern um eine Reaktion auf einen solchen,
und das wird ganz klar, wenn wir die extremen Formen beobachten.
Diese stellen das dar, was ich für das Charakteristischeste halte, nämlich
einen Trieb sich abzusondern. Ein solcher Mensch ist nicht dasselbe
wie andere Sterbliche; er ist etwas Besonderes und eine bestimmte
Distanz muß zwischen ihm und den anderen gewahrt werden. Er macht
sich so unzugänglich als möglich und hüllt seine Person in einen
Schleier des Geheimnisses. Zunächst will er nicht in der Nähe
anderer Leute leben, wenn es sich vermeiden läßt. Ein solcher Mann erzählte
mir voll Stolz, er lebe in dem letzten Haus seiner Stadt (einer Groß-
stadt), und er finde auch das zu nahe dem Haufen, so daß er beabsich-
tige, weiter wegzuziehen. Derartige Leute ziehen es natürlich vor,
auf dem Lande zu wohnen, und wenn ihre Tätigkeit dies nicht zuläßt,
bemühen sie sich, ein Heim außerhalb der Stadt zu besitzen, wohin sie
sich am Ende jedes Tages oder jeder Woche zurückziehen können. Sie
werden täglich zu ihrer Arbeit kommen und ihren Freunden gegenüber
niemals ihre Wohnungsadresse erwähnen, sondern für alle notwendigen
gesellschaftlichen Zwecke Klubs und Restaurants benützen. Sehr selten
laden sie Freunde in ihr Heim, wo sie in einsamer Größe herrschen.
Sie legen überhaupt den größten Nachdruck auf das Privatleben, was
einerseits der direkte Ausdruck des Autoerotismus (Masturbation), ander-
!) Siehe Freud, Imago, Jahrg. 1, S. 306—315.
Der Gottmensch-Komplex. 317
seits eine Reaktion des verdrängten Exhibitionismus ist. Es gibt also
zwei Elemente bei diesem Trieb: Den Wunsch, nicht gesehen zu werden,
und den Wunsch, entfernt und unzugänglich zu sein; bald ist der eine,
bald der andere stärker betont. Beide sind hübsch illustriert in der
folgenden Phantasie, die mir ein Patient anvertraute: Sein Lieblings-
wunsch war es, ein Schloß in einem fernen Gebirge, ganz am Ende des
Landes (nahe dem Meer) zu besitzen; wenn er dorthin zog, wollte er in
seinem Automobil ein schreckliches Horn blasen, dessen Schall längs der
Berge wiederhallen sollte (Donner von Jehova und Zeus, väterlicher
Flatus), und wenn die Diener und Lehnsleute es hören würden, dann
sollten sie in ihren unterirdischen Zimmern verschwinden und alles im
Schloß für ihn bereit halten; unter gar keinen Umständen dürften sie
ihn sehen. Solche Leute bereiten im täglichen Leben, sogar im geschäft-
lichen, dem Gesehenwerden alle erdenklichen Schwierigkeiten; Ver-
abredungen müssen lange vorher getroffen, Sekretäre interviewt werden,
und wenn die Zeit kommt, verspäten sie sich entweder oder sie sind
„zu beschäftigt“, überhaupt zu kommen. Wie hervorstechend dieser Zug
der Unzugänelichkeit. bei Adeligen, Königen und Päpsten (!) und sogar
bedeutenden Kaufleuten !) ist, weiß man. Ein Nebenprodukt des Wun-
sches nach Distanz, der übrigens auch andere Wurzeln hat, ist ein sonder-
bares Interesse für die Art der Fortbewegung und für die Mittel, die
sie befähigen, Entfernungen zu nichte zu machen; sie reisen immer erster
Klasse oder per Automobil, wodurch sie sich von der Plebs fernhalten,
bestehen darauf, das beste Telephonsystem zu haben (was ihnen die
Möglichkeit eines Verkehrs, ohne gesehen zu werden, bietet) usw. Dieser
Zug steht in überraschendem Kontrast zu der Tatsache, daß solche
Leute nie freiwillig weite Strecken reisen, am wenigsten außerhalb
ihres eigenen Landes. Sie fühlen sich immer am wohlsten zu Hause,
lieben es nicht, unter Leute zu gehen, sondern bestehen darauf, diese
irgendwohin zu sich kommen zu lassen,
Den Sinn dieses Wunsches nach Unzugänglichkeit erkennen wir
sofort, wenn wir seine äußersten Übertreibungen ins Auge fassen, wie
man sie bei Irrsinnigen antrifft. Der verstorbene paranoische König
Ludwig von Bayern scheint einen typischen Fall dafür geboten zu haben.
Es heißt, daß er damit begann, Ludwig XIV. zu imitieren (Namens-
determination!), und dahin gelangte, sich förmlich mit dem Roi Soleil zu
identifizieren. Es wird ferner berichtet, daß er in diesem Stadium nicht
mit den Leuten sprechen wollte, wenn keine trennende Schranke zwi-
!) H. S. Wells gibt in seiner Novelle „Tono-Bungay“ eine amüsante Beschrei-
bung der Schwierigkeiten, die es kostet, eine Unterredung mit einem erfolgreichen
Finanzmann zu erlangen. Die Bittsteller werden in allmählicher Auswahl von einem
Sekretär nach dem anderen in ein Zimmer nach dem anderen geführt und nur sehr
wenige sind glücklich genug, bis in das Allerheiligste zu dringen und Auge in Auge
vor dem großen Mann selbst zu stehen.
318 Prof. Ernest Jones,
schen ihm und ihnen war, und daß die Wache, wenn er ausging, das
Volk vor seiner Annäherung warnen und es veranlassen mußte, sich vor
seiner strahlenden Gegenwart zu verbergen. Dieses Gehaben kann nur
den Glauben anzeigen, daß die von seiner Herrlichkeit ausgehenden
Strahlen mit der Kraft der Zerstörung beladen seien, und die Ängstlich-
keit des Königs verbarg möglicherweise verdrängte Todeswünsche, Wir
haben hier eine Erneuerung der alten ägyptischen, griechischen und per-
sischen Projektion des Vaters als eines Sonnengottes, die auch im frühen
Christentum eine wichtige Rolle spielte. Ihre Bedeutung in der Para-
noia, ebenso wie die der interessanten und nicht seltenen „aiglon“ Phan-
tasie wurde von Freud in seiner Schreber-Analyse !) dargelegt. Im Wahn-
sinn kann der Kranke seinen Vater und sich selbst mit der Sonne iden-
tifizieren, wie in dem eben erwähnten Beispiel, oder auch bloß den
ersteren, wie einer meiner Patienten tat, der den größeren Teil von zehn
Jahren damit zubrachte, herausfordernd in die Sonne zu starren. Bei
normaleren Menschen bleiben solche Phantasien im Unbewußten und nur
eine verfeinerte Form davon kann zum Bewußtsein dringen, wie z.B.
eben der Wunsch nach Abgeschlossenheit. Dieser Wunsch also scheint
auf indirektem Weg hauptsächlich einen sehr starken narzißtisch-exhibi-
tionistischen Trieb auszudrücken, gegründet auf den Glauben des betref-
fenden Individuums, daß seine Nähe für andere Menschen mit furcht-
barer Macht beladen sei und daß die Herrlichkeit seiner Anwesenheit
verwirren, ja selbst erblinden machen könne; als Schutzmittel gegen so
schreckliche Konsequenzen zieht er sich, wo immer es möglich ist, in eine
gewisse Entfernung zurück. Ein verdrängter Wunsch, der ebenfalls zur
Determinierung dieses Verhaltens beiträgt, wird aufgedeckt, wenn man
die Angst, andere zu blenden, untersucht. Diese symbolisiert natürlich
die Angst, d. h, den verdrängten Wunsch, zu kastrieren, und wir werden
später sehen, daß sowohl dieser Wunsch, als auch die ihn begleitende
Angst, kastriert zu werden, hervorragende Charakteristika der zu be-
trachtenden Komplexgruppe sind.
Der zweite, oben in Verbindung mit der Unzugänglichkeit erwähnte
Zug, das Geheimnisvolle, kann als geistiges Korrelat zu ersterem
aufgefaßt werden. So entfaltet sich der ganze Trieb zur Absonderung
auf der physischen Seite in dem Wunsch, unzugänglich, auf der geistigen
in dem Wunsch, geheimnisvoll zu sein. Die betreffende Person strebt
danach, sich in eine undurchdringliche Wolke von Geheimnissen und Ver-
schwiegenheit zu hüllen. Selbst die trivialsten, ihn selbst betreffenden
Auskünfte, die bei sich zu behalten ein gewöhnlicher Mensch nicht für
nötig hielte, umgibt er mit einem Schimmer hoher Bedeutung und teilt
sie nur unter einem gewissen Zwang mit. Ein solcher Mensch ist sehr
schwer dazu zu bringen, sein Alter wissen zu lassen oder seinen Namen
!) Freud, Nachtrag, Jahrb. Bd. III, 2. Hälfte.
Der Gottmensch-Komplex. 319
und Beruf einem Fremden zu verraten, geschweige denn, von seinen
Privatangelegenheiten zu sprechen. Ich weiß von einem Mann, der acht
Jahre in einer Stadt im westlichen Amerika lebte, ohne daß einer seiner
Freunde erfahren konnte, ob er verheiratet war. Jeder, der die Öffent-
lichkeit des amerikanischen Privatlebens einigermaßen kennt, wird sich
einen Begriff davon machen, was das für eine Leistung ist.
Einige kleine Charakteristika, in der Art zu schreiben, sind Ab-
kömmlinge desselben Triebes. Ein Mann dieser Art schreibt unwillkürlich
besonders ungern Briefe.) Er will solche Ausdrucksformen seiner Per-
sönlichkeit nicht preisgeben und findet auch in der Nichtbeantwortung
fremder Briefe einen passenden Weg, seine Ansicht über ihre Bedeutungs-
losigkeit zu bekunden.?) Trotz eines stark ausgeprägten Sinnes für kor-
rekte Sprache, wovon später die Rede sein soll, drückt er seine Ge-
danken selten klar und direkt aus, Sehr charakteristisch ist eine in die
Länge gezogene Diktion voller Verwicklung und Umschweife, die zu Zeiten
so schwülstig und dunkel wird, daß der Leser unmöglich erraten kann,
was gemeint ist. Je wichtiger das Thema ist (für den Schreiber), desto
schwerer fällt es ihm, sich von seinem kostbaren Geheimnis zu trennen.
Der wichtigste Teil wird oft überhaupt nicht geschrieben, sondern an Stelle
dessen werden fortwährende Andeutungen darauf gemacht, mit dem wieder-
holten Versprechen, ihn bei einer künftigen Gelegenheit zu enthüllen,
In auffallendem Gegensatz dazu steht die Tatsache, daß die Hand-
schrift gewöhnlich klar und leserlich ist ; bei einigen dieser Leute ist sie
ım Gegensatz dazu vollkommen unleserlich, aber in beiden Fällen ist die
betreffende Person übertrieben stolz, sei es auf die Deutlichkeit, sei es
auf die Unleserlichkeit. Jedenfalls besteht er darauf, daß sie etwas ihm
Eigentümliches, Besonderes und in ihrer Art einzig Dastehendes ist. (Im
allgemeinen verletzt nichts einen solchen Menschen mehr als die Zu-
mutung, daß er einem anderen gleiche, sei es in der Schrift, der
äußeren Erscheinung, dem Charakter oder Benehmen.) Der Schleier
von Geheimnis und Dunkelheit, den er über sich wirft, ist natürlich
so weit ausgedehnt, alles, was ihm angehört, zu bedecken. So er-
wähnt er niemals von selbst seine Familie und spricht nur wider-
strebend von ihr, wenn jemand sich danach erkundigt; dasselbe ist der
Fall mit allen Angelegenheiten, mit denen er sich etwa befaßt. Dab
all diese Verschwiegenheit nicht allein narzißtische Schätzung der eigenen
Person, sondern auch Autoerotismus®) überhaupt und besonders Mastur-
1) Ich brauche kaum zu sagen, daß es außer der hier erwähnten noch zahl-
reiche andere Gründe für diese Hemmung gibt.
?2) Napoleon erklärte dieses verächtliche Verhalten sehr witzig. Es heißt, daß
er es sich besonders in Zeiten großer Inanspruchnahme zur Regel machte, keinen
Brief zu beantworten, bevor er drei Monate alt war. Als man ihn einst des-
halb tadelte, meinte er, daß er sich viel Arbeit erspare, denn die meisten Briefe be-
antworten sich innerhalb dieser Zeit von selbst.
®) Sein Hervortreten in unserer Komplexgruppe erklärt die Häufigkeit, mit der
der zu beobachtende Typus zwei Charakterzüge aufweist: Interesse für philosophische
320 « "Prof. Ernest Jones.
bation verrät, ist zu wohl bekannt, um hier besonderen Nachdrucks
zu bedürfen. Die ursprüngliche narzißtische Tendenz kommt in folgen
dem merkwürdigen Zug an die Oberfläche: Wenn die Schweigsamkeit
beseitigt ist, wie z. B. während der Psychoanalyse oder bei einem ver-
traulichen Gespräch mit einem intimen Freund, hat der Betreffende die
größte Freude daran, über sich selbst mit größter Umständlichkeit zu
sprechen, und wird niemals müde, seine geistigen Eigenheiten zu er-
örtern und zu zergliedern. Er ist immer geeignet zum erfolgreichen
Vorleser und Tischredner, was mit seinen sonstigen Reaktionen gegen
den Exhibitionismus kontrastiert,
Der Trieb zur Absonderung äußert sich auf der rein geistigen Seite auch
ganz direkt. Solche Leute sind ungesellig und unsozial im weiteren Sinn. Sie
fügen sich nur schwer einer Tätigkeit in Gemeinschaft mit anderen, sei sie
politischer, wissenschaftlicher oder geschäftlicher Natur. Sie geben, vom ge-
wöhnlichen Standpunkt aus betrachtet, schlechte Bürger ab.!) Welches In-
teresse auch immer sie an öffentlichen Angelegenheiten nehmen mögen, sie
beteiligen sich nicht daran, ja sie stimmen nicht einmal ab, da eine so
plebejische Funktion unter ihrer Würde ist. Jeder Einfluß, den sie etwa
ausüben, wird daher indirekt bewirkt, indem sie aktivere Bewunderer
anspornen. Ihr Ideal ist es, „der Mann hinter dem Thron“ zu sein, die
Dinge von oben zu lenken, unsichtbar gegenüber der Menge, Einer all-
gemeinen Bewegung zu folgen, daran teilzunehmen, ja sogar sie zu
leiten, sei sie sozial oder wissenschaftlich, hat etwas Abstoßendes für sie
und sie machen alle Anstrengungen, um einen Zustand von großartiger
Isoliertheit aufrecht zu erhalten. Darin können sie wie Nietzsche wahre
Größe erreichen, aber häufiger bringen sie es nur zu grobem Egoismus.
Wie zu erwarten, muß ein so starker exhibitionistischer Trieb, wie
der durch die eben erwähnten Züge angedeutete, ein Gegenstück in
- einem ausgebildeten Komplementärtrieb, nämlich der Schaulust, haben,
wenn es dafür auch nicht so viele charakteristische Äußerungen in dem
Gesamtbild gibt. Sie unterscheiden sich von den früheren dadurch, daß
sie durchsichtiger und von direktem Ursprung, keine Reaktionsbildungen
sind. Es findet sich für gewöhnlich eine durchaus weibische Neugier
für Unbedeutendes, Persönliches, Tratschsucht usw., wenn auch im all-
gemeinen verborgen und nur gelegentlich verraten. ÜÖfter begegnet eine
höhere Form der Sublimierung, die typischerweise die Gestalt des Inter-
esses fürPsychologie annimmt. Wenn der Betreffende von Natur aus
die Gabe besitzt, intuitiv die Seelen der anderen zu erkennen, also ein
Diskussionen über die Natur der Wahrheit (Pragmatismus usw.) und daneben
einen niedrigen, persönlichen Ehrenstandpunkt in Angelegerheiten von Rechtlichkeit
und Wahrhaftigkeit.
!) Sehr charakteristisch ist der Mangel an Bürgertugenden im praktischen
Sinn, verbunden mit einem lebhaften, theoretischen Interesse für soziale Reform, das
später erwähnt werden soll.
Der Gottmensch-Komplex. 321
Menschenkenner ist, wird er davon in seinem Berufe Gebrauch machen,
welcher immer es ist; ist er dafür nicht begabt, so neigt er dazu,
berufsmäßiger Psychologe oder Psychiater zu werden, oder wenigstens
ein bedeutendes, abstraktes Interesse an dem Gegenstand zu nehmen.
Dieser Wunsch, einen natürlichen Mangel zu kompensieren, gibt uns
zweifellos eine der Erklärungen für die offenkundige Tatsache, daß Psycho-
logen von Beruf so oft eine verblüffende Unkenntnis des menschlichen
Geistes zeigen. Es erklärt ferner ihr konstantes Bemühen, ihrer Unfähig-
keit durch Erfindung „objektiver* Methoden zum Studium des Geistes
abzuhelfen, die sie unabhängig von der Intuition machen sollen und ihr
Widerstreben gegen solche Methoden wie die Psychoanalyse, die gerade
die Intuition mit Bedacht kultivieren; die Flut von Kurven und Stati-
stiken, die die Wissenschaft der Psychologie zu ersticken droht, legt
Zeugnis ab von der Notlage dieser Männer. Um zu unserem typischen
Menschen zurückzukehren: er interessiert sich besonders lebhaft für alle
Methoden, die eine Wegabkürzung zur Kenntnis vom menschlichen Geist
versprechen, und wird gerne solche Methoden anwenden wie die Binet-
Simonsche Skala, das psychogalvanische Phänomen, Wortassoziations-
Reaktionen oder Graphologie, in mechanischer und buchstäblicher Art
und immer in der Hoffnung, eine zu finden, die automatische Resultate
ergibt. Je ungewöhnlicher die Methode, desto mehr zieht sie ihn an,
da sie ihm das Gefühl gibt, einen Schlüssel zu besitzen, der nur dem
Auserwählten zugänglich ist. Aus diesem Grunde ist er im stande,
großes Interesse für die verschiedenen Formen des Gedankenlesens zu
zeigen, für Cheiromantie, Weissagung, ja sogar Astrologie und ebenso für
Okkultismus und Mystizismus in allen ihren Zweigen. Dieser Gegenstand
hängt einerseits mit Religion zusammen, anderseits mit den verschiedenen
Äußerungen von Allwissenheit; beides wird sogleich erörtert werden.
Einige weniger direkte Produkte von narzißtischem Exhibitionismus
mögen unter dem Titel Allmachtsphantasien eingereiht werden. Diese
können sich über alle Gebiete ausdehnen, wo Macht gezeigt werden kann,
so daß es unmöglich ist, sie im Detail zu erörtern; vorwiegend werden
sie sich an Ungewöhnliches halten und daher Kräfte fordern, die nur
wenige besitzen. Vielleicht am häufigsten ist die an Geld anknüpfende,
da ja dieses in Wirklichkeit und Phantasie eng mit der Vorstellung
von Macht zusammenhängt. Der betreffende Mensch stellt sich dann
selbst als Multimillionär vor und schwelgt in dem Gedanken, was er
mit all der Macht tun wollte, die dann zu seiner Verfügung stünde.
Diese Phantasie ist meist mit einer angenommenen Verachtung für Geld
im realen Leben verknüpft und bisweilen mit wirklicher Generosität
und Freizügigkeit im Gebrauch desselben. Die Summe, die er wirklich
besitzt, ist eben so unendlich klein im Verhältnis zu der, über die er in
seinen Phantasien verfügt, daß es nicht der Mühe wert ist, sie zu hüten,
Zeitschr, f. ärztl, Psychoanalyse. 21
322 Prof. Ernest Jones.
Die charakteristischeste Untergruppe in diesem Zusammenhang ist
aber die auf Allwissenheit bezügliche. Diese kann man einfach als
eine Form der Allmacht ansehen, denn wer alles bewirken kann, der weiß
auch alles. Der Übergang von einem zum anderen zeigt sich deutlich bei
der Weissagung; vorher zu wissen, wenn etwas geschehen wird, ist an
sich schon eine. Art Gewalt, nur eine abgeschwächte Form dafür, die
Sache tatsächlich hervorzurufen, und der Übergang zwischen einem Pro-
pheten und einer Gottheit ist historisch oft ganz unmerklich (Ma-
hommet!).
Einer der unheilvollsten Charakterzüge des zu betrachtenden Typus
ist die ablehnende Stellung gegenüber der Annahme einer
neuen Erkenntnis. Das folgt ganz logisch aus der Vorstellung der
Allwissenheit, denn jemand, der schon alles weiß, kann natürlich nichts
Neues lernen; noch weniger kann er zugeben, daß er jemals in seiner
Erkenntnis irrtte. Wir berühren hier eine allgemein menschliche Eigen-
schaft, in der die psychoanalytische Bewegung schon reiche praktische
Erfahrung hatte, aber in dem vorliegenden Charakter ist sie so aus-
geprägt, daß wir nicht daran vorübergehen können, ohne ihr einige
Worte zu widmen. Zunächst sprechen Leute dieser Art sogar mehr als
andere von ihrer Fähigkeit, sich neue Ideen anzueignen und sind bis-
weilen verschwenderisch in ihrer abstrakten Bewunderung für das Neue.
Aber wenn sie die Probe bestehen sollen und einer neuen Idee gegen-
übergestellt werden, die nicht von ihnen ausgeht, so zeigen sie einen
unnachgiebigen Widerstand dagegen. Dieser verläuft in dem gewöhn-
lichen, wohlbekannten Geleise und ist nur noch von gesteigerter In-
tensität. Die interessantesten Äußerungen aber sind die Arten der An-
nahme, wenn diese vorkommt. Es gibt zwei typische Formen dafür. Die
eine besteht darin, die neue Idee zu modifizieren, sie in ihren eigenen
Ausdrücken neu zu stilisieren und sie dann ganz als ihr Eigen auszugeben.
Sie meinen natürlich, der Unterschied zwischen ihrer Beschreibung
und der von den Entdeckern der neuen Idee gegebenen sei von funda-
mentaler Wichtigkeit. Wenn die Modifikationen wirklich bedeutsam sind,
so bilden sie stets eine Abschwächung der ursprünglichen Idee und in
diesem Falle ist ihr Urheber gewöhnlich ein Anhänger des neuen Resultats.
Bisweilen wird der Widerstand gegen die neue Idee durch Modifikationen
angezeigt, die in einem einfachen Wechsel der Nomenklatur, ja sogar
der Orthographie bestehen, und dann zeigen spätere Reaktionen der
betreffenden Person, daß sie die neue Idee niemals ernstlich angenommen
hat, so daß ihr alter Widerwille dagegen früher oder später wieder klar
zu Tage treten wird. Die zweite, mit der ersten nahe verwandte und oft
damit verbundene Art, besteht darin, die neue Idee zu entwerten, indem
man sie so beschreibt, daß man allen Nachdruck auf die Verbindungs-
glieder zwischen ihr und älteren legt, auf diese Weise alles wesentlich
Der Gottmensch-Komplex. 323
Neue daran in den Hintergrund schiebt und dann behauptet, daß man
immer damit vertraut gewesen sei.)
Von besonderer Wichtigkeit ist das Verhalten des Individuums
gegenüber der Zeit, Die Vorstellung von der Zeit und ihrem Ver-
gehen hängt so innig mit Angelegenheiten von fundamentaler Wichtigkeit
zusammen, wie z. B. Alter, Tod, Macht, ehrgeizige Wünsche, Hoffnungen,
kurz mit der Quintessenz des Lebens selbst, daß sie natürlich von größter
Wichtiskeit für jeden ist, der Anspruch auf Allmacht und Allwissenheit
erhebt. Wie alle unbedeutenderen Dinge muß sie daher unter seiner Ge-
walt stehen und dieser Glaube offenbart sich in einer Menge kleiner
Züge und Reaktionen. Seine eigene Zeit ist natürlich die richtige und
daher geht seine Uhr immer richtig und jeder Verdacht des Gegenteils
wird nicht nur zurückgewiesen, sondern auch verübelt; dieser Glaube
wird oft auch gegenüber den deutlichsten Gegenzeugnissen aufrecht
erhalten. Auch ist die eigene Zeit überaus wertvoll im Vergleich zu der
der anderen, so daß der Betreffende ganz konsequenter Weise gewöhnlich
bei einer Verabredung unpünktlich ist, aber sehr ungeduldig wird, wenn
andere ihn warten lassen; da Zeit überhaupt zu seiner Domäne gehört,
so hat er darüber zu verfügen, nicht andere. Eine Ausnahme bilden jene
Mitglieder unserer Gruppe, die die Definition der Pünktlichkeit als „la
politesse des rois* annehmen und ein Vergnügen darin finden, ihre voll-
kommene Macht über die Zeit durch genaue Pünktlichkeit zu zeigen.
(Man denke an Kants täglichen 4 Uhr-Spaziergang.)
Das Verhalten gegen vergangene Zeit betrifft vor allem ihr
eigenes Gedächtnis. Dieses halten sie, ebenso wie ihre Uhr für unfehlbar
und werden energisch seine Verläßlichkeit bis zum äußersten verteidigen ; zur
Stütze dafür befleißigen sie sich mit Eifer großer Genauigkeit in Zitaten,
Daten und ähnlichen Dingen, die leicht zu kontrollieren sind. Bis-
weilen sind sie stolz auf ihr gutes Gedächtnis, aber typischer für sie ist
es, dasselbe für etwas auf der Hand Liegendes zu halten und sich zu
ärgern, wenn man einen ihrer Erfolge darauf zurückführt.
Die Fähigkeit der Weissagung zeigt die Macht über die zu-
künftige Zeit und das nimmt einen großen Teil ihres Interesses ein.
Spekulationen anzustellen über die Zukunft eines Bekannten, eines Unter-
nehmens, einer Nation, ja der ganzen Menschheit, ist eine Angelegenheit
von persönlicher Bedeutung für sie und sie geben. allen möglichen Vor-
hersagungen freien Ausdruck, und zwar meist unheilverkündenden. Einer
‘) Ein sehr hübsches Beispiel dafür ereignete sich jüngst. Ich hatte einen Auf-
satz über Freuds Neurosentheorie geschrieben und dabei natürlich die Wichtigkeit
infantiler Konflikte, verdrängter sexueller Perversionstriebe usw. behandelt. Ein sehr
verzerrtes Referat darüber erschien in einer französischen Zeitschrift und schloß mit
der Versicherung, daß „seit Janets Werken alle diese Ideen in Frankreich geläufig
waren,“
21*
324 Prof. Ernest Jones.
der charakteristischsten Züge dieser Reihe ist der feste Glaube des Indi-
viduums an seine Fähigkeit, das Wetter vorherzusagen, besonders
Regen oder Donner. Die Launen der Witterung haben immer eine große
Rolle in der Phantasie des Menschen gespielt, nicht nur wegen ihrer
offenkundigen Wichtigkeit für seine Wohlfahrt, sondern auch weil die
außerordentlich® Veränderlichkeit direkt auf die Tätigkeit höherer Wesen,
seien es gute oder böse, zu deuten schien. Christliche Kongregationen, die
es für unvernünftig halten würden, zu erwarten, daß die Gottheit auf ihr
Gebet hin die Landschaft verbessere oder auch nur die Temperatur ändere,
beten noch ernstlich um einen Wechsel der Witterung. Unter den auf
Hexen bezüglichen Aberglauben währte fast am längsten der, der ihnen
die Schuld am unfreundlichen Wetter beimaß. Das Wetter ist der-
jenige Teil der Natur, der am offenkundigsten der Vorausbestimmung
und der Macht der menschlichen Wissenschaft trotzt und in dieser Hin-
sicht mit dem menschlichen Geist selbst konkurriert. Wir können sagen,
daß die Hauptzeugnisse für Spontaneität und Freiheit, die im Universum
zu finden sind, in diesen beiden Sphären (Witterung und Seele) begegnen,
so daß es kein Wunder ist, wenn sie beide gleichmäßig als deutliche
Ausnahmen von den natürlichen Gesetzen der Determinierung und
Ordnung und als Offenbarungen einer äußeren Kraft angesehen wurden.
Überdies ist es leicht zu zeigen, daß die verschiedenen Elemente immer
eine große symbolische Bedeutung besaßen und daß man besonders in
Regen, Wind und Donner großartige, sexuell-exkrementale Darstellungen
sah. Gewitter ist in diesem Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit,
weil es alle drei in sich enthält. In Anbetracht dieser Erwägungen ist
es nicht erstaunlich, daß unser Typus am Wetter das größte Interesse
nimmt und sich eine besondere Stärke in der Voraussagung desselben
anmaßt. Für die Praxis ist es sozusagen ein absolutes Kennzeichen des
Gottmensch-Komplexes, wenn jemand behauptet, daß er unbedingt ein
Gewitter vorhersagen kann, sich dabei auf Zeichen und Methoden stützt,
die einem anderen nicht erklärt werden können, und alle jene, die sich
von anderen Methoden leiten lassen, als „falsche Propheten“ ansieht.
Derartige Leute interessieren sich auch lebhaft für die Sprache,
ein Gegenstand, der zu dem eben erwähnten in symbolischer Beziehung
steht. Sie geben sich für Autoritäten im literarischen Stil aus und sind
es oft auch, und sie erheben den Anspruch auf „Meisterschaft“ in ihrer
Muttersprache. Der Stil, den sie annehmen, ist gewöhnlich gut, genau,
dabei nicht pedantisch, neigt aber dazu, verwickelt, ja sogar dunkel zu
sein; Klarheit gehört nicht zu seinen Vorzügen und sie finden es schwierig,
deutlich auszudrücken, was sie zu sagen haben, Mit einer vollkommenen
Kenntnis der eigenen Sprache vereinigt sich eine Abneigung gegen fremde,
die zu lernen sie auch häufig ablehnen; ihre eigene ist die Sprache,
die einzige, die Beachtung verdient. Sie haben Freude am Sprechen,
Der Gottmensch-Komplex. 325
besonders in Monologen und zeichnen sich gewöhnlich im Vorlesen,
Redenhalten und Konversation aus.
Zwei Charakterzüge, die in noch direkterer Beziehung zum Nar-
zißmus stehen, zeigen sich in ihrem Verhalten gegen Ratschlag und
Urteilsprechung. Sie geben nur ungern einen Rat, da die Verantwortung
zu groß ist. Jeder Rat, den sie etwa geben würden, wäre so kostbar
und bedeutsam, daß ein Nichtbefolgen sicher unheilvoll sein müßte.
Lieber als daß sie ihre Freunde dieser Gefahr aussetzen, halten sie ihren Rat
zurück, wieder ein Beispiel von scheinbarem Altruismus. Es versteht
sich von selbst, daß jeder ihnen von anderen dargebotene Rat als wert-
los mit Verachtung zurückgewiesen wird.
Auch ihr Verhalten gegenüber Verurteilungen ist charakte-
ristisch. Es ist ein doppeltes, da äußerste Toleranz mit äußerster Intoleranz
wechselt. Welches von beiden zu Tage tritt, scheint davon abzuhängen,
ob die zu verurteilende Übertretung sich gegen ihre Wünsche oder bloß
gegen die anderer richtet. Im ersteren Falle ist keine Strafe zu hart
für den Missetäter; ich habe solche Leute gleich Kindern beschreiben
gehört, wie sie verschiedene Leute, die ihnen ungehorsam waren, un-
pünktliche Kaufleute usw. hinrichten lassen würden. Im zweiten Falle
sind sie im Gegenteil immer Anhänger der größten Milde und weit-
herzigsten Toleranz. So befürworten sie die Abschaffung der Todes-
strafe, eine mildere und verständnisvollere Behandlung der Gefan-
genen usw.
Religion ist für solche Leute meist eine Angelegenheit von größtem
Interesse, und zwar sowohl in theologischer als auch in historischer
und psychologischer Hinsicht; bisweilen artet ihr Interesse in eine Neigung
zum Mystizismus aus. In der Regel sind sie natürlich Atheisten, da sie
die Existenz eines anderen Gottes nicht dulden können.
Wir wollen nun kurz einige Charakterzüge erwähnen, die, wenn
auch stark ausgeprägt, doch weniger scharfe Merkmale bilden, da sie
auch sonst allgemein vorkommen. Sie gehören nur deshalb hieher, weil
sie bei unserem Typus fast immer eine hervorragende Rolle spielen.
Einer davon ist der übertriebene Wunsch geliebt zu werden. Er
wird selten direkt gezeigt und äußert sich meist mehr durch das Streben
nach Lob und Bewunderung als nach Liebe. Gewöhnlich wird er durch
sein Gegenteil verdrängt, eine scheinbare Gleichgültigkeit gegen die
Meinung anderer und Unabhängigkeit davon; dennoch ist das Verdrängte
oft gezwungen, sich auf gewisse Arten zu verraten, z. B. in einem theo-
retischen Interesse für den Mechanismus der Mengensuggestion, einem
starken Glauben an die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung, einem folg-
samen Nachgeben gegenüber der Konvention in Taten, trotz Zurück-
weisung derselben in Worten,
326 Prof. Ernest Jones.
Wie alle anderen menschlichen Wesen beschäftigen sie sich in
ihrem Unbewußten viel mit ihrer eigenen Unsterblichkeit, ob diese nun
durch eine direkte Fortdauer oder durch eine unendliche Reihe von
Wiedergeburten zu stande kommen mag; für sie gibt es also weder Beginn
noch Ende. Der Glaube an ihre Schöpfermacht, der oben erwähnt
wurde, ist, wenigstens im Vergleich mit den anderen, von geringerer Be-
deutung als man erwarten könnte, aber oft ausgeprägt genug. Der Glaube
an die Selbsterschaffung und Wiedergeburtsphantasien sind gleichsam
ständige Züge. Ferner offenbart er in solchen Phantasien Visionen einer
sehr verbesserten oder sogar idealen Welt'— natürlich erschaffen von
der betreffenden Person — oder gar von dem Entstehen eines neuen
Planeten, wo alles umgestaltet ist, „näher nach dem Wunsch des Herzens“!) ;
weitreichende Pläne sozialer Reformen gehören gleichfalls hieher. Im
allgemeinen besitzen solche Leute eine Ader von romantischem Idealismus,
der oft durch einen zur Schau getragenen Materialismus oder Realismus
verdeckt wird.
Die Kastrationsvorstellung spielt bei unserem Typus immer eine
ganz besonders wichtige Rolle, sowohl in der Form von Kastrations-
wünschen gegen den Vater (Autoritäten) als auch in der von Kastrations-
angst (Wiedervergeltung) von seiten der jüngeren Generation. Letz-
teres ist in der Regel stärker betont und führt natürlich zu einer oft
stark ausgeprägten Angst und Eifersucht gegenüber jüngeren Rivalen.
Ein starker Kastrationskomplex ist bei diesem Typus regelmäßig vor-
handen, zeigt aber in seinen zahlreichen Äußerungen nichts Charak-
teristisches; ich übergehe sie daher hier, besonders da sie jetzt ohnedies
recht wohl bekannt sind. Das Übelwollen, mit dem solche Leute die
wachsende Bedeutung jüngerer Rivalen beobachten, bildet einen sonder-
baren Gegensatz zu einem anderen Charakterzug, nämlich ihrem Wunsch
zu protegieren. Es macht ihnen Freude, zu helfen, als Schützer oder
Wächter zu handeln usw. All dies aber tritt nur unter der strengen Bedingung
ein, daß die Person, die protegiert werden soll, ihre eigene hilflose Stel-
lung anerkennt und sie um ihre Hilfe angeht, wie der Schwache die
Starken; einem solchen Apell können sie oft nicht widerstehen.
Der Leser wird wohl die Schwierigkeit erkannt haben, mit der ich
bei der Gruppierung von so vielerlei Zügen zu kämpfen hatte, und
wird mir daher gestatten, diese nun in gedrängterer Form zu wiederholen.
Es ist also der betreffende Typus gekennzeichnet durch den Wunsch
nach Absonderung, Unzugänglichkeit und Geheimnistuerei, oft auch durch
Bescheidenheit und Selbstverkleinerung. Sie sind am glücklichsten in
!) Englische Leser werden hier sogleich an die zahlreichen Werke von H. G.
Wells denken, die diese Phantasien sehr gut illustrieren; doch scheint er kein an-
deres Charakteristikum unseres Typus darzubieten, wenigstens nicht in auffallen-
dem Maße.
Der Gottmensch-Komplex. 321
ihrem eigenen Heim, in Abgeschlossenheit und Verborgenheit und lieben
es, sich in eine gewisse Distanz zurückzuziehen. Sie umgeben sich und
ihre Ansichten mit einem geheimnisvollen Schleier, üben nur einen in-
direkten Einfluß auf äußere Angelegenheiten und sind überhaupt asozial. Sie
zeigen großes Interesse für Psychologie, besonders für die sogenannten
objektiven Methoden, die eklektisch sind und von der Notwendigkeit der
Intuition dispensieren. Phantasien von Macht sind häufig, besonders die
Vorstellung vom Besitz eines großen Reichtums. Sie halten sich selbst
für allwissend und sind geneigt, jede neue Erkenntnis zu verwerfen. Das
Verhalten zur Zeit und zur Voraussagung des Wetters, besonders der
Gewitter ist ın hohem Grade charakteristisch, Sprache und Religion
interessieren sie lebhaft und sie haben eine ambivalente Einstellung
gegenüber Ratschlag und Urteil (z. B. Strafe). Ständig vorhandene aber
weniger charakteristische Eigenschaften sind das Streben geschätzt zu
werden, der Wunsch, den Schwachen zu helfen, der Glaube an ihre
eigene Unsterblichkeit, die Vorliebe für schöpferische Pläne, z. B. für
soziale Reformen und vor allem ein ausgeprägter Kastrationskomplex.
Eine naheliegende Überlegung, die aber nicht vergessen werden
darf, erinnert uns an die Tatsache, daß nicht alle Götter die
gleichen Eigenschaften haben, wenn ihnen allen auch vieles gemeinsam
ist, so daß der Gotttypus variieren wird, je nach dem besonderen Gott,
mit dem die Person sich identifiziert. Weitaus die bedeutendste dieser
Variationen haftet an der Vorstellung von Gottes Sohn, in Europa
also von Christus. Dies gibt dem betreffenden Typus ein beson-
deres Gepräge, das hier kurz gekennzeichnet werden mag. Die drei
Hauptcharakteristika sind: Auflehnung gegen den Vater, Rettungs-
phantasien und Masochismus oder mit anderen Worten, eine Ödipus-
situation, in der der Heros-Sohn ein leidender Heiland ist. Bei dieser
Klasse spielt die Mutter eine ganz besonders wichtige Rolle und ihr Ein-
Auß zeigt sich oft in den besonderen Eigenschaften, die Freud in seinem
Dirnenrettertypus beschrieben hat.!) Rettungsphantasien wo das, was vor
dem „bösen Vater“ zu retten ist, von einer bestimmten Person (z. B.
Shelleys erste Frau) bis zur ganzen Menschheit variiert (demokratische
Reform usw.), sind daher hier außerordentlich häufig. Die Rettung kann
oft nur durch eine schreckliche Selbstopferung bewerkstelligt werden,
. bei der die masochistischen Tendenzen volle Befriedigung erfahren. Diese
offenbaren sich auch in dem Zug von äußerster Erniedrigung und
Altruismus, der besonders auffallend bei Leuten ist, die ursprünglich be-
sonders männlich und aggressiv waren, wie z. B. der heilige Franz von
Assisi. In zweiter Linie erst steht gegenüber dem Verhältnis zu der Mutter,
die gerettet werden muß, die Bedeutung des unterdrückenden Vaters. So
finden wir immer eine Intoleranz gegenüber jeder Art von Autorität; jeder
!) Freud, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens, I, Jahrbuch Bd. II.
328 | Prof. Ernest Jones.
Mensch, der eine solche oder auch nur höheres Alter oder Rang besitzt,
kann im Licht dieses Komplexes betrachtet werden, so daß seine Gestalt
künstlich zur Imago des bösen Vaters verzerrt wird. Bei diesem Christus-
typus findet sich unweigerlich auch eine antisemitische Tendenz, wobei
die beiden Religionen einander entgegengesetzt und der ältere hebräische
Jehovah durch den jungen Christus ersetzt wird. Der Kastrations-
komplex ist, wenn möglich, in dieser Unterabteilung noch stärker aus-
geprägt als in dem oben beschriebenen Haupttypus.
Es ist interessant zu sehen, daß der unter dem Einfluß des Gottmensch-
Komplexes sich entwickelnde Charakter nach einem von zwei Extremen
neigt. Einerseits, wenn nämlich der Komplex von wertvollen höheren
Instanzen gelenkt und beherrscht wird, kann er einen Menschen hervor-
bringen, der wahrhaft göttlich in seiner Größe und Erhabenheit ist.
Nietzsche und Shelley sind vielleicht gute Beispiele dafür. Auf der
anderen Seite, und das sehen wir leider häufiger, besonders bei Patienten
in der Analyse, finden wir höchst unerfreuliche Charaktere, von über-
triebenem Selbstgefühl, denen es schwer fällt, sich dem Zusammen-
leben mit gewöhnlichen Menschen anzupassen und die daher in sozialer
Hinsicht von geringem Nutzen sind. Dies kann man wohl zu der un-
bewußten Basis des Komplexes, dem starken Narzißmus und Exhibitio-
nismus in Beziehung setzen. Der zuletzt erwähnte Trieb ist unter allen
sexuellen Komponenten der am engsten mit sozialen Instinkten ver-
bundene, da er das Verhalten des Individuums seinen Mitmenschen
gegenüber in gewisser Beziehung bestimmt, und man kann eine ähnliche
Ambivalenz in dem Wert seiner Produkte erkennen, Einerseits verleiht
er ein erhöhtes Selbstvertrauen und Selbstachtung und ein starkes Motiv
für die Erreichung einer hohen Stufe in der Achtung der anderen und er
liefert dadurch eine treibende Kraft, die in hohem Maße zum erfolgreichen
Vorwärtskommen im Leben beiträgt; anderseits hingegen, wenn er über-
mäßig entwickelt oder auf ein falsches Ziel gerichtet ist, verursacht er
durch eine falsche Werteinschätzung Schwierigkeiten in der sozialen An-
passungsfähigkeit.
Zum Schluß will ich einigen Betrachtungen Ausdruck geben, die
zwar nicht weit abliegen, aber doch erwähnt werden müssen, um Miß-
verständnissen vorzubeugen. Zunächst ist das oben skizzierte Bild wie
jedes klinische ein zusammengesetztes. Die einzelnen Details sind von
verschiedenen Studienobjekten genommen und künstlich vereinigt, genau
wie die Beschreibung eines typhösen Fiebers in einem Lehrbuch. Ich
habe nie jemanden gesehen, der alle oben erwähnten Eigenschaften besaß,
und es ist sehr möglich, daß solche Leute nicht existieren; auf alle
Fälle sind einige Eigenschaften immer stärker hervortretend als andere.
Ferner möchte ich die Tatsache betonen, daß die gegenwärtige Be-
schreibung notwendigerweise ein bloßer Versuch ist, da sie auf der
Der Gottmensch-Komplex. 329
Erfahrung einer einzigen Person aus etwa einem Dutzend auf dieses
Problem bezüglicher Analysen beruht, mit anderen Worten aus einem
Material, das sicherlich unzureichend ist, ein scharfumrissenes Bild zu
ermöglichen. Ich bin überzeugt davon, daß es einen Gottmensch-Komplex
gibt und daß einige der oben erwähnten Eigenschaften dazu gehören, aber
ich bin ebenso überzeugt, daß die gegenwärte Darstellung einer Modi-
fikation bedarf, und zwar wahrscheinlich sowohl einer Erweiterung nach
einigen Richtungen als auch einer Einschränkung nach anderen, Der
gegenwärtige Aufsatz wird daher hauptsächlich als Ansporn zur ferneren
Erforschung einer Reihe von interessanten Charakterzügen veröffentlicht.
II.
Die psychologische Analyse der sogenannten Neurasthenie
und verwandter Zustände.
Von Trigant Burrow. M. D., Ph. D. (Baltimore.)!)
Lange Zeit bestand in der medizinischen Wissenschaft ein tief ein-
gewurzeltes Vorurteil in bezug auf das Wesen der sogenannten Neur-
asthenie und verwandter Zustände. Der Augenblick ist nun gekommen,
dies Krankheitsbild unter Gesichtspunkten zu betrachten, die von den
hergebrachten medizinischen Anschauungen abweichen,
Etymologisch bedeutet Neurasthenie natürlich einen Erschöpfungs-
zustand des Nervengewebes, der mit Veränderungen in den Nervenele-
menten einhergeht. Diese Veränderungen der Neuronensubstanz sind che-
mischer oder molekularer Natur und „Neurasthenie“ ist somit im Wesent-
lichen ein anatomischer Prozeß.
Diese Beschreibung, die sich auf spezifische Gewebeveränderungen
stützt, ist — vom Standpunkte der physiologischen Pathologie — eine
ausreichende Definition. Aber finden wir im klinischen Bilde der Neur-
asthenie tatsächlich eine Konstanz der Krankheitserscheinungen, welche
der theoretisch angenommenen Gleichförmigkeit der physiologischen
Grundlagen entspricht? Ist der Zusammenhang zwischen den voraus-
gesetzten Veränderungen und der klinischen Beobachtung feststehend
genug, um unsere Annahme einer Wechselwirkung zwischen beiden zu-
zulassen? Mit anderen Worten: ist die Erklärung der Neurasthenie, wie
sie hier formuliert wurde, den verschiedenen Zuständen angemessen, die
gegenwärtig unter diesem allgemeinen Begriff zusammengefaßt zu werden
pflegen ?
Diese Betrachtungen führen uns zu der praktischen Frage, ob wir
uns weiter mit der herrschenden statischen neurologischen Auffassung
dieses höchst variablen Krankheitskomplexes begnügen sollen, oder ob
wir besser tun, auf eine strengere, individuelle, dynamische Auffassung
!) Teilweise vorgetragen bei der Versammlung der American Psychological Asso-
eiation, Washington, D. C., Dec. 29., 1911. — Vollständig vorgetragen vor der Ameri-
can Psychoanalytic Association, Boston, Mass., May 28., 1912.
Die psycholog. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 331
zu dringen, wie sie sich aus der psychologischen Analyse des Einzel-
falles ergibt.
Um diese mehr charakterologische Auffassung des in Frage stehenden
Krankheitsprozesses zu stützen, möchte der Verfasser eine Reihe von
Beobachtungen mitteilen. Freilich wurden diese zum größten Teile unter
den unzulänglichen Bedingungen eines unruhigen Ambulatoriums gemacht,
wo sich nur zu wöchentlichen, nicht täglichen Konsultationen Gele-
genheit bot; dennoch scheinen sie der Betrachtung nicht unwert.
Greifen wir einen Fall heraus, denjenigen einer weiblichen Person
von 45 Jahren, als Beispiel für das typische Syndrom, das gewöhnlich
als „Neurasthenie“ beschrieben wird. |
| Von psychologischem Interesse ist die Tatsache, daß die Patientin
von frühester Jugend an ein äußerst einförmiges, zurückgezogenes Leben
führte. Als sie heranwuchs, wurden ihr alle ihrem Alter entsprechenden
Vergnügungen vorenthalten, dagegen mußte sie hart arbeiten und wurde
vorzeitig mit kleinlichen Sorgen und Pflichten überhäuft. Wie sie selbst
es ausdrückte: man erlaubte ihr niemals, „wie andere Mädchen zu sein.“
Bis vor vier Jahren hatte die Patientin sich immer wohl gefühlt,
aber um diese Zeit zeigte sich ein Abnehmen der Kräfte, und es stellten
sich beträchtliche physische Störungen ein, als Folge der anstrengenden
Pflege einer kranken Schwester und deren zwei kleiner Kinder.
Diese verheiratete Schwester wohnte mit ihren Kindern stets da-
heim bei der Mutter, und da die Patientin eine der traditionellen älteren
Schwestern ist, denen die Aufgabe zufällt, alle Lasten des Haushalts
zu tragen, so war ihr auch die Sorge für die schwesterliche Familie fast
gänzlich aufgebürdet worden.
Im Beginn der Krankheit waren die hauptsächlichsten Beschwerden
der Patientin allgemeine Schwäche, Verdauungsstörungen sowie Schmer-
zen im Rücken und in der Leistengegend. Eine ärztliche Untersuchung
konnte zu jener Zeit die Ursache der Beschwerden nicht ermitteln, und
so fiel der Verdacht — wie gewöhnlich bei weiblichen Kranken — auf die
Unterleibsorgane. Und sie wurde behandelt wie viele Frauen, deren Be-
schwerden einen organischen Befund vermissen lassen : es wurde zu einem
operativen Eingriff geschritten.
Dieser Eingriff bestand in der Entfernung des uterus und des appendix
— außerdem wurde eine gelockerte Niere befestigt. Dies alles aber ohne
die geringste Abnahme der Symptome. Der Fall bot also zweierlei Be-
merkenswertes: erstens fehlte der Zusammenhang und das Systematische,
so wie wir es bei einem wohlbekannten klinischen Krankheitsbilde er-
warten, und zweitens gebrach es an dem objektiven Befund, der die sub-
jektiven Klagen der Patientin gerechtfertigt hätte.
Wir stehen in einem solchen Falle vor einem offenbaren Wider-
spruch. Die Kranke leidet sichtlich große Beschwerden und wird in
332 Trigant Burrow.
ihrem persönlichen Leben und in ihrer Tätigkeit schwer beeinträchtigt ;
dennoch lassen ihre Symptome eine Beschaffenheit vermissen, die ihre
Erklärung auf organischer Basis erlauben würde.
Wollte man die herrschenden medizinischen Lehren strikte beob-
achten, so müßte eine solche Patientin von der klinischen Behandlung
ausgeschlossen sein.
Um nun dieser Alternative zu entgehen, hat die Neurologie funk-
tionelle Störungen angenommen, die ihren Grund in Veränderungen der
Nervenelemente haben sollten; in Veränderungen von so feiner Natur,
daß sie für gewöhnliche Untersuchungen unauffindbar bleiben. Diese
Auffassung bietet in der Tat eine bequeme Ausflucht. Denn wenn man
das Nervengewebe, das seine Bahnen nach allen Seiten aussendet, für
den Krankheitsprozeß im allgemeinen verantwortlich macht, so wird
man in ihm auch den Grund für jede Einzelerscheinung finden. Und so
hat man sich gewöhnt, allen solchen Fällen die Bezeichnung „Neur-
asthenie* kurzerhand beizulegen ; wenigstens bezüglich der verursachen-
den Faktoren hat man sich nicht weiter bemüht. Aber ein solches Um-
gehen der strittigen Punkte entspricht nicht den Prinzipien der Wissen-
schaft.
Also lassen wir hypothetische Konstruktionen beiseite, die auf rein
abstrakte Verallgemeinerungen gegründet sind, und geben wir den ge-
künstelten Versuch auf, die verschiedenen psycho-physischen Reaktionen
der Neurasthenischen auf Grund angenommener anatomischer Verände-
rungen zu erklären. Richten wir statt dessen unsere Aufmerksamkeit
auf solche objektiven psychologischen Tatsachen, wie sie die Analyse der
unbewußten Affekte, hauptsächlich aus den Symptomen und Träumen
des Patienten ergibt; und suchen wir diese Phänomene mit denjenigen
grundlegenden Triebregungen in Beziehung zu bringen, die zu der Sphäre
der angeborenen Instinkte und Gefühle des Individuums gehören.
Die Anwendung der psychoanalytischen Methode erfordert die Auf-
deckung der wichtigen unbewußten affektiven Strömungen, die immer
unstillbar nach Befriedigung zu drängen scheinen. Wo diesen instinktiven
Triebregungen der Weg verlegt wird, da kommt es zu Ersatzbefriedi-
gungen, d. h. zu unbewußt motivierten Reaktionen, die mit jenen
Trieben durch — sagen wir—organisch-assoziative Beziehungen
verbunden sind. Gerade diese organischen Assoziationen!) sind
es, welche somit die sogenannten Symptome des Patienten herstellen.
!) Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß das, was ich hier eine orga-
nische Assoziation nenne, nichts weiter sei als eine andere Bezeichnung für
Freuds hysterische Konversion. Im Wesentlichen verhält es sich so. Wir haben
nämlich hier wie dort mit genau dem gleichen psycho-biologischen Mechanismus zu
tun. Aber es besteht doch ein bemerkenswerter Gradunterschied zwischen solchen
organischen Assoziationen und den Konversionen der Hysterie. Bei den ersteren
handelt es sich nach meiner Auffassung um einen früheren, in der Entwicklung mehr
Die psychol. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 333
Das Phänomen, welches für eine solche Auffassung im vorliegenden
Falle den stärksten Stützpunkt bietet, ist die beharrliche Wiederkehr
ein und derselben unbewußten Triebregung in sämtlichen Träumen der
Patientin, wie sie die Analyse enthüllt hat, und die sehr auffällige Ana-
logie der psychischen, in den Träumen hervortretenden Einbildungskraft
mit der — wenn ich es so ausdrücken darf — organischen Einbil-
dungskraft, die sich in den Symptomen zeigt. Die Beobachtung ergibt,
daß zwischen beiden ein fließender Übergang besteht.
Eine Analyse der Träume der Patientin zeigt, daß Ehe und Mutter-
schaft ihr immer wiederkehrender Hauptinhalt sind. Das bedeutet, daß
die Komplexe der Patientin vorwiegend die Sexual- und Fortpflanzungs-
vorgänge betreffen; so träumt sie z. B. beständig, sie empfange von
einem jungen Manne Aufmerksamkeiten, Geschenke, Blumen, Botschaften
und Liebeszeichen, — und ebenso beharrlich träumt sie, sie halte ein
Kind in den Armen, sie empfange ein Kind, sie trage ein Kind umher,
sie sei schwanger und gebäre ein Kind usw.
Häufig identifiziert sie sich in ihren Träumen mit ihrer Schwester,
stellt sich selbst als Bewohnerin des Zimmers ihrer Schwester dar und
hat, gleich dieser, Gatten und Kind bei sich, Tatsächlich ist unter all
den Träumen der Patientin — sie erzählte weit über hundert — nicht
einer, der nicht mit Hilfe der Analyse diese stets wiederkehrende Ten-
denz enthüllte.
Bei genauer Betrachtung ihrer Symptome erkennt man in ihnen
eine auffallende Ähnlichkeit mit denjenigen der Schwangerschaft: Kopf-
schmerzen und Übelkeit, besonders am Morgen, ein Gefühl der Schwäche,
Schmerzen im Rücken und Leib, — die Empfindung der Schwere und
Völle in Unterleib und Beinen, wodurch das Treppensteigen erschwert
wird usw.
Daneben träumt die Patientin von einer Frucht, die zu so unge-
heurer Größe anschwillt, daß der Baum, an dem sie hängt, sich unter
ihrem Gewicht zur Erde beugt und seine Last endlich nicht länger tra-
gen kann. Beim Herabfallen verwandelt sich die Frucht plötzlich in ein
Kind, das die Patientin als ihr eigenes erkennt,
zurückgebliebenen Prozeß, d. h. sie gehören biologisch einem ontogenetisch tieferen
Niveau an. Mit anderen Worten: der für die neurasthenischen Zustände charak-
teristische Prozeß stellt eine Art metabolischer Hysterie dar; die Ersatz-
bildungen der Neurasthenie repräsentieren mehr eine Transposition auf organische Äqui-
valente, als dies für die greifbareren, d.h. rezenteren symbolischen Substitutionen der
Hysterie zutrifft. Die zur Neurasthenie gehörigen Prozesse stellen, wie wir sagen
dürfen, Veränderungsmechanismen dar, welche Konversionen in sich begreifen, die
ihrerseits zu Assoziationen führen, die dem Bewußtsein so fern stehen, daß sie mole-
kular geworden, und aus diesem Grunde als organische Assoziationen zu
bezeichnen sind.
334 Trigant Burrow.
Dann wieder sieht sie im Traume einen langen schwarzseidenen
Mantel, wie er von Frauen in guter Hoffnung getragen wird. Sie be-
merkt, daß er genau für sie paßt und zieht ihn an, worauf sogleich ein
Kind erscheint usw.
Es wurde bereits auf Beispiele dafür hingedeutet, daß Phantasien
des Traumes unmittelbar durch Symptome des Wachzustandes abgelöst
wurden — Beispiele, in denen der psychische Inhalt des Traumes augen-
scheinlich direkt in den psychischen Inhalt des Symptoms über-
gegangen ist — ein interessantes Nebeneinander, das häufig einen be-
quemen Schlüssel zur direkten Deutung des Traumes bietet.
Der folgende Traum!) illustriert sehr deutlich den eben erwähnten
Übergang; daneben zeigt er den wesentlichen Inhalt der Neurose, zu
einer Szene verdichtet. Er wurde — wie die meisten Träume der Pa-
tientin — schriftlich vorgelegt, — eine Methode, die sich um der Selten-
heit der Sitzungen willen als notwendig herausgestellt hatte. Der Traum
lautet: „Ich träumte, ich ging in den Materialwarenladen, wo wir ge-
wöhnlich einkaufen. (Als jüngeres Mädchen hatte "die Patientin ihrem
nunmehr verstorbenen Vater bei der Führung einer kleinen Material-
handlung geholfen, die unterhalb der Familienwohnung gelegen war.)
Der Mann fragte mich, was ich wolle. Ich sagte, ich hätte gern ein
Paar Morgenschuhe (Patientin assoziiert an „Morgenschuhe“ ein Paar von
ihrer verheirateten Schwester getragene, als diese in den letzten Wochen
ihrer Schwangerschaft das Haus hüten mußte). Er sagte „die Dame ist
heute nicht hier“, daß ich sie bei sich zu Hause treffen würde, — dabei
wohnt sie in dem Hause, wo er seinen Laden hat. Als ich zu ihrer
Wohnung kam, ging ich geradewegs hinein und sah eine Dame im Speise-
zimmer stehen; sie sagte etwas zu mir, was ich nicht verstand. Ich
ging in die Küche hinaus und sah die Dame, die bei dem Laden wohnt.
Ich glaube, sie putzte gerade das Ofenrohr. Der Herd war groß und
viereckig, — nicht in die Wand gebaut, sondern freistehend. Diese Dame
sagte: „Wie geht es?“ Ich sagte „es geht mir heute sehr schlecht“, Ich
zitterte und bemerkte, daß mein Leib sehr geschwollen war. Dann sah
ich erst, wie ich angezogen war. Ich trug einen weißen Rock und ein
langes schwarzes Cape. (Dieser Anzug erinnert die Patientin wieder an
die Kleidung ihrer Schwester während der letzten Wochen ihrer Schwan-
gerschaft.) Plötzlich sah ich einen großen braunen Hund zu meinen
?) Ich möchte betonen, daß ich während der Dauer der Analyse, die — wohl-
verstanden — nur teilweise durchgeführt worden ist, fast ausschließlich auf die Methode
der Analogie angewiesen war, da die äußeren Umstände sowohl, wie die beschränkte
Bildung der Patientin die weit zuverlässigere Assoziationsmethode ausschlossen. Da
aber im allgemeinen die Durchsichtigkeit der Traumsymbolisierung im umgekehrten
Verhältnis zu dem Bildungsgrade steht, so dürfte die auf Folgerungen beruhende
Deutung des vorliegenden Falles, die übrigens durch die wenigen erlangten Assozia-
tionen gestützt wird, im allgemeinen genügen,
Die psychol. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 335
Füßen liegen (Patientin ist brünett). Er sah böse aus, als ob er mich bei
der ersten Bewegung meinerseits sogleich in Stücke reißen würde
(der Ausdruck „in Stücke reißen“ erinnert die Patientin an die Vorstel-
lung, man könne jemanden aus allzu großer Zuneigung in Stücke reißen).
Er zeigte auch die Zähne; ich glaubte, ohnmächtig zu werden. Ich war
sehr ängstlich, als er die Zähne zeigte. Dann fiel etwas Weißes gerade
vor mir auf den Boden, ich hielt es für ein großes Stück weißes Papier.
Der Hund zerriß es schnell in Stücke [!], als ob er ganz wild darauf
wäre. Hiernach sah ich den Hund nicht mehr. Dann sah ich ein weißes Tuch
gerade vor mir niederfallen, dessen vier Ecken sich beim Fallen ausein-
anderbreiteten. (Assoziation an „Tuch“ ist eine Kinderwindel.) Es
war viereckig zusammengelegt, öffnete sich aber etwas an der einen
Seite. Dann hatte ich plötzlich ein Paket im Arm, das ich fest an mich
drückte; ich hielt auch eine kleine gerollte Leinenbinde in demselben
Arm. (Patientin assoziiert an das Paket, das sie an sich drückte, ein Kind
— ein in ihren Träumen häufiges Symbol — und die Leinenrolle
assoziiert sie an eine Binde, wie sie zum Wickeln eines neugeborenen
Kindes gebraucht wird.) Ich ließ es fallen und versuchte es wieder
aufzuheben, aber es war mir nicht möglich (des schweren und aufge-
schwollenen Leibes wegen). Dann erwachte ich und fühlte mich furcht-
bar „nervös“ und hatte schmerzhafte Beschwerden im Leib und Rücken,
welche den ganzen Tag über andauerten.“ |
Diese Symptome sind, wie wir sehen werden, nur Steigerungen der
gewöhnlichen Klagen der Patientin.
Ein anderer, in diesen Zusammenhang gehöriger Traum ist der
folgende: „Ich träumte, ich ging in die R... sche Drogenhandlung
(die nahe bei meiner Wohnung gelegen und ganz entfernt ist von dem
Stadtteile, in dem die Patientin wohnt). Beim Betreten des Ladens sah
ich nichts als den Ladentisch und ich verlangte für 10 Cents Cold cream
in einer Kruke — ich gebrauche es gegen aufgesprungene Hände —
und er zeigte mir eine Tube, welche das Cold cream enthielt, mit einem
kleinen aufschraubbaren Deckel an der Spitze — den nahm er ab und
forderte mich auf zu kosten [!]. Ich hatte keine Lust dazu, aber er sagte,
es sei das beste. Ich sagte, es sei nicht die mir bekannte Sorte, und
daß ich noch niemals Cold eream (das vorgezeigte hieß, glaube ich, Col-
dates Dental Cream) gekostet hätte, Darauf verließ ich den Laden,
kehrte aber wieder zurück und fand drinnen eine Menge Damen — eine
derselben bediente mich. Sie stand hinter dem Ladentisch, und so bat
ich sie um Cold cream.“ — „Beim Erwachen“, fügt die Patientin hinzu,
„lag ich auf dem Rücken und fühlte mich sehr unbehaglich, denn da
ich niemals auf dem Rücken, sondern stets auf der rechten Seite liege,
hatte ich starken Schmerz im Rücken,“
Ein anderer Traum: „Ich träumte, ich stand an der Ecke, um auf
die Straßenbahn zu warten — als die Bahn um die Ecke bog, folgte ihr
336 | Trigant Burrow.
eine zweite. Ich war erstaunt tiber das Aussehen der Bahn, Sie war
kurz und hoch und bestand aus elektrischen Drähten (ein häufiges
Sexualsymbol in allen Träumen und Phantasien der Patientin). Eine
Dame saß in der Bahn und ein Mann stand auf den Stufen. Er wollte
mir helfen; als ich den Fuß auf die Stufe setzte, erwachte ich in großer
Erregung.“
Das folgende charakteristische Bruchstück aus dem allgemeinen
Krankheitsbild der Patientin ist recht interessant. Als sie eines Tages
zu mir ins Zimmer trat, sagte sie: „Gestern aß ich etwas Konfekt und
sofort bekam ich furchtbare Schmerzen im Kopf und in den Augen.
Es war französisches Konfekt, das meiner Schwester gehörte — ein
Stück war oval geformt und eines halbmondförmig. Wenn ich Kopf-
schmerzen habe, habe ich hin und wieder auch starkes Herzklopfen.“
Einmal klagte sie mir, ihr Herz fühle sich an, „als ob es an einer Schnur
hinge und in ihrem Innern wie ein Pendel hin und her schwänge*.
In einem ihrer Träume sieht sie vor ihren Augen einen kleinen
Teich. Er ist von niedrigem Gesträuch umgeben, das sie an „Frauen-
haar-Farne“ erinnert. Jenseits des Wassers, ihr gegenüber, befindet sich
ein Zelt, in dem ein kleines Kind sitzt. Das Kind füllt das Zelt gerade
aus und trägt ein Tuch mehrmals um den Hals geschlungen!
Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Patientin gelegentlich
über ihre Augenschmerzen bemerkt: „ich hatte das Gefühl, als ob ein
elektrischer Draht gerade in die Pupille gebohrt würde.“ Als ich nach
Assoziationen fragte, antwortete sie: „Es ist wie bei einer Operation —
einer chirurgischen Operation — aber es hat doch kein Interesse für
Sie, sich von mir Operationen erzählen zu lassen.“ Schließlich beschreibt
sie ihre Operation und endet mit den Worten: „Ich brauche Ihnen gewiß
nicht erst zu sagen, daß ich — solange der Draht in mir steckte —
fortgesetzt erbrach und sofort aufhörte, als er herausgenommen wurde!“
Ganz flüchtig seien noch eine Anzahl Träume gestreift. „Ich
träumte, ich ging zu einem Zahnarzt und als ich klopfte oder vielmehr
als ich läutete, öffnete mir ein junges Mädchen, und ich fragte sie, ob
der Zahnarzt zu Hause wäre. Sie sagte ‚nein‘, bat mich aber, hinauf-
zukommen und auf ihn zu warten (ich muß lachen, weil die Geschichte
so dumm ist und ich sie nicht verstehe). Ich willigte ein und sie öffnete
eine Tür und forderte mich auf, in das Zimmer zu sehen. Darauf
schaute ich hinein und sah ein großes weißes Bett auf der einen Seite
und ein kleines Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Das
Zimmer selbst war hübsch ausgestattet und möbliert. Ich wartete eine
Weile, aber er kam nicht und so ging ich schließlich nach Hause. Das
ist alles.“
„Ich träumte, ich saß in meinem Schlafzimmer bei einer Hand-
arbeit, als ich jemanden die Treppe heraufkommen hörte. Ich blickte
Die psychol. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 337
auf und sah einen hochgewachsenen jungen Mann in der Tür stehen.
Er sagte: „Darf ich Ihnen diesen Herrn vorstellen.‘ Ich gab keine Ant-
wort, sondern dachte bei mir, daß er sehr merkwürdig aussähe. Sein
Gesicht war fleckig — er trug einen dunklen Anzug. In demselben
Augenblick kam ein kleines Mädchen auf mich zugelaufen, setzte sich
auf meinen Schoß und sagte: ‚Ich habe dich gesucht‘ und dabei legte
es die Arme um meinen Hals und seinen Kopf an meine Schulter.“
Der folgende Traum bietet wieder ein Beispiel jener organischen
Kontinuität zwischen dem im Traum enthaltenen psychischen Symbolis-
mus und dem somatischen Symbolismus, wie er sich in den Symptomen
darstellt.
„Ich träumte, ich läge in einem fremden Hause im Bette, und beim
Erwachen sah ich, daß das Bett dicht an der Wand stand, und daß die
Decken des Bettes alle am Fußende lagen, Die Matratze war blau und
weiß gestreift und sehr naß. („Blau und: weiß gestreift“ ist die gewöhn-
liche Farbenzusammenstellung für die Ausstattung weiblicher Babies, im
Gegensatz zu „rosa und weiß“, wie sie bei Knaben üblich ist. Die beiden
Schwesterkinder der Patientin sind Mädchen.) Ich stand aus dem Bette
auf, da sah ich eine Dame sich mir nähern;. sie verschwand. Darauf
ging ich in die Vorhalle hinaus, die ohne Geländer war, und ich sah
einen Lilienteich, worin drei Lilien standen. Ich tauchte meinen Fuß
ins Wasser, um zu sehen, wie tief es wäre; es war nicht sehr tief, man
konnte hindurchgehen. Aber ich dachte: ich will lieber über den Steg
gehen. Als ich die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, kam mir ein
Mann auf demselben Steg entgegen, Auf der Mitte des Weges trafen wir
zusammen, konnten aber auf dem schmalen Brett nicht aneinander
vorüber, worauf der Mann ohne ein Wort in das Wasser trat. Dann er-
wachte ich mit sehr heftigem Kopfschmerz.“
Ein anderer, ganz ähnlicher Traum ist der folgende: „Ich sah einen
Dampfer die Bucht kreuzen, während ich auf dem Hafendamm stand,
und als ich umherschaute, sah ich eine Menge Kräne auf dem Damm.
Ich ging mit jedem einzelnen davon allein auf und nieder, als plötzlich
ein Mann herbeikam und einen derselben bestieg. Dann erwachte ich
und fühlte mich stark erregt.“
Eines Morgens kam die Patientin und klagte hauptsächlich über
heftige Kopfschmerzen, die besonders intensiv die Augen durchdrangen.
Sie fühlte die Schmerzen, wie sie sagte, seit dem frühen Morgen nach
dem Erwachen aus folgendem Traum. „Ich träumte, jemand übergab mir
drei versiegelte Briefumschläge; auf dem einen war etwas gedruckt, aber
ich konnte nicht verstehen, was es war; sie wurden mir in Fächerform
überreicht, Ich konnte nicht sehen, wer sie mir gab, denn es war sehr
dunkel. Ich erinnere mich, daß es auf der Straße war; ich ging ins
Haus und sah auf dem Tische eine Schale mit Obst und die Schale zer-
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse. 22
338 Trigant Burrow.
brach, während ich sie betrachtete.!)‘ Hier ist an die oben er-
wähnte Phantasie von dem elektrischen Draht, der gerade in die Pupille
gebohrt wurde, zu erinnern. Von dem elektrischen Draht später mehr.
Ein anderer Traum zeigt ebenfalls die enge Verwandtschaft zwischen
dem psychologischen Inhalt der Traumphantasien und dem der Krank-
heitssymptome.
„Ich ging mit den beiden Kindern meiner Schwester zu einer
Parade. Beim Aussteigen der überfüllten Bahn verlor ich meinen kleinen
Neffen. Plötzlich stand er bitterlich weinend vor mir, und ich begab
mich nun mit den beiden Kindern auf den Weg zur Parade, Ich nahm
sie mit in die Poliklinik, und zu meiner Überraschung wurde die Parade
dort abgehalten. Alle waren dort Offiziere. Ich weiß nicht, was nun aus
den Kindern wurde, aber ich ging in die Stadt, um ein Kaffeesieb zu
kaufen. In dem Laden sah ich ein paar hübsche Bettdecken, aber weil
sie rot und weiß gestreift waren, kaufte ich sie nicht, sondern fragte,
ob es nicht blau und weiß gestreifte gäbe. (Die symbolische Bedeutung dieser
Farbenunterscheidung siehe oben.) Die Verkäuferin sagte, daß sie solche
am Freitag hereinbekäme (Freitag ist der für die nächste Analysensitzung
bestimmte Tag). Ich sah mich um und fand ein Paar Hausschuhe, die
ich gern für meine Schwester gekauft hätte. Als ich sie in die Hand
nahm und die Sohlen betrachtete, entdeckte ich auf einer einen sehr
großen Flicken; so unterblieb der Kauf. Ich wandte mich an einen
anderen Tisch, schaute dann in meine Tasche und fand darin einen
großen Fingerhut; das überraschte mich sehr, weil ich nicht wußte, wer
ihn hineingelegt hatte; er war auch seiner Größe wegen für niemanden
zu gebrauchen. Dann erwachte ich mit heftig brennenden Schmerzen und
fühlte mich sehr erschöpft.“
Der folgende Traum interessiert durch die sehr naive Sexualsymbolik,
die er enthält.
Die Patientin erzählte: „Ich träumte, der Speisetisch stände in der
Küche — es war aber nichts auf dem Tische zu sehen. Mutter, zwei
Damen und ich saßen daran und plauderten — ich weiß aber nicht,
worüber. Dann hörte ich zweimal an der Tür laut klopfen, Ich ging
hin und öffnete, und ein junger Mann übergab mir einen offenen Brief-
umschlag mit einem weißen Bogen, der quer darüber lag und un-
beschrieben war. Dabei sagte der junge Mann. ‚Stecken Sie das in Ihre
Tasche!‘, was ich auch tat. Dann sah ich etwas aus meiner Tasche
heraushängen. Es hatte die Form des Papierstückes, war aber dunkel-
grün. Ich trug ein Hauskleid mit einer Tasche an der Seite. Es schien
Abend zu sein, denn es brannte Licht. Ich glaube, ich ging in die Küche
hinunter und sagte zu meiner Mutter: ‚Ich würde gern eine Kleinigkeit
essen‘, worauf sie erwiderte: ‚Geh hinaus in den Laden (Vaters Laden)
!) Von mir hervorgehoben.
Die psychol. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 339
und nimm dir, was du möchtest.‘ Auf dem Ladentisch sah ich eine
Glasglocke mit einem halben Rahmkuchen, von dem ein kleines Stück
abgeschnitten war — aber ich nahm nicht davon,“
Nach einer Pause fügte die Patientin hinzu: „Als der junge Mann
mir den Briefumschlag gab, rollte sich das Stück Papier in meiner Hand
zusammen; in meiner Tasche schien es sich wieder auseinanderzufalten
und wurde dunkel.“
Ihr unbewußtes Thema immer weiter verfolgend, sagt die Patientin:
„Ich träumte, ich ging in ein Zimmer und setzte mich auf einen Stuhl,
da ich mich sehr müde fühlte. Ich legte meinen Arm auf die Stuhllehne
und ruhte meinen Kopf darauf. Da öffnete sich die Tür und ein hoch-
gewachsener junger Mann trat herein und setzte sich an den Tisch, in
genau derselben Positur wie ich. Ich bewunderte seinen schwarzen
Anzug; ich dachte bei mir: ‚der Rock scheint von guter Qualität zu
sein.‘ Keiner von uns sprach ein Wort; wir saßen beide an dem Tische,
auf welchem Bücher lagen. Meine jüngste Schwester saß am anderen
Ende des Zimmers, doch sah ich sie nicht. Plötzlich öffnete sich das
Fenster, und jemand warf auf den Tisch einen Brief, der den Namen
meiner Schwester trug. Ich gab ihn ihr, doch ohne sie zu sehen — aber
die Postkarte, die gleichzeitig kam, konnte ich nicht lesen — der Druck
war ganz undeutlich. Ein Paket, das auch hereingeworfen wurde, trug
keine Aufschrift, war aber mit einer Schnur zugebunden.“
Vergleiche hiemit den Traum, in welchem die Patientin ein Kind
vor sich sieht, das gerade in ein Zelt hineinpaßt und ein Tuch mehr-
mals um den Hals gewickelt trägt. Ebenso die Phantasie, ihr Herz hinge
an einer Schnur.
Der nächste Traum zeigt in durchsichtiger Weise, daß hinter all
den feierlichen Ausflüchten und gewundenen Beteuerungen selbst der
ehrbarsten älteren Mädchen der übermächtige Geschlechtstrieb unbezwingbar
lauert.
Es wäre gut, wenn Soziologen und Pädagogen es sich angelegen
sein ließen, über die durch solche Enthüllungen des Unbewußten auf-
gezeigten Lehren nachzudenken!
„Ich träumte, meine jüngste Schwester und ich gingen zu einem
Piknik, Als wir an einem Straßenübergang stehen blieben, um über den
Fahrdamm zu gehen, kamen Mengen von Wagen vorbei, in denen lär-
mende Männer saßen. Ich sagte zu meiner Schwester: ‚Hier ist es für
mich zu geräuschvoll; ich gehe wo anders hin,‘ Dann befand ich mich
in einem Laden und ging um einige Möbel herum, konnte aber nicht
erkennen, was für eine Art von Möbeln es war. Aber ich erblickte einen
Abteil, hinter dem eine schreibende, mir unbekannte Dame saß. Sie
tropfte mit einer Feder einen Tropfen schwarze Tinte auf meinen weißen
Rock — dann spritzte sie noch zwei weitere Tropfen darauf. Ich sagte:
22*
340 Trigant Burrow.
‚0, was ist das?‘ Dann verbreitete die Tinte sich über die ganze Vorder-
breite meines Rockes, bis alles ein einziger schwarzer Fleck war. Das
erregte mich sehr. Ich bat die Dame, mir schnell ein Gefäß mit
Wasser zu verschaffen, damit ich die Tinte auswaschen könnte, aber der
Fleck ließ sich nicht beseitigen. Ein Mann sagte darauf etwas zu ihr. Ich
sah keinen Mann, hörte nur seine Stimme, aber konnte nicht verstehen,
was er sagte. Dann fiel mir etwas ein: ‚Milch wäscht Tintenflecke
aus.‘[!] Dann erwachte ich.“
Weiter: „Ich träumte, eine meiner Freundinnen, die in einer an-
deren Stadt lebt, kam mich zu besuchen. Ich sagte zu ihr: ‚Wo ist
dein kleiner Junge?‘ Sie erwiderte: ‚Er wollte lieber allein kommen ;
er fährt mit dem Boot.‘ Als sie das sagte, schaute ich nach ihm aus
und sah ihn kommen. Er befand sich in einem kleinen Ruderboot, in
der Mitte eines breiten Wassers, was mir sehr hübsch vorkam. Das
kleine Boot war aus geflochtenem Silberdraht gemacht; er saß in der
Mitte desselben und näherte sich langsam. Das Boot war an beiden Seiten
erhöht.‘‘
Das Kind der Freundin ist 9 Jahre alt. An „9 Jahre“ assoziiert
die Patientin „9 Monate“. Sie fügt hinzu, das aus Silberdraht geflochtene
Boot erinnere sie an „Gebärmutter“, weil sie nach ihrer Operation mit
Silberdraht genäht worden sei. Wie sie erzählt, wollte der Arzt, nach-
dem er den Draht herausgezogen, ihr denselben geben, damit sie sich
einen Ring daraus anfertigen lasse, Sie wünscht jetzt, sie hätte ihn ge-
nommen!
Da ich an diesem Tage keinen Bleistift zur Hand hatte und
mir einige Notizen machen wollte, fragte ich die Patientin, ob sie zu-
fällig einen Bleistift bei sich habe. Worauf sie aus ihrer Ledertasche ein
sehr reduziertes Überbleibsel eines solchen zog, welches sie — wie sie
lächelnd und mit auffallender Schüchternheit bemerkte — seit elf Jahren
beständig bei sich trug. Als ich dann später den Bleistift in gespielter
Unachtsamkeit in meine Tasche steckte, hätte die Patientin kaum ener-
gischer protestieren können, wenn es sich um eine Reliquie von seltenem
Wert gehandelt hätte.
Sie erzählt weiter, sehr charakteristisch: „Ich träumte, ich ging
mit ein paar Freundinnen den Hafendamm entlang. Wir sahen den
Dampfer — weit draußen — langsam herankommen. In der Ferne schien
alles sehr weiß (der Dampfer sah wie beschneit aus). Als er sich dem
Hafen näherte, neigte er sich erst auf die eine Seite des Wassers, dann
auf die andere, und in dieser Weise fuhr er weiter, bis er den Hafen
erreichte. Ich hatte ein ganz ängstliches Gefühl, bis er sicher an-
gelangt war.“
Wir wollen noch einen anderen Traum hören, weil er den voran-
gegangenen bekräftigt.
Die psychol. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 341
„Ich träumte, ich saß am offenen Fenster — beim Hinausschauen
sah ich ein tiefes Wasser, das — wie jemand sagte — der Ozean war.
Das Wasser war sehr unruhig. Dann sah ich nach der anderen
Seite und bemerkte eine große Fläche sehr kurz geschnittenes Gras und
viele Menschen, die darauf herumgingen. Da kam eine Dame zu mir und
sagte: ‚Wir wollen die drei Stufen hinuntersteigen‘, was wir auch
taten; ich sah aber, wir wären ins Wasser gegangen, hätten wir noch
einen Schritt mehr gemacht. Dann ging ich wieder in das Zimmer, wo
ich zuerst gesessen hatte — plötzlich ging ein Mann durch einen engen
Torweg. Als er zurückkam, brachte er ein paar Kinder mit sich — eines
trug er auf dem Arm. Er rauchte auch eine Zigarre.“
Schließlich wollen wir unsere Aufmerksamkeit noch einem offen-
kundigen Übertragungstraum schenken. Die Patientin sagt beim Herein-
kommen, sie sei diesen Morgen sehr „zittrig und aufgeregt“. Sie errötet
und verrät offenbares Schuldbewußtsein. Als sie sich gesetzt hat, sagt
sie kokett: „In der letzten Nacht träumte ich von Ihnen, Herr Doktor!“
ein Geständnis, das sie bezeichnenderweise mit verräterischen, schüch-
ternen Körperwendungen begleitet. Offenbar in zaghafter Ablehnung der
sexuellen Anzüglichkeiten, die sie unbewußt als tiefste Determinierung
des Traumes errät. Die Patientin muß hier — wie so häufig — zum
Fortfahren ermutigt werden. Endlich beginnt sie wieder: „Also, ich
träumte, daß meine Mutter an der Seitentür stand; diese Seitentür war
offen und ein Mann sagte zu ihr, daß er mich zu sehen wünsche. Sie
erwiderte: ‚Bitte kommen Sie ins Speisezimmer!‘ (Hier lacht die
Patientin plötzlich, errötet tief und fährt fort:) und dann rief sie
nach mir. Ich kam darauf aus der Küche, und sie ging wieder zur
Seitentür hinaus. Als ich ins Zimmer trat, sah ich einen Doktor auf
dem Stuhle sitzen, mit dem Hut auf dem Kopfe. Ich setzte mich in
einen Schaukelstuhl auf der anderen Seite des Zimmers und keiner von
uns sprach ein Wort. Der Doktor waren Sie wieder! (Heftiges Lachen
und Erröten). Wir saßen eine Weile da, und dann ging ich hinauf, um
mich zum Ausgehen fertig zu machen. Als ich dann die Treppe hinunter-
kam, traf ich Dr. Burrow an der Tür. (Ich erzähle Ihnen diesen Traum
nur, weil Sie ihn durchaus hören wollen.) Darauf sah ich zu meinem
Erstaunen eine Dame, welche draußen auf Sie wartete. Sie war ganz
hellblond ; wer sie war, weiß ich nicht. Der Doktor ging mit ihr fort.
Ich sah Sie ein kurzes Stück weit gehen. Dann nahmen Sie ihren Stock
(ich sah Sie bisher niemals mit einem Spazierstock) und schlugen auf
einen grauen, ovalen Stein in dem Seitenwege, gerade vor unserem Hause.“
Am Schlusse dieser Erzählung zeigt die Patientin höchste Verlegenheit.
Soweit diese Darstellung von Bruchstücken, die aus der großen
Menge Materials ausgewählt wurden, welches das Unbewußte der Patientin
lieferte. Sie streift nur wie ein Blitzlicht das Phänomen, das sie illu-
342 Trigant Burrow.
strieren sollte, nämlich die erstaunliche Analogie des Traumlebens der
Patientin mit ihrer Symptomatologie. Es ist aber nicht möglich, die
Übereinstimmung dieser Erscheinungen in entsprechendem Maße zu
würdigen, ohne bis ins kleinste dem ganzen Verlaufe der Analyse nach-
zugehen. Selbst dann würde alle Mühe nicht völlig zum gewünschten
Ziele führen. Denn — wie wir wissen — sind die durch die sehr
variable und komplizierte Technik der Psychoanalyse gewonnenen Ma-
terialien zu eng verbunden mit dem feinen psychologischen Rapport,
der zwischen Arzt und Patienten besteht, als daß man beides von ein-
ander trennen könnte. Die feinen Gedankengänge, aus denen sich die
Psychoanalyse zusammensetzt, sind objektiv nur schwer in Worte zu
fassen. Obwohl jede Äußerung aus dem Unbewußten des Patienten ihre
eigene nicht genau zu bezeichnende Bedeutungsnuance hat, die von
größter Wichtigkeit für den Psychoanalytiker ist, so entziehen sich solche
subjektive Mitteilungen ihrer eigenen Natur nach allen Bemühungen,
sie objektiv in ein System zu bringen. Ihrer Flüchtigkeit wegen sind sie
schwer zu formulieren, und so hinterlassen sie häufig einen kaum mit-
teilbaren esoterischen Eindruck. Indessen hätte ich doch gewünscht, dab
der zur Verfügung stehende Raum erlaubte, hier sämtliche Träume der
Patientin einzuschalten. Man hört häufig die harte und ungerechte An-
schuldigung gegen die Freudsche Methode, daß ihre Anhänger stets
nur solches Material der Öffentlichkeit unterbreiten, das sie in die
Schablone ihrer willkürlichen Voraussetzungen pressen können. Eine
Übersicht über das gesamte Material der Analyse würde im vorliegenden
Falle, wie ich glaube, eine solche Beschuldigung ein- für allemal zum
Schweigen bringen. Wenn wir also, trotz der zugestandenen Unvoll-
ständigkeit, das aus der Analyse gewonnene Resultat folgerichtig be-
trachten, sind wir da nicht berechtigt, die gebräuchliche Auffassung der
sogenannten neurasthenischen und verwandten Zustände in Frage zu
stellen? Und dürfen wir nicht — angesichts des hier aufgezeigten
Parallelismus zwischen dem Trauminhalt und dem Inhalt ihrer objek-
tiven Symptome — in gewissem Sinne die letzteren als ein Rätsel auf-
fassen, welches das Unbewußte uns aufgibt? Als Triebregungen, die
durch Symptome und Träume repräsentiert werden und in diesen Surro-
gaten für die ihnen verweigerte Befriedigung einen Ersatz suchen ?
Übrigens stützt sich im vorliegenden Falle die Beweisführung nicht
auf die Analogien allein. Von weit größerer Bedeutung ist es, daß die
Patientin allmählich selbst den Mangel an natürlichen Interessen und
Anregungen in ihrem Leben erkannt hat, und daß sie die Wunsch-
tendenzen in ihren Symptomen verstehen lernte.
Dieser Einblick in ihr Seelenleben soll der Patientin dazu dienen,
ihrer Tätigkeit neue Wege zu weisen. Er soll sie auf die Wiederanpassung
an das Leben vorbereiten und ihr die Richtung zeigen, in der sie zur
Sublimierung gelangen kann.
Die psychol. Analyse der sog. Neurasthenie und verwandter Zustände. 343
Aus der Art, wie die Patientin normalen, gesunden Forderungen
zu entsprechen beginnt, geht klar hervor, daß sie sich auf dem Wege
der Genesung befindet. Die Annahme, dieser veränderte Zustand sei die
Folge eines gleichzeitigen Gebrauches von Chinin und Brom, darf aus
dem Grunde ausgeschlossen werden, weil diese pharmazeutischen Hilfs-
mittel in den drei Jahren völlig wirkungslos geblieben waren, die dem
Versuch, diesen Fall psychoanalytisch zu behandeln, vorangegangen sind,
Aus diesen Betrachtungen heraus erscheint der Vorschlag berechtigt.
die Ätiologie der Neurasthenie vom Standpunkt ihres psychischen Mecha-
nismus sorgfältiger zu untersuchen, damit eine bessere wissenschaftliche
Erkenntnis aus dem gegenwärtigen Chaos ungeordneter anatomischer
Annahmen hervorgehen möge,
IN.
Die moralischen Wertschätzungsurteile als Hindernis in der
psychischen Behandlung.
Von Dr. Mareinowski — Sanatorium Sielbeck a. Uklei.
Es ist offensichtlich, daß wir in der Psychotherapie, will sagen
bei der Untersuchung des Seelenlebens eines Kranken, kein größeres
Hindernis kennen, als die moralischen Bewertungen derjenigen Tat-
sachen, die wir als Untersuchungsbefunde aus den Patienten herausholen
sollen. Dazu kommt, daß die Patienten augenscheinlich dazu drängen
müssen, in ein persönliches Verhältnis zum Arzt zu gelangen. Es liegt
ihnen an seiner persönlichen Wertschätzung ungemein viel, einmal, weil
sie glauben, daß sein persönliches Interesse dazu notwendig sei, um
das erwünschte Maß von sachlichem Interesse für ihre Fälle aufzubringen,
und zweitens, weil der nervöse Kranke stets in der Rolle des Kindes
lebt und am Arzt und seiner Umgebung — hier im Sanatorium der
Ehefrau und der Oberin — diejenigen Gefühlseinstellungen neu zu er-
leben trachtet, die der Kranke als Kind an den Autoritäten des Eltern-
hauses erlebt hat und nun auf die jeweilige Umgebung gesetzmäßig über-
trägt.
Genau wie das Kind will der Nervöse vor allem geliebt wer-
den — nicht lieben, und darum reagiert er mit Heftigkeit und persön-
lich gefärbtem Affekt, wenn er auf eine Tatsache stößt, die ihm eine
Verweigerung des Liebesbeweises bedeutet. Auf ihn ist all sein
Sinnen und Trachten eingestellt. Das Selbstgefühl des Kranken
kommt hier in Frage, und um so mehr, je deutlicher Vorstellungen des
Zweifels an dem eigenen Persönlichkeitswert vorliegen. Darum stellt er
lauter Situationen her, aus denen er sich Liebesbeweise in Form von
Beweisen des persönlichen Interesses, womöglich des Anderen Vorgezogen-
werdens holt; dies will er sich erzwingen. Oder er baut sich aus dem
Unbewußten heraus die Gelegenheiten so auf, daß sie ihm stets zu einem
Beweis werden, wie man ihn ungerechterweise zurücksetzte. Das eine
sind die Erscheinungen der positiven Übertragung, wie wir das nennen,
das andere ergibt die Erscheinungen der negativen Übertragung und des
Die moralischen Wertschätzungsurteile als Hindernis in der psych. Behandlung. 345
Trotzens und kindlichen Bockens, beim Erwachsenen Empfindlichkeit,
Gekränktsein, Feinfühligkeit, Beeinträchtigungsideen genannt. Das letztere
erleben die Kranken gerne in der Erinnerung an früher einmal er-
lebteZurücksetzungen, also an Liebesenttäuschungen, die sie in der
Kinderzeit von bestimmten Seiten her erfahren haben, das erstere in
der Erinnerung an die Liebeswünsche derselben Lebensepoche.
Noch ein drittes Motiv gibt es für dieses ängstlich lauernde Ver-
halten. Irgend ein geheimes Schuldgefühl läßt den Menschen (oft schon
als Kind) sagen: Wenn du wüßtest, wie ich wirklich bin — und damit
ist die Scheu und das Lauern geboren, ohne daß eine Zurücksetzung
vorher erfolgt wäre. Diese wird dann gewissermaßen provoziert durch die
voraussetzungsvolle Scheu, die sich pränumerando zurückzieht und sich
so den Beweis der Zurücksetzung künstlich verschafft (vgl. zur Psycho-
logie der Verlegenheitszustände in „Der Mut zu sich selbst“, Kap. IX,
vom bösen Gewissen, S. 191).
Dieses Lauern auf den Beweis der persönlichen Wertschätzung ist
nun selbstverständlich ein ungemeines Hindernis bei der Behandlung,
sobald diese darauf hinausläuft oder darauf angewiesen ist, die geheimen
Seelenregungen des Kranken bloßzulegen, einschließlich seiner erotischen
und seiner Haßeinstellungen. Die einen lassen ihn gelegentlich als einen
perversen Wüstling oder zum mindesten als ein Individuum von üppigster
Sinnlichkeit erscheinen, die zweiten enthüllen feindselige Regungen und
Lieblosigkeiten von fast verbrecherischem Typus oder doch zum min-
desten die krasse Selbstsucht der kindlich gebliebenen Psyche. Diese
triebmäßigen, eigentlichen Beweggründe unseres Handelns aber
müssen wir erst erkennen und vor uns selber zugegeben haben, ehe
wir ihrer Herr werden können. Darin besteht die Gesundung des Nervösen.
Es ist ohne weiteres klar, daß nur diejenigen Kranken glatt und
leicht an dieses Ziel gelangen, die rücksichtslos und sachlich diesen
Beweggründen nachspüren, während allen anderen die persönliche Wert-
schätzung des Arztes wichtiger ist als die sachliche Arbeit und das
Gesundwerden. Lieber wollen sie krank bleiben, als in der Wertschätzung
des anderen verlieren. Sie sitzen stets in Verteidigungsstellung da, an-
statt mit dem Arzt mitzugehen und ehrlich zu prüfen, ob er nicht doch
vielleicht Recht mit dem hat, was ihnen so schwer wird anzuerkennen.
Ihr Kurswert als Liebesobjekt scheint ihnen davon abzuhängen,
und sie setzen ohne weiteres voraus, daß auch der Arzt die gleiche
moralische Verurteilung den Untersuchungsbefunden gegenüber haben
müsse, die sie selbst beherrscht, und die ja in letzter Linie dazu geführt
hat, daß sie ihre natürlichen Triebregungen als unerlaubte ansahen und
dementsprechend als unerträglich für das Bewußtsein aus diesem heraus-
drängten. Daraus entstand ja ihre Psychoneurose, aus der mißverständ-
lichen Auffassung ihrer Triebe als Schuld.
346 | Dr. Mareinowski.
Die verständigen Kranken dagegen sagen sich: „Ich will unter
allen Umständen gesund werden; ich will das Wissen dieses Mannes
ausnützen bis aufs letzte. Wie der dann im übrigen von mir denkt, ist
mir ganz gleich.“ — Mit solchen Kranken erreicht man naturgemäß in
acht Sprechstunden so viel, als mit anderen in acht Wochen, und sie
ernten außerdem gerade das Maß von sachlicher Freude sowohl für sich
selbst, als auch für den Arzt, was die anderen naturgemäß vergebens
erstreben.
Also die „Widerstände“ und „Übertragungen“ erreichen justament
wieder einmal grade das Gegenteil von dem, was der Kranke damit be-
zweckt, Diese schmerzliche Erkenntnis darf man ihm nicht vorenthalten.
Er muß klar sehen, wie sehr er mit diesen Mechanismen gegen sein
eigentliches Interesse gerichtet ist. Er beraubt sich in seiner Unsachlich-
keit gerade des Liebesbeweises, den er in der sachlichen Mitfreude des
Arztes am Gelingen der Arbeit erleben möchte.
Aber mehr als an der liegt ihm an seiner persönlichen Anteil-
nahme, an seiner ganz persönlichen Herzenswärme u. dgl. Deshalb ist
er meist sehr empört, wenn man ihn darauf hinweisen muß, daß nur er
selbst ein persönliches Interesse am Gesundwerden und an der sach-
lichen ungestörten Arbeit habe, daß es den Arzt aber nur sachlich, nicht
persönlich interessieren könne, ob etwas aus ihm wird. Es wäre un-
vornehm, ihm etwas anderes vorzutäuschen, und technisch ein großer
Fehler, es zu zeigen, wenn es da sein sollte, denn dann wäre die Frage
der persönlichen Wertschätzung noch mehr in den Vordergrund gerückt
und das moralische Vorurteil bestimmt dann völlig darüber, was der
Kranke zur Untersuchung von seinen Vorstellungen gütigst hergeben
will oder nicht. Damit hört aber jede Möglichkeit gedeihlicher
Arbeit auf.
So zwischen dem Lauern auf Liebesbeweise und Trotz und Haß-
einstellungen seiner Kranken dauernd eingekeilt, ist es aber dem Psycho-
therapeuten, der jahrelang in dieser Brandung von Übertragungsleiden-
schaften lebt und alles wie das Räderwerk einer Uhr klar durchschaut,
ganz unmöglich, trotzdem einen persönlichen Wert auf die Gefühle zu
legen, die ihm in gesetzmäßiger und krankhafter Weise entgegenwachsen.
Dem Psychotherapeuten ist darum sowohl die Liebe wie der Haß, den
der Kranke ihm oder seinen Nahestehenden entgegenbringt, per-
sönlich ganz gleichgültig, denn das sind für ihn nur sachlich
zu bewertende Untersuchungsbefunde, und zwar Übertragungs-
phänomene, d. h. Affekte, die eigentlich denen gelten, deren Rolle uns von
den Kranken in der Übertragung zudiktiert wurde.
Diese Gefühle dürfen uns also nur sachlich interessante Erscheinun-
gen sein, die wir behandeln müssen. Wie könnten wir das, würden
Die moralischen Wertschätzungsurteile als Hindernis in der psych. Behandlung. 347
wir persönlich von ihnen auch nur eine Sekunde berührt, sei es, daß
sie uns erfreuten und schmeichelten, sei es, daß sie uns kränkten.
Was spielen nun die moralischen Wertschätzungsurteile hier für
eine Rolle dabei? Nun, sie sind der Maßstab für die Schwierigkeiten,
die sich in der Behandlung als sogenannte Widerstandsphänomene
äußern. Hält der Kranke ein Gefühl für unerlaubt, für moralisch ver-
werflich, so wird er sich bis aufs äußerste sträuben, gerade dieses Gefühl
der Untersuchung auszuliefern, noch dazu, wenn es sich um Vorstellungen
handelt, die den Arzt persönlich angehen, oder wenn sie einem der ihm
Nächststehenden mit eifersüchtigem Groll und Haß gelten und der-
gleichen,
In dem Augenblick, wo der Kranke Beweggründe in sich vermutet
oder glaubt, daß sie der Arzt vermuten könne, die ihn in gewissem Sinne
als ein unschönes oder gar moralisch minderwertiges Individuum er-
scheinen lassen, da verliert er die ernste sachliche Arbeit und das Ge-
sundwerden völlig aus dem Gesichtskreis, und er hat bloß noch einen
Wunsch, sich möglichst engelhaft erscheinen zu lassen. Es ist das die
alte Geschichte. Das Kind sieht sich einer Liebesenttäuschung gegen-
über, oder der Gefahr einer solchen, und es nimmt eine Maske vor, um die-
jenigen Eigenschaften vorzutäuschen, von denen es glaubt, der geliebte
Vater oder die geliebte Mutter sähen das gerne. So oder so müßten sie
sein, um deren Liebe an sich zu reißen, so oder so versuchen sie nun
wenigstens zu scheinen, um dasselbe Ergebnis herbeizuführen. Darin
liegt schon in den ersten Gefühlskämpfen des Kindes der Keim für die
ganze Verlogenheit unserer Kultur und unserer Gesellschaft.
Hätte man nämlich nicht recht, die unsachlichen moralischen Vor-
urteile auch beim anderen voraussetzen zu können, so läge gar kein
Grund vor, gewisse Eigenschaften vorzutäuschen, gewisse andere
verleugnen zu wollen. Erst die allgemeine kritiklose moralische
Bewertung der Dinge zwingt uns zu lügen; denn die geforderten
Eigenschaften wirklich zu besitzen, ist meist ein widernatürliches und
deshalb biologisch unmögliches Ding.
Angesichts dieser Voraussetzung aber, daß der andere, der sie doch
so selbstverständlich fordert, sie auch hat, oder doch wenigstens von
ihrem moralischen Wert durchdrungen sei, fürchtet sich jeder vor dem
anderen und wagt nicht, ehrlich sich zu sich selbst zu bekennen. Dabei
brauchten sie doch nur die Masken fallen zu lassen, um glücklich und
harmlos und unverzerrt miteinander leben zu können.
Aber an solche Möglichkeiten denken sie gar nicht. Sie leben be-
fangen in der Voraussetzung, daß jeder andere sie verurteilen müsse,
wüßte er, wie man eigentlich ist, und so empfinden sie unser ärztlicher-
seits gebotenes Aufdecken der psychotherapeutischen Untersuchungs-
befunde stets wie einen moralischen Vorwurf. Sie können sich nicht
548 Dr. Mareinowski.
denken, daß der Arzt damit nun eine Tatsache feststellt, die ihm ohne
jede moralische Bedeutung ist. Wir. zeigen dem Kranken in der Analyse
lediglich, wie er wirklich sei, und wollen ihm damit das unehrliche Vor-
geben angeblich moralischer Beweggründe fernerhin unmöglich machen,
Der Kranke aber empfindet diese tatsächlichen Feststellung gemäß seiner
unsachlichen Voraussetzungen als Vorwurf und fühlt sich vom Arzt
dadurch sogar gekränkt. „Man mache ihn damit klein und raube ihm
sein Selbstvertrauen, statt ihn zu erheben und zuversichtlicher zu machen,“
— die bekannte Projektion des Selbstvorwurfes auf den anderen.
Idealisierende Beschönigungen sind freilich überall beliebtere Er-
gebnisse, nur leider helfen und heilen sie trotz aller augenblicklich so
beglückenden Empfindungen nicht; denn sie sind gelogen und helfen
dem Kranken nur, sich weiter über sich selbst zu täuschen, was er ohne-
hin anstrebt. Zuckerplätzchen sind aber keine Heilmittel in der Psycho-
therapie und fördern den Kranken nicht zur Einsicht und Selbsterkenntnis,
so dankbar und beglückt er sie auch allerorten genießt.
Einige Kranke pflegen statt über das kränkende Aufdecken ihrer
wohlbehüteten Niedrigkeiten über ihre eigenen Schlechtigkeiten zu
stöhnen, weil sie dadurch wenigstens den Schein retten wollen, daß sie
doch noch so moralisch seien, daß sie sich zum mindesten über
das Gefundene entsetzen. Das glauben sie ihrer sittlichen Persönlichkeit
schuldig zu sein. Das ist aber erst recht unehrlich, und moralisch ein
wertvoll Scheinenwollen, also Pose. Denn, wenn es dem Kranken
wirklich entsetzlich gewesen wäre, so brauchte er ja nicht erst monate-
lang in diesen Phantasien geschwelgt zu haben, die ıhm nun auf
einmal so „entsetzlich“ sein sollten! Der Kranke spielt nur den Ent-
setzten.
Nietzsche, der in seinen Aphorismen eine Fülle solcher unlieb-
samen Wahrheiten dargelegt hat, drückt das folgendermaßen aus: (Mensch-
liches, Allzumenschliches I, Nr. 84). „Feinheit der Scham. — Die
Menschen schämen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl,
wenn sie sich vorstellen, daß man ihnen diese schmutzigen Gedanken
zutraue.* —
Gehen wir das Gesagte an einem einzigen harmlosen Beispiel durch,
am Beispiel vom Egoismus. Ich, der ich als Naturwissenschaftler nicht
nach dem moralischen Wert einer Tatsache zu fragen habe, wenn
ich sie untersuche, ich habe gar keinen persönlichen Grund, mich zu
entsetzen, wenn ich auf dem Boden der Seele rein egoistische Motive
als die Beweggründe irgend eines Handelns erkenne. Frei vom Vorurteil
moralischer Bewertungen, ist es mir ganz gleichgültig, ob ich dort
Egoismus oder Altruismus oder irgend einen anderen Ismus vorfinde.
Ich habe voraussetzungslos zu prüfen und festzustellen, ohne Rück-
sicht darauf, was etwa ich dabei aufdecke. Genau so gut, wie ich beim
Die moralischen Wertschätzungsurteile als Hindernis in der psych. Behandlung. 349
Zwangsneurotiker Haß und verbrecherische Todeswünsche für die näch-
sten Angehörigen, oder heim Angstneurotiker erotische Strebungen auf
die eigenen Blutsverwandten feststelle, so finde ich hier Egoismus, —
Was hat das mit Moral zu tun! Es sind eben sachliche Untersuchungs-
befunde, Vorstellungen, gesetzmäßige Bildungen, die ich feststelle wie
einen entzündeten Blinddarm oder dergleichen.
Da ich so denke, darum finde ich die Dinge auch. Der Patient aber,
der von vornherein das Vorurteil hat, daß Egoismus etwas Häßliches und
Verdammenswertes sei, der kann ihn schon gar nicht sehen, denn er
darf ihn nicht finden, denn sein Wert als Liebesobjekt, wie gesagt,
hängt davon ab, daß er das auch von sich selbst nicht weiß, denn es
ist ihm ein unerträglicher Gedanke, Eigenschaften besitzen zu sollen, die
ihn in seinem Kurswert als Liebesobjekt herabmindern.
Das ist die Wurzel seines leichtverletzlichen Selbst-
gefühls und seines stets wachen Mißtrauens in die eigene
Art, und die Wurzel alljener fortwährend in Bereitschaft
liegenden Beeinträchtigungsvorstellungen und der Be-
fürchtungen, man schätze ihn nicht genügend!
Nun sind alle diese Werte ja rein subjektiv. Hätte man den Kranken
z. B. von klein auf gelehrt, der Egoismus sei das Starke und Schöne,
wie wir ihn z. B. als Eigenschaft an der Pflanze, in der Forstkultur oder
in der Tierzucht sehr wohl zu schätzen wissen, dann würde es keinem
Menschen einfallen, seine egoistischen Beweggründe angstvoll zu verhüllen.
Es hinge dann nichts davon ab, sie einfach einzusehen und zuzugeben.
Ich habe da eine Patientin, der jeder Traum seit Jahren den Be-
weis erbringt, wie sie eigentlich nur noch in der Phantasie lebt, erotische
Beziehungen zu dem geliebten verstorbenen Vater zu durchschwelgen,
aber sie vermag es trotz aller Wucht der Indizienbeweise nicht zuzugeben,
„denn das wäre zu schrecklich!“ — Wieso? — „Ja, der Vater hätte
das nie verstehen oder verzeihen können.“ Die gleichen leidenschaft-
lichen Phantasien, die sich mit meiner Person beschäftigen, enthüllte
"sie mir aber ohne weiteres, obwohl ich bei dieser Gelegenheit ganz un-
zweideutig nur eine Maske für den eigenen Vater bin; einmal, weil das
weniger schlimm sei, und dann, weil sie meinen sachlichen Standpunkt
kennt und erfahren hat, daß mir diese Regungen persönlich höchst gleich-
gültig sind und mich ebensowenig eine Sekunde daran hindern, an der
Kranken ruhig weiter zu arbeiten, als sie mich veranlassen könnten, auf
sie einzugehen. Sie erleidet also in meinen Augen keine Minderung ihres
Kurswertes, sie ist bei mir sicher vor moralisierenden Mißverständnissen.
Das gleiche aber dem Vater gegenüber zugegeben, würde für sie eine
lebensvernichtende Bedeutung haben, und darum bleibt sie lieber krank,
als daß sie sich dieser Einsicht erschlösse.
350 Dr. Mareinowski.
Das hat sie ja nun freilich nicht in der Hand. Aber die morali-
schen Vorurteile sind eben nicht nur Hemmnisse in der Behandlung, sie
sind zugleich auch die Quelle der Schuldneurose, und der Grund, warum
wir diese nicht aufgeben, warum wir an der Krankheit festhalten und die
Genesung fürchten, wie ein Ertrinkender, der sich nicht entschließen
kann, die rettende Hand zu ergreifen, weil er dazu den Strohhalm los-
lassen müßte, an den er sich in seiner Angst geklammert hat.
Deshalb ist es wiederum eine so ungeheuer wichtige Aufgabe in der
Psychotherapie, Weltanschauungsfragen als Heilfaktoren hinein-
zubeziehen. Ein Neurotiker, der abergläubisch bleibt, ist nicht
geheilt. Moral ist Furcht vor rächenden Dämonen, ist nicht dasselbe,
was freie Sittlichkeit ausmacht. Die Kranken müssen einsehen lernen,
daß nur eine vermeintliche Schuld sie in den Schutzbau der Neurose
hineintrieb, daß Sünde etwas anderes ist, als was ihr schlechtes Gewissen,
in Aberglauben befangen, ihnen einredete. Wir kommen nicht darum
herum, die Spannung zwischen unnatürlicher Sitte und wahrer Sittlich-
keit muß klar aufgedeckt und gelöst werden. Sonst heilt keine Psycho-
neurose aus, denn alle sind in letzter Linie abergläubische Schuldneurosen.
IV.
Über Gesäßerotik.
Von Dr. J. Sadger, Wien.
_ Unter den zahllosen Menschen, die eine mehr oder weniger mäch-
tige Analerotik aufweisen, gibt es eine Gruppe, die sich von den anderen
durch Ausbildung besonderer Eigenschaften auszeichnet. Es sind Leute,
deren geschlechtliche Lust sich weniger an den Enddarm knüpft, als an
die Fortsetzung jener Zone, die Hinterbacken und zum Teil auch die
Schenkel. Für die Symptome dieser Sexuallust möchte ich den Namen
„Gesäß“- oder „Glutaealerotik* vorschlagen nach dem Grundsatz: de
potiori fit denominatio und bemerke vorweg, daß wirklich ein inniger
Zusammenhang besteht zwischen dieser Gesäß- und der längst bekannten
Analerotik. In allen von mir beobachteten Fällen stand mindestens
vorher, nicht selten auch gleichzeitig mit der erstgenannten auch die
letztere in voller Blüte, so daß wir die Gesäßerotik als einen Teil oder
mindestens Fortsetzung der Analerotik bezeichnen müssen. Was mich
veranlaßt, einen neuen und scheinbar überflüssigen Terminus zu schaffen,
ist neben dem Umstand, daß der Gesäßerotik spezifische Symptome
eignen, die auch nach der Verdrängung der Analerotik selbständig fort-
bestehen können, vornehmlich die besondere Bedeutung, welche ihr bei
zwei der häufigsten Perversionen zukommt: der Homosexualität und dem
Flagellantismus.
Wie schon der Name sagt, ist bei den mit ihr behafteten Personen
das hauptsächlichste oder ausschließliche Sexualinteresse an die Nates
geknüpft, in zweiter Linie und neben ihnen an ihre Fortsetzung, die
Oberschenkel. Nicht selten besteht auch eine organische Disposition, be-
sondere Fülle, Massigkeit und Strammheit dieser Partien. Erblichkeit und
Erziehung wirken da gleicherweise bedeutsam. Nicht nur, daß meist die
Aszendenten, am häufigsten die Mutter, dort ähnliche Üppigkeit oder Prall-
heit besitzen, wird auch durch ihre Liebesbezeugungen just an jenen
Stellen die Aufmerksamkeit der Sprößlinge stets wieder von neuem da-
hin gelenkt. Nicht wenige Mütter können sich schon ihrem Säugling
gegenüber nicht entbrechen, ihn ad posteriora oder an den feisten Ober-
352 | Dr. J. Sadger.
schenkeln abzuküssen. Sie liebkosen und streicheln, tätscheln oder beißen
ihn dort und späterhin können sie nicht umhin, den größeren Kindern,
ja selbst den Erwachsenen einen Klaps an diesen Stellen zu versetzen;
oder sie entblößen weit öfter als nötig die Kinder hinten, etwa zu über-
häufigen Klystieren oder aber zu Schlägen. Die Gesäßerotik der Mutter
und anderen Aszendenten gibt dann durch Vererbung und Erziehung
Anlaß zur Nachfolge bei den Sprößlingen. Wir sehen, daß solche bei-
spielsweise bereits in einer geschlechtlichen Frühzeit, etwa im dritten oder
vierten Jahre, besonderes Interesse für die Posteriora von Kindern und Er-
wachsenen zu zeigen beginnen. Sie wenden oft große Schlauheit auf,
um dieses Anblickes teilhaftig zu werden, dringen z. B. ins Badezimmer,
just wenn die Mutter in die Wanne steigt, oder ins Boudoir, wenn
jene sich auszieht, oder stürmen plötzlich ins Schlafzimmer hinein,
wenn sie ein Klysma oder Irrigation bekommt. Noch leichter gelingt die
Befriedigung der Schaulust bei Geschwistern oder Spielgefährten. Un-
zweifelhaft verdankt das Doktor- wie das Hebammenspielen seine unver-
wüstliche Beliebtheit den Bedürfnissen der Gesäßerotik. Wo mehrere Ge-
schwister mit ihr behaftet sind, kann es passieren, daß sich Bruder und
Schwester gegenseitig ihre Globi zeigen und dann all jene Dinge wieder-
holen, die sie selber von ihrer Mutter erfuhren, also nicht bloß Schauen
und Entblößen, auch Küssen, Tätscheln, Schlagen mit einer Rute und
ähnliche Sachen. Selbst die immissio membri intra nates sororis nach
dem Vorbild der eingeführten Klystierspritze gestand mir ein Kranker
in der Analyse als in seiner frühen Kindheit geschehen. Gelegentlich
zieht sich ein dreijähriger Junge mit seiner gleichaltrigen Spielgefährtin
zurück, um ihr etwas wie eine Irrigation zu machen. Ein anderer, der
später Urning geworden, berichtet aus dem nämlichen Jahre, daß ıhn
schon in den ersten Bilderbüchern nur jene Illustrationen anzogen, die
Personen — mit stark ausgeprägten Nates zeigten. Er selber habe ganz
sicher bereits um diese Zeit wiederholt sein eigenes nacktes Gesäß im
Spiegel beschaut und davon starke Lust empfunden.
In dem letztgenannten Beispiel sehen wir die Verquickung der Ge-
säßerotik mit der Homosexualität und dem Narzıßmus. Es ist bezeichnend,
daß, wo ein besonders starkes Interesse für die Posteriora und stramme
Oberschenkel vorhanden, also das, was hier „Gesäßerotik“ betitelt wurde,
sich Beziehungen der verschiedensten Art etablieren, Beziehungen zur
Schau- und Entblößungslust, zur Haut-, Schleimhaut- und Muskelerotik,
zum Narzißmus und Flagellantismus, zur Homosexualität und in einem
von mir beobachteten Falle auch zum Fetischismus. Es scheint beinahe,
daß die Hinterseite unserer Leibesmitte sich besser zu einer Reihe von
Perversionen eignet, denn die wirklichen Geschlechtsorgane, und Leute
mit starker Gesäßerotik die Nates überhaupt als die eigentlichen Geni-
talien nehmen, oder, wenn man will, als förmlichen Fetisch. So gibt es
Über Gesäßerotik., 353
z. B. nicht wenige Männer, die auf der Straße durch schöne Gesichts-
züge der begegnenden Mädchen weit minder gefesselt und angezogen
werden, als durch ausdrucksvolle rückwärtige Partien. Sie können, um
es drastisch zu sagen, einem pompösen Hintern nicht widerstehen. Das
Gegenstück bilden jene Mädchen, die mit diesem Körperteil kokettieren,
durch geschickte Bewegungen ihn mit Nachdruck herauszustrecken und
die Kleider so raffiniert zu raffen verstehen, daß seine Bedeutung in
allerhellste Beleuchtung gerückt wird. Ein männlicher Kranke berichtete
mir, daß er auf der Straße alle Mädchen und Frauen auf ihre Posteriora
prüfe. In Kunstausstellungen verweile er nur bei jenen Bildern, die
Frauen mit mächtigen Formen zeigten, weil diese ihm einzig Interesse
einflößten. In klassischen Theaterstücken habe es ihn stets besonders ge-
stört, wenn ein Page auftrat, den bekanntlich immer ein junges Mädchen
in eng anliegenden Hosen spiele. Das lenke seine Aufmerksamkeit sofort
vom Inhalt des Stückes ab. All diese Dinge fallen in den Rahmen der
Schau- und Zeigelust, ebenso wie die Übung des coitus more bestiarum,
der, wo nicht just allzustarke Fettmassen die normale Lage in congressu
ausschließen, meist darum geübt wird, damit der Mann die ersehnten
Globi beim Geschlechtsakt vor sich hat und das Weib sie nach Herzens-
lust entblößen und zeigen kann. Im letzteren Falle kommen nicht selten
auch andere Perversionen auf ihre Rechnung, vor allem das Betasten,
Tätscheln und Schlagen, ja selbst das Beißen dieser Nates, also die Be-
tätigung der Haut-, Schleimhaut- und Muskelerotik.!) Hieher gehört
!) Einer interessanten Studie von Jean Wegeli „Das Gesäß im Völkergedanken im
9. Bande der „Anthropophyteia* entnehme ich die folgenden Stellen: „Nicht nur das
Volk, d. h. die unteren Schichten, betont die Wichtigkeit der Glutäalgegend, sondern
ebenso eifrig die sozial Hochstehenden. Inden Seebädern, diesen modernen Heiratsexperi-
mentierböden sehen wir Damen der distinguiertesten Provenienz im Wetteifer mit
der Demimonde im Badekostüm die Posteriora betonen. Der Humpelrock jüngsten An-
gedenkens hatte gleiche Absichten. Wer ihn in Großstädten sah, mußte sich wundern
über die Erotik, die durch diese Kleidung inszeniert werden konnte. Lenden, Posteriora,
Schenkel und Waden wurden im Humpelrock in vorher nie dagewesener Kleidungs-
weise publik gemacht. Damenschneider versicherten, daß eine große Zahl der Humpel-
rockträgerinnen außer Mieder und Hemd, Schuhen und Strümpfen, keine Unter-
kleidung trug. Vom cul de Paris brauchen wir nichts Weiteres zu sagen. Der Cul als
Nachbildung hottentottischer Steatopygie sollte dem infantil gewordenen Habitus der
Pariserin glutäalerotischen Reiz verleihen... Das prüde Albion weiß den Glutäalreiz nicht
minder als andere Völker zu kultivieren. Ein Beweis dafür, wie man sich in England
die Glutäalerotik gesellschaftsfähig zu machen wußte, sind die Schönheitsbewerbe und
das Damenreiten. Wie Pilze schießen die Schönheitsbewerbe in englischen Bädern aus
dem Boden. Das englische Girl muß öfters im Badeanzug (sweater — Tricot) zu
Pferde steigen! Hiebei sollen die Preisrichter Arme, Beine, Gesäß, Haltung usw.
werten. Mancher wohlsituierte junge Engländer hat nur aus ästhetischem Empfinden
ein Girl vom Ballett oder Variet& geheiratet. Vornehmlich Waden und Posteriora
schätzt der englische junge Mann bei den Mädchen. Und manche verdankt nur den
Glutäalmuskeln ihren Aufstieg in sozial höher stehende Schichten. Die Sucht der
Engländer nach Ausstattungspantomimen entspringt dem ästhetisierten Kallipygismus.
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse. 23
354 Dr. J. Sadger.
wohl auch der Fall eines kleinen Mädchens, das stets bei der siechen
Mutter schlief, die der Vater jeden Morgen begrüßen kam. Da lag die
Kleine in ihrem Bettchen regelmäßig am Bauch mit emporgestreckten
Nates, die sie im Schlafe abgedeckt hatte, so daß der morgens ein-
tretende Vater die Schlafende stets mit einem Klapse weckte. Es ist
mehr als wahrscheinlich, daß das Unbewußte dieser Kleinen, die fraglos
in den Papa verliebt war, die Komödie des Abdeckens zu solchem End-
zweck arrangiert hatte.
Eine große praktische Bedeutung gewinnt die Gesäßerotik vornehm-
lich bei zwei der häufigsten Perversionen: der Homosexualität und dem
Flagellantismus. Viele Urninge haben einen stets wiederkehrenden Typus:
sie lieben Jünglinge oder Männer in knapp anliegenden Gewändern,
Livr6en oder Uniformen, die die Hinterfront und Schenkel in plastischen
Formen hervortreten lassen. Als besonders bevorzugt werden überein-
stimmend angegeben: Lakaien, Jäger, Reitknechte, Soldaten (in Öster-
reich besonders der ungarischen Regimenter), Schaffner und Schutzleute.
Ein gut Teil des Zaubers, der dem doppelfarbigen Tuch anhaftet, ist auf
Rechnung der prallen Kleidung zu setzen, die alle Wölbungen doppelt
unterstreicht. Wenn die Psychoanalyse nachweisen konnte, daß hinter
den geliebten männlichen Objekten der Homosexuellen ganz regelmäßig
geliebte weibliche Wesen stecken, wird diese Übertragung dadurch er-
leichtert, daß kräftige Nates und Oberschenkel beiden Geschlechtern mehr
weniger zukommen, wenn das weibliche sich auch gemeinhin durch
größere Fettmassen auszeichnet. Übrigens wünschen nicht wenige Urninge
sich geradezu weibliche Formen und Fettpolster.
Vielleicht die allerwichtigste Rolle spielt aber die Gesäßerotik bei
der Flagellation ad nates und Schenkel, der selbstgeübten, wie der passiv
erlittenen. Bei der ersteren ist vor allem die Schaulust ad posteriora ge-
richtet, deren Muskeln bei heftigen, schmerzhaften Schlägen fast koitus-
artig zusammenzucken. Auch die Hautveränderungen ebendaselbst werden
von den richtigen Flagellanten mit großem Vergnügen apperzipiert, die
Rötung, Schwellung, die Striemen oder gar das schließlich herabrieselnd ee
Man will im Trikot Waden und Glutäi sehen . .. Jedes größere Bordell muß ein oder
die andere breitpodizierte Dirne halten, die nicht durch ihre Vorderfront wirkt, son-
dern lediglich durch mächtig entwickelte Posteriora. Es gibt dabei notorischerweise Feti-
schisten, welche sich an den weiblichen Hinterbacken geradezu einen Kinnbackenkrampf
zusammenküssen! Als charakteristisch wird angesehen, daß solche Fetischisten weder
vom normalen vaginalen noch von dem anormal analen Koitus etwas wissen wollen,
sondern sich mit der Exstase begnügen, in die sie der Anblick eines großen Frauen-
gesäßes bringt!“ Der nämliche Artikel bringt endlich reichliche Belege zur Gesäß-
erotik aus ethnologischen, kulturgeschichtlichen und künstlerischen Gebieten. Als
Maler der Kallipygie nennt Wegeli besonders Rubens und Felicien Rops. Die Vor-
liebe des ersteren für die Nates habe dazu geführt, daß man in Malerkreisen von den
Posteriora nur als „den Rubens“ spreche. Rops sei so recht eigentlich der Maler
glutäal- oder analerotischer Strömung.
Über Gesäßerotik. 355
Blut. Beim Bloßlegen der Backen für die späteren Hiebe wird ferner die
Hauterotik des Schlagenden oft wohlig gereizt und endlich bringt das
Prügeln selber die Muskelerotik oft fast zum Orgasmus, Wer sich wieder
mit Wollust hauen läßt, empfindet vorerst von seiner Entblößung ad
Posteriora hohen Genuß, zum zweiten dann von der mächtigen Haut- und
Muskelerregung, die die niedersausenden Hiebe verursachen. Manche
rühmen geradezu die folgende wohlige Wärme am Gesäß und verspüren
oft gleichzeitig intensive Lust an den Genitalien.,
Wir kommen da wieder auf die schon eingangs berührten Faktoren:
1. die besondere Disposition, die angeborene Verstärkung der Schau- und
Exhibitionslust, hier beide auf Gesäß und Schenkel gerichtet, und ferner der
Haut- und Muskelerotik; 2. die begünstigende Erziehung, vornehmlich
auf Rechnung der Mutter zu setzen. Für die erstere lassen sich außer
dem bisher schon Angeführten noch mancherlei Belege erbringen. So be-
richten viele Flagellanten übereinstimmend, als Kinder hätten sie beim
Anblick einer Züchtigung von Geschwistern oder Schulkameraden auf
das nackte Gesäß ihre erste sexuelle Regung oder gar schon Erektionen
empfunden. In anderen Fällen wieder treten diese auf, wenn man in
„Onkel Toms Hütte“ oder in römischen Kulturgeschichten von Geißelun-
gen der Sklaven liest. Ein Patient mit Autoflagellantismus hat Exhibitions-
träume, zu denen er als eigenen Einfall vorbringt: wenn ihm als Kind
etwas Menschliches passiert sei und dann die Nates frisch gewaschen und
gesäubert wurden, dann habe er sich mit diesen vor den Pflegepersonen
geradezu produziert; etwa die Kleidchen hochgehoben: jetzt sei alles
sauber. Dies Reinigen am Gesäß, also die Erregung seiner Hauterotik,
habe ihm ganz sicher schon damals großes Vergnügen bereitet. Daß er
jetzt beim Selbstschlagen die Wärme ad nates so wohlig empfinde, gehe
darauf zurück, daß, wenn er als Kind auf dem Schoße seiner Mutter
saß, er von ihrer durchgefühlten Körperwärme infolge gesteigerter Haut-
erotik besonderes Vergnügen hatte. Ähnliches berichten auch viele
andere. So erzählte ein homosexueller Flagellant mir folgende Erinnerung:
„In meinem fünften Lebensjahr trug ich einen Matrosenanzug aus sehr
dünnem Leinen. Meine um zwölf Jahre ältere Cousine liebte es, mich in
diesem Aufzug auf ihrem linken Knie reiten zu lassen, wobei sie mit
dem Knie unter ‘meine Genitalien und Gesäßbacken kam. Durch den
dünnen Anzug spürte ich das Bein und seine Wärme ganz deutlich und
sehr angenehm und konnte von diesem Spielen nicht genug bekommen.“
Von je einem Mann und einer Frau ist mir bekannt, daß sie als Ausdruck
besonderer Zärtlichkeit sich mit den Nates in den Schoß des geliebten
Wesens förmlich hineinbohrten, was beide gleichmäßig als Wiederholung
analogen Tuns bei der Mutter auffaßten, das ihnen stets ausnehmend
lustvoll gewesen war. Jener Mann berichtete noch außerdem: „Die
kleinste Berührung am Gesäß erregt mich jetzt. Wenn mir das Studieren
23*
356 Dr. J. Sadger.
zu langweilig wird, knie ich nieder, strecke die Globi heraus und er-
zeuge durch das Hin- und Herbewegen eine Reizung derselben, durch
die Hose. Noch stärker wird natürlich die Hauterregung durch ein leichtes
Streichen mit der Rute unten.“
Die Beziehung zur Mutter, die vorhin schon mehrfach angezogen
wurde, tritt am deutlichsten beim Tätscheln der Nates hervor, das gleich-
zeitig Haut- und Muskelerotik reizt und eine typisch mütterliche Lieb-
kosung darstellt. So nachhaltig lustvoll wirkt diese Zärtlichkeit, daß es
nur wenige Menschen gibt, die, wenn sie ausdrucksvolle Hinterbacken
sehen, nicht den Drang verspüren, einen kleinen Klaps dort hinaufzu-
pfeffern, Daß Schläge lustvoll zu werden vermögen, rührt neben der un-
erläßlichen konstitutionellen Verstärkung der Haut- und Muskelerotik
auch davon her, daß Schläge der Mutter gemeinhin nicht sonderlich
schmerzhaft sind und sich vom Tätscheln nicht allzuviel unterscheiden.
Einer meiner Kranken sagte sehr bezeichnend: „Charakteristisch ist,
daß ich mich in meinen Träumen gar nie gegen Schläge der Mutter
sträube, vielmehr dabei im besten Einvernehmen mit ihr bleibe.“ Allein
selbst Prügel von seiten des Vaters, die später so unangenehm zu werden
pflegen, daß sie einen Genuß sofort ausschließen, können in den ersten
Jahren des Kindes noch so sanft ausfallen, daß sie bei Disponierten nur
Lustgefühle wecken. So wurde dem vorgenannten Patienten von seinen
Eltern oft erzählt, mit zwei Jahren sei er nach einer Züchtigung durch
den Vater diesem — um den Hals gefallen. Er habe also offenbar damals
die Prügel als Zärtlichkeit genommen.
Noch ein Zusammenhang dünkt mich bemerkenswert, der zwischen
der Gesäßerotik und manchen Formen des Narzißmus besteht. Als eine
der Wurzeln des letzteren deckte ich bereits in einer früheren Arbeit die
Bewunderung des Kindes durch die Mutter auf. Während andere Formen,
zumal bei Knaben, an die Überschätzung der Genitalien anknüpfen, ist
eine frühere, die beiden Geschlechtern gleichmäßig eigen, ganz sicher von
den Nates ausgehend, die die Mutter stets wieder bewundernd zärtelt.
Bei Knäblein tritt mit den ersten Hosen, welche gegenüber dem ge-
schlechtslosen, aber weiten Kleidchen doch immer eine gewisse Stramm-
heit bedingen, eine neue Periode der Bewunderung durch die Umgebung
ein und damit Verstärkung jener narzißtischen Selbstüberschätzung.
Zum Schlusse will ich noch drei Symptome der Gesäßerotik an-
führen, die ich bei einem 26jährigen Studenten fand aus schwer anal-
erotischer Familie. Vater und Mutter, alle vier Kinder, eine Tante, ein
Cousin zeigen typische und polymorphe Analerotik und Analcharakter.
Der Kranke selber hat nach seiner Angabe einen sehr kleinen Penis,
was vorzüglich beigetragen haben soll, daß er den normalen Koitus nur
selten und mit wenig Genuß ausübte. Hingegen waren seine Nates so
überaus stark entwickelt, daß eine Dirne beim ersten Anblick derselben
Über Gesäßerotik. 357
in Verwunderung ausbrach über die kolossale Fülle, welche übrigens auch
seine Mutter und Schwester in gleicher Art aufweisen. Während ihn das
eigentliche Genitale und seine Betätigung nie interessierten, beschäftigen
ihn lebhaft die Posteriora und die Afterspalte, sowohl bei sich selbst als
bei Frauen und Männern. Auch direkt päderastische Akte bei beiden
Geschlechtern sind ihm durchaus nicht fremd. Dies vorausgeschickt, will
ich ein Stück der Analyse vom neunten Tage wiedergeben, das drei sehr
beachtenswerte Symptome brachte:
„In der Volksschule hatte ich die merkwürdige Gewohnheit, beim
Schreiben ganze Buchstaben wegzulassen. Der Lehrer nannte es direkt
eine Auslassungskrankheit. Später war es auch noch, aber nicht lange
mehr.“ — „Ließen Sie vielleicht gewisse Buchstaben besonders gern
weg?“ — „An das kann ich mich nicht erinnern. Aber etwas anderes
fällt mir ein: in den letzten Jahren passierte mir z. B., daß ich 1781
schreiben wollte und tatsächlich 1871 schrieb, also die Ziffern um-
kehrte.“ — „Das wird ein Symptom Ihrer Gesäßerotik sein. Sie be-
absichtigten eigentlich das Genitale umzukehren, da Sie die Vorderseite
nicht interessierte, nur die Posteriora.* — „Ich wollte z. B. ‚Abend‘
schreiben und setzte statt dessen Abnd mit Weglassung des ,‚e‘ oder,
noch bezeichnender, ich ließ dort direkt einen freien Platz.“ — „Also
zwei Hälften und einen freien Raum dazwischen, d.h. die Hinterbacken
und die Afterspalte. Ließen Sie gewöhnlich die Buchstaben in der Mitte
weg?* — „Das kann ich nicht beschwören, aber wahrscheinlich.* —
„Was ist nun mit der Zahl 1781?* — „Da weiß ich gar nichts.“ —
1—+7 gäbe 8, und die liegende 8 (©) stellten wieder die beiden Nates
vor mit der Einschnürung, der crena ani, in der Mitte.!) 1 steht er-
fahrungsgemäß für das Membrum und Sie liebten ja auch, wie Sie mir
sagten, den Penis, die 1, zwischen die Hinterbacken zu stecken.“ —
„Ja, in der dritten Gymnasialklasse dachte ich sogar, es wäre nicht
schlecht, wenn man das eigene Glied nach rückwärts in den Anus
stecken könnte,“
Das wären also drei Symptome der Gesäßerotik: 1. Umkehrung
einer Zahl in Nachahmung eines heimlichen Wunsches, die Posteriora als
Genitale zu gebrauchen?); 2. Auslassung eines mittleren Buchstabens, um
!) Die Nates heißen im Volksmunde „die Achterbacken“.
*) Man ist sonst gewohnt, diese Umkehrung auf Homosexualität zu beziehen. Das
trifft nun in unserem Fallenicht zu. Denn auch seine wenigen homosexuellen Neigungen
entsprangen wesentlich der Gesäßerotik. In einem Falle extremer Autoerotik, in specie
Autoflagellantismus mit stark hervortretender Gesäßerotik, gab der Kranke an: „Mit
7, 8 Jahren fand ich ein besonderes Vergnügen darin, mich verkehrt ins Bett zu legen,
das Kopfkissen herumzudrehen und mit dem Kopf dort zu liegen, wo sonst die Füße
liegen. Das war mit einem großen Vergnügen verknüpft, ein eigenartiges behagliches
Gefühl. Als kleines Kind hatte ich ferner einen Wandspruch über meinem Bett, den
358 Dr. J. Sadger.
auf diese Weise zwei Hälften und eine Lücke zu erhalten, nates — crena;
und endlich 3. daß sogar eine Zahl als Symbol der Päderastie beziehungs-
weise immissio membri intra nates gewählt wird. Sache der weiteren
Erfahrung muß sein, den beschriebenen Fall durch analoge zu bestätigen
oder zu ergänzen.
ich auch immer verkehrt las, von rückwärts nach vorn. Das ist eine Spielerei, die ich
auch jetzt noch häufig übe. Oder ich verdrehe die Vokale, sage z. B. statt ‚Handtuch‘
‚Hundtach‘ ete.“.
Mitteilungen.
1 A
Aus dem infantilen Seelenleben.
E.
Zwei Kinderlügen.
Von Sigm. Freud.
Es ist begreiflich, daß Kinder lügen, wenn sie damit die Lügen der
Erwachsenen nachahmen. Aber eine Anzahl von Lügen von gut geratenen
Kindern haben eine besondere Bedeutung und sollten die Erzieher nachdenk-
lich machen anstatt sie zu erbittern. Sie erfolgen unter dem Einfluß über-
starker Liebesmotive und werden verhängnisvoll, wenn sie ein Mißverständnis
zwischen dem Kinde und der von ihm geliebten Person herbeiführen,
I.
Das 7jährige Mädchen (im zweiten Schuljahr) hat vom Vater Geld ver-
langt, um Farben zum Bemalen von Östereiern zu kaufen. Der Vater hat
es abgeschlagen mit der Begründung, er habe kein Geld. Kurz darauf ver-
langt es vom Vater Geld, um zu einem Kranz für die verstorbene Landes-
fürstin beizusteuern. Jedes der Schulkinder soll 50 Pfennige bringen. Der
Vater gibt ihr 10 Mark; sie bezahlt ihren Beitrag, legt dem Vater 9 Mark
auf den Schreibtisch und hat für die übrigen 50 Pfennige Farben gekauft,
die sie im Spielschrank verbirgt. Bei Tische fragt der Vater argwöhnisch,
was sie mit den fehlenden 50 Pfennig gemacht, und ob sie dafür nicht doch
Farben gekauft hat. Sie leugnet es, aber der um 2 Jahre ältere Bruder, mit
dem gemeinsam sie die Eier bemalen wollte, verrät sie; die Farben werden
im Schrank gefunden. Der erzürnte Vater überläßt die Missetäterin der
Mutter zur Züchtigung, die sehr energisch ausfällt. Die Mutter ist nachher
selbst erschüttert, als sie merkt, wie sehr das Kind verzweifelt ist. Sie lieb-
kost es nach der Züchtigung, geht mit ihm spazieren, um es zu trösten,
Aber die Wirkungen dieses Erlebnisses, von der Patientin selbst als „Wende-
punkt“ ihrer Jugend bezeichnet, erweisen sich als unaufhebbar. Sie war bis
dahin ein wildes, zuversichtliches Kind, sie wird von da an scheu und zag-
haft. In ihrer Brautzeit gerät sie in eine ihr selbst unverständliche Wut, als
die Mutter ihr die Möbel und Aussteuer besorgt. Es schwebt ihr vor, es ist
doch ihr Geld, dafür darf kein anderer etwas kaufen. Als junge Frau scheut
360 Aus dem infantilen Seelenleben.
sie sich, von ihrem Manne Ausgaben für ihren persönlichen Bedarf zu ver-
langen und scheidet in überflüssiger Weise „ihr“ Geld von seinem Geld.
Während der Zeit der Behandlung trifft es sich einige Male, daß die Geld-
zusendungen ihres Mannes sich verspäten, so daß sie in der fremden Stadt
mittellos bleibt. Nachdem sie mir dies einmal erzählt hat, will ich ihr das
Versprechen abnehmen, in der Wiederholung dieser Situation die kleine
Summe, die sie unterdes braucht, von mir zu entlehnen. Sie gibt dieses Ver-
sprechen, hält es aber bei der nächsten Geldverlegenheit nicht ein und zieht
es vor, ihre Schmuckstücke zu verpfänden. Sie erklärt, sie kann kein Geld
von mir nehmen. |
Die Aneignung der 50 Pfennige in der Kindheit hatte eine Bedeutung,
die der Vater nicht ahnen konnte. Einige Zeit vor der Schule hatte sie ein
merkwürdiges Stückchen mit Geld aufgeführt. Eine befreundete Nachbarin
hatte sie mit einem kleinen Geldbetrag als Begleiterin ihres noch jüngeren
Söhnchens in einen Laden geschickt, um irgend etwas einzukaufen. Den Rest
des Geldes nach dem Einkauf trug sie als die ältere nach Hause. Als sie
aber auf der Straße dem Dienstmädchen der Nachbarin begegnete, warf sie
das Geld auf das Straßenpflaster hin. Zur Analyse dieser ihr selbst uner-
klärlichen Handlung fiel ihr Judas ein, der die Silberlinge hinwarf, die er
für den Verrat am Herrn bekommen. Sie erklärt es für sicher, daß sie mit
der Passionsgeschichte schon vor dem Schulbesuch bekannt wurde. Aber
inwiefern durfte sie sich mit Judas identifizieren ?
Im Alter von 3!/, Jahren hatte sie ein Kindermädchen, dem sie sich
sehr innig anschloß. Dieses Mädchen geriet in erotische Beziehungen zu
einem Arzt, dessen Ordination sie mit dem Kinde besuchte. Es scheint, daß
das Kind damals Zeuge verschiedener sexueller Vorgänge wurde. Ob sie sah,
daß der Arzt dem Mädchen Geld gab, ist nicht sichergestellt; unzweifelhaft
aber, daß das Mädchen dem Kind kleine Münzen schenkte, um sich seiner
Verschwiegenheit zu versichern, für welche auf dem Heimwege Einkäufe
(wohl an Süßigkeiten) gemacht wurden. Es ist auch möglich, daß der Arzt
selbst dem Kinde gelegentlich Geld schenkte. Dennoch verriet das Kind sein
Mädchen an die Mutter, aus Eifersucht. Es spielte so auffällig mit den heim-
gebrachten Groschen, daß die Mutter fragen mußte: Woher hast du das Geld?
Das Mädchen wurde weggeschickt.
Geld von jemandem nehmen, hatte also für sie frühzeitig die Bedeutung
der körperlichen Hingebung, der Liebesbeziehung, bekommen. Vom Vater
Geld nehmen, hatte den Wert einer Liebeserklärung. Die Phantasie, daß der
Vater ihr Geliebter sei, war so verführerisch, daß der Kinderwunsch nach
den Farben für die Ostereier sich mit ihrer Hilfe gegen das Verbot leicht
durchsetzte. Eingestehen konnte sie aber die Aneignung des Geldes nicht,
sie mußte leugnen, weil das Motiv der Tat, ihr selbst unbewußt, nicht einzu-
gestehen war. Die Züchtigung des Vaters war also eine Abweisung der ihm
angebotenen Zärtlichkeit, eine Verschmähung, und brach darum ihren Mut.
In der Behandlung brach ein schwerer Verstimmungszustand los, dessen Auf-
lösung zu der Erinnerung des hier Mitgeteilten führte, als ich einmal genötigt
war die Verschmähung zu kopieren, indem ich sie bat, keine Blumen melır
zu bringen.
Für den Psychoanalytiker bedarf es kaum der Hervorhebung, daß in
dem kleinen Erlebnis des Kindes einer jener so überaus häufigen Fälle von
Fortsetzung der früheren Analerotik in das spätere Liebesleben vorliegt. Auch
die Lust, die Eier farbig zu bemalen, entstammt derselben Quelle.
Sigm. Freud: Zwei Kinderlügen. 361
1.
Eine heute infolge einer Versagung im Leben schwerkranke Frau war
früher einmal ein besonders tüchtiges, wahrheitsliebendes, ernsthaftes und
gutes Mädchen gewesen und dann eine zärtliche und glückliche Frau geworden.
Noch früher aber, in den ersten Lebensjahren, war sie ein eigensinniges und
unzufriedenes Kind gewesen, und während sie sich ziemlich rasch zur Übergüte
und Übergewissenhaftigkeit wandelte, ereigneten sich noch in ihrer Schulzeit
Dinge, die ihr in den Zeiten der Krankheit schwere Vorwürfe einbrachten
und von ihr als Beweise gründlicher Verworfenheit beurteilt wurden. Ihre
Erinnerung sagte ihr, daß sie damals oft geprahlt und gelogen hatte. Einmal
rühmte sich auf dem Schulweg eine Kollegin: Gestern haben wir zu Mittag
Eis gehabt. Sie erwiderte: Oh, Eis haben wir alle Tage. In Wirklichkeit
verstand sie nicht, was Eis zur Mittagsmalzeit bedeuten sollte; sie kannte
das Eis nur in den langen Blöcken, wie es auf Wagen verführt wird, aber
sie nahm an, es müsse etwas Vornehmes damit gemeint sein, und darum wollte
sie hinter der Kollegin nicht zurückbleiben.
Als sie 10 Jahre alt war, wurde in der Zeichenstunde einmal die Auf-
gabe gegeben, aus freier Hand einen Kreis zu ziehen. Sie bediente sich dabei
aber des Zirkels, brachte so leicht einen vollkommenen Kreis zu stande und
zeigte ihre Leistung triumphierend ihrer Nachbarin. Der Lehrer kam hinzu,
hörte die Prahlerin, entdeckte die Zirkelspuren in der Kreislinie und stelite
das Mädchen zur Rede. Dieses aber leugnete hartnäckig, ließ sich durch
keine Beweise überführen und half sich durch trotziges Verstummen. Der
Lehrer konferierte darüber mit dem Vater; beide ließen sich durch die
sonstige Bravheit des Mädchens bestimmen, dem Vergehen keine weitere Folge
zu geben.
Beide Lügen des Kindes waren durch den nämlichen Komplex motiviert.
Als älteste von fünf Geschwistern entwickelte die Kleine frühzeitig eine un-
gewöhnlich intensive Anhänglichkeit an den Vater, an welcher dann in reifen
Jahren ihr Lebensglück scheitern sollte. Sie mußte aber bald die Entdeckung
machen, daß dem geliebten Vater nicht die Größe zukomme, die sie ihm
zuzuschreiben bereit war. Er hatte mit Geldschwierigkeiten zu kämpfen, er
war nicht so mächtig oder so vornehm, wie sie gemeint hatte. Diesen Abzug
von ihrem Ideal konnte sie sich aber nicht gefallen lassen. Indem sie nach
Art des Weibes ihren ganzen Ehrgeiz auf den geliebten Mann verlegte, wurde
es zum überstarken Motiv für sie, den Vater gegen die Welt zu stützen. Sie
prahlte also vor den Kolleginnen, um den Vater nicht verkleinern zu müssen.
Als sie später das Eis beim Mittagessen mit „Glace* übersetzen lernte, war
der Weg gebahnt, auf welchem dann der Vorwurf wegen dieser Reminiszenz
in eine Angst vor Glasscherben und Splittern einmünden konnte.
Der Vater war ein vorzüglicher Zeichner und hatte durch die Proben
seines Talents oft genug das Entzücken und die Bewunderung der Kinder
hervorgerufen. In der Identifizierung mit dem Vater zeichnete sie in der
Schule jenen Kreis, der ihr nur durch betrügerische Mittel gelingen konnte.
Es war, als ob sie sich rühmen wollte: Schau her, was mein Vater kann!
Das Schuldbewußtsein, das der überstarken Neigung zum Vater anhaftete, fand
in dem versuchten Betrug seinen Ausdruck; ein Geständnis war aus demselben
Grunde unmöglich wie in der vorstehenden Beobachtung, es hätte das Ge-
ständnis der verborgenen inzestuösen Liebe sein müssen,
Man möge nicht gering denken von solchen Episoden des Kinderlebens.
Es wäre eine arge Verfehlung, wenn man aus solchen kindlicher Vergehen
362 Aus dem infantilen Seelenleben.
die Prognose auf Entwicklung eines unmoralischen Charakters stellen würde.
Wohl aber hängen sie mit den stärksten Motiven der kindlichen Seele zu-
sammen und künden die Dispositionen zu späteren Schicksalen oder künftigen
Neurosen an.
2
Über verschiedene Quellen kindlicher Schamhaftigkeit.
Von Dr. Josef K. Friedjung (Wien).
Jeder Kinderarzt wird die Erfahrung machen können, daß seine kleinen
Patienten etwa vom dritten Jahre an sich der notwendigen Entblößung gegenüber
sehr verschieden verhalten. Bei den Kindern der Armen, die ich täglich in
großer Zahl auf meiner Krankenabteilung sehe, ist von Schamhaftigkeit nur
selten etwas zu merken. Die engen überfüllten Wohnungen des Proletariats
sind wenig geeignet zur Aufrichtung kultureller, psychischer Schranken ; dazu
dürfte verstärkend das besondere Gewicht der ärztlichen Autorität solchen
Kindern gegenüber kommen, Desto häufiger sehe ich Äußerungen der Scham-
haftigkeit bei Kindern der wohlhabenden Bevölkerung, und es scheint mir
nicht uninteressant, daß sich dabei verschiedene Typen auseinanderhalten
lassen.
Manche Kinder, sonst durchaus nicht ängstlich, sträuben sich gegen die
Entkleidung vor der ersten Untersuchung ; einige verständige Worte besiegen
indes leicht diese Schamhaftigkeit, die den Eindruck des Gekünstelten, von
den Erziehern oberflächlich Beigebrachten macht. Andere wieder machen zur
Bedingung ihrer Entblößung die Entfernung einer oder mehrerer ihnen nahe-
stehender Personen (Großmutter, Tante, Cousine, Vater usw.). - Diese
Spielart der Schamhaftigkeit, auf die ich bereits einmal hingedeutet habe), ist
bereits komplizierterer Natur und setzt wohl in der Regel bestimmte seelische
Beziehungen des Kindes zu diesen gewissen Personen voraus. Ein Spezialfall
dieser Gruppe ist vielleicht die ältere Schwester, ein fünfjähriges Mädchen,
die sich nur dann untersuchen läßt, wenn der zweijährige Bruder aus dem
Zimmer entfernt wird; vergebens hält ihr die Mutter vor, sie wolle doch
immer dabei sein, wenn der Kleine gebadet wird. Hier spielt vielleicht der
von Freud in seiner Bedeutung erkannte Penisneid eine Rolle.
Etwas ausführlicher möchte ich heute von einer dritten oder vierten
Type sprechen, deren besonderes Verhalten mir schon seit langem aufgefallen
war. Diese Kinder machen bei der Entkleidung und Entblößung zunächst
keine Schwierigkeiten. Will ich aber nach der Untersuchung der Brust- und
Bauchorgane die Genitalien besichtigen, so wehren sie sich plötzlich oder
auch, nachdem sie schon vorher, Gefahr witternd, mehr und mehr beunruhigt
schienen, mit solcher Kraft und, wenn sie schon stark genug sind, mit solch
rücksichtslosem Umsichschlagen, daß die Untersuchung nur mit Gewalt durch-
gesetzt werden kann. Diese Schamhaftigkeit, die jede Entblößung zuläßt,
nur gerade die Inspektion der Geschlechtsteile nicht, schien mir schon lange
etwas besonderes, und als ich die Häufigkeit der Onanie im Kindesalter
kennen lernte?), gab ich bei mir der Vermutung Raum, daß es sich bei
den Kindern dieser Art vielleicht um die Furcht vor Entdeckung ihrer
!) Friedjung, Ein Beispiel einer kindlichen Phobie. Zentralbl. f. Psychoanalyse.
II. Jahrg., H. 10./11.
?) Friedjung, Beobachtungen über kindliche Onanie. Zeitschr. f. Kinderheilk.
Bd. IV. H. 4.
Dr. J. K, Friedjung: Über verschiedene Quellen kindlicher Schamhaftigkeit. 363
masturbatorischen Neigungen handle. Der Weg von der Vermutung zur
sicheren Überzeugung war dieses Mal ziemlich kurz und führte über zwei
Beobachtungen.
Vor etwa !/, Jahre wurde ich wegen eines achtjährigen Knaben zu Rate
gezogen. Alltäglich finde man ihn seit einigen Wochen bald nach dem
Schlafengehen in Schweiß gebadet, der Knabe sehe blaß aus, sei aber sonst
sehr munter; da die Eltern von den Nachtschweißen Tuberkulöser gehört
hatten, gerieten sie in große Besorgnis. Ich bekam einen kräftigen, mun-
teren, körperlich und geistig gut entwickelten Jungen zu sehen. Die Unter-
suchung der inneren Organe ergab einen durchaus normalen Befund, nichts
konnte auch nur den Verdacht einer Tuberkulose begründen. Als ich das
Genitale besichtigen wollte, begann der bis dahin recht artige Kleine förmlich
zu toben und sinnlos um sich zu schlagen. Die Mutter war nicht überrascht:
das gleiche Benehmen hatte sie auch’schon bei einem anderen Arzte beobach-
tet. Ich machte mir die Vorstellung, jene Schweißausbrüche seien die Höhe-
punkte masturbatorischer Akte, und der Knabe fürchte die Entdeckung.
Jedenfalls konnte ich die Eltern beruhigen und dem Vater, dem ich meinen
Verdacht verriet, einige erzieherische Winke geben. Sicher war ich meiner
Deutung noch nicht, wenn mich auch die Angabe der Mutter in ihr bestär-
ken mußte, der Knabe liebe es, die Bettdecke bis überdas Gesicht zu ziehen ;
blieben die Arme aber einmal unbedeckt, so bleibe auch der Schweißausbruch
aus. Kürzlich wurde ich aber zu einem sechsjährigen Mädchen gerufen, das ich
schon seit der Geburt kenne, und das seit jeher gewohnt war, bei fieberhaften
Erkrankungen per rectum gemessen zu werden. Weder dabei, noch bei der
Untersuchuug hatten sich früher irgend welche Schwierigkeiten ergeben. Nun
aber klagte die Mutter, das Kind benehme sich bei der wegen einer leichten
Grippe notwendigen regelmäßigen Temperaturmessung jedesmal wie „eine
Hysterische“. Sie fürchte sich, weine, sträube sich heftig, die Messung sei
nur mit Gewalt durchzusetzen ; liege das 'Thermometer im rectum, so beru-
hige sie sich wohl, gleich danach aber beginne sie schon vor der nächsten
Messung zu bangen, die doch erst etwa acht Stunden später erfolge. Schmerzen
habe sie dabei nach der eigenen Versicherung nicht. Eine Fissur konnte
ich später ausschließen. Ich glaubte nun zunächst, die Messung leicht durch-
führen zu können, wenn ich mit dem Kinde allein bleibe. Ich begegnete
indes demselben Widerstande wie die Mutter. Alsdie Kleine dann endlich mit dem
Thermometer im rectum ruhig dalag, fragte ich sie, warum sie sich denn vor
dem Messen so ängstige. „Ich fürchte mich, daß man es in das falsche Loch
steckt“, lautete die Antwort. Wenn diese Befürchtung, mindestens dem
Arzte gegenüber, nicht sehr glaubhaft schien, so mußte mir dagegen die
genaue anatomische Orientierung der Sechsjährigen auffallen. Die sehr intelligente
Mutter bestätigte nun die von mir geäußerte Vermutung, daß das Kind öfters an
den Genitalien spiele: wiederholt habe sie es ihr schon verboten. Traf
meine Annahme zu, daß auch dieses Mädchen fürchte, man könnte an ihrem
Genitale die Fortsetzung des verbotenen Tuns erkennen, so mußte das Ther-
mometer an sich ohne Bedeutung sein. Ich tat also nächstens so, als müßte
ich die Geschlechtsteile untersuchen: siehe da, dasselbe Sträuben wie früher,
trotzdem ich die Kleine erinnerte, daß ich doch jetzt kein "Thermometer
habe! Nun entwickelte sich folgendes Zwiegespräch : Ich: „Warum fürchtest
du dich denn vor dem Messen und Untersuchen?* Sie: „Ich fürchte mich,
aber ich kann nicht sagen, warum,“ Ich: „Mir kannst du alles sagen: du
weißt doch, daß ich dich lieb habe.“ ,Sie: „Ich fürchte mich, daß man
sieht, daß ich die Hände immer hinuntergebe.“* — Damit war
364 Aus dem infantilen Seelenleben.
die scheinbare Phobie oder „Hysterie“ auf die von mir vermutete Weise auf-
geklärt. Es wird wohl gestattet sein, anzunehmen, daß es sich hier nicht um
einen vereinzelten Fall handelt, sondern daß diese Erklärung auf viele der
von mir skizzierten Fälle anwendbar sein dürfte.
Für den Psychologen mag es nicht ohne Interesse sein, dieser kurzen
Mitteilung zu entnehmen, aus welch verschiedenen Quellen die scheinbar
undifferenzierte Schamhaftigkeit der Kinder gespeist wird. Der Psychothera-
peut aber wird es gern hören, daß die Kleine, nachdem ich ihr versichert
hatte, wir seien gar nicht so geschickt, die Onanie so leicht an den Geschlechts-
teilen zu erkennen, bei der nächsten Untersuchung keine Schwierigkeiten
mehr machte. Vielleicht geben solche Beobachtungen an Kindern den Schlüssel
zu mancher übertriebenen Schamhaftigkeit Erwachsener, die die Erinnerung
an ihre infantile Masturbation längst ins Unbewußte verdrängt haben.
3.
Psychische Nachwirkungen der Beobachtung des elterlichen
Geschlechtsverkehrs bei einem neunjährigen Kinde.
Mitgeteilt von Dr. Karl Abraham (Berlin).
Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat zur Mitteilung solcher, in der
Kindheit vorgefallener Träume aufgefordert, deren Deutung zum Schlusse be-
rechtigt, daß die Träumer in frühen Kinderjahren Zuschauer sexuellen Ver-
kehrs gewesen sind. Der nachfolgende Beitrag entspricht diesen Anforderun-
gen insofern nicht ganz, als die Beobachtung des elterlichen Koitus in diesem
Falle nicht in die frühesten Kindheitsjahre fällt, sondern mit größter Wahr-
scheinlichkeit unmittelbar vor dem Auftreten des mitzuteilenden Traumes und
der neurotischen Angst stattgefunden hat. Dennoch halte ich die Veröffent-
lichung für berechtigt, weil der Fall mit seltener Deutlichkeit erkennen läßt,
wie ein zur Neurose disponiertes Kind auf ein Erlebnis wie das genannte reagiert.
Ich wurde zu einem 9°/, Jahre alten Mädchen gerufen, welches seit
kurzem an Angstzuständen litt.
Zehn Tage vor der Konsultation war die Kleine am Abend in gewohnter
Weise zu Bette gebracht worden. Nach mindestens einstündigem Schlaf rief
sie durch Angstschreie ihre Mutter, welche sich im anstoßenden Wohnzimmer
aufhielt, herbei. Sie erzählte der Mutter mit allen Anzeichen des Entsetzens
einen Traum: „Ein Mann hat dich in deinem Bett ermorden
wollen, ich habe dich aber gerettet.“ Während dieser Mitteilung
vermochte sie zwischen Traum und Wirklichkeit noch nicht zu unterscheiden.
Als die Mutter ihr beruhigend zusprach, antwortete sie mit entsetztem Aus-
druck: „Ach, du bist ja gar nicht meine Mutter.“ Hernach äußerte sie Angst
vor Gegenständen im Zimmer, die sie als Tiere verkannte. Erst nach geraumer
Zeit trat Beruhigung ein. Die Kleine schlief bis zum Morgen, erklärte dann,
in der Nacht gut und ungestört geschlafen zu haben und sich ganz wohl zu
fühlen. Auf vorsichtiges (und daher nur oberflächliches) Befragen von seiten
der Eltern wußte sie sich des oben geschilderten Vorganges anscheinend
nicht zu erinnern.
Bei der Patientin hatte sich an einen schweren Angsttraum ein Dämmer-
zustand angeschlossen, Epileptische Antezedentien fehlten gänzlich; Symptome,
welche eindeutig für eine Geisteskrankheit (im engeren Sinne) gesprochen
hätten, lagen nicht vor. Die weitere Entwicklung des Zustandes und der
nachfolgende von mir erhobene Befund ließen einen hysterischen Dämmer-
zustand annehmen.
Dr. Karl Abraham : Beobacht. des elterl. Geschlechtsverk. bei einem 9jähr. Kinde. 365
Die Patientin bot in den folgenden Tagen mannigfache Krankheits-
erscheinungen. Sie war schreckhaft und neigte zum Zusammenzucken. Mehr-
fach bot sie in der Unterredung mit der Mutter Symptome dar, die dem
„Vorbeireden* (Ganser) sehr ähnelten, Abends trat wiederholt starke Angst
auf. Patientin hatte einigemal Tiervisionen ; u.a. wurde sie, wie sie mir bei Gelegen-
heit meines Besuches erzählte, von einer Schlange erschreckt, die in ihr Bett kroch
und sie ins Bein beißen wollte. Sie ängstigte sich, das Klosett aufzusuchen, weil
dort schwarze Männer erschienen, die ihr mit dem Finger drohten. Sodann fand
sich bei der Patientin eine ausgesprochene Astasie und Abasie und, als Be-
gleiterscheinung, Angst vor dem Fallen. Suggestiv ließ sich diese Störung
schnell soweit beeinflussen, daß ich die Patientin durch das Zimmer führen
konnte, sie nur ein wenig am Ärmel haltend. Sie konnte schließlich, zwar
noch taumelnd, aber ohne zu fallen allein zum Bett zurückkehren. Symptome
einer organisch bedingten Lähmung fanden sich nicht vor.
Patientin berichtete auf mein Befragen, daß sie in letzter Zeit oft Angst-
träume gehabt habe. Als ich sie bat, einen solchen zu erzählen, brachte sie
sofort den oben angeführten Traum vor, obwohl sie in den voraufgegangenen
Tagen von den Eltern nicht an ihn erinnert worden war. Die Amnesie für
den Abend, an welchem die Krankheit ausgebrochen war, konnte also höchstens
eine partielle sein. |
Da ich nur zu einer Konsultation zugezogen war, mußte ich mich der
Patientin gegenüber mit der Erhebung des Befundes und einigen beruhigenden
psychotherapeutischen Maßnahmen begnügen. Mit Hilfe des Vaters der
Patientin suchte ich in ätiologischer Richtung weiter vorzudringen.
Der Angsttraum der Patientin hatte in mir sogleich die Vermutung
erweckt, sie sei Zeugin des elterlichen Geschlechtsverkehrs gewesen, habe den
Eindruck in typisch kindlicher Weise („sadistische“ Theorie des Koitus) ver-
arbeitet und dann im Traum eine Wiederholung der Szene erlebt.
Da das Zimmer, in welchem die Kleine lag, auch die Betten der Eltern
enthielt, so teilte ich dem Vater meine Vermutung mit und begründete sie
kurz. Ich fand sofort Verständnis. Der Vater erklärte, er könne meiner
Ansicht nur zustimmen, Er fügte hinzu, die Kleine werde außer dem Koitus
in letzter Zeit auch gelegentliche heftige Auseinandersetzungen der Eltern
angehört haben, die nach dem Schlafengehen stattfanden. Hiedurch würde
die „Ermordung“ der Mutter neben der sexuellen noch eine weitere De-
termination erhalten,
Die dem Ödipuskomplex des Sohnes analoge Einstellung der Tochter
zeigt sich im vorliegenden Fall in nicht zu verkennender Weise. Die Tochter
träumt von einem Mordanschlag auf die Mutter. Der Sinn dieser Phantasie
wird dadurch nicht geändert, daß die Träumerin ihre Mutter „rettet“, Ginge
dies nicht schon aus der bekannten Bedeutung der Rettungsphantasien hervor,
so brauchte nur darauf verwiesen zu werden, daß die Patientin unmittelbar
nach dem Traum die Mutter verleugnete; sie entledigte sich ihrer also in
einer Form, wie sie uns besonders von den „Abstammungsphantasien“ her
wohlbekannt ist. Ihr selbst nähert sich — als halluzinatorische Erscheinung
im Wachen — die Schlange, die als männliches Symbol offenbar den Vater
vertritt. 2) Die Angabe, daß die Schlange sie habe ins Bein beißen wollen,
machte die Patientin unter deutlichem Zögern und mit verändertem Gesichts-
ausdruck ; sie schien mir hier etwas zu verschleiern. Wahrscheinlich nannte
!) Vgl. hiezu meine Ausführungen „Über ein kompliziertes Zeremoniell neuro-
tischer Frauen“. Zentralbl. f£. Psychoanalyse, Jg. II, 1912.
366 | Aus dem infantilen Seelenleben.
sie das Bein an Stelle des Genitale, nach Analogie der Fabel vom Storch,
der die Frauen ins Bein beißt.
Eine so akut einsetzende, so intensive und in ihren Erscheinungen für
den Psychoanalytiker so durchsichtige Verarbeitung des Elternkomplexes be-
rechtigt, wie ich meine, zu der Annahme, ein affektbetontes, mit den Eltern
in Zusammenhang stehendes Erlebnis habe auf das Kind eingewirkt. Die
äußeren Umstände sowie die Angaben des Vaters sind wohl geeignet, zu dem
Schlusse zu führen, das Kind habe unmittelbar vor dem Auftreten der ge-
schilderten Erscheinungen den Verkehr der Eltern beobachtet. Eine direkte
Befragung der Patientin war natürlich bei dieser einmaligen Unterredung nicht
angängig.
Allein zur Begründung eines so ernsten Krankheitszustandes konnte ein
solches Erlebnis des Kindes nicht ausreichen; auch war der Zusammenhang
gewisser Symptome mit dem erlittenen psychischen Trauma zum mindesten
unsicher. ) Eine Befragung des Vaters förderte einiges weitere Material zu
Tage. Die Patientin pflegte mit einer Nachbarstochter umzugehen, von der
es hieß, daß sie mit anderen Mädchen mutuelle Masturbation treibe. Es ergibt
sich nun die Vermutung, daß die Patientin, durch sexuelle Handlungen und
Gespräche mit dieser Freundin aufgeregt, deswegen viel heftiger auf das im
elterlichen Schlafzimmer Erlebte reagiert habe, als sie es sonst getan haben
würde.
Die Angst vor Gestalten mit drohender Gebärde läßt ohne weiteres auf
ein Verschuldungsgefühl schließen und dieses würde sich nach. uns geläufigen
Erfahrungen am wahrscheinlichsten auf die Verübung unerlaubter sexueller
Handlungen zurückführen lassen. Daß jene Gestalten der Patientin gerade
im Klosett erschienen, ist gewiß nicht ohne Belang; ist doch dieses der
häufigste Schauplatz heimlicher Verbotsübertretungen der Kinder.
Die mitgeteilte fragmentarische Analyse läßt uns besonders nach einer
Richtung hin unbefriedigt. Wir werden durch die Assoziationen der Patienten
in der Regel auf früh-infantile Wünsche und Eindrücke aufmerksam
gemacht, von welchen die neurotischen Symptome ihren Ausgang genommen
haben. Ein Vordringen bis in die tiefen Schichten des Unbewußten war im
vorliegenden Falle nicht möglich. Ich vermute, es würde ergeben haben, dab
der aktuelle Eindruck, unter dem die Patientin stand, seine wichtigste Ver-
stärkung aus dem Unbewußten bezog, d. h. von verdrängten, der ersten Kind-
heitsperiode angehörigen Erinnerungen verwandter Art. Doch ließ sich, wie
gesagt, ein bezüglicher Nachweis nicht führen.
Ich halte den Schluß für berechtigt, daß die Beobachtung des elterlichen
Koitus den Anstoß zum Ausbruch der Psychoneurose gegeben habe, deren
erstes merkbares Symptom ein schwerer Angsttraum mit anschließendem
Dämmerzustand bildete.
4.
Ein Beitrag zur infantilen Sexualität.
Mitgeteilt von O. Rank.
Die folgenden für uns wertvollen Beobachtungen entstammen den ge-
wissenhaften Notizen einer Dame, deren Interesse für das Kinderleben
die Überlassung zur Mitteilung zu verdanken ist. Die betreffende Person hat
kaum eine Kenntnis von den psychoanalytischen Ergebnissen und Lehren und
!) Ich habe eine Deutung gewisser Symptome im Obigen absichtlich unterlassen,
weil mir genügende Grundlagen dafür zu fehlen schienen.
O. Rank: Ein Beitrag zur infantilen Sexualität. 367
hatte auf meinen Wunsch die Liebenswürdigkeit, mir ihr in gänzlich unvor-
eingenommener Weise gewonnenes Material zur Veröffentlichung zu überlassen.
Ich selbst habe mir nur wenige Bemerkungen dazu erlaubt.
„11, April 1912. Heute bemerkte ich zum erstenmal, daß der jetzt 3%/,jährige
Fritzel sexuelle Empfindungen habe und hätte nicht geglaubt, daß das bei einem
solchen Kinde möglich wäre, wenn es sich mir nicht in unzweifelhafter Weise
aufgedrängt hätte. Es ist mir auch mit einem Male klar geworden, daß
das schon längere Zeit in ihm steckte und sich geäußert hat, ohne daß ich
ihm Beachtung geschenkt hätte. Als ich heute nachmittags nach Hause kam
und schon halb ausgezogen (im Unterrock, aber noch mit der Bluse) zu ihm
hineinging, war er schon zum Nachmittagsschlaf ins Bett gelegt worden. Da
steht er im Bett auf, schaut mich mit einem ganz merkwürdigen neugierig
großen Blick an und sagt: „Wie schaust du heute aus?“ — Das ist mir
wohl aufgefallen, aber ich habe nichts weiter dabei gedacht, da er öfter der-
artige Bemerkungen mir gegenüber macht, was allerdings jetzt in einem
ganz anderen Lichte erscheint. So hat er unlängst, als ich einen außer-
gewöhnlichen Schlafrock anhatte, gefragt: „Warum bist du heute so schön ?* —
Ich sagte ihm jetzt: „Du mußt schlafen!“ aber er bat mich, bei ihm zu
bleiben. Ich sagte ihm, ich muß mir erst den Schlafrock anziehen, dann
komme ich, was ich ihm aber nur so versprochen habe. Ich gehe dann
ins andere Zimmer, aber er ruft mich fortwährend und will nicht schlafen. Öfter
fragt er durch die geschlossene Tür hindurch: „Was tust du?“ Und ich sagte:
„Ausziehen !* — Endlich bin ich doch hineingegangen, damit er Ruhe gibt;
ich geh zu seinem Bett und sage: „Jetzt wirst du aber schlafen, sonst kriegst
du Schläge!“ Da er mir immer aufs Wort folgt (sonst niemandem), legt er sich
auch jetzt hin; vorher aber faßt er heftig meine Hand und küßt sie mehr-
mals hintereinander fest: und leidenschaftlich, was er seit einiger Zeit täglich
tut, indem er oft direkt meine Hand verlangt. Ich hielt das bis jetzt für
Scherz und übertriebene Spielerei und sagte darum auch jetzt zu ihm:
„Geh’ nur, du Falscher !* —
Wie er dann aufgewacht ist, bin ich wieder zu ihm ins Zimmer gegan-
gen. Ich fasse ihn an der Hand und sage; „Steh auf“, da hat er mich in
die Hand gebissen, wofür er ein paar über den Mund bekam. Dann sast er,
wie fast täglich, ich soll mich zu ihm aufs Bett setzen, und wie ich es tue
will er mich — wie er es auch oft tut — mit der Hand um den Hals
fassen, was ich abwehre. Da versucht er, die Hand unter meinen Sitz am
Bettrand zu zwängen, und als ich ihm das als grobe Unart verweise, sagt er:
„Ich könnt’ dir in’ Hintern hineinbohren!“ — Ich zeige ihm meine Ent-
rüstung über diesen Ausdruck und drohe ihm schwere Strafen für den Fall
der Wiederholung an. Da ergreift er wieder meine Hand und küßt sie. —
Dann wird er angezogen, was auch nur geht, wenn ich dabei bin, und soll
mit dem Kindermädchen weggehen. Ich stehe mit verschränkten Armen und
einem vergesetzten Bein da und warte, bis sie fertig sind. Da fährt er
plötzlich auf mich los und drückt sich fest an mich, so daß mein vorgestelltes
Bein zwischen seine Beine kommt, dabei hat er mich eigentümlich gedrückt.
Ich stoße ihn zurück, worauf er wild sagt: „Ich könnte dich zerreißen, oder
dir den Kopf abhacken!“ Dabei erinnere ich. "ich, daß er schon seit einiger
Zeit, wenn ich ihm irgend etwas verweigere, immer wütend und fassungslos
sagt: „Ich könnte dich zerreißen! Ich könnte dir Hände, Füße und Kopf
abhacken ; oder den Mund abschneiden! —
Wie er nach Hause kommt, geht das Kindermädchen für eine Weile
weg und er ist bei mir allein. Ich lasse mich durch seine Anwesenheit nicht
368 Aus dem infantilen Seelenleben.
abhalten, Schuhe und Strümpfe zu wechseln. Wie er aber sieht, daß ich den
ersten Strumpf ausziehe, starrt er mich ganz paff an und ruft dann freude-
strablend : „Jeh, das ist schön!“ kommt zu mir gelaufen, erwischt den Fuß
und küßt ihn. -Ich bringe ihn zur Ruhe und frage ihn: „Hast du denn so
etwas noch nicht gesehen?“ Und er sagt: „Nein“ — Sein Benehmen war
ganz das eines verliebten Erwachsenen. Wie ich den andern Strumpf ausziehe
erwischt er wieder den Fuß und küßt ihn, dabei macht er eine eigentümliche
Bewegung auf mich los: er hebt nämlich sein kurzes Kleiderl ein wenig und
macht Anstalten, sich rittlings auf meinen vorgestreckten Fuß zu setzen. Ich
habe ihm das verwiesen und ihn zurückdrängen wollen, aber er hat den Fuß
festgehalten auch wie ich ihn um meine Schuhe geschickt habe. Ich hatte
bis jetzt immer noch keine klare Vorstellung von der wahren Natur seiner
Handlungsweise. Als er sich aber zum zweitenmal anschickte, sich rittlings
auf mein Bein zu setzen, da dachte ich mir, sollte er am Ende schon se-
xuelle Empfindungen haben und sie beiriedigen wollen? Nun bemerkte ich
auch, daß er sehr erregt war, ganz rot im Gesicht und einen eigentümlichen
Glanz in den Augen zeigte. Ich stieß ihn nun drohend weg, aber er sagte,
ich soll den Strumpf nicht anziehen und will ihn mir mit Gewalt aus der
Hand reißen, wobei er wütend war und neuerdings den Fuß küßte. Ich habe
ihn wieder böse weggestoßen, worauf er mich in den bereits angezogenen
Fuß zwickte und kratzte und wieder sagte: „Ich könnt’ dich zerreißen!* —
Ich frage: „Warum?“ — Er sagt: „Weil ich will!“ — Er ergreift dann,
da ich bereits Strümpfe und Schuhe anhabe, die ausgezogenen Strümpfe und
läuft damit hinaus in die Küche, wo das Kindermädchen bereits wieder war.
In seiner Aufregung hat er sie aber gar nicht bemerkt. Ich glaube, daß er
die Strümpfe genommen hat, damit ich dann keine mehr zum Anziehen
habe, denn wie ich sie ihm abgenommen habe, kommt er wieder zu mir
herein und sagt: „Geh zieh wieder den Schuh aus!“ Ich frage: „Warum ?“
Er: „Weil ich möchte!“ — Schon bevor ich die Strümpfe wechseln wollte,
habe ich gesagt, er soll zum Kindermädchen hinausgehen, die schon zurück
war; aber er hat immer gesagt, er hört sie nicht, sie ist noch nicht da,
offenbar weil er bei mir bleiben wollte. Als er dann in die Küche lief, hat
er das Mädchen immer noch nicht bemerkt, weil er sie nicht bemerken
wollte und lieber wieder zu mir ging. — Nun, nachdem die Umkleidung zu
Ende war und ich ihn so oft zurechtgewiesen hatte, sagte er plötzlich: „Du,
ich möchte hinausgehen, ist die Betti schon hier?“ — Ich sage: „Gewiß
ist sie hier, hast du sie denn nicht gesehen?* — Da sagte er: „Ichfürchte
mich hinauszugehen, komm mit!“ — Es ist das erstemal, daß ich das
von ihm gehört habe, und darum ist es mir besonders aufgefallen. Ich habe es
mir so erklärt, daß er gewiß schon wußte, er habe etwas Verbotenes gemacht,
und nun Angst hatte, man werde es erfahren. Dazu stimmt auch sein
auffälliges Verhalten gegen das Kindermädchen, dem er sonst jede Kleinig-
keit aus seinen Erlebnissen mit mir sofort erzählt. Von diesem Vorfall ist
aber kein Wort über seine Lippen gekommen. Dieses Gefühl, etwas Ver-
botenes getan zu haben, kann sich aber vielleicht auf noch mehr beziehen.
Als ich nämlich Schuhe und Strümpfe bereits gewechselt hatte, fiel mir auf,
daß der Junge fortwährend im Zimmer herumtanzte und sich dabei wieder-
holt an das Glied gegriffen hatte, als wäre er naß, oder als hätte er Not.
Ich dachte, er wolle vielleicht auf die Seite gehen, habe ihn aber nicht
gefragt. Jetzt scheint mir eher, daß er sich selbst befriedigt hat oder be-
friedigen wollte und ich erinnere mich jetzt auch, ihn öfter beim Liegen am
Gliede spielen gesehen zu haben. — Auffällig ist mir übrigens auch, daß er
Dr. Otto Rank: Ein Beitrag zur infantilen Sexualität. 369
seit kurzer Zeit wieder öfter das Bett näßt, was er sich fast schon ganz
abgewöhnt hatte. Heute wollte er nachmittags vor dem Niederlegen, wie das
Kindermädchen ärgerlich erzählte, nicht auf den Topf gehen, und hat bald
darauf, ohne noch zu schlafen, das Bett naß gemacht. Ich glaube, das wird
so zugegangen sein, daß er vielleicht wieder spielte und dabei den Drang
bekam. — Das frühere Kindermädchen hat ihm (als er noch nicht
drei Jahre alt war) gedroht, das Glied abzuschneiden,!) wenn er das Bett
immer naß machen wird. Auffällig ist, daß er gern mit Messern spielt, sich
aber oft in die Finger schneidet. — Unlängst hat er die Zunge herausge-
steckt, was ich ihm streng verwiesen habe. Heute verlangte er von mir,
ich soll meine Zunge herausstecken und macht es mir vor. Ich sage, das
tue ich nicht, weil mir sonst der Himmelvater die Zunge abschneidet und
ich nicht mehr sprechen kann, Das macht aber keinen besonderen Eindruck
auf ihn, offenbar weil es sich nicht auf seine Person bezieht. Seit einiger
Zeit schläft er, weil Besuch da ist, zwischen den Eltern im Ehebett, was
vielleicht auch die heutige Steigerung seiner Erregung beeinflußt hat. Sonst
schläft er im Kinderbett mit den Eltern in einem Zimmer.
Auf Grund der heutigen Beobachtungen wird mir sein ganzes Verhalten
mir gegenüber in der letzten Zeit mit einem Male klar. Er will mich immer
zum Einschlafen haben, trinkt nur seine Milch, wenn ich es ihm sage und
folgt überhaupt nur mir auf den Wink. Ich brauche nur zu sagen: „Wenn
du nicht brav bist, bin ich böse und komm nicht mehr zu dir“, so tut er
alles und freut sich, wenn ich sage: „So bist du ein braver Bub und ich
hab dich lieb!“ Wenn ich nicht da bin und man droht ihm bloß mit meiner
Ungnade, wird er brav. Das Kindermädchen sagt, sie begreift nicht, warum
der Bub vor mir einen solchen Respekt hat, da ich ihn ja selten züchtige.
Ich wußte es bis jetzt auch nicht; heute weiß ich, daß er es nur mir zu-
liebe tut. Angst hat er vor mir nur in dem Sinne, daß er fürchtet, meine
Liebe zu verlieren. Seine Zuneigung äußert sich auch darin, daß er alles
an mir bewundert: Die Schuhe, die Wäsche (die er sich kaufen will, wenn
er groß ist), das Haar, die Kleidung. Jetzt verstehe ich auch sein Benehmen
einem Herrn gegenüber, der uns öfter besucht, als direkte Eifersucht. Öfter
fragt er, ob und wann der Herr wieder kommen wird und ob er da schlafen
wird. Als ich antworte, nein, fragt er, warum? Ich sage: „Weil kein Platz
ist, wo soll er denn schlafen?‘ — Er: „Wird er nicht bei dir schlafen ?* —
Ich sage: „Nein, er hat zu Hause sein eigenes Bett.“ Er: „Warum
hast du nicht zwei Betten, wie Tata und Mama?“ — Und als ich einmal
fortging, fragte er: „Gehst du zu Herrn X,? Wirst du dort schlafen?“ —
Ich erkundige mich nun noch beim Kindermädchen, ob sie etwas
Auffälliges an ihm bemerkt habe. Sie sagt: „Der Bub ist schon ein bissel
zu g’scheit und geweckt, er weiß schon zu viel und auch küssen tut er gern.“
Dann will sie schon vor längerer Zeit bemerkt haben, daß er ihr und anderen
!) Unbewußterweise äußert sich der „Kastrationskomplex* in einer sehr in-
teressanten „Symptomhandlung“. Der Kleine erzählt das Märchen von Hänsel und
Gretel, wie auch andere Märchen, in fragmentarischer Weise und mit eigenen Modifi-
kationen, indem er seine Person als Helden einführt. „Die Hexe hat gesagt, sie wird
mir etwas zu essen geben (es war gerade Nachtmahlszeit für den Kleinen); dann hat
sie mich aber eingesperrt.“ Hier unterbricht er plötzlich die Erzählung und zeigt
seinen Kleinen Finger, an dem sich kaum die Spur eines unbedeutenden Ritzers
findet, mit den Worten: „Da schau, was ich da hab; wewe! ich bin gefallen.“ Im Ver-
laufe der Erzählung hätte folgen sollen, daß die Hexe ihn füttere und dann verlangt,
er solle den kleinen Finger herzeigen, damit sie sehen könne, ob er schon fett genug
für ihren Schmaus sei. Die charakteristische „Komplexhemmung“ an dieser Stelle
weist auf die mächtige Nachwirkung der Kastrationsdrohung hin (Anmerk, des Ref.).
Zeitschr, f. ärztl. Psychoanalyse. 24
370 Aus dem infantilen Seelenleben.
Mädehen im Hause unter die Röcke zu greifen suchte.!) Einmal als das
Kindermädchen mit einem uniformierten Briefträger ein Rendezvous hatte,
den er für einen Militär hielt, erzählte er zu Hause: „Die Betti hat (oder
halt’?) den Soldat!* — Einmal hat er auch versucht, dem früheren Kinder-
mädchen, wie sie ihn ins Bett brachte, die Bluse aufzuknöpfen. Sie gab ihm
einen Klapps und fragte, was er will, da sagte er: „Tutti* (Brüste), Sie
machte damals das unzweckmäßige Experiment, sich davon zu überzeugen,
was der Junge darunter eigentlich verstehe und fragte ihn, wer noch Tutti
hat. Da nannte er mich und die Mama. Als man ihn dann weiter fragte,
ob der Tatta auch Tutti habe, sagt er ja, und auf die Frage wo, weist er
auf sein Glied.?) Die Kinderfrau, erstaunt über so viel Wissen, fragt endlich
noch, wie das Tutti vom Tatta aussieht; er sagt: „Wie ein Struwwelpeter !*
— „Und wie noch ?“ — „Schwarz!“ — Es scheint also, daß er im Schlaf-
zimmer der Eltern auch Gelegenheit zu derartigen und wahrscheinlich man-
chen anderen Beobachtungen hatte.
13. April 1912. Obwohl nun sorgfältig jede Gelegenheit vermieden
wird, hat Fritzel heute neuerlich das „Attentat“ zu wiederholen gesucht.
Ich saß mit übergeschlagenen Beinen, so daß ein Fuß vorragte und der Schlaf-
rock unten klaffte.e Da zeigt er lachend auf diese Stelle und sagt: „Auh!
Ich seh was!“ Und als ich ihn frage: „Na, was siehst du denn?“ Lacht er
verschämt, wird verlegen und wendet sich um. Er scheint also schon zu
wissen, daß das etwas Verbotenes ist. Dann kommt er wieder auf mich zu
und will sich, wie vorgestern, rittlings auf mein vorgestrecktes Bein setzen.
Ich weise ihn zurück, da greift er sich an sein Glied und fragt: „Bin ich
naß?“3) — Ich sage: „Das mußt du ja wissen, ob du naß bist,* worauf
er schweigt. Dann versucht er nochmals, sich auf den Fuß zu setzen und
als ich ihm drohe, entfernt er sich böse.
30. April 1912. Heute nachmittags ging ich zum Bett das Buben, um
ihn zu wecken, da er noch nicht ganz munter war. Wie ich mich an sein
Bett setze hat er gleich meine Hand erwischt und sie zwischen seine Beine
gegeben, diese fest zusammengezwickt und meinen Arm geküßt. Als ich die
Hand wegzog, umarmte er mich und küßte mich auf den Mund. Dann hat
er gesagt, ich soll die Hand wieder hinstecken, ich gab ihm scheinbar nach,
um zu sehen, wie weit das geht, und da bemerkte ich, daß sein Glied
erigiert war. Er versuchte mich wieder auf den Mund zu küssen; ich hatte
die Hand wieder zurückgezogen, die er nun festhielt, wobei er den Arm
!) Einer halbwüchsigen Cousine, die längere Zeit bei ihnen zu Besuch weilte,
hat er wiederholt in der Früh das Hemd ganz in die Höhe gehoben und dabei
gelacht.
2) Er sieht also in den „Tutti* nicht mehr die Nahrungspender, sondern etwas
Sexuelles. Sein reges Sexualinteresse sowie die Vorstellung der Brüste als weiblichen
Geschlechtskriteriums zeigt auch folgende Szene. Er bekommt eine neue Puppe, legt
sie neben die alte auf den Tisch und beginnt spontan ihr vorsichtig lauernd die Röcke
aufzuheben; er schaut mit einem merkwürdigen Lächeln hinunter. Man fragt ihn,
was die Puppe da habe, er sagt: das Pipi. Man fragt weiter, wo er das Pipi habe, er
zeigt auf sein Genitale und lacht verschämt. Man fragt ihn, wo die Mama das Pipi
habe, da zeigt er bei der Puppe auf die Mitte des Körpers; man fragt ihn endlich, wo
die andere Puppe das Pipi habe, da zeigt er in die Gegend der Brüste. — Diese
Fragen sind bei dem, wie sich zeigt, stark aufgeklärten und wißbegierigen Kind gar nicht
so verwerflich, wie es manchem Leser scheinen mag. (Anmerkung des Ref.)
3) Diese infantile Identifizierung von exkrementellem und sexuellem „Naßsein“
kehrt dann im Traumleben des Erwachsenen, wie in den neurotischen nnd mythischen
Produktionen wieder. Vgl. meine Abhandlung über „die Symbolschichtung im Weck-
traum und ihre Wiederkehr im mythischen Denken“ (Jahrb. f. psa. Forschungen IV.
Bd. 1912). (Anmerkung des Ref.)
Dr. v. Hug-Hellmuth: Ein weibliches Gegenstück. 371
streichelte und oftmals hintereinander leidenschaftlich küßte. Dann umarmte
er mich, zog mir den Hals herunter, küßte mich auf den Mund und sagte:
„Ich muß dir was sagen.“ Ich frage: „Was denn?“ Und er sagt mir ins Ohr, daß er
mich lieb hat. Er hatesaber in einem andern Ton als sonst gesagt, wie ein Er-
wachsener. Ich sage darauf: „So!* Und er sagt: „Steck wieder die Hände
hinunter.“ Ich sage: „Wohin den?* Da hat er sein Hemd weggezogen, sich
entblößt und mir gezeigt wohin. Als ich das nicht tat, packte er meine
Hand und wollte sie mit Gewalt hinziehen; als ich ihm wehrte, wurde er
wütend.!) Ich sagte: Ich gehe fort! Da bat er, ich solle noch bleiben und
küßte wieder meinen Arm. Dann wollte ihn das Kindermädchen anziehen, er
ließ es aber nicht zu. Als ich ihm auftrug, sich hübsch anzieheu zu lassen,
sagte er: „Dann geh erst weg, wenn du da bist, kann ich mich nicht anziehen
lassen.“ Offenbar erregte ihn meine Gegenwart noch. Alsich ihm aber drohte,
ließ er sich sofort ruhig anziehen, wie er überhaupt mir gegenüber immer
noch äußert folgsam ist,“
5,
Ein weibliches Gegenstück
zu dem oben angeführten Knaben beobachtete ich vor mehreren Jahren in
einer Sommerfrische.
Ein etwa vierjähriges Mädchen von aufgewecktem Aussehen speiste mit
seiner Familie in der Veranda des Gasthofes zu Mittag. Zwei Touristen
nahmen am benachbarten Tische Platz und sofort eröffnete die Kleine ein
regelrechtes Kokettieren. Sowie sie sah, daß der Herr, dem ihre Avancen
galten, ihr zulächelte, eilte sie zu ihm, kletterte auf seinen Schoß und war
weder im Guten noch Strengen zu bewegen, an den Tisch ihrer Mutter zurück-
zukehren. Vielmehr ließ sie sich von dem fremden Herrn füttern, streichelte
seinen Bart und gab ihm schließlich zur Belustigung der Tischgesellschaft
feurige Küsse auf Mund und Wangen. Als die beiden Herren sich zum Auf-
bruch rüsteten, gebärdete sich das Kind wie toll, klammerte sich an den von
ihr Ausgezeichneten und mußte endlich unter Schreien und Toben von ihrer
Mutter aus der Veranda getragen werden. „Ich will nicht, ich will nicht;
ich will bei dem Herrn bleiben“, war der Refrain ihrer Klagen. Am Nach-
mittag (einem Sonntag) schlich die Kleine wiederholt zwischen den Gästen
herum, offenbar in der Meinung, der Tourist sei noch anwesend.
Charakteristisch war die Nachwirkung des kurzen Liebesspiels am nächsten
Tag. Statt wie gewöhnlich am Tisch der Familie Platz zu nehmen, trug
das Mädchen Teller, Serviette und Glas zu dem Tisch, an welchem tags zuvor
die beiden: Herren gesessen, und verzehrte dort ihr Mittagsmahl. Dabei lehnte
sie sich, offenbar unbewußt, mit dem Ausdrucke größter Zärtlichkeit in den
Sessel zurück unter leisen Monologen, deren Wortlaut leider nicht zu den
Ohren der Mittagsgäste gelangte. Aber niemandem unter ihnen war die aus-
gesprochen sexuelle Note des kindlichen Verhaltens, sowohl am Tage der
Begegnung des Kindes mit dem Touristen, wie im Nachspiele entgangen. Der
beteiligte Herr, den die Zutraulichkeit des Mädchens anfangs belustigt hatte,
schien später offenkundig peinlich berührt von dem erotischen Gebahren des-
!) An vielen Stellen dieses Berichtes zeigt sich deutlich, wie die Wut aus der
unbefriedigten Sexualität gespeist wird. Besonders charakteristisch ist dabei, daß die
strafende Aggressivität des Knaben, der seinem „Liebesobjekt* Hände, Füße, Mund
abschneiden will, sich gerade gegen die seiner Lusttendenz nicht entgegenkommen-
den erogenen Zonen wendet (Hände, Füße, Mund), die er mit Vorliebe küßt. (Anmer-
kung des Ref.)
24*
312 | Aus dem infantilen Seelenleben.
selben. Die Mutter aber, welche die unverblümte Äußerung der starken
Sexualität ihres Töchterchens gern bemäntelt hätte, brachte, ohne zu wissen,
wie nahe sie damit der Freudschen Auffassung über das Verhältnis zwischen
Vater und Tochter gekommen, als Grund der Entschuldigung vor, der
Fremde erinnere das Kind wahrscheinlich an den Papa, der
auch einen so langen schwarzen Bart trüge. An dem Vater hänge
das Kind innig und leide auf dem Lande sehr unter dessen Abwesenheit. —
Der fremde Tourist mußte sich also in Vaters Rolle schicken, so wie der oben
geschilderte Knabe sein von der Mutter wohl nicht voll gewürdigtes Liebes-
verlangen auf eine andere Person weiblichen Geschlechts warf, die ihm ver-
mutlich mehr Interesse und Zuneigung als jene entgegenbrachte. ) Die
Aggressivität der infantilen Liebe wird dann besonders heftig, wenn die un-
bewußt sexuellen Gefühle — sei es durch Abwesenheit oder Entfremdung des
ursprünglichen Liebesobjekts, nämlich eines Elternteils — sich zum Ubermaße
aufgestaut haben. Dr. v. Hug-Hellmuth.
6.
Kindervergehen und -Unarten.
1. Kurz nach Vollendung seines vierten Lebensjahres kam mein Neffe
einmal mit strahlendem Lächeln zu seinem Kinderfräulein gesprungen, das im
Garten den Frühstückstisch besorgte, und verkündete voll Jubel: „Jetzt hab’
ich Mutters neues Kleid zerschnitten.* Das Fräulein glaubte, er halte sie
zum Besten und schenkte ihm erst Gehör, als er fest bei seiner Aussage blieb,
die auch der Tatsache entsprach. Drei bis vier lange zackige Schnitte liefen
durch den Volant des Kleides. Zur Rede gestellt, gab er die stereotype
Antwort: „Na, ich hab’s halt getan.“ Von der Mutter bekam er ein paar
Schläge auf die Hände, aus denen er sich augenscheinlich nicht allzuviel
machte.
Beim Nachmittagsspaziergang kam endlich die für Laien recht uner-
wartete Lösung des Motivs seiner Missetat. „Du Tante,“ sagte der Kleine,
„weißt du, eigentlich hab’ ich geglaubt, daß die Mutter mich durchhauen
wird; aber (in halb triumphierendem, halb bedauerndem Tone) sie hat’s doch
nicht getan.“ „O ja, du hast doch Schläge bekommen.“ „Ja,aber nurauf
die Hand, aber ich hab’ geglaubt, auf den Popo.*
2. Im Alter von fünf Jahren weilte er im Sommer mit seiner Mutter
allein auf dem Lande. Um ihm Anschluß an gleichaltrige Kinder zu ermög-
lichen, hatte sie ihren Aufenthalt in einem Orte genommen, in dem sich ein
Ferienheim für Kinder von vier Jahren aufwärts befand ; dort verbrachte der
Kleine die Tagesstunden.
Mutter und Kind erkranken an starkem Magen- und Darmkatarrh,
besonders erstere leidet heftige Schmerzen, Eines Abends, dem ein für die
Mutter recht übler Tag vorausgegangen ist, fragt sie ihren Jungen auf dem
Heimweg, was er noch essen möchte, und bemerkt, sie wolle gleich alles
Nötige mitnehmen, da ihr sehr unwohl sei. „Nein, nein,“ wehrt er weitere
Einkäufe ab, „ich hab’ schon im Institut Schinken gegessen; ich kann nichts
mehr essen.“
1) Diese Vermutung vermag ich vollauf zu bestätigen. Die Mutter des Knaben,
eine fleißige Geschäftsfrau, ist tatsächlich den ganzen Tag außer Hause und pflegt
abends erst zu einer Zeit heimzukehren, wo der Kleine schon zu Bett gebracht ist.
Er versäumt es aber selten, um diese Zeit zu erwachen und die Eltern die längste
Weile zu stören (Rank).
Dr. v. Hug-Hellmuth: Kindervergehen und -Unarten. 375
Nachdem er zur Ruhe gebracht ist, will sich auch die Mutter zu Bett
legen. Kaum hat sie sich entkleidet, so hört sie ihn halblaut flüstern: „Zu
essen hab’ ich heut’ nichts mehr bekommen.“ Die Mutter steht nochmals auf,
bereitet ihm eine Milchspeise und sagt: „Du Fratz, ich habe dich gefragt,
was du essen willst; wenn du aber jetzt nicht issest, bekommst du zum
erstenmal ordentlich Schläge.“ Und er putzt — obwohl er Milchspeise nicht
besonders liebt — das Schüsselchen bis auf den letzten Löffel rein.
Nach Wochen erzählt er seiner Tante: „Du, Tante H., so böse, wie
damals, hab’ ich die Mutter noch nie gesehen ; drum hab’ ich auch alles ge-
gessen, weil ich mich gefürchtet hab’ !“
3. Ein siebenjähriges Mädchen, dem in den ersten Kinderjahren außer-
ordentlich viel Bewunderung seitens verwandter und fremder Personen zu teil
geworden, berichtet im ersten Schuljahre wiederholt zu Hause, die Lehrerin
hätte sie lieber als alle anderen Kinder, sie hätte sie aufgefordert, kein
Vesperbrötchen von daheim mitzubringen, da sie, die Lehrerin, ihr vom
eigenen geben wolle; die Lehrerin gebe ihr Näschereien und Leckerbissen,
„sage ihr beim Lesen ein“ usw.
Als das Kind einmal an heftigem Erbrechen erkrankt war, erwähnt
die Mutter, da sie das Kind wieder zur Schule bringt, zur Lehrerin in etwas
nachdrücklichem Tone, es dürfe laut ärztlicher Anordnung in der Vormittags-
pause nichts anderes als die mitgebrachte Milch genießen. Der Lehrerin fällt
die Rede der Mutter auf und nun kommt die Wahrheit an den Tag. — Das
Mädchen gehörte zu jenen Kindern, deren Lieblichkeit nur Attribut der aller-
frühesten Kindheit ist, die in dieser Zeit über Gebühr verhätschelt und be-
wundert werden und dann auf diese Bevorzugung nicht verzichten wollen ; so
malt es sich in der Phantasie eine Rolle aus, die ihm keineswegs zukam.
Vom Augenblicke der Entlarvung an haßte das Kind die vordem geliebte
Lehrerin.
4. Von zwei Schwestern erhält die ältere zwölfjährige eine T’aschenuhr ;
es wird ihr von den Eltern große Sorgfalt aufgetragen und zugleich verboten,
das Uhrglas zu öffnen, Während einer schweren Erkrankung des älteren
Mädchens ist das um zwei Jahre jüngere viel sich selbst überlassen und in
der Langweile ungewohnter Einsamkeit kommt ihr der Gedanke, die Uhr der
Schwester zu putzen ; erst außen, dann die Innenseite des Deckels. Schließlich
irritiert sie ein Stäubchen am Zifferblatt. Sie zögert lange, aber schließlich
ist die Versuchung zu groß, sie Öffnet das Glas und säubert vorsichtig das
Zifferblatt; dabei bleibt sie an einem Zeiger hängen und bricht ihn ab.
Schnell schließt sie das Glas und legt die Uhr ins Kästchen.
Als die große Schwester längst wieder gesund ist und den ihr uner-
klärlichen Schaden auch schon bemerkt hat, fragt der Vater nach der Uhr,
um sie richtig zu stellen. Natürlich entdeckt er, daß der Zeiger abgebrochen
ist. Befragt, weiß die Ältere keine Auskunft zu geben. Die Kleine sitzt
dabei und hört stillschweigend die heftigen Worte des Vaters gegen die
Schwester an. Der Uhrmacher konstatiert durch das Fehlen des Zeigerstückes,
daß das Glas geöffnet worden. Neuerlicher Verdruß, Beschuldigung der Lüge
und zeitweise Konfiszierung der Uhr. Die Kleine schweigt auch jetzt. Aber
sie wird die Selbstvorwürfe nicht los, sie erblickt noch Jahre nachher in der
Bevorzugung ihrer Schwester durch Fremde eine Strafe für ihr einstiges Ver-
gehen, und erst als ihr von dieser Schwester ein schwerer Kummer zugefügt
worden, erzählt sie ihr von ihrer infantilen Schuld.
374 Aus dem infantilen Seelenleben.
5. Ein elfjähriges Mädchen beschuldigt eine Schulkollegin, die oft im
Hause zu Gast geladen war, daß sie ein aus der Schülerbibliothek entlehntes
Buch vorsätzlich nicht zurückgestellt habe.
Der Vater der kleinen Verleumderin hatte die Gepflogenheit, seiner
Tochter contre coeur Freundinnen nach seiner Wahl einzuladen, wogegen sich
das Kind im Innern heftig auflehnte und das durch unliebenswürdiges Be-
nehmen gegen den unerwünschten Gast bekundete. Ein solcher war die er-
wähnte Schulkameradin, die wegen ihres duckmäuserischen, kriecherischen
Wesens in der Schule allgemein verhaßt war. Die Kleine ersann nun, den
Charakter ihres Vaters wohl kennend, einen Plan, der sie bald von der er-
zwungenen Freundschaft befreite. Sie erzählte daheim, daß die aufgedrängte
„Freundin‘‘ trotz wiederholter Mahnung der Lehrerin ein Bibliotheksbuch
nicht zurückstelle, daß sie leugne, es erhalten zu haben, indes die Wahrheit
war, daß das Mädchen bloß einmal am festgesetzten Tage das Buch zu Hause
vergessen hatte. Der Vater, der in solchen Dingen überaus rigoros dachte,
untersagte sofort den weiteren Verkehr und die kleine Missetäterin hatte
ihren Zweck erreicht. Aber sie hatte nicht bedacht, daß die Mutter des
beschuldigten Kindes, die in ihrem Elternhause als Hausschneiderin arbeitete,
von der Sache erfahren könnte. Ihr Vater, der gern in die Erziehung
fremder Kinder eingriff, machte der ahnungslosen Frau Vorstellungen über
das Vorgehen ihrer Tochter und riet ihr, sich mit der Lehrerin zu be-
sprechen.
Nun war guter Rat teuer: die Furcht, in der Schule als Verleumderin
entlarvt zu werden, zu Hause eine um so strengere Strafe zu erhalten, weil
des Vaters Stolz auf sein gut geartetes Kind empfindlich getroffen wurde,
schärfte die Intelligenz des Mädchens.
Am nächsten Morgen wartete sie die „Freundin“ am Schulwege ab,
stellte ihr die ganze Sache als Mißverständnis hin, gab dann vor, zu Hause
etwas vergessen zu haben, kehrte auf dem Wege um und erwartete die
Lehrerin, der sie sich öfters anschließen durfte. Auch ihr erzählte sie von
der Angelegenheit so viel, daß ihr weiter keine Schuld verblieb, d.h., daß
ihr keine Strafe drohte. Zu Hause spann sie ihr Lügengewebe durch die
Angabe zu Ende, das Mädchen habe, ohne daß sie davon gewußt, das Buch
schon zurückgestellt. Dabei ließ sie von der angeblichen Schuld der Kollegin
so viel bestehen, daß der Vater keine Einladung mehr ergehen ließ. Auf
diese Weise entrann sie nicht nur allen üblen Folgen ihrer Tat, sondern hatte
auch ihre Absicht erreicht.
Die stattliche Reihe von „Charakterfehlern“ entstammte dem Verhältnis
des Kindes zu seinem Vater: das stete Lob, das dieser der wenig beliebten
Schulgenossin wegen ihres „stillen, bescheidenen* Wesens zollte, die auf-
gedrängte Freundschaft behagte dem Mädchen, das mit eifersüchtiger Liebe
am Vater hing, wenig; und da es infolge einer übergroßen Autorität seiner
Person sich nicht getraute, gegen seine Maßnahmen sich aufzulehnen, und auch
recht gut wußte, daß ihr das nichts nütze, führte der Wunsch, das fremde Kind
dem Vater zu verleiden, ihre Seele auf Abwege.
6. Aus meiner eigenen Jugendzeit erinnere ich mich folgenden Erleb-
nisses: In der Schulklasse, die ich zwischen zehn bis elf Jahren besuchte,
befand sich die Tochter eines vordem sehr begüterten, zurzeit zu Grunde
gegangenen Fabrikanten, die sich durch Aufschneidereien über den vornehmen
Zuschnitt ihres häuslichen Lebens bei den Schulgenossinnen sehr unbeliebt
gemacht hatte. Nach Festtagen brachte sie Konfekt vom „Hofzuckerbäcker“
Dr. Jekels: Narzißmus bei einem kleinen Kinde. 375
und aus „Paris“ in die Schule, von dem die Kinder, die sich ihr förmlich
auf die Lauer legten, behaupteten, sie hätte es in der nächstliegenden Kon-
ditorei mit unrechtmäßig erworbenem Gelde gekauft.
Einmal nach Weihnachten prahlte sie wieder mit der Kostbarkeit und
Menge der erhaltenen Geschenke und rühmte besonders eine Brosche in
Traubenform mit Brillanten besetzt.
Von den Kindern angezweifelt und gehöhnt, erbot sie sich, das Schmuck-
stück am nächsten Tage in die Schule zu bringen. Durch den Augenschein
überführt, mußten wir Kinder klein beigeben, aber die Form kam uns alt-
modisch und nicht recht für ein Kind geeignet, das Kästchen verschossen
vor. Trotzdem ging das Schmuckstück von Hand zu Hand, bis die Lehrerin
in die Klasse trat.
Am Nachmittag fehlte das Mädchen beim Unterricht, und ihre Nach-
barin, die hauptsächlich auf dem Vorweisen des Schmuckes bestanden hatte,
fand die Brosche ohne Kästchen unter der Schulbank liegen. Statt sie der
Lehrerin abzugeben, nahm sie, vielleicht weil sie fürchtete, wegen „Auf-
hetzens“ bestraft zu werden, die Brosche zu sich, um dieselbe dem Mädchen
am nächsten Tag zurückzugeben. Dieses aber war an Scharlachfieber erkrankt.
Keines von den Kindern wollte die Brosche aufbewahren und unter dem Vor-
wande, sie sei wohl ohnehin nicht echt, warfen sie dieselbe in den Straßenkanal.
Nach Wochen erschien das Mädchen wieder beim Unterricht, verlor aber
kein Wort über den Schmuck.
Das Kind mußte die Klasse repetieren. Etwa nach einem Jahr, als wir
anderen eine höhere Klasse besuchten, hörten wir, daß in der unteren Ab-
teilung eine große Aufregung wegen einer in Verlust geratenen, kostbaren
Brosche herrschte. Das Mädchen, die Eigentümerin derselben, hatte zu Hause
gebeten, die Brosche auf Wunsch des Lehrers als Lehrbehelf bei der Be-
sprechung des Diamanten in die Schule mitnehmen zu dürfen, und gab nun
vor, das Schmuckstück sei ihr, während sie für einen Augenblick das Schul-
zimmer verlassen hätte, aus dem Kästchen entwendet worden. Uns Kindern,
die im Vorjahre an der „Versenkung“ beteiligt waren, war recht übel zu
Mute, aber niemand verriet die Schuldige. Natürlich blieb alle Untersuchung
und Androhung von Strafe erfolglos und, wie Kinder nun einmal grausam
sind, gönnten wir alle, glaube ich, dem Mädchen die Prügel, die es zu Hause
bekam, als sich herausstellte, daß der Lehrer das Mitbringen der Brosche
nicht veranlaßt hatte, sondern dasselbe als „Großtun“ aufgefaßt wurde.
Schule und Elternhaus erfuhren nichts vom wahren Sachverhalt und es
erfuhr auch niemand etwas von der Seelenpein, in der das arme Kind ein
Jahr gelebt haben mag, bis es ihm gelang, die üblen Folgen der unüber-
legten Prahlerei zu bemänteln. Ja, selbst wir beteiligten Kinder wußten nicht
sicher, ob es sich nicht doch um ein zweites Schmuckstück handle, vielleicht,
weil kaum eines von uns das Geheimnis so lange hätte verschweigen können.
Dr. H, v. Hug-Hellmuth,
T.
Narzißmus bei einem kleinen Kinde.
Die 2!/,jährige Trude erwacht aus dem Nachmittagsschlaf.
Sie wird aus ihrem Bettchen gehoben und darf nun, nur vom Hemd-
chen bekleidet, im Zimmer auf und ab trippeln. Eine Weile sich selbst
überlassen zieht sie nun auch das Hemd aus, stellt sich splitternackt vor den
376 Dr. L. Jekels: Analerotik.
Spiegelkasten und versinkt offenbar in narzißtische Bewunderung ihres Persön-
chens, denn sie streicht mit den Händchen an ihrem Körper entlang und
konstatiert mit sichtlichem Wohlbehagen: „Trudi s(ch)ön.“ — Wie mir von
der verläßlichen Begleitung versichert wurde, hat sich dieselbe Kleine, als
man ihr im Modemagazin Frühjahrshüte anprobierte, ohne jegliche Auffor-
derung oder Aufmunterung immer wieder vor den Wandspiegel gestellt, um
sich mit dem jeweilig auf ihrem Köpfchen befindlichen Hut gründlich zu
mustern, Dr. L. Jekels,
8,
Analerotik.
Ein etwa 5!/,jähriger Knabe, bei welchem die Verdrängung der anal-
erotischen Triebe ohne besondere Schwierigkeiten und recht vollständig vor
sich gegangen ist und auch schön im stande gehalten wurde, erkrankt plötzlich
unter Erscheinungen, die wohl die Verabreichung von Abführmitteln, doch
nur in mäßiger Dosis und unter Ausschluß von Drasticis, zur Folge haben.
Die eingenommenen Purgantien bleiben jedoch durch zwei Tage ohne
jegliche Wirkung und da die Temperatursteigerung anhält, wird endlich eine
mäßige Dosis Calomel eingegeben.
Zur Zeit nun, als das Calomel, vielleicht unterstützt von den anderen
Mitteln, bereits seine Wirksamkeit entfalten konnte, stellt der bettlägerige
Junge an seine Umgebung ganz plötzlich die Forderung — ihm Geld zum
Spielen zu geben.
Trotzdem nun diesem Verlangen durch eine zufällig vorhandene größere
Menge kleinerer Münzen in ausgiebigstem Maße immer wieder entsprochen
wird, — wiederholt der kleine Patient zur größten Belästigung der Umgebung
immer hartnäckiger die Worte: „Papa Geld!“
Trotzdem ihm frische Münzen hingereicht werden, wiederholt er diesen
seinen F'eldruf unermüdlich, mit der monotonsten Stimme, gewiß mehr als
hundertmal; das sonst so brave Kind ist auch durch Ermahnungen und Ein-
schüchterung davon nicht abzubringen, — bis endlich die verzweifelte Umgebung
aus dem Zimmer flüchtet mit dem dunklen Eindruck, es hier mit einer vis
major zu tun zu haben,
Wer das zwanghafte Treiben des Jungen, bei dem sich der durch
Darmreizung geweckte analerotische Trieb in seiner bereits sublimierten Form,
i. e, als Geldkomplex, so prompt und hartnäckig meldete, — beobachtet hat,
für den hatte diese Szene den Wert und die Beweiskraft eines Experiments.
Dr. L. Jekels.
II.
Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis.
I.
Die Sammlung kleiner Beiträge, von welcher wir hier ein erstes Stück
bringen, bedarf einiger einführender Worte: Die Krankheitsfälle, an denen
der Psychoanalytiker seine Beobachtungen macht, sind für die Bereicherung
seiner Kenntnis natürlich ungleichwertig. Es gibt solche, bei denen er alles
in Verwendung bringen muß, was er weiß, und nichts Neues lernt; andere,
welche ihm das bereits Bekannte in besonders deutlicher Ausprägung und
schöner Isolierung zeigen, so daß er diesen Kranken nicht nur Bestätigungen
sondern auch Erweiterungen seines Wissens verdankt. Man ist berechtigt zu
vermuten, daß die psychischen Vorgänge, die man studieren will, bei den
Fällen der ersteren Art keine anderen sind als bei denen der letzteren, aber
man wird sie am liebsten an solchen günstigen und durchsichtigen Fällen
beschreiben. Die Entwicklungsgeschichte nimmt ja auch an, daß die Furchung
des tierischen Eis sich bei den pigmentstarken und für die Untersuchung un-
günstigen Objekten nicht anders vollziehe als bei den durchsichtigen pigment-
armen, welche sie für ihre Untersuchungen auswählt.
Die zahlreichen schönen Beispiele, welche dem Analytiker in der täg-
lichen Arbeit das ihm Bekannte bestätigen, gehen aber zumeist verloren, da
deren Einreihung in einen Zusammenhang oft lange Zeit aufgeschoben werden
muß. Es hat darum einen gewissen Wert, wenn man eine Form angibt, wie
solche Erfahrungen und Beispiele veröffentlicht und der allgemeinen Kenntnis
zugeführt werden können, ohne eine Bearbeitung von übergeordneten Gesichts-
punkten her abzuwarten.
Die hier eingeführte Rubrik will den Raum für eine Unterbringung
dieses Materials zur Verfügung stellen. Außerste Knappheit der Darstellung
erscheint geboten ; die Aneinanderreihung der Beispiele ist eine ganz zwanglose.
Nr. 1. Traum ohne kenntlichen Anlaß,
Ein guter Schläfer erwacht eines Morgens in einem Tiroler Sommer-
aufenthalt mit dem Wissen, er habe geträumt: Der Papst sei gestorben. Er
findet dafür keine Erklärung. Am Vormittag desselben Tages fragt ihn seine
Frau: Hast du heute früh das entsetzliche Glockengeläute gehört? Er hatte
es nicht gehört, aber offenbar darüber geträumt. Die Deutung, die sein Traum
dem Glockenläuten gab, war seine Rache an den frommen Tirolern. Der
Papst war nach Zeitungsberichten um jene Zeit leicht erkrankt.
(Freud.)
Nr. 2. Tageszeitenim Trauminhalt.
Dieselben vertreten häufig Lebenszeiten der Kindheit. Um !/,6® früh
bedeutete in einem Traum das Alter von 5 Jahren, 3 Monaten, den bedeutungs-
378 Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis.
vollen Zeitpunkt der Geburt eines jüngeren Bruders, — Viele ähnliche Bei-
spiele. (Freud.)
Nr. 3. Darstellung von Lebenszeiten im Traume.
Eine Frau geht mit zwei kleinen Mädchen, die 1!/, Jahre auseinander
sind. — Sie findet keine Familie in ihrer Bekanntschaft, für welche dies
zutrifft. Es fällt ihr ein, daß beide Kinder sie selbst darstellen, und daß der
Traum sie mahnt, die beiden traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit seien
um 1/, Jahre voneinander entfernt (3"/, und 4®/,). (Freud)
Nr. 4& Position beim Erwachen aus einem Traum.
Sie träumt, daß sie auf dem Rücken liegt und die Sohlen gegen die
einer Partnerin anstemmt,. Die Analyse macht es wahrscheinlich, daß ihr
Raufszenen vorgeschwebt haben, durch welche sie sich die Erinnerung an einen
von ihr beobachteten Koitus ersetzte. Beim Erwachen bemerkte sie, daß sie
vielmehr mit verschränkten Armen auf dem Bauch gelegen war, also die
Position des Mannes und seine Umarmung imitiert hatte. (Freud.)
Nr. 5. Ein „passageres Symptom“ Position während
der Kur.
In zwei Fällen verrieten männliche Patienten passive homosexuelle Phantasien
dadurch, daß sie während der Analysenstunde aus der Rücken- beziehungs-
weise Seitenlage sich auf einmal auf den Bauch legten. (Ferenczi.)
Nr. 6. Darstellung der Lage des Träumers im Traum.
Von der Richtigkeit der Schernerschen Beobachtung, daß die Lage des
Schlafenden im Traum dargestellt werden kann, zeugt das folgende Beispiel:
E. träumt, im Bett seiner Mutter liege ein schönes nacktes Mädchen
auf dem Bauch. Er küßt sie auf den Rücken und das Gesäß und erwacht
mit einer Pollution.
Zu seinem Erstaunen findet er sich beim Erwachen selbst
auf dem Bauch liegend.
Es sei nur bemerkt, daß der Träumer sich als Weib fühlt und in der
Gestalt des nackten Mädchens im Bett der Mutter liegt, sich also mit seiner
Mutter identifiziert. Daher auch seine passive Homosexualität, die ihn zum
Analytiker gebracht hat, Dr. Tausk.
Nr. 7. Zwanghaftes Etymologisieren
erwies sich bei einem Patienten als Substitution der Frage: woher die Kin-
der kommen, durch die Frage nach der Herkunft der Worte. Diese Identi-
fizierung wäre das pathologische Pendant zu Sperbers Theorie vom sexuellen
Ursprung der Sprache („Imago*, I. Jahrg., 5. Heft). (Ferenczi.)
Nr. 8. Symbolik der Bettwäsche.
a) Ein junger Mann bekommt regelmäßig eine Pollution, wenn sein
Bett frisch überzogen ist. Deutung: er will das Reine [Weib] beschmutzen ;
zugleich zwingt er (ubw.) die weiblichen Angehörigen des Hauses, die das
Bett besorgen, sich mit seiner Potenz zu beschäftigen.
b) Ein Herr hat relative Impotenz: er kann nur kohabitieren, wenn er
zuvor die Bettwäsche, die ganz glatt sein muß, eigenhändig zerknüllt, oder
wenn sich die Frau auf. einen Bogen glatten Papieres legt, das er unmittelbar
vor dem Akt zerknittert. Das Symptom erweist sich als überdeterminiert,
seine Elemente sind: 1. Verliebtsein in die (runzlige) Großmutter, 2. Sadis-
Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis. 379
'mus (wie beim ersten Fall), 3. Erinnerungen an Onanie an der Bettwäsche. !)
(Ferenczi.)
Nr. 9. Zwei Zimmer und eines.
Er sieht im Traum zwei Zimmer einer ihm bekannten Wohnung, aus
denen man aber eines gemacht hat.
Nichts Tatsächliches. Deutung auf das weibliche Genitale (den Popo),
den er früher für einen Raum gehalten hat (die infantile Kloakentheorie),
während er jetzt weiß, daß es zwei gesonderte Höhlen und Öffnungen sind.
Umgekehrte Darstellung. (Freud.)
Nr. 10. Der Mantel als Symbol.
In Träumen von Frauen erweist sich der „Mantel“ unzweideutig als
Symbol des Mannes. Der sprachliche Anklang dabei vielleicht nicht un-
wesentlich. (Freud.)
Nr. 11. Der Drachenflieger als Erektionssymbol.
Ein Patient erzählt von seinem an Verfolgungswahn Jleidenden
Onkel, daß dieser, obzwar schon über 30 Jahre alt, immer mit Knaben
gespielt hat, ihnen manchmal sein Glied zeigte und mit besonderer
Vorliebe und Geschicklichkeit riesige Papierdrachen mit langem Schweif an-
fertigte. Er ließ die Drachen so hoch fliegen, daß sie fürs Auge unsichtbar
wurden, band die Schnur an einen Stuhl, ließ einen Knaben daraufsitzen und
freute sich, wenn ihn der Zug des Drachen umwarf. Die Zusammengehörig-
keit von Paranoia und Homosexualität zeigt sich auch an diesem Beispiel. —
Ich erinnere bei diesem Anlaß an den Geisteskranken Mr. Dick im „David
Copperfield* von Dickens; auch dieser spielt immer mit Knaben und läßt
Drachen auffliegen, auf die er seine Phantasien über den Tod KönigKarls
des Ersten aufkritzelt. Käme das bei einem unserer Patienten vor, so
müßten wir ihn, auch wenn er ebenso gutmütig wäre wie Mr. Dick, für einen
unbewußten Vater-(Königs-)Jmörder halten, der aber anderseits die Insignien
der Vaterwürde anbetet.
[Zur Symbolik des Drachensteigens vergleiche die im VII. Band
der Anthropophyteia mitgeteilte Erzählung (Nr. 26) aus Groß-Frankfurt: „Das
Drachensteigen“. Das Söhnchen fragt seinen Papa, warum die Kinder nur im
Herbst die Drachen steigen lassen. Der Papa erklärt ihm: „Das gekt nur,
wenn die Felder abgemäht sind, weil man da weite Strecken laufen muß;
aber ich, ich lasse meinen Drachen das ganze Jahr steigen.“| (Ferenczi.)
Nr. 12. Parästhesien der Genitalgegend bei Impotenz.
Psychosexuell impotente Patienten pflegen darüber zu klagen, daß sie
ihren Penis „nicht fühlen“ ; andere berichten über ausgesprochenes Kälte-
gefühl in der Genitalgegend, wieder andere sprechen von der Empfindung
des Zusammenschrumpfens des Penis; alle diese Illusionen steigern
sich im Moment eines Kohabitationsversuchs.. Im Laufe der Analyse sagen
dann die Patienten oft spontan, daß sie ihren Penis „besser fühlen“, daß jenes
Kältegefühl abnimmt, daß der (nichterigierte) Penis etwas „konsistenter ist“,
„turgeszenter wird“ usw. Es ist nun aus technischen Gründen nicht ratsam,
auf solche Klagen hin körperliche Untersuchungen vorzunehmen, in einigen
Fällen konnte ich dem aber nicht ausweichen, konnte aber objektiv keine
ı) Notiz: Zur Identifizierung von Haut und Wäsche (beides wäscht man
ja!) und von Runzeln- und Wäschefalten, siehe folgenden Witz aus den „Fliegen-
den Blättern“: „Was willst du denn Kleine mit dem Bügeleisen?“ — „Ich möchte
das Gesicht von Großpapa glatt machen.“
380 Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis.
besondere „Kälte“, auch keine Anästhesie oder Analgesie, wohl aber Zusammen-
geschrumpftsein des Penis konstatieren. Analytisch ließ sich als die unbe-
wußte Quelle dieser Sensationen die infantile Kastrationsangst feststellen,
die — wie ich es an anderer Stelle ausführte ) — auch die Ursache jener
Retraktionsempfindungenist, die manche Patienten an der Peniswurzel
und am Damm, besonders bei Angst vor dem Analytiker (Vater) bekommen.
Einer dieser Patienten erwachte einmal bei Nacht mit der Empfindung, daß
er seinen Penis absolut „nicht fühlt“, er bekam große Angst und mußte sich
durch Betasten der Genitalien überzeugen, ob er wirklich einen Penis hat.
Die Erklärung war folgende: als Kind wurde ihm wegen onanistischer Be-
rührungen der Genitalien mit der Kastration. gedroht; seither „Berührungs-
angst“ vor den Genitalien. Das ängstliche Hingreifen an den Penis erwies
sich als Kompromiß zwischen dem Wunsch zu onanieren und der Angst, dafür
so empfindlich bestraft zu werden. („Wiederkehr des Verdrängten.*) Die
hier beschriebenen und diesen ähnliche Parästhesien zeigen in ihren Schwan-
kungen manchmal ganz gut die Besserungen und Verschlimmerungen im Zu-
stande des Patienten an. — Nebst unbewußten (onanistischen) Inzest-
phantasien ?) sind Kastrationsbefürchtungen die häufigste Ursache der psychi-
schen Impotenz ; meist sind es beide (Angst vor Kastration wegen der Inzest-
wünsche). (Ferenczi.)
Nr. 13. Verschämte Füße (Schuhe).
Die Patientin berichtet nach mehreren Tagen Widerstand, sie habe sich
so sehr gekränkt, daß ein junger Mann, den sie regelmäßig in der Nähe der
Wohnung des Arztes begegne, und der sie sonst bewundernd anzuschauen
pflegte, das letztemal verächtlich auf ihre Füße geblickt habe. Sie hat sonst
wahrlich keine Ursache, sich ihrer Füße zu schämen. Die Lösung bringt sie
selbst, nachdem sie gestanden hat, daß sie den jungen Mann für den Sohn
des Arztes halte, der also zufolge der Übertragung, ihren (älteren) Bruder
vertritt. Nun folgt die Erinnerung, daß sie im Alter von etwa fünf Jahren
ihren Bruder auf das Klosett zu begleiten pflegte, wo sie ihm urinieren zusah,
Von Neid ergriffen, daß sie es nicht so könne wie er, versuchte sie eines
Tages es ilım gleichzutun (Penisneid), benetzte aber dabei ihre Schuhe und
ärgerte sich sehr, als der Bruder sie darüber neckte. Der Ärger wiederholte
sich lange Zeit, so oft der Bruder in der Absicht, sie an jenes Mißglücken zu
erinnern, verächtlich auf ihre Schuhe blickte. Diese Erfahrung, fügt sie hinzu,
habe ihr späteres Verhalten in der Schule bestimmt. Wenn ihr etwas nicht
beim ersten Versuch gelingen wollte, brachte sie nie den Entschluß zu stande,
es von neuem zu versuchen, so daß sie in vielen Gegenständen völlig ver-
sagte. — Ein gutes Beispiel für die Charakterbeeinflussung durch die Vorbild-
lichkeit des Sexuellen. (Freud)
Nr. 14. Der Flatus, ein Vorrecht der Erwachsenen.
Es kommt vor, daß Analysanden mit der Neigung kämpfen, während
der Seance einen laut hörbaren und auch spürbaren Flatus zu lassen ; sie tun
das meist, wenn sie gegen den Arzt in Auflehnung sind. Dieses Symptom
bezweckt aber nicht nur die Beschimpfung des Arztes, sondern will auch be-
sagen, daß der Patient sich Dinge erlauben will, die ihm. der Vater verbot,
nei Hi, Ferenczi, Über passagere Symptombildungen. [Zentralbl. £. Psychoanalyse,
. Jahrg.]
2) Ferenczi, Analytische Erklärung und Behandlung der psychosexuellen
Impotenz beim Manne. (Psychiatr. Neurolog. Wschrift. 1908.)
Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis. 381
sich selber aber gestattete. Die erwähnte Ungeniertheit vertritt hier eben
die Stelle aller Vorrechte, die sich die Eltern herausnehmen, den Kindern
aber strenge verbieten, und die sich nun auch der Patient aneignen will.
(Ferenczi.)
Nr. 15. Selbstkritik der Neurotiker,
Es ist immer auffällig und verdient besondere Aufmerksamkeit, wenn
ein Neurotiker sich selbst zu beschimpfen, geringschätzig zu beurteilen pflegt
u. dgl. Häufig gelangt man, wie bei den Selbstvorwürfen, zum Verständnis
durch die Annahme einer Identifizierung mit einer anderen Person. In einem
Falle zwangen die Begleitumstände der Sitzung zur einer anderen Lösung eines
solchen Benehmens. Die junge Dame, die nicht müde wurde zu versichern,
sie sei wenig intelligent, unbegabt usw., wollte damit nur andeuten, sie sei
am Körper sehr schön, und verbarg diese Prahlerei hinter jener Selbst-
kritik. Der in all solchen Fällen zu vermutende Hinweis auf die schädlichen
Folgen der Onanie fehlte übrigens auch in diesem Falle nicht. (Freud,)
Nr. 16. Infantile Vorstellungen über das weibliche
Genitalorgan.
Ein in der Kindheit arg eingeschüchterter Patient (mit Impotenz infolge
larvierter Kastrationsbefürchtungen) träumt, daß er seiner englischen Sprach-
lehrerin eine Kravatte kauft, die aber eigentlich ein zusammengeringelter
Aal war. — Die Analyse ergab, daß er ihr einen Penis (Fisch-Kravatte)
kaufen will, da es ihm vor einem Wesen ohne Penis (Kastrat, Weib) graust.
Um sich dem Weib ohne Angst nähern zu können, muß er sich die Vagina
als zusammengeringelten Penis vorstellen.
Ein anderer Patient brachte die bewußte Erinnerung der infantilen
Ansicht, daß die Frauen einen kurzen aber dicken Penis mit
sehr weiter Urethra haben, deren Lumen groß genug ist, um den
Penis des Mannes eindringen zu lassen. — Die Idee, daß es Wesen ohne Penis geben
kann, ist wegen der Assoziation mit dem Kastrationskomplex sehr unlustvoll
(Freud), so daß die Knaben alle möglichen Theorien über das weibliche
Genitale aushecken müßen, die alle darin übereinstimmen, daß das Weib trotz
des gegenteiligen Anscheines einen Penis hat. (Ferenczi.)
Nr. 17. Kindliche Vorstellungen von der Verdauung.
Dreijähriger Junge:
„Onkel Doktor, was hast du im Bauch, daß du so dick bist?“ (Scherz-
hafte Antwort des Hausarztes): „Kaka!* (Darauf der Junge): „Ißt du denn
so viel Kaka?“
[Der Kleine stellt sich den Bauch als einen Hohlraum vor, in dem das
Gegessene unverändert enthalten ist, so wie die in Märchen und Mythen von
Kronos, vom Wolf, vom Walfisch usw. aufgefressenen Menschenkinder
nach Tötung des Tieres oder des Menschenfressers lebend zum Vorschein
kommen oder mittels Erbrechen wiedergeboren werden. — Der Aus-
spruch des kleinen Forschers weist aber auch darauf hin, daß er den Kausal-
nexus zwischen Essen und Stuhlabsetzen noch nicht entdeckt hat und'letzteres
als eine Funktion für sich betrachtet. Wir wissen ja, wie schwer es der
Menschheit fällt, solche Zusammenhänge festzustellen. Das dritte, was an diesem
Kinderspruche auffällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der er das Kotessen
beim Menschen voraussetzt. | (Ferenczi.)
382 Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis,
Nr. 18. Ursache der Verschlossenheit bei einem Kinde,
Die junge Mutter von zwei Kindern ist untröstlich darüber, daß ihre
Älteste (vier Jahre alt) so auffallend verschlossen ist; mit allen Mitteln ver-
sucht sie, die Kleine zur Aussprache zu bringen, ihr Vertrauen zu gewinnen,
jedoch vergeblich. Selbst als die vom Kinde sehr geliebte englische Bonne
weggeschickt werden muß, äußert das Kind der Mutter gegenüber keine
Affekte. Die Mutter bittet sie, doch aufrichtig zu sein, sie dürfe der Mama
alles sagen, was sie am Herzen hat. „Darf ich wirklich alles sagen ?* frägt
die Kleine. „Ja, frage nur,“ antwortete die Mutter. „Nun dann sage mir,
woher kommen die Kinder!“ — [Schlagende Bestätigung der Annahme
Freuds, daß die Unaufrichtigkeit der Eltern dem wißbegierigen Kinde gegen
über zur Quelle bleibender aftektiver und intellektueller Störungen werden kann.]
(Ferenczi.)
Nr. 19. Rücksicht auf Darstellbarkeit.
Der Träumer zieht eine Frau hinter dem Bette hervor: — er gibt ihr
den Vorzug. — Er (ein Offizier) sitzt an einer Tafel dem Kaiser gegen-
über: — er bringt sich in Gegensatz zum Kaiser (Vater). Beide Dar-
stellungen vom Träumer selbst übersetzt. (Freud.)
Nr. 20. Träume von Toten.
Wenn man träumt, daß man mit Toten spricht, verkehrt u. dgl., hat es
oft die Bedeutung des eigenen Todes. Erinnert man aber im Traum, daß
der Betreffende tot ist, so wehrt man damit die Deutung auf den eigenen
Tod von sich ab. (Freud.)
Nr. 21. Fragmentarische Träume.
Solche enthalten oft nur die zum Thema gehörigen Ehe, Z. B. ein
Traum im Zusammenhange homosexueller Regungen: Er geht mit einem
Freund irgendwokin spazieren .. . (undeutlich) ... . Luftballone.
(Freud.)
Nr. 22. Auftreten der Krankheitssymptome im Traume,
Die Symptome der Krankheit (Angst usw.) im Traum scheinen ganz
allgemein zu besagen: Darum (im Zusammenhange mit den vorhergehenden
Traumelementen) bin ich krank geworden. Dies Träumen entspricht also
einer Fortsetzung der Analyse in den Traum. (Freud.)
III,
Bemerkungen zu der Arbeit Jaspers’: Kausale und „ver-
ständliche“ Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose
bei der Dementia praecox (Schizophrenie).
(Zeitschrift für die gesamte Neurologie & Psychiatrie XIV. Bd., 2. Heft.)
Von L. Binswanger, Kreuzlingen.
Die über 100 Seiten umfassende Arbeit Jaspers’ enthält eine metho-
dologische Übersicht mit einer kurzen Kritik Freuds, einen Abschnitt über
die Lehre von den reaktiven Psychosen, sowie zwei Krankengeschichten und
ihre Analyse. Ein eingehendes Referat über die Arbeit zu geben, ist nicht
meine Absicht ; ich möchte nur Stellung zu ihr nehmen vom Standpunkt des
Psychoanalytikers aus.
Es ist ein unbestreitbares Verdienst des Verfassers, in seiner methodo-
logischen Übersicht ernstlich die Grundlagen der Psychologie als
Wissenschaft zu untersuchen, so skizzenhaft in jenem Rahmen die Unter-
suchung auch ausfallen mußte. Man merkt aber, hier herrscht das Bedürfnis,
diese Wissenschaft einerseits klar abzugrenzen von der Naturwissenschaft,
anderseits zu bestimmen in ihren eigenen Grenzen, in ihrer Methodik und
ihrer Leistungsfähigkeit.
Verfasser macht zunächst aufmerksam auf der prinzipiellen Unterschied
zwischen verständlichen und kausalen Zusammenhängen. „Zum Beispiel ver-
stehen wir eine Handlung aus Motiven, erklären wir eine Bewegung
kausal durch Nervenreize.“ Zwischen der nur gleichnisweise kausal zu
nennenden „Kausalität von innen“ und der „Kausalität von außen“
besteht ein unüberbrückbarer Abgrund. Zwar gibt es auch kausales
Erklären in der Psychologie. „Immer müssen wir bei solchen kausalen
Untersuchungen den phänomenologischen Einheiten oder den verständlichen
Zusammenhängen etwas Außerbewußtes zu Grunde liegend denken und müssen
so Begriffe von außerbewußten Dispositionen, Anlagen, seelischen Konstitutionen
und außerbewußten Mechanismen verwenden. Diese Begriffe können jedoch
in der Psychologie nicht zu alleinherrschenden Theorien entwickelt werden,
sondern werden nur für die jeweiligen Untersuchungszwecke, soweit sie sich
als brauchbar erweisen, benützt.“
Wir sehen also, daß es sich bei dem kausalen Erklären, das Jaspers
für die Psychologie gelten läßt, um eine „psychophysische Kausalität* han-
delt. „Phänomenologische Einheiten, z. B. eine Halluzination, eine Wahr-
nehmungsart, werden durch körperliche Vorgänge erklärt“ usw.
In die seelischen Zusammenhänge führt uns aber erst das „einfühlende
Verstehen“, dieses ist „Psychologie selbst“. Alle verstehende Psychologie
384 L. Binswanger.
wiederum baut sich auf dem Erleben einer unmittelbaren Evidenz auf, die
wir nicht weiter zurückführen, nicht auf eine andere Evidenz gründen können.
„Solche Evidenz wird aus Anlaß der Erfahrung gegenüber menschlichen
Persönlichkeiten gewonnen, aber nicht durch Erfahrung, die sich wiederholt,
induktiv bewiesen. Sie hat ihre Überzeugungskraft in sich selbst. Die
Anerkennung dieser Evidenz ist Voraussetzung der verstehenden Psychologie,
so wie die Anerkennung der Wahrnehmungsrealität und Kausalität Voraus-
setzung der Naturwissenschaft ist.“
Was das Urteil über die Wirklichkeit eines verständlichen Zusammen-
hangs im Einzelfall anlangt, so beruht dieses aber nicht allein auf der Evi-
denz desselben, sondern vor allem auf dem objektiven Material sinn-
licher, greifbarer Anhaltspunkte (sprachliche Inhalte, geistige
Schöpfungen aller Art, Handlungen, Lebensführung, Ausdrucksbewegungen),
die einzeln verstanden werden, aber immer in gewissem Maße unvollständig
bleiben. Alles Verstehen einzelner wirklicher Vorgänge bleibt daher mehr
oder weniger ein Deuten, das nur in seltenen Fällen relativ hohe Grade
der Vollständigkeit erreichen kann. Beispiele solcher verständlicher (nach
Max Weber „idealtypischer“) Zusammenhänge sind z. B. der Zusammenhang
zwischen Frühjahr und Selbstmord, zwischen Brotpreis und Diebstahl oder
(nach Nietzsche) zwischen dem Bewußtsein von Schwäche, Armseligkeit und
Leiden einerseits, moralischen Prinzipien anderseits. Solche „genetisch ver-
ständliche Zusammenhänge“ führen nie zu Theorien, „sondern sind ein
Maßstab, an dem einzelne wirkliche Vorgänge gemessen und als mehr oder
weniger verständlich erkannt werden“. Kausalregeln aber sind Regeln,
„sind induktiv gewonnen, gipfeln in Theorien, die etwas der unmittelbar
gegebenen Wirklichkeit zu Grunde Liegendes denken“.
Auf Grund der hier angedeuteten methodologischen Bemerkungen formuliert
nun Jaspers, in dem Bemühen „an dem was uns einleuchtet, positiv mit-
zuarbeiten und zu einer kritischen Stellung zu kommen“, folgende Kritik
Freuds:
a) „Bei Freud handelt es sich tatsächlich um verstehende Psy-
chologie, nicht um kausale Erklärung, wie Freud meint. Kausale Er-
klärungen spielen hinein, indem die physischen Grundlagen eines ganzen
verständlichen Zusammenhangs als Ursache z. B. einer Armlähmung, einer
Bewußtseinstrübung usw. angesehen werden.“
b) „Freud lehrt in überzeugender Weise viele einzelne verständliche
Zusammenhänge kennen. Wir verstehen, wie ins Unbemerkte verdrängte
Komplexe sich in Symbolen wieder zeigen. Wir verstehen die Reaktionsbildungen
auf verdrängte Triebe, die Unterscheidung der primären, echten von den
sekundären, nur als Symbole oder Sublimierungen vorhandenen seelischen Vor-
gängen. Freud führt hier teilweise Lehren Nietzsches detailliert aus. Er
dringt weit vor ins unbemerkte Seelenleben, das durch ihn zum Bewußtsein
erhoben wird.“
c) „Auf der Verwechslung verständlicher Zusammenhänge mit kausalen
Zusammenhängen beruht die Unrichtigkeit der Freudschen Forderung, daß
alles im Seelenleben, daß jeder Vorgang verständlich (sinnvoll deter-
miniert) sei. Nur die Forderung unbegrenzter Kausalität, nicht die Forderung
unbegrenzter Verständlichkeit besteht zu Recht. Mit diesem Irrtum hängt ein
anderer zusammen. Freud macht aus verständlichen Zusammenhängen
Theorien über die Ursachen des gesamten seelischen Ablaufs, während
Verstehen seinem Wesen nach nie zu Theorien führen kann, während
kausale Erklärungen immer zu Theorien führen müssen (die vermutende
Bemerkungen zu: Kausale und „verständliche“ Zusammenhänge etc. 385
Deutung eines einzelnen seelischen Vorgangs — nur solche einzelne
Deutungen kann es geben — ist natürlich keine Theorie).“
d) „In zahlreichen Fällen handelt es sich bei Freud nicht um ein Ver-
stehen und ins Bewußtsein Heben unbemerkter Zusammenhänge, sondern
um ein „als ob Verstehen“ außerbewußter Zusammenhänge. Wenn man
bedenkt, daß der Psychiater akuten Psychosen gegenüber weiter nichts als
Verworrenheit, Desorientierung, Leistungsdefekte oder sinnlose Wahnideen bei
Orientierung konstatiert, so muß es als ein Fortschritt erscheinen, wenn es
gelingt, durch „als ob verständliche“ Zusammenhänge in diesem Chaos vor-
läufig etwas zu charakterisieren und zu ordnen (zum Beispiel die Wahninhalte
der Dementia praecox)“ usw.
e) „Ein Fehler der Freudschen Lehren besteht in der zunehmenden
Simplizität seines Verstehens, die mit der Verwandlung der verständlichen
Zusammenhänge in Theorien zusammenhängt. Theorien drängen zur Ein-
fachheit, das Verstehen findet unendliche Mannigfaltigkeit. Freud
glaubt nun, ungefähr alles Seelische auf Sexualität in einem weiten
Sinne gleichsam als die einzige primäre Kraft verständlich zurückführen zu
können. Besonders Schriften mancher seiner Schüler sind durch diese Sim-
plizität unerträglich langweilig. Man weiß immer schon vorher, daß in jeder
Arbeit dasselbe steht. Hier macht die verstehende Psychologie keine Fort-
schritte mehr.* —
Zu Vorstehendem möchte ich folgendes bemerken: Die schroffe Gegen-
überstellung von „verständlich“ und „kausal‘“ (so sehr sie auch wichtige
Probleme beleuchtet) und die darauf basierende Kritik Freuds ist nicht
unanfechtbar. Jaspers kausale Erklärung in der Psychologie ist eine psy-
chophysische, wie wir sehen, er scheint nur eine psychophysische Kausalität
neben der physischen oder Naturkausalität gelten zu lassen, nicht aber eine
Kausalität auf rein psychischem Gebiet. Es ist nun aber Jaspers nicht
gelungen, nachzuweisen, daß es keine psychische Kausalität oder keine,
Kausalität auf psychischem Gebiet gibt. „Jeder Kausalzusammenhang*
sagt Lipps, „ist eine gesetzmäßige Abhängigkeitsbeziehung zwischen Ur-
teilen, die vom denkenden Geiste gefällt werden. Alle Gesetzmäßigkeit
oder Kausalität in der Welt, von der ich weiß, ist nur diese im denkenden
Geiste oder im Bewußtsein stattfindende gesetzmäßige Ordnung,
die darin besteht, daß wenn eines, die sogenannte „Ursache“, als wirklich
anerkannt wird, ein anderes, die sogenannte „Wirkung“, vom denkenden
Geiste als wirklich anerkannt werden muß, und daß dies letztere nicht als
wirklich anerkannt werden dürfte, wenn nicht jenes erstere als wirklich aner-
kannt werden müßte.“ Es ist nun nicht einzusehen, warum diese im Bewußt-
sein stattfindende gesetzmäßige Ordnung sich nicht auch auf die ‚‚psychologischen
Tatsachen‘ erstrecken soll und kann? Lipps spricht demnach auch
von einer erklärenden Psychologie, deren Aufgabe er in unmittelbare
Parallele stellt zur Aufgabe der Naturwissenschaft. Indem er aber die psy-
chische Kausalität findet in den Beziehungen zwischen seelischen Vorgängen
zu einer Seele als realem Substrat, greift er zur Metaphysik und wird
dabei für uns nicht mehr maßgebend. Sehr scharf macht aber auch Lipps
aufmerksam auf den prinzipiellen Unterschied zwischen dem unmittelba-
erlebten Zusammenhang einzelner Bewußtseinserlebnisse und einem Kausal-
zusammenhang, nämlich zwischen Motivation und Kausation. Es ist vielleicht
nicht unnötig, zu bemerken, daß auch vom Ref. keineswegs jenes Erleben
„des Hervorgehens“ eines Bewußtseinserlebnisses aus einem anderen, mit Kausa-
lität verwechselt wird. Ich kann nicht einen Kausalzusammenhang erleben.
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse. 25
386 L. Binswanger.
„Kausale Zusammenhänge gibt es nur für den Verstand“. „Daher ist ein
kausaler Zusammenhang nichts anderes als ein gesetzmäßiger Zusammen-
hang, und dieser wiederum nichts als ein notwendiges Zusammensein
bezw. eine notwendige Aufeinanderfolge, d. h. ein Zusammensein oder
eine Aufeinanderfolge nach allgemeinen Gesetzen“ (Lipps).
Die Frage besteht also, ob denn tatsächlich auf rein psychologischem
Gebiet eine Gesetzbildung unmöglich erscheint. Mit der Entscheidung dieser
Frage steht und fällt auch die nach einer wissenschaftlich-psychologischen
Erklärung psychischer Vorgänge. Denn „Erklären im wissenschaftlichen
Sinne heißt Zurückführen oder Einordnen einzelner Tatsachen in Gesetze, d. h,
in Reihen ähnlicher Tatsachen. Gesetzbildung und Erklärung geht Hand in
Hand. Erklärung ist deshalb Aufgabe der Wissenschaft so gut wie Gesetz-
bildung und wie alle Ordnung der Tatsachen überhaupt.“!) Häberlin hat
m. E. in völlig zulässiger Weise diese Fragen u. a. auch an dem Beispiel
der Erklärung des Traumes erörtert und prinzipiell gezeigt, daß man psy-
chologische Tatsachen psychologisch erklären könne durch Einordnen in psy-
chologische Gesetze (Regeln); dabei sei natürlich vorausgesetzt, daß die
Einordnung gelinge und daß die herangezogenen Gesetze richtig seien; ob
sie richtig seien oder nicht, das zu untersuchen sei freilich Sache immer
neuer Prüfungen. — Es handelt sich nun hier nicht darum, die Richtigkeit
bestimmter psychologischer Gesetze nachzuweisen ; ich möchte nur zeigen, daß
und wie Gesetz- oder Regelbildung in der Psychologie überhaupt möglich ist.
Jaspers streift, soviel ich sehe, gerade diese Möglichkeit der Regelbildung
nicht. Er sieht Regeln nur da, wo es sich um Beziehungen psychologischer
Vorgänge zu Außerbewußtem (dem „echten“ Unbewußten) handelt (S. 165),
während es sich hier um Regelbildung innerhalb des tatsächlich Erlebten, des
Bewußten und des Unbemerkten (nach Jaspers) handelt. Ich wieder-
hole nur, daß ich nicht einsehe, warum hier Regelbildung und damit Erklä-
rung nicht möglich sein sollten. Gerade .darin erblicke ich die Befruchtung
der Psychologie durch Freud, daß er Regeln aufgestellt hat, die induktiv
gewonnen und nachprüfbar sind und in die die einzelnen psychologischen
Tatsachen eingereiht und damit erklärt werden können, Selbstverständlich ist
diese Art des Erklärens nicht die einzig mögliche in der Psychologie; ich
wehre mich nicht gegen den psychophysischen Erklärungsversuch als solchen,
nur gegen seine Alleinherrschaft. Ja ich meine, daß Psychologie erst durch
den psychologischen Erklärungsversuch (im obigen Sinne) Psychologie wird,
eine selbständige Wissenschaft nämlich, die nicht im Schlepptau der Natur-
wissenschaft segeln muß.
Der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie besteht
ja hauptsächlich in der Gewinnung des Tatsachenmaterials; in
der weiteren Verarbeitung desselben folgen beide Wissenschaften denselben
Gesetzen, Das Material der Naturwissenschaften wird uns zugänglich durch
die Sinne, durch das „sinnliche Erkennen“, dasjenige der Psychologie durch
das Verstehen im Sinne Jaspers’, durch die Einfühlung (im engeren Sinne)
nach Lipps, durch den Vorgang der Deutung nach Häberlin. Ist das
Material einmal da, so geht die Konstatierung der Kausalität denselben Weg
wie in der Naturwissenschaft, — aber unter Einbeziehung und
„Übertragung“ der Selbstbeobachtung (Häberlin). Gerade diesen
Punkt scheint mir Jaspers nicht scharf genug erfaßt zu haben. Er hätte
!) Ich schließe mich hier und im folgenden ganz an Häberlin (Wissenschaft
und Philosophie, Basel 1910 & 1912, 2 Bde.) an, dem ich auch für manche persön-
liche Anregung zu Dank verpflichtet bin.
Bemerkungen zu: Kausale und „verständliche“ Zusammenhänge etc. 387
sonst eingesehen, daß psychologische Kausalität auch noch „verstehende“
Kausalität ist, während Naturkausalität stets zwar „konstatiert“, aber niemals
„verstanden* — selbst erlebt ist. M. a. W.: daß als regelmäßig und not-
wendig bestehend gefundene psychologische Zusammenhänge auch noch „ver-
standen“ werden können, kommt zu ihrem Kausalcharakter hinzu, ändert
aber daran nichts (Häberlin.). Auch Jaspers sieht ein, daß gegenüber
den kausalen Zusammenhängen die verständlichen Zusammenhänge ein Plus
bedeuten (S. 173), denkt daher aber lediglich an die „Naturkausalität“,
Am klarsten und ausführlichsten scheint mir in der Tat Häberlin
die uns hier beschäftigenden Fragen beschrieben zu haben, und ich verweise
auf die einschlägigen Kapitel in seinem Buche (I. Bd. Fremde Individuen,
Psychologie und ihre Einzelwissenschaften. II. Bd. Wissenschaftmöglichkeit
der Psychologie S. 301 ff... Hier sei nur erwähnt, daß Deuten im Sinne
Häberlins etwas ganz anderes ist als bei Freud.!) Auf die Art und
Weise, wie die Psychologie ihr durch Deutung gewonnenes Material nach-
prüft, ordnet, wie sie zur Aufstellung von Regeln gelangt und uns ermöglicht,
kausale Zusammenhänge zu statuieren oder, was dasselbe ist, an die Not-
wendigkeit bestimmter Abläufe des psychischen Geschehens zu glauben
(Häberlin), auf all das kann hier nicht eingegangen werden. Der Haupt-
zweck dieser Ausführungen war der, nachzuweisen, daß die Ausführungen
Jaspers’ angreifbar sind, daß von anderen Psychologen gerade entgegengesetzte
Anschauungen vertreten werden, auf Grund derer die „Wissenschaftsmöglich-
keit“ der psychoanalytischen Forschungsrichtung sehr leicht „bewiesen“
werden kann. So sehr das Bedürfnis nach methodologischer Klarheit anzuer-
kennen ist, so sehr muß auch immer wieder auf die Gefahren aufmerksam
gemacht werden, die daraus erwachsen können, daß an Hand methodologischer
Begriffe die Richtigkeit oder Nichtrichtigkeit einer Lehre, ihre Wissenschaft-
lichkeit oder Nichtwissenschaftlichkeit „bewiesen“ werden soll, während doch
einzig und allein die Nachprüfung und die Erfahrung hier maßgebend sind.
In Ansehung der Kronfeldschen Arbeit (Die psycholog, Theorien Freuds
usw.) haben schon Bleuler (Die psychologichen Theorien Freuds. Archiv f. d.
gesamte Psychologie, XXIII. Bd. °®/,. Heft), Lewandowsky (Ztschr. f. d.
ges. Neurologie & Psychiatrie. Referate 6. Bd., 7. H. S. 831) und vor allem
Rosenstein (Jahrbuch f. psychoanalyt. und psychopatholog,. Forschungen
Iv. Bd. 2. Hälfte) auf diese Gefahr aufmerksam gemacht. Jaspers Arbeit
ist aber insofern interessanter als diejenige Kronfelds, als er an sehr guten
Beispielen die praktischen Konsequenzen seiner Anschauungen zieht.
Doch bevor wir hierauf eingehen, noch einige kurze Bemerkungen zu
der „Kritik Freuds.“ Über die Anfechtbarkeit des Satzes, daß Verstehen
seinem Wesen nach nie zu Theorien führen könne, wurde schon oben ge-
sprochen. Es ist ein sonderbares Verfahren, das Verfasser hier einschlägt, nämlich
aus durchaus anfechtbaren methodologischen Überlegungen heraus die Möglich-
keit der Existenz von Theorien zu leugnen, die bereits existieren und in
praxi sich in Tausenden von Fällen bewährt haben !
!) Unter Deutung versteht Häberlin ganz allgemein die Art und Weise, wie
wir fremdes Erleben als Erleben inne werden, Sie ist eine Art der Erfahrung für sich,
die aus „naturwissenschaftlicher* Erkenntnisweise — sei es aus ihrer sinnlichen oder
aus ihrer logischen Seite — weder zu verstehen noch irgendwie herzuleiten ist. Sie
ist äußerlich dadurch charakterisiert, daß wir an einem fremden Körper gewisse
Qualitäten oder Veränderungen als „Zeichen“ für ein bestimmtes fremdes Erleben
auffassen. Wie das Wesen des Deutungsvorganges näher bestimmt wird, läßt sich hier
= na nicht gut reproduzieren. Wir verweisen auf das zitierte Werk, z. B. Bd. II,
ite 315 ff.
25*
388 L. Binswanger.
Was „die Unrichtigkeit der Freudschen Forderung anlangt, daß alles
im Seelenleben, daß jeder Vorgang verständlich (sinnvoll determiniert)
sei“, so ist hier zu bemerken, daß Freud aus psychologischem Interesse
allerdings „fordert“, daß alles Psychische psychisch determiniert sei; er
weiß aber sehr gut, daß diese Determination oft nicht mehr aufzuzeigen ist.
Die vorfreudsche Psychologie und die Psychiatrie machen den Fehler,
daß sie mit der rein psychologischen Erklärung ohne Not zu früh auf-
hören und gleich den Sprung ins Psychophysische machen. Sehr deutlich wird
dies bei den „Analysen“, die Jaspers selbst in dieser Arbeit unternimmt,
Wenn Freud vorgehalten wird, daß es sich bei ihm in vielen Fällen
um ein „als ob Verstehen* außerbewußter Zusammenhänge handle, so
ist zu sagen, daß einmal solche Fälle bei Freud nicht allzu häufig sind,
sondern daß er eben gerade solche Fälle heranzieht, die eben durch die Ana-
lyse bewußt gemacht werden können ; ferner aber muß es erlaubt sein, in
der Form der Hypothese oder Theorie Zusammenhänge zu vermuten, von
denen gewisse Glieder nicht bewußt gemacht werden können. Freud geht
in solchen Fällen nicht anders vor, als jede naturwissenschaftliche oder psychologi-
sche Theorie, — solange sie Theorie bleibt: er zieht vermutungsweise und mit
heuristischer Tendenz Verborgenes zur Erklärung heran.
Was schließlich die zunehmende Simplizität des Verstehens bei Freud
gegenüber der Mannigfaltigkeit, die das Verstehen findet, anlangt, so muß
gesagt werden, daß auch die sinnliche Beobachtung in der Naturwissenschaft
„unendliche Mannigfaltigkeit“ findet. Gerade Häberlin hat wiederum ge-
zeigt, daß ebenso wie in den Naturwissenschaften viele verwandte Einzelfälle
zu einer generellen Tatsache (Gesetz, Begriff) zusammengenommen werden
(wodurch Theoriebildung und Erklärung erst möglich wird: das einzelne als
solches ist nicht zu erklären; vgl. Häberlin |. c. I. Bd. „Erklärung“),
so auch psychologische Mannigfaltigkeiten nach Gesichtspunkten der Ver-
wandtschaft zusammengefaßt werden können, und somit auch hier generelle
Tatsachen zu konstatieren sind. Hierauf beruht ebenso wie in den Natur-
wissenschaften die Bildung psychologischer Gesetze und Theorien.
Der Satz, Freud glaube, ungefähr alles Seelische auf Sexualität in
einem weiten Sinne gleichsam als die einzige primäre Kraft verständlich
zurückführen zu können, ist in dieser Fassung nicht richtig. Es genügt, hier
auf das Kapitel über Traumpsychologie in Freuds Traumdeutung hinzu-
weisen. Zuzugeben ist, daß hier der strittigste Punkt der ganzen Lehre ge-
streift wird, dessen praktische Bedeutung vom Verfasser aber überschätzt wird.
Das rächt sich, wie wir später sehen werden, in einer übertriebenen Reaktion,
die ihn für das Sexuelle fast blind macht.
Zum Schlusse muß anerkannt werden, daß wenn wir das was Jaspers
von den Freudschen Errungenschaften akzeptiert, mit dem vergleichen, was
z. B. die Kraepelinsche Schule davon „verstanden“ hat, hier immerhin
ein sehr erfreulicher Anfang vorliegt.
Den beiden Krankengeschichten schickt Jaspers eine Übersicht über
die Lehre von den reaktiven Psychosen voraus, die in ihrer Kürze alles Wesent-
liche enthält. Besonders störend macht sich aber gerade wieder hier Jaspers’
Auffassung von „verständlich“ und „kausal* geltend. Würde er statt dieser
Ausdrücke einfach „psychologisch“ und „psychophysisch“ einsetzen, so könnte
man fast alles unterschreiben, was er in diesem Kapitel sagt. Es brauchte
dann nicht langer Auseinandersetzungen, um klar zu machen, daß die beiden
Erklärungsmöglichkeiten nebeneinander hergehen, daß keine die andere
Bemerkungen zu: Kausale und „verständliche* Zusammenhänge etc. 389
ersetzen kann und daß keine allein im stande ist, das Wesen einer Psychose
„restlos“ zu erklären,
Auch die Psychoanalytiker wissen natürlich, daß mit der psychologischen
Auffassung einer Psychose nicht alles getan ist, wenn sie es auch für über-
flüssig halten, daneben jeweils auf das Psychophysische hinzuweisen, solange
man davon nichts Sicheres weiß.
Wir wenden uns nun gleich zu der Krankengeschichte II als der
bei weitem interessanteren, Ein besonders lehrreicher, glänzend geschilderter
Fall; erster halluzinatorisch-paranoischer, 14 Tage dauernder Schub bei einem
29jährigen Schizophrenen, mit sehr guter darauffolgender Erinnerungsfähig-
keit. Der Fall kann jedem Analytiker zur Lektüre empfohlen werden. Er
enthält massenhafte Anklänge an den Fall Schreber (vgl. Freud, Jahrbuch
Bleuler-Freud III. Bd.): so den „Weltuntergang“, die „andersgeschlechtliche
Verdoppelung“, den „Seelenwechsel“, das ambivalente Verhältnis zu Gott, die
religiöse Auffassung des „Sich-Hingebens“ („damit das goldene Zeitalter, die
Erlösung kommt“). Sehr durchsichtig ist, wie im Fall Schreber, die homo-
sexuelle Triebfeder in der Psychose. Am lehrreichsten ist aber das Verhalten
des Kranken zur äußeren Welt, vor allem die höchst dramatische Art und
Weise, wie der Einzug Gottes und der ganzen Welt „zur Stärkung seiner
Kraft“ in ihm stattfindet, wie alle Genies, die Mutter, die Luft, der Teufel,
die abstrakten Begriffe, Stein, Sandkorn, schließlich auch „die anderen Götter“
(darunter der Sonnengott, der ihn besonders liebevoll und durchdringend
ansieht !) in ihn eindringen, sich Platz in ihm verschaffen, wobei Patient „einer
ungeheuren Liebe fähig ist“! —
Was ist nun aber die wissenschaftliche Ausbeute dieses Falles? Er
wird phänomenologisch, nach „kausalen“ und nach „verständlichen‘‘ Zusammen-
hängen zergliedert. Die Frage nach den „kausalen“ Zusammenhängen ist die
nach der Diagnose. Die Beziehungen zu dem schizophrenen „Prozeß“
werden untersucht, die Frage der Reaktivität der Psychose wird behandelt,
kurz es wird eine „klinische“ Analyse des Falles gegeben. Wir sind nun
gespannt auf die Ausbeute aus den verständlichen Zusammenhängen. Hier ist
die Enttäuschung groß. Ich kann mit dem besten Willen in den betreffenden
Ausführungen nicht viel mehr sehen als wiederum eine phänomenologisch-
klinische Analyse. Überall wird versucht, das spezifisch „Prozeßbedingte“
an dem Kranken zu verstehen und zu beschreiben; dabei nimmt den größten
Raum ein die Kennzeichnung der psychologischen Eigenart der „skeptischen
Haltung“ des Patienten, die mit den sonst vorkommenden psychologischen
Formen des Skeptizismus verglichen wird. Daneben werden noch einige andere
„Grundmotive“ der Psychose verfolgt, wobei wir dem Verfasser gerne zugeben,
daß er weit entfernt ist, „den Inhalt der Psychose überhaupt zu ‚ver-
stehen‘ als ein durchgehends sinnvolles Gebilde.“ Nur für eine Menge
der wahnhaften und halluzinatorischen Inhalte der ersten Wochen erachtet es
der Verfasser als naheliegend, sie zu verstehen, „als ob“ sie Ausdruck seiner
Wünsche wären. Auch wird die akuteste Phase der Psychose „als Flucht aus
der Wirklichkeit mit dem Berufsproblem“ anerkannt. Wozu, muß man sich
im übrigen aber fragen, nützt dem Verfasser alle Gelehrsamkeit und das Bedürfnis
nach allseitiger Vertiefung in den Fall, alle methodologische Schulung, wenn
er mit einem so hervorragend lehrreichen Falle nicht mehr anzufangen weiß,
als es hier der Fall ist, wenn er die Probleme überhaupt nicht sieht?
Niemand kann von dem Autor verlangen, daß er sich im einzelnen, z. B.
bezüglich der Symbolik, auf den Freudschen Standpunkt stellt, es ist aber
zu verlangen, daß, wenn er eine Kritik ausübt, er wenigstens die Probleme
390 L. Binswanger.
der Gegner kennt, sieht und verfolgt. Die Symbolik spielt dabei nicht die
Hauptrolle, wie Verfasser anzunehmen scheint. Ein Blick in den Fall Schreber
hätte genügt, um die Fragestellungen zu finden, die Freud einem
solchen Falle gegenüber erhebt. Der schwerste Vorwurf aber muß dem Verfasser,
abgesehen von der Vernachlässigung des infantilen Moments, das gerade
hier so gut hätte erforscht werden können, daraus gemacht werden, daß er an
der Sexualität — ich meine nun nicht an dem, was Freud Sexualität nennt,
sondern an dem, was gemeinhin unter Sexualität verstanden wird — vorbei-
sieht, so vor allem an der homosexuellen Komponente. Entweder kann
oder will er sie nicht sehen, in beiden Fällen darf er dann aber nicht erwar-
ten, daß der Gegner auf ihn hört. Und doch wäre eine Verständigung gerade
mit Autoren wie Jaspers nur wünschenswert. Eine solche Verständigung
wird aber nicht gelingen, bevor der Verfasser nicht diejenige Vorarbeit geleistet
hat, an der wir alle unser Verständnis für die Psychosen erweitert haben, an
dem Studium nämlich des Traums, vor allem der eigenen Träume, und der
Neurosen. Nur von hier aus läßt sich der Eingang in das tiefere Verständnis
der Psychosen gewinnen.
Kritiken und Referate.
C. G. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur
Entwicklungsgeschichte des Denkens. (Jahrbuch für psychoanalytische
und psychopathologische Forschungen, III. u. IV. Band, 1911 und 1912.
Auch separat bei F. Deuticke, Wien 1912, Preis K. 12.—, 422 8,
samt Index.)
„. » . O’est donc un devoir moral de l’homme de science de s’exposer
a commettre des erreurs et a subir des critiques, pour que la science avance
toujours...“ Indem Jung diese mutigen Worte Ferreros als Leitmotiv
an die Spitze seines großangelegten Werkes stellt, ermutigt er auch den Kritiker,
sein Amt ernst zu nehmen. Man könnte sich die kritische Arbeit leicht und
angenehm machen, wollte man sein Augenmerk auf die zahlreichen Vorzüge
dieser Untersuchung richten. Mit ungeheurem Fleiß und nie erlahmender Be-
geisterung durchwanderte der Autor fast sämtliche Gebiete menschlichen
Wissens, der Naturforschung sowohl als der Geisteswissenschaften, und sammelte
so die Bausteine, aus denen er dann den imposanten Bau einer neuen Welt-
anschauung zu errichten suchte. Aber nicht nur die Menge des Wissens
blendet hier das Auge des Lesers, auch die findige, scharfsinnige Art, in der
der Autor das wissenschaftliche Material zu Stützpfeilern seiner Theorien ver-
arbeitet, ist anerkennenswert. Doch dies alles wie auch der ganz individuelle
Stil des Werkes sind Vorzüge, auf deren detaillierte Würdigung wir hier ver-
zichten müssen. Der Psychoanalytiker, den das Gewaltige und Neue seines
eigenen Spezialfaches ganz gefangennimmt, kann sich nicht die Mühe nehmen,
allen den zerstreuten Quellen nachzuforschen und sie zu untersuchen, aus denen
der Autor seine biologischen, philologischen, theologischen, mythologischen und
philosophischen Argumente geschöpft hat. Diese Arbeit muß anderen, dazu
Berufeneren überlassen werden. Wir wollen diese Arbeit ausschließlich vom
Standpunkte des Psychoanalytikers beurteilen und hauptsächlich bei den Be-
hauptungen länger verweilen, die unseren bisherigen analytischen Anschauungs-
weisen neuere, bessere entgegenstellen wollen. Ob wir dabei in unserem Be-
streben, das gute Alte nicht dem Neuen — nur weil es neu ist — zu opfern,
nicht zu weit gehen, d.h. ob wir uns nicht desselben starren Konservativismus
schuldig machen, den wir bisher unseren prinzipiellen Gegnern zum Vorwurfe
machten, darüber wird die Zukunft entscheiden. Jedenfalls zwingen uns gerade
die bewährten Vorzüge des Autors, auf der Hut zu sein und darauf zu achten,
daß wir uns durch das Wahre in seiner Arbeit nicht dazu verleiten lassen,
auch ungenügend gestützte Behauptungen für erwiesen zu nehmen, Dies und
nichts anderes sei die Erklärung für die Rigorosität, mit der wir die Libido-
theorien Jungs untersuchen wollen.
Der Arbeit wird eine kurze „Einleitung* und eine vorbereitende Ab-
handlung „Uber die zwei Arten des Denkens“ vorausgeschickt ; das eigentliche
Werk besteht aus zwei Teilen, deren zweiter ungleich umfangreicher ist, zu-
392 Kritiken und Referate.
gleich auch inhaltlich vielfach vom ersten absticht, gleichsam Zeichen einer
während des Niederschreibens vor sich gegangenen Entwicklung aufweist, !)
Dinge, die im ersten Teile nur andeutungsweise und noch unklar formuliert
werden, sind im zweiten in schärferen Umrissen und breiter ausgeführt ; aller-
dings sind auch einige Widersprüche zwischen den beiden Teilen des Werkes
stehen geblieben, auf die wir hinweisen wollen.
Gleich die Einleitung beginnt mit einer förmlich panegyrischen Anpreisung
der Freudschen Entdeckung des „Ödipus-Komplexes“ in der Menschenseele.
„Wir sehen mit Staunen“, — sagt Jung, auf die psychoanalytischen Ergebnisse
der Traumforschung hinweisend — „daß Ödipus für uns noch lebendig?) ist,“
„daß es eine eitle Illusion unsererseits war zu glauben, daß wir anders,
nämlich sittlicher seien, als die Alten.“ Der Ödipus-Komplex des modernen
Menschen sei „zwar zu schwach, um den Inzest zu erzwingen, jedoch stark
genug, Störungen der Seele beträchtlichen Umfanges hervorzurufen*. — Diese
Bemerkungen lassen wohl nicht ahnen, daß der Autor im zweiten Teile zur
Erkenntnis kommen wird, die Ödipusphantasie sei „irreal“, ja der wirkliche
Inzest hätte in der Geschichte des Menschengeschlechtes eigentlich nie eine
bedeutende Rolle gespielt.
Das Programm der Arbeit, das sich Jung in dieser Arbeit stellt, ist
folgendes: Zahlreichen Psychoanalytikern gelang es, mythologisch-historische
Probleme durch Anwendung analytischer Erkenntnisse, die uns aus dem Studium
der Individualpsyche erwachsen sind, der Lösung zuzuführen; Jung will es
hier versuchen, diese Technik umzukehren und mit Hilfe historischer Materialien
neues Licht über Probleme der individuellen Psyche verbreiten.
Dieser Versuch erscheint einem von vornherein sehr gewagt. Eine „an-
gewandte Psychoanalyse“ ist unzweifelhaft berechtigt; sie verwendet ein Stück
individualpsychologischer Wirklichkeit (die am lebenden Menschen gefunden
wurde) zur Erklärung gewisser Produkte der Volksseele ; sie erklärt also etwas
Unbekanntes durch Bekannteres. Was uns aber in der Mythologie und in
der Geschichte überliefert wurde, ist im Laufe der Generationen mit soviel
Akzidentellem und Mißverständlichem verquickt, hat sich von den ursprüng-
lichen Bedeutungen soweit entfernt, daß es ohne vorausgegangene Reduktion
überhaupt unverständlich und für psychologische Zwecke unbrauchbar bleiben
muß. Wir nehmen hier gleich vorweg, daß Jung den Fehler, ein Unbekanntes
(die Seele) durch ein anderes Unbekanntes (unanalysierte Mythen) zu erklären,
nur stellenweise begeht. Vielfach verwendet er bei seinen Deutungen psycho-
analytisch gewonnene (d. h. individual-psychologische) Kenntnisse, indem er
psychoanalytisch erklärte Mythen zur Lösung psychologischer Rätsel
verwendet. Einen logischen Zirkel würde er in diesen Fällen nur dann be-
gehen, wenn er sich einbildete, bei dieser durchaus erlaubten Methode mehr
als Analogieschlüsse geleistet und ein neues Erklärungsprinzip in die Individual-
psychologie eingeführt zu haben.
Die Abhandlung über die zweiArten desDenkens ist die Durch-
führung der Unterscheidung zwischen dem in Worte gefaßten, in den Dienst
der Anpassung an die Realität gestellten, nach außen „gerichteten“
Denken des wachen Normalmenschen, und dem „phantastischen“ Denken,
das sich von der Wirklichkeit abwendet, hinsichtlich der Anpassung gänzlich
unproduktiv ist und nicht in Worte, sondern in Symbole gefaßt ist. Ersteres
sei ein Phänomen der Progression im Sinne Freuds, letzteres eine regressive
1) Der zweite Teil erschien etwa 1!/, Jahre nach dem ersten.
?) Vom Ref. hervorgehoben.
Kritiken und Referate, 393
Erscheinung, wie sie sich namentlich im Träumen, im Phantasieren und in der
Neurose manifestiere. Der ganze Gedankengang ist parallel mit den Aus-
einandersetzungen Freuds über „die zwei Prinzipien des psychischen Ge-
schehens“. Das bewußte Denken steht bekanntlich auch nach Freud mehr
im Dienste des Realitätsprinzips, während das Unbewußte mehr dem Lust-
prinzip frönt; in psychischen Tätigkeiten, die stark von unbewußten
Elementen durchsetzt sind (Traum, Phantasie usw.) überwiegen selbstverständlich
die Lustmechanismen. Es ist schade, daß Jung diese uns so wertvoll ge-
wordene Terminologie in seinen Ausführungen nicht anwendet; auch darin
können wir ihm nicht recht geben, daß er das gerichtete Denken einfach mit
dem sprachlichen identifiziert und jene vorbewußte psychische Schichte, die
obzwar sicher schon „gerichtet“, sprachlich nicht unbedingt überbesetzt zu
sein braucht, ganz vernachlässigt. N
e Sehr treffend sind die hierauf folgenden Außerungen Jungs über die
UÜberschätzung des Logischen in der heutigen Psychologie, sowie die Gedanken-
gänge über die Geltung des biogenetischen Grundgesetzes in der Psychologie.
In den phantastischen Schöpfungen der Dementia praecox findet Jung den
Inhalt und die Formen archaischen Denkens wieder. Indem er aber diese
Eigenheit nur der Demenz zuerkennt, die er als „Introversionspsychose“ allen
anderen psychischen Störungen prinzipiell gegenüberstellt, stellt er sich ohne
zureichenden Grund in Gegensatz zur Neurosenpsychologie Freuds, nach
dessen Untersuchung auch die übrigen Neuropsychosen einer „Introversion“
(Regression der Libido, mit Abwendung von der Realität) ihr Entstehen ver-
danken und in ihrer Symptomatik gleichfalls deutliche archaische Züge erkennen
lassen (siehe besonders die Übereinstimmungen zwischen den Äußerungen des
Seelenlebens der Wilden und der Zwangsneurotiker).
Das Motiv der Symbolbildung findet auch Jung in der Tendenz, un-
bewußte Komplexe „denen man die Anerkennung versagt, die man als nicht
existierend behandelt“ in eine entstellte, dem Bewußtsein unverständliche Form
zu gießen (d. h. nach der bisherigen Terminologie: in der Verdrängung).
Merken wir uns übrigens, daß Jung hier noch die unbewußte Tendenz als
das Eigentliche, deren phantastisches Ersatzprodukt als dessen Symbol
ansieht!) (z. B. in der Erklärung der Judasphantasie des Abb& Oegger),
während im zweiten Teile der Libidoarbeit nicht mehr die im Bewußtsein ver-
tretenen Abbilder sondern die unbewußten Tendenzen der Seele selbst für
„Symbole“ erklärt werden, obwohl die von Jung zugestandene Rolle der
Verdrängung beim Entstehen der Symbolik eine solche Umkehrung ausschließt,
Dies ist übrigens die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß man sich endlich
über die eindeutige Verwendung des Wortes „Symbol“ einigen müßte, Nicht
alles, was für etwas anderes steht, ist ein Symbol. Ursprünglich mag das
Sexuelle sowohl im eigentlichen wie auch im übertragenen Sinne im Bewußtsein
vertreten sein; die Sexualität freut sich gleichsam, sich in allen Dingen der
Außenwelt wiederzufinden, „das All wird sexualisiert*. Zum Symbol im Sinne
der Psychoanalyse wird ein solches Gleichnis erst vom Moment an, wo die
Zensur die ursprüngliche Bedeutung des Gleichnisses ins Unbewußte verdrängt.?)
Darum kann z. B. der Kirchturm nach der einmal vor sich gegangenen Ver-
1!) Am deutlichsten sagt er das an einer späteren Stelle des ersten Teiles: „Der
erotische Eindruck arbeitet im Unbewußten weiter und schiebt an seiner statt Symbole
ins Bewußtsein“ (S. 174).
?) S. die diesbezüglichen Ausführungen des Ref. im Aufsatze: „Entwicklungs-
stufen des Wirklichkeitssinnes“ (Intern. Zeitschrift für ärztl. Psychoan., I. Jahrg.,
2. Heft) sowie in der Mitteilung „Uber Augensymbolik“. Ibidem.
394 Kritiken und Referate.
drängung wohl einen Phallus, nie mehr aber der Phallus einen Kirchturm
„symbolisieren“.
Das eigentliche Thema der Jungschen Arbeit ist der Versuch, die in
der Einleitung angekündigte Methode, die Deutung individueller Geistesprodukte
mit Hilfe der Mythologie, an den Phantasien einer amerikanischen Dame, Miß
Frank Miller, zu erproben, die diese im Jahre 1906 in den „Archives de
Psychologie“ veröffentlichte. Miß Miller, die von sich u. a. erzählt, daß
sie auch im Wachen gewisse „autosuggestive Phänomene produzieren könne
und daß sie selten tief und traumlos schlafe,!) träumte eines Nachts ein
Gedicht, den „Schöpferhymnus“, ein enthusiastisches Loblied an Gott, der
in den drei Strophen des Verschens als Schöpfer der Töne, des Lichts und
der Liebe gepriesen wird. Das Gedicht, das der Verfasserin wie in ihrer
eigenen Handschrift auf ein Blatt Papier geschrieben im Traume auftauchte,
versuchte sie dann auf seine psychischen Quellen zurückzuführen.
Es ist sehr zu bedauern, daß Jung seine neuartigen Deutungsversuche
gerade an einem psychischen Material, das weiteren, persönlichen Nach-
forschungen unzugänglich war, anstellte.e Ähnliche schöpferische Traum-
leistungen bringen ja auch Personen zu stande, die in analytischer Behandlung
stehen; von diesen hätte er mittels nachträglicher Befragung die Richtigkeit
seiner Vermutungen oder deren Irrtümlichkeit erfahren können. Durch das
Entfallen dieser Nachprüfung blieben selbst die geistvollsten Erklärungen
schwankend und ungewiß und dies hindert uns, uns von der Brauchbarkeit der
Jungschen Deutungsmethode wirklich überzeugen zu können. Es ist der
unvergleichliche Vorzug der Psychoneurosen, daß die daran Leidenden, wenn
man sie psychoanalytisch befragt, uns über die Genese ihrer Geistesprodukte
Auskunft geben und selbst in zeitlich und formal von der gegenwärtigen ent-
fernte Schichten ihrer Psyche Einblick gewähren, während die der objektiven
Einstellung unfähigen Geisteskranken auf unsere Fragen ebensowenig antworten,
wie die Märchen, Mythen und Gedichte, deren Schöpfer für uns persönlich
verschollen sind.
Miß Millers „Schöpferkymnus“ wird von Jung — sehr plausibel —
als ein Derivat ihrer Vater-Imago gedeutet. Wir getrauen uns aber zu be-
haupten, daß Jung weder aus dem von der Traumdichterin selbst gelieferten
Material, noch aus seiner stupenden Kenntnis fast aller Kosmogonien der Welt
diesen Satz hätte ableiten können, hätte er nicht auf Grund der Neu-
rosenpsychologie Freuds „die Rolle des Vaters im Schicksal des Einzelnen“
schon früher erfahren. Seine Schlußfolgerung wird auch sicherlich jedem
psychoanalytisch unerfahrenen Leser, trotz der historisch-mythologischen Argu-
mente, unglaublich erscheinen.
Die Traumschöpfung Miß Millers wird dann für Jung zum Anlaß, über
unbewußte Schöpfungen von realem Werte überhaupt nachzudenken.
Daß es solche Schöpfungsmöglichkeiten wirklich gibt, wird jeder Psycho-
analytiker zugeben; ?) in der von Freud postulierten Struktur der Psyche
ist es die vorbewußte psychische Schichte, der die Fähigkeit zu solchen
!, Jung diagnostiziert den Fall Miß Millers als eine Hüchtige Anwandlung von
Dementia praecox (Paraphrenie nach Freud). Unseres Erachtens wird diese Diagnose
nicht genügend gestützt. Solche Phantasien können in jeder Neurose gelegentlich
vorkommen, von der dichterischen Inspiration ganz abgesehen. Dementsprechend
haben auch die Folgerungen, die Jung aus Miß Millers Fall auf die Pathologie der
Paraphrenie zieht, für uns keine zwingende Beweiskraft.
2) Siehe z. B. Robitsek: „Symbolisches Denken in der chemischen
ee N Imago, I. Jahrg., s. auch die bezüglichen Stellen in Freuds „Traum-
eutung*,
Kritiken und Referate. 395
Leistungen zufällt. Wenn aber Jung für alles Psychologische eine
untere und eine obere, eine die Vergangenheit reproduzierende und eine die
Zukunft vorahnende Hälfte annimmt, so ist das eine Verallgemeinerung, die
durch die bisherigen Erfahrungen nicht belegt ist. Die Psychoanalyse zeigt
uns, daß es im Unbewußten Tätigkeitsformen gibt, die mit dem Realitäts-
prinzip so wenig zu tun haben und so eindeutig in den Dienst von Lust-
befriedigungen gestellt erscheinen, daß man ihnen eine schöpferische Ent-
wicklungstendenz mit dem besten Willen nicht zuschreiben kann. Interessant
sind die Andeutungen Jungs, die er in diesem Zusammenhange über die
psychologische Erklärungsmöglichkeit gewisser „okkulter“ Phänomene, z. B.
der prophetischen Träume gibt. Auch wir denken uns, daß es einen —
heute allerdings noch unbekannten — Weg geben muß, der zur wissen-
schaftlichen Erklärung ähnlicher, kaum mehr zu leugnender Vorgänge führen wird,
vermuten aber, daß sich diese Phänomene nach ihrer Aufklärung ungezwungen
in das Gebäude unseres naturwissenschaftlichen Wissens einfügen werden.
Bei Miß Miller ist nach Jung der religiöse Hymnus eine Ersatzbildung
für das Erotische (S. 178), aber da diese Umformung unbewußt vor sich ging, sei
sie nur hysterische Mache und etwas ethisch durchaus Wertloses (S. 188). „Wer
dagegen seiner bewußten Sünde ebenso bewußt die Religion entgegensetzt, der
tut etwas, dem man im Hinblicke auf die Historie das Großartige nicht ab-
sprechen kann“ (Ibidem).
So sehr wir Jung bezüglich dessen, was er über die Genese der
religiösen Gefühle sagt, auf Grund schon gesicherter Erkenntnisse zustimmen
(wenn wir auch bekennen, daß diese Umformung des Erotischen ins Religiöse
ein sehr komplizierter und noch nicht genügend analysierter kulturhistorischer
Vorgang ist), so wenig können wir dem Autor dort folgen, wo er statt der
schlichten Konstatierung von Tatsachen ethische Werturteile fällt, die nach
unserer Meinung nicht mehr in die reine Psychologie, sondern in die Ethik oder
Theologie gehören ; aus demselben Grunde können wir uns — allerdings auch
aus Mangel an Kompetenz — in die von Jung bei dieser Gelegenheit an-
geregte Diskussion über den größeren oder geringeren Wert der christlichen
Religion nicht einlassen.
Eine zweite unbewußte dichterische Leistung Miß Millers ist „das Lied
von der Motte“. „Es handelt sich darin“, sagt Jung, „Löchstwahrscheinlich
um denselben Komplex wie früher“ ; die Sehnsucht der Motte nach dem Licht
sei die Sehnsucht der Verfasserin nach dem Gottvater, und zwar sei diese
Sehnsucht erotisch, ähnlich der, die Miß Miller während einer Mittelmeerfahrt
einem italienischen Steuermann gegenüber empfand und die als auslösendes
Motiv des „Schöpfungsliedes* gewirkt zu haben scheint. Allerdings verwahrt sich
Jung dagegen, daß man so heterogene Dinge wie die Gottessehnsucht und
jene erotische Nichtigkeit als Konkreta in Vergleich setzen solle, „das hieße
soviel, wie eine Beethovensche Sonate mit dem Kaviar zu vergleichen“, nur
weil man beide liebt. — Um die im Mottenliede sich manifestierende Sonnen-
anbetung als solche erkennen zu lassen, zitiert Jung mehrere Sonnenmythen
und führt literarisch-poetische Analoga an.
Der zweite Teil der Libidoarbeit Jungs beginnt mit einer neuerlichen,
zusammenfassenden erotisch-religiösen Doppeldeutung beider zitierter Traum-
gedichte und beschäftigt sich sodann besonders mit der im Mottenliede zum
Ausdruck gelangten „astralmythologischen“ resp. „astrologischen“ Verwendung
des Sonnenmotivs. Die Sonne sei das natürlichste Sinnbild der menschlichen
— zu „Bösem“ und „Gutem“ drängenden, der befruchtenden und lebens-
feindlichen Libido, daher die Universalität der Sonnenanbetung. Der Sonnen-
396 Kritiken und Referate.
mythos eröffne auch das Verständnis zum religiösen Hero@nkult; auch die
Heron seien Personifikationen der Libido, so daß man aus dem Schicksale
dieser Heroön, so wie sie in den Mythologien der Völker dargestellt werden,
die Schicksale der menschlichen Libido erraten könne, Diese interessanten
Ausführungen stimmen vielfach mit den diesbezüglichen Arbeiten Ranks und
Silberers überein.
Ilierauf folgt ein neuer Abschnitt der Jungschen Arbeit („Über den
Begriff und die genetische Theorie der Libido“), der nicht nur von dem im
ersten Teil Enthaltenen, sondern überhaupt von allem, was die Psychoanalyse
bisher geleistet hat, wie durch eine tiefe Kluft getrennt erscheint. Jung
unternimmt es hier, den Begriff „Libido“ zu revidieren und begründet die
Notwendigkeit dieser Aufgabe u. a. auch damit, daß dem Libidobegriff, wie er
sich in den neueren Arbeiten Freuds und seiner Schule entwickelt hat, eine
andere Bedeutung zukomme als die, in dem ihn Freud in seinen „Abhand-
lungen zur Sexualtheorie“ gebraucht habe. In Freuds „Abhandlungen“ be-
deutet der Terminus Libido, wie man weiß, die psychische Seite der sexuellen
Bedürfnisse, von denen die Biologie annimmt, daß sie Äußerungen eines „Ge-
schlechtstriebes“ sind. „Man folgt dabei,“ sagt Freud, „der Analogie mit
dem Trieb nach Nahrungsaufnahme, dem Hunger.“ Freud versteht also
unter Libido ausschließlich den Sexualhunger. Nach Jungs hier ent-
wickelter Ansicht dagegen sei der Begriff Libido „weit genug, um alle die
mannigfaltigsten Manifestationen des Willens im Schopenhauerschen
Sinne zu decken“ und man könne sagen, „daß dem Libidobegriff, wie er sich
in den neueren Arbeiten Freuds und seiner Schule entwickelt hat, im
biologischen Gebiete funktionell dieselbe Bedeutung zukommt, wie dem Begriff
der Energie auf physikalischem Gebiete seit Robert Mayer“. Hätte sich
Freuds Ansicht wirklich in diesem Sinne verändert, so hätte er damit tat-
sächlich dem Begriff Libido einen neuen sexuellen Sinn gegeben, was ihn ge-
nötigt haben müßte, seine bisherige Ansicht von der Rolle der Sexualität in
der Pathogenese der Neuropsychosen und in der individuellen und sozialen
Entwicklung des Menschen einer gründlichen Revision zu unterziehen. Liest
man aber noch so sorgfältig alle seit den „Abhandlungen“ erschienenen Werke
Freuds durch, so wird man nirgends eine der ursprünglichen Definition
widersprechende Verwendung des Wortes Libido finden. Allerdings hat ein
der Freudschen Schule angehöriger Forscher — es war niemand anderer
als der Autor der vorliegenden Arbeit — schon früher einmal den Begriff
Libido verallgemeinern wollen, Freud selbst hat sich aber damals schon
ausdrücklich dagegen verwahrt.
Nun beruft sich Jung auf eine Stelle in der seither erschienenen Para-
noia-Arbeit Freuds, an welcher sich Freud angeblich „genötigt sah, den
Begriff der Libido zu erweitern“. Damit die Leser sehen, ob Jung mit dieser
Behauptung recht hat oder nicht, wollen wir die Stelle der Freudschen
Arbeit, auf die sich Jung bezieht, in extenso wiedergeben.
Es handelt sich dort um die Aufwerfung des schwierigen Problems, ob
man die allgemeine Ablösung der Libido von der Außenwelt als genügend
wirksam annehmen könne, um jenen „Weltuntergang“ zu erklären, als welcher
sich dem in jener Arbeit analysierten Geisteskranken die in ihm vorgegangene
psychische Veränderung darstellt, und „ob nicht in diesem Fall die fest-
gehaltenen Ich-Besetzungen hinreichen müßten, um den Rapport mit der Außen-
welt aufrecht zu erhalten“. „Man müßte entweder das, was wir Libido-
besetzung (Interesse aus erotischen Quellen) heißen, mit dem Interesse über-
haupt zusammenfallen lassen, oder die Möglichkeitin Betracht ziehen,
Kritiken und Referate. 397
daß eineausgiebige Störung in der UnterbringungderLibido
auch eine entsprechende Störung in den Ich-Besetzungen
induzieren kann.“ Die typographische Hervorhebung der letzteren
Eventualität stammt vom Referenten, der dadurch die einseitige Betonung der
ersteren Möglichkeit im Druck und in der Auffassung dieses Zitats in
der Jungschen Arbeit paralysieren möchte. Freud selbst wollte sich für
keine dieser zwei Möglichkeiten endgültig entscheiden, sondern fügte der auf-
geworfenen Frage die Bemerkung bei, daß dies Probleme seien, „zu deren
Beantwortung wir noch ganz hilflos und ungeschickt sind“. Einstweilen müsse
man an der bisher so fruchtbaren Art der Verwendung des Triebbegriffes fest-
halten und — entsprechend der biologischen Doppelstellung des Einzelwesens
— den Ich-Trieb und den Sexualtrieb auseinanderhalten. Die Beobachtung der
Paranoiker ergebe übrigens nichts, was dieser Auffassung widerspräche und
zu einer neueren Bestimmung zwingen würde, es sei sogar „viel wahr-
scheinlicher,!) daß eine veränderte Relation zur Welt allein oder vor-
wiegend durch den Ausfall des Libidointeresses zu erklären ist“.
Aus diesen Sätzen geht zur Genüge hervor, daß die Behauptung Jungs,
als hätte Freud in seinen neueren Arbeiten den Libidobegriff in anderem,
weiterem Sinne als früher gebraucht, durch die einzige Stelle, auf die sich
Jung dabei berufen konnte, durchaus nicht bestätigt wird. Im Gegenteil! Die
Überlegungen Freuds gipfeln in der Aufrechterhaltung seiner bisherigen Auffas-
sung über die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen den Ich-Interessen und
der Sexuallibido und über die pathogenetische Bedeutsamkeit der (im Sinne des
Sexuellen genommenen) Libido bei allen Psychoneurosen, die Paranoia und die
Paraphrenie nicht ausgenommen. Die Gleichsetzung des Begriffes Libido
mit dem Willen Schopenhauers und mit dem Energiebegriff Robert Mayers
müssen wir nach alledem für Jungs eigene Leistung ansehen.
Die „zögernde Vorsicht“ Freuds, die nach Jung „einem so schwierigen
Problem gegenüber am Platze ist“, vermissen wir in den nun folgenden Aus-
führungen des Autors nicht wenig. Ohne der von Freud betonten Möglichkeit,
daß Libidostörungen auf die Ich-Besetzungen rückwirken und sekundär jene
die Paranoia und Paraphrenie charakterisierenden Störungen der Wirklichkeits-
funktion induzieren könnten, auch nur die geringste Achtung zu schenken,
dekretiert Jung einfach, daß es „kaum anzunehmen ist“, daß die
normale „foncetion du reel“ nur durch libidiöse Zuschüsse oder erotisches
Interesse unterhalten werde, denn „die Tatsachen liegen so,?) daß in
sehr vielen Fällen die Wirklichkeit überhaupt wegfällt, so daß die Kranken
nicht eine Spur von psychologischer Anpassung oder Orientierung erkennen
lassen“, Bei den stuporösen und katatonischen Automaten sei beispielsweise
die Realitätsanpassung ganz in Verlust geraten.
Diese kategorische Erklärung Jungs, die er ohne weiteres Beweis-
material einfach als etwas ganz Selbstverständliches promulgiert, kann uns um-
soweniger genügen, als wir auch auf anderen Gebieten indirekte Funktions-
störungen kennen, die der von Freud angenommenen zweiten Möglichkeit
vollkommen entsprechen. Wie beim enthirnten Hunde unmittelbar nach der
Operation „Fernsymptome“ auftreten, d. h, auch solche Körperfunktionen ge-
stört erscheinen, deren nervöse Zentren eigentlich unversehrt geblieben sind,
mag ja auch die tiefgreifende Zerrüttung der Sexualsphäre Störungen der Ich-
Funktionen zeitigen, auch wenn die Ich-Triebe direkt nicht gelitten haben.
!) Vom Ref. hervorgehoben.
*) Vom Ref. hervorgehoben.
398 Kritiken und Referate.
Es ist übrigens auch ein methodischer Fehler, komplizierte und schwierige
Fragen durch noch so aufrichtige und enthusiastische Deklarationen oder Glaubens-
bekenntnisse zu erledigen. „Es gibt Rätsel,“ las ich unlängst in einer metho-
dologisch-kritischen Arbeit des Petersburger Physikers 0. D. Chwolson, „bei
denen ihrem inneren Wesen nach nur eine beschränkte Anzahl genau formulier-
barer Lösungen denkbar ist... Die endgültige Lösung eines solchen Rätsels
kann nun unmöglich darin bestehen, daß man apodiktisch erklärt, eine Be-
stimmte von den denkbaren Lösungen sei die richtige, ... sondern ... man
muß nach gründlichem Studium der betreffenden Frage zeigen, ... auf welche
Weise die Widersprüche beseitigt werden. Wird dies unterlassen, so bleibt
die Frage eben einfach offen und jede Pseudolösung kann nur den naivsten
Laien, nieaber den wirklichen Kenner der Frage befriedigen“. (0.D.Chwolson,
Das zwölfte Gebot — Eine kritische Studie).
„Bei der Dementia praecox fehlt es der Wirklichkeit weit mehr, als
man der Sexualität sensu strietiori aufs Konto schreiben könnte,“ sagt Jung.
Dem muß entgegnet werden, daß wir weit davon entfernt sind, das äußerste
Maß der Schädigung zu kennen, die die Wirklichkeitsfunktion infolge echter
sexueller Traumata erleiden kann. Wir sehen ja, wie weit sich der Mensch in
der Hysterie und in der Zwangsneurose infolge erotischer Psychotraumen der
Realität entfremden kann; auch kennen wir Zustände infolge von Ver-
liebtheit (wohl unzweifelhaft eine sexuelle Ursache sensu strictissimo), in
der das Individuum der Realität fast so abwendig wird, wie der an Dementia
praecox leidende.
„Es wird niemandem einleuchten,“ sagt Jung an anderer Stelle, „daß
die Realität eine Sexualfunktion sei.* Jung bestreitet hier etwas, was meines
Wissens noch von niemandem behauptet worden ist, am wenigsten von Freud,
der in seiner Arbeit über „die Prinzipien des psychischen Geschehens“ eine,
allerdings nur sekundär angelehnte, immerhin aber intimere Verbindung des
Realitätssinnes mit den Ich-Trieben (als mit dem Sexualtriebe) annimmt. Nach
alledem müssen wir bis auf weiteres die Anwendung der Freudschen Libido-
theorie auf die Dementia praecox, so wie sie Abraham versucht hat, als
den plausibelsten Erklärungsmodus dieser Psychose ansehen.
Indem Jung den Begriff der Libido dem der psychischen Energie gleich-
setzt, tut er ihm zweifaches Unrecht an. Da er alles psychische Geschehen
diesem Begriffe unterordnet, weitet er dessen Umfang so sehr aus, daß er sich
dabei ganz verflüchtigt und eigentlich überflüssig wird. Wozu noch von Libido
sprechen, wenn wir den aus der Philosophie wohlbekannten guten alten Begriff
der Energie haben? Gleichzeitig mit dieser Entziehung jeder wirklichen
Macht setzt er aber diesen Begriff formell auf den Thron der psychischen
Hierarchie und erhöht ihn zu einem Rang, der ihm gerechterweise nicht
zukommt. Die Bemühungen Jungs, alle psychischen Tätigkeiten aus dem
Sexuellen abzuleiten, schlagen übrigens fehl. Sobald er bei dieser Grundregel
auch Ausnahmen gelten läßt („die Wirklichkeitsfunktion wenigstens
zu einem großen Teil sexueller Provenienz*) (S. 178), ist die Ge-
schlossenheit des Systems durchbrochen, die Legitimität der Thronbesteigung
des Libidobegriffes gerät ins Schwanken, wir stehen wieder auf dem alten un-
sicheren Boden und müssen bekennen, daß das Bestreben, die Ontologie und
Ontogenie des Seelenlebens aus dem einzigen Oberbegriff der Libido zu dedu-
zieren, mißlang.
Jung erkennt die Herkunft der höheren seelischen Leistungen aus
dem Sexuellen an, leugnet aber, daß diese Leistungen auch jetzt noch etwas
Sexuelles an sich hätten. Zur Verdeutlichung dieser Idee wendet er u.a.
Kritiken und Referate. 399
folgendes Gleichnis an: „Wenn schon über die sexuelle Herkunft der Musik
kein Zweifel obwalten kann, so wäre es eine wert- und geschmacklose Ver-
allgemeinerung, wenn man Musik unter der Kategorie der Sexualität begreifen
wollte. Eine derartige Terminologie würde dazu führen, den Kölner Dom bei
der Mineralogie abzuhandeln, weil er auch aus Steinen besteht“. Ich finde,
daß dieser Vergleich für das Gegenteil dessen spricht, was Jung beweisen
will. Der Kölner Dom hat ja im Moment seines Entstehens nicht aufgehört,
wirklich von Stein zu sein, um nur mehr als künstlerische Idee zu existieren.
Tatsächlich ist selbst der großartigste Bau der Welt seinem inneren Wesen
nach ein Haufen von Mineralien, die mineralogisch beurteilt werden wollen,
und denen nur der einseitige anthropozentrische Standpunkt die Realität ab-
sprechen könnte. Und auch die höchsten psychischen Funktionen schaffen die
Tatsache nicht aus der Welt, daß der Mensch ein Tier ist, dessen höhere
Leistungen für sich allein undenkbar sind und die nur als die Funktionen wirklich
vorhandener tierischer Triebe begriffen werden können. Die Entwicklung der
Psyche gleicht eben nicht dem Wachsen einer Blase, deren Hülle die Gegen-
wart bedeutete und in deren Innerem statt der Vergangenheit nur leerer Raum
wäre, sondern sie ist dem Wachsen eines Baumes vergleichbar, in dem unter
der Rinde die Jahresringe der ganzen Vergangenheit fortleben.
Die wichtigsten Sätze der genetischen Libidotheorie Jungs sind die
folgenden: Die Libido, die ursprünglich nur der Ei- und Samenproduktion
diente, die „Urlibido*, trete in entwickelteren Organisationen in den Dienst
komplizierterer Funktionen, z. B. des Nestbaues. — Aus jener sexuellen
Urlibido hätten sich, mit gewaltiger Einschränkung der Fruchtbarkeit,
Abspaltungen entwickelt, deren Funktion durch eine speziell differenzierte
Libido unterhalten werde. — Diese differenzierte Libido sei nunmehr
desexualisiert, indem sie der ursprünglichen Funktion der Ei- und Samen-
erzeugung entkleidet wäre und nicht mehr in Sexualfunktionen revertiert
werden könnte. So bestehe der Entwicklungsprozeß überhaupt in einer
zunehmenden Aufzehrung der Urlibido in die sekundären Funktionen der An-
lockung und des Brutschutzes. Diese Entwicklung, d. h. die veränderte
Propagationsweise, führe eine erhöhte Wirklichkeitsanpassung mit sich. Die
Überweisung von Sexuallibido aus dem Sexualgebiet an „Nebenfunktionen“
finde noch immer statt; wo diese Operation ohne Nachteil für die Anpassung
des Individuums gelinge, spreche man von Sublimierung, wo der Versuch
mißlinge: von Verdrängung. Die bisherige Freudsche Psychologie erkenne
eine Vielheit von Trieben, außerdem erkenne sie gewisse libidiöse Zuschüsse
zu nicht-sexuellen Trieben an. Jungs genetischer Standpunkt läßt die
Vielheit der Triebe aus einer relativen Einheit, aus der Urlibido, hervorgehen ;
sie seien nichts als Abspaltungen dieser.
Hätte sich Jung darauf beschränkt, die ungeheure, noch lange nicht
genügend gewürdigte Rolle der Sexualität in der Entwicklung nochmals und
nachdrücklich zu betonen, so könnten wir ihm rückhaltslos zustimmen. Die
Vereinheitlichung alles Psychischen unter dem Libidobegriff und die Ableitung
auch der egoistischen aus den Sexualtrieben scheint uns aber zwecklose
Grübelei zu sein; sie erinnert an die alte Scherzfrage: „Was war früher da,
das Ei oder das Huhn?“., Diese Frage kann bekanntlich nicht beantwortet
werden, weil jedes Huhn aus einem Ei und jedes Ei aus einem Huhn stammt.
Eine ebenso sterile, weil unbeantwortbare Alternative ist aber auch die, ob die
egoistischen Triebe aus dem Trieb zur Arterhaltung entstanden seien, oder
umgekehrt, Wir müssen uns einstweilen damit begnügen, das Dasein beider
Triebrichtungen zu konstatieren, unsere Unkenntnis über ihre genetische
400 Kritiken und Referate.
Reihenfolge ehrlich bekennen, und :brauchen uns nicht damit anzustrengen,
die eine unbedingt aus der anderen ableiten zu wollen. (Eine der Jungschen
ähnliche, wenn auch ihr entgegengesetzte Einseitigkeit scheint uns in der
Adlerschen Forschungsrichtung obzuwalten, die das meiste, was wir sexuell
nennen, aus dem „Aggressionstriebe* ableiten möchte.)
Die Entschiedenheit, mit der Jung die Neurose immer als ein Ersatz-
produkt einer Phantasie „individueller Provenienz“ ansieht, worin archaische
Züge bis auf Spuren fehlen, während sie in der Psychose deutlich zu Tage
treten, haben wir schon als unberechtigt bezeichnen müssen. Aus denselben
Gründen müssen wir aber anch der Ansicht Jungs widersprechen, daß bei
der Neurose bloß der rezente (individuell erworbene) Libidobetrag der
Wirklichkeit entzogen wird, während es bei der Psychose gleichsam zu einem
phylogenetischen Rückschlag komme, indem auch ein mehr-minder großer Teil
der bereits desexualisierten (zu andersartiger Verwendung gelangten)
Libido der Welt entzogen und zum Aufbau der Ersatzprodukte verwertet werde.
Eines der nun folgenden Kapitel beschäftigt sich mit der „Verlagerung
der Libido als möglicher Quelle der primitiven menschlichen Erfindungen“.
Trotz des Reichtums an Ideen und treffenden Bemerkungen können wir dem
Autor auch hier den Vorwurf der Einseitigkeit nicht ersparen. Jung sieht
die Entdeckung des Feuerbohrens als ein Derivat rhythmisch-onanistischer
Betätigungen des primitiven Menschen an; die Erfindung der Feuerbereitung
sei „dem Drange, ein Symbol für den Sexualakt einzusetzen zu verdanken“.
Aus den sexuellen Lock- und Brunstrufen habe sich auch die Sprache und
alles, was damit zusammenhängt, entwickelt. Die Möglichkeit, die uns viel
wahrscheinlicher vorkommt, nämlich daß das Feuererzeugen in erster Linie
nicht sexuelle, sondern reale Bedürfnisse zu befriedigen bestimmt war, wenn
es auch in dem Dienst der Sexualsymbolik gestellt wurde, wird von Jung
im Gegensatz zu seiner sonstigen Betonung der Realitätsansprüche ganz
vernachlässigt.
Jungs impetuose Neigung, von zwei Möglichkeiten die ihm sympathischere
einfach zu dekretieren, verleugnet sich auch an anderer Stelle nicht. Auf
die Frage: woher denn der Widerstand gegen die primitive Sexualität her-
stamme, der zur Auflassung jener Betätigung und zu deren symbolischem
Ersatz gezwungen habe, antwortet er ohne zu zögern, mit folgenden Worten:
„Es ist undenkbar,daß es sich dabei um irgernd einen äußeren Wider-
stand, um ein wirkliches Hindernis handle“, sondern der Zwang zur Libido-
überleitung sei die Folge eines rein innerlichen Konflikts zwischen zwei ein-
ander von vorneherein widersprechenden Libidoströmungen, es stehe hier
Wollen gegen Wollen, Libido gegen Libido. Mit anderen Worten : die
Symbolbildung (und Sublimierung) entstehe, indem sich eine a priori vorhan-
dene Tendenz zur Ablehnung der primitiven Betätigungsarten durchsetzt.
Jungs Antwort wird jedem objektiven Leser als arbiträr erscheinen, ja es
wird viele geben, die, wie auch wir, der gegenteiligen Lösung den Vorzug
geben, wonach gerade äußere Hindernisse die Lebewesen zum Aufgeben lieb-
gewonnener Befriedigungsarten und zum Schaffen von Ersatzbefriedigungen zu
zwingen geeignet sind und daß nicht innerer Drang, sondern äußerer Zwang,
d. h. die Not erfinderisch macht. Es heißt auch, die Determiniertheit im Psy-
chischen zu eng fassen, wenn man bei der Erklärung irgend eines psychi-
schen Vorganges die Möglichkeit extrapsychischer Einflüsse ganz außer acht läßt.
Die genetische Theorie wird dann von Jung an der Entstehungsart
typischer Symbole exemplifiziert. Die von der Inzestschranke zugedrängten
Sexualphantasien schaffen sich nach Jung symbolische Ersatzprodukte in
Kritiken und Referate. 401
Funktionen der vorsexuellen Entwicklungsstufe, besonders in denen der
Ernährung. So entstünden die uralten Sexualsymbole des Ackerbaues, die
Kulte der Mutter Erde. Es käme dabei zu einer „Wiederbesetzung der
Mutter, diesmal aber nicht als Sexualobjekts, sondern als Ernährerin“. Auch
die Pubertätsonanie sei ein Symbol: Die Regression der vor den Widerständen
zurückweichenden Sexuallust auf eine ursprünglich nurder Ernährung
dienende Betätigung: das rhythmische infantile Lutschen.
Bei dem Worte „vorsexuell“ müssen wir Halt machen. Es bedeutet
nichts weniger als die Leugnung der von Freud zuerst gewürdigten infantilen
Sexualität. Plötzlich ist alles vergessen, was Freud (und Jung selbst) !)
an deutlich sexuell gefärbten, wenn auch mit Ernährung und Exkretions-
funktionen vergesellschafteten Gelüsten bei drei- bis fünfjährigen kleinen Kindern
konstatiert haben, deren Libido sicherlich noch nicht vor Kulturschranken
zurückschrecken mußte. Wie verträgt sich Jungs Ausdruck „vorsexuell“
mit den Beobachtungen, die er vor wenigen Jahren an einem dreijährigen
Mädchen machte, „das auf dem Gebiete der Kot- und Urininteressen Her-
vorragendes leistete, dann auch beim Essen ähnliche Manieren an den Tag
legte“ und „ihre Exzesse immer mit ‚Lustig‘ bezeichnete“? Wie erklärt er
ohne Annahme der infantilen Sexualität die diesbezüglichen direkten Beobach-
tungen an Kindern und die Ergebnisse der Psychoanalysen? Vergaß er ganz
seine eigene Forderung: „Man sehe einmal die Kinder an, so wie sie
wirklich sind und nicht wie wir sie zu haben wünschen“ ?
Allerdings wäre eine solche Inkonsequenz nur zu loben, wenn sie als
die Folge eines Fortschrittes in der Erkenntnis aufzufassen wäre. Wir ver-
muten aber, daß es sich hier in Wirklichkeit um einen Rückschritt handelt ;
für Jung scheint der Begriff des Sexuellen indem Sinne, wie ihn Freudin
seinen „Abhandlungen“ gebrauchte, und der ihm früher ganz geläufig war,
irgendwie plötzlich abhanden gekommen zu sein und seine jetzige Anschauung,
wonach das Lutschen und ähnliche infantile Betätigungen „vorsexuell“ wären,
ist nur die Rückkehr zur Anschauung jener, die nur das genitale für sexuell
nehmen und die „trotz schärfster Brillen nirgends etwas Sexuelles (an den
Kindern) entdecken wollen“. (Jung, Über Konflikte usw.) Ersetzen wir aber
in der Libidoarbeit Jungs das Wort „vorsexuell* überall durch den Aus-
druck „vorgenital“, so können wir einen großen Teil seiner Ausführungen
gutheißen. Es ist nur zu konsequent, wenn Jung auch seine Terminologie
im Sinne der neuen (richtiger der alten) Auffassung umändert und unter dem
Ausdruck Autoerotismus (womit Freud die allerfrüheste infantile Erotik
bezeichnet) nur die nach der Aufrichtung der Inzestschranke auftretende Selbst-
befriedigung versteht.
Nach dieser langen theoretischen Abschweifung kehrt Jung zur Traum-
dichterin Miss Miller zurück und versucht es, die Geltung der neuen Theorien
in ihrer dritten Traumschöpfung, die sie „Chiwantopel. Drame hypnagogique“
benennt, nachzuweisen. In diesem Drama spielt ein aztekischer Held mit
Rüstung und Federschmuck eines Indianers die Hauptrolle, gegen den ein
anderer Indianer einen Pfeil abschießen will und der dann in einem langen
Monolog sich beklagt, daß ihn keine der Frauen, die er kannte und liebte,
wirklich verstanden hätte, mit Ausnahme einer einzigen, die Ja-ni-wa-ma
heißt. Jung analysiert auch diese Phantasie derart, daß er jedes darin vor-
kommende Wort und alle Wortverbindungen von vornherein für mythologisch-
1) S: „Über Konflikte der kindlichen Seele.“ Jahrbuch f. Psychoanalyse II.
Jahrg. 1910.
Zeitschr, f. ärztl. Psychoanalyse. 26
402 Kritiken und Referate.
symbolische Archaismen nimmt, in die sich irgend eine aktuelle Aufgabe
Miss Millers einkleidete.e Zum Beweise dessen stellt Jung umfangreiche
vergleichend-mythologische Untersuchungen an. Es wird bei jedem einzelnen
Worte untersucht, welche Rolle ihm in den verschiedenen Mythologien zu-
kam, und durch Verknüpfung der so gewonnenen Einzeldeutung wird der Sinn
des ganzen Dramas zu enträtseln gesucht. Einer solchen Deutungsmethode
kommt aber, bei der Unsicherheit des mythologischen Wissens überhaupt und
den unvermeidlichen Lücken in den mythologischen Kenntnissen eines ein-
zelnen, unseres Erachtens keine nennenswerte Beweiskraft zu; sie hat auch nur
äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Psychoanalyse, die sich ja in erster
Linie auf jene realen Auskünfte gründet, die sie aus den Traum- und
Neurosenforschungen gewonnen hat. Und wenn sich Jung in der Einleitung
seiner Arbeit auf die biographische Untersuchung Leonardo da Vineis durch
Freud beruft und ihn als einen Vorgänger seiner Deutungsmethode be-
zeichnet, so muß man darauf hinweisen, daß Freuds mythologische Deutungen
immer unter der Kontrolle individual-psychologischer Erfahrungen blieben.
Anknüpfend an die „Chiwantopel*- Phantasie kommt Jung neuerlich
auf das Thema der „unbewußten Entstehung des Heros“ zurück, in die er
uns diesmal tiefere Einsicht gewährt. „Der Mythos vom Helden — heißt es am
Schlusse seiner Betrachtungen — ist das Sehnen unseres eigenen leidenden Un-
bewußten nach den tiefsten Quellen seines eigenen Seins, nach dem Leibe der
Mutter, und jeder wird für uns ein siegreicher Held, der sich durch seine
Mutter wiederzuerzeugen vermag.“ Zu diesem Resultate gelangte Jung
auf Grund geistvoller Analysen, denen er die bekanntesten Heldenmythen
unterzog; seine diesbezüglichen Untersuchungen werden jeden Psychoanalytiker
überzeugen und würden für sich allein die Jungsche Libidoarbeit zu einer
der wertvollsten Leistungen der psychoanalytischen Literatur machen.
Um so auffälliger ist es, daß Jung dieses für uns unzweifelhaft gewordene
Resultat seiner Untersuchungen gleichsam durch eine nachträgliche Korrektur
zum Teil wieder aufhebt, indem er mit dem „Ödipuskomplex“, der dem
Heldenmotiv zu Grunde liegt, gerade so verfährt wie mit der infantilen Sexualität
überhaupt. Nachdem er dessen tatsächliche Rolle im Leben des Menschen
festgestellt hat, leugnet er plötzlich dessen Realität. Die im Traume Ge-
sunder und in den unbewußten Phantasien der Neurotischen nachzuweisenden
sexuellen Wünsche seien „nicht das, was sie zu sein scheinen, sie seien nur
Symbol“, d.h. symbolischer Ersatz für ganz rationelle Wünsche und
Strebungen ; die vor den Aufgaben der Zukunft zurückgeschreckte Libido
regrediere zu jenen Symbolen. Der richtige Teil dieser Behauptungen ist aus
der früheren psychoanalytischen Literatur geschöpft. Dort steht es längst,
daß der Neurotiker vor der Wirklichkeit zurückschrickt, daß er sich in die
Krankheit flüchtet und daß die Krankheitssymptome Regressivphänomene sind.
Neu ist in dieser Aussage nur die Behauptung der Irrealität, der sym-
bolischen Natur der in den Symptomen sich äußernden Tendenzen. Wir
glauben, daß diese uns nicht ganz verständliche Qualifizierung des Ödipus-
komplexes darin ihre Erklärung finden wird, daß Jung dem Drang unterlegen
ist, das Wort „unbewußt“ zu beseitigen und es durch andere Bezeichnungen
zu ersetzen.
Jung macht in dieser Arbeit auch einige Andeutungen über den Einfluß
dieser neugewonnenen Kenntnisse auf seine psychotherapeutische Technik, Er
legt das Hauptgewicht der Behandlung Nervöser darauf, daß er ihnen den
Weg zur Realität zeigt, vor der sie zurückgeschreckt sind. Wir aber bleiben
dabei, daß die nächste und wichtigste Realität, die den Kranken angeht,
Kritiken und Referate. 403
seine Krankheitssymptome sind, daß man sich also mit diesen beschäftigen
muß, während die Hinweise auf die Lebensaufgaben die Kranken nur
noch schmerzlicher ihre Unfähigkeit zur Lösung derselben empfinden
ließen. Um den Lebensplan der Kranken braucht man sich in der
Analyse kaum zu kümmern; ist nur die Analyse tief genug gewesen, so finden
sich die Patienten auch ohne unsere Hilfe zurecht, ja eine richtige analytische
Technik muß bestrebt sein, den Patienten so unabhängig zu machen, daß er
sich sogar von seinem Arzte nichts vorschreiben läßt. Er wird dann selbst
darüber entscheiden, wieviel er von seinen „unzweckmäßigen“ Besetzungen auf-
gibt und wieviel er auch nach der Analyse tatsächlich realisiert.
Die in den bisherigen kritischen Bemerkungen hervorgehobene Abwendung
vom Freudschen Begriffe des Unbewußten macht sich auch in der neuen
Traumauffassung Jungs geltend (S. 460). Die Funktion des Traumes sieht
Jung (und mit ihm Mäder) nicht mehr in der Wunscherfüllung, in der
vorübergehenden, halluzinatorischen Sättigung unbefriedigter Wünsche zum
Zwecke des Schlafenkönnens, sondern in einer Art innerer Ahnung der ernsten
Aufgaben der Zukunft. Wir können hier auf die detaillierte Widerlegung
dieser Anschauung nicht eingehen, müssen aber betonen, daß wir auch nach
der Lektüre der Libidoarbeit Jungs die Freudsche Auffassung der Traum-
vorgänge als die richtige ansehen ; wir bleiben dabei, daß ernstes Arbeiten,
schwieriges Aufgabenlösen, das Kämpfen mit den Hindernissen wohl für das
Wachleben nicht aber fürs Träumen charakteristisch ist, wenn sie auch manch-
mal unsere Nachtruhe zu stören im stande sind. Darum sehen wir auch in
den Traumschöpfungen Miß Millers die phantastische Befriedigung aktueller und
infantiler Wunschregungen und können darin nicht die prophetische Ahnung
der künftigen Aufgaben des Menschengeschlechtes erkennen.
Der allgemeine Eindruck, den wir nach der Lektüre des Jungschen
Werkes bekommen, ist der, daß er an vielen Stellen seiner Arbeit nicht
eigentlich induktive Wissenschaft sondern philosophische Systemisierung!) treibt,
mit allen Vor- und Nachteilen einer solchen. Der hauptsächliche Vorteil dabei
ist die Beruhigung des Gemüts, das, da es es die Hauptfragen des Seins für
gelöst erachtet, von der Qual der Unsicherheit befreit ist und die Sorge um
die Ausfüllung der Lücken im System ruhig anderen überlassen kann. Der
große Nachteil einer allzufrühen Systembildung liegt in der Gefahr, daß man
den apriori' gegebenen Hauptsatz um jeden Preis aufrechtzuerhalten trachtet
und Dinge übersieht, die diesem Satze widersprechen könnten.
Dr. S. Ferenezi.
!) Siehe dazu folgende Stelle bei Jung (II, S. 178). „Diese Betrachtung führt
uns auf einen Libidobegriff, der über die Grenzen naturwissenschaftlicher Formung
(Forschung? [Re.]) zu einer philosophischen Anschauung sich erweitert . . .*.
26*
Aus Vereinen und Versammlungen.
Psycho-Medical Society, London.
Fortsetzung der Diskussion über Dr. Ferenczis Artikel:
„IhePsycho-Analysis ofSuggestion and Hypnosis“ (Transactions
of the Psycho-Medical Society, Vol. IV, Part. 1).
Wie schon berichtet (s. diese Zeitschrift, I, 2, S. 193), eröffnete der
Präsident, Dr. T. W. Mitchell die Diskussion. — Der nächste Redner,
Professor Ernest Jones, machte den Präsidenten auf einige Irrtümer in seiner
Auffassung der psa. Lehren aufmerksam. In Bezug auf den Einwand, daß
Freud die Sprache mißbrauche, indem er von Sexualität in der Kindheit
spricht, stellte Jones zunächst fest, daß Freuds neue Auffassung nicht
darin besteht, daß er das Wort „Sexualität“ anwendet, um damit nicht-
sexuelle Prozesse zu bezeichnen, sondern darin, daß er auf die sexuelle Natur
von Prozessen hinweist, die man vorher für nichtsexuelle hielt; er erweitert
also unsere Vorstellung von dem was sexuell ist, ändert aber dabei den Sinn
des Wortes „sexuell“ gar nicht. Freud gebraucht das Wort „sexuell“ genau
in demselben Sinn, wie jeder andere, d. h. um gewisse Vorgänge zu bezeichnen,
die von Lustgefühlen ganz bestimmter und für den normalen Menschen wohl-
bekannter Art begleitet sind. Um den Punkt noch klarer zu machen, zog
Jones die Parallele mit dem Gebrauch des Wortes Stickstoff. Früher hat
man nicht nur geglaubt, daß dieses Element ein unsichtbares Gas sei, was
natürlich wahr ist; sondern auch, daß es nur in dieser Form vorkommen müsse,
was unrichtig ist. Als man zum erstenmal behauptete, daß Stickstoff auch in festen
Substanzen vorkommen könne, wo seine Anwesenheit nur durch eine mühselige
Analyse nachgewiesen werden kann, lautete die Kritik wahrscheinlich sehr
ähnlich den Einwänden, die man jetzt gegen Freuds Vorstellung von der
Kindheitssexualität erhebt. Mit der neuen Entdeckung hat man den Sinn
des Wortes „Stickstoff“ gar nicht geändert, man hat aber unsere Kenntnisse von
dieser Sache erweitert.
Mitchell hat eingewendet, daß die Psychoanalytiker bloß darum an-
nehmen, daß die die Hypnose charakterisierende Unterwürfigkeitseinstellung
der Patienten sexuell sei, weil sie auch sexuell sein kann, z. B. in dem Maso-
chismus. Jones entgegnet dem, daß diese Ansicht nicht aus vorgefaßten
Meinungen über Unterwürfigkeit im allgemeinen herstamme, sondern nur aus
klinischen Erfahrungen, die zeigten, daß die Unterwürfigkeit in der Hypnose
in jedem Falle als eine Äußerung von unverkennbaren sexuellen Phantasien
dem Arzte gegenüber aufzufassen ist. Zu dem weiteren Einwand Mitchells,
daß die Suggestibilität des Kindes nichts mit verdrängten Wünschen zu tun
haben kann, weil diese beim Kinde noch nicht verdrängt sind, antwortete
Jones, daß die Verdrängung schon in dem ersten Monat des Lebens anfängt
und daß sie in der Kindheit am stärksten ist.
Aus Vereinen und Versammlungen. 405
Jones gab dem Präsidenten zu, daß möglicherweise die Suggestibilität
die Änderung eines besonderen angeborenen Triebes, etwa des Herdeninstinktes,
darstellen mag, meinte aber, daß jedenfalls der größte Teil, und zwar der
Teil, der die Hauptrolle in der Hypnose spielt, sicher aus der Sexualität
herstammt, so daß es unentbehrlich ist diese zu erforschen, wenn man Klar-
heit in die verwickelten Probleme des Hypnotismus bringen will.
Prof. Brown meinte, daß Freud und seine Schüler die Bezeichnung des
Begriffes „sexuell“ zu weit ausgedehnt hätten und behauptet, daß Neugierde,
Furcht, Ekel und andere Affekte ebenso primordial und ebenso wichtig seien wie die
Sexualität. Die Analyse seiner eigenen Träume beweise ihm, daß die Mehr-
zahl seiner eigenen Wünsche keine sexuelle Färbung habe. Sonst habe er
ernstes Interesse an der Freudschen Psychologie und die Freudsche Theorie
vom Unbewußten scheine ihm eine der glänzendsten und wichtigsten Beiträge
zur modernen psychologischen Wissenschaft zu sein.
Dr. Wright verlangt, daß man den Ausdruck „sexuell“ nur für solche
Gefühle verwende, die ganz bestimmt libidinös sind und mit Orgasmus ein-
hergehen.
Dr. Eder betont, daß die verdrängten Wünsche bewußtseinsunfähig
sind und erst in der Analyse bewußt werden. Er meint, daß der Einwand
gegen die Bezeichnung polymorph-pervers darum berechtigt sei, weil sie
mehr ein Urteil vom Standpunkt des Erwachsenen ausdrücke und weniger auf
das in Entwicklung begriffene Kind Rücksicht nehme.
(Nach einem Autoreferat von Prof. Jones und einem Bericht von Dr. Eder.)
The Third Meeting of the „American Psychopathological Asso-
ciation“ held in Boston, May 29, 1912,
was opened with an address by the President, Dr. Adolf Meyer, on the
„Conditions for a Home of Psychology in the Medical Curriculum“.
Dr. Meyer spoke of the important reconstructive tendencies of today
in the teaching of psychology and psychopathology, and of the fundamental
contrasts among them which marked the trend of the past twelve months. He
particularly urged the inculcation of a wider tolerance and mutual support
among those students and observers whose differing but related interests tend
to the emphasis of widely removed lines of investigation, but above all he
urged the encouragement of „the biological attitude and conceptions“. The
President’s adress was a strong plea for a common-sense study of the obser-
vable facts in the chain of events determining the life history of the
individual. „Personally* he says „I look in the events for the factors
of psychobiological reaction, and study them for the conditions
under which they occur, the differentiative marks of the different conditions,
the factors princeipally at work and the means for their modifiability.*
Finally the speaker cited once more the essential need of frankly
studying and regulating the sexual life of patients, and he took occasion in this
connection .to denounce in unmistakable terms the recent action on the part
of the trustees of one of our newly opened hospitals in making the appoint-
ment of a physician to its staff „dependent on the disgraceful condition... that
neither hypnosis nor psychoanalysis be employed“.
The adress of the President was followed by „A Clinical Study of a
Case of Phobia: A Symposium“, The statement of the purpose of this
406 Aus Vereinen und Versammlungen.
Symposium may be quoted from the editorial note preceding the report of it,
printed in the Journal of Abnormal Psychology, Oct.-Nov., 1912. „The object
of this symposium was to obtain a presentation and discussion of the existing
divergent views regarding the pathology of anxiety states held by different students
ofpsychopathology. It was thought by the Council of the Association that if a
specific case of phobia or anxiety state were studied independently by two
clinicians holding divergent views regarding the pathology of anxiety states, the
differences in their views would be more concretely illustrated and more
precisely formulated than by any discussion of anxiety states in general. Ac-
cordingly it was arranged that a report of the same case should be made inde-
pedently by Dr. Putnam and Dr. Prince, each making his study from his
own point of view, without consultation with the other.“
The keynote to the essential disparity of view existing between the
two investigators is sounded in the opening paragraph of Dr. Princes paper.
„Ihe patient conspicuously belongs* he says, „to what is commonly regarded
as the consciously asexual type“. On this hypothesis Dr. Prince proceeds
to astudy of the exclusively manifest content of the neurosis in the case under inve-
stigation. As a purely descriptive presentation of the clinical pieture Dr. Prince’s
report gives a concise and satisfactory summary of the obtainable data.
It is an excellent portrayal of the significant pathological features presented
in the case. But to the Freudian to whom all this array of external historical detail
is but secondary, substitutive and premonitory as it were, but not in the
least dynamic, deterministic, or conclusive, the report of Dr. Prince, for all its
admirable systematization and graphic cohereney, is a most inadequate and
lifeless recital.
Following Dr. Prince’s study of the case under discussion Dr. Putnam
presented a brief account of the same symptoms but through the analysis of
them he was able to offer a mass of deductive evidence which furnishes to
any one having an understanding of Freudian psychology an ample proof
of the essential sexual repression that underlay them, together with satis-
factory evidence that the symptomatic appearances — e. g. the patient’s fear
of death, her fear of swallowing pins, her fear of parting from her childhood,
fear of parting from her mother, from letters and even from her excretions
were all mere symbolic and concealed representations of specific sexual
quests.
However, of the entire meeting, that which to the reviewer was by far
the most interesting feature was the complete change of front on the part
of its members toward the issues envisaged by the Freudian psychology. The
meeting was practically a psychoanalytic meeting: Every one was more or
less seriously interested in Freud’s conceptions while at the meeting of only
a year previous psychoanalysis was almost universally tabooed among its
members, the three or four adherents here and there among us having been
regarded with a certain suspicion and disdain. Indeed wherever allusion was
made to psychoanalysis, it was listened to with bated breath and with a sort
of superstitious awe, as of some dread evil threatening the sanctity of
the community. And now, after but one year, behold the spectacle of the
entire society discussing the theories and mechanisms of psychoanalysis
without any reserve, with much sympathy, and some understanding! It
was to the reviewer most interesting and significant to witness so sudden a
change of countenance come over the features of the association.
Indeed interest really rose to the point of excitement when one pro-
minent member of the association, who last year had stated unequivocally
Aus Vereinen und Versammlungen. 407
that he had submitted one of his psychoneurotic cases to a thoroughgoing
psychoanalysis for a period of two years without being able to obtain the
slightest indication of the existance of a repressed sexual complex, at this
meeting, a year later, made so bold and ample a recantation as to present
a quite creditable paper which was in complete accord with the letter and
spirit of psychoanalysis.
Among other papers presented was an essay by Dr. Morton Prince
of Boston, on „The Meaning Of Ideas As Determined By Unconscious Settings“.
A paper was read by Dr. Tom A. Williams of Washington, entitled
„Juvenile Psychogenetic Disorders: Pathogenesis: Treatment“. A valuable
contribution was given by Dr. G. Alexander Young of Omaha, entitled
„Report of a Case of Versuchung Angst Attended by Visual Hallucinations
of Homicidal Nature; Psychoanalysis“. Dr. Isadore Coriat, Boston, read
a paper entitled „The Oedipuscomplex in the Psychoneuroses“. Dr. L. Pierce
Clark, New York City, gave a most interesting and important contribution
entitled „Remarks on Psycho-Genetic Convulsions and Genuine Epilepsy“.
Finally the reviewer read a paper entitled „Psychoanalysis and Society“ in
which he urged that the logical cure for unconscious repression lies
in conscious control. Trigant Burrow.
Opening ceremonies of the Phipps Psychiatrie Clinic, Baltimore.
The new psychiatric clinice ofthe Johns Hopkins Hospital, Baltimore, which,
as may be imagined, is the most magnificently equipped and contructed institu-
tion of the kind in the world, was opened on April the 17th, 1913, and
the event, one of far-reaching importance to American psychiatry, was made
the occasion of a symposium in which representatives of different countries
participated. The Director of the new clinie is Prof. Adolf Meyer, who
is by general consent the most distinguished psychiatrist in America. We may
congratulate ourselves that the man in this position and with this influence is
one, who although not actually engaged in psycho-analytic practice, is cordially
sympathetic to our work, and has done much to support our movement and
to spread the knowledge of psycho-analytie principles in America ; he has been
a member of the Council of the American Psycho-Analytie Association since
its inception. The following excerpts may be made from the symposium that
are of interest to the readers of the Zeitschrift:
The paper that without doubt made the keenest impression and arouse.l
the widest interest was one by Prof. Bleuler on „Autistic Thinking“, which
was both written and delivered in excellent English ; we need not relate here
the content of the paper, which will be familiar from the one of the same title
recently published in the Jahrbuch. Dr. Mc. Dougall, teacher of psychology
at Oxford, reada paper on „The Sourcesand Direction of Psycho-Physical Energy“,
in which he described a number of principles in both mental and neural terms.
He made a number of cordial references to the work done by Freud, who
„had rendered an immense service to psychology by the stress he had laid on
subconsceious conation“ (conation is an expression used by English psychologists
to denote what psycho-analysts would call Wunschregungen), To some extent
the views of Freud were only the extension and amplification of principles
that could be established on other bases than by means of psycho-analysis,
so that psychologists should lend a sympathetic ear to those aspects of the
theory that were more novel; in particular the conceptions of sublimation
408 Aus Vereinen und Versammlungen.
and of transference of affect were of the greatest importance. He was espe-
cially interested in Freud’s ideas as to the development of the sexual instinct
through the gradual fusion of various components, and outlined a scheme of
the physiological nervous system to which this might correspond. Prof. August
Hoch spoke on „Personality and Psychosis“, particularly from the point of
view of character traits that correspond to various psychoses, and which are
manifest before the outbreak of the disease. He illustrated this thesis mainly
by the consideration of paraphrenia and the manic-depressive insanity. In a
diseussion of Bleuler’s viev that paraphrenia depends on organie changes and
that only the accessory symptoms are to be accounted for by the action of
psychogenetic mechanisms he argued against the two main reasons Bleuler
adduces in support of this; he saw no reason for believing that the dissociation
found must be of a primary nature any more than that found in other con-
ditions and in the normal unconscious, nor did he think that the impossi-
bility of recovery in the disease was conclusive evidence of its organie origin.
On the other hand Bleuler’s view could be supported by the frequent
findings of brain defects, particularly microgyria, in paraphrenia, and the fre-
quent association between it and congenital mental deficieney. Dr. L.F. Wells
read a paper on „The Personal Factor in Association Reactions“, in which
he presented the results of extensive studies, on the lines laid down by Jung,
as tho the variation in the type of reaction according to education, sex, and
other factors. Prof. Harvey Cushing, in dealing with „Psychic Derange-
ments Associated with Ductless Gland Disorders“, gave a summary of his
experimental researches, emphasises the importance of the inter-relation bet-
ween the sexual and other ductless glands, and invited psycho-analysts to
pay special attention to this side of their work. Dr. F. W. Mott, whose
paper was entitled „A Study of the Neuropathic Inheritance in Relation to
Insanity“, said that the three chief causes of insanity were inheritance, poi-
sons, and sexual conflicts, a statement with which all psycho-analysts will
agree. Dr. G. H. Kirby discussed „Ihe Prognostic Significance of the
Biogenetic Psychoses‘‘, maintained that manic-depressive insanity could not be
separated from paraphrenia, and narrated some studies he had undertaken to
investigate the correlaiion between prognosis and the mental type of reaction
(in terms of Freud’s defence-mechanisms). Jonesread a paper on ‚‚The Inter-
relation of the Biogenetic Psychoses‘“‘, dealing chiefiy with the relation bet-
ween manic-depressive insanity and the neuroses on the one hand and bet-
ween it and paraphrenia on the other.
Ernest Jones.
Jahresversammlung des Deutschen Vereines für Psychiatrie
zu Breslau 1913.
Ausführlicheres über die Behandlung der Psychoanalyse in dieser Jahres-
versammlung wird im Bericht des Vereines nachzulesen sein, ich möchte mir
jetzt nur einige kurze Bemerkungen erlauben, einige Eindrücke wiedergeben,
keine Antikritik.
Drei Jahre nach der Deutschen Neurologischen Gesellschaft hat nun
auch der Deutsche Verein für Psychiatrie Stellung genommen zur Psychoanalyse,
und die scharfen Thesen Prof. Hoches sind anscheinend als eine Resolution
des Vereines anzusehen, trotzdem ein Mann vom Ansehen Bleulers das Korre-
ferat hatte. Bleuler präzisierte seinen Standpunkt zur Analyse, Hoche brachte
„ein abschließendes Urteil in abgetaner Sache.“
Seine vor einigen Jahren gemachte Diagnose der psychoanalytischen Be-
wegung vervollständigend, berichtete er jetzt vom Erlöschen jener „psychischen
Epidemie unter den Ärzten“, das ansteckende Virus scheine seine Kraft ver-
loren zu haben, durch die dichte Abkapselung dringende Zeichen sprächen
von inneren Zerwürfnissen, von Zerfall und Agonie der Bewegung. Trotz dieser
seiner für die Menschheit und besonders auch für die Ärzte so trostreichen
Prognose, hält Hohe zwei Dinge für sehr nötig: 1. daß man den Zersetzungs-
prozeß nicht dadurch aufhalte, daß man die Genialität des Schöpfers der
Psychoanalyse zugibt — wenn diese Verdrängung nur nicht mißglückt ! Ref. —,
und 2., daß Prof. Bleuler sein Protektorat über die psychoanalytische Bewegung
aufgebe. Ein seltsames Schauspiel war es, wie unser verehrter Lehrer von
den verschiedensten Seiten dringendst ersucht wurde, doch von der Analyse
zu lassen ; man beschwor ihn bei seiner guten wissenschaftlichen Vergangenheit,
mahnte an seine moralische Verantwortung,
Prof, Hoche begann mit einer Legitimierung vor der Kompetenzforderung
der Psychoanalytiker. Er habe, als die Aufforderung zu diesem Referate an
ihn gelangte, nochmals „alles“ gelesen, und in der Tat entnahm er das
Material zu einem Witz einer der allerletzten Arbeiten unseres Kollegen
Ferencezi, aber Referent hatte den sich steigernden Eindruck, daß der Redner
keine Einsicht hat, wieviel Arbeit, welche systematische Leistung hinter den
psychoanalytischen Resultaten liegt, denen er so mühelos beikam.
Nicht der Pansexualismus Freuds erkläre den Widerstand der Fach-
gelehrten gegen die Psychoanalyse, die Psychiater seien durch die seit Krafft-
Ebing in ihrer Wissenschaft fortschwingende Sexualwelle genügend abgebrüht,
die intellektuelle Schmutzerei“ wirke so abstoßend. (Es fehlen par-
lamentarische Einrichtungen in solchen Versammlungen !)
Während eine Reihe jüngerer Forscher (Isserlin, Mittenzwey, Kronfeld,
Jaspers) mit einem riesigen Aufwande von kritischer Detailarbeit und wissen-
schaftstheoretischem Apparat sich bemüht, den osmotischen Prozeß zwischen
Psychoanalyse und psychiatrisch-psychologischer Wissenschaft zu ermöglichen,
hat es sich Herr Prof. Hoche leicht gemacht. Hält den Psychoanalytikern zuerst
410 Aus Vereinen und Versammlungen.
Collegium logicum. Traditionell und ganz beiläufig. Dazu kommt ein wuchtigeres
Argument. Die Früchte. An ihnen nämlich soll das psychoanalytische Wirken
zu erkennen und durch sie gerichtet sein.
„Die Schädigungen durch die Analyse genügen schon zu ihrer Ablehnung“.
Wo und wie sind diese Früchte gesammelt worden? Die bekannte „Rundfrage“
des Herrn Hoche (vergl. diese Zeitschrift, pag. 199) habe ein überraschend
gleichmäßiges Bild ergeben ; großes Entsetzen vor der Analyse herrsche bei
Ärzten und Patienten. Letztere fliehen voll Wut und Ekel diese Behandlung,
von aufgehobenen Verlobungen, gestörten ehelichen, verwandtschaftlichen oder
sonstigen harmlosen Beziehungen berichtend ; von moralischer und seelischer
Abstumpfung und Vergiftung der Patienten durch das Hineinzwingen und Fest-
halten in sexuellen Vorstellungskreisen ; die Pat. würden nämlich angehalten,
auch außerhalb der Sitzungen in diesen Gedanken zu wühlen und die Schriften
der Analytiker zu lesen. Die Befragten wußten auch von während der Be-
handlung eingetretenen Erregungen und Suicidfällen zu berichten, von akqui-
rierten Geschlechtskrankheiten und Schwängerungen als Folgen von Analytikern
empfohlenen Sich-Auslebens, und von anderen Dingen noch, die Hoche namhaft
zu machen sich scheute. Auch die pekuniäre Ausbeutung der Kranken warf
er dem psychoanalytischen Vorfahren vor und bezeichnete letzteres resümierend
als des ärztlichen Standes unwürdig.
Als unser Kollege Stegmann — Dresden in sehr energischer Weise
gegen diese schweren Beschuldigungen Protest einlegte, darauf hinweisend, daß
sie nur krassester Unkenntnis des psychoanalytisch-therapeutischen Prozedere
entspringen konnten und namentliche Belege für das Vorgebrachte verlangte,
versprach Hoche, die Ergebnisse seiner Enquete ausführlich zu veröffentlichen,
Im Anschluß hieran gab auch Professor Kraepelin in lebhafter Weise
seiner Empörung und „Erschütterung* Ausdruck über die Schädigungen der
Patienten durch die Psychoanalyse,
Die Diskussion brachte nichts Wesentliches sonst, Es sprachen Stransky,
Weygandt und H. Liepmann (Berlin). Letzterer warnte vor Unterschätzung
der Expansionsfähigkeit der Psychoanalyse und riet, zu ihrer Bekämpfung sie
bei ihren bekannten logischen Sünden zu packen.
In der Person des Prof. William Stern protestierte auch die normale
Psychologie. Der gelehrte Autor der differentiellen Psychologie, der die Ver-
drängung anerkennt, wie auch das kontradiktorische Verhältnis von Bewußtsein und
Unbewußtem, hält die analytische Psychologie für das Resultat einer unerlaubten
Verallgemeinerung eines einzigen psychologischen Typus, nämlich des der
Analytiker selbst, und wendet sich heftig gegen die neue Publikation der
Frau Dr. Hug.-Hellmuth über die Kindesseele.e. Man sehe nun wieder ganz
deutlich, wie unberechtigt die Sexualisierung der Kinderseele nach Art des
„grauenvollen kleinen Hans“ sei. Unter dem Material der Frau Dr. H.-H.
befinden sich nämlich Beobachtungen von ihm an den eigenen Kindern, und er
wisse, daß sie nicht sexuell gedeutet werden dürfen. Er appellierte um
„Kinderschutz“ vor der Psychoanalyse.
Dr. Kohnstamm (Königstein i. Taunus), dessen Ausführungen den
einzigen Versuch darstellten, Positives zu bringen, gelangt zur Wiederbelebung
Breuers (in der Art von Dr. Frank-Zurich), und zur Neuentdeckung Janets,
während die Geschichte der Entwicklung der Psychoanalyse es doch so be-
greiflich macht, warum Freud so früh schon über beide hinausgehen mußte.
Gewundert hat es uns sehr, daß Kohnstamm, der in seinen letzten Arbeiten?)
O0. Kohnstamm: System der Neurosen vom psychobiolog. Standpunkte,
Band IX. d, Ergebn. der inneren Medizin und Kinderheilkunde.
Aus Vereinen und Versammlungen. 411
manchen Punkten. der Freudschen Auffassungen sehr nahe kommt, zur
Charakterisierung des „Freudianismus“ eine so ziehenisch-lakonische Formel fand.
Gegenüber den schweren gegen die Psychoanalyse als Therapie erhobenen
Vorwürfen brauchen wir zunächst nur auf die Vorbedingungen eines gerechten
Urteils hinzuweisen. Audiatur et altera pars.. Und wir können mit ganz
anderem Material aufwarten als die Gewährsleute des Herrn Hoche.
Die eigenartige, aber nahe innere Berührungspunkte mit neuen Strö-
mungen in der Philosophie nicht entbehrende Methodologik der Psychoanalyse,
in bewunderungswürdigster Geschlossenheit und Folgerichtigkeit besonders
allen Außerungen Freuds immanent, enthüllt sich unvoreingenommener und
unverschulter Betrachtung unschwer. Die Geschichte der Psychiatrie und der
Psychologie wird über ihren Wert entscheiden.
Dem Analytiker kommen auf Kongressen wie dieser in Breslau die
Schlußzeilen von Kants „Träume eines Geistersehers“ in den Sinn, „das-
jenige, was Voltaire seinen ehrlichen Candide nach so viel unnützen Schul-
streitigkeiten sagen läßt: Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten
gehen und arbeiten.“ Dr. M. Eitingon.
Leitsätze zum Referat über die Bedeutung der Psychoanalyse.')
1. Professor Bleuler.
Wir wollen unsere Leser in den Stand setzen zu beurteilen, wie weit
die Mischuld Bleulers an den Irrlehren der Psychoanalyse reicht.
„Freudsche Theorien.
„Allgemeine Psychologie. Wenn ich auch den allgemeinen Aufbau
der Psychologie Freuds für unrichtig halte, so sehe ich doch eine Anzahl
einzelner Bruchstücke derselben für wichtige Bereicherungen unseres
Wissens an.
Ein großes Verdienst ist es z. B., den Begriff der Verdrängung
herausgearbeit zu haben, wenn ich ihn auch anders auffassen muß als Freud.
Etwas Richtiges ist an der Vorstellung, daß die Affekte sich von den
zugehörigen Vorstellungen loslösen und eventuell eine Zeitlang „frei flottieren“
oder sich an andere Ideen anheften oder krankhafte Symptome provozieren
können.
Auch hinter den Begriff des Abreagierens ist etwas Richtiges,
Mit Recht hat Freud die Bedeutung des Unbewußten für Psycho-
logie und Psychopathologie hervorgehoben, wenn auch seine theoretischen Vor-
stellungen über dasselbe zu verwerfen sind,
Die in der Psychopathologie des Alltagslebens geschilderten
Mechanismen, die zu Versehen und Vergessen führen, existieren in der Tat,
werden aber wohl in ihrer numerischen Bedeutung überschätzt. Es gibt ja
auch noch andere Gründe zu Versehen.
Witz. Die Freudsche Theorie des Witzes enthält manche ansprechende
neue Gesichtspunkte, und eine definitive Witztheorie wird wohl Verschiedenes
daraus aufnehmen können, Sie ist aber weder erschöpfend, noch in der
Mehrzahl ihrer Einzelheiten überzeugend und gleicht insofern den anderen
Lösungsversuchen des Problems.
!) Im Folgenden bringen wir die Leitsätze der beiden Referenten vom Breslauer
Kongreß wörtlich zum Abdruck. (Die Red.)
412 Aus Vereinen und Versammlungen.
Nebentheorien. Eine große Anzahl von Nebentheorien, die mehr
von Schülern Freuds als vom Autor stammen, wie die Ableitung von
Chraktereigentümlichkeiten und Symptomen von überkompensierten Organ-
minderwertigkeiten, der „männliche Protest“ und ähnliches, sind Übertreibungen
oder einseitige Hervorhebungen von Dingen, die in Wirklichkeit eine Bedeutung
haben, aber von anderer Seite nicht erfaßt worden sind. Es ist also ebenso
unrichtig, sie einfach abzulehnen, wie wenn man auf sie alle schwören wollte.
Sexualität. Die Freudsche Theorie über die Entwicklung der Se-
xualität ist ungenügend fundiert und im Widerspruch mit Erfahrungen auf
anderen Gebieten.
Richtig ist:
Daß es eine infantile Sexualität gibt, daß diese sich oft an die
Eltern heftet („Ödipuskomplex“), und daß die Fixierung des Sexualzieles oft
(oder immer?) in der Kindheit bestimmt wird ;
daß Spuren von perversen Strebungen bei Neurotischen und
Psychotischen ganz gewöhnlich zu finden sind, und daß dieselben Einfiuß auf
die Symptomatologie haben ;
daß die so häufige Onanie indirekt großen Einfluß auf die Psyche
ausübt ;
daß nichts so leicht der Verdrängung unterliegt wie sexuelle Kom-
plexe ;
daß etwas existiert, was man Sublimierung nennen kann, wenn auch
wohl in einem etwas anderen Sinne als bei Freud.
| Möglicherweise besteht auch der Freudsche Begriff der Analerotik
mit dem entsprechenden Charakter zu Recht.
Traum. Von der Freudschen Traumlehre ist mir nicht bewiesen, daß
der Traum nur wünschen könne, daß nur ein infantiler sexueller Wunsch
seine eigentliche Triebkraft sein könne, daß der Traum den Zweck habe, den
Schlaf zu hüten ; ich glaube nicht an eine „Rücksicht auf die Darstellbarkeit*,
ebensowenig an die „Zensur“ im Freudschen Sinne.
Dagegen bleibt uns folgendes: Die Erkenntnis, daß es dem Bewußtsein
unbekannte unterdrückte Strebungen in uns gibt, daß das Traumdenken dirigiert
wird von Mechanismen, die auch sonst unser Seelenleben beherrschen, daß es in
versteckter Form alle unsere latenten und manifesten Strebungen enthalten
kann, seien dieselben wichtig oder nicht, und daß man diese Strebungen und
Befürchtungen aus dem Traum wiedererkennen kann. Die Symbolik des
Traumes im Freudschen Sinne existiert, und sie ist nicht etwas Neues und
Eigenartiges, sondern sie ist von der Symbolik der Mythologie, des Märchens,
ja der Poesie nur graduell verschieden. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob an
den vorliegenden Traumdeutungen etwas mehr oder weniger richtig sei. Als
Nebengewinne bleiben uns ferner die Ideen der Verschiebung, der Ver-
dichtung und der Überdeterminierung, die ebenfalls für die Pathologie
eine große Wichtigkeit besitzen.
Andere autistische Denkformen. Die gewonnenen Erkenntnisse
sind von großer Bedeutung für das Verständnis der Mythologie, der
Sagen und Märchen, der Religionspsychologie, des Tabu. Vieles auf diesem
Gebiete Publizierte ist aber gewiß noch unreif; einzelnes indessen halte ich
jetzt schon für gesichert, so das Wesentliche an den Studien Abrahams
über Prometheus und manches an Jungs Studien über „die Wandlungen und
Symbole der Libido“; vor allem aber eröffnen solche Untersuchungen neue
und fruchtbare Gesichtspunkte für die Zukunft.
Aus Vereinen und Versammlungen. 413
Zum psychologischen Verständnis der Diehtungen und der Dichter
sind die psychoanalytisch gewonnenen Einsichten unentbehrlich. An den bis
jetzt publizierten Versuchen in dieser Richtung findet sich zwar da und dort
eine positive Vermehrung unseres Verständnisses, aber doch noch mehr unvor-
sichtig angewandte Phantasie.
Neurosen und Psychosen. Freuds Einteilung der Psychosen
(Aktualneurosen: Neurasthenie und Angstneurose: Psychoneurosen:
Angsthysterie, Hysterie und Zwangsneurose) scheint mir so wenig fest be-
gründet zu sein, wie jede andere, in praxi gibt es so viele Misch- und Über-
gangsformen, daß es mir unmöglich wird, Krankheiten in ihnen zu sehen.
Dafür enthalten sie bestimmte genetische Symptomenkomplexe, deren Heraus-
hebung sehr wertvoll ist, wenn auch noch nicht alle klar sind,
Die Abgrenzung der Freudschen Neurasthenie (die ein viel engerer
und bestimmterer Begriff ist als der gewöhnliche der Neurasthenie) und ihre
Entstehung durch inadäquate Abfuhr der Sexualerregung sind noch problematisch.
Die Angstneurose hat wenigstens als Symptomenkomplex eine wirk-
liche Existenz. Ihre Entstehung infolge „Verhinderung der psychischen Ver-
arbeitung der somatischen Sexualerregung“ bedarf weiterer Beweise. Doch ist
ein Zusammenhang mancher Angstzustände mit ungenügender Sexualbetätigung
wohl. gesichert.
Noch gar nicht klar ist mir die Angsthysterie. Doch gibt es Gründe
für die Existenz dieses Syndroms und für seine von Freud angenommene
(Genese,
Von der komplizierten Theorie der Hysterie, deren Krankheitsbild von
Freud ebenfalls enger begrenzt wird als gewöhnlich, möchte ich als sicher
nur die allgemeinen psychopathologisch-genetischen Vorstellungen ansehen.
Ebenso bei der Zwangsneurose.
Die weitgehenden Theorien über die Entstehung der Schizophrenie
aus der „homosexuellen Komponente“ halte ich für unrichtig, jedenfalls sind
sie nicht bewiesen, Wenn auch vorläufig nicht auszuschließen ist, daß in der
ganzen Schizophreniegruppe einige bloß psychogene Fälle mitlaufen, so ist doch
der Begriff aus deutlich organisch bedingten Syndromen entwickelt worden ;
auf der organischen Grundlage bilden sich durch autistisches Denken, Ver-
schiebungen, Verdichtungen und durch der Freudschen Traumsymbolik analoge
Vorgänge die Wirklichkeitstäuschungen, wobei ambivalente (oft zugleich ver-
drängte) Komplexe die wesentliche Rolle spielen.
Allgemeine Psychopathologie. Indie Einzelheiten seiner Psycho-
pathologie kann ich Freud gar nicht immer folgen. Sicher scheint mir von
seinen Auffassungen folgendes:
Die Bedeutung der Sexualität ist vor Freud unterschätzt worden.
Anderseits ist es noch ganz unberechtigt, immer nur sexuelle Erklärungen
zu suchen. |
Eine gewisse, wenn auch noch genauer zu umschreibende Bedeutung haben
die perversen sexuellen „Komponenten“.
Besonders wichtig ist der Begriff der Verdrängung von unerträglichen
Gedanken. „Verdrängung“ ist nun namentlich bei krankhafter Anlage nicht
gleich „vollständige Unterdrückung.“ Verdrängte Gedanken bleiben mit ihren
Affekten vom Unbewußten aus wirksam und erzeugen Krankheitssymptome,
Die Bedeutung infantiler Wünsche und Erlebnisse ist noch
nicht genügend abzuschätzen. Sicher aber verlangt sie Berücksichtigung.
Der Krankheitsgewinn ist ein wichtiger Anreiz zum Krankwerden
und Kranksein.
414 Aus Vereinen und Versammlungen.
Die Lokalisation psychisch bedingter Symptome in bestimmte Körperteile
kann durch eine Anomalie dieser Organe mitbedingt sein („körperliches Ent-
gegenkommen‘).
Verschiebung und Symbolik im Freudschen Sinne haben be-
deutenden Anteil an der Ausgestaltung der Symptomatologie.
Technik. Die Freudsche analytische Technik gibt wichtige Auf-
schlüsse über Zusammenhänge psychischen Geschehens. Unvorsichtige Ver-
wertung derselben sagt nichts gegen das Prinzip.
Therapie. Über den therapeutischen Wert oder Unwert der Psycho-
analyse kann man zanken, aber noch nicht wissenschaftlich diskutieren. Zum
letzteren Zweck verwendbares Material besitzen wir so wenig wie Beobachtungs-
serien, die man zur Diskussion über die anderen Behandlungsarten der Neu-
rosen oder über den Wert der verschiedenen Pneumonietherapien verwenden
könnte,“
2. Professor Hoche.
Die Thesen Hoches bedürfen für den Psychoanalytiker keiner Einführung.
1. Die Lehren der sogenannten „Psychoanalyse“ sind weder theoretisch
noch empirisch genügend begründet.
2. Die therapeutische Wirksamkeit der „Psychoanalyse“ ist unbewiesen.
3. Der Dauergewinn für die klinische Psychiatrie ist gleich Null.
4. Der abstoßende Eindruck, den die psychoanalytische Bewegung auf das
nüchterne Denken ausübt, beruht auf der durch und durch unwissen-
schaftlichen Methodik.
5. Der Betrieb der „Psychoanalyse“ in seiner heute vielfach geübten Form
Ist eine Gefahr für das Nervensystem der Kranken, kompromittierend
für den ärztlichen Stand.
6. Das einzige bleibende Interesse an der psychoanalytischen Episode liegt
auf kulturgeschichtlichem Gebiete.“
Sprechsaal.
Übersetzungsvorschläge der gebräuchlichsten psa. Termini.
Von Prof. Ernest Jones (englisch) und Dr. Alphonse Maeder (französisch).
Auf Anregung verschiedener ausländischer Kollegen eröffnen wir eine
Rubrik für Übersetzungsvorschläge der gebräuchlichsten psa. Terminj und bitten
alle Psychoanalytiker, auch die anderer Sprachen (italienisch, holländisch u. a.),
sich an der Ausarbeitung dieses Kodex mit Beiträgen zu beteiligen, sei es,
indem sie andere Vorschläge oder Anregungen irgend welcher Art zu machen
haben, oder richtige Termini vermissen.
Als ersten Beitrag lassen wir eine Auswahl englischer und französischer
Termini folgen :
Ablenkung
Ablösung
Abreagieren
Allmacht der Gedanken
Ambivalenz
Bewußtseinsunfähig
Deckerinnerung
Dissoziation
Einstellung
Endlust
Gegenwille
Introjektion
Katharthische Wirkung
Komplex
Konversion
Mischbildung
Psychoanalyse
Psychoanalytiker
Reaktionsbildung
Sekundäre Bearbeitung
Somatisches Entgegen-
kommen
Sublimierung
Trauma
Überdeterminierung
Übertragung
Umkehrung
Unbewußte, das
Verdichtung
Verdrängung
Verschiebung
Versagen
Vorbewußte
Vorlust
Widerstand
Deflection
Emaneipation
Abreaction, to abreact
Omnipotence of thought
Ambivalency
Incapable of becoming
conscious
Cover-memory
Dissociation
Attitude
End-pleasure
Counterwill
Introjection
Cathartic action or effect
Complex
Conversion
Composite structure
Psycho-analysis
Psycho-analyst
Reaction formation
Secondary elaboration
Somatic predisposition (?)
Sublimation
Trauma
Över-determination
Transference
Reversal
The Unconscious
Condensation
Repression
Displacement
Failure
Preconseious
Fore-pleasure
Resistance
derivation
emancipation
abreaction, abreagir
omnipotence de la pensee
incompatible avec le con-
scient
reminiscence-&cran
dissociation psychique
attitude
contre-volonte&
introjection
action cathartique
complexus
conversion
melange (?)
psychanalyse
psychanalyste
produit reactif
elaboration secondaire
complaisance somatique
sublimation
traumatisme
sur-determination
transfert affectif
renversement
l’inconscient
condensation
refoulement
deplacement
defaillance
preconscient
resistance
Zur psychoanalytischen Bewegung.
„Ihe Lancet“ über die Traumdeutung: Dr. William Brown,
Leiter der psychologischen Abteilung in King’s College, London, hielt im
Frühjahr in der „Listerian Society of King’s College Hospital* einen Vortrag
über „Freud’s Theory of Dreams, der in „The Lancet* vom 19. April
(p. 1114) und 26. (p. 1182) d. J. abgedruckt ist. Brown anerkennt die
Bedeutung der Traumlehre, bringt Beispiele von Traumdeutungen und erklärt
Art und Ergebnisse der Traumanalyse. Er glaubt aber den Satz nicht unter-
stützen zu können, daß die Wunscherfüllung das Motiv alles Träumens sei;
Furcht, Eitelkeit, Ekel seien ebenso ursprüngliche Affekte wie das Wünschen
und kämen in Träumen überall vor, wo sie aus dem Bewußten ins Unbewußte
verdrängt wurden. Um seine Behauptung zu stützen, führt er ein Bruchstück
aus einem längeren Angsttraum an, ohne aber den latenten Inhalt des Traumes
mitzuteilen. Einen großen Teil der Sexuallehre Freuds nimmt Brown an
und fügt hinzu, Freud habe für die Psychologie so außerordentlich Wichtiges
geleistet, daß nur eine durch Vorurteile verblendete Wissenschaft seine großen
Verdienste in Abrede stellen könne.
In der Nummer vom 10. Mai 1913 (p. 1327) der führenden englischen
Zeitschrift wird das Thema in einem Leitartikel neuerdings aufgegriffen. Es
wird hervorgehoben, daß der Enthusiasmus Freuds sich ansteckend erwiesen
habe und mit Recht, da sein Werk einen enormen Fortschritt in der Psycho-
logie bedeute, insbesondere die Traumdeutung. Kein Widerstand könne auf
die Dauer den bleibenden Wert von Freuds Leistung leugnen. Man könne
übrigens die Traumdeutung voll akzeptieren, ohne die ganze übrige Freud-
sche Lehre anerkennen zu müssen. In der Frage der Rolle der Symbolik
kann sich „The Lancet“ noch nicht entscheiden. Die Symbole seien bei ver-
schiedenen Rassen, Völkern und auch einzelnen Personen verschieden, so daß
es kein allgemeines Kriterium gebe.!) (Nach einem Bericht von Dr. M. D. Eder,
London.) R
In derselben Nummer des „Lancet“ (10. Mai, p. 1345) unterzieht sich
Dr. Eder der dankenswerten Aufgabe, in einem offenen Brief an den Heraus-
geber einige auf Grund des Brownschen Vortrages naheliegende Mißverständ-
nisse aufzuklären.
Im „British Journal of Psychology“ Juni 1913 findet sich auf der
letzten Seite folgende Notiz: „Proceedings of the British Psychological Society.
March 8, 1913: The Psychological System of Sigm. Freud, as set forth in
Chap. VII. of the ‚Traumdeutung‘, by W. Brown. — The Analysis of some
personal Dreams, with special Reference to Freud’s Interpretation, by T.
H. Pear.* |
1) Die Psychoanalyse findet im Gegenteil die größte Uniformität in der Symbolik,
ey ja eben auf dieser empirisch gefundenen Übereinstimmung ruht. (Anmkg.
. ed,
Zur psychoanalytischen Bewegung. 417
L’Enc&phale, das offizielle Organ der Soeiete de Psychiatrie de Paris“
bringt in den letzten Nummern (vol. VIII, Nr. 4 u. ff., April usw. 1913)
als „Travail de la Clinique Psychiatrique de Bordeaux“ eine von Prof. E. Regis
und seinem Assistenten Dr. A. Hesnard verfaßte großzügige und systematische
Darstellung der Psychoanalyse unter dem Titel: „La doctrine de Freud
et son &cole“. (Die bis jetzt erschienenen zwei Artikel, die fortgesetzt
werden, umfassen bereits 60 Seiten.)
Dr. van Ophuijsen (Haag) hielt auf Einladung des Vereines für
psychische Forschung in Helsingfors am 21., 23. und 25. April d. J. in der
Aula. der Universität drei Vorträge über Psychoanalyse und vorher (am
13. April) dortselbst einen öffentlichen Vortrag über den Traum. Der Besuch
der Vorträge war — nach einem Bericht van Ophuijsens — befriedigend
und das Interesse für die Psychoanalyse groß.
Am 26. April sprach Dr. van Ophuijsen in der AN: des Vereines
der Finnischen Ärzte über die Entwicklung der Psychoanalyse. In der Dis-
kussion hob der Professor der Psychiatrie Sib elius die Bedeutung der Psycho-
analyse als Versuch einer Individualpsychologie hervor. Auch zeigte er Inter-
esse an der Bedeutung der Psychoanalyse für die Erforschung und Behandlung
der Dementia praecox.
Am 7. Mai sprach van ÖOphuijsen auf Einladung des Bildungs-
vereines der deutschen Kolonie in St. Petersburg in einer kleinen Versammlung
von Professoren, Ärzten und namentlich Pädagogen über den Heilungsvorgang der
Neurose, Hier zeigte sich großes Interesse und viel Verständnis in der Diskussion.
In der Irrenanstalt Udelnaja bei Petersburg wohnte Dr.van Ophuijsen
einer Versammlung von Psychiatern und Psychologen bei, in der ein Professor
der Experimentalpsychologie über die Psychoanalyse und ein Militärarzt über
die Tatbestandsdiagnostik sprach. Vorsitzender war Dr. A. Timofeeff, Di-
rektor der Anstalt.
Der ebenfalls anwesende bekannte Physiologe Prof. Pawlow zeigte
großes Interesse für die Psychoanalyse und meinte, einige von Freuds Be-
hauptungen in den „fünf Vorlesungen“ experimentell beweisen zu können.
Schließlich entnehmen wir dem Bericht van Ophuijsens, daß kürzlich an
der Universität Leiden ein Mitglied einer alten hochadeligen Familie auf Java
die goldene Medaille für eine Preisarbeit gewann und seine Promotion zum
Doct. litt. oriental. cum laude machte. These Nr. XXX seiner Dissertation lautete:
„Die Einsicht in viele Phänomene auf dem Gebiete der Ethnologie wird durch die
psychoanalytische Theorie (s. die Aufsätze Freuds in „Imago“) erleichtert.“
Im ärztlichen Verein München sprach in der Sitzung vom
29. Januar 1913 Dr. L. Seif „Über neue Wege der Neurosenforschung und
-behandlung“, wobei die Psychoanalyse im Mittelpunkt des Vortrages und der
Diskussion stand (Bericht in Münch.-Med. Wochenschr. 1913, Nr. 22, 3. Juni,
S. 1233).
Dr. Eduard Hitschmann sprach am 20. Juni im Rahmen eines von
der „Vereinigung Wiener Mediziner“ veranstalteten Vortragszyklus vor einem
zahlreichen Auditorium von Ärzten und Studenten über die „Psychoanalyse
inder praktischen Medizin“,
Im Frühjahr d. J. hielt im „Neuphilologischen Verein“ an der Wiener
Universität Prof. Dr. Rudolf Standenath (Teschen) einen Vortrag: „Über
Märchenforschung mit besonderer Berücksichtigung der
Theorien der Freudschen Schule“.
* *
Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse, 27
418 Zur psychoanalytischen Bewegung.
Freuds „Traumdeutung“ (3. Aufl.) ist unter dem Titel „The Inter-
pretation of Dreams“ von Dr. A. A. Brill (New York) ins Englische
übersetzt worden und kürzlich im Verlag G. Allen & Co., Ltd., London, er-
schienen.
. Freuds kleine Schrift „Über den Traum“ erschien in holländischer
Übersetzung von Dr. J. Stärcke (Amsterdam). (Verlag S. C. van Doesburgh,
Leiden 1913.)
%* *
*
Das Juniheft von „Imago“ hat folgenden Inhalt: Prof. S. Freud: Das
Motiv der Kästchenwahl. — Dr. Otto Rank: Die Nacktheit in Sage und
Dichtung I. — Dr. Hanns Sachs: Die Motivgestaltung bei Schnitzler. —
Dr. Theodor Reik: Die „Allmacht der Gedanken“ bei Artur Schnitzler.
— Dr. J. Sadger: Über das Unbewußte und die Träume bei Hebbel.
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u HUGO HELLER & Ct Sim
PHILOSOPHIE
PSYCHOLOGIE BUCHHANDLUNG PSYCHOLOGIE
FOLKLORE :: WIEN, I. BAUERNMARKT 3 rorkLore :
empfiehlt aus ihrem reichhaltigen Lager:
Prof. Dr. S. FREUD: Studien über Hysterie. 2. Aufl. M. "— —K 840,
— Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. I. und II. Reihe M.5>— —=K6—.
— Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen. 2. Aufl. M. 150—K 180.
— Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 2. Aufl. M. +— —K 240.
— Die Traumdeutung. 3 Aufl. M. 1° — —=K12:—.
— Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. (Schriften zur angewandten
Seelenkunde, I. Heft.) 2. Aufl. M. 250 —=K3-—.
— Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. 2. Aufl. M.5— —=K6--.
— Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinei (Schriften zur angewandten Seelen-
kunde. VII. Heft), M.2590 —=K3-.,
— Über den Traum. 2. Aufl. M. 160 =K 1'92.
— Zur Psychopathologie des Alltagslebens. 4. Aufl. .5>— —=K6-—.
JAHRBUCH FÜR PSYCHOANALYTISCHE UND PSYCHOPATHOLOGISCHE FOR-
SCHUNGEN. Herausgegeben von Prof. Dr. E. Bleuler und Prof. Dr. S. Freud.
Redigiert von Dr. C. G. Jung. I. Band: 1. und 2. Hälfte & M. ”— =K 8:40.
I. Band: 1. und 2. Hälfte aM. 8— =K 9-60. IH. Band: 1. Hälfte M. 10—
— K 12 —. 2. Hälfte M. $s— —=K 9:60. IV. Band: 1. Hälfte M. 14— = K 16'80.
2. Hälfte M. £— = K1480,
SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE. Herausgegeben von Prof. Dr.
Sigm. Freud in Wien. — I. Heft: Der Wahn und die Träume in W. Jensens
„Gradiva“. Von Prof. Dr. Sigm. Freud in Wien, 2. Aufl, M.250=K3—. —
II. Heft: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Eine Studie von Dr. Franz
Riklin, Sekundararzt in Rheinau (Schweiz). M. 3— =K 360. — III. Heft: Der
Inhalt der Psychose. Von Dr. C.G. Jung, Privatdozent der Psychiatrie in Zürich.
M. 125 =K 150. — IV. Heft. Traum und Mythus. Eine Studie zur Völkerpsy-
chologie. Von Dr. Karl Abraham, Arzt in Berlin. M. 250 =K3—. — V. Heft:
Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythen-
deutung. Von Otto Rank. M. >— —=K 3560. — VI. Heft: Aus dem Liebesleben
Nikolaus Lenaus. Von Dr. J. Sadger, Nervenarzt in Wien. M. °— =K 3:60.
-— VII. Heft: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Von Prof. Dr.
Sigm. Freud in Wien. M.250=K 3-—. — VII Heft: Die Frömmigkeit des
Grafen Ludwig von Zinzendorf. Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich. M. 4:50
== K 540. — IX. Heft: Richard Wagner im „Fliegenden Holländer“. Ein Beitrag
zur Psychologie künstlerischen Schaffens. Von Dr. Max Graf. M. 10 =K2-..
— X, Heft: Das Problem des Hamlet und der Odipus-Komplex. Von Dr. Ernest
Jones in Toronto (Kanada). Übersetzt von Paul Tausig (Wien). M. 2— = K 240.
— XI. Heft: Giovanni Segantini.. Ein psychologischer Versuch. Von Dr. Karl
Abraham, Arzt in Berlin. Mit zwei Beilagen. M. 2——=K 240. — XI. Heft:
Zur Sonderstellung des Vatermordes. Eine rechtsgeschichtliche und völkerpsycho-
logische Studie. Von A. J. Storfer, Zürich. M. 150 —K 1:80. XIII. Heft: Die
Lohengrinsage. Ein Beitrag zu ihrer Motivgestalt und Deutung. Von Otto Rank.
.5°——=K6-—. — XIV. Heft: Der Alptraum in seiner Beziehung zu gewissen
Formen des mittelalterlichen Aberglaubens. Von Prof. Dr. Ernest Jones. Deutsch
von Dr. E. H. Sachs. M. 5— =K 6°—. — XV. Heft: Aus dem Seelenleben des
. Kindes. Eine psychoanalytische Studie. Von Dr. H. v. Hug-Hellmuth.
FREUDS NEUROSENLEHRE. Nach ihrem gegenwärtigen Stande zusammenfassend
dargestellt von Dr. Eduard Hitschmann. 2. Aufl. M. 4— —=K1480.
Dr. OTTO RANK UND Dr. HANNS SACHS: Die Bedeutung der Psychoanalyse für
die Geisteswissenschaften (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Hg. v. Hofrat
Löwenfeld). Wiesbaden 1913.
DISKUSSIONEN DER „WIENER PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG“. 1. Heft:
Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord. M. 135 —=K 160.
2. Heft: Die Onanie. Vierzehn Beiträge. M. +— =K 480.
DIAGNOSTISCHE ASSOZIATIONSSTUDIEN. Beiträge zur experimentellen Psycho-
pathologie. Herausgegeben von Doz. C. G. Jung. I. Band M. 12°— —=K 1440. —
I. Band M. 1°— =K 12° —.
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0 2082227 Inhalt ds. IV, Heftes.
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EN ‚1. Prof. Ernest Jones RER Der ‚Gottmensch-Kömplex Dr ‚ 313
REEL | II. Trigant Burrow M.D. Ph.D D; .(Baltimöre): Die psychologische Analyse
ELF der sog. Neurasthenie und Verwandter Zustände. . . 330
BES HE | Mm. Dr. J; Marcinowki (Sielbeck): Die moralischen Wertschätzungsurteil
Be als Hindernis in der psychischen FREE nu a
RES IV. Dr. J. Sadger rap Über Gesäßerotik... 2... 2 de 4. 2 861
R ‚ Mitteilungen. | Si | RR
vos. se rL Aus dem infantilen Bonlenichen. E. u
Bee 1, Prof. 8. Freud (Wien): Zwei Kinderlügen ..'. . 369,
RR 5 : 2.Dr. J.K. Friedjung (Wien); Über verschiedene Quellen % 'kindlicher
ER? SER © 2” Schamhaftigkeit: ... . . 362
Er 3. Ds Karl Abraham (Berlin): Psychische 'Nachwirküngen der Beob-
se mag‘ aa BenkTaB des elterlichen Geschleehtsverkehrs bei einem EDERER
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& 4, Dr. 0O.Rank Wien): Ein Beitrag zur infantilen Sexualität... . . 366
FE 5..Dr. H.v. Hug-Hellmuth (Wien): Ein weibliches Gegenstück . . . 371.
0082.56. Dr. H.y. Hug-Hellmüth (Wien): Kinderver ehen und -unarten . 372
NE RUE, 7. Dr, L. Jekels (Wien): Narzißmus._ bei einem kleinen Kinde . . . .,375
8, Dr. L. Jekels (Wien): Analerötik . ni... wen .. 376
'\ I. Erfahrungen und ‚Beispiele aus der analytischen Präxis A
. I0..Dr. Is Binswanger (Kreuzlin mE)" Bemerkungen ‘zu der Arbeit Ja-
.. »8spers’: Kausale- und verständliche Zusammenhänge zwischen aa
und Psychose bei der Dementia RE (Sebixophresie) x a m BOB
\ Kritiken und Referate,
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RE | "renezi). REN ih THU BEL,
Aus Vereinen er Verakginlänigei
be m u E 3 L ‚Psycho-Medical Society; London (Prof, Yonas, Dr.:Eder)‘. .% . 404°
KA =. =. Third Meeting of the „American a a er Association“, Boston,
REIT I SEE | May 29, 1912 (Dr. 7 Burrow)..
TBITRR "u 22. r.0pening Ceremonies of the Phipps Psychiatrie, Clinie, Baltimore, April
SER ER IE WESENE 17, 1913 (Prof. E. Jones) » 407
TE DE ER AR Jahresversammlung des ‚Deutschen: Verdinad für. Paychiatrie zu Breslan |
WERE Mai 1913 (Dr.M. Eitingon) . a
RE EHER, Leitsätze zum Referat über die Bedeutung der REN am Bres-
lauer Kongreß 1913 von Prof. E. Bleuler und Prof. A A, Hoche 411
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| Übersetzungsvorschläge der g ebräuchlichsten psa. "Termini . von Prof. -
Ernest Jones und Dr. Alphonse Maeder EEE BET IR Mercer Ai
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ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
BRAE AUF DIE GEISTESWISSENSCHRE TEN
‘Herausgegeben von Professor S. Freud.
Sn Dr. Otto Rank, Dr. Hanns Sachs.
‚Das erste Halbjahr des laufenden II. chraaiiges enthält neben den
ständigen Rubriken „KINDERSEELE“, redigiert von Dr. H. v. Hug-
- Hellmuth, und „BÜCHER“ folgende Originalarbeiten:
Prof. 8. Freud: “Über einige ‚Übereinstimmungen im Seelenleben der
‚ Wilden und: der Neurotiker, DI. RE, a sd und
2.0 Allmacht der Gedanken. Er |
— — Das Motiv der Kästchenwahl. iR
Dr. 8. Ferenezi: Aus der „Psychologie“ von Hermann Lotze.
Dr. Eduard Hitschmann: ‚Schopenhauer. Versuch ‚einer Analyse: des
Philosophen.
Dr. Emil Lorenz: Das Titanenmotiv in der allgemeinen Mytho-
logie.. Darstellung und Analyse. |
Dr. Otto Rank: Die Nacktheit in Sage und Dichtung. I.
Dr. Theodor Reik: Die ‚„Allmacht der Gedanken“ bei Arthur
Schnitzler.
Dr. Hanns Sachs: Carl Spitteler.
— ,— Die Motivgestaltung bei Schnitzler.
Dr. J; Sadger:. Über das Unbewußte und die Träume bei Hebbel.
Dr: Alfred Frh.v. Winterstein: Psychoanalytische Anmerkungen zur
Geschichte der ERIN
‘Jährlich 6 Hofte im Umfange von etwa 386 Bogen
zum Preise von M 15.— = K 18.— |
Auch ist ein gemeinsames Abonnement auf „Imago“ und die
„Internationale Zeitschrift für ärztliche 5 eyShonnaiya? zum er-.
See mer reden von M 30.— = K .86.— eröffnet.
Dr. MARCI NOWSKI,
Sanatorium Haus’ Sielbeck a. Uklei bei Eutin (Ost-Holstein)
. „ Klinisch-analytische Behandlung der
- Psychoneurosen.
E. u, K, Hofbuchdruckerei Karl Prochaska in’ Teschen.
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