J
INTERNATIONALE teCHRIFT
FÜR ^ ^
ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
OFFIZIELLES ORGAN
DBR
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
HERAUSGEGEBEN VON ^
PROF. DR. SIGM. FREUD
REDIGIERT TON
DR. a FERENCZI DR. OTTO RANK
BUDAPEST WIEN
PROF. DR. ERNEST JONES
LONDON
UNTER STÄNDIGER MITWIRKUNG TON:
Da. KARL ABRAHAM, BgRLIW. — Dr. LUDWIG BlNSWANQER, KriOZLIWGEN. —
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BüRROW, Baltmorb. — Dr. M. D. edbr, London. — Dr. J. van Emden, Haag. —
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WiBN. — Dr. H. V. Huq-Hellmuth, Wibn. — Dr. L. Jekels, WigN. — Dr. Kriedr.
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beck. — Prof. MorichaU-Beauchant, Poitiers. — Dr.C R.Payne,Wadham8,N. Y.
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REiK, Berlin. — Dr. R. Reitler. Wien. — Dr. Hanns Sachs, Wien. — Dr. J.
SADGER, Wien. — Dr. A. «tärcke, Den Dolder. —Dr. M. stegmann, Dresden.
Dr. Victor Tausk, Wien. — Dr. M. Wulff, Odessa.
m.JAHEOANG,19i5
HEFT 3
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^pl
1916
HUGO HELLER & QE.
LEIPZIG UND WIEN, I. BAUERNMARKT 3
/^>^j^,,f.-. Original from
V:.uvr UNIVERSITYOF MICHIGAN
i
ALLE UNREGELMÄSSIGKEITEN IM ERSCHEINEN UND IM UM-
FANGE DIESER ZEITSCHRIFT, WELCHE DURCH DIE KRIEGSLAGE
BEDINGT SIND, WOLLEN DIE P. T. ABONNENTEN FREUND-
LICHST ENTSCHULDIGEN. DAS VERSÄUMTE WIRD NACH WIE-
DERKEHR NORMALER ZUSTÄNDE NACHGEHOLT WERDEN.
BEIHEFTE
zur Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse
herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Frend.
L Heft:
UNBEWUSSTES GEISTESLEBEN
Vortrag, gehalten zum 339. Jahrestage der Leidener Universität
am 9. Februar 1914
Tom _.
Eector Magnificus
G. Jelgersma,
Professor der Pajtsbiatrie aa der ÜniversitM Leiden.
Preis M. 1.50. — Für Abonnenten der Zeitschrift M. 1.—.
Als zweites Heft erscheint demnächst:
ALLGEMEINE GESICHTSPUNKTE ZUR PSYCHO-
ANALYTISCHEN BEWEGUNG.
Von
James J. Putiiam,
Prof. emerit. aa der Harrard Medical Sohool, Boston.
All American and English coramunlcations and contribntlons shonld be
sent (typewritten) to Dr. Ernest Jones, 69 Portland Court, London W.
Alle Manuskripte sind vollkommen druckfertig einzusenden.
Sämtliche Beiträge werden mit dem einheitlichen Satz von K 50. —
pro Druckbogen honoriert.
Von den „Originalarbeiten" und „Mitteilungen" erhalten die Mitarbeiter
je 50 Separatabzüge gratis geliefert
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Copyright 1915. Hugo Heller & Cie., Wien, I. Bauemm. 8.
.. /^^j^-,1..^ Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos.
Von Dr. M. Nachmansohn (Zürich).
I.
Die Ergebnisse der Psychoanalyse zwangen dessen Begründer zu
einer bedeutenden Erweiterung des Libidobegrififes. Freud sah sich ge-
zwungen, unter Libido alles das zu verstehen, was man im Deutschen
unter dem Liebesverlangen im weitesten Sinne und unter sexueller Betä-
tigung im engeren Sinne versteht. Versuchen wir uns klarzumachen,
was Freud zu dieser so großen Erweiterung des Begriffes geführt hat
(Freud ist zwar ein Forscher, der sich keineswegs scheut, alte Begriffe
in einem von dem landläufigen abweichenden Sinne zu gebrauchen, der
dies aber nur dann tut, wenn ihn schwerwiegende Gründe dazu veran-
lassen).
Mit wachsendem Erstaunen erkannte er, daß schon im gewöhnlichen
normalen Kinde sich ein starkes erotisches Leben abspielt, und daß es
ein von den Erwachsenen zurechtgelegtes Märchen ist, wenn dem Kinde
eine eigentliche Erotik abgesprochen wird. (Übrigens geschieht dies nach
meiner Erfahrung mehr von Akademikern als von Laien!) Wann schon
ein erotisches Leben beginnt, darüber gehen noch jetzt auch unter
Psychoanalytikern die Meinungen auseinander. Freud sieht schon im
Ludein oder Wonnesaugen des Kindes eine sexuelle Betätigung und ein
Lustergebnis. Es läßt sich allerdings nicht direkt widerlegen, wenn
Jung darin nur eine Ernährungslust sieht. ^) Wir können den Säugling
nicht fragen und aus späteren krankhaften Erscheinungen Rückschlüsse
zu ziehen, kann praktisch oft von größter Bedeutung sein, hat aber, so-
weit es sich um psychisches Gebiet handelt, dessen sämtliche Faktoren
uns nie ganz bekannt sein können, keine zwingende theoretische Beweis-
kraft. Eigentümlich jedoch ist die Ablehnung der Freud sehen Annahme
durch Jung. Er gibt zwar zu, daß „beim aufwachsenden Kinde soge-
nannte schlechte Gewohnheiten auftreten, die sich eng an das früh in-
fantile Lutschen anschließen, wie Finger in den Mund stecken, Nägel-
kauen, Nasen- und Ohrenbohren usw." Er hat selbst die Tatsache
beobachtet, daß diese Manipulation (die den Kindern eine eigentümliche
Lust bereitet, welche nicht die geringste Ähnlichkeit mit Hungerbefrie-
*) Jung, Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie 1912, S. 18.
Zeitschr. f. ftrztl. Psychoanalyse. III/2. 5
.. f^^r^^.^fu Original from
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gg Dr. M. Nachmansohn.
digung hat) oft zur Masturbation führt, welche ja, wenn sie schon in
der späteren Kindheit auftritt, vor der Zeit der Reife nichts anderes ist
als eine Fortsetz ung der infantilen Gewohnheiten"^) (18).
Er gibt auch zu, daß eine Linie von einer deutlichen Sexualbetätigung
zum Säuglingsludeln zu führen scheint, abgesehen von dem subjektiven
Eindruck, den das Aussehen des Kindes oft auf den Beschauer macht.
Dennoch will er dem Wonnesaugen nicht einen erotischen Charakter zu-
schreiben — warum?, weil er es als erwiesen erachtet, daß beim Säug-
ling sich keine sexuellen Funktionen, „auchnurandeutungsweise'^^),
regen. Das ist aber doch nur eine Behauptung, die Jung als bewiesen
ohne die Spur von Begründung voraussetzt — also eine denkbar klare
petitio principii, die Jung — einem Analytiker, der etwas von
Projektion weiß, sollte es zu denken geben — an dieser Stelle gerade
Freud vorwirft. Jung selbst gibt zu, daß im 3. bis 5. Jahre die
Sexualität sich zu regen beginnt (28), warum sollte sie sich nicht schon
im ersten regen, hauptsächlich da ja auch für Jung selber manche früh-
zeitige sexuelle Betätigung eine sehr einleuchtende Erklärung finden
würde? Im Säuglingsalter kennen wir nur die Ernährungsfunktion . . .
indem die Tatsachen beweisen, daß der Ernährungsakt der erste Lust-
bringer ist und nicht die Sexual funktion (19). Welche Tatsachen? Das-
selbe könnte auch vom Kinde bis zur Pubertätszeit gesagt werden und
ist auch gesagt worden — warum also erkennt Jung dem Dreijährigen
eine Sexualität zu, dem Säugling aber nicht, trotzdem gerade er auf Tat-
sachen hinweist, die die Annahme einer Säuglingssexualität erforderlich
machen. Theorien und Hypothesen werden dazu gemacht, damit sie die
Tatsachen erklären, das tut die F r e u d sehe Theorie und steht auch mit
irgendwelchen anderen Tatsachen nicht in Widerspruch. Ich persönlich
kann mich den Freud sehen Argumenten nicht verschließen, stringent
beweisen läßt sich keine Theorie. Ein weiterer bestimmender Grund für
die Erweiterung des Libidobegriflfes war, abgesehen von den Rück-
schlüssen aus den Psychoanalysen Erwachsener, die Beobachtung deut-
licher sexueller Regungen vom 3. Lebensjahre an, wo diesen Regungen
schon ein sprachlicher Ausdruck verliehen werden konnte. Hier erkannte
Freud, daß die Erotik beim Kinde noch keine festen Bahnen habe,
sondern von den meisten Körperstellen aus erregt werden und sich
in den verschiedensten Weisen betätigen könne. Da nun die Mund-
und Afterzone beim Säugling am meisten gereizt wird, so werden
diese Stellen besonders gut disponiert zur erotischen Erregung.
Trotzdem bleibt fast die ganze Oberfläche des Körpers hiezu geeignet,
wenn auch manche Stellen infolge der größeren „Übung" besonders be-
vorzugt sind. Dies sind dann die erogenen Zonen.
*) von mir gesperrt.
*) von mir gesperrt
r^no'^'-^ Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Freuds Libido theorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. 67
Es bleibt mir unverständlich, wie Jung behaupten kann: „Nach
dieser (der Freud sehen) Betrachtungsweise setzt sich also die spätere
normale und monomorphe Sexualität aus verschiedenen Komponenten zu-
sammen. Zuerst zerfällt sie in eine homo- und heterosexuelle Kompo-
nente, dann gesellt sich dazu eine autoerotische Komponente, dann die
verschiedenen erogenen Zonen '^ (20). Niemals ist es Freud eingefallen,
in den erogenen Zonen Sexualitätskomponenten zu sehen, dies wider-
spricht doch schon dem einfachen Wortsinne.
Die Beobachtung am Kinde selbst und die Einsichten aus den
Psychoanalysen Erwachsener hatten Freud von einer polymorph -per-
versen Kindersexualität sprechen lassen, indem er mit diesem Begriff den
Tatsachen gerecht zu werden suchte, daß die kindliche Sexualität in sich
alle Merkmale enthält, die wir im späteren Leben als pervers bezeichnen.
Da sich im infantilen Alter noch keine festen Zentren und Bahnen ge-
bildet, so kann sich die Erotik fast in jeder beliebigen Richtung betä-
tigen. Nachdem sie aber in einer gewissen Richtung eine kürzere
oder längere Zeit erregt worden ist, so bilden sich nach den bekannten
Heringschen Formulierungen bestimmte Dispositionen für die erleich-
terte Wiedererregung in derselben Richtung aus. Die Erotik wird für
gewisse Betätigungen „fixiert". So bilden sich schon ganz früh Kom-
ponenten des an sich einheitlichen Sexualtriebes; damit soll aber
nicht bestritten werden, daß die Komponenten schon durch Vererbung
bis zu einem gewissen Grade präformiert sind. Freud scheint
den Fehler begangen zu haben, die Komponenten als das Primum anzu-
sehen, die im Trieb enthalten sind, noch bevor er zur Erregung kommt,
und die sich dann als Perversionen von ihm ablösen. So sagt er : „Hier-
aus können wir einen Wink entnehmen, daß vielleicht der Sexualtrieb
selbst nichts Einfaches, sondern aus Komponenten zusammengesetzt ist,
die sich in den Per Versionen wieder von ihm ablösen. ^) Diese Auffassung
hat vor allem bei Jung heftigen Widerspruch gefunden. Seine Oppo-
sition beruht aber auf einem völligen Mißverstehen der Intentionen
Freuds. Dieser hat nie daran gedacht, die homosexuelle Komponente
etwa als angeboren in dem Sinne zu betrachten, daß eine Person die
Verknüpfung des Sexualtriebes mit einem bestimmten Sexualobjekt an-
geboren mitbringt." Er nennt diese Erklärung die roheste. Er geht
vielmehr von einer Bisexualität aus, d. h. daß die Sexualität im unent-
wickelten Zustande sich beiden Geschlechtern gleichmäßig zuwenden
kann, so daß durch einen Zufall die Libido an das gleiche Geschlecht
fixiert bleiben kann.^) Freud erweckt jedoch den Anschein, als ob
von Anfang an ein bestimmter Teil der sexuellen Energie nur für die
und ein anderer nur für jene Tätigkeit reserviert ist. Dieser Gedanke
*) Freud, Drei Abhandlnngen, S. 25.
^ Ausführlicheres siehe Drei Abhandlungen, S. 7.
5*
.. f^^r^^.^fu Original from
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g3 ^^- ^' Nachmansohn.
ist auch ganz keineswegs abzulehnen. Wenn Jung es für selbst-
verständlich hält, da die ursprünglich sexuelle Libido in der Funktion
des Nestbaues fest organisiert und zu keiner anderen Verwendung mehr
fähig auftritt,*) hiemit also in ganz unzweideutiger Weise eine „Kompo-
nente** der Libido, ja sogar eine starre, annimmt, so wüßte ich nicht,
welche erkenntnistheoretischen Bedenken dagegen zu erheben wären,
wenn behauptet wird, ein gewisser Betrag der Libido sei so organisiert,
daß er sich nur in einer bestimmten Weise betätigen könne, haupt-
sächlich, da so viele Tatsachen zu dieser Annahme drängen. Nun
vertritt aber Freud in keinem seiner Werke eine starre Komponenten-
theorie, wie sie ihm auch von P fister in seiner „Psychanalytischen
Methode'* zugeschrieben wird. Wir greifen aus den zahlreichen Beleg-
stellen, die gegen die Interpretation von Jung und Pf ister sprechen,
folgendes heraus : „Die verschiedenen Wege, auf denen die Libido wandelt,
verhalten sich zu einander von Anfang an wie kommunizierende Röhren
und man muß dem Phänomen der Kollateralströmungen Rechnung
tragen (Drei Abb., 16) und ferner: „In beiden Fällen verhält sich die
Libido wie ein Strom, dessen Hauptbett verlegt wird, sie füllt die kolla-
teralen Wege aus, die bisher vielleicht leer geblieben waren. Somit
kann auch die scheinbar so große Perversionsneigung der Psychoneurotiker
eine kollateral bedingte, muß jedenfalls eine kollateral erhöhte
sein***) (31). Was besagen diese Stellen? Ich glaube doch ganz unzwei-
deutig. Die an sich einheitliche erotische Energie betätigt sich einmal
infolge angeborener Dispositionen in bestimmter Weise, die Energie der
einen Manifestationsart kann aber auch in einer anderen Form zum
Ausdruck kommen. Es ist daher ein grobes und fast unverzeihliches
Mißverständnis, wenn Jung in überlegenem Tone sagt. „Diese (die
Freud sehe) Auffassung gleicht dem Zustande der Physik vor Robert
Mayer, wo es nur einzelne nebeneinanderstehende Erscheinungsgebiete
gab, denen elementare Bedeutung zugeschrieben wurde und deren Wechsel-
beziehung nicht richtig erkannt war. Erst das Gesetz der Erhaltung der
Energie brachte Ordnung in das Verhältnis der Kräfte zueinander und
zugleich eine Auffassung, welche den Kräften die absolute Elementar-
bedeutung nimmt und zu Manifestationsformen derselben Energie macht.
So hat es auch mit der Zersplitterung der Sexualität in die polymorph
perverse Kindheitssexualität zu gehen.** (Theorie, S. 20.) Ich glaube, die
zitierten Stellen, die noch sehr vermehrt werden können, widerlegen die
Jung sehe Interpretation von selbst.
Bisher haben wir nur die Gründe kennen gelernt^ warum Freud
zur Erweiterung des Libidobegriflfes auch auf die Kindheit gedrängt
wurde. Es läßt sich aber noch nicht einsehen, warum ihm auch jedes
') Wandlungen und Symbole der Libido, 127.
*) von mir gesperrt.
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Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. 69
Liebesverlangen unter diesen Begriff fällt. Hiezu dürfte ihn folgendes
veranlaßt haben. Einmal, und dies wohl in erster Linie, die intuitive
Elrkenntnis, daß der Liebestrieb, abgesehen vom Gegenstande, auf den
er gerichtet ist, psychologisch derselbe ist. Er machte auch die Beobach-
tung, daß oft da, wo die sexuelle Liebe unterbunden ist, auch jede
sonstige Liebesäußerung davon betroffen wird, und mußte den Schluß
ziehen, daß alle diese Äußerungen sozusagen aus derselben Quelle stammen ;
ferner lehrten ihn die Tatsachen, daß eine starke soziale Liebestätigkeit,
eine starke Hingabe an wissenschaftliche und künstlerische Aufgaben
eine Einschränkung der sexuellen Liebesäußerung zur Folge hat, so daß
auch hier der Schluß berechtigt schien, in den Trieben zu dieser Betäti-
gung dieselben psychischen Energien wirksam zu sehen. So übertrug
er den Begriff Libido, der ursprünglich einen ganz sexuellen Sinn hat,
auf sämtliches Liebesverlangen, ja er schwankte sogar, ob er nicht auf
jegliches Interesse überhaupt übertragen solle (im Falle Sehr eher).
Diese seine Beobachtungen führten ihn auf die vielleicht wichtigste
Erkenntnis der Psychoanalyse, die Lehre von den ,,libidinösen Zuschüssen"
oder die Sublimationsfähigkeit der Libido. Gerade aus dieser Lehre geht
zur Evidenz hervor, daß Freud zu keiner Zeit eine starre Komponenten-
theorie der Libido verteidigt hat, sagt er doch ausdrücklich, daß die
psychischen Mächte, die dazu dienen, eine uneingeschränkte Betätigung
der Libido zu verhindern und die für die spätere persönliche Kultur so
bedeutsam sind, 5,wahrscheinlich auf Kosten der infantilen Sexualregungen
selbst — deren Zufluß also auch in dieser Latenzperiode nicht aufgehört
hat, deren Energie aber — ganz oder zum größten Teile —
von der sexuellen Verwendung abgeleitet und anderen
Zwecken zugeführt wird/'^) (Drei Abb., 39.) Diesen Prozeß be-
zeichnet er als Sublimierung und ist der Ansicht, daß er sich das ganze
Leben hindurch fortsetzt. Der so erhaltene Zuschuß der Energie, die
durch natürliche ererbte Anlagen in intellektueller Arbeit verbraucht
wird, bildet eine noch nicht genug gewürdigte Triebfeder für jede höhere
Leistung. Man darf dies aber nicht so verstehen, als ob die „sexuelle"
Energie ohne weiteres in „intellektuelle" umgewandelt wird. Die Ver-
wendung der Libido für intellektuelle Arbeit ist nur dann möglich, wenn
das Individuum Dispositionen oder Anlagen dafür mitbringt. Die libidi-
nösen Zuschüsse leisten nicht eigentlich die intellektuelle Arbeit, sondern
dienen mehr als Triebkräfte, die Anlagen zur Entwicklung und Betäti-
gung zu bringen. Wir meinen genau dasselbe, was Jung meint, wenn
er sagt, daß die ursprünglich sexuelle Energie im Laufe der Entwicklung
„in der Funktion des Nestbaues fest organisiert und keiner anderen
Verwendung mehr fähig auftritt'', ohne dabei die Einheit der psychischen
Energie aufzugeben. Genau dasselbe meine ich, wenn ich von „intellek-
*) von mir gesperrt.
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70 Dr« M. Nachmansohn.
tueller" Energie spreche, allerdings mit dem Unterschiede, daß ich nicht
behaupte, alle nicht sexuelle Energie war ursprünglich zum größten Teile
sexueller Natur. Nun ist es aber sehr wohl möglich, daß zu den im
Laufe der Entwicklung festgelegten und fest organisierten geistigen
Funktionsweisen der psychischen Energie seelische Kräfte hinzutreten,
die von Haus aus für eine Sexualbetätigung vorbehalten gewesen sind.
Es ist hiezu eine Umbahnung des Erregungszuflusses erforderlich, die oft
mit recht großen seelischen Störungen verknüpft ist. Diese „Umbahnung**
ist mit Hilfe des Assoziationsgesetzes, wie es von der modernen Asso-
ziationspsychologie formuliert ist, sehr wohl verständlich: Dieses lautet
in der Fassung von Max Offner: „Die Gesamtheit der in einem gege-
benen Momente gleichzeitig sich abspielenden psychischen Vorgänge
bildet ein Ganzes, das einen unter sich zusammenhängenden Komplex von
Dispositionen zurückläßt. (Gesetz der Assoziationsbildung ; vgl. Semons
Gesetz der Eugraphie.) Bei Wiedererregung eines Teiles dieses Komplexes
— dieses ist der Beweis dieses angenommenen psychischen Zusammen-
hanges oder vielmehr das, was zur Annahme jenes HilfsbegrifiFs der
Assoziation führt — zeigt sich die Tendenz, auch die übrigen zum
Komplex gehörigen Dispositionen in Miterregung zu versetzen (vgl. Semons
Satz der Ekphorie).''^) Diese Formulierung, über deren problematischen
Charakter die Assoziationspsychologie wohl im klaren ist, die sich aber
als Arbeitshypothese glänzend bewährt hat, wenn sie auch für sich allein
nicht ausreicht, erklärt uns die Möglichkeit einer Sublimierung. Findet
zu gleicher Zeit eine intellektuelle und erotische Erregung statt, so bildet
sich eine Assoziation zwischen den erregten Zentren. Findet nun ein
Energiezentrum keinen „natürlichen*' motorischen Abfluß, so kann auf
der allmählich fest gewordenen neu gebildeten Assoziationsbahn die
Erregung dem einen Zentrum zufließen, um über dieses motorisch abge-
leitet zu werden. Hiedurch wird natürlich dessen Kraft sehr verstärkt.
So kommt es, daß durch eine richtige und vorsichtige Verwendung der
sexuellen Energie eine außerordentliche Förderung der intellektuellen
Arbeit erzielt wird, wie auch umgekehrt, daß ein ausschweifendes Leben
die intellektuelle Energie an sich reißt. Diese Erkenntnis ist eigentlich
schon recht alt. Das Neue, was Freud zur dieser Lehre hinzugebracht,
ist, daß die Sublimierungsfähigkeit von Individuum zu Individuum
wechselt und daß wohl nur die wenigsten Menschen eine volle Subh-
mierung der Sexualenergie erreichen können. Auch das läßt sich auf
Grund dessen, was ich früher über die angeborenen intellektuellen An-
lagen sagte, leicht erklären.^) Diese Erkenntnis ist bedeutungsvoller, als
sie vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Für den Pädagogen ergibt
sich hieraus die wichtige Forderung, von Fall zu Fall festzustellen, wie
^) Max Offner, Das Gedächtnis, 3. Aufl., S. 32, 1913.
^) Ich weiß wohl, daß die „Vermögenspsychologie*' von vielen verpönt wird.
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Freuds Libodotheorie verglichen mit der Eroslehre Flatos. 71
weit die Libido ohne Schaden sublimierungsfähig ist, d. h. einen wie
großen libidinösen Zuschuß die intellektuellen Anlagen vertragen können.
Man kann sich dies an einem Bilde — das eben nur ein Bild ist —
klar machen. Überheizt man eine Maschine, so nimmt sie irgendwie
Schaden. Durch Zufuhr eines zu großen libidinösen Zuschusses kann
leicht infolge mangelnder intellektueller Fähigkeiten Übermüdung ein-
treten. Es tritt auch unter Umständen ein sehr starkes Zurückfluten der
Libido ein und kann, falls sie keinen motorischen Abfluß hat, zu schweren
seelischen Störungen führen. Zwei Faktoren werden im Seelenleben des
Zöglings vor allem untersucht werden müssen: der erotische und
der intellektuelle. Bisher richtete sich die Aufmerksamkeit vorwiegend
auf den letzteren und durch die Nichtbeachtung des ersteren ist ein unge-
heurer Schaden angerichtet worden, der in seiner Größe nicht im ent-
ferntesten geahnt wird. Die Sublimierungsfähigkeit der Libido wird
vielleicht die wichtigste Lehre der Pädagogik werden; für Piaton war
sie es schon, wie wir noch sehen werden.
Freud beging den Fehler, Libido und Sexualität theoretisch zu
identifizieren. In Wahrheit sind sie für ihn durchaus nicht Synonyma.
Libido ist auch für Freud entschieden der weitere Begriff als der der
Sexualität. Immerhin konnte man mit einem gewissen Recht behaupten,
Freud sehe in jeder Hingabe an soziale Tätigkeit, an Kunst und
Wissenschaft ein sexuelles Erleben. Diese Auffassung ist absurd, falls
man unter Sexualität diejenigen Empfindungen und Gefühle versteht, die
durch die Erregung der Genitalien bedingt sind oder zu einer solchen
führen. Sie ist durchaus richtig, wenn man darunter die erotische Hin-
gabe im Platonischen Sinne versteht, wovon ich im folgenden Kapitel
handle. Der Freud sehe Libidobegriff ist also weiter als der der Sexua-
lität im gewöhnlichen Sinne, enger jedoch als der Jung sehe Libido-
begriff, den wir kurz darstellen und kritisieren wollen.
Jung sieht „den eigentlichen Wert des Libidobegriffes nicht in
seiner sexuellen Definition, sondern in seiner energetischen Auffassung",
d. h. er ist im Laufe seiner analytischen Erfahrungen dazu gedrängt
worden, den Libidobegriff mit dem der psychischen Energie zusammen-
fallen zu lassen. Wieso diese so große Erweiterung? „Ein flüchtiger
Blick auf die Entwicklungsgeschichte genügt, um uns zu belehren, daß
zahlreiche komplizierte Funktionen, denen heutzutage Sexual-
charakter^) mit allem Recht aberkannt werden muß, ursprünglich doch
nichts als Abspaltungen aus dem Propagationstrieb sind. Es hat sich
ja, wie bekannt, in dem aufsteigenden Tierreiche eine wichtige Ver-
schiebung in den Prinzipien der Propagation vollzogen. Die Masse der
Fortpflanzungsprodukte mit der damit verbundenen Zufälligkeit der Be-
fruchtung wurde mehr und mehr eingeschränkt zu Gunsten einer sicheren
^) von mir gesperrt.
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72 I^r« M. Nachmansohn.
Befruchtung und wirksamen Brutschutzes. Dadurch vollzog sich eine
Umsetzung der Energie der Ei- und Samenproduktion in der Erzeugung
von Anlockung und Brutschutzmechanismen . . . Der ursprüngliche
Sexualcharakter dieser biologischen Institutionen verliert sich mit ihrer
organischen Fixation und funktionellen Selbständigkeit. Wenn schon
über die sexuelle Herkunft der Musik kein Zweifel obwalten kann, so
wäre es eine wert- und geschmacklose Verallgemeinern ng, wenn man die
Musik unter der Kategorie der Sexualität begreifen wollte. Eine derartige
Terminologie würde dazu führen, den Kölner Dom bei der Mineralogie
abzuhandeln, weil er auch aus Steinen besteht. (Versuch, S. 35.) (Wir
zitierten deshalb so ausführlich, weil wir in der Kritik noch darauf
zurückkommen müssen.)
Jung glaubt die psychische Energie deshalb mit der Libido identifizieren
zu dürfen, weil sie ursprünglich Sexualcharakter trug, den sie aber nachher
zum Teil eingebüßt hat. So sagt er zur Begründung seiner Terminologie :
„Im Gebiet der Sexualität gewinnt die Libido jene Formung, deren ge-
waltige Bedeutung uns zur Verwendung des zweideutigen Terminus Libido
überhaupt berechtigt. Hier (im Gebiete der Sexualität ist doch wohl
gemeint) tritt die Libido zunächst in der Form einer undifferenzierten
Urlibido auf, die als Wachstumsenergie die Individuen zur Teilung und
Sprossung usw. veranlaßt. Aus jener sexuellen Urlibido/) welche
die Millionen Eier und Samen aus einem kleinen Geschöpfe heraus er-
zeugte, haben sich mit gewaltiger Einschränkung der Fruchtbarkeit Ab-
spaltungen entwickelt . . ." (37). Nach diesen Ausführungen identifiziert
also Jung deshalb die Libido mit der psychischen Energie, weil sie
ursprünglich eine „sexuelle Urlibido" gewesen sein soll, und wegen der
ursprünglichen Sexualität sieht er sich zur Verwendung des „zweideutigen
Terminus'^ veranlaßt. Nun muß aber doch gesagt werden. Wenn es
jemand „wert- und geschmacklos'* hält, die Musik unter die Sexualität
zu rechnen, weil sie aus der Sexualität stammt, so ist es doch ebenso
wert- und geschmacklos, sämtliche psychische Energie, also auch die-
jenigen, die sich in intellektueller Tätigkeit manifestiert, unter die Libido
zu rechnen, weil sie ursprünglich aus der sexuellen Urlibido stammt,
und noch besser, weil sie im Gebiet der Sexualität die gewaltige Bedeu-
tung erhält. Wir sehen hier schon davon ab, daß Jung eine Vermi-
schung von vegetativen und psychischen Prozessen vornimmt. Darauf hat
schon Dr. M. Weiß fei d in der Internationalen Zeitschrift für ärztliche
Psychoanalyse, II. Jahrgang, S. 420, hingewiesen. Wir beschränken uns auf
eine immanente Kritik. Jung setzt, nach den bisher zitierten Stellen
zu schließen, voraus, daß die psychische Energie sich anfangs nur sexuell
manifestiert habe und so könnte man es bei einigem guten Willen ver-
stehen, wenn er ihr mit Rücksicht auf ihre ursprüngliche Erscheinungs-
*) von mir gesperrt.
r^no'^'-^ Original from
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Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. 73
weise einen Terminus gibt, der aus dem Gebiete der Sexualität stammt.
Wenn er nun wenigstens den Standpunkt konsequent durchzuführen ver-
sucht hätte — aber nein, das tut er nicht und kann es auch nicht.
Rund achtzehn Zeilen später gesteht er zu: „Damit soll natürlich nicht
gesagt sein, daß die Wirklichkeitsfunktion ausschließlich der Dififeren-
zierung der Propagation ihr Dasein verdanke. Der unbestimmt große
Anteil der Ernährungsfunktion ist mir bewußt ... Es wäre grundfalsch
zu sagen, ihre Triebkraft sei eine sexuelle, sie war im hohen Maße eine
sexuelle, aber auch dies nicht ausschließlich" (3S). Eben hörten wir,
daß die Urlibido sexuell gewesen war, weshalb die psychische Energie mit
ihr gleichgesetzt wurde, und nun lesen wir, daß die psychische Energie sich
auch stets bis zu einem gewissen Grade als Selbsterhaltungstrieb mani-
festiert haben muß. Hiermit fällt aber auch jeder Schein einer Berech-
tigung weg, die psychische Energie mit der Libido zu identifizieren,
ein Ausdruck, der dem ganzen wissenschaftlichen Sprachgebrauch direkt
ins Gesicht schlägt. Selbst wenn wir die Libido mit dem Schopen-
hauer sehen Willen gleichsetzen, was Jung ja mit Vorliebe tut, hat der
Terminus keine Berechtigung. Denn Schoppenhauer faßt den Willen
rein metaphysisch und unterscheidet ihn wesentlich vom phänomeno-
logischen Willen. Jung spricht aber vom phänomenologischen Stand-
punkte aus. Und hier kennt Schopenhauer bekanntlich Wille und
Vorstellung und das Gemeinsame ist die Welt.
Um u. a. es plausibel zu machen, daß die Libido mit der psychi-
schen Energie zu identifizieren und nach dem Eobert May er sehen
Energieerhaltungsgesetz aufzufassen ist, folglich sich nur in den Er-
scheinungsweisen ändert, nicht aber in der Quantität, sagt Jung
wörtlich : „Diese Hinweise können uns veranlassen, daran zu denken,
daß vielleicht die Summe der Libido immer dieselbe wäre und nicht erst
durch die Geschlechtsreifung eine gewaltige Vermehrung erführe. Diese
etwas kühne Annahme lehnt sich, wie ersichtlich, an das Modell des
Gesetzes der Erhaltung der Energie an, wonach die Summe der Energie
immer dieselbe bleibt. Es wäre nicht undenkbar, daß die völlige Höhe
der Reifung nur dadurch erreicht wird, daß die infantilen Nebenverwen-
dungen der Libido allmählich in den einen Kanal der definitiven Sexua-
lität einmünden und darin erlöschen" (28). Hiermit behauptet also
Jung: Es ist möglich, daß der erwachsene Mann ebensoviel Energie
hat, wie der Säugling, weil ja die Summe der Energie sich nicht ver-
ändern darf. Ich kann diese Ansicht nicht „kühn" finden, wohl aber
einfach undiskutabel. Der Jung sehe Vergleich mit dem Energie-
erhaltungsgesetz zeigt nur, daß er scheinbar den Sinn des Gesetzes gar
nicht begriffen hat.
Nach diesen Ausführungen müssen wir die Jungsche Erweiterung
des Libidobegriffes entschieden ablehnen und sehen in der Libido mit
r^no'^'-^ Original from
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74 ö^- M. Nachmansohn.
Freud diejenige Manifestation der psychischen Energie in Form von
Trieben, die zur Erhaltung und Höherentwicklung der Art und damit
auch des Einzelindividuums dient. Die Höherentwicklungstendenz sehen
wir in der fortschreitenden Sublimierung der Sexualität Darunter ist
aber nicht zu verstehen, daß die libidinöse Energie in intellektuelle
verwandelt wird, sondern daß zur intellektuellen Betätigung eine erotische
Triebkraft hinzutritt, die als Strebungsgefühl die intellektuelle Tätigkeit
fördert, nicht aber schon die intellektuelle Manifestationsform ist, wie
Jung es scheinbar auffaßt (38). Auch dies ist möglich, doch dann
müßte man von einer Transformation der Libido sprechen und nicht von
einer Sublimierung. Freud drückt unseren Gedanken sehr treffend durch
„libidinöse Zuschüsse" aus und erkannte, wie vor ihm Plato, sehr
richtig, daß von diesen libidinösen Zuschüssen unsere ganze Kulturarbeit
abhängt. Würde der erotische Antrieb fehlen, der sich in der ungeteilten
Hingabe an eine Sache kundgibt, so würde jede geistige Arbeit erlahmen.
Der Mensch wäre eine Denkmaschine, der das Feuer ausgegangen ist.
Diese Triebkraft ist im Menschen immer die gleiche. Sie dient ebenso
dazu, den Geschlechtsverkehr zu fördern, der natürlich auch durch orga-
nische Faktoren geregelt wird, als den Menschen zur höchsten geistigen
Leistung anzuspornen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß auf niederen
Entwicklungsstufen das Triebleben hauptsächlich der Sexualität dient,
im Laufe der phylo- und ontoge netischen Entwicklung aber auch für andere
Betätigungen fruchtbar wird. Der Trieb bleibt aber immer, um mit
Freud zu reden, das eigentümliche Spannungsgefühl von höchst drän-
gendem Charakter, der das wesentliche und vielleicht einzige Merkmal
des Triebes ist. Plato nennt diesen Trieb Eros und Freud in latei-
nischer Übersetzung (leider) Libido. Ich sage leider, weil er, wie mir
scheint, doch unnötigerweise die überlieferte Terminologie verändert hat.
Denn Libido heißt der Trieb nur dann, wenn er in Verbindung mit dem
Sexualleben auftritt, nicht aber wenn er unsere sonstige geistige Tätigkeit
fördert. Der Name einer Sache -— und diese Erkenntnis verdanken wir
dem Biologen üexkuelH) — wird aber bestimmt durch ihre
Funktion. Eine Sache kann einen anderen Namen bekommen, wenn sie
anderen Zwecken dient. Im Satze: Dieser Eisenbahnwagen ist mein
Wohnhaus, ist der Uexkuellsche Gedanke einigermaßen veranschaulicht
Das Wort Eros dagegen hat bei Plato die Bedeutung des Triebes im
weitesten Sinne überhaupt, diese Bedeutung hat sich zwar im Laufe der
Entwicklung und unter dem Einfluß einer etwas prüden Interpretation
Piatos geändert und ist mehr auf den „philosophischen Trieb"
eingeschränkt. Trotzdem glaube ich, daß die Verwendung des Terminus
Eros mehr mit dem Sprachgebrauch im Einklang steht als der Ausdruck
') Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, 1913.
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- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Freuds Libodotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. 75
Libido. Doch das ist ja nur eine ganz unbedeutende Terminologiefrage.
In der Sache selbst stimme ich mit Freud ganz überein.
II.
Wir glauben, daß es uns gelungen ist, die Freud sehe Libidotheorie
und deren Genesis in ganz großen Umrissen, wie sie für unsere Zwecke
in Betracht kommen, darzulegen, und gehen jetzt zur Darstellung der
Platonischen Eroslehre über, die mit der psychoanalytischen Libidotheorie
eine auffallende Ähnlichkeit zeigt.
Wir sind uns wohl bewußt, welche Gefahren es hat, eine moderne,
von ganz anderen Voraussetzungen aus entstandene Theorie mit einer
antiken Lehre zu vergleichen, wir wissen, wie leicht man geneigt ist,
die antike Lehre der modernen anzupassen, um die Übereinstimmungen
herauszustellen. Eduard Zell er hat in einem schönen Aufsatz nach-
gewiesen, wie verkehrt es ist, etwa in den mythologischen Vorstellungen
des Empedokles eine Antizipation des Darwinismus zu sehen. Wohl
bieten sie manchen Anhaltspunkt zum Vergleich, doch kann von einer
Vorwegnahme darwinistischer Gedanken nicht gut gesprochen werden.
Als sich mir bei der Lektüre Piatos die Ähnlichkeit seiner Eroslehre
mit der Freud sehen Libidotheorie aufdrängte, veranlaßte mich die
Erinnerung an den Zell ersehen Aufsatz zu einer erneuten Nach-
prüfung. Wenn ich trotzdem persönlich überzeugt bin, daß bei Plato
tatsächlich eine außergewöhnliche Antizipation Freud scher Gedanken
vorliegt, so haben mich die Tatsachen dazu gezwungen. Um eine voll-
ständig einwandfreie Nachprüfung zu ermöglichen, gebe ich in diesem
Kapitel eine rein philologische Darstellung der Platonischen Eroslehre
und werde vor allem Plato selbst zu Worte kommen lassen.
Der Eros im weiteren Sinne ist nach Plato nicht das Privilegium
einiger Bevorzugter, sondern er ist der ganzen lebendigen Natur eigen.
Er ist der Unsterblichkeitstrieb, der sich nicht nur bei den Menschen,
sondern bei allen Lebewesen zeigt. Wir sagen auch ganz im Sinne
unseres Philosophen : Er ist der Arterhaltungs- und, wie wir auch sehen
werden, der Höherentwicklungstrieb, den wir in der Natur beobachten.
Unzweideutig ist dieser Gedanke in den folgenden Worten ausgesprochen.
„Wenn du also glaubst, daß die Liebe (epo);) von Natur auf das
gehe, worüber wir uns schon oft einverstanden haben, so wundre dich nur
nicht. Denn ganz ebenso wie dort, sucht auch hier die sterbliche Natur
nach Vermögen immer zu sein und unsterblich. Sie vermag dies aber
nur durch die Erzeugung, daß immer ein anderes Junges statt des Alten
zurückbleibt." (Symposion, 207 d.) Hienach identifiziert Plato ohne
weiteres den Eros mit dem Propagationstrieb und sieht in ihm, soweit
er als Liebesgefühl in Erscheinung tritt, die psychische Seite des Art-
erhaltungstriebes. Nun schränkt er aber den Trieb nicht nur auf das
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- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
76 Dr. M. Nachmansohn.
Körperliche ein. Ebenso wie in der Natur das Streben vorhanden ist,
den Leib durch immer neue Zeugung zu erhalten, ebenso ist das Geistige
in der Erscheinungswelt zwar stets dem Wechsel unterworfen, aber da-
durch eben unsterblich; auch die Seele strebt zu erzeugen und tut dies
unaufhörlich. So faßt Plato den Eros als den Zeugungs- und
Schaflfenstrieb im weitesten Sinne auf, ja vielleicht noch richtiger als den
Lebenstrieb der Natur überhaupt. Jedes Erzeugen wollen, sei es, daß
sich der Trieb in der Brunst der Tiere äußert, oder in dem Schaffens-
drang des Künstlers, fällt bei Plato unter den Begriff des Eros.
„Was meinst du wohl, Sokrates, was die Ursache dieser Liebe und dieses
Verlangens sei? Oder merkest du nicht, in welchem gewaltsamen Zustande
sich alle Tiere befinden, wenn sie begierig sind zu zeugen, geflügelte und
ungeflügelte, wie sie alle krank und verliebt erscheinen, zuerst wenn sie
sich miteinander vereinigen und dann auch später bei der Auferziehung
des Erzeugten, wie auch die schwächsten bereit sind, dieses gegen die
stärksten zu verteidigen und dafür zu sterben . . . Denn von den
Menschen könnte man sagen, sie täten es mit Überlegung, aber welches
der Grund sein mag, warum die Tiere sich so verliebt zeigen, kannst
du mir das sagen?" (Symp., 207.) Aus dem Zitierten sehen wir, wie
Plato den Eros mit dem Sexualtrieb vollständig identifiziert. Aber
die Fortpflanzungsbetätigung ist nur eine der Manifestationsformen des
Eros. Beim Menschen tritt er in verschiedener Weise in Erscheinung.
„Die nun, fuhr sie (Diotima) fort, dem Leibe nach zeugungslustig sind,
wenden sich mehr zu den Weibern und oind auf diese Art verliebt, in-
dem sie durch Kinderzeugen Unsterblichkeit und Nachgedenken und
Glückseligkeit, wie sie meinen, für alle künftige Zeiten sich verschaffen.
Die aber der Seele nach, denn es gibt auch solche, welche auch in der
Seele Zeugungskraft haben, viel mehr als im Leibe, wenden sich dem zu,
was der Seele zukommt, davon befruchtet zu werden und zu zeugen.'^
(Symp., 208 e — 209 a.) Man könnte nun Plato so auffassen, als
ob er den seelischen Schaffensdrang als wesensverschieden vom sexuellen
ansieht, was sich vielleicht auch dadurch stützen läßt, daß er das Psy-
chische so viel höher bewertet. Doch Plato betont wiederholt aus-
drücklich, daß der Eros als Trieb nicht der Bewertung unterliegt,
da diesem als solchem überhaupt kein Wertprädikat beigelegt werden
kann, — er ist weder schön, noch gut, weder häßlich noch weise oder
unverständig. (Symp., 201.) Er trägt nicht seinen Wert in sich, sondern
erhält ihn vielmehr durch das Ziel, dem er zustrebt, und durch die Werke,
die aus seinem Streben entstehen.^) Es ist für Plato direkt wider-
sinnig, von einem häßlichen oder schönen Triebe zu reden, man darf
nur von einem Triebe nach dem Schönen oder Häßlichen sprechen. Der
^) S. C. Bötticher, Eros u. Erkenntnis b. Piaton. Berb'n 94, S. 7.
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Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. 77
sich stets gleichbleibende Trieb richtet sich das eine Mal auf die körper-
liche, das andere Mal auf die geistige Welt.
Hiemit erkannte Plato die Sublimierungsfähigkeit des Eros.
Er unterscheidet drei Arten von Sublimierungen, die er als „Stufen"
der Höherentwicklung bezeichnet. Diese Werteinteilung bezieht sich aber
nur auf die Objekte, denen sich der Eros zuwendet, und nicht auf ihn
selbst.
Im Vorsublimationsstadium unterscheidet sich der Eros des Menschen
nur wenig von dem der Tiere. Der äußere Eindruck regt die Begierde
an. Diese versetzt den Menschen in eine eigenartige Unruhe und unbe-
zähmbare Aufregung, die sich nur dann legt, wenn es dem Menschen
gelungen ist, den Zeugungsakt zu vollziehen. Hier ist der Mensch in
seinem Sexualleben vom Tiere noch wenig unterschieden: „Wer nun
nicht noch frischen Angedenkens ist oder schon verderbt, der schwingt
sich nicht schnell von hier dort hinauf zu der Schönheit selbst, wenn
er schaut, was hier ihren Namen trägt, weshalb er denn nicht bei dem
Anblick Ehrfurcht empfindet, sondern der Lust hingegeben möchte wie ein
Tier zeugen." (Phaidros, 250 c.) Während also Piaton im Phädrus
dieses Gebaren ethisch verurteilt, suchen wir eine solche abfällige Beur-
teilung im Symposion vergeblich. Hier ist im Gegenteil jedes Zeugen
etwas Göttliches. „Des Mannes und des Weibes Vereinigung ist Gebären.
Und das ist etwas Göttliches und das ist es, was in den sterblichen
Wesen unsterblich ist, der Drang nach dem Hervorbringen und das
Hervorbringen.*^ (Symp., 206 b.) Im ganzen Werke ist jede moralisie-
rende Tendenz gegenüber der künstlerischen zurückgetreten, im Gegensatz
zu Phaidon, wo jede Sinnlichkeit als Makel empfunden wird.
Wie und wann beginnt nach Plato der Sublimierungsprozeß ?
Was gibt den Anstoß, das sich der Eros nicht mehr mit der körper-
lichen Zeugung begnügt? Plato erklärt diese Tatsache mit der all-
mählichen Entwicklung des menschlichen Geistes, der erst allmählich
lernt, auch das Seelische als etwas Reales zu erfassen und es dem Eros
als Ziel zu setzen.
Auf der niedrigsten Entwicklungsstufe ist die Erkenntnis noch nicht
verschieden von der der Tiere, darum kann der menschliche Eros kein
anderes Objekt als diese haben. So heißt es im Theätet : „Nicht wahr
jenes wahrzunehmen, was irgend für Eindrücke durch den Körper zur
Seele gelangen, das eignet schon Menschen und Tieren von Natur, so-
bald sie geboren sind" (186 c). Wo sich die Erkenntnis nicht über die
passive Wahrnehmung erhoben hat, kann sich der Eros gar nicht Höherem
zuwenden. Neben der sinnlichen Wahrnehmung ist aber dem ent-
wickelten Menschen die Möglichkeit gegeben, auch Psychisches zu er-
fassen und falls er von Natur die Empfänglichkeit für die Erzeugnisse
der Seele besitzt; so wendet sich der Eros mehr diesen zu. Es hängt so
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78 Dr- M. Nachmansohn.
ganz vom „Lenker der Seele*', d. h. von der Vernunft ab, ob sich der
Eros von der niedrigsten Stufe erhebt. (Phaidros, 254 a u. 247 d.)
Hiemit hätte er eine erste Sublimierungsform erreicht. Dies bedeutet
für Plato jedoch noch kein Verlassen des Sinnlichen. Es findet vielmehr
eine Synthese zwischen dem Sinnlichen und Geistigen statt. „Also zu dem
schönen Körper mehr als zu dem häßlichen fühlt er sich hingezogen in
seinem Drange, und trifft er auf eine schöne, edle und begabte Seele,
dann völlig fühlt er sich hingezogen von solchem Vereine von Körper
und Seele". (Symposion, 209 b.) Im Erkennen und Bevorzugen des See-
lischen sieht Plato die erste bedeutende Höherwendung des Triebes.
Diese Stufe wird auch durch die Wirkung, die aus der Zukehrung des
Eros zum Seelischen entspringt, gekennzeichnet. Plato vertritt durch-
weg die Ansicht, daß auch das geistige Erzeugnis nur durch die Gemein-
schaft mit anderem Geistigen möglich ist. Erst wenn eine Art geistiger
Befruchtung stattgefunden hat, kann ein Werk reifen. Die Erzeugnisse
des Eros auf der ersten Sublimierungsstufe sind daher auch geistiger
Natur. „Und einem solchen Menschen gegenüber ist er alsbald reich an
Reden und wie der treffliche Mann sein müsse und was treiben und unter-
nimmt ihn zu bilden und zu erziehen". (Symp., 209 b.) Plato hat hier
die Knabenliebe im Auge, die er bekanntlich als vollberechtigt neben
der Frauenliebe, ja im Symposion sogar noch höher als diese ansah.
Der Phädrus bringt uns eine höchst poetische Schilderung dieser für
unser gegenwärtiges Empfinden so unnatürlichen Liebe. „Wenn er dies
nun längere Zeit tut und mit ihm umgeht und sich mit ihm berührt in
den Gymnasien uud im sonstigen Verkehr, dann nun geschieht es, daß
der Quell jenes Stromes, den Zeus, da er Ganymed liebte, Sehnsucht
nannte, reichlich zu dem Liebhaber rinnt und ein Teil davon in ihn
dringt, ein anderer wieder, wenn er voll ist, aus ihm herausfließt . . .
Beim Zusammenruhen nun hat des Liebhabers unbändiges Roß allerhand
zum Lenker zu reden und verlangt für viele Mühe wenigstens einen
kurzen Genuß. Das Roß des Geliebten hat nichts zu sagen, sondern im
Drange und seiner selbst kaum bewußt umfängt er den Liebhaber und
küßt ihn.'* (Phädrus, 244 a.) Bezeichnenderweise nennt Plato diese Liebe
[lavta und preist diesen Liebeswahnsinn (vielleicht auch Liebesraserei) in
ergreifenden Worten (244 a). Plato findet diese Liebe durchaus selbst-
verständlich und höchst schätzenswert. Ihm war die „Bisexualität" des
Triebes eine oft beobachtete und vielleicht auch selbst erlebte Tatsache.
Ob sich der Eros dem Manne oder dem Weibe zuwendet, ist für ihn
eigentlich mehr Geschmacks- und Bildungssache und er läßt seinen
Liebling Alcibiades ausführUch seinen homosexuellen Umgang mitSokrates
berichten. Dies sollte uns zu denken geben, ob nicht die jetzt so starke
Abneigung gegen die Homosexualität auf Kultur und Erziehungseinflüsse
zurückzuführen ist.
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- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. 79
Im Phädrus fällt die Knabenliebe mit dem philosophischen Trieb
noch zusammen/) dagegen scheidet sie recht streng voneinander das
Symposion.
Im philosophischen Trieb sieht Plato eine weitere Sublimierung
des Arterhaltungstriebes. Er äußert auch nicht den geringsten Zweifel,
daß der Eros, der sich auf niedrigen Entwicklungsstufen nur in Form
des Sexualdranges äußert, sich auch als Trieb, das Abstrakte zu er-
fassen, manifestieren kann.
Wohl jeder entwickelte Mensch, der ein zweites Wesen nicht nur
sinnlich geliebt hat, dürfte ohne weiteres den Ausführungen Piatos über
die erste Sublimierungsform folgen können, da sie wohl jeder aus Er-
fahrung kennt. Schwerer ist es schon den Eros als philosophischen
Trieb zu verstehen oder als Liebe zu dem Abstrakten. Das scheint
Plato geahnt zu haben. Deshalb leitet auch Diotima den Übergang zu
dieser Stufe mit den Worten ein: „So weit nun o Sokrates vermagst
du wohl auch in den Geheimnissen der Liebe eingeweiht zu werden,
ob aber zur Vollendung und zum Schauen, wozu das alles führt, wenn
jemand es recht treibt, du fähig bist, das weiß ich nichf (Symp., 210.)
Der philosophisch veranlagte Mensch zeichnet sich dadurch vor
anderen aus, daß er sich nicht mit den Einzeleindrücken, seien sie sinn-
lich oder geistiger Art, begnügt, sondern daß er das den vielen Einzel-
gegenständen Gemeinsame zu erfassen sucht und so auf dem Wege der
Abstraktion den Begriff oder das Wesen vieler eine Gattung bildender
Gegenstände erfaßt. „Denn ein Mensch muß nach Gattungen Ausge-
drücktes begreifen, welches als Eines hervorgeht aus vielen durch den
Verstand zusammengefaßten Wahrnehmungen." (Phaidon, 249 c.) Das
Einzelne hat für den Philosophen nur insofern Bedeutung, als es ihn
das Allgemeine finden läßt, und glaubt er, dieses gefunden zu haben, so
verliert jenes für ihn an Interesse. Dem Abstraktum jedoch, das zu
finden das Ziel langer Bemühungen war, wendet sich in um so stärkerem
Maße die Aufmerksamkeit zu und die Betrachtung des so mühsam
Gefundenen ist von starken Lustgefühlen begleitet. Dieses hatte eine
für die Geschichte der abendländischen Philosophie äußerst wichtige
psychologische Folge. Solche Denkgegenstände gewinnen einen starken
Realitätswert und es bildet sich die Neigung, die Abstrakta.zu hyposta-
sieren und als von der Psyche abgelöste und selbständige Realitäten in
das Universum zu projizieren. Schon Plato hatte dies erkannt, wenn
er sagt: Daß nämlich jedes Menschen Seele, sobald sie über irgend etwas
sich heftig erfreut oder betrübt, auch genötigt ist, von demjenigen, wo-
mit ihr dieses begegnet, zu glauben, es sei das Wirksamste und das
Wahrste". (Phaedon, 283 c.) Wir wollen und können hier nicht, die
noch heiß umstrittene Frage entscheiden, ob Plato die Ideen als Gesetz-
*) Ed. Zeller, Die Philosophie des Griechen®, II. 1, 614 Anm.
.. f^^r^^.^fu Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
gO Dr. M. Naohmansohn.
mäßigkeiten aufgefaßt hat oder als transzendente Wesenheiten, was emer
Projektion des Abstrakten gleichkäme. Das steht jedenfalls fest, daß
sein ganzes philosophisches Wollen auf das Erfassen der Ideen gerichtet
war und daß er zeitweise seinen ganzen Eros in den Dienst dieser
Lebensaufgabe gestellt hat. Und er liebte seine Ideen und verzehrte sich in
schmerzlicher Sehnsucht nach ihnen, wie sich nur ein ernster, heiß-
blütiger Jüngling nach seiner Geliebten verzehren kann. Diese Triebkraft
wirkte befördernd und befruchtend auf das abstrakte Denken, das so
viel von ihr absorbierte, daß für eine andere Manifestationsform nur
wenig oder nichts übrig blieb. Nur dank seiner Ungeheuern geistigen
Veranlagung konnte eine so völlige Sublimation gelingen. Sein ganzer
Eros wandte sich der Welt der Ideen zu, die für ihn das ovxo); ov, das
wahrhaft Seiende war. Da es für Plato feststand, daß irdische
Dinge Abbilder der Ideen seien, so glaubte er, daß jede Schönheit hier
auf Erden in ihm das Verlangen nach jener „wirklichen" Welt weckte.
Eine allgemeine Darstellung eines persönlichen erotischen Erleb-
nisses ist es, wenn Plato ausruft: „Wer aber noch frische Weihung in
sich hat und das damalige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches
Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit
vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst und es wandelt ihn
etwas von den damaligen Ängsten an, hernach betet er sie anschauend
an wie einen Gott, und fürchtete er nicht den Ruf eines übertriebenen
Wahnsinns, so opferte er auch wie einem heiligen Bilde oder Gotte dem
Liebling." (Phaidros, 251 a.) Er ist überzeugt, daß nicht der einzelne
schöne Jüngling ihn zu diesem „übertriebenen Wahnsinn" hinreißt,
sondern die durch diesen Anblick geweckte Erinnerung an die Idee der
Schönheit überhaupt. Nicht dem Jüngling will er opfern, sondern der
durch den Liebling verkörperten Idee des Schönen.^) Und eben dadurch,
daß er von dem Einzelnen absieht und für das Schöne an sich erglüht,
dadurch verleiht er seinem Eros die philosophische Note.
Hier beginnt das bewußte Hinausstreben über das sinnlich Gege-
bene. Während auf der ersten Sublimierungsstufe das Schöne ohne das
Sinnliche gar nicht in Erwägung gezogen wird, hat sich der philosophisch
veranlagte Mensch die Idee des Schönen unabhängig von jeder Verkör-
perung erarbeitet. Der Eros wendet sich jetzt einem seelischen Erzeug-
nis zu, das eine unvergleichlich reiche intellektuelle Tätigkeit als auf der
ersten Sublimierungsstufe voraussetzt. Es ist eigentlich falsch, von einer
Sublimierung des Triebes zu reden. Nicht der Trieb ist sublimiert wor-
den, sondern das Objekt desselben. Und so ist es auch berechtigt, die
zweite Sublimierungsform höher zu werten,
Ist einmal die Ideenwelt erfaßt worden, so strebt der Eros sie auch
als xTT^jxa e{; asl zu besitzen und sie nicht in Vergessenheit geraten zu
*) Daß hier eine Rationalisierung vorliegt, dürfte selbstTerständlich sein.
.. f^^r^^.^fu Original from
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Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. gl
lassen. Deshalb darf der philosophische Liebhaber nicht in seinem Stre-
ben nachlassen, unaufhörlich muß er sich mit den Ideen und insbesondere
mit der Idee des Schönen beschäftigen, muß sie läutern und reinigen
und die Erinnerung an die im präexistenten Dasein geschaute Idee zur
vollkommensten Klarheit bringen. Eine unausgesetzte, vom Eros immer
wieder angeregte Abstraktionstätigkeit muß das Leben des Philosophen
bilden. Bei der Betrachtung des Schönen muß er ebenso von den einzel-
nen Seelen wie von den einzelnen Körpern absehen und auch von den
einzelnen Vernunfterkenntnissen (iKtaTVjjirj), sondern muß das Schöne, das
allem diesem gemeinsam ist, zu erfassen suchen. — Wer nun vom Eros
getrieben, von Abstraktion zu Abstraktion fortschreitend, von jedem nur
denkbaren Inhalte absieht und mit ganzer Seele die Idee des Schönen
an sich zu erfassen sucht, an der wohl alles einzelne Schöne teilhat,
die aber selbst in keinem einzelnen enthalten ist, dessen Wunsch kann
plötzlich in Erfüllung gehen, er kann das Höchste gegenständlich schauen
und sich liebend darin versenken. An diesem Punkte hören wir die
Sprache lautester Mystik: „Wer nämlich bis hieher in der Liebe erzogen
ist, der wird plötzlich ein von Natur w^underbar Schönes erblicken,
nämlich jenes selbst, um deswegen er alle bisherigen Anstrengungen ge-
macht hat, welches zuerst immer ist, weder entsteht noch vergeht, weder
wächst noch schwindet. . . . Und an dieser Stelle des Lebens, o Sokrates,
wenn irgendwo, ist dem Menschen erst lebenswert, w^o er das Schöne
selbst schaut. . . . Meinst du wohl, daß das ein schlechtes Leben sei,
wenn einer dorthin sieht und jenes erblickt und damit umgeht?^
(Symp., 310.) Man hört deutlich den stark erotischen Ton, das starke
erotische Lustgefühl, das den Philosophen bei diesem Gedanken anwandelt.
Eros und Erkenntnis stehen in wechselseitiger Abhängigkeit von
einander. Der Trieb spornt das Denken, in der Abstraktionstätigkeit un-
ermüdlich fortzufahren und das Gute oder Schöne an sich zu erfassen,
während dieses dem Eros immer höhere Ziele weist und die Liebesenergie,
die sich auf der niedrigsten Stufe dem bloß Sinnlichen zuwendet, zuletzt
auf den denkbar höchsten und umfassendsten Denkgegenstand lenkt.
Hier ist Denken und Eros eins geworden, oder besser der Eros hat sein
Ziel wenigstens halluzinatorisch erreicht und ist befriedigt. Der vom
Eros beherrschte Mensch hat die Schönheit an sich, für Plato gleich-
bedeutend mit Gottheit,^) erkannt, hat sie geschaut, sie „berührt" und
ist in ihr aufgegangen. In echt mystischer Weise sagt er im Staat :
Darein ich mich versenke,
Das wird mit mir zu eins.
Ich bin, wenn ich ihn denke,
Wie Gott, der Quell des Seins. 2)
*) Siehe meine Dissertation „Zur Psychologie des mystischen Erlebens", Bern 1915.
^) Nach E. Roh de, Die Psyche, H, 294.
Zeitschr. f. ärzU. Psychoanalyge. III 2. 6
.. f^^r^^.^fu Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
82 Dr. M. Nachmansohn.
Der Liebende hat sein Ziel erreicht und ist mit dem Geliebten eins
geworden.
In der Liebe zur Gottheit sieht Plato die höchste Sublimierungs-
form, weil für sie die denkbar stärkste Abstraktionsleistung erforderlich
ist. Der Weg zu dieser Liebe führt aber stets über die zwei früheren
Sublimierungsstufen, anfangend von den schönen Dingen hier, wie auf
Stufen von einer zu zweien, und von zweien zu allen schönen Körpern
und von den schönen Körpern zu den schönen Handlungen und von
den schönen Handlungen zu den schönen Kenntnissen, bis er von den
Kenntnissen zuletzt zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem
als jenem Schönen die Kenntnis ist und er zuletzt das Schöne selbst er-
kennt." (Symp., 211.) Bei jeder fortschreitenden Erkenntnis richtet sich
der Trieb auf etwas Näheres und ist insofern sublimiert.
Kurz zusammengefaßt konnte der Platonische Eros als der Arterhal-
tungs- und Höherentwicklungstrieb aufgefaßt werden, der sich im Liebes-
leben manifestiert, und je nach dem Objekt, dem die Liebe gilt, in vier
Erscheinungsformen auftritt als
1. sinnlicher Eros,
2. seelischer Eros (dem Individuellen zugewandt),
3. philosophischer Eros (dem Abstrakten zugewandt),
4. mystischer Eros (der Gottheit zugewandt).
Außer dieser Liebe kennt Plato keine Liebe. Eros und Liebe
sei es Liebe der Eltern zu den Kindern et vice versa, sei es Liebe des
Mannes zum Weibe, sei es Liebe zur Kunst und Wissenschaft, sei es
Liebe zu Gott, sind identisch. Nur das Objekt ändert sich, nicht die
Liebe. So weit Plato!
Es bleibt uns noch übrig, kurz die gemeinsamen Punkte der beiden
Lehren herauszuheben. Wir dürfen natürlich nicht vergessen, daß zwischen
den beiden Autoren ein Zwischenraum von mehr als 2000 Jahren liegt
Die Übereinstimmungen können daher nur zwischen den allgemeinen
Zügen der Lehre zu finden sein.
Und nun ist es interessant, daß alle Erweiterungen, die Freud
zum Entsetzen so vieler Akademiker an der üblichen Libidoauffassung
vorgenommen hat, schon beim Begründer der Akademie zu finden sind.
Plato sieht ebenso wie Freud im Arterhaltungstrieb und den da-
mit verbundenen psychischen Funktionen das Wesen der Liebe. Auch
der griechische Denker dehnt den Eros auf das Kind aus und sieht
in der elterlichen Liebe zu den Kindern und umgekehrt denselben
Eros, der zwischen zwei reifen Personen verschiedenen Geschlechtes waltet.
Die Sublimierungstheorie Freuds findet sich schon ausführlicher bei
Plato und „der Staat^ bringt noch eine noch auszubeutende pädago-
gische Lehre, um die Sublimierung des Eros in die Wege zu leiten.
r^no'^'-^ Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroalehre Piatos. 83
Ebenso wie es absurd ist zu sagen, Plato sexualisiert den Men-
schen und sieht in den höchsten religiösen Funktionen nichts als eine
verfeinerte Sexualität, ebenso absurd ist es, wenn Freud dieser Vor-
wurf gemacht wird. Beide aber leiten die höchsten kulturellen Leistungen
vom Arterhaltungstrieb ab.
So sehen wir, wie die so angefeindete Libidolehre Freuds im
größten griechischen Denker und Ethiker einen Vorläufer gefunden, der
dessen so bedeutungsvolle Neuerungen vorweggenommen hat.
6»
r^f\0'^'-^ Original from
^-'^'^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Triebe und Triebschicksale.
Von Sigm, Freud.
Wir haben oftmals die Forderung vertreten gehört, daß eine Wissen-
schaft über klaren und scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein
soll. In Wirklichkeit beginnt keine Wissenschaft mit solchen Defini-
tionen, auch die exaktesten nicht. Der richtige Anfang der wissen-
schaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Er-
scheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammen-
hänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann man es
nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden,
die man irgendwoher, gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein, her-
beiholt. Noch unentbehrlicher sind solche Ideen — die späteren Grund-
begriffe der Wissenschaft — bei der weiteren Verarbeitung des Stoffes.
Sie müssen zunächst ein gewisses Maß von Unbestimmtheit an sich
tragen; von einer klaren Umzeichnung ihres Inhalts kann keine Rede
sein. Solange sie sich in diesem Zustande befinden, verständigt man
sich über ihre Bedeutung durch den wiederholten Hinweis auf das Er-
fahrungsmaterial, dem sie entnommen scheinen, das aber in Wirklichkeit
ihnen unterworfen wird. Sie haben also strenge genommen den Cha-
rakter von Konventionen, wobei aber alles darauf ankommt, daß sie doch
nicht willkürlich gewählt werden, sondern durch bedeutsame Beziehungen
zum empirischen Stoffe bestimmt sind, die man zu erraten vermeint,
noch ehe man sie erkennen und nachweisen kann. Erst nach gründ-
licherer Erforschung des betreffenden Erscheinungsgebietes kann man
auch dessen wissenschaftliche Grundbegriffe schärfer erfassen und
sie fortschreitend so abändern, daß sie in großem Umfange brauchbar
und dabei durchaus widerspruchsfrei werden. Dann mag es auch an
der Zeit sein, sie in Definitionen zu bannen. Der Fortschritt der Er-
kenntnis duldet aber auch keine Starrheit der Definitionen. Wie das
Beispiel der Physik in glänzender Weise lehrt, erfahren auch die in
Definitionen festgelegten „Grundbegriffe" einen stetigen Inhaltswandel.
Ein solcher konventioneller, vorläufig noch ziemlich dunkler Grund-
begriff, den wir aber in der Psychologie nicht entbehren können, ist
der des Triebes. Versuchen wir es, ihn von verschiedenen Seiten her
mit Inhalt zu erfüllen.
r^no'^'-^ Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
Triebe und Triebschicksale. 35
Zunächst von selten der Physiologie. Diese hat uns den Begriff
des Reizes und das Reflexschema gegeben, demzufolge ein von außen
her an das lebende Gewebe (der Nervensubstanz) gebrachter Reiz durch
Aktion nach außen abgeführt wird. Diese Aktion wird dadurch zweck-
mäßig, daß sie die gereizte Substanz der Einwirkung des Reizes entzieht,
aus dem Bereich der Reizwirkung entrückt.
Wie verhält sich nun der „Trieb" zum „Reiz" ? Es hindert uns nichts,
den Begriff des Triebes unter den des Reizes zu subsummieren : der Trieb
sei ein Reiz für das Psychische. Aber wir werden sofort davor gewarnt,
Trieb und psychischen Reiz gleichzusetzen. Es gibt offenbar für das
Psychische noch andere Reize als die Triebreize, solche, die sich den
physiologischen Reizen weit ähnlicher benehmen. Wenn z. B. ein
starkes Licht auf das Auge fallt, so ist das kein Triebreiz ; wohl aber,
wenn sich die Austrocknung der Schlundschleimhaut fühlbar macht
oder die Anätzung der Magenschleimhaut.^)
Wir haben nun Material für die Unterscheidung von Triebreiz und
anderem (physiologischem) Reiz, der auf das Seelische einwirkt, ge-
wonnen. Erstens : Der Triebreiz stammt nicht aus der Außenwelt, sondern
aus dem Innern des Organismus selbst. Er wirkt darum auch anders
auf das Seelische und erfordert zu seiner Beseitigung andere Aktionen.
Ferner : Alles für den Reiz Wesentliche ist gegeben, wenn wir annehmen,
er wirke wie ein einmaliger Stoß; er kann dann auch durch eine ein-
malige zweckmäßige Aktion erledigt werden, als deren Typus die moto-
rische Flucht vor der Reizquelle hinzustellen ist. Natürlich können sich
diese Stöße auch wiederholen und summieren, aber das ändert nichts an
der Auffassung des Vorganges und an den Bedingungen der Reiz-
aufhebung. Der Trieb hingegen wirkt nie wie eine momentane
Stoßkraft, sondern immer wie eine konstante Kraft. Da er nicht
von außen, sondern vom Körperinnem her angreift, kann auch keine
Flucht gegen ihn nützen. Wir heißen den Triebreiz besser „Be-
dürfnis"; was dieses Bedürfnis aufhebt, ist die „Befriedigung".
Sie kann durch nur eine zielgerechte (adäquate) Veränderung der inneren
Reizquelle gewonnen werden.
Stellen wir uns auf den Standpunkt eines fast völlig hilflosen, in
der Welt noch unorientierten Lebewesens, welches Reize in seiner
Nervensubstanz auffängt. Dies Wesen wird sehr bald in die Lage
kommen, eine erste Unterscheidung zu machen und eine erste Orien-
tierung zu gewinnen. Es wird einerseits Reize verspüren, denen es sich
durch eine Muskelaktion (Flucht) entziehen kann, diese Reize rechnet es
zu einer Außenwelt ; anderseits aber auch noch Reize, gegen welche eine
solche Aktion nutzlos bleibt, die trotzdem ihren konstant drängenden
*) Vorausgesetzt nämlich, daß diese inneren Vorg&nge die organischen Grund-
lagen der Bedürfnisse Durst und Hunger sind.
r^no'^'-^ Original from
- ^*^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
85 Sigm. Freud.
Charakter behalten, diese Reize sind das Kennzeichen einer Innenwelt,
der Beweis für Triebbedürfnisse. Die wahrnehmende Substanz des Lebe-
wesens wird so an der Wirksamkeit ihrer Muskeltätigkeit einen Anhalts-
punkt gewonnen haben, um ein „außen'' von einem „innen'' zu scheiden.
Wir finden also das Wesen des Triebes zunächst in seinen Haupt-
charakteren, der Herkunft von Reizquellen im Innern des Organismus,
dem Auftreten als konstante Kraft, und leiten davon eines seiner
weiteren Merkmale, seine Unbezwingbarkeit durch Fluchtaktionen ab.
Während dieser Erörterungen mußte uns aber etwas auffallen, was
uns ein weiteres Eingeständnis abnötigt. Wir bringen nicht nur gewisse
Konventionen als Grundbegriffe an unser Erfahrungsmaterial heran,
sondern bedienen uns auch mancher komplizierter V o r a u s s e t z u n g e n,
um uns bei der Bearbeitung der psychologischen Erscheinungswelt leiten
zu lassen. Die wichtigste dieser Voraussetzungen haben wir bereits an-
geführt; es erübrigt uns noch, sie ausdrücklich hervorzuheben. Sie ist
biologischer Natur, arbeitet mit dem Begriff der Tendenz (eventuell
der Zweckmäßigkeit) und lautet: Das Nervensystem ist ein Apparat,
dem die Funktion erteilt ist, die anlangenden Reize wieder zu beseiti-
gen, auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder der, wenn e^
nur möglich wäre, sich überhaupt reizlos erhalten wollte. Nehmen wir an
der Unbestimmtheit dieser Idee vorläufig keinen Anstoß und geben wir
dem Nervensystem die Aufgabe, — allgemein gesprochen — der Reiz-
bewältigung. Wir sehen dann, wie sehr die Einführung der Triebe
das einfache physiologische Reflexschema kompliziert. Die äußeren Reize
stellen nur die eine Aufgabe, sich ihnen zu entziehen, dies geschieht
dann durch Muskelbewegung, von denen endlich eine das Ziel erreicht
und dann als die zweckmäßige zur erblichen Disposition wird. Die im
Innern des Organismus entstehenden Triebreize sind durch diesen Mecha-
nismus nicht zu erledigen. Sie stellen also weit höhere Anforderungen
an das Nervensystem, veranlassen es zu verwickelten, ineinander
greifenden Tätigkeiten, welche die Außenwelt so weit verändern, daß sie
der inneren Reizquelle die Befriedigung bietet, und nötigen es vor allem,
auf seine ideale Absicht der Reizfernhaltung zu verzichten, da sie eine
unvermeidliche kontinuierliche Reizzufuhr unterhalten. Wir dürfen
also wohl schließen, daß sie, die Triebe, und nicht die äußeren Reize,
die eigentlichen Motoren der Fortschritte sind, welche das so unendlich
leistungsfähige Nervensystem auf seine gegenwärtige Entwicklungshöhe
gebracht haben. Natürlich steht nichts der Annahme im Wege, daß die
Triebe selbst, wenigstens zum Teil, Niederschläge äußerer Reizwirkungen
sind, welche im Laufe der Phylogenese auf die lebende Substanz ver-
ändernd einwirkten.
Wenn wir dann finden, daß die Tätigkeit auch der höchstentwickelten
Seelenapparate dem Lustprinzip unterliegt, d. h. durch Empfindungen
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Triebe und Triebschicksale. 87
der Lust-Ünlustreihe automatisch reguliert wird, so können wir die
weitere Voraussetzung schwerlich abweisen, daß diese Empfindungen die
Art, wie die Reizbewältigung vor sich geht, wiedergeben. Sicherlich in
dem Sinne, daß die Unlustempfindung mit Steigerung, die Lustempfindung
mit Herabsetzung des Reizes zu tun hat. Die weitgehende Unbestimmtheit
dieser Annahme wollen wir aber sorgfältig festhalten, bis es uns etwa
gelingt, die Art der Beziehung zwischen Lust-Unlust und den Schwan-
kungen der auf das Seelenleben wirkenden Reizgrößen zu erraten.
Es sind gewiß sehr mannigfache und nicht sehr einfache solcher Bezie-
hungen möglich.
Wenden wir uns nun von der biologischen Seite her der Betrachtung
des Seelenlebens zu, so erscheint uns der „Trieb" als ein Grenzbegriff
zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant
der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize,
als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines
Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.
Wir können nun einige Termini diskutieren, welche im Zusammen-
hang mit dem Begriff Trieb gebraucht werden, wie: Drang, Ziel, Objekt,
Quelle des Triebes.
Unter dem Drang eines Triebes versteht man dessen motorisches
Moment, die Summe von Kraft oder das Maß von Arbeitsanforderung,
das er repräsentiert. Der Charakter des Drängenden ist eine allgemeine
Eigenschaft der Triebe, ja das Wesen derselben. Jeder Trieb ist ein
Stück Aktivität; wenn man lässigerweise von passiven Trieben spricht,
kann man nichts anderes meinen als Triebe mit passivem Ziel.
Das Ziel eines Triebes ist allemal die Befriedigung, die nur durch
Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle erreicht werden kann.
Aber wenn auch dies Endziel für jeden Trieb unveränderlich bleibt, so
können doch verschiedene Wege zum gleichen Endziel führen, so daß
sich mannigfache nähere oder intermediäre Ziele für einen Trieb er-
geben können, die miteinander kombiniert oder gegen einander vertauscht
werden. Die Erfahrung gestattet tins auch von „zielgehemmten"
Trieben zu sprechen bei Vorgängen, die ein Stück weit in der Richtung
der Triebbefriedigung zugelassen werden, dann aber eine Hemmung oder
Ablenkung erfahren. Es ist anzunehmen, daß auch mit solchen Vor-
gängen eine partielle Befriedigung verbunden ist.
Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder durch
welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist das variabelste am
Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge
seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet. Es ist
nicht notwendig ein fremder Gegenstand, sondern ebensowohl ein Teil
des eigenen Körpers. Es kann im Laufe der Lebensschicksale des
Triebes beliebig oft gewechselt werden ; dieser Verschiebung des Triebes
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gg Sigm. Frend.
fallen die bedeutsamen Rollen zu. Es kann der Fall vorkommen, daß
dasselbe Objekt gleichzeitig mehreren Trieben zur Befriedigung dient, nach
Alf. Adler der Fall der Triebverschränkung. Eine besonders innige
Bindung des Triebes an das Objekt wird als Fixierung desselben her-
vorgehoben. Sie vollzieht sich oft in sehr frühen Perioden der Trieb-
entwicklung und macht der Beweglichkeit des Triebes ein Ende, indem
sie der Lösung intensiv widerstrebt.
Unter der Quelle des Triebes versteht man jenen somatischen
Vorgang in einem Organ oder Körperteil, dessen Reiz im Seelenleben
durch den Trieb repräsentiert ist. Es ist unbekannt, ob dieser Vorgang
regelmäßig chemischer Natur ist oder auch der Entbindung anderer, z. B.
mechanischer Kräfte entsprechen kann. Das Studium der Triebquellen
gehört der Psychologie nicht mehr an; obwohl die Herkunft aus der so-
matischen Quelle das schlechtweg Entscheidende für den Trieb ist, wird
er uns im Seelenleben doch nicht anders als durch seine Ziele bekannt.
Die genauere Erkenntnis der Triebquellen ist für die Zwecke der psycho-
logischen Forschung nicht durchwegs erforderlich. Manchmal ist der
Rückschluß aus den Zielen des Triebes auf dessen Quellen gesichert.
Soll man annehmen, daß die verschiedenen aus dem Körperlichen
stammenden, auf das Seelische wirkenden Triebe auch durch verschie-
dene Qualitäten ausgezeichnet sind und darum in qualitativ verschie
dener Art sich im Seelenleben benehmen? Es scheint nicht gerecht-
fertigt ; man reicht vielmehr mit der einfacheren Annahme aus, daß die
Triebe alle qualitativ gleichartig sind und ihre Wirkung nur den
Erregungsgrößen, die sie führen, verdanken, vielleicht noch gewissen
Funktionen dieser Quantität. Was die psychischen Leistungen der ein-
zelnen Triebe voneinander unterscheidet, läßt sich auf die Verschiedenheit
der Triebquellen zurückführen. Es kann allerdings erst in einem
späteren Zusammenhange klargelegt werden, was das Problem der
Triebqualität bedeutet.
Welche Triebe darf man aufstellen und wie viele ? Dabei ist offen-
bar der Willkür ein weiter Spielraum gelassen. Man kann nichts da-
gegen einwenden, wenn jemand den Begriff eines Spieltriebs, Destruktions-
triebs, Geselligkeitstriebs in Anwendung bringt, wo der Gegenstand es
fordert und die Beschränkung der psychologischen Analyse es zuläßt
Man sollte aber die Frage nicht außer acht lassen, ob diese einerseits
so sehr spezialisierten Triebmotive nicht eine weitere Zerlegung in der
Richtung nach den Triebquellen gestatten, so daß nur die weiter nicht
zerlegbaren Urtriebe eine Bedeutung beanspruchen können.
Ich habe vorgeschlagen, von solchen Urtrieben zwei Gruppen zu
unterscheiden, die der Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und die der
Sexualtriebe. Dieser Aufstellung kommt aber nicht die Bedeutung einer
notwendigen Voraussetzung zu, wie z. B. der Annahme über die bio-
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Triebe and Triebschicksale. g9
logische Tendenz des seelischen Apparats (s. o.) ; sie ist eine bloße Hilfs-
konstruktion, die nicht länger festgehalten werden soll, als sie sich
nützlich erweist, und deren Ersetzung durch eine andere an den Ergeb-
nissen unserer beschreibenden und ordnenden Arbeit wenig ändern wird.
Der Anlaß zu dieser Aufstellung hat sich aus der Entwicklungsgeschichte
der Psychoanalyse ergeben, welche die Psychoneurosen, und zwar die als
„Obertragungsneurosen" zu bezeichnende Gruppe derselben (Hysterie
und Zwangsneurose) zum ersten Objekt nahm und an ihnen zur Einsicht
gelangte, daß ein Konflikt zwischen den Ansprüchen der Sexualität und
denen des Ichs an der Wurzel jeder solchen Affektion zu finden sei. Es
ist immerhin möglich, daß ein eindringendes Studium der anderen neu-
rotischen Aflfektionen (vor allem der narzißtischen Psychoneurosen: der
Schizophrenien) zu einer Abänderung dieser Formel und somit zu einer
anderen Gruppierung der Urtriebe nötigen wird. Aber gegenwärtig
kennen wir diese neue Formel nicht und haben auch noch kein Argu-
ment gefunden, welches der Gegenüberstellung von Ich- und Sexualtrieben
ungünstig wäre.
Es ist mir überhaupt zweifelhaft, ob es möglich sein wird, auf
Grund der Bearbeitung des psychologischen Materials entscheidende
Winke zur Scheidung und Klassifizierung der Triebe zu gewinnen. Es
erscheint vielmehr notwendig, zum Zwecke dieser Bearbeitung bestimmte
Annahmen über das Triebleben an das Material heranzubringen, und es
wäre wünschenswert, daß man diese Annahmen einem anderen Gebiet
entnehmen könnte, um sie auf die Psychologie zu tibertragen. Was die
Biologie hiefür leistet, läuft der Sonderung von Ich- und Sexualtrieben
gewiß nicht zuwider. Die Biologie lehrt, daß die Sexualität nicht gleich-
zustellen ist den anderen Funktionen des Individuums, da ihre Tendenzen
über das Individuum hinausgehen und die Produktion neuer Individuen,
also die Erhaltung der Art, zum Inhalt haben. Sie zeigt uns ferner,
daß zwei Auffassungen des Verhältnisses zwischen Ich und Sexualität
wie gleichberechtigt nebeneinander stehen, die eine, nach welcher das
Individuum die Hauptsache ist, und die Sexualität als eine seiner Be-
tätigungen, die Sexualbefriedigung als eines seiner Bedürfnisse wertet,
und eine andere, derzufolge das Individuum ein zeitweiliger und vor-
gänglicher Anhang an das quasi unsterbliche Keimplasma ist, welches
ihm von der Generation anvertraut wurde. Die Annahme, daß sich die
Sexualfunktion durch einen besonderen Chemismus von den anderen
Körpervorgängen scheidet, bildet soviel ich weiß, auch eine Voraus-
setzung der Ehrlichschen biologischen Forschung.
Da das Studium des Trieblebens vom Bewußtsein her kaum über-
steigbare Schwierigkeiten bietet, bleibt die psychoanalytische Erforschung
der Seelenstörungen die Hauptquelle unserer Kenntnis. Ihrem Ent-
wicklungsgang entsprechend hat uns aber die Psychoanalyse bisher nur
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90 Sigm. Freud.
Über die Sexualtriebe einigermaßen befriedigende Auskünfte bringen können,
weil sie gerade nur diese Triebgruppe an den Psychoneurosen wie
isoliert beobachten konnte. Mit der Ausdehnung der Psychoanalyse auf
die anderen neurotischen Affektionen wird gewiß auch unsere Kenntnis
der Ichtriebe begründet werden, obwohl es vermessen erscheint, auf
diesem weiteren Forschungsgebiet ähnlich günstige Bedingungen für die
Beobachtung zu erwarten.
Zu einer allgemeinen Charakteristik der Sexualtriebe kann man
folgendes aussagen : Sie sind zahlreich, entstammen vielfältigen organischen
Quellen, betätigen sich zunächst unabhängig voneinander und werden erst
spät zu einer mehr oder minder vollkommenen Synthese zusammengefaßt.
Das Ziel, das jeder von ihnen anstrebt, ist die Erreichung der Organ-
lust, erst nach vollzogener Synthese treten sie in den Dienst der Fort-
pflanzungsfunktion, womit sie dann als Sexualtriebe allgemein kennt-
lich werden. Bei ihrem ersten Auftreten lehnen sie sich zuerst an die Er-
haltungstriebe an, von denen sie sich erst allmählich ablösen, folgen auch
bei der Objektfindung den Wegen, die ihnen die Ichtriebe weisen. Ein
Anteil von ihnen bleibt den Ichtrieben zeitlebens gesellt und stattet diese
mit libidinösen Komponenten aus, welche während der normalen
Funktion leicht übersehen und erst durch die Erkrankung klargelegt
werden. Sie sind dadurch ausgezeichnet, daß sie in großem Autimaße
vikariierend für einander eintreten und leicht ihre Objekte wechseln könneu.
Infolge der letztgenannten Eigenschaften sind sie zu Leistungen befähigt, die
weitab von ihren ursprünglichen Zielhandlungen liegen. (S u b li m i e r u n g.)
Die Untersuchung, welche Schicksale Triebe im Laufe der Ent-
wicklung und des Lebens erfahren können, werden wir auf die uns
besser bekannten Sexualtriebe einschränken müssen. Die Beobachtung
lehrt uns als solche Triebschicksale folgende kennen:
Die Verkehrung ins Gegenteil.
Die Wendung gegen die eigene Person.
Die Verdrängung.
Die Sublimierung.
Da ich die Sublimierung hier nicht zu behandeln gedenke, die
Verdrängung aber ein besonderes Kapitel beansprucht, erübrigt uns nur
Beschreibung und Diskussion der beiden ersten Punkte. Mit Rücksicht
auf Motive, welche einer direkten Fortsetzung der Triebe entgegen-
wirken, kann man die Triebschicksale auch als Arten der Abwehr
gegen die Triebe darstellen.
Die Verkehrung ins Gegenteil löst sich bei näherem Zusehen
in zwei verschiedene Vorgänge auf, in die Wendung eines Triebes
von der Aktivität zur Passivität und in die inhaltliche
Verkehrung. Beide Vorgänge sind, weil wesensverschieden, auch ge-
sondert zu behandeln.
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Triebe und Triebschicksale. 9X
Beispiele für den ersteren Vorgang ergeben die Gegensatzpaare
Sadismus — Masochismus und Schaulust — Exhibition. Die Verkehrung
betrifft nur die Ziele des Triebes; für das aktive Ziel: quälen, be-
schauen, wird das passive: gequält werden, beschaut werden eingesetzt.
Die inhaltliche Verkehrung findet sich in dem einen Falle der Verwandlung
des Liebens in ein Hassen.
Die Wendung gegen die eigene Person wird uns durch die
Erwägung nahegelegt, daß der Masochismus ja ein gegen das eigene
Ich gewendeter Sadismus ist, die Exhibition das Beschauen des eigenen
Körpers mit einschließt. Die analytische Beobachtung läßt auch keinen
Zweifel daran bestehen, daß der Masochist das Wüten gegen seine Person,
der Exhibitionist das Entblößen derselben mitgenießt. Das Wesentliche
an dem Vorgang ist also der Wechsel des Objekts bei ungeändertem
Ziel.
Es kann uns indes nicht entgehen, daß Wendung gegen die eigene
Person und Wendung von der Aktivität zur Passivität in diesen Bei-
spielen zusammentreiben oder zusammenfallen. Zur Klarstellung der Be-
ziehungen wird eine gründlichere Untersuchung unerläßlich.
Beim Gegensatzpaar Sadismus — Masochismus kann man den Vor-
gang folgendermaßen darstellen:
ä) Der Sadismus besteht in Gewalttätigkeit, Machtbetätigung gegen
eine andere Person als Objekt.
b) Dieses Objekt wird aufgegeben und durch die eigene Person er-
setzt. Mit der Wendung gegen die eigene Person ist auch die Ver-
wandlung des aktiven Triebzieles in ein passives vollzogen.
c) Es wird neuerdings eine fremde Person als Objekt gesucht,
welche infolge der eingetretenen Zielverwandlung die Rolle des Subjekts
übernehmen muß.
Fall c ist der des gemeinhin so genannten Masochismus. Die Be-
friedigung erfolgt auch bei ihm auf dem Wege des ursprünglichen Sadismus,
indem sich das passive Ich phantastisch in seine frühere Stelle versetzt,
die jetzt dem fremden Subjekt überlassen ist. Ob es auch eine direktere
masochistische Befriedigung gibt, ist durchaus zweifelhaft. Ein Ursprung,
lieber Masochismus, der nicht auf die beschriebene Art aus dem Sadismus
entstanden wäre, scheint nicht vorzukommen. Daß die Annahme der
Stufe h nicht überflüssig ist, geht wohl aus dem Verhalten des sadistischen
Triebes bei der Zwangsneurose hervor. Hier findet sich die Wendung
gegen die eigene Person ohne die Passivität gegen eine neue. Die Ver-
wandlung geht nur bis zur Stufe h. Aus der Quälsucht wird Selbst-
quälerei, Selbstbestrafung, nicht Masochismus. Das aktive Verbum
wandelt sich nicht in das Passivum, sondern in ein reflexives Medium.
Die Auffassung des Sadismus wird auch durch den Umstand beein-
trächtigt, daß dieser Trieb neben seinem allgemeinen Ziel (vielleicht
Goo
,!.-. Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
92 Sigm. Freud.
besser : innerhalb desselben) eine ganz spezielle Zielhandlung anzustreben
scheint. Neben der Demütigung, Überwältigung, die Zufugung von
Schmerzen. Nun scheint die Psychoanalyse zu zeigen, daß das Schmerz-
zufügen unter den ursprünglichen Zielhandlungen des Triebes keine Rolle
spielt. Das sadistische Kind zieht die Zufugung von Schmerzen nicht in
Betracht und beabsichtigt sie nicht. Wenn sich aber einmal die Um-
wandlung in Masochismus vollzogen hat, eignen sich die Schmerzen
sehr wohl, ein passives masochistisches Ziel abzugeben, denn wir haben
allen Grund anzunehmen, daß auch die Schmerz- wie andere ünlust-
empfindungen auf die Sexualerregung übergreifen und einen lustvollen
Zustand erzeugen, um dessentwillen man sich auch die Unlust des
Schmerzes gefallen lassen kann. Ist das Empfinden von Schmerzen
einmal ein masochistisches Ziel geworden, so kann sich rückgreifend
auch das sadistische Ziel, Schmerzen zuzufügen, ergeben, die man,
während man sie anderen erzeugt, selbst masochistisch in der Iden-
tifizierung mit dem leidenden Objekt genießt. Natürlich genießt man in
beiden Fällei^ nicht den Schmerz selbst, sondern die ihn begleitende
Sexualerregung, und dies dann als Sadist besonders bequem. Das
Schmerzgenießen wäre also ein ursprünglich masochistisches Ziel, das
aber nur beim ursprünglich Sadistischen zum Triebziel werden kann.
Der Vollständigkeit zuliebe füge ich an, daß das Mitleid nicht
als ein Ergebnis der Triebverwandlung beim Sadismus beschrieben werden
kann, sondern die Auffassung einer Reaktionsbildung gegen den
Trieb (über den Unterschied s. später) erfordert.
Etwas andere und einfachere Ergebnisse liefert die Untersuchung
eines anderen Gegensatzpaares, der Triebe, die das Schauen und sich
Zeigen zum Ziele haben (Voyeur und Exhibitionist in der Sprache der
Per Versionen). Auch hier kann man die nämlichen Stufen aufstellen
wie im vorigen Falle : a) Das Schauen als Aktivität gegen ein fremdes
Objekt gerichtet ; b) das Aufgeben des Objekts, die Wendung des Schau-
triebes gegen einen Teil des eigenen Körpers, damit die Verkehrung in
Passivität und die Aufstellung des neuen Zieles: beschaut zu werden;
c) die Einsetzung eines neuen Subjekts, dem man sich zeigt, um von
ihm beschaut zu werden. Es ist auch kaum zweifelhaft, daß das aktive
Ziel früher auftritt als das passive, das Schauen dem Beschaut werden
vorangeht. Aber eine bedeutsame Abweichung vom Falle des Sadismus
liegt darin, daß beim Schautrieb eine noch frühere Stufe als die mit a
bezeichnet« zu erkennen ist. Der Schautrieb ist nämlich zu Anfang
seiner Betätigung autoerotisch, er hat wohl ein Objekt, aber er findet es
am eigenen Körper. Erst späterhin wird er dazu geleitet (auf dem
Wege der Vergleichung), dies Objekt mit einem analogen des fremden
Körpers zu vertauschen (Stufe a). Diese Vorstufe ist nun dadurch inter-
essant, daß aus ihr die beiden Situationen des resultierenden Gegensatz-
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Triebe und Triebschicksale. 93
paares hervorgehen, je nachdem der Wechsel an der einen oder anderen
Stelle vorgenommen wird. Das Schema für den Schautrieb könnte lauten :
a) Selbst ein Sexualglied beschauen = Sexualglied von eigener Person
beschaut werden
ß) Selbst fremdes Objekt beschauen y) Eigenes Objekt von fremder
(aktive Schaulust) Person beschaut werden.
(Zeigelust, Exhibition.)
Eine solche Vorstufe fehlt dem Sadismus, der sich von vornherein
auf ein fremdes Objekt richtet, obwohl es nicht gerade widersinnig
wäre, sie aus den Bemühungen des Kindes, das seiner eigenen Glieder
Herr werden will, zu konstruieren.
Für beide hier betrachteten Triebbeispiele gilt die Bemerkung, daß
die Triebverwandlung durch Verkehrung der Aktivität in Passivität und
Wendung gegen die eigene Person eigentlich niemals am ganzen Betrag
der Triebregung vorgenommen wird. Die ältere aktive Triebrichtung
bleibt in gewissem Ausmaße neben der jüngeren passiven bestehen, auch
wenn der Prozeß der Triebumwandlung sehr ausgiebig ausgefallen ist.
Die einzig richtige Aussage über den Schautrieb müßte lauten, daß alle
Entwicklungsstufen des Triebes, die autoerotische Vorstufe wie die aktive
und passive Endgestaltung nebeneinander bestehen bleiben, und diese
Behauptung wird evident, wenn man anstatt der Triebhandlungen den
Mechanismus der Befriedigung zur Grundlage seines Urteils nimmt.
Vielleicht ist übrigens noch eine andere Auffassungs- und Darstellungs-
weise gerechtfertigt. Man kann sich jedes Triebleben in einzelne zeitlich
geschiedene und innerhalb der (beliebigen) Zeiteinheit gleichartige Schübe
zerlegen, die sich etwa zueinander verhalten wie sukzessive Lavaerup-
tionen. Dann kann man sich etwa vorstellen, die erste und ursprüng-
lichste Trieberuption setze sich ungeändert fort und erfahre überhaupt
keine Entwicklung. Ein nächster Schub unterliege von Anfang an einer
Veränderung, etwa der Wendung zur Passivität, und addiere sich nun
mit diesem neuen Charakter zum früheren hinzu usw. Überblickt man
dann die Triebregung von ihrem Anfang an bis zu einem gewissen
Haltepunkt, so muß die beschriebene Sukzession der Schübe das Bild
einer bestimmten Entwicklung des Triebes ergeben.
Die Tatsache, daß zu jeder späteren Zeit der Entwicklung neben
einer Triebregung ihr (passiver) Gegensatz zu beobachten ist, verdient die
Hervorhebung durch den trefflichen, von Bleuler eingeführten Namen :
Ambivalenz.
Die Triebentwicklung wäre unserem Verständnis durch den Hinweis
auf die Entwicklungsgeschichte des Triebes und die Permanenz der
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94 Sigm. Freud.
Zwischenstufen nahe gerückt. Das Ausmaß der nachweisbaren Ambi-
valenz wechselt erfahrungsgemäß in hohem Grade bei Individuen,
Menschengruppen oder Rassen. Eine ausgiebige Triebambivalenz bei
einem heute Lebenden kann als archaisches Erbteil aufgefaßt werden,
da wir Grund zur Annahme haben, der Anteil der unverwandelten
aktiven Regungen am Triebleben sei in Urzeiten größer gewesen als
durchschnittlich heute.
Wir haben uns daran gewöhnt, die frühe Entwicklungsphase des Ichs,
während welcher dessen Sexualtriebe sich autoerotisch befriedigen, Narziß-
mus zu heißen, ohne zunächst die Beziehung zwischen Autoerotismus
und Narzißmus in Diskussion zu ziehen. Dann müssen wir von der
Vorstufe des Schautriebs, auf der die Schaulust den eigenen Körper zum
Objekt hat, sagen, sie gehöre dem Narzißmus an, sei eine narzißtische
Bildung. Aus ihr entwickelt sich der aktive Schautrieb, indem er den
Narzißmus verläßt, der passive Schautrieb halte aber das narzißtische
Objekt fest. Ebenso bedeute die Umwandlung des Sadismus in Maso-
chismus eine Rückkehr zum narzißtischen Objekt, während in beiden
Fällen das narzißtische Subjekt durch Identifizierung mit einem anderen
fremden Ich vertauscht wird. Mit Rücksichtnahme auf die konstruierte
narzißtische Vorstufe des Sadismus nähern wir uns so der allgemeineren
Einsicht, daß die Triebschicksale der Wendung gegen das eigene Ich und
der Verkehrung von Aktivität in Passivität von der narzißtischen Orga-
nisation des Ichs abhängig sind und den Stempel dieser Phase an sich
tragen. Sie entsprechen vielleicht den Abwehrversuchen, die auf höheren
Stufen der Ichentwicklung mit anderen Mitteln durchgeführt werden.
Wir besinnen uns hier, daß wir bisher nur die zwei Triebgegensatz-
paare : Sadismus — Masochismus und Schaulust — Zeigelust in Erörterung
gezogen haben. Es sind dies die bestbekannten ambivalent auftretenden
Sexualtriebe. Die anderen Komponenten der späteren Sexualfunktion
sind der Analyse noch nicht genug zugänglich geworden, um sie in
ähnlicher Weise diskutieren zu können. Wir können von ihnen all-
gemein aussagen, daß sie sich autoerotisch betätigen, d. h., ihr
Objekt verschwindet gegen das Organ, das ihre Quelle ist, und fallt in
der Regel mit diesem zusammen. Das Objekt des Schautriebes, obwohl
auch zuerst ein Teil des eigenen Körpers, ist doch nicht das Auge selbst,
und beim Sadismus weist die Organquelle, wahrscheinlich die aktions-
fähige Muskulatur, direkt auf ein anderes Objekt, sei es auch am eigenen
Körper hin. Bei den autoerotischen Trieben ist die Rolle der Organ-
quelle so ausschlaggebend, daß nach einer ansprechenden Vermutung
von P. Federn und L. Jekels*) Form und Funktion des Organs über
die Aktivität und Passivität des Triebzieles entscheiden.
') Diese Zeitschr. I, 1913.
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Triebe und Triebschicksale. 95
Die Verwandlung eines Triebes in sein (materielles) Gegenteil wird nur
in einem Falle beobachtet, bei der Umsetzung von Liebe undHaß. Da
diese beiden besonders häufig gleichzeitig auf dasselbe Objekt gerichtet
vorkommen, ergibt diese Koexistenz auch das bedeutsamste Beispiel
einer Gefühlsambivalenz.
Der Fall von Liebe und Haß erwirkt ein besonderes Interesse durch
den Umstand, daß er der Einreihung in unsere Darstellung der Triebe
widerstrebt. Man kann an der innigsten Beziehung zwischen diesen beiden
Gefühlsgegensätzen und dem Sexualleben nicht zweifeln, muß sich aber
natürlich dagegen sträuben, das Lieben etwa als einen besonderen Partial-
trieb der Sexualität wie die anderen aufzufassen. Man möchte eher das
Lieben als den Ausdruck der ganzen Sexualstrebung ansehen, kommt
aber auch damit nicht zurecht und weiß nicht, wie man ein materielles
Gegenteil dieser Strebung verstehen soll.
Das Lieben ist nicht nur eines, sondern dreier Gegensätze fähig.
Außer dem Gegensatz: lieben — hassen gibt es den anderen: lieben —
geliebt werden, und überdies setzen sich lieben und hassen zusammen-
genommen dem Zustande der Indifferenz oder Gleichgültigkeit entgegen.
Von diesen drei Gegensätzen entspricht der zweite, der von lieben —
geliebt werden, durchaus der Wendung von der Aktivität zur Passivität
und läßt auch die nämliche Zurückführung auf eine Grundsituation wie
beim Schau trieb zu. Diese heißt: sich selbst lieben, was für uns die
Charakteristik des Narzißmus ist. Je nachdem nun das Objekt oder das
Subjekt gegen ein fremdes vertauscht wird, ergibt sich die aktive Ziel-
strebung des Liebens oder die passive des Geliebtwerdens, von denen
die letztere dem Narzißmus nahe verbleibt.
Vielleicht kommt man dem Verständnis der mehrfachen Gegenteile
des Liebens näher, wenn man sich besinnt, daß das seelische Leben
überhaupt von dreiPolaritäten beherrscht wird , den Gegensätzen von :
Subjekt (Ich)— Objekt (Außenwelt).
Lust— Unlust.
A k t i V — P a s s i V.
Der Gegensatz von Ich— Nicht-Ich (Außen) (Subjekt— Objekt) wird
dem Einzelwesen, wie wir bereits erwähnt haben, frühzeitig aufge-
drängt durch die Erfahrung, daß es Außenreize durch seine Muskel-
aktion zum Schweigen bringen kann, gegen Triebreize aber wehrlos ist.
Er bleibt vor allem in der intellektuellen Betätigung souverän und
schafft die Grundsituation für die Forschung, die durch kein Bemühen
abgeändert werden kann. Die Polarität von Lust — Unlust haftet an
einer Empfindungsreihe, deren unübertroffene Bedeutung für die Ent-
scheidung unserer Aktionen (Wille) bereits betont worden ist. Der
Gegensatz von Aktiv — Passiv ist nicht mit dem von Ich-Subjekt —
Außen-Objekt zu verwechseln. Das Ich verhält sich passiv gegen die
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96 Sigm. Freud.
Außenwelt, insoweit es Reize von ihr empfangt, aktiv, wenn es auf die-
selben reagiert. Zu ganz besonderer Aktivität gegen die Außenwelt wird
es durch seine Triebe gezwungen, so daß man unter Hervorhebung des
Wesentlichen sagen könnte : Das Ich-Subjekt sei passiv gegen die äußeren
Reize, aktiv durch seine eigenen Triebe. Der Gegensatz Aktiv — Passiv
verschmilzt späterhin mit dem von Männlich — Weiblich, der, ehe dies ge-
schehen ist, keine psychologische Bedeutung hat. Die Verlötung der Aktivität
mit der Männlichkeit, der Passivität mit der Weiblichkeit tritt uns nämlich
als biologische Tatsache entgegen ; sie ist aber keineswegs so regelmäßig
durchgreifend und ausschließlich, wie wir anzunehmen geneigt sind.
Die drei seelischen Polaritäten gehen die bedeutsamsten Ver-
knüpfungen miteinander ein. Es gibt eine psychische Ursituation, in
welcher zwei derselben zusammentreffen. Das Ich findet sich ursprünglich,
zu allem Anfang des Seelenlebens, triebbesetzt und zum Teil fähig,
seine Triebe an sich selbst zu befriedigen. Wir heißen diesen Zustand
den des Narzißmus, die Befriedigungsmöglichkeit die autoerotische. ^) Die
Außenwelt ist derzeit nicht mit Interesse (allgemein gesprochen) be-
setzt und für die Befriedigung gleichgültig. Es fällt also um diese Zeit
das Ich-Subjekt mit dem Lustvollen, die Außenwelt mit dem Gleich-
gültigen (eventuell als Reizquelle Unlustvollen) zusammen. Definieren wir
zunächst das Lieben als die Relation des Ichs zu seinen Lustquellen,
so erläutert die Situation, in der es nur sich selbst liebt und gegen die
Welt gleichgültig ist, die erste der Gegensatzbeziehungen, in denen wir
das „Lieben" gefunden haben.
Das Ich bedarf der Außenwelt nicht, insofern es autoerotisch ist,
es bekommt aber Objekte aus ihr infolge der Erlebnisse der Icherhaltungs-
triebe und kann doch nicht umhin, innere Triebreize als unlustvoll für
eine Zeit zu verspüren. Unter der Herrschaft des Lustprinzips vollzieht
sich nun in ihm eine weitere Entwicklung. Es nimmt die dargebotenen
Objekte, insoferne sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich
dieselben (nach dem Ausdrucke Ferenczis) und stößt anderseits von
sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlaß wird. (Siehe später
den Mechanismus der Projektion.)
Es wandelt sich so aus dem anfänglichen Real-Ich, welches Innen
und Außen nach einem guten objektiven Kennzeichen unterschieden hat,
*) Ein Anteil der Sexualtriebe ist, wie wir wissen, dieser antoerotischen Befrie-
digung f&hig, eignet sich also zum Träger der nachstehend geschilderten Entwicklung
unter der Herrschaft des Lustprinzips. Die Sexualtriebe, welche von vornherein ein
Objekt fordern, und die autoerotisch niemals zu befriedigenden Bedürfnisse der Ich-
triebe stören natürlich diesen Zustand und bereiten die Fortschritte vor. Ja, der
narzißtische Urzustand könnte nicht jene Entwicklung nehmen, wenn nicht jedes
Einzelwesen eine Periode von Hilflosigkeit und Pflege durchmachte,
während dessen seine drängenden Bedürfnisse durch Dazutun von Außen befriedigt
und somit von der Entwicklung abgehalten würden.
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Triebe und Triebschicksale. 97
in ein purifiziertes Lust-Ich, welches den Lustcharakter über jeden
anderen setzt. Die Außenwelt zerfällt ihm in einen Lustanteil, den es
sich einverleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd ist. Aus dem
eigenen Ich hat es einen Bestandteil ausgesondert, den es in die Außen-
welt wirft und als feindlich empfindet. Nach dieser ümordnung ist die
Deckung der beiden Polaritäten
Ich-Subjekt — mit Lust
Außenwelt — mit Unlust (von früher her Indifferenz) wieder her-
gestellt.
Mit dem Eintreten des Objekts in die Stufe des primären Narzißmus
erreicht auch der zweite Gegensinn des Liebens, das Hassen, seine Aus-
bildung.
Das Objekt wird dem Ich, wie wir gehört haben, zuerst von den
Selbsterhaltungstrieben aus der Außenwelt gebracht, und es ist nicht abzu-
weisen, daß auch der ursprüngliche Sinn des Hassens die Relation gegen
die fremde und reizzuführende Außenwelt bedeutet. Die Indifferenz
ordnet sich dem Haß, der Abneigung, als Spezialfall ein, nachdem sie zu-
erst als dessen Vorläufer aufgetreten ist. Das Äußere, das Objekt, das
Gehaßte wären zu allem Anfang identisch. Erweist sich späterhin das
Objekt als Lustquelle, so wird es geliebt, aber auch dem Ich einverleibt,
so daß für das parifizierte Lust-Ich das Objekt doch wiederum mit dem
Fremden und Gehaßten zusammenfällt.
Wir merken aber jetzt auch, wie das Gegensatzpaar Liebe — Indifferenz
die Polarität Ich — Außenwelt spiegelt, so reproduziert der zweite Gegen-
satz Liebe — Haß die mit der ersteren verknüpfte Polarität von Lust — Un-
lust. Nach der Ablösung der rein narzißtischen Stufe durch die Objekt-
stufe bedeuten Lust und Unlust Relationen des Ichs zum Objekt. Wenn
das Objekt die Quelle von Lustempfindungen wird, so stellt sich eine
motorische Tendenz heraus, welche dasselbe dem Ich annähern, ins Ich
einverleiben will; wir sprechen dann auch von der „Anziehung", die
das lustspendende Objekt ausübt, und sagen, daß wir das Objekt „lieben".
Umgekehrt, wenn das Objekt Quelle von Unlustempfindungen ist, bestrebt
sich eine Tendenz, die Distanz zwischen ihm und dem Ich zu ver-
größern, den ursprünglichen Fluchtversuch vor der reizausschickenden
Außenwelt an ihm zu wiederholen. Wir empfinden die „Abstoßung" des
Objekts und hassen es; dieser Haß kann sich dann zur Aggressiens-
neigung gegen das Objekt, zur Absicht, es zu vernichten, steigern.
Man könnte zur Not von einem Trieb aussagen, daß er das Objekt
„liebt", nach dem er zu seiner Befriedigung strebt. Daß ein Trieb ein
Objekt „haßt", klingt uns aber befremdend, so daß wir aufmerksam
werden, die Bezeichnungen Liebe und HsJJ seien nicht für die Relationen
der Triebe zu ihren Objekten verwendbar, sondern für die Relation des
Gesamt-Ichs zu den Objekten reserviert. Die Beobachtung des gewiß
Zeitiohr. f. ftntl. FsjohoanalTse. 111/3. 7
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98 Sigm. Fread.
sinnvollen Sprachgebrauches zeigt uns aber eine weitere Einschränkung
in der Bedeutung von Liebe und Haß. Von den Objekten, welche der
Icherhaltung dienen, sagt man nicht aus, daß man sie liebt, sondern be-
tont, daß man ihrer bedarf, und gibt etwa einem Zusatz von anders-
artiger Relation Ausdruck, indem man Worte gebraucht, die ein sehr
abgeschwächtes Lieben andeuten, wie : gerne haben, gerne sehen, ange-
nehm finden.
Das Wort „lieben" rückt also immer mehr in die Sphäre der reinen
Lustbeziehung des Ichs zum Objekt und fixiert sich schließlich an die
Sexualobjekte im engeren Sinne und an solche Objekte, welche die Be-
dürfnisse sublimierter Sexualtriebe befriedigen. Die Scheidung der Ich-
triebe von den Sexualtrieben, welche wir unserer Psychologie auf-
gedrängt haben, erweist sich so als konform mit dem Geist unserer
Sprache. Wenn wir nicht gewohnt sind zu sagen, der einzelne Sexual-
trieb liebe sein Objekt, aber die adäquateste Verwendung des Wortes
„lieben" in der Beziehung des Ichs zu seinem Sexualobjekt finden, so lehrt
uns diese Beobachtung, daß dessen Verwendbarkeit in dieser Relation
erst mit der Synthese aller Partialtriebe der Sexualität unter dem
Primat der Genitalien und im Dienste der Fortpflanzungsfunktion be-
ginnt.
Es ist bemerkenswert, daß im Gebrauche des Wortes „hassen" keine
so innige Beziehung zur Sexuallust und Sexualfunktion zum Vorschein
kommt, sondern die Unlustrelation die einzig entscheidende scheint. Das
Ich haßt, verabscheut, verfolgt mit Zerstörungsabsichten alle Objekte, die
ihm zur Quelle von Unlustempfindungen werden, gleichgültig ob sie ihm
eine Versagung sexueller Befriedigung oder der Befriedigung von Er-
haltungsbedürfnissen bedeuten. Ja, man kann behaupten, daß die rich-
tigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern
aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen.
Liebe und Haß, die sich uns als volle materielle Gegensätze vor-
stellen, stehen also doch in keiner einfachen Beziehung zueinander. Sie
sind nicht aus der Spaltung eines Urgemeinsamen hervorgegangen,
sondern haben verschiedene Ursprünge und habe ein jedes seine eigene
Entwicklung durchgemacht, bevor sie sich unter dem Einfluß der Lust-
Unlustrelation zu Gegensätzen formiert haben. Es erwächst uns hier
die Aufgabe, zusammenzustellen, was wir von der Genese von Liebe
und Haß wissen.
Die Liebe stammt von der Fälligkeit des Ichs, einen Anteil seiner
Triebregungen autoerotisch, durch die Gewinnung von Organlust zu be-
friedigen. Sie ist ursprünglich narzißtisch, übergeht dann auf die Ob-
jekte, die dem erweiterten Ich einverleibt worden sind, und drückt das
motorische Streben des Ichs nach diesen Objekten als Lustquellen aus. Sie
verknüpft sich innig mit der Betätigung der späteren Sexualtriebe und
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Triebe imd Triebschicksale.
99
fallt, wenn deren Synthese vollzogen ist, mit dem Ganzen der Sexual-
strebung zusammen. Vorstufen des Liebens ergeben sich als vorläufige
Sexualziele, während die Sexualtriebe ihre komplizierte Entwicklung
durchlaufen. Als erste derselben erkennen wir das sich Einver-
leiben oder Fressen, eine Art der Liebe, welche mit der Aufhebung
der Sonderexistenz des Objekts vereinbar ist, also als ambivalent be-
zeichnet werden kann. Auf der höheren Stufe der prägenitalen
sadistisch-analen Organisation tritt das Streben nach dem Objekt in der "'
Form des Bemächtigungsdranges auf, dem die Schädigung oder Ver-
nichtung des Objekts gleichgültig ist. Diese Form und Vorstufe der Liebe
ist in ihrem Verhalten gegen das Objekt vom Haß kaum zu unter-
scheiden. Erst mit der Herstellung der Genitalorganisation ist die Liebe
zum Gegensatz vom Haß geworden.
Der Haß ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er ent-
springt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von
Seiten des narzißtischen Ichs. Als Äußerung der durch Objekte hervor-
gerufenen Unlustreaktion bleibt er immer in inniger Beziehung zu den
Trieben der Icherhaltung, so daß Ichtriebe und Sexualtriebe leicht in
einen Gegensatz geraten können, der den von Hassen und Lieben
wiederholt. Wenn die Ichtriebe die Sexualfunktion beherrschen wie auf
der Stufe der sadistisch-analen Organisation, so leihen sie auch dem
Triebesziel die Charaktere des Hasses.
Die Entstehungs- und Beziehungsgeschichte der Liebe macht es
uns verständlich, daß sie so häufig „ambivalent", d. h. in Begleitung von
Haßregungen gegen das nämliche Objekt auftritt. Der der Liebe bei-
gemengte Haß rührt zum Teil von den nicht völlig überwundenen Vor-
stufen des Liebens her, zum anderen Teil begründet er sich durch Ab-
lehnungsreaktionen der Ichtriebe, die sich bei den häufigen Konflikten
zwischen Ich- und Liebesinteressen auf reale und aktuelle Motive be-
rufen können. In beiden Fällen geht also der beigemengte Haß auf die
Quelle der Icherhaltungstriebe zurück. Wenn die Liebesbeziehung zu
einem bestimmten Objekt abgebrochen wird, so tritt nicht selten Haß an
deren Stelle, woraus wir den Eindruck einer Verwandlung der Liebe in
Haß empfangen. Über diese Deskription hinaus führt dann die Auf-
fassung, daß dabei der real motivierte Haß durch die Regression des
Liebens auf die sadistische Vorstufe verstärkt wird, so daß das Hassen
einen erotischen Charakter erhält und die Kontinuität einer Liebes-
beziehung gewährleistet wird.
Die dritte Gegensätzlichkeit des Liebens, die Verwandlung des
Liebens in ein Geliebtwerden entspricht der Einwirkung der Polarität
von Aktivität und Passivität und unterliegt derselben Beurteilung wie
die Fälle des Schautriebs und des Sadismus. Wir dürfen zusammen-
fassend hervorheben, die Triebschicksale bestehen im wesentlichen darin,
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100 Sigm. Freud.
daß die Triebregungen den Einflüssen der drei großen das Seelenleben
beherrschenden Polaritäten unterzogen werden. Von diesen drei Polari-
täten könnte man die der Aktivität — Passivität als die biologische,
die Ich — Außenwelt als die real e, endlich die von Lust — Unlust als die
ökonomische bezeichnen.
Das Triebschicksal der Verdrängung wird den Gegenstand einer
anschließenden Untersuchung bilden.
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Mitteilungen.
1.
Zum Verständnis infantiler Angstzustande.
Von Dr. J. Sadger.
Ein 30jähriger Mann vom Lande, einziges Kind seiner Eltern und von
Vater wie Mutter durch ein Übermaß von Liebe verwöhnt, schlief bis zum
9. oder 10. Lebensjahre stets zwischen ihnen in deren breiten Doppelbetten.
Wie aus Träumen zur Evidenz hervorgeht, hat er den Geschlechtsverkehr
seiner Eltern wiederholt belauscht und darauf mit Angst- und sexuellen Er-
regungszuständen geantwortet.
Er war auch lange Zeit ein starker Bettnässer. Seine Geschlechtsbedürf-
nisse hatte er verdrängt, so daß er scheinbar ganz asexuell lebte. Mit be-
sonderer Innigkeit und Zärtlichkeit hing er an seinem Vater, wie überhaupt
die homosexuelle Komponente jetzt am stärksten hervortritt und zu zahl-
reichen Freundschaftsbündnissen führte. Die fortschreitende Analyse deckte
erst auf, daß den jetzigen Männerfreundschaften starke sexuelle Aggressionen
auf eine Cousine, der Zärtlichkeit gegen den Vater jedoch eine frühe Kindheits-
epoche vorausging, in der er gleichfalls geschlechtliche Angriffe gegen die Mutter
versucht hatte. Erst nach der Zurückweisung durch diese wandte er sich de-
finitiv dem Vater zu.
Aus seinem 4. bis 8. Lebensjahre erinnert er nun einige angeblich
nicht sexuelle Angstzustände, die er folgendermaßen beschreibt : „Es waren
schauerliche Zustände, die sich mir unauslöschlich einprägten und die ich
noch heute vor mir sehe, als wären sie gestern geschehen. Einmal — ich
mag fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein — waren meine Eltern zu Besuch
im Nachbarhaus und ließen mich allein im Zimmer zurück. Allerdings schlief
ich schon und der Mond schien hell ins Zimmer herein. Da klopfte ein Freund
und Spielgenosse meines Vaters, ein Schmied mit schwarzem Vollbart, ans
Fenster: „Na, was is Poldi, geh' mit!" Das sagte er mit einer recht rauhen
Stimme. Ich schrak aus dem Schlafe, sah zum Fenster und erblickte das
rabenschwarze, bärtige Antlitz. Da der Schmied keine Antwort bekam, ging
er wieder weg. In mir aber begann jetzt ein furchtbarer Aufruhr. Meine ganzen
Nerven zitterten und bebten und sofort stand folgendes Bild vor mir : Ich
sah einen tiefen, weiten Wald mit mächtigen Bäumen und allen möglichen
Tieren; furchtbar war es. Noch etwas: das Licht brannte am Tisch und in
meiner Angst stand ich auf und löschte es aus, statt es brennen zu lassen.
Zum Glück kamen die Eltern bald nach Hause und fanden mich im Schweiß
gebadet. Ein andermal arbeiteten sie unten im Keller, während ich oben
allein im Zimmer schlief. Als ich erwachte und niemand um mich sah, er-
griff mich eine furchtbare Angst. Ich stand auf und schlug vor Aufregung
die Fensterscheiben ein. Auf das Geklirr hin eilten meine Eltern rasch herbei
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102 Mitteilungen.
und fanden mich in einem furchtbar fiebernden Wahn. Es dauerte lange Zeit,
bis sie mich znr Besinnung brachten. Und meist bekam ich diese Angstzu-
stände, bei denen ich mir alles mögliche vorstellte, in der Dunkelheit. Die
Eltern saßen z. B. draußen in der Küche, lasen oder aßen — ich muß noch
ganz jung gewesen sein, sonst wäre ich nicht so früh schlafen gegangen — ,
da hatte ich in der Dunkelheit folgende Vorstellung: Auf einmal war die Ge-
gend verwandelt und ich sah vor mir das wogende Meer, das ich in Wirk-
lichkeit aber nie gesehen habe, und das Wasser kam immer näher und gur-
gelte heran bis zu meinem Munde, ganz schrecklich war es, und ich setzte
mich auf im Bette und machte mit den Beinen angestrengte Bewegungen, als
wollte ich heraussteigen. Endlich mußte ich aufschreien. Die Eltern stürzten
besorgt herbei, ich aber stieß sie von mir. Ich war meiner selbst nicht bewußt,
bis ich aus diesem Traumzustand erwachte. Es war immer furchtbar. Oft
war es auch, als liege ich in einem wogenden Feuermeer. Das war schauder-
haft. Ein andermal endlich schlich sich ein Tier heran mit glühenden Augen
immer näher und näher, so daß es auch vorkam, daß ich meine Eltern mit
den Fäusten fortstieß, ich kannte sie nicht. Auf das Gestöhne waren sie
herangekommen und redeten mir zu : ,Was hast du denn ; wir sind ja bei
dir!* Aber trotzdem schlug ich noch eine Weile um mich, das waren ent-
setzliche Szenen."
In der Psychoanalyse gab der Kranke hiezu die folgenden Deutungen:
„Den Schmied habe ich nicht erkannt, sonst hätte ich keine Angst gehabt."
— ^Warum stellten Sie sich gerade einen Wald vor mit mächtigen Bäumen
und Tieren?" — „Das ist ja natürlich, weil ein Kind im Walde die größte
Angst empfindet. Bei Nacht habe ich mich überall gefürchtet. Am meisten
aber im Walde. Halt, jetzt fällt mir noch etwas ein. Kurz vor jener
Schreckensszene waren wir kleinen Buben am Saumweg vor dem kleinen
Wäldchen gegangen und da erlaubten sich größere einen Schabernack mit uns,
schwärzten sich die Gesichter, versteckten sich im Walde und fuhren dann
mit großem Geschrei heraus, so daß ich ganz starr vor Schrecken dastand.^
— „Das stimmt dann gut zu dem rabenschwarzen Gesicht des Schmiedes.'^
— „Und zu den Tieren fällt mir ein, daß einmal der Nachbar seinen großen
Uund auf uns gehetzt hatte, so daß ich starr vor Schrecken stand und mir
nicht zu helfen wußte. Der Hund war aber gescheiter als der Mann und tat
uns nichts zu leide." — „Was dachten Sie bei den geschwärzten Gesichtern
der Buben?" — „An Räuber, von denen man ja als Kind viel erzählen hört.
Sowohl meine Tante, als die verstorbene Cousine, als endlich die Großmutter
haben mir riesig viel von Räubern und deren Überfällen erzählt. Ja, ein
Bruder der Großmutter hat selbst einmal etwas mit Räubern erlebt. Da hat
er sich tief drinnen in Ungarn ein Gulyasch geben lassen und da war ein
Menschenfinger drin. Mich hat furchtbar gegruselt, als ich davon hörte, das
prägte sich dem zarten Kindesgedächtnis unauslöschlich ein und im Augen-
blick des Schreckens, als ich den vermeintlichen Räuber sah, wurde die Er-
innerung an den Finger geweckt. Sie meinen wohl, man könnte den
abgeschnittenen Finger als das Glied des Vaters deuten,
das ich einmal gesehen habe?" — „Ja, möglich. Sie sagten auch, Sie
wären lange Zeit Bettnässer gewesen. Es wäre nun denkbar, daß man ihnen
deshalb drohte, das Glied wegzuschneiden." — „Das kann schon sein, das
ist leicht möglich, ja, ich erinnere mich sogar daran, daß mir die Mutter
damit drohte. Ob ich in jener Räuberphantasie nicht zur Vergeltung dem
Vater das Glied abschneide, mit dem er in die Mutter eindringt? Wenn ich
dann sofort einen Wald mit mächtigen Bäumen erblicke, so sind das wohl
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Dr. J. Sadger : Zorn Verständnis infantiler Angstzostände. 103
auch stehende Glieder.*^ — „Sie sahen aber auch Tiere. Welcher Art?** —
„Schlangen und Stiere. Aber es waren weniger Tiere als Bäume da. Übrigens
ist ja eine Schlage auch das Glied." — „Und die Stiere?" — „Die sind ja
das Sinnbild der männlichen Kraft, der Potenz. "* — „Was sahen Sie vom
Walde ?^^ — „Den unteren Teil, das Moos. Wenn man die Bäume sieht, so
kann man nur noch das Moos sehen." — »Und woran könnte Sie das Moos
erinnern?" — „An die Kräuselhaare. So wie sich das Glied aus dem Kräusel-
haar des Mannes erhebt, so aus dem Moos die Bäume. Und vielleicht bezieht
sich dies auch auf die Haare der Mutter, die unten ja gleichfalls gekräuselt
sind." — „Sie sehen, alles führt wieder auf den Geschlechtsverkehr der
Eltern, von dem wir ja wissen, daß Sie ihn oft beobachtet haben." — „Ja-
wohl. Und das Unerklärliche, Fremdartige, Umschleierte erzeugt Angstgefühle."
„Ich sagte vorhin," fuhr der Kranke dann fort, „der Schmied guckte
damals herein wie ein Räuber. Und das wird wiederum der Vater sein, der
fällt ja gewissermaßen über die Mutter her, was dem Kinde erschienen sein
wird, als täte er der Mutter was zuleide." — »Wie erklären Sie nun Ihr
merkwürdiges Verhalten, daß Sie die Lampe auslöschten?" — „Ja, das ist
gelungen, ich bin sonst ein Feind der Dunkelheit, aber damals in der De-
speration löschte ich das Licht aus. Halt, jetzt weiß ich schon. Die Eltern
werden zuerst bei Licht getändelt und wenn sie dann zum Ernst übergingen,
das Licht ausgelöscht haben. ^) Ich werde dadurch in sexuelle Erregung ge-
raten sein bis zum Exzeß und den Wunsch gehabt haben, an der Mutter das-
selbe zu tun wie der Vater." — „Ganz richtig. Nehmen Sie noch dazu, wie
stark homosexuell Sie sind und wie dies dem Vater gegenüber schon in der
Kindheit deutlich hervortrat,^) so könnten Sie noch andere Wünsche gehabt
haben." — „Ja, die Stelle der Mutter einzunehmen." — „Und wenn jetzt
der Räuber, der Vater, im Fenster erscheint und Sie das Licht auslöschen . . "
— „So soll er offenbar ungestört zu mir kommen können."
Jetzt wurde ihm auch die Episode mit dem Fenstereinschlagen verständ-
lich. Anfangs meinte er zwar: „Vielleicht tat ich es, um die Eltern herbei-
zulocken, die mein Ruf nicht erreichen konnte", aber sofort berichtigte er
sich selber : ;,Nein, das ist nicht wahr ! Denn das wäre logische Berechnung
und ich tat es ganz unbewußt, das ist also ausgeschlossen. Aber vielleicht
geschah es, um Vater und Mutter das Hereinsteigen zu erleichtern." —
„Wozu dem Vater?" — „Damit er sich zu mir legen könne. Eine zweite
Lösung geht wohl auf die Sexualsymbolik. Was könnte nur das Einschlagen
der Fenster bedeuten? Das ist so ähnlich wie die Entjungferung, da ist ja
^) Eine weitere von mir vorgeschlagene Deutung, die der Kranke ohneweiters
als richtig akzeptierte, ist von der Sexnal-Symbolik des Dochtes (== phallas) ge-
nommen, der in die Höhe geschraubt ist und den er wieder heraoschraubt. Das
v&terliche Membrnm soll also zusammenfallen und der Koitus dadurch verhindert
werden.
*) Patient war nach Angabe der Eltern ein sehr dickes und molliges Kerlchen
gewesen. Der Vater, welcher offenbar selber etwas homosexuell und p&dophil war,
pflegte nun, wie die Analyse aufdeckt, ihn mit besonderer Vorhebe morgens im Bette
abzuo;reifen, an den Schenkeln beginnend rmd hinauf bis zu den Genitalien fort-
schreitend, die er immer und wiederholt „anpackte, was dem Knaben sehr wohl tat**.
Ja noch mehr ! Er duldete nicht bloß, daß der Junge auch an seinem (des Vaters)
Körpers herumkrabbelte und dabei mit der patschigen Kinderhand das väterliche
Membrum angriff, sondern mein Kranker erklärte ausdrücklich: „Ich glaube sogar,
daß mein Vater sich absichtlich so gele^ hat, daß ich ankommen mußte. Man sollte
es nicht glauben und doch ist es ganz bestimmt. Ich erinnere mich nftmlich, wenn
ich an seine feuchte, kühle Eichel ankam, zog ich sofort die Hand zurück. Dieser
Tatsache erinnere ich mich ganz genau."
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104 Mitteilungen.
auch ein Häutchen vor. Das ginge dann auf die Mutter." — ^Sie sagten
ferner : ,Die Eltern fanden mich in einem furchtbar fiebernden Wahn', was
heißt das?^ — „Das ist so wie beim Geschlechtsverkehr, wo man eine Zeit-
lang seiner Sinne nicht mächtig ist. Ich erkannte die Eltern auch nicht und
erst nach langem Zureden wurde mir klar, wo ich mich befinde." — ,,Da wäre
Ihr Bewußtsein also anderswo gewesen. Wo denn?" — „Ganz drin im Ge-
schlechtlichen, so daß ich meine Umgebung ganz vergaß, blöd war für sie!'
„Was ist nun mit dem wogenden Meer?" — »Vielleicht ist das der
wogende Busen der Mutter oder noch besser das Fallen und Steigen des
Gliedes, die Schwankungen desselben. Die Wellen kamen in der VorsteUaog
gegen mich heran, in mächtigen Hebungen, immer näher und näher wälzten
sie sich zu mir her, ich suchte ihnen zu entkommen. Das Ganze wird wohl
zurückgehen auf den Geschlechtsverkehr der Eltern, den ich beobachtete.''
— »Und wobei sie Ihnen vielleicht gefährlich nahe kamen, weil sie im Eifer
vermutlich nicht an das Kind dachten.** — „Ja, sehen Sie, das ist großartig,
darauf wäre ich nicht gekommen. Aber Sie werden ganz recht haben, daß ich
mich fürchtete, weil sie mich zu erdrücken drohten." — „Vielleicht gibt es für
das Meer, das ungeheure Wasser, noch eine direkte Erklärung?" — „Ja, vom
Bettnässen her?" — „Ganz richtig. Sie selber erzeugten das ungeheure Meer,
die Überschwemmung, und insbesondere dann , wenn Sie durch den Geschlechts-
verkehr der Eltern sexuell erregt wnrden und mit Bettnässen antworteten.'^
— 9 Ja, das stimmt ganz ausgezeichnet. Und meine Bewegungen mit den
Beinen sind Nachahmung der Bewegungen des Vaters, wenn er auf die Mutter
hinaufsteigt."
„Jetzt bliebe nur noch das wogende Feuermeer." — „Ich sah zün-
gelndes Feuer um mich herum und da stieg meine Angst auf das höchste,
so daß ich schier unterzugehen schien. Aber da verläßt mich mein Deutungs-
vermögen." — „Vielleicht bedeutet es das Feuer der Liebe, das Keuchen und
den heißen Atem der Eltern?" — „Das hätte ich schon selber gewußt und
habe es auch sagen wollen: heiße Liebe und heißes Feuer, aber ich traute
mich nicht zu sagen : ,Das Feuer ist die heißgltihende Liebe.' Man spricht
ja geradezu von einer glühendheißen Liebe. Ich fürchtete, Sie wtirden mich
auslachen." — ^Eine zweite Lösung geht auf die Gegensatzbedeutung des
Feuers zurtick. Sehr häufig wird in Träumen und Phantasien eine Sache durch
ihr Gegenteil dargestellt, so daß also Feuer soviel bedeutet als Wasser. Wenn
ein Kind am Tage mit Streichhölzchen spielt, sagt man, es wird bei Nacht
nässen. Das leitete also wieder zum Bettnässen hin!"
„Wer ist nun das Tier mit den glühenden Augen?" — „Das wird der
Vater sein, wenn er geschlechtlich erregt war und in seiner tierischen Brunst
auf die Mutter losging." — „Sie reagieren darauf in sehr merkwürdiger
Weise, indem Sie die Eltern, die auf Ihr Geschrei herbeikommen, mit den
Füßen fortstoßen." — „Ja, das ist kindliche Eifersucht. Das sieht man ja
alle Tage. Wenn der Vater die Mutter in Gegenwart des Kindes liebkost,
dann bekommt das Kind einen Riesenzorn und geht auf den Vater los. Es
will die Mutter ganz allein besitzen, das habe ich schon ein paarmal beob-
achtet. Ich schlug auf den Vater los, weil er mit der Mutter verkehrt, und
auf die Mutter, weil sie sich das vom Vater gefallen läßt."
Überblickt man die Deutung dieser ganzen kindlichen Angstzustände,
so sieht man bestätigt, was die psychoanalytische Forschung auch bisher stets
fand, daß jene Angstzustände sämtlich zurückgehen auf frustrane geschlecht-
liche Erregungen, vor allem hervorgerufen durch die Wahrnehmung des Ver-
kehrs der Eltern. Da die Anfälle meines Kranken zwischen sein viertes und
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Dr. Ed. Hitschmanns Zwangsbefürchtung vom Tode des gleichgeschl. Elternteiles. 105
achtes Lebensjahr fallen, müssen jene Wahrnehmungen vorhergegangen sein,
demnach einer sehr frühen Lebensepoche angehört haben, in welche wir auch
sonst die psychischen Grundlagen der Neurose verlegen.
Ein Fall von ZwangsbefQrchtnng vom Tode des gleich-
geschlechtlichen Eltemteiles.
Von Dr. Eduard Hitschmann.
Eine sechzehnjährige Kranke, dio ich mehrmals im Gespräch und durch
die Angaben ihrer Mutter kennen lernte, verriet — ohne längere Analyse —
eklatant das von Freud herausgehobene und psychoanalytisch gedeutete Bild^)
der „Befürchtung, es könnte der Mutter etwas geschehen" und gleichzeitig
Andeutungen von Todeswtinschen auf die Mutter (aus deren mißlungener Ver-
drängung eben die neurotische Befürchtung entspringt).
Der Backfisch Trude zeigt seit fünf bis sechs Jahren wechselnd heftige
Angst davor, ohne die Mutter zu Hause bleiben zu müssen, ohne die Mutter
in Unterrichtsstunden zu gehen u. dgl. Vor den Ausgängen der Mutter, der
die Tochter sichtlich üb er zärtlich zugetan ist, äußert sie oft unter Tränen
große Angst, „der Mutter könnte etwas passieren, sie könnte sterben, ver-
unglücken oder überfahren werden". Die Mutter wird gebeten, zu Hause zu
bleiben, und verzichtet (nicht zu energischer Strenge veranlagt) oft tatsächlich
auf Theaterbesuch oder dgl. Auch wird die Mutter vor dem Abschied dringend
gebeten, „der Tochter alles Böse, was sie gegen die Mutter gedacht, gesagt
oder getan, noch rasch zu verzeihen". Ganz ähnlich benimmt sich das kleine
Fräulein, wenn es zu Bette geht : Von einem pedantischen Zurechtlegen der
Kleider abgesehen („um wenigstens zu dieser Stunde gehorsam zu sein") — ,
muß auch abends die Mutter Verzeihung geben, und die Tochter gibt erst
Buhe und geht erst zur Ruhe, wenn sie nochmals Licht angezündet und der
Mutter Antlitz nochmals gesehen hat.
Was der Mutter höchst sonderbar bei einem so zärtlichen Kinde er-
scheint, sind dessen oft geäußerte Bosheiten. Z. B. stößt sie wie von ungeföhr
an die Mutter mit dem Ellbogen und sagt entschuldigend : „Ich glaube,
ich habe jetzt an dich stoßen wollen." Oder sie gesteht: „Der Kuckuck soll
dich holen I** habe ich jetzt gedacht. — Auf der Straße fährt ein Automobil
rasch an beiden Spaziergängerinnen vorüber ; darauf sagt Trude : ^Mama, ich
glaube, ich habe dich jetzt unter das Auto werfen wollen, damit es dich über-
föhrt!" Oft fragt auch die Patientin: „Bist du mir noch böse für das, was
ich gesagt oder getan habe?"
Die Patientin, die schlecht einschläft, an nervösem Harndrang und an
Höhenangst, mit den Impulsen herunterzuspringen, leidet, wurde vor einem
Jahre beim Onanieren ertappt und verwarnt.
Die Mutter, die übrigens an Platzangst litt, macht sich Vorwürfe, das
früher allzulebhafte, unter manchem Konflikt herangezogene Töchterchen nicht
energischer von sich abgelöst zu haben und vermutet, daß der einmal im Zorn
gefallene Satz : „Trude, du bringst mich noch ins Grab !" den Schaden ange-
richtet haben könnte. Es lag, da der Vater des Mädchens (der an Bergangst
leidet) im feindlichen Ausland eine Zeitlang verschollen war, jetzt interniert
^) Vgl. „Die Traumdeutung", 2. Aufl., S. 183, femer Rank, „Das Inzestmotiv ",
S. 490.
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106 Mitteilungen.
festgehalten wird, für den Arzt nahe, die Gegenprobe zu machen, ob denn
das Kind für den wirklich lebensgefährdeten Vater ähnliche Zwangsbefürchtung
habe. Aber sie wies die Frage rasch verneinend ab; „dati dem Vater etwas
passiere, könne sie gar nicht ausdenken". Auch die Träume der Patientin
beschäftigen sich sehr oft mehr oder weniger verhüllt mit dem Tode der
Mutter. So sieht sie im Traume eine rumänisch sprechende*) Dame mit ihrem
Knaben (d. i. das Brüderchen) „sich vom Dache stürzen oder fallen*^. Ein
andermal ist es eine andere, ältere Dame, die gestorben ist, und „die Tochter
hat sich gar nicht darüber gekränkt". — Daß auch das Brüderchen sterben
soll, mit dem die Schwester sich nicht verträgt, ist dem, der sich mit Träumen
befaßt, nichts Auffallendes.
Die Zwangsbefürchtung vom Tode des gleichgeschlechtlichen Elternteiles
wird in späteren Stadien oft auf beide Eltern ausgedehnt und so wird die
Psychogenese in unbewußter Absicht verhüllt; noch mehr, wenn die bösen
Wünsche weiter verallgemeinert werden.
Der Todeswunsch auf den gleichgeschlechtlichen Eltemteil bildet den
Kern der im Kindesalter entspringenden Zwangsneurose und bildet den Haupt-
grund für das Schuldbewußtsein und das Sühnebedürfnis der kleinen Zwangs-
neurotiker. Die Ödipuseinstellung, der Komplex der sexualen Schuld (Onanie),
die sadistische Triebanlage und der anale Trotz wirken zusammen, um die
unselige Konstellation zu erzeugen, aus der die das Leben verbitternde Zwangs-
neurose entspringt. Unsere Kranke ist überdies mit Disposition zu neurotischer
Angst belastet. Es mag auch erwähnenswert sein, daß in derselben weiteren
Familie eine Tochter mit ihrer Mutter in offenem Haß lebt, so daß sie nicht
eine und dieselbe Wohnung teilen können.
Zur oft schwierigen Differentialdiagnose sei erwähnt, daß ein mit Angst
rationalisiertes „Abhalten der Mutter vom Ausgehen" von Freud bei einer
Hysterika beobachtet wurde, die von der Liäson ihrer Mutter wußte und die-
selbe nur vom Rendezvous abhalten wollte, ohne ihr Mitwissen zu verraten.
Hingegen ist die nicht seltene angsthysterische, übermäßige Befürchtung
des Todes des Kindes oder des Gatten insofern hierher gehörig, als auch dort
der Aus-dem-Weg-Räumungswunsch im Unbewußten der Angst diesen Inhalt
gibt. — Der Wunsch von Jemandes Tod ist von der übergroßen Angst
vor desselben Tod nur durch den Affekt, nicht durch das Thema oder das
Objekt verschieden. Beide Phantasien zeigen ein Sichbefassen mit derselben
Person, sei es hetero- oder homosexuell. Überzärtlichkeit und Haß stehen ein-
ander ganz nahe ; erstere ist die Reaktionsbildung auf den letzteren, der längst
unbewußt geworden ist.
Beobachtung infantiler Sexualäußerungen.
Von Dr. Ed. Weiß (Wien).«)
I. „Der 2^2 jährige Willy schläft im Zimmer seiner Mutter. Eines Abends,
nachdem diese sich ins Bett gelegt hat, fragt er sie: »Mutter, was habe ich
in der Hand?' ,Was hast du denn?* ,Den Pipi' (Penis)!"
*) Der Wohnort ist Bukarest.
*) Diese (unter Anführungszeichen zitierte) Beobachtungen wurden vor längerer
Zeit von Kollegen Weiß, der zurzeit im Felde steht, in der „Wiener psychoanaly-
tischen Vereinigung" mitgeteilt. Den Kommentar hat die Redaktion nach den damals in
der Diskussion geäußerten Meinungen verschiedener Redner hinzugefügt.
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Dr. Ed. Weiß: Beobachtang infantiler Sexualäaßerungen. 107
In diesem Spiele ist wohl deutlich ein sexueller Verführungsversuch der
Mutter von selten des kleinen Willy zu erblicken. Derartige Verführungsversuche
in infantiler Form sind bei Kindern nichts Seltenes, nur sind sie nicht immer
so deutlich und ihrem eigentlichen Sinne nach zu erkennen.
II. „Der kleine Willy macht sich oft, sowohl bei Tag als auch nachts
naß, worauf er von der Mutter ausgezankt wird, die ihm manchmal mit dem
Abschneiden des Pipis droht. Als ihm eines Tages abermals dieses Malheur
passierte, sagte sie ihm, er dürfe ihr den ganzen Tag nicht vor die Augen
treten. Kurz darauf dachte sie gar nicht mehr daran und ging in den Garten.
Da begegnete sie dem kleinen Willy, der ihr freudig entgegeneilte mit den
Worten : , Weißt du, Mutter, ich habe keinen Pipi mehr. Ich habe ihn mir
weggeschnitten und ihn der Köchin gegeben. Sie hat gerade Nockerl gemacht
und hat den Pipi dazugegeben. Wir werden ihn heute beim Nachtmahl mit
den Nockerln essen.* Er war tatsächlich in der Küche gewesen, hatte in die
Gegend des Penis gegriffen und mit der Hand die Bewegung gemacht, als ob
er den Penis in den Topf werfen würde."
Diese Beobachtung verdient nach mehreren Richtungen gewürdigt zu
werden. Vor allem zeigt sie einen hochbedeutsamen, in den Analysen der
Erwachsenen regelmäßig vorkommenden, aber stark verdrängten und von den
Patienten wie auch von wenig geübten Analytikern schwer akzeptablen Komplex
in seiner unmittelbaren Entstehung und Wirkung am lebenden Objekt, und
zwar in einer so frühen Zeit, daß soziale oder kulturelle Wertungen, wie man
sie derartigen Regungen unterlegen wollte, ausgeschlossen erscheinen. Neben
dem leicht verständlichen Sträuben und Abwehren der Kastrationsdrohung —
also dem wirklichen „männlichen Protest*^ — beherrscht die Patienten in
ihrer ambivalenten Einstellung zum „väterlichen" Arzt auch eine „weibliche"
oder besser homosexuell zu nennende Bereitschaft zur Kastration,
aus der sich ein tiefreichender Auteil des Übertragungs- resp. Widerstands-
verhältnisses herleitet. Diese Neigung verrät nun der kleine 272jährige Knabe
der zürnenden Mutter gegenüber, der zuliebe er auf seine Männlichkeit ver-
zichten will, indem er die Kastration nicht nur akzeptiert, sondern auch selbst
(in der Phantasie) ausführt. Dieses primitive „Opfer'' hat hier mehr den Sinn
einer Strafe, deren sich der kleine Verführer wegen seiner Gelüste auf die
Mutter schuldig fühlt, welche er sich auf diese Weise wieder zu versöhnen
hoflft, indem er gleichsam die Hauptursache für das gestörte Verhältnis zur
Mutter beseitigt.
Ebenso typisch wie die Kastrationsbereitschaft selbst sind die Züge, mit
denen sie ausgestattet ist. Daß er sein Pipi der Köchin zu den „anderen"
Nockerln dazugibt, verrät die Identifizierung des in unseren Gegenden auch
»Nockerl" genannten Gliedes mit der Speise, damit aber den typischen Kom-
pensationswunsch, für das verlorene Glied reichlichen Ersatz zu schaffen. Die
damit scheinbar zureichend motivierte Phantasie, das Glied zu essen, die an
das mythische Motiv der „Thyestesmahlzeit" erinnert (Zerstückelung = Kastra-
tion), entspricht in ihrer Rückkehr zur primitiven „oralen Phase der Sexual-
organisation" (siehe Freud: Die Abhandlungen zur Sexualtheorie, 3. Aufl.,
S. 60) einem regressiven Lustersatz für die durch Annahme der Kastration
dem Verzicht anheimfallende Genitalsexualität. Selbst dem unscheinbaren
Detail vom Werfen in den Topf scheint der typische Charakter nicht zu man-
geln, da in einer von Freud gelegentlich mitgeteilten Kindheitserinnerung, ^)
die ihm von einem normalen Erwachsenen zur Verfügung gestellt wurde, auch
') „Ober fausse reconnaissance" etc. Diese „Zeitschrift", IL Jahrg. 1914, S. 5.
.. f^^r^^.^fu Original from
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1 08 Mitteilungen .
die Strafphantasie von dem abgeschlagenen und in den Wasserkübel gefallenen „klei-
nen Finger" vorkommt. Der Betreffende war lange tiberzeugt, daß er den Finger ver-
loren habe; » vermutlich — wie er meint — bis in die Zeit, wo ich das Zählen lernte *".
Auch dieses die Kastrationsangst begleitende W i r k 1 i c h k e i t s g e f ü h 1, das der
kleine Willy in der naiven Mitteilung verrät: „Ich habe keinen Penis mehr",
scheint nach einem anderen im selben Zusammenhang mitgeteilten Fall (1. c.
S. 4) nicht zufällig und Freud bemerkt dort ausdrticklich, ,,dafi solche
halluzinatorische Täuschungen gerade im Gefüge des Kastrationskomplexes
nicht vereinzelt sind und daß sie ebensowohl zur Korrektur unerwünschter
Wahrnehmungen dienen können^. So „halluziniert^ der Knabe oft lange Zeit,
trotz des gegenteiligen Augenscheines, beim Mädchen einen Penis, weil er an
die Möglichkeit der Kastration nicht glauben will. Hat er aber einmal die
Überzeugung gewonnen, daß es wirklich „Menschen ohne Penis" gebe, dann
überträgt sich diese Überzeugung in Form des Wirklichkeitsgefühles auf die
Kastrationsangst. Beim kleinen Willy, wo der ganze Komplex noch mit posi-
tivem Vorzeichen erscheint (Kastrationsbereitschaft), fehlt die Angst und das
sie rechtfertigende Wirklichkeitsgefühl in seiner charakteristischen Ausprägung.
III. „Täglich, bevor der kleine Willy mit dem Kindermädchen spazieren
geht, muß er in das Töpfchen urinieren, was zu tun er sich immer weigert.
Die Mutter bringt ihn aber doch schließlich dazu, worauf er sich recht ärgert
und verlangt, man solle ihm den Urin wieder zurückgießen. Die Mutter muß
hierauf das Töpfchen so neigen, als ob sie ihm den Urin in den Pipi zurück-
gießen würde, worauf der kleine Willy ganz befriedigt und guter Dinge mit
dem Mädchen fortgeht."
Diese fast neurotisch zu nennende Eigenheit des Kleinen ist sicherlich
vielfach determiniert und ohne weiteres Material nur in den typischen Grund-
zügen durchsichtig, die sich in den beiden ersten Beobachtungen bereits offenbart
haben. Zunächst ist es ein in unverfänglicherer Form und mit besseren Mitteln
unternommener „ Verführungsversuch ^, wenn der Knabe die Mutter täglich aufs
neue nötigt, sich mit seinem Genitale zu beschäftigen, wie er es in der ersten
Beobachtung abends im Bette vergeblich versucht. Sodann zeigt die den
„zweizeitigen Charakter" der Zwangshandlung präludierende Marotte des Klei-
nen einen Trotz und eine Auflehnung gegen die Wünsche und Gebote der
Mutter, die in auffälligem Widerspruch zu seiner oben geschilderten Kastra-
tionsbereitschaft stehen. Wir werden so aufmerksam, daß sich bei ihm bereits
die Reaktion darauf vorbereitet, und zwar in Form des Sträubens gegen ein
Verlangen der Mutter, und werden darin noch bestärkt, wenn wir erinnern,
daß ihm ja die Kastration gerade wegen unzeitgemäßen Urinierens von der
Mutter angedroht worden war. Er übt also hier trotzige Revanche dafür,
indem er gleichsam sagt: Wenn ich urinieren will, weil es mir Lust macht,
verbietet es mir die Mutter mit der Drohung, das Pipi wegzunehmen ; wenn d i e
Mutter will, daß ich uriniere, dann macht es mir kein Vergnügen; außer
— wie die Übersetzung weiter lautet — die Mutter beschäftigt sich mit meinem
Pipi und gibt mir das widerwillig Hergegebene zurück, indem sie mich so
versichert, daß mir dabei nichts verloren gehen wird. Der Umstand, daß es
sich auch hier um etwas handelt, was in den Topf hineingetan wird, scheint
die Beziehung auf das in der zweiten Beobachtung willig Hergegebene (das
Pipi) herzustellen.
Der Kleine läßt somit in dieser dritten Beobachtung die von ihm der
Mutter sozusagen dargebrachte Kastration von ihr selbst ablehnen, indem er
sie zwingt, mit dem Zurückgießen des Urins gewissermaßen auch ihre auf das
Urinieren bezügliche Drohung zurückzunehmen. Dann erst ist er, im sicheren
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Siegfried Bernfeld: Zur Psychologie der Lektüre. 109
Besitz seines Penis, befriedigt und guter Dinge, während er sich vorher sträubt
zu urinieren in der Befürchtung, die Mutter könnte diesmal mit der Drohung
ernst machen. Es ist übrigens bemerkenswert, daß ähnliche Störungen der
Miktion beim Erwachsenen eine ähnliche auf den Kastrationskomplex bezüg-
liche Ätiologie verraten.
4.
Zur Psychologie der Lektüre.
Von Siegfried Bernfeld (Wien).
Dieser kleine Aufsatz enthält einige Bruchstücke aus der Analyse, die
an einem psychologisch interessierten, gesunden Studenten von zirka 20 Jahren
zu wissenschaftlichen Zwecken vorgenommen wurde. Sie dürften rein als Tat-
sachen aus dem Seelenleben der Jugend nicht uninteressant sein, unabhängig
von den Zusammenhängen und Verallgemeinerungen, die naheliegen.
T. leidet an ständiger Stuhlverstopfung und kann sich zu einer ärztlich
vorgeschlagenen Diät nie für länger als einige Tage entschließen, trotzdem sich ihm
aus seinem Zustand allerhand lästige und schmerzliche Folgen ergeben. Wäh-
rend der Analyse dieses Punktes, sagte er, er hätte vor einigen Tagen die
sonderbare Bemerkung gemacht, daß er bei besonders schwerem Stuhlgange
zu einem Zeitungsblatt greife und daß ihn die mechanische Lektüre dieses
Blattes merklich erleichtere und befördere. Er erinnert sich sofort, daß er
mit zirka 10 bis 11 Jahren eifrig „in jener Verschwiegenheit*' Karl May ge-
lesen habe. Er sei damals regelmäßig nach Tisch mit seinem Buche ver-
schwunden und sei „sehr lange draußen geblieben". Er habe es sich aber seit-
dem abgewöhnt und gehe niemals mehr mit einem Buche hinaus ; „ich würde
mich schämen**. Er erinnert: In der damaligen Wohnung, im 11. bis
13. Jahre, sei das W. C. unmittelbar neben der Küche gewesen und er hätte
sich vor den Dienstmädchen geschämt, daß er so lange draußen blieb. Denn
sie sahen ihn immer mit dem Buche unter dem Arm hineingehen. Er hätte
auch bemerkt, wie sie einmal seinen Vater auslachten, der auch immer mit seiner
Zeitung „eine Stunde draußen blieb** I Diese Aussagen wurden im Verlauf
weiterer Angaben ergänzt und korrigiert. Er las jahrelang am W. C. un-
mittelbar nach Tisch vor dem Lernen. Die Begründung dafür ergab sich drei-
schichtig. Zu Oberst : dies war fast die einzige freie Zeit, die ihm dafür
blieb. Eine Zeitlang z. B. war ihm das Lesen wegen schlechter Schulerfolge
bei Tag überhaupt verboten gewesen, dafür war ihm eine Stunde abends bewilligt
worden. Ihm war aber nach und nach eine Leseleidenschaft gekommen, so
daß er jede Minute ausnützte. In der nächsten Schicht gestand er, „aus Furcht
vor Unfug" gelesen zu haben. Er masturbierte um diese Zeit fast täglich und
konnte sich dagegen nicht anders helfen, als durch Lektüre; außerdem ma-
sturbierte er nur beim Baden und in einer Laube im hintersten Teil des
Gartens. (Diese wurde später sein Lieblingsleseplatz.) Gegen das Baden ent-
wickelte sich ihm eine intensive Abneigung. Auch dabei las er oft. Übrigens,
so wie ihm das Lesen ganz allgemein als Abwehr gegen Masturbation diente,
so war es ihm oft genug ein Anreiz dazu. Zuweilen nahm er illustrierte
Bücher mit sich, von denen er wußte, daß sie ihn zu Orgien führen würden.
Manchmal redete er sich aus, er müsse lernen, Versuchungen zu widerstehen,
was aber natürlich nie gelang. Zuweilen masturbierte er, um sich zu erleichtern,
weil ihn der Drang am konzentrierten Lesen hindere. Als dritte Schicht ergaben
sich Mitteilungen über analerotische Betätigungen, in einem Maße, das für
dieses Alter (11 bis 13 Jahre) ungewöhnlich ist.
Goo
,f,^ Original from
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Ili) Mitteilungen.
Id der Zeit vom 10. bis zam 15. Lebensjahr nahm Lektüre überhaupt
im Leben des T. einen besonderen Platz ein. Im 16. Jahr schreibt er in
sein Tagebuch : ,, Endlich bin ich auf dem Standpunkt angekommen, daß mir
das Lesen nicht mehr als das Wichtigste erscheint. Zwar habe ich schon seit
mehreren Monaten die Einsicht, daß es nicht das allein Wichtige ist. Seit
neuester Zeit scheint mir aber das Spazierengehen, Denken und — Selbst-
betätigen als das Wichtigste und das Lesen geht nur so nebenbei." Tatsäch-
lich war ihm das Lesen bis dahin ein heiliger Vorgang gewesen. In seinen
Tagebüchern ist auf diese oder jene Weise ständig davon die Rede. Besonders
bemüht er sich um die Methodik des Lesens (bis in die Universitätszeit
hinein). Noch im 17. Jahr schreibt er ins Tagebuch: „Meine Methode des
Lesens ist falsch. Sie geht zwar von der richtigen Beobachtung aus, daß man
nicht zu viel von einer Sache vertragen könne, ohne zu ermüden, ist aber
doch falsch. Jetzt lese ich so, daß ich oft mehr als ein halbes Dutzend
Bücher täglich lese; jedes zehn Minuten oder eine Viertelstunde lang . . ."(!)
Er führt sorgfältige Listen über seine Lektüre und vermag stundenlang von
seiner gegenwärtigen und zukünftigen Lektüre zu sprechen und zu träumen.
Dabei klagt er ständig über seine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, und sein
schlechtes Gedächtnis. Das viele Lesen taugt ihm nichts, er merkt sich nichts und
ist während des Lesens nie ganz dabei. (Auch dies ist ihm bis ins 20. Jahr ge-
blieben.) Er klagt, daß er während des Lesens ständig „falschen Stuhldrang' hätte.
Mit Vorliebe las er Kataloge aller Art und den Annoncenteil der Zeitungen und
Zeitschriften. Darüber gingen ihm halbe Nachmittage hin. Er löst dies sofort durch
den Einfall, daß dies die Annoncen des Zeitungspapiers im W. C. seien. Früher
hatte er Kataloge, Zeitschriften, Prospekte usw. leidenschaftlich gesammelt
Als während der Analyse von den Zeitschriften die Rede war, hatte T.
den „merkwürdigen" Eindruck eines Päckchens geschnittenen und geordneten
Zeitungspapiers, in dem er mit den Fingern blätterte. Und plötzlich, mit hef-
tiger Affektentladung, erzählt er, die Worte überstürzend, es seien ihm die
zwei Bibliotheksbeamten in der Universität eingefallen, die bei der Bücher-
rückgabe in den Entleihscheinen mit den Fingern blätterten, und daß er sich
oft gedacht hatte, er möchte Bibliothekar werden ; daß er diesen Beruf aber doch
verachte wegen des Staubes und des Schmutzes an den Fingern. Er hätte,
was er über das ,^stille Gelehrtenleben der Bibliothekars" fühle, einmal sehr
gut ausgedrückt. Nach einigen Tagen brachte er das Blatt, ein Stück eines
Reisetagebuches, und sagte, es sei ihm etwas Merkwürdiges passiert : erstlich
sei die Stelle nicht dort gewesen, wo er sie erinnert hätte, und zweitens sei
es viel weniger, als er geglaubt hätte. Die Stelle lautete : „ . . . . und in
einer Stimmung, wie die jetzige ist, dachte ich mich gern in die Rolle eines
Museumskustos; es hat dies so etwas Idyllisches. Man kann sich einen Men-
schen dieser Art sehr gut denken, der ohne Frauen, ohne einen bewußten
Gedanken an Frauen lebt. Und dieses Empfinden ist es, das mich mit
halber Seele zum Gelehrtentum drängt . . ," Noch charakteristischer wird
dieser Satz, wenn wir ihn an jene StsUe setzen, an der ihn T. erinnerte.
Dort heißt es (im gleichen Tagebuch, eine Seite weiter): „. . . Durch das
Türkenviertel im Kastell. Merkwürdige und vielleicht auch ernst zu nehmende
Vermutungen über Wunderlichkeiten des türkischen Geschlechtslebens, aus
denen sich dann leicht viele Merkwürdigkeiten des Hausbaues, der Klei-
dung, mancher Sitten, ja, die äußere Form der Moscheen und der Teppich-
omameutik erklären lassen. Etwas paradox und symbolistisch ausgedrückt,
würde es lauten: Der Türke (Orientale) verstößt gegen das oberste Gesetz
der Kultur, die Monogamie und schämt sich seiner vielen Weiber . . .".
.. f^^r^^.^fu Original from
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Dr. von Hug-HeUmath : Ein Fall von weiblichem Fuß-, richtiger Stiefelfetischismus. J 1 1
Um die BeziehnngeD zwischen Mastorbation, Analerotik und Lektüre
bei T. noch deutlicher zu machen und anzudeuten, wie ihre spezielle Me-
chanik sein dürfte, füge ich noch an, daß T. auch jetzt noch merkwürdige
Lesegewohnheiten besitzt und in noch größerem Maße besaß. Kein geringer
Teil seiner Energie wurde auf ihre Bekämpfung verwandt. Wenn man bei
ihm zwar kaum dabei von Zwangshandlungen sprechen kann, so haben sie
doch allgemeine Gültigkeit für ihn. Er liest fast ausnahmslos sitzend. Gegen
das Lesen, liegend, im Bett, hat er fast physischen Abscheu, wenn er es bei
anderen sieht. Er selbst tut es zuweilen, aber nicht gern. Ist er zu irgend
einer Lektüre gezwungen, so zieht er das „Einlesen'' lange hinaus, indem er
in solchen Fällen den Annoncenteil von Zeitschriften liest usw. Er kopiert so-
zusagen die W. C. -Besuche vor dem verhaßten Lernen. Im übrigen hat er
die Gewohnheit, die er verabscheut, und deren er sich ständig schämt, wäh-
rend des Lesens in der Nase oder den Ohren zu bohren, oder doch wenig-
stens den Zeigefinger der rechten Hand im linken Handteller zu reiben. Als
Abwehrstellung verwendet er das Halten des Buches mit beiden Händen. Bis
in sein 16. Lebensjahr kam es ihm vor, daß er während des Lesens, inten-
sivem Aufmerken, mit dem Glied spielte; auch zu Exhibitionen kam es.
Vor Psychanalytikem diesen Tatsachen noch lange Erörterungen hin-
zuzufügen, ist wohl überflüssig. Zusammenfassend möchte ich bemerken :
Schwerlich können wir vermuten, daß T.'s Interesse am Lesen als solches von
seinem Sexualleben bedingt ist, wohl aber ist es deutlich genug, daß ein Teil
der ungewöhnlichen Intensität, der hohen Einschätzung, die es erfährt, femer
alle Widersprüche in seinem Verhalten (z. B. Vergeßlichkeit) und alle merk-
würdigen Lesegewohnheiten von den Affekten seiner Analwünsche und seiner
autoerotischeu Tendenzen und den Verdrängungstendenzen beiden gegenüber
herrühren.
Zur näheren Aufklärung dieser und vieler ähnlicher Fragen, die dem
Psychologen und Pädagogen ebenso wichtig sind wie dem Arzte, wäre nötig,
daß die analysierenden Ärzte die Ergebnisse ihrer Analysen in diesen Punkten
ausführlicher publizierten oder vielleicht auch erweiterten. Denn hier herrscht
solche Unkenntnis unter den „ Fachleuten '', daß allein schon die Publikation
von Tatsachen, die jeder „weiß", aber keiner sagt, und also keiner berück-
sichtigt, von höchstem Werte wäre. Dem Pädagogen und Psychologen wäre
von einiger Wichtigkeit z. B. Erschöpfendes auch über die Morphologie der
Lesegewohnheiten ^) zu erfahren. Darüber und über Ähnliches Auskunft zu
geben, ist der Psychanalytiker geeigneter als irgend einer.
5.
Ein Fall von weiblichem Faß-, richtiger StiefeUetischismns.
Von Dr. H. von Hug-Hellmuth (Wien).
Der Umstand, daß die bisher in der Literatur beschriebenen Fälle von
Fußfetischismus sich durchwegs auf Männer beziehen, veranlaßt mich, einen
wenn auch nicht analysierten Fall einer Stiefelfetischistin zu berichten. Ob-
wohl er nahezu zwölf Jahre zurückliegt, blieb er mir gut in Erinnerung, weil
er im Freundeskreis oft besprochen wurde, ohne daß man sich freilich der
wahren Bedeutung dieser ^Marotte" bewußt wurde.
*) Interessante Notizen sind soeben in der „Zeitschrift flir Bücherfreunde**
(Schüddekopf-Witkowski), VI, Heft 8, in „Idiergasten" von Heinrich Klenz erschienen.
.. f^^r^^.^fu Original from
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112 Mitteilungen.
Es handelt sich am eine damals ungefähr 30jährige Frao, deren Gatte,
ein Generalstabsoberst, sich nach einer zwei- oder dreijährigen Ehe erschoß;
wie behauptet wurde, aus Enttäuschung und Unbefriedigtheit derselben. Die
Dame stammte aus einer hochangesehenen Generalsfamilie; als die jüngste
von drei Töchtern galt sie von frühester Kindheit an als erklärter Liebling
ihres Vaters. Auch sie hing leidenschaftlich an ihm und war stolz, mit ihm
in den Strafien der Garnison, in der er erst als Oberst, dann als General der
Erste und Vornehmste war, zu gehen. Eine besondere Schwärmerei aber zeigte
sie schon von friih auf ftlr die hohen glänzenden Reitstiefel ihres Vaters.
Ihr sehnlichster Wunsch, wenigstens im Winter solche tragen zu dürfen, wurde
zu ihrem zehnten Geburtstag erfüllt. Später interessierte sie sich lebhaft für
militärische Übungen, und war im Militärschematismus besser orientiert als
mancher Offizier. Schon als halbflügges Mädchen umwarben sie die Offiziere
der Garnison mit Bewunderung und Schmeichelei, was sie mit viel Koketterie,
aber ofifensichtlich ohne inneren Anteil hinnahm. Nur für Fensterpromenaden
zu Pferd war sie sehr empfänglich, weil „ein Mann zu Pferd mit den hohen
Stiefeln doch eigentlich erst ein echterMann sei'^. Zahlreiche Heirate
antrage schlug sie aus, bis sie sich mit etwa zwanzig Jahren mit einem um
dreißig Jahre älteren Oberstleutnant verlobte. Auf die Vorstellungen ihrer
Familie, der Mann sei zu alt für sie, hatte sie immer nur die eine Erwi-
derung : „Ja, ja, wenn er nicht so entzückende Füße (nämlich hohe Reit-
stiefel) hätte!" Der Bräutigam, dem die Schwärmerei seiner Braut nicht un-
bekannt blieb, schenkte ihr zu Weihnachten einen Briefbeschwerer aus OnjTi
mit einem Paar Miniatur-Reitstiefel, ohne freilich als stark sadistische Natur
zu vergessen, eine zierliche Reitpeitsche aus Silber davor zu legen. Jetzt erst
verliebte sie sich wie toll in den Geber. Trotz des Widerstands ihrer Fa-
milie setzte sie es durch, daß zur Hochzeit gerüstet wurde. Glücklicherweise
starb der Oberstleutnant vor der Hoclizeit. Als Andenken an ihn bewahrte
das Mädchen den Briefbeschwerer und ein Paar Handschuhe auf, da sie^ wie
sie selber oft sagte, doch unmöglich seine entzückenden Stiefel von seiner
Mutter sich habe ausbitten können.
Nach mancherlei Flirt mit anderen berittenen Offizieren kam, als
sie bereits 27 Jahre zählte, ein Generalstabsoberst in die Stadt, in welcher
der mittlerweile in den Ruhestand getretene General mit seiner Familie lebte.
Der erste Anblick des Obersten zu Pferd mit hohen Reitstiefeln war ent-
scheidend. Trotz seiner auffallenden Häßlichkeit, die durch einen mangelhaften
Bartwuchs noch erhöht wurde, war er für das Mädchen die Verkörperung
ihres Ideals. ,,Ich bin sterblich verliebt in die entzückendsten Reitstiefel, die
ich je gesehen", berichtet sie voll Aufregung ihrer Freundin. Hinterdrein kam
das Geständnis, sie wisse gar nicht, wie der Reiter eigentlich aussähe, sie
habe nur seine Füße angesehen; „der Mensch ist sein Fuß*' und „einem
Menschen, der schöne Füße ^) hat, dem kann man sich ruhig anvertrauen^,
waren so ungefähr ihre Leitworte in der Liebe. Oft äußerte sie sich zu ihrer
Freundin : „Denke dir nur einen Zivilisten mit den niedrigen, verhatschten
Schuhen, ist denn das ein Mann? Vor Reitstiefeln kann man zittern und zu-
gleich muß man sie lieben.^
Drei Monate nach der ersten Begegnung fand die Hochzeit statt. Die
Ehe war unglücklich; es entsprossen ihr zwar zwei Knaben, doch die Frau
ertrug den Sexualakt nur widerwillig und empfand ihn als „ekelhaft und ent-
^) Der Ausdruck Fuß ist, wie später erörtert wird, stets durch Stiefel za
•rsetzen.
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Dr. von Hug- Hellmuth : Ein Fall von weiblichem Fuß-, richtiger StiefelfetischismuF. 113
würdigend"' ; nur die Vorstellung glänzender Röhrenstiefel konnte sie zum
Genuß bringen. , Heirate nicht," riet sie ihrer Freundin, ,.ein Mann mit
nackten Füßen ist ein Scheusal." Schon als Mädchen äußerte sie diesen Ekel
wiederholt, wenn sie von ihrer Familie wegen ihrer Schwärmerei für schöne
Männerfüße geneckt wurde. „Ja, im Sc hu h'*, war ihre stete Antwort, „aber
bloß (nackt) ist ein Männerfuß ekelhaft. Wenn ich mir nur die großen Zehe
vorstelle, graust es mir schon ; und die Nägel, die immer verkrüppelt sind,
und die kleine Zehe, die nie wachsen kann ! Das ist ein greulicher Anblick ! "
Einem jungen Offizier, den sie um des genannten Reizes willen bevor-
zugte, gab sie als Zwanzigjährige plötzlich den Abschied, weil sie, als er neben
ihr saß, bemerkte, wie er die Zehen im Schuh bewegte. Die Bewerbung eines
andern lehnte sie ab, weil er „durchgedrückte Zehenballen" hatte. In einem
dritten Falle endlich überließ sie die Entscheidung, ob sie die vom Vater
gerügten Beziehungen zu einem stark verschuldeten Kavallerieoffizier lösen
oder fortsetzen sollte, dem Umstände, ob der junge Offizier in hohen Reit-
stiefeln oder in niedrigen Zivilstiefletten zum Stelldichein käme. Zu erwähnen
ist schließlich noch, daß die Dame mit 17 oder 18 Jahren aus dem gleichen
Grunde, freilich ganz platonisch, in den Offiziersburschen ihres Vaters heftig
verliebt war, ein andermal in einen Unteroffizier der Arcieren-Reitgarde. Von
ihren Schwestern und ihrer Freundin mit Vorwürfen überschüttet, rechtfertigte
sie sich mit den Worten: „Wo denkt ihr denn hin? Der Mensch ist mir
doch ganz gleichgültig : was mir rasend gefällt, sind seine Füße ; das wird
doch erlaubt sein?" Und als der Gardist ihre Bewunderung falsch auffaßte
und zudringlich wurde, äußerte sie entrüstet: „Dieser Tropf! Er glaubt, ich
sehe ihn an, anstatt seine göttlichen Füße. Eine solche Einbildung ist un-
erhört!"
Die Stiefel sollten womöglich glänzend neu sein, die Ballen durften
nicht durchgedrückt erscheinen und es durften kein Abdruck der Zehen und
keine Falten in den Fesseln zu sehen sein. Stiefel mit Juchtenschaft liebte
sie um des Geruches willen.
Auf ihre eigene Beschuhung legte sie viel Wert, ohne aber in ihre
sehr schön geformten Füße oder in ihre Schuhe verliebt zu sein (mit Aus-
nahme jener hohen Stiefelchen, die sie zu ihrem 10. Geburtstag erhalten
hatte). Auch für ihre Person liebte sie Halbschuhe wenig, sondern zog mög-
lichst hoch hinaufreichende Stiefletten — „wegen des strammen Aussehens und
des angenehmen Gefühls des Eingeschnürtseins" — vor. Gegen Wadenstutzen,
Ledergamaschen, Sportschuhe usw. hatte sie eine starke Abneigung, weil „da-
durch die Formen unanständig stark hervorträten". Hohe Stiefel bezeichnete
sie als ,, entzückend dezent".
Halten wir diesen Fall mit den zahlreichen bisher bekannten Fällen
von männlichen Fußfetischisten zusammen, so drängen sich gewisse Überein-
stimmungen in Form und Wesen auf, die für die gleiche Ätiologie des Fe-
tischismus beim Weibe wie beim Manne sprechen. Diese Übereinstimmungen
trennen aber auch zugleich den angeführten Fall von der beim weiblichen Ge-
schlecht so häufig vorkommenden Vorliebe für den eigenen Fuß und seine
Bekleidung, was sich stets auf narzißtischen Ursprung zurückführen läßt.
Daß die Generalstochter als zehnjähriges Kind hohe Schaftstiefelchen für ihre
Person wünscht und sich dann in denselben bewundert, geschieht ofi'ensichtlich
weit mehr aus der Identifikation für den geliebten Vater und dem heftigen
Wunsch, ein Knabe zu sein (symbolische Natur des Fußes = penis), als aus
Selbstverliebtheit ; diese setzt vielmehr erst ein, nachdem sich das Kind durch
den Besitz der hohen Stiefelchen dem Vater-Ideal näher gerückt wähnt. Für
Zeit«chT. f. ftrztl. Psjchoanalyse. III/2. ^
r^no'^'-^ Original from
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11^ Mitteilangen.
die Erwachsene sind die hohen Reitstiefel keineswegs bloße Liebesbedingung,
auch nicht nur Sexualsymbol wie die Schuhe, bezw. Absätze in Gerdas Ab-
satzphobie ^) ; sie werden geradezu zum Gegenstand erotischer Gefühle. Ob
das charakteristische Merkmal des Fetischismus — sexuelle Manipulationen
an dem Fetisch — in dem angeführten Fall überhaupt fehlten, oder ob sie
infolge der starken Unterdrückung des Sexualtriebes beim Weibe, zumal
seiner perversen Betätigung, einfach sorgsam verheimlicht wurden, vermag ich
nicht anzugeben. Die ausgesprochen erotische Erregung aber, die »Ver-
zückung", in welche die Dame beim Anblicke ihres Fetisches geriet, ist mir
gut im Gedächtnis geblieben. Femer spricht für den Charakter des echten
Fetischismus der Umstand, daß ihr volles und einziges Interesse an einem
Manne dessen Fußbekleidung galt, daß der Mann sozusagen bloß die unver-
meidliche Staffage zu dem Fetisch war, was sie ja selbst in klaren Worten
ausspricht. Sie verzichtet nicht bloß auf das normale Sexualziel, sondern sie
nimmt zu der Vorstellung ihres Fetisches Zuflucht, um sich die ehelichen
Pflichten erträglich zu machen.
Von besonderer Bedeutung scheint mir das Verhalten dieser Frau so-
wohl vor als nach der Verheiratung gegen den nackten Fuß. Erwägen wir,
daß dem Ekel immer einmal besondere Libido voranging, daß ferner der Fuß
Symbol und Ersatz für den Penis bildet, so ergibt sich ungezwungen der
richtige Zusammenhang. Irgend einmal muß die Aufmerksamkeit des Kinder
auf das männliche, d. h. väterliche Genitale gerichtet gewesen und dann durch
die Sexualeinschüchterung der Erziehung verdrängt worden sein auf einen
minder anstößigen Körperteil, den Fuß. In seiner Rolle als Penisersatz muß
er aber verhüllt sein, und an diese Hülle werden im Interesse der Idealisie-
rung des Objekts ^) besondere Anforderungen, wie glänzende Neuheit (was
vielleicht so viel als Unberührtheit heißen soll), Faltenlosigkeit usw. gestellt.
Aus solchen Beziehuogen verstehen wir denn auch, warum das junge Mäd-
chen hohe Reitstiefel als entzückend dezent bezeichnet. Und nur aus
einer solchen Verdrängung heraus erklärt sich femer, warum das Mädchen auf
ein Bewegen der Zehen mit derartigem Ekel reagiert. Ob und inwieweit bei
ihrem Abscheu vor verkrüppelten Zehen und Nägeln Kastrationsvorstellungen
mitspielen, wage ich nicht zu behaupten. Merkwürdig ist, daß in diesem Falle
sich kein Abscheu vor dem spezifischen Fußgeruch zeigte, daß letzterer über-
haupt im Gegensatz zu anderen Fällen hier fast keine Rolle spielte (außer bei
der Vorliebe für den Juchtengeruch).
Dagegen ist das masochistische Moment in diesem Fall von Schuhfeti-
schismus klar ausgesprochen: „Vor Reitstiefeln kann man zittem und man
muß sie lieben zugleich." Und wenn das Mädchen ihre hoch hinaufreichenden
Schnürstiefletten so eng zuschnürt, daß sie Striemen davonträgt, so geschieht
das gewiß nicht ohne unbewußte Beziehung zu den hohen Reitstiefeln, die den
Unterschenkel stramm umschließen.
Als eine Überdeterminierung dieses Falles von Fetischismus möchte ich
schließlich noch erwähnen, daß der Vater dieser Dame ein ausgesprochener
Handfetischist war. Ihre Urteile über den Charakter eines Mannes auf Grund
seiner Füße gehen deutlich auf analoge Äußerungen des Generals über die
Beziehung zwischen Charakter und Handbildung zurück.
^) Binswanger, Analyse einer hysterischen Phobie.
^ Vgl. Abraham, Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und EorsettfetiBcbisHNU.
Jahrb. m. Bd., 1911.
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Marcinowski : Eine kleine Krie^sneurose. IIb
6.
Eine kleine Kriegsneurose.
Mitgeteilt von Dr. Marcinowski, z. Z. Kriegslazarett des 9. Res. A. K.
Etapp. Insp. der ersten Armee.
Eine kleine Kriegsneurose im feindlichen Lager wird die Kollegen der
Psychoanalyse interessieren können. Bat mich da kürzlich ein bildhübsches
Franzosenmädel um eine Beratung. Sie gehörte zu einer Flüchtlingsfamilie, wie
ich hier in meinem Bezirk in Nordfrankreich an 1600 zu beobachten habe.
Die Leute waren vor vielleicht einem Vierteljahr aus der Schlachtlinie und
ihrem zerstörten Wohnhause geflohen und hier untergebracht worden. Das
Bombardement des Ortes, — so erzählte mir das 21jährige Mädchen, auf etlichen
Umwegen um den Kernpunkt der Sache herumschleichend — das Bombarde-
ment habe drei volle Tage gedauert und in ihrer Angst und Verzweiflung
habe die ganze Familie, vier Köpfe, den Entschluß gefaßt, sich gemeinsam mit
Hilfe von Kohlenfeuer das Leben zu nehmen. Während des Bombardements
ist sie gerade unwohl gewesen. Deutsche Soldaten hatten sie dann gerettet.
Seitdem aber habe sie keine Regel mehr gehabt und sie fürchte, die Soldaten
könnten ihren Zustand der Betäubung mißbraucht haben. Die Angst davor
triebe sie zu mir. Ja, Verkehr habe sie früher schon einmal mit einem Freunde
gehabt. — Die Untersuchung ergab einen völlig negativen Befund. Diese Ver-
gewaltigung muß ein schöner Traum der kleinen Französin bleiben, den ihr die Phan-
tasie und der Giftrausch und die ganze ungewöhnliche Lage eingebracht hatte.
Mit ihm wäre sie vielleicht ins Nirwana hinübergegangen, hätten die deutschen
Barbaren sie nicht in rauhe Wirklichkeiten zurückgerissen. Sapienti sat.
^
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Kritiken und Referate.
Jahrbuch der Psychoanalyse. Herausgegeben von Prof. Dr. S. Freud,
redigiert von Dr. K. Abraham in Berlin und Dr. E. HitschmaDU
in Wien. Neue Folge des „Jahrbuch für psychoanalytische und psycho-
pathologische Forschungen". VI. Band, Leipzig und Wien 1914, Franz
Deuticke.
Das auf dem ersten psychoanalytischen Kongreß in Salzburg (Frühjahr
1908) ins Leben gerufene „Jahrbuch** liegt nunmehr, nach fün^ährigem Er-
scheinen, in neuer Form vor. Diese Umwandlung war durch verschiedene,
äußere und innere Gründe bedingt. Als eigentlich erstes psychoanalytisches
Periodikum gegründet — die früher eröffnete Reihe der „Schriften zur an-
gewandten Seelenkunde" greift in Form und Inhalt über die Absichten eines
solchen hinaus — wurde es anfangs, unter der Redaktion von C. G. Jung
(Zürich), seiner Aufgabe völlig gerecht, „die fortlaufende Publikation aller
Arbeiten" zu ermöglichen, „die sich in positivem Sinne mit der Vertiefung
und Lösung unserer Probleme beschäftigen" (Vorbemerkung der Redaktion in
Band I, 1909). Das Organ trug jedoch gleich von Anfang an viel eher den
Charakter eines Archivs an sich, über den auch die erste, weil einzige Über-
sicht der psychoanalytischen Literatur im J. Bande (abgeschlossen in der ersten
Hälfte des II. Bandes) um so weniger hinwegzutäuschen vermochte, als auch die Er-
scheinungsform (zweimal jährlich) dem Titel nicht ganz entsprach. Als mit der
Publikation des von Stekel und Adler angeregten „Zentralblatt für Psychoana-
lyse" (Herbst 1910) die singulare Stellung des „Jahrbuches" erschüttert war,
versäumte es, sich den geänderten Verhältnissen anzupassen und begnügte
sich damit, eine Pnblikationsstelle für die umfangreicheren Abhandlungen zu
bleiben, wodurch der archivische Charakter noch stärker zur Geltung kam.
Auch den späteren noch einschneidenderen Neugründungen der „Internationalen
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse" und „Image" gegenüber verhielt sich
das Jahrbuch resistent und suchte seine überlebte Funktion fortzusetzen, ohne
dem bei der Fülle und Mannigfaltigkeit der Publikationen immer stärker
hervortretenden Bedürfnis nach einem wirklichen „Jahrbuch" gerecht zu werden.
Dieser äußerlichen Starrheit stand eine innere Wandlungstendenz gegenüber,
derzufolge das Jahrbuch eigentlich auch schon aufgehört hatte, seinem ur-
sprünglich geplanten Zweck zu entsprechen: nämlich Sorge zu tragen
„für die Entwicklung der von Sigmund Freud geschaffenen Psychologie und
für deren Anwendung auf Nerven- und Geisteskrankheiten" durch „fortlaufende
Publikation aller Arbeiten, die sich in positivem Sinne mit der Vertiefung und
Lösung unserer Probleme beschäftigen". Durch gemehrte Publikationen der
immer eindeutiger von den Grundlagen der Psychoanalyse abrückenden
Züricher Schule drohte das Jahrbuch zum Schauplatz einer unfruchtbaren
Polemik herabzusinken, durch welche die Gegensätze nicht geklärt oder aus-
geglichen, sondern verschärft und für den Leser verwirrend wurden. So ergab
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Kritiken und Referate. 117
sich die faktische LösuDg einer nur noch nominell aufrechterhaltenen Arbeits-
gemeinschaft, über deren vielversprechenden Anfang, Höhepunkt und Zerfall
Freud in seinem aufklärenden Beitrag „Zur Geschichte der psychoanalytischen
Bewegung" die Leser des Jahrbuchs eingehend orientiert. Im Gefolge dieser
heilsamen, reinlichen Scheidung erscheint das neugestaltete Jahrbuch eigentlich
nur seinen ursprünglichen Absichten und Zwecken gemäß, für deren Durch-
führung die Namen der beiden jetzigen Redakteure vollauf bürgen. In ihrem
Yorwort klären sie zunächst in wünschenswerter Weise die Stellung zu den
beiden anderen psychoanalytischen Organen, der „Internationalen Zeitschrift"
und „Imago" — das zuletzt vonStekel allein fortgeführte „Zentralblatt für
Psychoanalyse" hat mittlerweile sein Erscheinen eingestellt — und rechtfertigen
dann die inhaltlich und formal entsprechende Titeländerung damit, daß das nun-
mehr in einem Bande erscheinende Jahrbuch ausschließlich der Förderung der
psychoanalytischen Wissenschaft dienende ausgewählte Originalbeiträge und
daneben einen jährlichen zusammenfassenden Bericht über die gesamten wissen-
schaftlichen Fortschritte der Psychoanalyse bringen soll.
Der vorliegende erste Band des neuen Jahrbuchs, der VI. seit Gründung
desselben, wird diesem Programm in erfreulicher Weise gerecht, was bei den
schwierigen äußeren Verhältnissen und der Kürze der der Redaktion und den
Autoren zur Verfügung stehenden Spanne Zeit um so größere Anerkennung ver-
dient. Die Originalbeiträge, deren Inhalt hier nur summarisch angedeutet
werden kann, eröffnet eine für den Ausbau der psychoanalytischen Lehren
und der in ihrem Mittelpunkt stehenden Libidotheorie grundlegende Abhandlung
von Freud: „Zur Einführung des Narzißmus", die diesen schwer faßbaren
und vielfach Mißdeutungen ausgesetzten Grenzbegriff scharf zu umschreiben
und in seiner Bedeutung für das Verständnis der Neurosen, Psychosen, des
Liebeslebens wie der Charakterbildung zu würdigen sucht. Es folgt eine klinische
Untersuchung von Abraham „Über Einschränkungen und Umwandlungen der
Schaulust bei den Psychoneurotikem nebst Bemerkungen über analoge Er-
scheinungen in der Völkerpsychologie'', worin der durch Gründlichkeit und
Klarheit ausgezeichnete Autor verschiedene Formen neurotischer Sehstörung —
wie Lichtscheu, Vorliebe für Dunkelheit, Sonnen- und Gespensterphobie —
sowie die nahestehenden Phänomene des Zweifeins und Grübelns an einer Reihe
von eingehend untersuchten Fällen psychoanalytisch verständlich und durch
Parallelisierung mit völkerpsychologischera Material allgemein-menschlich und
kulturgeschichtlich bedeutungsvoll zu machen weiß. An das trotz erschöpfender
und emsiger Bearbeitung an reizvollen Detailproblemen immer noch reiche
Gebiet des Traumlebens tritt Federn mit seiner Untersuchung „über zwei
typische Traumsensationen" heran. Bei anerkennenswerter Berücksichtigung
aUer in Betracht kommenden Traumquellen vermag der Autor für die beiden
entgegengesetzten Sensationen der Hemmung und des Fliegens im Traume die
Freudsche Auffassung durch selbständige feine Beobachtungen (z. B. die Flug-
sensation als Symbol der Erektion) zu bestätigen und die Bedeutung dieser beiden
typischen Traumsensationen für das Verständnis der ihnen entsprechenden
Konversionssymptome (hysterische Lähmung resp. Schwindelanfölle) aufzu-
decken. — Einen für die Anwendung der Psychoanalyse auf ein scheinbar
abliegendes Gebiet beachtenswerten »Beitrag zu der Beziehung zwischen Kunst
und Religion** liefert der vielseitige Jones, indem er „die Empfängnis der
Jungfrau Maria durch das Ohr" auf Grund eines reichen folkloristischen
Materials und mit Heranziehung der dieses Motiv behandelnden Bildwerke in
ihrer unbewußten Bedeutung zu erfassen sucht. Er findet darin die hochsublime
und vergeistigte Darstellung einer zutiefst im Unbewußten durchaus grobsinn-
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21g Kritiken und Referate.
liehen und in ihrer bewnßten Formulierung den normalen Erwachsenen ab-
stoßenden „infantilen Sexualtheorie" von allgemein-menschlicher Herkunft.
Der „referierende Teil" wird eröffnet mit dem bereits erwähnten Beitrag
Freuds „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", der mit wohl-
tuender OfTeiiheit und Schärfe den persönlichen Standpunkt des Schöpfers der
Psychoanalyse gegenüber den abgefallenen ehemaligen Anhängern wahrt, indem
er deren festgehaltene Ansprüche auf die Methodik und die Bezeichnung der
neuen Seelenforschung energisch zurückweist und so wieder Platz für die
geradlinige Weiterentwicklung der Psychoanalyse schafft. Der anschließende
„Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren 1909 — 1913*
versucht in dankenswerter Ausführlichkeit (150 Seiten) das Bild dieser Ent-
wicklung für den Zeitraum nachzuholen, in welchem das Jahrbuch dies zu tun
versäumt hatte. Diese über die Literatur von fünf Jahren sich erstreckenden
Sainmelreferate sind nach systematischen Gesichtspunkten übersichtlich ange-
ordnet und gestatten nicht nur eine leichte Orientierung über alle Neu-
erscheinungen, sondern auch über den gegenwärtigen Stand der betreffenden
Probleme oder Gebiete. Der I. Abschnitt, „Psychologie undTrieblehre*^
umfassend, zerfällt in die Unterabteilungen : Das Unbewußte (Ref. E i t i n g o n),
Die Traumdeutung (Ref. Rank), Trieblehre (Ref. Hitschmann), Perver-
sionen (Ref. Sadger); der II. ^Klinische Teil" enthält: Die allgemeine
Neurosenlehre (Ref. Ferenczi), Die psychoanalytische Therapie (Ref. Jones)
und Die spezielle Pathologie der nervösen Zustände und Geistesstörungen
(Ref. Abraham); der III. und letzte Abschnitt enthält die „Anwendung der
Psychoanalye außerhalb der Medizin*', u. zw. Mythologie (Ref. Rank), Völker-
psychologie (Ref. Sachs), Sprachwissenschaft (Ref. Reik), Ästhetik, Knust,
Literatur (Ref. Reik), Kinderpsychologie, Pädagogik (Ref. Hug-Hellmuth),
Philosophie (Ref. Tausk), Mystik und Okkultismus (Ref. Sil her er). Der
kleinen Mängel und Unvollständigkeiten, die bei Abfassung dieser vielfach
ineinandergreifenden Berichte durch verschiedene Autoren und bei der in allzu
kurzer Zeit neugeschaffenen Organisierung unvermeidlich waren, ist sich die
Rodaktion wohl bewußt und verspricht ihre Abstellung in der nächstjährigen
Übersicht. Sicherlich gelingt es dann auch, gelegentliche Übergriffe solcher
Referenlen abzustellen, die als Autoren auf dem von ihnen behandelten Spezial-
gebiet die Leistungen ihrer Konkurrenten nicht immer objektiv genug zu
würdigen wissen. Doch handelt es sich im ganzen nur um kaum auffällige
Verseilen, die dem erfreulichen Eindruck dieses Jahrbuchs als eines Zeichens
der unerschütterlichen Kraft unserer psychoanalytischen Bewegung keinen
Abbruch tun können. Dr. Rank.
Leo Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse. (Leipzigund Wien 1914,
Franz Deuticko.)
Es ist im Wesen und in der Entwicklung der F r e u d sehen Psychologie
gelegen, daß es trotz ihrer gesicherten Fundierung und weitgreifenden Aus-
gestaltung bis heute an einer zusammenfassenden und systematischen Darstel-
lung der gesamten psychoanalytischen Lehre fehlt. Nicht nur weil es sich
um eine unfei*tige, im Werden und Wachsen begriffene Wissenschaft handelt,
sondern auch, weil das bisher empirisch Gefundene und auf induktivem Weg
Verarbeitete einer systematischen Gruppierung und Abrundung widerstrebt. IMes
zeigt sich auch darin, daß vereinzelte voreilige Versuche zur Herstellung
eines geschlossenen Lehrgebäudes zum Aufgeben der psychoanalytischen
Grundlagen nötigten. Der bisher einzige von Hitschmann mit viel Ge-
schick unternommene Versuch, „Freuds Neurosenlehre nach ihrem gegen-
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Kritiken and Referate. HQ
wärtigen Stand zusammenfassend darzustellen^, prätentiert nicht mehr, als
die verstreuten Anschauungen Freuds übersichtlich geordnet zusammenzu-
stellen, und verdankt seinen Wert und Erfolg — es erschien bereits die zweite
Auflage und eine Übersetzung in Amerika — eben der einsichtigen Begren-
zung der Aufgabe, deren Lösung darum auch so gut gelungen ist.
Kaplans Buch dagegen stellt sich eine wesentlich andere Aufgabe,
wenngleich Titel und Anlage eine systematische Gesamtdarstellung von vorn-
herein ausschließen, läßt aber auch bei aller Anerkennung des Geleisteten not-
wendigerweise ein Gefühl des Mangels und der Unbefriedigung zurück. Ab-
gesehen vom Inhalt, dem eine weniger von persönlichen Neigungen diktierte
Auslese der Probleme zu wünschen wäre, ist auch die Art der Darstellung, bei aller
didaktischen Technik nicht gerade geeignet, überzeugend zu wirken. Anstatt
einer durchwegs pragmatischen Behandlung, wie sie einem derartigen Thema
angemessen, aber für die Psychoanalyse eben noch nicht durchführbar scheint, ver-
sucht Kaplan den für den Leser wohl interessanteren, aber zugleich schwie-
rigen Weg, aus dem Material selbst die allgemeinen psychologischen Ergebnisse
Punkt für Punkt heraubfallen zu lassen. Er wiederholt also eigentlich in der
Darstellung die analytische Technik, indem er von Fehlhandlungen, Träumen,
Symptomen ausgeht und die zu ihrem Verständnis notwendigen Voraussetzungen
vor dem Leser selbst daraus abzuleiten sucht. Dieser Modus, bei dem das
analytische Wissen stückweise, ungeordnet und verstreut vermittelt wird, ist
wohl für den Patienten der einzig mögliche und erforderliche, aber für den Ler-
nenden mühsam, umständlich und wenig überzeugend, da beispielsweise an ein
unscheinbares Traumdetail ein bedeutsames Stück der Sexualtheorie angehängt
werden muß — lediglich durch den dünnen Faden einer oberflächlichen Asso-
ziation verknüpft, deren Bedeutung nur der erfahrene Analytiker zu würdigen
weiß. So kommt es auch, daß der Autor, der eine gefährliche Neigung für For-
mulierungen und Schlagworte zeigt, mitunter plötzlich einen allgemeinen Satz
gesperrt druckt, der als Resultat der vorangegangenen Ausführungen nicht
zwingend ist, aber dem mit eigenen Erfahrungen nachhelfenden Leser
wohl zutreffend scheinen muß. Den gleichen wenig überzeugenden Eindruck
machen auch die reichlichen Hinweise des Autors auf verwandtes Material
aus Mythus, Sage, Folklore, die er zur Bestätigung psychoanalytischer Auf-
fassungen und Deutaugen heranzieht, die aber in der zum Teil oberflächlichen
Art, in der das geschieht, diesem Zweck nicht zu genügen, ja stellenweise direkt
zu widerstreiten scheinen.
Sieht man von diesen methodischen Bedenken und Einwendungen ab, so
ist übor den im XVL Kapitel gegliederten Inhalt des Buches fast nur Gutes
zu sagen. Der Autor verrät eine eingehende — auch praktische — Beschäf-
tigung mit der Psychoanalyse, was sich leider nicht bei allen, die darüber
schreiben, von selbst versteht, und ein richtiges Verständnis für die wich-
tigen Problemstellungen, von denen manche oft überraschend in neue Be-
leuchtung gerückt werden. Lehrreiche und interessante Belege aus der Lite-
ratur vervollständigen den guten Eindruck, den man vom eigentlichen Inhalt
empfUngt.
Wie weit das Buch geeignet ist, didaktisch in die Grundzüge der Psycho-
analyse einzuführen, mag sein Erfolg zeigen und es soll uns freuen, wenn der
für eine so leichtfaßliche Darstellung der schwierigen psychoanalytischen Grund-
lehren mit Recht dankbare Leser von kritischen Bedenken höherer Art unan-
gefochten bleibt. jy^ Rank.
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120 Kritiken and Referate.
Dr. J. Sadger: Über Nachtwandeln und Mondsucht. Eine medi-
zinisch-literarische Studie (Schriften zur angewandten Seelenkunde. Sech-
zehntes Heft). Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1914.
Das neue Buch Dr, Sadgers bietet einen ersten Versuch, den so
befremdenden Phänomenen des Schlafwandeins und der Mondsucht von psycho-
analytischen Gesichtspunkten her neue Aufklärungen zuzuführen. Die kurze
Einleitung orientiert uns darüber, wie dürftig die Auskünfte sind,
welche die vor-psychoanalytische Psychologie und Psychiatrie über Noktam-
bulismus und Lunatismus zu geben wußte. Den zu behandelnden Stoff hat
der Autor in zwei große Teile gegliedert. Der medizinische Teil umfaßt die
Analysen von acht Fällen, von denen fünf Patienten Dr. Sadgers waren,
während die übrigen drei Analysen sich nur auf autobiographische Bekennt-
nisse stützen können. Namentlich Fall I scheint geeignet zu sein, reiche Bei-
träge zum Verständnis des Nachtwandeins zu liefern. Diesem medizinischen
Teile läßt der Autor einen literarischen folgen, in dem er uns zeigt, welches
Interesse manche unter den Poeten (z. B. Shakespeare, Otto Ludwig, Kleist,
Anzengruber) am Nachtwandeln und der Mondsucht nahmen und daß ihre
intuitive Psychologie mit den Resultaten der psychoanalytischen Forschung
übereinstimmte. Diese Resultate aber lassen sich folgendermaßen zusammen-
fassen: Das Nachtwandeln stellt einen motorischen Durchbruch des Unbewußten
dar und dient wie der Traum der Erfüllung heimlicher, verpönter Wünsche,
zunächst der Gegenwart, hinter denen sich aber ganz regelmäßig kindliche
bergen. Beide sind von sexuell-erotischer Art. Als Hauptwunsch dürfte an-
zusprechen sein, daß der Nachtwandler zur geliebten Person ins Bett steigen will,
wie in der Kindheit. Oft kommt es beim Nachtwandeln zur Identifikation
mit dem geliebten Objekt. Als infantiles Vorbild des Nachtwandeins kann oft
das Sichschlafenstellen des Kindes betrachtet werden, indem dabei allerlei Ver-
pöntes, namentlich sexueller Art, straflos begangen werden kann. Das gleiche
Motiv der Straflosigkeit regiert auch den erwachsenen Nachtwandler. Der
motorische Durchbruch des Schlafes und der Bettruhe geht darauf zurück, daß
sämtliche Nachtwandler eine erhöhte Muskelerregbarkeit und Muskelerotik
aufzuweisen haben, deren endogene Reizung das Aufgeben der Bettruhe wett-
machen kann. Nachtwandeln und Mondsacht finden sich häufig mit Hysterie
vereint. Der Einfluß des Mondes auf den Lunatismus ist nur zum geringsten
Teile bekannt, vornehmlich in seiner psychischen Überdeterminierung. So ist
es wohl zweifellos^ daß das himmlische Licht an das Licht in der Hand eines
geliebten Elternteiles erinnert, der nächtlich in besorgter Liebe den Schlaf
des Kindes kontrollierte. Mit dem An gerufen werden durch diesen hängt wohl
auch zusammen, daß nichts so prompt den Wandelnden weckt als die Nen-
nung seines Namens. Auch das Fixieren des Nachtgestims hat möglicherweise
erotische Färbung, sowie das Anstarren des Hypnotiseurs zur Erzielung der
Hjrpnose. Andere psychische Überdeterminier an gen scheinen nur individuell zn
gelten. Eine besondere Anziehungskraft des Mondes endlich, die den Mond-
süchtigen förmlich aus dem Bette zwingen und zu größeren Spaziergängen
verlocken soll, kann möglicherweise tatsächlich bestehen, doch haben wir über
diesen Punkt nicht einmal wissenschaftliche Hypothesen. Hingegen scheint die
Möglichkeit vorhanden, durch die psychoanalytische Methode nach Freud
Schlafwandeln und Mondsucht dauernd zu heilen.
Gehen wir von dieser Darstellung zur Kritik über, so muß zuerst bemerkt
werden, daß in Dr. Sadgers Buche alle Vorzüge, die man aus den früheren
Arbeiten des Autors kennt, wiederzufinden sind. Besonders die Schärfe der
Beobachtung und die Geschicklichkeit ihrer Wiedergabe sind hervorzuheben.
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Kritiken und Referate. 121
Gegenüber diesen Vorzügen, welche uns eine originelle und in vielen
Eichtungen wertvolle Arbeit gesichert haben, muß man sich beeilen, das zu
bemerken, was man etwa auszusetzen hat. Zunächst an der Form der Dar-
stellung : es wäre ungleich reizvoller gewesen, wenn der Autor den aufschluß-
reichen medizinischen Teil seiner Arbeit nicht an den Anfang seines Buches
gestellt hätte, sondern die mehr oder minder klaren Einsichten der Dichter
dadurch vertieft und berichtigt hätte, daß er sie ins Licht der analytisch be-
handelten Fälle stellte. Durch eine solche parallele Anordnung wäre auch in
didaktischer Hinsicht manches gewonnen worden. Ohne wesentlichen Schaden
des Ganzen wäre dadurch eine Sichtung und Auswahl des literarischen Stoffes
eingetreten, welche die weniger aufschlußreichen Fälle eliminiert, oder zumin-
destens zurückgedrängt hätte. Durch die Häufung des Materials war der
Autor verhindert, den feineren Mechanismen des Nachtwandeins und der Mond-
sucht nachzugehen. Inhaltlich ließe sich bemerken, daß Dr. Sadger die
manchmal vorkommende sadistische Motivierung des Nachtwandeins kaum be-
rührt. Er wäre auch der Berufene gewesen, uns den Weg zu zeigen, der sich
vom Wunsche zum motorischen Durchbruch erschließt. Ein genaueres Ein-
gehen auf den von Freud in der Traumdeutung skizzierten Bau des seelischen
Apparates wäre dabei allerdings unumgänglich notwendig gewesen. Schließlich
vermißt man noch den Anschluß an die Phänomene des Tag- und Nacht-
traumes, deren Vergleich mit den von Sadger beschriebenen Phänomenen
wertvolle Resultate gezeitigt hätte. Gewisse Einderträume, die sich mit dem
Entfliehen aus dem Eltemhause beschäftigen, zeigen bereits einen Ansatz zum
motorischen Durchbruch, wie ihn das Nachtwandeln bringt. Diese Bemerkungen
sollen nur zeigen, in welchen Richtungen sich weitere Forschungen, zu denen
Dr. S a d g e r s erfolgreicher Versuch sicherUch anregen wird, bewegen müßten.
Zu des Autors Verdiensten um die Erweiterung und Vertiefung unseres psycho-
analytischen Wissens kommt nun das neue, uns auf Grund der Freudschen
Methode einen Zugang zu den seltsamen Phänomenen des Nachtwandeins und
der Mondsucht eröffnet zu haben. Dr. Theodor Reik.
Dr. R. Loy: Psychotherapeutische Streitfragen. Ein Briefwechsel
mit Dr. C. G. Jung. F. Deuticke, 1914. Leipzig und Wien.
Der Briefwechsel stammt aus dem Jahre 1913 und ergänzte die Analyse
Loys durch Jung; nach Loy existiert keine „knappere und leichtfaßlichere
Darstellung der psychoanalytischen Methode", als dieser Briefwechsel. (?) Freud
hat im ^ Jahrbuch der Psychoanalyse" (1914) seine Stellung zu J u n g sErgänzungen
und Verbesserungen seiner ureigenen Methode klargelegt und es wäre nun zu er-
warten, daß Jung seine pädagogisch-anagogische Methode umbenennt. Jung er-
klärt, er sei in „erster Linie Forscher, nicht Praktiker": was uns beweist, daß er
von der Vollendung seiner Selbstanalyse noch weit entfernt ist. Die Anzahl der
Widersprüche gegen die Psychoanalyse wird jedoch hier noch übertroffen durch
Unklarheiten, der Stil ist zuweilen wenig nachahmenswert. Vgl. z. B. S. 125 :
„Die Relativität der ,Wahrheit* ist eine altbekannte Tatsache und hindert
nichts — bloß den Dogmen- und Autoritätsglauben — , wenn sie es täte. Aber
auch das tut sie nicht einmal."
Es ist hier nicht der Ort, Jungs Tendenzen neuerlich abzuwehren; wie
weit er in der Ablehnung des Sexuellen geht, ergibt sich z. B. daraus, daß
ihm auch der Ödipustraum (der doch meist ein Pollutionstraum ist) so sym-
bolisch und analysierbar ist, wie alle anderen auch !
Gänzlich auf den Kopf gestellt erscheint das Verhältnis der Psychoana-
lyse zur Psychanagogie, wenn gerade dem wissenschaftlichen Kausalismus
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122 Kritiken und Referate.
(= Psychoanalyse) vorgeworfen wird, er löse die positive Übertragung zum
Vater nicht airf. Der endlichen Zerstörung der positiven Übertragung aui den
Arzt wird nur flüchtig Erwähnung getan, obwohl es für den psychoanalytischen
Arzt so wichtig ist, seine Menschengewinnsucht zu zügeln. Dr. E.Hitschmann.
M. Friedemann und 0. Kohnstamm : Zur Pathogenese und Psycho-
therapie bei Basedowscher Krankheit, zugleich ein Bei-
trag zur Kritik der psychoanalytischen Forschungsrich-
tung. Zeitschr. für die ges. Naurol. u. Psych. 1914.
Wir freuen uns sehr, über eine dreiundsiebzig Seiten lange kasnistiscbe
und allgemein-theoretische Arbeit berichten zu können, welche den Mut auf-
weist, die Psychoanalyse gegen Isserlin, Kronfeld und den Troß der Vielzu-
vielen, die die wissenschaftliche öffentliche Meinung machen — zu verteidigen
und selbst, wo sie kritisch oder eigenständig sein will, nur Wasser auf unsere
Mühle leitet. So mancher Einwand der Autoren und manche Unzulänglichkeit
der Arbeit beruht nur auf unvollkommenem Wissen oder Verständnis der
Freud sehen Neurosenlehre, Traumdeutung, Symbolik usw. Nicht nur eine
Basedowsche Krankheit verschwand während der — allerdings nur dem von
Freud begründet verlassenen, kathartischen Verfahren ähnlichen — Behand-
lung, sondern die „ Angsthysterie " wurde geheilt.
Während Freud (und St ekel ausführlicher) den Zusammenhang,
resp. die Analogie der aus aktuellen Sexualmomenten stammenden „Angst-
neurose", mit dem Basedow betont haben, ßndet sich in dieser Abhandlung
nicht die mindeste Andeutung über das wirklich Sexuelle der Patientin, auch
nichts Anamnestisches (Phantasien, Erregungszustände, Onanie, Pollutionen,
Koitus oder dgl.). Um so leichter konnte es daher passieren, daß Sexual-
ablehnung hier mit Verdrängung verwechselt wird.
Wenn Kohnstamm vorgibt, seine „Amnesierung" sei etwas anderes als
Freuds Verdrängung, seine „Palinmnesierung" etwas anderes als Freuds
Bewußtmachung, so müssen wir diese seine als Neuentdeckungen auftreten-
den Umtaufungen ablehnen. Neu sind seine Hysterie theorie vom mangelnden
„Gesundheitsgewissen" und seme Psychologie von der „Klaviatur der Affekte*
— wir glauben aber nicht, daß er dadurch historisch werden wird! Wer
aber sichtlich an der Oberflächenpsychologie haftet, der muß sich dann freilich
vor den „neueren Methoden Freuds" verständnislos bekreuzigen. Wenn
Freud in fortschreitender vertiefender Arbeit die Hypnose und das karthar-
tische Verfahren aufgegeben hat, so war der Grund dafür gerade die Tat-
sache, daß die Hypnotisierten in ihrer kompletten Übertragung gerade oft das
Sexuelle („als ob es ihnen beim Arzt schaden körjite") verschweigen. So
findet der psychoanalytisch erfahrene Kritiker dieser Arbeit ganz klar die
Stellen, wo die Autoren an Drittletztem und Vorletztem stehen gebheben
sind, statt den wahrhaft ätiologischen Komplex in tiefster Schichte aufzu-
finden. (Vgl. z. B. die Pferdeangst S. 367.) Kein Wunder, daß die Autoren
sich (S. 400) wundem, daß auch „Erlebnisse harmloser Natur* verdrängt
werden. — Die „Imitationssucht" der Kranken wäre durch Freuds Identifi-
zierung zu erklären. — S. 375 wird erwähnt, daß die Analyse der Kranken
klar sehen ließ, daß „Weltanschauungen** nicht auf intellektuellem Wege zu
entstehen brauchen, sondern sich aus dem Chaos des Affektlebens herausbilden
können. Den Autoren wünschen wir freundlichst, daß sie ihre wissenschaftliche
Anschauung nicht vom Affekt beeinflussen lassen mögen und durch weitere,
echte psychoanalytische Arbeit, also auf intellektuellem Wege, uns näher
kommen mögen. Dr. E. Hitschmann.
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Kritiken und Referate. 123
Ed. ClaparMe: De la representation des personnes inconnues
etdeslapsuslinguae. (Archives de Psychologie, Tom XIV, aoüt 1914.)
Im AnschluB an die im vorigen Heft (S. 46 f.) referierte Arbeit
Kollarits' hebt Cl. hervor, daß bei MenscheD mit audition color^e auch
der den Wortklang begleitende Farbenton zum Aufbau jenes Bildes beitragen
kann, das mau sich von einem Unbekannten beim Hören oder Lesen seines
Namens macht. In solchen Fällen sei jede Freud sehe Erklärung überflüssig.
(Allerdings, aber die Synästhesie selbst und ihre individuelle „Färbung**
bedürfen selber der Freudschen Erklärung. Ref.) Interessant und neu ist
der Hinweis, die Zeugenaussage könne durch das Farbenhören des Zeugen ver-
fälscht sein.
Eine bei diesem Autor nicht gewohnte Oberflächlichkeit zeigt sich in
der Erklärung zweier Lapsus linguae, die er selber beging. Einmal sagte er
Jodtinktur statt Opiumtinktur, ein anderesmal Bismut statt Magnesia; die
Erklärung dafür: Jodtinktur und Opiumtinktur seien beide braune Flüssig-
keiten; Bismut und Magnesia: beide weiße Pulver. ^Muß ich etwa annehmen,
daß ich den geheimen Wunsch hatte, den Patienten, der purgiert werden
wollte, zu verstopfen?* fragt Clapar^de und verneint es. Auch wir können
ihm keine sichere Antwort geben, konstatieren aber, daß dies sein erster
Einfall war, als er den Lapsus erklären wollte. S. Ferenczi.
Paul Goirand: Les ^tats de loquacite dans la d^mence pr6coce. (Annales
m^dico psychologiques. Paris, Mai 1914.)
Der Autor beschreibt Zustände der Geschwätzigkeit und Redseligkeit
innerhalb der Dementia praecox. Dabei setzt er sich vor: 1. die direktive
Idee, 2. die automatische Ideenassoziation, 3. die Wortassoziation zu studieren.
Man muß die Redseligkeitszustände der Dementen von denen der Manischen
unterscheiden, denn nach Ansicht des Autors handelt es sich dabei nur um
eine primäre Erregung der Sprachzentren ohne gedanklichen Parallelismus.
Deshalb stehen diese Zustände unter der Herrschaft der Wortassoziation.
(Gleichklang und Klangähnlichkeit etc.) Vom Anfang bis ans Ende der Krank-
heit behält der Demente dieselben bevorzugten Ausdrücke: Er bereitet seinen
„Wortsalat* immer aus demselben Material. Guiraud gibt interessante Beispiele
für die Wortspielereien der Dementen. Er unterscheidet verschiedene Formen
dementer Redseligkeit, z. B. die impulsive Deklamation, den Galimathias,
Reihen von Kalauern und Assonanzen, deklamatorische Litanei etc. Die ein-
fachste Form hat ihre Analogie auch in der Psychopathologie des Alltags:
Auch der Normale überrascht sich manchmal, wie er einen Vers oder eine
Phrase vor sich hinsagt. Der Demente rezitiert lange Fragmente, die er in
seiner Jugend gelernt hat. Er fühlt den Rhythmus, spricht aber ohne Betonung
und wiederholt oft ein Wort, dessen Klang ihm gefilllt. Guiraud erzählt einen
Fall von Dementia, in welcher Mutismus und Apathie lange Zeit vorherrschten.
Plötzlich singt der Kranke ein Lied und zitiert lange Stellen aus der „Jeanne
d'Arc". Es ist sehr leicht, den Wortstrom bei ihm zu erregen, die Anfangs-
worte einer Fabel, eines bekannten Gebetes genügen dazu. Derselbe Kranke
improvisiert spontan Diskurse, die ganz sinnlos, aber reich an außergewöhn-
lichen Worten sind. So hat er in diesen „Redeübungen" eine Vorliebe für
das Wort „Insectivore" und wiederholt es oft; immer wenn er kein anderes
findet, gebraucht er es. (Die Analogie mit anscheinend „sinnlosen" Worten des
Traumes drängt sich hier auf; die Verwertung der psychoanalytischen
Methode müßte hier manches zu Tage fördern.) Die Gespräche, welche der
Patient P. mit seinem „Rivalen Gott" führt, sind vom Standpunkte psycho-
analytischer Erkenntnis sehr wertvoll. Bemerkenswert sind auch seine Neo-
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X24 Kritiken nnd Referate.
loglsmen, z. B.: „Je suis jastement en mariage par rhonnear de la terre oä
je dis Dieu est Dieu qui est ma lettre orfanee de Dien, qui est mon rival
propos^". B. lächelt während seiner Diskurse und „scheint sich an seinem
Wortreichtum zu ergötzen" (wie die Kinder und die Primitiven). Der Autor
nimmt auf M a e d e r s Publikationen über die Dementia praecox Bezug und be-
hauptet ihnen gegenüber, daß die Reden der Kranken völlig sinnnlos sind.
Besonders bemerkenswert wegen ihres infantilen Charakters erscheinen uns
ihre Kalauer. Man beachte folgende Unterredung zwischen Arzt und Kranken
(nach dem Stenogramm niedergeschrieben):
A.: Me connaissez-vous? Quelle est ma fonction.
K.: Votre fonction, fonctionnaire.
A.: Parlez un peu plus fort.
K.: Un peu plus fort — Faure — Felix Faure, President de la Republique.
A.: Non c'est M. Poincar6.
K.: Poincar6 — je forme les poings.
Arzt (zum Stenographen): Notez l'öcholalie.
Kranker: Notez les colonies — les colonies du cap Hom.
A.: Le cap Hom!
K.: Le cap Hörn, le cap de Bonne Espörance, TEsp^rance, la Foi, la Charit^.
(Ausruf eines Zuhörers:) C'est epatant.
K.: C'est epatant, la M^re Durand, comme vous Tavez grand, depuis
quelque temps.
Die Echolalie scheint mir der Autor nach ihren Hilfsmitteln gut erklärt
zu haben, doch würde die psychoanalytische Betrachtungsweise ihn viel weiter
gefördert haben. Dr. Theodor Reik.
^er Tod in Venedig."
Novelle von Thomas Mann.
Diese überaus fein stilisierte Novelle interessiert aus verschiedenen Ge-
sichtspunkten auch den Psychoanalytiker. Sie ist eine jener seltenen Dichtungen,
die das ewige, dichterische Hauptproblem, die Liebe, unbefangen an einem
gleichgeschlechtlichen Objekte exemplifizieren. Es wird in künstleri-
scher Weise, mit allen Zeichen echter, aus dem Unbewußten entstammender
Phantasie, das Verlieben eines über 50jährigen Dichters in einen Knaben
geschildert. Die Persönlichkeit des Dichterhelden — übrigens eines Witwers
nach früher, kurzer, kinderloser Ehe — ist von resigniert vornehmem Cha-
rakter, und nicht nur auf der absteigenden Lebenslinie, sondern auch von einer
gewissen morbiden Dekadence. Mit der Abreise des Mannes aus seiner deut-
schen Heimat setzt die Novelle ein und endet mit dem Tode des Helden, der
nach längerem Aufenthalt in Venedig der Cholera erliegt. Eben dieser Auf-
enthalt auf dem Lido ist ganz von seiner homosexuellen, platonischen Liebe
erfüllt. Die homosexuelle Empfindung ist ihm ein unstatthaftes, inneres Er-
lebnis, eine exotische Ausschweifung des Gefühles. Doch wird auf infantil Er-
lebtes angespielt: „Ehemalige Gefühle, frühe, köstliche Drangsale des Herzens,
die im strengen Dienste seines Lebens erstorben waren und nun so sonderbar
gewandelt zurückkehrten/
Müde und blasiert, das Inventar quasi seines äußeren und inneren Lebens
aufnehmend, wie an einem Wendepunkt aus Enttäuschung und Überdruß: so
begegnen wir zum erstenmal dem Helden der Novelle in seiner Vaterstadt;
eine mystische befremdende und abstoßende Männerfigur taucht ihm wie traum-
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Kritiken und Referate. 125
haft auf einem lässigen Spaziergang auf — und verschwindet; und ebensolche
groteske und mysteriöse, bald Abneigung, bald Angst erzeugende Män-
ner tauchen auf seiner Reise und auch am Lido auf. Durch gewisse gemein-
same Züge verschwimmen sie wie zu einer symbolischen Figur. ^) Die Angst,
die sie ausstrahlen, würde sie als Objekte einer zunächst noch verdrängten
Libido kennzeichnen. Dann aber „bricht die Homosexualität aus", es kommt
zu der Liebe zu einem zarten, antik schönen Knaben, der den Dichterhelden
zu Vergleichen mit griechischen Bildwerken verleitet. Die Liebe ist zu-
nächst eine mehr seelische, und von der Ferne sich begnügende; sie verrät
einen sadistischen Zug, indem Genugtuung über das etwas kränkliche
Aussehen des Geliebten und sein vermutlich kurzes Leben u. dgl. geäußert
wird. In des Dichters Jugendwerken, heißt es übrigens, hätten die Kritiker
folgenden eigenartigen Heldentypus gefunden: „Eine intellektuelle jünglings-
hafte Männlichkeit, die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig
dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen.'' Kurz
vor seinem Tode sieht der Liebende den geliebten Knaben im spielenden
Ringkampf mit einem Altersgenossen unterliegen und der Sieger „ließ auch
dann nicht von dem Unterlegenen ab, sondern drückte, auf seinem Rücken
kniend, dessen Gesicht so anhaltend in den Sand, daß er zu ersticken drohte.
Seine Versuche, den Lastenden abzuschütteln, unterblieben auf Augenblicke
ganz und wiederholten sich nur als ein Zucken". Ein Bild, das deutlich aus
Jugendreminiszenzen hergenommen erscheint.
Ehe wir dem Aufbau der Novelle und deren Bedeutung für die Psycho-
analyse einige Worte widmen, seien jene Angst erzeugende Männer-
gestalten noch im Detail reproduziert. Häßlich, auffallend stumpfnasig, rot-
haarig, mit bleckenden Zähnen und feindseligem, peinlich berührendem Blick ist
der Erste geschildert, dessen flüchtiges Erscheinen in dem Helden Unruhe und
Reisedrang (nach neuem Liebesobjekt?) erzeugt; „an seinem hageren, dem losen
Sporthemd entwachsenden Halse, tritt der Adamsapfel stark und nackt her-
vor". Auch ein Gondoliere, der den einsamen Fremden nach dem Lido über-
fährt, setzt ihn in Angst, als hätte er ein Verbrechen gegen ihn vor. Eine
dritte peinliche Figur taucht noch auf, von der Angst und Grausen (als
brächte er die Ansteckung der Cholera) ausgeht: „Ein Gittarist, der mit
rötlichen Brauen geschildert ist, ebenso rothaarig, stumpfnasig und verlebt wie
die früheren Gestalten; gleich wie bei jenem mystischen Wanderer entwuchs
dem weichen Kragen seines Sporthemdes sein hagerer Hals mit auffallend
groß und nackt wirkendem Adamsapfel." Er ließ die Zunge schlüpfrig im
Munde spielen, was etwas Zweideutiges, unbestimmt Anstößiges hatte. Nehmen
wir dazu noch jenen grotesken, geschminkten Greis mit Perücke und künst-
lichem Gebiß, dem der Dichter auf seiner Reise begegnet hatte, wo er
unter übermütigen Handlungskommis wie eine alte Kokette schäkernd mithielt
und „auf abscheulich zweideutige Art mit der Zungenspitze die Mundwinkel
leckte", — so finden wir, daß alle diese vier Männertiguren wie die Spal-
tung einer einzigen Figur imponieren und wohl das Objekt einer verdrängten
invertierten Neigung, eine infantile Angstfigur, repräsentieren. (Der auffallende
Adarasapfel ist uns als Phallussymbol nicht unbekannt.)
Überaus charakteristisch ist überdies ein Traum des Helden, der mit
Angst einsetzt und in welchem eine Orgie sich abspielt, wobei „das obszöne
Symbol riesig, aus Holz, enthüllt und erhöht ward". Es sei noch erwähnt —
*) Vgl. Sachs, „Das Thema Tod«, Image, 1914. Heft 5, der durch diese Ge-
stalten den Tod symbolisiert sieht.
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126 Kritiken und Referate.
zur Komplettierung der Symptomatologie der Inversion — , daß der Dichter-
held reiche antike Bildung verrät, namentlich Piatos Phaidros wiederholt
heranzieht und von Eros phantasiert.
Die Novelle erscheint als echtes Produkt des Unbewußten, wie kombiniert
aus einer Reihe von Tagträumen, eines fürs erste noch unbewußten llomo-
sexuellen. Wie in einem Traum eines Normalen regrediert die invertierte
Regung zunächst unter Angst, dann aber wird sie, bis ins Infantile zurück-
kehrend, tatsächlich und sucht nach Befriedigung. Der Autor der Novelle mag
weder durch seine Lebensführung, noch sich selbst fragend, seine Bisexualität
fürs erste verraten. Dem Psychoanalytiker verrät er unzweifelhaft einen starken
gleichgeschlechtlichen Anteil seiner Sexualität. Es ist hier schön zu sehen^
wie dem Dichter sein Werk unbewußt dazu dient, unterdrückte Regungen,
wenigstens in der Phantasie, zu befriedigen.^)
Dr. E. Hitschmann.
^) Begreiflicherweise hat diese Novelle viel kritischem Mißverständnis begegnet;
verdächtig affekt voll ist z. B. die kritische Abwehr von Bernd Isemann (Manchen,
Bonseis u. Co.),
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