INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
PSYCHOANALYSE
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G. m. b. H.“
Originalarbeiten.
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie.
Referat, erstattet am sechsten Internationalen Psychoanalytischen
Kongreß im Haag (8. bis 11. September 1920).
Von Ludwig Binswanger (Kreuzlingen).
„Sie werden mir zugeben, daß im Wesen der psychiatrischen
Arbeit nichts liegt, was sich gegen die psychoanalytische Forschung
sträuben könnte.“ „Die Psychoanalyse verhält sich zur Psychiatrie
etwa wie die Histologie zur Anatomie; die eine studiert die
äußeren Formen der Organe, die andere den Aufbau derselben aus
den Geweben und Elementarteilen. Ein Widerspruch zwischen
diesen beiden Arten des Studiums, von denen das eine das andere
fortsetzt, ist nicht gut denkbar“ (Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse. S. 286). Mit dieser Analogie will Freud
offenbar sagen, daß der Psychiatrie die Aufgabe der äußeren
Beschreibung ihres Materials obliegt, der Psychoanalyse
hingegen die Aufgabe der inneren Zergliederung desselben;
der Psychiatrie also die wissenschaftliche Feststellung des hand¬
greiflichen Nebeneinander (ontische oder phänomenologische
Betrachtung), der Psychoanalyse hingegen die Aufstellung des
Nacheinander oder Auseinander (genetische Betrachtung). Mit dieser
Abgrenzung ihrer Aufgaben wird sich die Psychoanalyse eher
zufriedengeben als die Psychiatrie, behauptet doch auch die letztere,
daß ihr, wie jeder Naturwissenschaft, die Beschreibung
nur Vorstufe, nur Hilfsmittel sei, eigentliches Ziel aber die
Erklärung, d. h. der Einblick in den Aufbau der Geistes¬
krankheit, ja sogar die Einwirkung auf denselben. Wir werden
also nicht Psychiatrie als Oberflächenbeschreibung, Psychoanalyse
als Aufbauerklärung einfach einander gegenüberstellen können,
sondern, da beide Forschungsgebiete von der Beschreibung zur
Erklärung vorzudringen behaupten, müssen wir die Frage so stellen:
Besteht einUnterschied in der wissenschaftlichen
Erklärungsweise beider Disziplinen, und wenn ja,
worin besteht dieser Unterschied?
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 10
INTERNATIONAL
Efl PSYCHOANALYTIC
I UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
138
Ludwig Binswanger
a) Klinische Psychiatrie.
Meine Damen und Herren! Die Versuche, in den Aufbau oder,
wie man auch gern sagt, in das Wesen der Geisteskrankheit
einzudringen, sind uralt. Die einfachste und radikalste Lösung war
von jeher die populäre: Die Geisteskrankheit, die so in die Augen
springende Veränderung des menschlichen Individuums, hat nicht
ein besonderes, nur ihr zukommendes Wesen, sondern sie ist ein
besonderes Wesen: bei den Griechen ein Gott oder ein Dämon,
der in den Menschen eingedrungen ist, im Mittelalter der Teufel
und auch heute noch vielerorts irgendein böser Geist. Die wissen¬
schaftliche Betrachtung hat zwar mit diesen Spukgestalten
aufgeräumt; immer jedoch sah sie in der Krankheit ein
besonderes Sein oder Wesen, und noch in unserer Zeit mußte
der kluge Rigaer Psychiater Tiling davor warnen, zu glauben,
„die Krankheit dringe in den gesunden Menschen ein fast wie
eine fremde Person. (Individuelle Geistesartung und Geistesstörung.
Wiesbaden 1904.) Diese Verselbständigung, ja Personifizierung der
Geisteskrankheit ist ein notwendiges Produkt der psychiatrisch¬
klinischen Methode. Ist es doch gerade die Aufgabe des Psychiaters,
an seinem Untersuchungsobjekt, dem geistig erkrankten Menschen,
alles dasjenige auszuscheiden, was von der früheren Persönlichkeit
desselben Menschen oder von dem Durchschnittstypus des normalen
Menschen überhaupt sich abhebt, also das Neuartige und Andersartige
herauszugreifen und für sich allein, losgelöst von der gesunden
Persönlichkeit, zu betrachten. Das so gewonnene Material krank¬
hafter Tatsachen oder Symptome verlangt nun aber, entsprechend
dem notwendigen Gang des wissenschaftlichen Denkens, nach einer
Zusammenfassung oder Vereinheitlichung in einen Symptomen-
komplex, gleichsam eine Einheit erster Ordnung, die aber sogleich
wieder zu einem Vergleich mit anderen derartigen Einheiten drängt,
und so zu neuen Unterscheidungen und neuen Einheiten höherer
Ordnung führt. Auf welchem Punkt wir dann haltmachen, worin
wir die eigentliche selbständige Krankheitseinheit, das Wesen
der Krankheit erblicken wollen, das hängt teils von der Entwicklung
unseres methodologischen Denkens, teils und insbesondere von
dem Stand unserer empirischen Kenntnisse ab. Für die Psychiatrie
liegen die Verhältnisse dabei ungleich schwieriger als für irgend¬
eine andere Erfahrungswissenschaft, weil sie genötigt ist, dauernd
auf dem schwanken Seil eines metaphysischen Problems, nämlich
des Verhältnisses von Seele und Leib, einher zu balancieren und
doch dergleichen zu tun, wie wenn dieses Problem einer empirischen
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
139
Lösung- fähig wäre. Sie hat also dauernd mit einer Unbekannten
zu rechnen und soll doch dafür sorgen, daß diese Unbekannte
völlig aus der Rechnung verschwinde.
In der Psychiatrie der Gegenwart sind es im wesentlichen
drei Wege, auf denen wir zu Einheiten gelangen, welche mit
mehr oder weniger Recht den Namen von Krankheitseinheiten
verdienen. Den ersten Weg befolgt die naturwissenschaftliche
Methode, und sie berücksichtigt bald mehr die körperliche, bald
mehr die seelische Erscheinungsreihe. Das Wesen der Krankheit
ist dann erfaßt, wenn es gelingt, die abnormen Erscheinungen so
zusammenzufassen, daß sie einen bestimmten biologischen Vorgang
oder Prozeß von angebbarem Beginn, Verlauf und Ausgang
darstellen. Auf der körperlichen Seite wird sich, gemäß dem
Grundsatz, „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“, dieser
Prozeß als pathologisch-anatomischer Hirnrindenprozeß kundtun, wie
wir es etwa bei der progressiven Paralyse erreicht haben. Auf der
seelischen Seite werden wir uns umso eifriger bemühen, einen
solchen biologischen Prozeß festzustellen, je weniger es uns gelingen
mag, ihn in der Hirnrinde aufzuspüren. Der Krankheitsprozeß
der schizophrenen Assoziationsstörung, der schizophrenen
Schwächung der Assoziationsspannung (Bleuler) gehört, so
konstruktiver und hypothetischer Natur er auch sein mag, hierher.
Mit beiden Lösungen dieses ersten Weges entfernen wir uns ganz
und gar von der ei’krankten Persönlichkeit, das Wesen der Krankheit
ist außerhalb ihrer gelegen und nur auf Umwegen kehren wir zu
ihr zurück.
Der zweite Weg, um zum Begriff einer Krankheitseinheit zu
gelangen, macht schon früher Halt als der erste, indem er sich
zunächst mit den Einheiten niederster Ordnung, den sogenannten
Symptomenverkuppelungen (Hoche) begnügt. Indem man annimmt,
daß die in der Geisteskrankheit auftretenden abnormen Erscheinungs¬
gruppen in der normalen Psyche gleichsam präformiert bereitliegen,
greift man hier zu einer psycho-biologischen Erklärungsweise.
Das Wesen der Krankheit läge hier in einer bis jetzt nicht näher
zu ergründenden Anlage des seelischen Organismus, gemäß welcher
auf irgendwelche hypothetische Reize hin jene Symptomenkomplexe
„ausgelöst“ werden. Wir haben dann den Begriff der funktionellen
oder endogenen Geistesstörungen vor uns, also vorwiegend des
manisch-depressiven Irreseins. Auch hier läge das Wesen der Krank¬
heit außerhalb der Persönlichkeit; denn seelischer Organismus und
Persönlichkeit sind zweierlei. Die Veränderung, welche die Persönlich¬
keit hier erleidet, kommt nach dieser Anschauung ebenso von außen
io*
140
Ludwig Binswanger
in sie hinein wie bei den Prozeßerkrankungen. Für die geistige
Persönlichkeit sind auch die, ihren Träger, den geistigen Organismus,
betreffenden Vorgänge exogen.
Nun kennt aber die neuere Psychiatrie noch einen dritten
Weg, um zum Wesen der Krankheit zu gelangen. Hier handelt es
sich weder um einen fortschreitenden Krankheitsprozeß, noch um
eine von Zeit zu Zeit auftretende Auslösung präformierter Symptomen-
komplexe, sondern um primäre Veränderungen der Persönlichkeit
selbst. Und zwar unterscheiden wir hier zwischen vorübergehenden
krankhaften Reaktionen der Persönlichkeit auf einzelne Erlebnisse
und einer dauernden krankhaften Entwicklung der abnorm veran¬
lagten Persönlichkeit. Wir befinden uns hier auf dem großen Gebiet
der Psychopathien, der Neurosen und der Paranoia. Jaspers hat
sich um die begriffliche Abgrenzung dieser Zustände, Kraepelin
um die klinische Darstellung, insbesondere hinsichtlich der Paranoia,
die größten Verdienste erworben. Wenn Sie die heute auf diesem
Gebiet herrschenden psychiatrischen Anschauungen mit denjenigen
vergleichen, welche noch im ersten Dezennium unseres Jahrhunderts
vorherrschend waren (ich verweise z. B. auf den für jene Anschauungen
klassischen Meraner Vortrag von CI. Neisser über Individualität
und Psychose, Berlin 1906), so wird Ihnen der Fortschritt, der sich
hier angebahnt hat, in die Augen springen. Es ist klar, daß die
psychoanalytische Forschungsrichtung sich mit diesem dritten Weg
und dem Gebiet, zu dem er führt, am nächsten berührt, wiewohl
sie in wesentlichen Punkten gerade wieder davon abweicht.
Unter einer akuten psychopathologischen Reaktion versteht
man einen abnormen Seelenzustand, dessen Inhalt in psychologisch
durchsichtigem Zusammenhang mit einem Erlebnis steht, der ohne
das betreffende Erlebnis nicht aufgetreten wäre und der auch
in seinem Verlauf von dem Erlebnis abhängig ist (Jaspers).
Die an sich folgerichtige Entwicklung einer abnorm veranlagten
Persönlichkeit stellt gleichsam die chronische Verlaufsform dieser
Reaktion dar. Systematische Anwendung fand diese Betrachtungs¬
weise in der Psychiatrie zuerst auf dem Gebiete der Haftpsychosen
(„Ganser“), nachdem sie vorher auch schon beidenFuguezuständen u.ä.
herangezogen worden war, um sich dann auf die großen Gebiete
der nicht somatisch bedingten traumatischen Neurosen, der Renten¬
neurosen, der Katastrophen- und Schreckpsychosen, der hysterischen
Reaktionen und vor allem auch der chronischen Paranoia auszu¬
dehnen. Hinsichtlich der letzteren nähert man sich bereits der
Auffassung, daß sie „nichts als eine krankhafte Reaktion eines
Psychopathen auf gewisse unangenehme Umstände sei“ (Bleuler).
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
141
Fassen wir alle diese Reaktionen unter dem summarischen Titel der
Zweck- oder Wunschpsychosen zusammen, so finden wir sogleich den
Faden, an Hand dessen hier die Bildung klinischer Einheiten erfolgt:
es ist die Art und Weise, w i e die Persönlichkeit bestimmte
Erlebnisse ihres historischen Werdegangs psychologisch verarbeitet,
was sie aus ihnen macht, wie sie sie in das Ganze ihres
Wesens aufnimmt usw. Hier herrscht die rein psychologische
Betrachtungsweise. An Stelle deskriptiv- oder konstruktiv-natur¬
wissenschaftlicher und psychobiologischer Begriffe treten jetzt
solche, die nur durch Einfühlung oder psychologisches
Verstehen gewonnen sind. Immerhin sucht man auch hier einen
begriftlichen Unterbau zu konstruieren, aus dem man jene
persönlichen Reaktionen erklären zu können glaubt. Dieser Unterbau
ist der Charakter.
Vor zwei Jahren ist von einem rührigen jungen Forscher,
Kretschmer, ein Buch erschienen, welches in der Welt der
klinischen Psychiatrie ein gewisses Aufsehen hervorgerufen hat:
Der sensitive Beziehungswahn, ein Beitrag zur Paranoiafrage und
zur psychiatrischen Charakterlehre (Berlin 1918). Nach den
charakterologischen Versuchen von Klag es, die sich, etwa
abgesehen von Hysterie und Manie-Melancholie, nicht direkt auf
die klinische Psychiatrie bezogen, haben wir hier den ersten Versuch
einer Charakterologie vor uns, welcher den Anspruch erhebt, für
die klinische Psychiatrie maßgebend und wegleitend zu sein.
Unter Charakter wird hier verstanden „das aus der Gesamt¬
summe der gemütlichen und willensmäßigen Reaktionen einer
Persönlichkeit auf ihre fortlaufenden Erlebnisse abgezogene
Durchschnittsbild derselben, wobei zeitlich sich bewe¬
gende Vorgänge zu m ater iell f eststehenden ,Eigen¬
schaften’ umgestempelt werden“ (S. 9). Unter Erlebnis
andererseits wird „die affektfähige Empfindung oder Vorstellungs¬
gruppe“ verstanden, deren „Durchgang durch die Seele von
Anfang bis zu Ende“ es zu verfolgen gilt. Auf dem Wege dieser
Verfolgung müsse es gelingen, sämtliche Eigenschaften, d. h. die
Reaktionsmöglichkeiten eines Charakters, wissenschaftlich klar
geordnet zu erfassen. Die Gesamtleistungsfähigkeit des Charakters
ist eine dynamische Größe, nämlich die Summe der psychischen
Gesamtenergie oder psychischen Kraft eines Individuums. Nur
darf diese Kraft (der Charakter) nicht als eine Größe für sich
angesehen werden, sondern sie ist konsequent in ihrer lebendigen
Beziehung auf das Erlebnis zu betrachten. Auf Grund dieser
Seelenphysik werden dann die vier Grundfähigkeiten des Charakters
142
Ludwig Binswanger
herausgehoben, nämlich Eindrucks- und Retentionsfähigkeit, intra¬
psychische Aktivität und Leitungsfähigkeit. Sie sehen, wir haben
hier ein Schema vor uns, das dem dynamischen Schema Freuds
und der Bleuler- Jung sehen Komplexlehre sehr ähnlich ist.
Auch hier ist die Rede von verhaltener oder sich um die affekt¬
starke Gruppe „stauender“ psychischer Energie, „die nun als ein
bewußt empfundener quälender Fremdkörper ohne Anschluß im
Bewußtsein liegt“ (S. 21).
Auf Grund dieser Seelenphysik unternimmt es dann
Kretschmer, das Bild seines sensitiven Beziehungswahns zu
zeichnen, in welchem er eine besondere Gruppe der Paranoiker,
die sensitiven oder Gewissensparanoiker zusammenfaßt und den
Gruppen der Wunsch- und Kampfparanoiker gegenüberstellt. Der
sensitive Beziehungswahn ist „gesetzmäßig durch den sensitiven
Charakter bedingt“, dessen physikalische Konstruktion ich Ihnen
aber ersparen möchte. Rein deskriptiv handelt es sich um Charak¬
tere von überzartem, verinnerlichtem Gemütsleben, großer seelischer
Verwundbarkeit und Schüchternheit, von tiefempfundenem Altruis¬
mus, skrupulöser Ethik, von verfeinerter Selbstbeobachtung und
Selbstkritik, großem Liebes- und Vertrauensbedürfnis, zugleich
aber von selbstbewußtem Ehrgeiz und Eigensinn, nachhaltigen
gespannten Affekten und von ausgesprochener sozialer Tüchtigkeit.
Vom Zwangsneurotiker, an den jeder bei dieser Schilderung denkt,
soll diesen sogenannten Beziehungsneurotiker das Fehlen der
„besonderen Kleinlichkeit und Pedanterie“ unterscheiden, ein Beispiel,
auf was für geringfügige differentialdiagnostische Merkmale eine
jede Charakterologie schließlich hinauslaufen muß. Die Erlebnis¬
wirkung nun, die zum sensitiven Beziehungswahn führt, beruht
auf dem für den sensitiven Charakter bezeichnenden Mechanismus
der Verhaltung oder Retention mit folgender Inversion. Unter
Retention wird die Erhaltung affektbetonter Vorstellungen inner¬
halb des Seelenlebens, d. h. die Verhinderung des sofortigen
Wiederaustrittes des Eindruckes in Form einer äußeren Reaktion
und seine Festhaltung als lebendigen Faktors innerhalb des
Seelenlebens verstanden oder kürzer: die bewußte Verhaltung
affektstarker Vorstellungsgruppen bei lebendiger intrapsychischer
Aktivität und) mangelnder Leitungsfahigkeit. Unter Inversion
aber versteht der Verfasser „den unwillkürlichen oder reflek¬
torischen Umschlag des primären Ei'lebnisinhaltes in eine sekun¬
däre krankhafte und scheinbar fremdartige Vorstellungsgruppe,
die von nun an einen von jenem getrennten, selbständigen
seelischen Mechanismus darstellt“. Es handelt sich also bei der
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 14d
Inversion tun den Vorgang der symbolisch anschaulichen Dar¬
stellung des in seinem Erlebniswert durchaus intakten Primär-
erh bnisses auf dem Wege der assoziativen Verbindung mit einem
Alltagserlebnis, also um eine jener „Entdeckungen“, die zu den
Grundpfeilern der psychoanalytischen Lehre gehören. Daß jener
Umschlag aber „reflektorisch“ erfolgen soll, ist neu. Ob diese
Verschiebung des Problems ins Pseudophysiologische einen Fort¬
schritt bedeutet oder nicht, hängt lediglich vom methodologischen
Standpunkte des Beurteilers ab. Ich selbst erblicke darin keinen
Gewinn. Was im übrigen das krankheitserzeugende Primär¬
erlebnis angeht, so handelt es sich hier regelmäßig um das
Erlebnis der beschämenden Insuffizienz, der ethischen Niederlage
mit dem Verlust der Selbstachtung, etwa um die beschämende
Einsicht in heftige erotische Gefühle bei alternden Mädchen,
Vorwürfe über Masturbation, Scheitern im Kampf um das beruf¬
liche Ideal oder die berufliche Ehre usw. Außer dieser rein
psychischen Ätiologie kommen nun aber wieder biologische
Faktoren zu Ehren, die wir, nicht zum Schaden der psychiatrischen
Diagnostik, immer mehr hatten verschwinden sehen: erbliche
Belastung und Erschöpfung. Trotzdem wird das Erlebnis als
krankheitserzeugend, nicht bloß als inhaltgebend betrachtet, wie es
in der psychoanalytischen Schule der Fall sei. „Die psychologische
Wechselwirkung zwischen Charakter und Erlebnis stellt vielmehr
beim sensitiven Beziehungswahn die wesentliche Krankheits¬
ursache dar“ (S. 127). Auf die sehr reichhaltige Symptomatik
dieses Wahns brauche ich hier nicht einzugehen.
Es wird Sie nun interessieren, zu vernehmen, welche Stellung
der Autor zu Freud einnimmt. „Man kann,“ sagt er, „Freud
als Theoretiker und Therapeuten grundsätzlich entschieden
ablehnen und doch dem in der psychoanalytischen Literatur nieder¬
gelegten Tatsachenmaterial etwas mehr gerecht werden, als es
bisher vonseiten der herrschenden psychiatrischen Schulen, zum
Schaden der wissenschaftlichen Erkenntnis, geschehen ist.“ (S. 25.)
Von seinen charakterologischen Gedankengängen meint er, daß
sie mit der psychoanalytischen Literatur nicht nur keine näheren
Berührungspunkte hätten, sondern vielfach in Gegensatz dazu
ständen. Im übrigen seien „dieHineindeutung psychologischer
Zusammenhänge in den Vorstellungsinhalt eines paranoischen
Prozesses, der als solcher biologisch gegeben ist und zu seiner
Entstehung psychologischer Ursachen nicht bedarf, und die
einfache Darlegung der vom Patienten gegebenen Entwick¬
lungsfäden einer psychopathischen Reaktion...
144
Ludwig Binswanger
grundsätzlich und absolut verschiedene Dinge. Dort kann im Ernst
niemals die Entstehung der Krankheit selbst, sondern bestenfalls
innerhalb der schon gegebenen Psychose die formale Genese
ihres Inhaltes erklärt werden; hier aber handelt es sich um den
Kausalzusammenhang der Psychose als solcher“ (S. 128). Hiezu
sei bemerkt, daß die Hineindeutung psychologischer Zusammen¬
hänge und die Darlegung selbstbeobachteter Entwicklungsfäden
sich wohl begrifflich, aber niemals sachlich rein trennen lassen,
da eines in das andere unmerklich hineinspielt, während es
andererseits durchaus richtig ist, paranoischen Prozeß und psycho¬
pathische Reaktion grundsätzlich zu trennen; jedoch tut sich uns
schon hier die prinzipielle Kluft auf zwischen der klinischen
Grundanschauung der Psychoanalyse und derjenigen der
Psychiatrie: Während die Psychiatrie bei der Prozeßerkrankung
allen und jeden klinischen Wert auf den biologischen Prozeß
legt, die formale Genese des Inhaltes aber nur nebenbei als
„epidemische“ Spielerei bewertet, bei den seelisch-reaktiven
Psychosen hingegen den gesetzmäßigen Zusammenhang ganz und
gar ins Psychische verlegt, biologische Faktoren aber nur als
konkommittierend betrachtet, berücksichtigt die Psychoanalyse,
wie wir alsbald sehen werden, beide Erklärungsweisen prinzipiell
anders, indem sie sie keineswegs derart akademisch trennt,
sondern in dem lebendigen Ganzen ihrer Lehre von der seelischen
Krankheit aufgehen läßt.
Meine Damen und Hei’ren! Ich bin hier etwas ausführlicher
geworden, weil uns die Besprechung des Kretschme rschen Buches
später der Mühe überheben wird, die für die Psychoanalyse so
wichtige Frage ihrer Stellung zur Charakterologie im einzelnen zü
behandeln. Ferner aber um Ihnen zu zeigen, wie weit man sich in
der Psychiatrie der Gegenwart auf dem Gebiet der Psychogenie
vorwagt und wo man halt macht. Wir dürfen die sehr gut
geschriebene, systematisch sehr gründlich ausgearbeitete, von
völliger klinischer Sachkenntnis zeugende Arbeit vielleicht als
symptomatisch für die Ansprüche der jüngsten Psychiatergeneration
auffassen, wenn wir ihren Erfolg in Betracht ziehen. Auch die
Stellung, die der Autor gegenüber dem Tatsachenmaterial der
psychoanalytischen Forschungsrichtung einnimmt, mag von
allgemeiner Bedeutung sein. Jedenfalls ist sie ein Fortschritt
gegenüber jener Zeit, wo der klinische Psychiater noch „auf die
Verkehrtheit des letzten Zieles all dieser Erkenntnisbestrebungen“
hinweisen zu müssen glaubte (Isserlin, 1910). Wenn wir diese
Studie trotzdem unbefriedigt aus der Hand legen, so liegt dies,
145
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
abgesehen von klinischen Aussetzungen (ungenügende Abgrenzung
von der Schizophrenie, also der psychopathologischen Proze߬
psychose par excellence und von der Zwangsneurose), insbesondere
an methodologischen Bedenken. Vorausgeschickt sei nur noch die
Krage, ob hier wirklich keine näheren Beziehungen zur Psycho¬
analyse existieren, worauf ich nur mit der Gegenfrage antworten
möchte, ob jemand zu glauben vermag, daß diese ganze Charakter¬
physik, Affektdynamik und Lehre von der Inversion ohne die
immense Arbeit der Wiener und Zürcher Schule überhaupt
mOglich gewesen wäre, ja ob sie nicht überhaupt nur ein streng
systematischer Ausbau der betreffenden Lehren dieser Schulen ist.
Die Gegensätze liegen, wie wir gleich sehen werden, nicht innerhalb
der Charakterphysik selbst, sondern in der Stellung, die diese im
Ganzen der psychiatrisch-klinischen Anschauungen .dort, des
psychoanalytischen Systems hier, einnimmt.
Hinsichtlich der „Charakterphysik“ an und für sich ist nun
zu sagen, daß für sie dieselben Einwände gelten, die seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Lehre von den seelischen
Vermögen erhoben werden. Wie Kretschmer eingangs selbst
hervorhebt, ist der Charakter lediglich ein Durchschnittsbild,
sind die regelmäßig wiederkehrenden Eigenschaften
lediglich umgestempelte und fixierte, regelmäßig wiederkehrende
zeitliche Vorgänge. Der Charakterbegriff ist also nichts anderes
als ein Typusbegriff, ein allgemeiner oder Gattungsbegriff, die
Eigenschaft oder Fähigkeit nichts anderes als die objektivierte
Regelmäßigkeit psychischer Vorgänge. Solange es sich nur um
Beschreibung, um Inventarisierung des Tatsachenmaterials handelt,
sind solche Begriffe unentbehrlich; sie werden aber zu Fallstricken
und führen zu Tautologien, wenn sie zum Zwecke der Erklärung,
und gar der kausalen Gesetzmäßigkeit, dienen sollen. Es führt zu
keinerlei Erweiterung und Vermehrung unserer Erkenntnis, wenn
man als Ursache von einander ähnlichen Vorgängen den
Gattungsbegriff dieser Vorgänge verselbständigt und ihm ein
eigenes Wesen hypostasiert, indem man ihm den für das
nie meßbare Seelische gänzlich „leeren Titel“ Kraft oder Vermögen
anhängt l . Daran ändert auch der biologische Mantel nichts, den
1 „Man hat aber schon längst eingesehen, daß die gemeinüblichen
Erklärungen gewisser Veränderungen und Tatsachen aus besonderen Ursachen
und Vermögen derselben im Grunde nichts weiter ausmachen, als eine bloße
Wiederholung der Erscheinung und der Tatsache selbst, deren Eigenschaften
man erst begreiflich machen will, mit der Hinzufügung des Wortes Kraft
oder Vermögen“ (Schulze, Aenesidemus, 1792, S. 106).
146
Ludwig Binswanger
Kretschmer seinem sensitiven Beziehungswahn umhängt, da
die biologischen Ursachen der Erschöpfung und Entartung nur als
konkommittierende Begleiterscheinungen zu denken sind neben
der wesentlichen Krankheitsursache, der psychologischen
Wechselwirkung zwischen Charakter und Erlebnis. Vor allem
aber: wenn man den an sich sehr interessanten und lehrreichen
Versuch wagt, durch die sehr verschiedenartigen Zustandsbilder
der Beziehungsneurose, der sprunghaften Wahnbildung, des akuten
und systematisierten Wahnsinns hindurch, eine Krankheitseinheit,
das Wesen „sensitiver Wahn“, festzustellen, bedarf es, um zu
einer halbwegs befriedigenden Lösung zu gelangen, eines einheit¬
lichen, leicht demonstrierbaren Substrats, auf das alle jene
wechselnden Zustände zurückzubeziehen sind. In dem sensitiven
Charakter aber ein solches Substrat zu sehen, vermögen wir nach
den vorigen Ausführungen nicht. Es mag sein, daß das eine oder
andere Bild, das der Autor uns vorführt, sich eine selbständige
Geltung innerhalb der Paranoia zu erringen vermag; die Gesamtheit
all dieser Bilder aber von der leichtesten Zwangsneurose bis zum
physikalischen Verfolgungswahn unter einen Hut zu bringen,
diesen Versuch müssen wir als gescheitert betrachten, wenn
jener Hut durch die Konstruktion eines Charaktertypus’
repräsentiert wird 1 .
Meine Damen und Herren! Die Anknüpfungspunkte sind nun
bezeichnet, von denen aus wir das Verhältnis der Psychoanalyse zur
Psychiatrie ganz im Groben darstellen können. Zunächst sei aber noch
darauf hingewiesen, daß die d r e i Wege, auf denen wir in der Psychiatrie
zu Krankheitsbegriffen gelangen, — daß es einen einheitlichen
Krankheitsbegriff hier nicht gibt, haben Sie gesehen — daß diese
drei Wege keineswegs immer getrennt nebeneinander herlaufen.
Daß es zum Beispiel einen guten Sinn hat, bei Prozeßerkrankungen,
insbesondere bei psychopathologischen Prozessen, noch nach der
Art und Weise von Reaktionen der Persönlichkeit zu fragen,
wissen Sie von der Schizophrenie her. So unterscheidet Bleuler
bekanntlich die „direkt dem Krankheitsprozeß entspringenden
Symptome“ von den sekundären, „erst durch die Reaktion der
kranken Psyche“ entstehenden, und sein epochemachendes Buch
1 Kretschmer hat den rigoros-dogmatischen Standpunkt, den er in
der Schrift über den sensiblen Beziehungswahn eingenommen, seither auf¬
gegeben. Vgl. Gedanken über die Fortentwicklung der psychiatrischen
Systematik. Ztsch. f. d. ges. Neurol. und Psychiatr. 48,1919, und Die psycho-
patholog. Forschung und ihr Verhältnis zur heutigen klin. Psychiatrie.
Ebd. 57, 1920.
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
147
über die Schizophrenien setzt ja diese Unterscheidung mit dem
Rüstzeug der psychoanalytischen Forschungsmethode über das
ganze große Gebiet hin durch. Es soll damit nur noch einmal daran
erinnert werden, was dem Psychoanalytiker übrigens selbstverständlich
ist, daß die Forschung nach psychologischen Zusammenhängen,
nach psychischen Reaktionen und Entwicklungen (im weiteren,
nicht rein-klinischen Sinne!) natürlich auch da ihren Sinn und
ihre Berechtigung hat, wo das psychische Geschehen formal durch
einen Krankheitsprozeß alteriert ist. Für die Diagnostik resultiert
daraus, daß neben der Prozeßdiagnose sehr gut eine Persön¬
lichkeit*- oder Charakterdiagnose einhergehen kann. Im Prinzip
hindert nichts daran, auch bei einem Paralytiker Komplex-
forscliungen anzustellen, solange seine Psyche überhaupt noch
„reagiert“.
b) Psychoanalyse.
Wir haben gesehen, daß die Psychiatrie sich auf den beiden
ersten Wegen zur Bildung des Krankheitsbegriffes von der einheitlichen
Persönlichkeit weit entfernt, aber zu wohl umrissenen Krankheits¬
bildern gelangt, der Paralyse etwa, den Schizophrenien, dem
manisch-depressiven Irresein, daß sie hingegen auf dem dritten
Weg bestrebt ist, die Persönlichkeit zu erhalten, gerade sie in
den Krankheitsbegriff aufzunehmen, wobei sie aber noch kein
klinisch befriedigendes Resultat erreicht hat. Das gilt auch für die
so schönen Ansätze Tilings.
Die Psychoanalyse hingegen, womit ich lediglich diedurchFreud
angebahnte und ausgebaute Forschungsrichtung kurz bezeichne, geht
ausschließlich von der Persönlichkeit aus, verliert das Ganze der Persön¬
lichkeit nie aus dem Auge, betrachtet die Krankheit nicht wie einen
fremden Eindringling, sondern wie ein in kontinuierlichem Fluß
befindliches Stück der lebendigen Persönlichkeit selbst. Wir dürfen nicht
vergessen, sagt Freud, „daß die Krankheit nichts Abgeschlossenes,
Erstarrtes ist, sondern weiter wächst und ihre Entwicklung fortsetzt
wie ein lebendes Wesen“ (Vorlesungen S. 520)'.Mit dieser Auffassung
der Krankheit bleibt der Krankheitsbegriff zwar in großer
Wirklichkeits- und Lebensnähe, aber umso schwerer ist er nach
Umfang und Inhalt darzustellen; denn wenn wir das Leben in
1 Es ist noch viel zu wenig betont worden, wie nahe sich Freuds
Betrachtungsweise des gesunden und kranken Seelenlebens mit den Betrach¬
tungsweisen der modernen „Philosophen des Lebens“ berührt, zum Beispiel
Simmels und vor allem Bergsons. (Vgl. z. B. „Le sentiment lul-meme
est un ütre qui vit, qui se däveloppe, qui change par consequent sans
cesse . . . .“ Essai sur les Donnöes immediates de la Conscience, p. 100.)
148
Ludwig Binswanger
Begriffe aufnehmen wollen, erstarrt uns entweder das Leben im
Begriff oder zerfließt uns der Begriff im Leben. So viel man auch
über die „Konstruktionen“ Freuds abgeurteilt hat, ihre enge
Berührung mit dem Leben, mit der anschaulichen Mannig¬
faltigkeit desselben kann nur der beurteilen, dem jenes Anschauungs¬
material mühelos aus der Erfahrung zufließt.
Fassen wir den Weg der psychoanalytischen Forschung,
soweit sie für die Psychiatrie in Frage kommt, näher ins Auge,
so steht am Eingang also das Bild der Persönlichkeit. Wie wir zu
diesem Bild gelangen, durch Intuition im Sinne Bergsons, durch
reine Wesensschau im Sinne Husserls oder durch eine
transzendentale oder Vernunftidee im Sinne Kants, das können
wir hier, wo wir von dem fertigen empirischen Bild der Person
ausgehen, unerörtert lassen. Wir nehmen an, die individuelle
Persönlichkeit stehe vor uns in ihrer äußeren Gestalt, ihrem
historischen Werdegang, ihren Schicksalen, Leiden und Freuden,
Erinnerungen, Befürchtungen, Wünschen und Zielen. Wir gehen völlig
auf in der Einheit dieses Wesens, in seiner Intuition oder in seiner
„Idee“. Nun erst beginnt die begriffliche Analyse, die begriffliche Sektion
dieser Persönlichkeit. In der Schulpsychologie seit Mendelssohn,
Tetens, Kant zerschneidet gleich der erste Schnitt die Persön¬
lichkeit in drei Teile: in die Funktionen des Denkens, Fühlens,
Wollens, aus denen wir die lebendige Einheit der Persönlichkeit,
die mehr ist als eine Summe von Funktionen, nie wieder herstellen
können. Anders in der Psychoanalyse. Sie teilt die Persönlichkeit
nicht in Funktionen oder irgendwie geartete Gattungen psychischen
Geschehens, sondern dringt unter völliger Wahrung ihrer Einheit
in ihre inneren Wesensbestandteile ein. Als ersten, gleichsam
auf der Hand liegenden Wesenszug der Persönlichkeit hebt sie das
heraus, was wir mit einem möglichst unpräjudizierlichen Ausdruck
den innerenWiderspruch der Persönlichkeit oder, intransitiv
gewendet, die innere Widersprochenheit des seelischen
Erlebens nennen können. Sie findet rasch, daß diese innere Wider¬
sprochenheit daher rührt, daß die Persönlichkeit nicht nur passiv
erlebt, nicht nur Erlebnisse „hat“, sondern auch intentional auf sie
gerichtet ist, sich aktiv zu ihnen stellt, sie beurteilt und wertet,
sie auszeichnet oder verwirft. Was ihr dabei als Wert, Norm oder
Maßstab dient, kann uns hier, wo wir hauptsächlich nach der
Methode der psychoanalytischen Forschung, weniger nach ihrem
sachlichen Gehalt fragen, gleichgültig sein. Wichtig ist nur, daß
die Persönlichkeit in der Psychoanalyse zu allererst als wertendes
Wesen aufgefaßt wird. Im Vordergrund der Menschenbetrachtung
149
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
Freuds steht keineswegs der Mensch als ein von der Wirklichkeit
bloß Reize empfangender, sie erkennend bloß abbildender un
motorisch auf sie reagierender Automat, sondern als ein nach Normen
oder Werten urteilendes geistiges Wesen. Wie der Mensch die
Welt wertet und als einen Teil der Welt sich selbst, das ist die
<Grundfrage der Psychoanalyse. Dafür hat sie den terminus technicus:
nPsyc hischerKonflikt“. Wie der Mensch im Gewissens¬
konflikt. (in der allerweitesten Bedeutung dieses Wortes) sich dreht
und wendet, wie er vor sich, Gott und der Welt „rein“, wertvoll
oder normgerecht dastehen will und doch immer wieder seiner
„Unreinheit“. Wertlosigkeit oder Normwidrigkeit gewahr wird, wie
er Gott, sich selbst und die Welt betrügt, um wenigstens das
Phantom der Reinheit zu erhaschen, das und nichts anderes ist
das Grundthema der Psychoanalyse.
Auf Grund der Widersprochenheit der Erlebnisse gelangen
wir zu zwei Aspekten der Persönlichkeit, zur Persönlichkeit als
die Norm, den Wert vertretende „Instanz“ und zur Persönlichkeit
als die Norm verwerfende „Instanz“. Beide Ausdrücke bezeichnen
natürlich zunächst nur Verselbständigungen oder Personifikationen
des Inbegriffs der normgemäßen und der normwidrigen Erlebnis¬
tendenzen der Persönlichkeit.
Als zweiten inneren Wesensbestandteil der Persönlichkeit,
der aber mit dem ersten aufs engste zusammenhängt, finden wir die
Ungleichartigkeit hinsichtlich der Beherrschung
ihres eigenen Erlebnisschatzes durch das auf¬
fassende Bewußtsein, passiv und bildlich gewendet, die
ungleichmäßige Entfernung oder Zugänglichkeit der Erlebnisse
vom Zentrum der bewußten Persönlichkeit aus. Das Bild, das die
Psychoanalyse vom einzelnen Individuum bekommt, färbt sich also
erstens nach der Art und Tiefe des die Person durchziehenden
Widerspruchs, zweitens nach der Art und Tiefe der von der
Persönlichkeit aufgebrachten Durchdringung ihrer Erlebnisse mit
dem auffassenden oder intentionalen Bewußtsein.
Den dritten und zentralsten Wesensbestandteil der
Persönlichkeit endlich erblickt die Psychoanalyse in dem Verhältnis
zwischen dem ersten und zweiten. Daß ein bestimmtes Verhältnis
existiert zwischen dem Werterleben, insbesondere dem Selbst¬
werterleben und der Durchdringung des Erlebens mit Bewußtsein
(oder seiner bewußten Beherrschung seitens der Persönlichkeit),
dies ist die Grundüberzeugung der psychoanalytischen Schule. Und
das Bild der einzelnen Persönlichkeit konstituiert sich wiederum
wesentlich nach der Art dieses Verhältnisses.
150
Ludwig Binswanger
Derjenige Begriff, in dem diese drei Wesensmerkmale der
Persönlichkeit Zusammentreffen, ist der Begriff der Verdrängung.
Er meint zunächst nichts anderes als einen empirisch-phänomeno¬
logischen Tatbestand im Seelenleben der Persönlichkeit auf Grund
jener Bestandteile. An diesen Tatbestand knüpft sich dann all das,
was wir als Entstellung und Wiederkehr des Verdrängten,
als seelische Kompromißerscheinungen usw. kennen, und was uns
das Bild der gesunden und kranken Persönlichkeit immer mehr
von der inhaltlichen Seite her vervollständigt. Je tiefer wir hier
dringen, je zahlreichere und feinere Wesensbestandteile wir dann
noch aufdecken mögen, nirgends stoßen wir auf etwas anderes
als auf die Persönlichkeit selbst, auf ihr Wesen und Walten. Die
systematische Vertiefung und Durchdringung der Persönlichkeit
durch wohl abgrenzbare und begriffliche Merkmale, die hierdurch
ermöglichte Aufdeckung und Verfolgung seelischer Tatbestände
durch alle ihre wechselvollen Schicksale hindurch, mit einem Wort:
die Besitzergreifung der Persönlichkeit durch das
begriffliche Denken, hierin erblicke ich den Hauptimpuls,
den die Wissenschaft vom Menschen als Individuum durch Freud
erhalten hat.
Nun wissen wir aber, meine Damen und Herren, daß das,
was ich Ihnen soeben in möglichst allgemeiner und freier Form
vorgetragen habe, nur einen Teil des Gebietes und der Energie des
Freud sehen Denkens und Forschens ausmacht. Freud selbst
bezeichnet diesen ersten Teil seiner Lehre als die „deskriptive
Darstellung“, von der er stets bestrebt ist, zu einer „dynamischen
Auffassung“ weiterzuschreiten; mit anderen Worten, er tendiert
immer zur Einordnung der beschriebenen seelischen Tatbestände in
einen supponierten Kräftezusammenhang, welch letzterer wieder von
der Konstruktion eines seelischen Apparates getragen wird. Wir stehen
jetzt vor Freuds „Seelenphysik“, wo die Person, ähnlich wie in den
„Grundtatsachen des Seelenlebens“ von Lipps, in ein Kräftereservoir
verwandelt wird und die quantitative Betrachtung, welche für das
rein Seelische ja immer nur darstellerischen und Gleichniswert
haben kann, die inhaltliche Betrachtung verdrängt. Dies geschieht
zum Schaden der Persönlichkeitspsychologie, die umso größeren
Gewinn davonträgt, je reiner sie durchgeführt wird, zum Nutzen
der Psychiatrie, die, da sie mehr ist als Psychologie, auf das
quantitative Moment nicht verzichten kann. Das Schicksal der
Persönlichkeit ist jetzt nicht mehr bestimmt durch das Was
ihres Erlebens, also durch das rein Psychologische, das immer
nur qualitativen Charakter hat, sondern durch das Maß ihres
151
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
Erlebens, d. h. durch die ihr zur Verfügung stehende Summe
seelischer Energie. Das Steigen und Fallen des Manometers an
diesem Reservoir, die Verteilung ferner der Energiemengen in den
verschiedenen kommunizierenden Röhren des seelischen Apparates,
das Zurückfluten, Sichaufstauen, die Beweglichkeit, Verschieb¬
barkeit usw. der Energiebesetzungen, dies entscheidet jetzt über
das Schicksal der Person.
Wir bedürfen nun nicht mehr des auf intuitivem, rein
phänomenologischem oder transzendentalem Wege gewonnenen
Hildes der seelischen Persönlichkeit, sondern all jener Begriffe, bei
denen der Naturwissenschaftler sich erst wieder wohl fühlt und
von denen er glaubt, daß sie das Requisit des wissenschaftlichen
Begriffssystems überhaupt ausmachen. Der Ausgang des Seelen¬
konti ikts eines Hamlet oder Ödipus, einer Antigone oder Lady
Macbet h droht sich jetzt umzugestalten und zu reduzieren auf die
Frage, wo, d. h. in welchen Kanalsystemen ihres Energiereservoirs,
u ml wann das in Unordnung gebrachte Kräftegleichgewicht wieder
hergestellt sein werde. Ich sage ausdrücklich „droht“, denn nur
krassem Unverstand mag es gelingen, Freuds Seelenphysik,
losgelöst, von seiner Psychologie, als selbständiges wissenschaftliches
Gebäude zu betrachten. Wie nahe die quantitative und qualitative
Betrachtung des Seelenlebens bei Freud innerlich Zusammen¬
hängen, mag im Vorbeigehen ein Blick auf den Begriff des
Unbewußten lehren, womit einerseits ein deskriptiv-phänomeno¬
logischer Tatbestand, ein Phänomen, wie Freud sagt, andererseits
ein bestimmtes „System“ im seelischen Apparat gemeint ist.
Dieses System ist aber nicht nur eine bestimmte „Lokalität“, ein
topisch bestimmter Ort im Seelenapparat, wo die Energiebesetzungen
und -Umsetzungen quantitativ anders verlaufen als in der Örtlichkeit
des Bewußten, sondern diese ganze sich an Fechner anlehnende
Hilfskonstruktion oder Fiktion dient ja doch nur dazu, dem
qualitativ anderen Geschehen, das wir mit dem Titel „das
Unbewußte“ bezeichnen, faßlichen Ausdruck zu verleihen. Auf die
enormen qualitativen Unterschiede desjenigen seelischen Geschehens
aufmerksam gemacht zu haben, das sich als Widersprochenes
unter dauernder Ablehnung und entsprechend anderer Beleuchtung
innerhalb der Persönlichkeit abspielt, darin erblicke ich den zweiten
Ruhmestitel der Freudschen Forschung. Der große Unterschied
zwischen der „Seelenphysik“ Freuds und derjenigen der großen
Systeme der Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts —
Descartes’, Hobbes’, Spinozas, Leibnizens — besteht
darin, daß diese Systeme aus vorwiegend metaphysischen und
152
Ludwig Binswanger
methodologischen Gründen ganz allgemein dem Prinzip der
Kausalgesetzlichkeit, insbesondere der mechanischen Kausalität,
des Reflexmechanismus usw. auch auf dem Gebiete des Seelenlebens
Geltung zu verschaffen suchten, während Freuds Seelenmechanik
und seelische Strukturierung nur zur Verdeutlichung und Fixierung
der Fülle des empirischen psychologischen Materials
dient und nur daher seine Existenzberechtigung nimmt. Von
Kretschmers Charakterphysik andererseits unterscheidet
sie sich durch eine grundsätzliche sachliche Verschiedenheit, die
uns sogleich auf das dritte Gebiet des Freud sehen Denkens
führen wird.
Meine Damen und Herren! Die Kräfte, die den Charakterapparat
bei Kretschmer in Bewegung setzen und die Bewegung unter¬
halten, sind eben die Charakterkräfte, d. h. mit dem Kraftmerkmal
versehene Charaktereigenschaften, also seelische Daten. Die Kräfte
des Freudschen Seelenapparates haben eine ganz andere
Provenienz. Sie entstammen einer Quelle, die tatsächlich Kräfte
spendet, nämlich dem biologischen Organismus. Indem Freud
entsprechend seiner ganzen wissenschaftlichen Vergangenheit und
Denkrichtung von Anfang an den Zusammenhang des Seelenlebens
mit dem biologischen Geschehen betont hat, hat er der reinen
Persönlichkeitsforschung oder Psychologie, die keine Verquickung
mit irgendeiner anderen Disziplin, insbesondere einer naturwissen¬
schaftlichen, verträgt, zwar Eintrag getan, der psychiatrischen
Verwertbarkeit seiner Lehre aber Vorschub geleistet. Der Psychiatrie,
die es mit dem gesamten, seelisch-körperlichen Wesen zu tun hat,
ist mit Persönlichkeitsforschung allein, auch wenn sie sich
physikalisch drapiert, nicht gedient; sie ist, wie eingangs betont,
auf eine Forschungsmethode angewiesen, die das metaphysische
Problem Seele und Leib irgendwie gleich dem gordischen Knoten
zerhauen hat. In der neueren Psychiatrie geschieht dies, indem —
gemäß dem Satze: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten —
die psychischen Vorgänge als die „höheren“ hirnphysiologischen
Vorgänge aufgefaßt werden. Sorglos, wie der Reiter über den Bodensee,
überspringt sie so jenen metaphysischen Abgrund. Auch Freud
sieht in dem Gehirn das „Organ der Seele“; doch handelt es sich
hier um eine stillschweigende Voraussetzung ohne systembildendes
Leben. Die Metaphysik Freuds liegt auf einem anderen Gebiet.
Auch er hofft, „den gemeinsamen Boden aufzudecken, von dem
aus das Zusammentreffen körperlicher mit seelischer Störung
verständlich wird“. Dieser gemeinsame Boden ist aber nicht die
physiologische Gehirnfunktion, wie etwa bei Wernicke, oder der
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
153
anatomische Hirnrindenbau, wie bei Kraepelin und seinen
Schülern. Leib und Seele und deren Störungen treffen bei Freud
zusammen im Trieb, d. h. in demjenigen an den Organismus
geknüpften Geschehen, das wir als die Triebhaftigkeit schlechthin
bezeichnen und nach oben von dem normativen Erleben, nach unten
von den rein physikalisch-chemischen Vorgängen begrifflich
abgrenzen können. Im Trieb sieht Freud bekanntlich den „Grenz-
begriff zwischen dem Psychischen und Somatischen“, das Zusammen¬
sein von „organischen Mächten“ und deren „psychischen Repräsen¬
tation“. ln Freuds Trieb verbirgt sich jenes metaphysische
Teufelchen, das in der Psychiatrie in der Hirnrinde sein Unwesen
treibt. Der Begriff des Triebes ist der eigentliche Kernpunkt der
K r e u <1 sehen Lehre, das Fundament des ganzen Gebäudes, der
Gegenstand, auf den er in unermüdlicher Forscherarbeit die Haupt¬
energie seines Denkens verwandt hat. In der offiziellen Psychiatrie
ist dieser wichtigste, folgenschwerste Teil seiner Lehre weder in
seiner theoretischen Bedeutung erkannt, noch in seinen empirischen
Grundlagen gewürdigt. (Erst in den ausgezeichneten Arbeiten
Schilders weht uns eine neue Luft entgegen!) Solange die
klinische Psychiatrie die Beziehungen etwa zwischen Trieb-
perversionen und neurotischen Symptomen nicht anerkennt und
solange sie hartnäckig die Augen verschließt gegen die Tatsache,
«laß «'ine Menge einzelner Symptome sowie manche Kr a.nkh eit.s-
phast'n und -stufen irgendeiner Triebbefriedigung dienen, solange
das kann man ruhig aussprechen — hat die klinische Psychiatrie
den Kern und das Wesen der psychoanalytischen Forschungsrichtung
un«l ihrer Ergebnisse nicht berührt.
Doch gehen wir weiter systematisch vor. Wir haben die
Persönlichkeitsforschung und Seelenphysik Freuds gestreift und
befinden uns jetzt bei seiner dritten Betrachtungsweise, der
biologischen. Freud selbst verwendet hier den Ausdruck
„ökonomische Betrachtung“ und spricht auch in deutscher
Wendung von einer Erforschung des seelischen „Haushalts“. Wir
können, einen anderen, seit Kant in der Biologie eingebürgerten
Ausdruck gebrauchend, auch von einer teleologischen
Betrachtung reden. Gefragt wird jetzt nicht mehr nach dem Bestand
psychologischer Zusammenhänge innerhalb des Erlebens der
Persönlichkeit, noch nach quantitativen oder Maßverhältnissen
zwischen Kraftgrößen innerhalb des seelischen Apparates, sondern
nach teleologischen, d. i. zweckvollen Zusammenhängen inner¬
halb des biologischen Leistungszusammenhanges, des biologischen
Organismus’. Doch bitte ich Sie wohl zu beachten, daß diese
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 11
154
Ludwig Binswanger
!
:!
!
Teleologisierung, dieses Abstellen auf ein Telos, einen Zweck oder
eine Absicht, nur für die biologische Betrachtungsart Freuds
gilt, keineswegs für die psychologische. Es ist etwas ganz anderes,
ob man, wie es in der Biologie geschieht, nach Absichten oder
Zwecken der „Natur“ fragt oder, wie es in der Psychologie
geschieht, nach Absichten oder Zwecken der Person! Im letzteren
Falle verfährt man durchaus psychologisch-kausal; denn
die Absichten einer Person, das sind ja gerade ihre „Beweggründe“,
die Ursachen ihres Tuns und Handelns.
Die biologisch-teleologische Grundfrage Freuds knüpft nun
keineswegs an seine Psychologie an, sondern, gemäß dem
dreistöckig gegliederten Bau seiner Lehre, an seine Seelen¬
physik. Was bezweckt die Natur oder was für eine Absicht verfolgt
die Natur, so fragt Freud, mit der „Arbeit unseres seelischen
Apparates“? Wir kennen die Antwort: Diese Absicht ist auf
„Gewinnung von Lust und Vermeidung von Unlust gerichtet“,
auf „automatische Regulierung durch das Lustprinzip“. „Das
Endziel der seelischen Tätigkeit, das sich qualitativ als Streben
nach Lustgewinn und Unlustvermeidung beschreiben läßt, stellt
sich für die ökonomische Betrachtung als die Aufgabe dar, die im
seelischen Apparat wirkenden Erregungsgrößen (Reizmengen) zu
bewältigen und deren Unlust schaffende Stauung hintanzuhalten“
Hier haben Sie alle drei Betrachtungsweisen: die qualitativ¬
psychologische, die quantitative und die teleologische nebeneinander.
Sie erkennen die Abhängigkeit, in die die reine Persönlichkeits¬
forschung durch die Verquickung mit den beiden anderen Betrachtungs¬
arten, nicht zu ihrem Nutzen, kommt. Ich betrachte es als eine
Vergewaltigung des Persönlichkeitsbegriffs, wenn man ihn durch
naturgesetzliche und teleologische Gesichtspunkte entpersönlicht;
aber Psychiatrie deckt sich ja, ich wiederhole, nicht mit Psychologie,
auch nicht mit Pathopsychologie, sondern sie ist wie Medizin
überhaupt: Biologie. Sicherlich haben wir in der Verquickung jener
drei Betrachtungsarten eine wissenschaftliche Konstruktion vor
uns. Freud selbst weiß das am besten, aber anstatt die Ausgestaltung
des ganzen Baues lediglich zu bekritteln, sollte die Psychiatrie
sich auf dessen methodologische Fundamente besinnen, dann würde
sie erkennen, daß es sich hier um einen Versuch handelt, der
gerade diejenigen wissenschaftlichen Elemente enthält, die ihre
eigenste Aufgabe ausmachen. Gehirnforschung im physiologischen
1 Vorlesungen, S. 435.
155
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
uml neurologischen Sinne soll gewiß nicht in ihrer Bedeutung für
di,- Psychiatrie herabgesetzt werden, ebensowenig wie die natur¬
wissenschaftlich betriebene Psychologie oder Leistungspsychologie.
Jedoch handelt es sich hier lediglich um Hilfswissenschaften, die
ein System der Psychiatrie als biologische Wissenschaft
niciit einfach in toto übernehmen oder gar im einzelnen zu ihrer
Basis erheben darf, aus welcher sie vielmehr in freier Gestaltung
ihrer Aufgabe diejenigen Elemente herausgreifen muß, die sich
ihren praktischen und methodologischen Bedürfnissen fügen.
Die Ausgestaltung der Trieblehre durch Freud können wir
hier im einzelnen natürlich nicht verfolgen. Wir wollen nur kurz
ihren Zusammenhang mit den beiden anderen Forschungsrichtungen
feststellen. Daß die Psychoanalyse nicht Charakterologie ist, daß
< "harakterologie, wo sie überhaupt in Frage kommt, für sie höchstens
ein Durchgangsstadium ist, erkennen wir sofort, wenn wir diesen
Zusammenhang erfaßt haben. Die Charaktereigenschaften sind hier
nicht einfach fixierte oder materialisierte und dann noch dynamisch
unterbaute Verhaltungsweisen der Persönlichkeit; sie sind nichts
Letztes, Feststehendes, sondern Erstes, Auflösbares. Hat die
Persönlichkeitsforschung inhaltlich bestimmte Verhaltungsweisen
der Person festgestellt, hat die quantitative Betrachtung ein Urteil
über das dynamische Maß derselben gefällt, so tritt erst die
biologische Betrachtung ins Feld und fragt, welche Triebunterlagen
hier in Betracht kommen. Genau so verhält es sich hinsichtlich
der neurotischen Symptome! Auch hier drei Fragen: In welchem
psychologischen Zusammenhang steht das Symptom oder, wie
Freud gern sagt, welcher Absicht der Person dient es, zweitens
welche Quantität oder „Energiebesetzung“ beansprucht es und
drittens, welcher Trieb äußert sich in ihm? Und ebendasselbe gilt
mutatis mutandis für die ganze Krankheit.
Nun wird das Verhältnis zwischen dynamischer und biologischer
Betrachtung bekanntlich dadurch noch ein besonders enges, daß
die K r a f t m e n g e, von der dort die Rede ist, durchaus aufgefaßt
wird als eine von den Trieben gelieferte Kraft, als Triebkraft im
eigentlichen Sinne des Wortes, nicht aber als seelische Kraft oder
seelische Energie schlechthin, was nie mehr als bildlichen Wert
beanspruchen kann. Dadurch wächst die Bedeutung, die der Trieb
bei Freud erhält, natürlich ganz enorm. Es kommt nun alles
darauf an, wie mit der Triebhaftigkeit weiter verfahren wird. Die
grobe Scheidung in Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und. in Sexual¬
triebe ist auch für Freud ein Notbehelf, kein Dogma. Was aber
11 *
156
Ludwig Binswanger
mit ihr geleistet werden kann, hat Freud gezeigt. Man kann
grundsätzliche Bedenken erheben, ob all das, was Freud der
Triebhaftigkeit zumutet, ihr wirklich zugemutet werden kann,
wobei ich persönlich ganz besonders an das rein normative Erleben
denke ; man kann ferner im einzelnen verschiedener Meinung sein,
ob der Anteil der Sexual- oder der Ichtriebe an einer Symptom¬
bildung größer ist; man kann ferner darüber betrübt sein, daß
das Erleben der Persönlichkeit, ihre entscheidenden Lebenskonflikte,
auf einen Kampf zwischen zwei Triebrichtungen eingeengt wird —
all das wirft die große praktische Leistung, die F r e u d mit seinem
Begriffssystem geschaffen hat, und dieses Begriffssystem selbst
nicht um. Auch ein wissenschaftliches Individuum wie dasjenige
der Psychoanalyse hat seine Fehler und Mängel; es darf aber
beanspruchen, aus seinen eigenen Zwecken und nach seinen eigenen
Mitteln verstanden und beurteilt zu werden.
Nach alledem können wir uns nun dem Krankheitsbegriff
der Psychoanalyse zuwenden. Über ihn selbst spricht sich Freud
nirgends eingehend aus, wohl aber über die Verursachung der
Krankheit. Ich kann hier nicht im einzelnen wiederholen, was
Freud in seinem Aufsatz „Über neurotische Erkrankungstypen“
(Sammlung kleiner Schriften III) und in der 22. bis 26. seiner
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse über die
Ätiologie der Neurosen gesagt hat. Ich erinnere Sie nur kurz an
die hier künstlich isolierten, in Wirklichkeit fast immer zusammen
auftretenden Bedingungen der äußeren Versagung, des seelischen
Unvermögens zur Erfüllung der Realforderung, der Entwicklungs¬
hemmung der Libidofunktion und der damit verbundenen
Konfliktsneigung und schließlich der durch rein organische
Veränderungen bedingten Vermehrung oder Verminderung der
absoluten Libidoquantität. Wenn wir das Zusammenspiel all dieser
Faktoren in der Freudschen Theorie auch nur einigermaßen
begriffen haben, so werden wir uns sofort darüber klar, daß
Freud die seelische Erkrankung weder rein psychogen noch
rein somatogen auffaßt, weder rein durch das äußere Schicksal
noch durch die seelische Erlebnisreaktion, weder allein durch
konstitutionell-biologische Momente (Heredität), noch allein durch
akzidentell-biologische (körperliche Erkrankungen, Erschöpfung,
Pubertät, Klimakterium usw.) entstanden sein läßt. Wohl gibt es
Grenzfälle, in denen die eine oder andere Bedingung der gesamten
„Ergänzungsreihe“ (Freu d) relativ rein auftritt; aber diese
Grenzfälle ändern an der Auffassung von der seelischen Krankheit
als solcher nichts, die in ihrer endgültigen Gestalt doch immer
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
nur durch ein Zusammenwirken aller oder mehrerer Momente
h.'ilin -i ist In welch kunstvoller Weise Freud das uns in der
Erfahrung: immer wieder vor Augen tretende Zusammenwirken
all dieser Momente zu einem einheitlichen seelisch-organischen
Geschehen gestaltet hat, mag der Hinweis auf das Zusammen-
wiri • n von rein seelischer Verdrängung, rein seelischer Regression
au f die infantile Situation (Hysterie), rein biologischer Regression
auf frühere Stufen der Trieborganisation (Zwangsneurose), ferner
von biologischer Triebfixierung und rein quantitativer Triebenergie-
verschiebung viTansrhaiilichon. Diese Schlagworte sollen uns nur
deutlich große Fülle von Beobachtungsmaterial und
die enorme geistige Arbeit zu ihrer Ordnung', Gruppierung und
/.um Verständnis ihres Zusammenhanges einen Moment vor Augen
führen. Von irgendeiner jener Bedingungen her kann also
.las seelische Gleichgewicht der Person gestört werden, am
wenigsten jedoch auf rein psychischem Weg; denn der Gesunde
leidet an denselben Konflikten wie der Kranke, und das rein
qualitative Erleben führt nur dann zur Krankheit, wenn ein
quantitatives Moment, eine relative Triebverschiebung oder eine
Schwächung oder Steigerung der absoluten Triebenergie hinzu-
kommt. Freilich können wir das jeweilige Triebenergiequantum
nicht, messen; „wir können es“, meint Freud, „nur postulieren,
nachdem der Krankheitserfolg eingetreten ist.“ Aber, wie wir
wissen, entscheidet über Gesundheit und Krankheit auch das rein
quantitative Moment nicht. Der eine verträgt dieselbe Verschiebung
der Libidomenge, denselben Zuwachs oder Entzug derselben, der
den andern zum neurotischen oder psychotischen Krüppel macht.
Wie es in bezug auf ein biologisches Objekt, wie es der seelisch
kranke Mensch in letzter Linie darstellt, selbstverständlich sein
sollte, tritt nun als letztes und ausschlaggebendes Moment das
teleologisch-biologische erst recht klar hervor. Es tritt uns hier
noch ein Faktor entgegen, den wir erst recht nicht messen
und nur, nachdem der Krankheitserfolg eingetreten ist,
postulieren können. Dieser Faktor beruht auf der Annahme, daß
jedes Individuum nur einen ganz bestimmten Betrag von Libido
überhaupt „bewältigen, d. h. in Spannung erhalten, sublimieren
oder direkt verwenden kann.“ Fiir den Ausbruch der Krankheit
kommt nun alles auf „das Verhältnis des wirksamen Libido¬
betrages“ zu jener Quantität von Libido in Betracht, welche das
einzelne Ich in Spannung erhalten, sublimieren oder verwenden
kann. Der Begriff einer solchen, von Individuum zu Individuum
variierenden und nur bis zu einer bestimmten Grenze anzuspannen-
158
Ludwig Binswanger
den Triebenergie 1 , ist, wie gesagt, erst recht ein Postulat des
teleologischen Denkens, keine Ursache im Sinne des kausalen
Denkens. Dabei soll dieser Gegensatz nicht überspannt werden;
wie enge beide Erklärungsweisen Zusammenhängen und aufeinander
angewiesen sind, hat schon Kant gezeigt. (Vergleiche aber vor
allem auch Sigwart: Der Kampf gegen den Zweck. Kleine
Schriften II.) Das Verhältnis zwischen wirksamem Libidobetrag und
der von dem Individuum überhaupt zu bewältigenden Libido¬
quantität beruht durchaus auf dem zweckmäßigen biologischen
Zusammenarbeiten der einzelnen Triebrichtungen, und zweckmäßig
ist dieses Zusammenarbeiten dann zu nennen, wenn es — seinen
Zweck erfüllt, nämlich die seelische Gesundheit aufrecht erhält.
Meine Damen und Herren! Ich muß Sie hier einen Augenblick
an die zwei verschiedenen Wege erinnern, auf denen wir zu den
Begriffen von Gesundheit und Krankheit gelangen können. Der
eine Weg ist das generalisierende oder verallgemeinernde Verfahren,
wobei dann Gesundheit und Krankheit lediglich deskriptive
Allgemeinbegriffe oder begriffliche Querschnitte durch die Breite
des als normal oder anormal Geltenden darstellen. Was aber als
normal oder anormal gelten soll, das hat dann jeweils schon die
empirische Forschung an durchaus schwankenden, empirischen
Einzelmerkmalen festgestellt. Wir gelangen so zu Durchschnitts¬
oder Idealtypen (Max Weber, Jaspers) für die einzelnen
Krankheitseinheiten sowohl als für den Begriff von Krankheit und
Gesundheit überhaupt. Dieser Weg ist derjenige der psychiatrisch¬
klinischen Forschung. Der andere Weg ist derjenige der Psycho¬
analyse. Geht die Psychiatrie, wie die medizinische Klinik überhaupt,
vom lebendig Einzelnen zum Allgemeinen vor, um dann aus der
Summe der Einzelheiten einen durchaus leblosen Typus zu bilden,
so geht die Psychoanalyse von einem lebensvollen Allgemeinen
aus, um dann zu immer lebensärmeren Einzelmerkmalen herab¬
zusteigen. Wie wir gesehen haben, ist der oberste Begriff der
Psychoanalyse gar nicht derjenige der Krankheit, sondern der der
Gesundheit. Lebensvoll ist er, weil er kein abstrakter Durchschnitts¬
begriff, sondern ein teleologischer Leistungsbegriff ist. Teleologisch
aber ist er nicht im naturphilosophischen Sinne, wo der Weg
zwischen Mitteln und Zweck im metaphysischen Dunkel liegt,
sondern im echt biologischen Sinn, wo der Zweck heuristisches
1 Ich sage hier absichtlich Triebenergie statt Libido quantität, weil wir
die Theorie Freuds auf die gesamte Triebhaftigkeit, also auch auf die
Ichtriebenergie, übertragen müssen, wenn wir seine Lehre auf das gesamte
Gebiet der Psychiatrie anwenden wollen.
159
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
Prinzip zur Aufdeckung von Kausalbeziehungen
Der Weg von den Mitteln zum Zweck liegt hier klar vor uns;
wenn auch nicht durchweg mit empirischen Daten belegt, so doch
I .rifflich klar vorgezeichnet und im Fortschreiten der empirischen
p »rschung ausfüUbar. Gesundheit ist hier nicht einfach identisch
mit subjektivem Wohlbefinden des Individuums oder mit objektiver
fhcroinst immung mit dem gesunden Durchschnittstyp, sondern
Gesundheit ist hier das Zusammenwirken verschiedenartigster
Teilfunktionen zur Erreichung eines einheitlichen, nur durch
i ene bestimmten Teilfunktionen zu erlangenden, einmaligen,
individuellen Zwecks. Der Zweck ist hier durchweg durch die
gegebenen Mittel bestimmt, und die Frage nach Gesundheit oder
Krankheit läuft hier immer darauf hinaus, ob mit den dem
Individuum verliehenen Mitteln dasjenige Maß von Leistungs¬
fähigkeit erreicht wird, das durch die Mittel garantiert ist.
Infolgedessen kann Freud auch nicht von einzelnen Kränk¬
ln its ursachon reden. Die Aufstellung seiner ätiologischen Typen
hat für ihn „keinen hohen theoretischen Wert; es sind bloß
verschiedene Wege zur Herstellung einer gewissen pathogenen
Konstellation im seelischen Haushalt“. Diese Konstellation oder
Situation ist aber „nicht etwa eine Neuheit für das Seelenleben
und durch das Eindringen einer sogenannten Krankheitsursache 4
geschaffen“, pathogen wird sie ja lediglich durch jenes quantitative
Verhältnis. Daher ist auch der „unfruchtbare Gegensatz von äußeren
und inneren Momenten“, also von exogen und endogen, von
Schicksal und Konstitution, aufzugeben. Die Verursachung der
neurotischen Erkrankung ist „regelmäßig in einer bestimmten
psychischen Situation zu finden, welche auf verschiedenen Wegen
hergestellt werden kann“.
Aus dem teleologischen Gesundheitsbegriff der Psychoanalyse
und ihren ätiologischen Ansichten erhellt nun ohne weiteres ihr
Krankheitsbegriff. Krankheit ist hier nicht Abweichung
von einem deskriptiven Typus und Zusammenfassung des
Abweichenden zu einem neuen Typus, sondern Abweichung von
einem lebendigen Zweck und Zusammenfassung des Abweichenden
in bezug auf die Grade seiner Zweckwidrigkeit. Am deutlichsten
wird dieser Unterschied, wenn wir daran denken, was der
Psychoanalytiker theoretisch unter Heilung versteht. Heilung
bedeutet für ihn nicht die neuerliche Wiederübereinstimmung mit
dem Durchschnittstypus des Normalen, die Restitutio ad integrum,
sondern Wiederherstellung des zweckvollen Zusammenarbeitens
der Teilfunktionen zu einer einheitlichen Gesamtleistung. Ich
160
Ludwig Binswanger
erinnere hier insbesondere an das, was der Psychoanalytiker als
Heilungstendenz paranoider Prozesse auffaßt, an die heilsame „Stille
nach dem Sturm“ des akuten paranoiden Schubes, von der schon
Tiling spricht, und erinnere Sie zur Illustration des Gesagten
an den Wiederaufbau des Weltgebäudes nach vorangegangenem
„Weltuntergang“ im Falle Sehreber. Der Psychoanalytiker kann
also unter Umständen da eine Heilungstendenz erblicken, wo der
Psychiater von einer paranoiden Verblödung sprechen muß. Auf
Grund der teleologischen Betrachtungsweise wird es für den
Psychoanalytiker sehr leicht, die „Krankheit“ in dem teleologischen
Zusammenhänge der Einzelfunktionen des Individuums zu belassen
und sie in ganz demselben Sinne wie das gesunde Geschehen in
den kontinuierlichen Fluß des Lebens der Person einzuordnen.
Nach all dem richtet sich auch die Diagnostik. Ein auf
ihren Anschauungen aufgebautes klinisches System hat die Psycho¬
analyse uns bisher zwar nicht geschenkt. In ihrer praktisch¬
diagnostischen Aufgabe hält sie sich gerne an die Lehren ihrer
älteren Schwester, die meist rascher zu einem praktischen Resultat
führen. Inwiefern sich ihre eigenen diagnostischen Anschauungen
zu denjenigen der klinischen Psychiatrie als „histologische“ Fort¬
setzung anatomischer Beschreibung verhalten, inwieweit es sich
dabei jedoch viel mehr um eine Kreuzung der Betrachtungs¬
weisen, als um eine Fortsetzung der einen durch die andere
handelt, sei im folgenden noch kurz angedeutet.
Auch für die psychoanalytische Diagnostik kommt selbst¬
verständlich zunächst der gesamte biologische Leistungszusammen¬
hang des Individuums in Betracht. Was in einzelnen Schichten oder
Dimensionen desselben vorgeht, ist allein nicht ausschlaggebend,
Hiedurch gelangt sie in Berührung zu der neuerdings auch von
psychiatrischer Seite (Kretschmer) empfohlenen mehrdimen¬
sionalen Diagnostik. Auch die Psychoanalyse liefert Schichtdiagnosen,
jedoch kommt für die Krankheitsdiagnose selbst nur das Zusammen¬
wirken der einzelnen schichtdiagnostischen Merkmale zu einem
einheitlichen Ganzen in Betracht, wozu wir in der Psychiatrie
noch nicht gelangt sind. Nicht das Vorhandensein von Verdrängungs¬
erscheinungen, von Inversionen (nach dem Terminus Kretsch¬
mers), von Introversion oder Projektion in die Außenwelt
entscheidet über das Krankheitsbild. Dieselben „Mechanismen“,
um diesen wenig glücklichen Ausdruck einmal zu gebrauchen, die
beim Gesunden im Traum und in der Fehlhandlung gefunden
werden, können in den Neurosen und in den schwersten Psychosen
gefunden werden. Maßgebend für die Differentialdiagnose auch
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
161
schon zwischen Gesundheit und Krankheit überhaupt ist nicht das
Vorhandensein solcher Mechanismen, sondern der biologische
Zusammenhang, in dein sie Vorkommen, mit den Worten Freu d s
„die Lebenswichtigkeit der Leistungen, in die sie verlegt sind“.
Ob gie an harmlosen Leistungen des Alltaglebens oder „an den
wichtigsten individuellen oder sozialen Leistungen hervortreten,
das unterscheidet Gesundheit und Krankheit und die einzelnen
nkheiten mehr voneinander, als etwa die Mannigfaltigkeit oder
die Lebhaftigkeit von Krankheitsäußerungen“ (Psychopathologie
des Ultaglebens, .i. Aull., S. 148 ff.). Aber auch hier stehen wir vor
.letzten“ Tatsache; vielmehr hat sich Freud eindringlich
llht, auch hiefür noch nach Gründen zu forschen. In welche
Leistungen die einzelnen Mechanismen verlegt werden, das hängt nach
ihm bekanntlich mit dem Entwicklungsgang der Libidofunktion und
deren Verhältnis zu den Selbsterhaltungstrieben zusammen. Wir
haben hier das hypothetischste, aber auch das interessanteste
Stück der Libidotheorie vor uns. Es kommt jetzt alles darauf an,
aus der psychoanalytischen Erforschung der seelischen Zusammen^
hänge des Individuums einen Einblick in den Entwicklungsgang,
in das Vorwärtsschreiten, Stehenbleiben oder Rückwärtsschreiten
seiner Triebfunktionen im einzelnen zu gewinnen und darauf zu
achten, ob die einzelnen psychiatrisch abgegrenzten Krankheits¬
bilder eine Verschiedenheit hinsichtlich der Entwicklung der
seelisch-biologischen Triebrichtungen aufweisen. Ich brauche Sie
hier nicht daran zu erinnern, zu welchen biologischen, insbesondere
.sexualbiologischen Unterschieden zwischen Hysterie, Zwangs¬
neurose, Dementia praecox, Paranoia, Freud hier gelangt ist. Für
Nichtanalytiker sei nur envähnt, daß wir die Hysterie nicht nur
nach dem Konversionsmechanismus, sondern vielmehr nach der
Rückkehr der „Libidobesetzung“ auf die infantilen Liebesobjekte
diagnostizieren, die Zwangsneurose weniger nach dem Substitutions¬
mechanismus (= Kretschmers Inversion), als nach der
„Rückkehr der gesamten Sexualorganisation zu einer niedrigeren
Stufe der Entwicklung“, die Dementia paranoides weniger durch
den Projektionsmechanismus, als ebenfalls durch einen Rückgang
der Libidofunktion, jedoch auf eine andere frühere Stufe, als es
bei der Zwangsneurose der Fall zu sein scheint (Narzißmus). Wie
enge dann ursprüngliche Fixierung einzelner Triebkomponenten,
deren Rückwirkung auf die weiter vorgeschrittenen Komponenten,
eigentliche Verdrängung und Symptombildung Zusammenhängen,
kann ich hier im einzelnen nicht mehr ausführen. Ich möchte nur
das eine gezeigt haben, daß alle drei Betrachtungsweisen, die wir
162
Ludwig Binswanger
vorhin auseinandergehalten haben, die psychologische, die quanti¬
tative und die biologische insgesamt auch für die psychoanalytische
Diagnostik in Betracht kommen, wobei der Hauptakzent freilich
auf der untersten Schicht liegt. Wir können ruhig sagen, daß
wir in der Psychoanalyse, im Gegensatz zur Psychiatrie, nicht zu
klinischen, sondern zu biologischen Diagnosen der seelischen
Erkrankungen gelangen. Jedoch ist auch diese Formulierung, wie
leicht ersichtlich, eine einseitige.
Es ist nun noch von Interesse, sich zu überlegen, welche
Stellung im psychoanalytischen System die organische Hirnrinden¬
erkrankung, etwa der paralytische, arteriosklerotische, toxische
Hirnrindenprozeß einnimmt; zweifellos keine andere als irgendeine
sonstige organische Körperkrankheit. Die organischen Krankheiten
überhaupt, ob des Gehirns oder eines anderen Organs, fallen unter
die Bedingungen des letzten ätiologischen Typus Freuds, nämlich
desjenigen, durch welchen eine Abnahme oder Zunahme der
absoluten Triebenergiemenge heraufbeschworen wird. „Eine
Schwächung des Ichs durch organische Krankheit oder durch
besondere Inanspruchnahme seiner Energie“, sagt Freud, „wird
imstande sein, Neurosen zum Vorschein kommen zu lassen, die
sonst trotz aller Disposition latent geblieben wären“ (Über
neurot. Erkrankungstypen, S. 312). Die organischen Hirnrinden-
erkrankungen kämen dann an das äußerste Ende dieser Reihe und
würden diejenige Gruppe bilden, bei welcher die Schwächung des
Ichs an absoluter Triebenergie derart ausgesprochen ist, daß es
auch ohne alle Disposition zur Psychose kommen muß. Für die
Psychoanalyse ist es nämlich gleichgültig, ob die rein biologisch¬
physiologische oder anatomische Ursache unmittelbar im Gehirn
liegt oder in einem anderen Organ, wobei dann die Hirnrinden¬
störung nur mittelbar oder sekundär ist. Sie hat es ja nie auf
eine einzige Ursache abgesehen. Von Wichtigkeit ist für sie ja
nur das Zusammenwirken der einzelnen Krankheitsbedingungen zu
einer pathogenen Situation. Auch Verlauf und Ausgang der
Krankheit kommen für ihre Stellung im psychoanalytischen System
nicht in Betracht. Daß es bei der klimakterischen Melancholie zu
einer Restitutio ad integrum, bei der paralytischen Depression
aber später zu einer Zertrümmerung des seelischen Apparates
überhaupt kommt, spielt hier keine Rolle, ähnlich wie es für das
ganz andersartige System Wernickes keinen Unterschied
macht, ob es sich um eine rein endogene oder um eine paralytische
Manie handelt. Die rein körperlichen Veränderungen und ihre
Zusammenhänge überläßt die Psychoanalyse der medizinischen
163
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
Klinik und insbesondere der Neurologie, die Beziehungen zwischen
Störung der Hirnrindenfunktion und seelischer Erkrankung der
speziellen Psychiatrie. Für ihren eigenen Krankheitsbegriff ist es
gleichgültig, aus welcher anatomischen Örtlichkeit oder rein
biologischen Quelle die absolute Steigerung oder Schwächung der
Triebenergie stammt. Da sie nur die F o 1 g e n dieser Veränderungen
int Hinblick auf das einheitliche Zusammenwirken der seelischen,
dynamischen und biologischen Funktionen im Auge hat, ist die
besondere Enge der Beziehungen zwischen „Seelenorgan“ und
seelischer Gesundheit für sie irrelevant.
Was für den organischen Hirnprozeß gilt, gilt auch für den
pgychopathologischen Prozeß, soweit dieser mit den Hilfsmitteln
der naturwissenschaftlich-konstruktiven Psychologie dargestellt
wird. Die Höhe oder Tiefe der Assoziationsspannung z. B. ist ein
rein biologisches Moment, das von ihr nicht für sich allein zu
würdigen ist, sondern, wie das auch bei Bleuler praktisch
immer der Fall ist, in seinen gesamten Folgen für den
psychologischen und biologischen Problemkreis.
Ähnliches gilt für die Präformationslehre der endogenen
Phasen. Daß ein Individuum biologisch so konstituiert ist, daß
von Zeit zu Zeit die in uns allen schlummernden Symptomen-
verkuppelungen plötzlich manifest werden, interessiert sie nicht
unmittelbar. Nur das Zusammenwirken dieses rein biologischen
Momentes mit dem psychologischen und dynamischen, die
Wechselbeziehungen zwischen ihnen allen und die möglichen
Rückwirkungen des einen auf das andere kommen für sie in
Betracht. Ob daher eine Melancholie rein endogen oder das andere
Mal durch einen schweren Schicksalsschlag ausgelöst ist,
ändert an ihrer Aufgabe, das melancholische Individuum in der
Ganzheit seiner psychischen, dynamischen und biologischen
Existenz zu betrachten, nichts.
Hinsichtlich der in der Psychiatrie herrschenden Psychogenie-
lehre ist das Nötigste gerade auch durch die Gegenüberstellung
mit Kretschmer bereits gesagt. Der rein psychogene Ganser
des Strafgefangenen, der rein psychogene Zittertremor des
Lazarettinsassen, die rein psychogene Aphasie, Abasie, Arith-
momanie, Erythrophobie usw. ändern wiederum nichts daran, daß
der Psychoanalytiker gehalten ist, von der rein aktuellen
Verursachung, sei sie rein seelisch wie hier, rein endogen wie
anderswo, zur Betrachtung des teleologischen Zusammenhanges
der gesamten seelisch-biologischen Person fortzuschreitfen. Es ist
die psychoanalytische Neurosentherapie, welche, mitnichten das
164
Ludwig Binswanger
Ganze der Psychoanalyse, sondern nur einen kleinen, angewandten
Teil derselben ausmachen'd, diesen Sachverhalt kontinuierlich
übersehen läßt.
Meine Damen und Herren! Die Gegenüberstellung von
Psychoanalyse und klinischer Psychiatrie führt uns mit Deutlichkeit
das Dilemma vor Augen, in dem die Psychiatrie sich befindet. Sie hat
sich zu entscheiden, ob sie lediglich eine angewandte Wissenschaft
bleiben will, ein nur durch ihre praktische Aufgabe zusammen¬
gehaltenes Konglomerat von Psychopathologie, Neurologie und
Biologie, oder ob sie eine einheitliche psychiatrische Wissenschaft
werden will. Es wird niemandem einfallen zu verlangen, daß die
Psychiatrie in Psychoanalyse aufgehen müsse; aber es kann der
Psychiatrie nicht schaden, an den methodologischen Grundlagen
der Psychoanalyse zu studieren, wie ein wissenschaftliches System
beschaffen ist, das eine derartig nahe Berührung zu ihrem eigenen
Problemkreis hat, wie dasjenige der Psychoanalyse. Daß es bei
der Entwicklung eines solchen Systems nicht ohne „Konstruktion“
abgeht, zeigt nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch das
einzige psychiatrische System, das diesen Namen verdient,
dasjepige Wernickes. Aus der Konstruktion eines solchen
Systems aber einen wissenschaftlichen Vorwurf abzuleiten, zeugt
von Verkennung der Aufgabe der Wissenschaft. „Unter der
Regierung der Vernunft“, sagt Kant, „dürfen unsere Erkenntnisse
überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System
ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke
derselben unterstützen und befördern können.“ Daß das psycho¬
analytische System ewig so bleiben wird, wie es heute dasteht,
wird sein Schöpfer selbst zum wenigsten wünschen, betont er
doch immer wieder das Unfertige, Vorläufige, Problematische in
seiner Lehre. Es wird noch einer geduldigen Anspannung unseres
Denkens und einer unendlich fleißigen Fortsetzung unseres
Forschens bedürfen, bis wir das methodologische Fundament des
psychoanalytischen Systems bis ins einzelne rein erkannt und
mit empirischem Material auch nur einigermaßen befriedigend
ausgefüllt haben werden. Dies hängt aber nicht nur von uns
allein, sondern ebenso sehr von den Fortschritten ab, welche
diejenigen Wissenschaften machen werden, aus denen die Psycho¬
analyse ihr System aufbaut, also die Biologie und Physiologie, die
psychiatrische Klinik und insbesondere die Psychologie. Über die
grundlegende Umwälzung, die innerhalb der letzteren rein
methodologisch in den letzten Jahrzehnten vor sich gegangen ist,
hoffe ich selbst, Sie in Bälde in einer größeren Schrift orientieren
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie
165
zu können. Insbesondere ist es der breite Strom der von H u s s e r 1
ausgehenden phänomenologischen Forschungsrichtung, von der
auch die Psychoanalyse nur eine heilsame Revision ihrer begriff¬
lichen Grundlagen erhoffen kann. In der Psychiatrie ist das
Hineintragen dieser Begriffsklärung bereits an vielen Orten zu
verspüren. Unter den vielen Versuchen, die „psychiatrische
Erkenntnis“ in ihrer Eigenart herauszuheben und zu vertiefen,
die uns jetzt an allen Ecken und Enden begegnen, scheinen mir
die von der Phänomenologie ausgehenden Versuche die aussichts¬
reichsten zu sein. Jaspers hat damit in gewisser Hinsicht
angefangen, und Schilder ist damit in seinen ausgezeichneten
Arbeiten (vergleiche vor allem Selbstbewußtsein und Persönlich¬
keit sbewußt sein, Berlin 1914 und Wahn und Erkenntnis, Berlin 1918)
fortgefahren. Gerade an den Arbeiten Schild er s können wir
beobachten, in welcher Weise sich klinische Psychiatrie und Psycho¬
analyse, die sich mit Ausnahme Zürichs an den Universitäten so
feindlich gegenüberstanden, nunmehr aufs innigste berühren
werden: es ist die phänomenologische Forschungsrichtung, die
beide Disziplinen in den Fluß ihrer wissenschaftlichen Arbeit
aufnimmt, und es ist unverkennbar, daß das, was von den
klinischen Psychiatern, mit Ausnahme Bleulers und seiner
Schule, versäumt wurde, nunmehr von den jungen Revisionisten
in der Psychiatrie nachgeholt wird. Sie haben fast alle ein offenes
Auge dafür, was für eine Fundgrube empirischen Materials in
der Psychoanalyse zutage gefördert worden ist, und wie nötig
die Psychiatrie dieses Materials zu ihrer Ergänzung bedarf, und
sie finden kein besseres Erfahrungsmaterial, um ihren eigenen
methodologischen Forschungsdrang zu stillen, als dasjenige der
Psychoanalyse. Dies zeigt sich weniger quantitativ als qualitativ.
Die Zeiten sind vorüber, wo der Forschungskreis der Psychoanalyse,
immer mitder Ausnahme Zürichs (und etwa Leidens), von der klinischen
Psychiatrie ausgeschlossen blieb. Was auf dem Boden der rein
empirischen Forschung nicht zusammenfinden konnte, wird
allmählich auf dem Boden der immer tiefer grabenden methodo¬
logischen Besinnung und theoretischen Forschung ohne Feindschaft
nebeneinander einhergehen.
Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit.
Beitrag zur Kenntnis der oralen Phase der Libidoentwicklung.
Von Dr. Michael Josef Eisler (Budapest).
Die Wissenschaft hat bislang das biologische Phänomen des
Schlafes wohl deskriptiv behandeln, als dynamischen Vorgang aber
in befriedigender Weise nicht erklären können. Unsere gesicherten
Kenntnisse über den Schlaf sind dürftig genug. Wir haben ihn als
eine Grunderscheinung in der organischen Welt erkannt, die, der
Atmung und Nahrungsaufnahme vergleichbar, an der periodischen
Erneuerung des Einzelwesens mitbeteiligt ist. Worin jedoch diese
Erneuerung besteht, wissen wir nicht; zumindest nicht mit jener
Genauigkeit, wie wir die Atmungs- und Verdauungsvorgänge
kennen. Auch die eigenartige Verknüpfung des Schlafzustandes
mit gewissen psychischen Erscheinungen hat sein Verständnis
erschwert und eine experimentelle Untersuchung, der wir zunächst
die meisten tatsächlichen Erfahrungen verdanken, problematisch
gemacht. So hat sich denn, wie wir sagen müssen mit vielem
Recht, die Anschauung unter den Biologen gebildet, daß dem
Schlaf eine generelle Bedeutung fast wie dem Inbegriff „Leben“
zukomme, weshalb sein Problem die Physiologie nicht unmittelbar
angehe; wo es aber dennoch zur Sprache gebracht werden muß,
geschieht es nicht ohne gewisse Anzeichen eines deutlichen
Mißbehagens. Alles in allem zeigt sich in den Standpunkten gegen¬
über dem Schlafproblem eine verdeckte oder uneingestandene
Ratlosigkeit.
Die psychoanalytische Forschung ist dieser Frage durchaus
nicht aus dem Wege gegangen, was sie jedoch hierüber zu sagen
für nötig gefunden hat, darf mit ihren sonstigen Ergebnissen nicht
ohne weiteres auf eine Linie gestellt werden. In einer Arbeit, die
mehr theoretisch-konstruktiv vorgeht, als an unmittelbarem
Tatsachenmaterial Klarheit schafft, hat Ferenczi 1 den Schlaf
des neugeborenen Kindes als den halluzinatorischen Versuch einer
i Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Internat. Zeitschr. f.
ärztl. Psa. I. Jg. 1913. S. 128.
Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit
167
Rückkehr in den Schutz des Mutterleibes ausgesprochen. Dies ist,
wie schon bemerkt, keine aus dem Erfahrbaren geschöpfte
Beobachtung, vielmehr eine Abstraktion, die sich aber aus der
Gesamtheit der psychoanalytischen Denkweise folgerichtig und
ohne Zwang ergibt. Freud 1 hat diese Abstraktion in gleichem
Sinne noch klarer ausgebaut: „Wir sind nicht gewöhnt, viele
Gedanken daran zu knüpfen, daß der Mensch allnächtlich die Hüllen
ablegt, die er über seine Haut gezogen hat, und etwa noch die
Ergänzungsstücke seiner Körperorgane, soweit es ihm gelungen
ist, deren Mängel durch Ersatz zu decken, also die Brille, falschen
Haare, Zähne usw. Man darf hinzufügen, daß er beim Schlafengehen
eine ganz analoge Entkleidung seines Psychischen vornimmt, auf
die meisten seiner psychischen Erwerbungen verzichtet und so von
beiden Seiten her eine außerordentliche Annäherung an die Situation
herstellt, welche der Ausgang seiner Lebensentwicklung war. Das
Schlafen ist somatisch eine Reaktivierung des Aufenthaltes im
Mutterleibe mit der Erfüllung der Bedingungen von Ruhelage,
Wärme und Reizabhaltung, ja viele Menschen nehmen im Schlafe
die fötale Körperhaltung wieder ein. Der psychische Zustand des
Schlafenden charakterisiert sich durch nahezu völlige Zurückziehung
aus der Welt der Umgebung und Einstellung alles Interesses für
sie.“ Und an anderer Stelle 2 : „Wir führen jetzt im Sinne der
Libidotheorie aus, daß der Schlaf ein Zustand ist, in welchem
alle Objektbesetzungen, die libidinösen ebensowohl, wie die
egoistischen, aufgegeben und ins Ich zurückgezogen werden. Ob
damit nicht ein neues Licht auf die Erholung durch den Schlaf
und auf die Natur der Ermüdung überhaupt geworfen wird? Das
Bild der seligen Isolierung im Intrauterinleben, welches uns der
Schlafende allnächtlich wieder heraufbeschwört, wird so auch nach
der psychischen Seite vervollständigt. Beim Schlafenden hat sich
der Urzustand der Libidoverteilung wiederhergestellt, der volle
Narcissmus, bei dem Libido und Ichinteresse noch vereint und
ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich wohnen.“
Dies ist, wenn nicht alles, so doch das Wichtigste, was die
Psychoanalyse über das Schlafproblem gebracht hat. Die zwei
Aussagen Freuds, die mehr den Charakter von glänzenden Apercus
haben, enthalten nichtsdestoweniger die ganze Fülle seiner luciden,
vorsichtig aufgebauten Erfahrungen. Seine Anschauung vom Wesen
1 Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre. Internat. Zeitschr. f.
ärztl. Psa. IV. Jg. 1916/17. S. 277.
2 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien 1917. S. 486.
168
Dr. Michael Josef Eisler
des Schlafes ist somit durchaus Eigentum der psychoanalytischen
Denkrichtung und war in der schulmäßigen Biologie und Psychologie
nirgendwo vorgebildet. Wir greifen den folgenden Erörterungen
vor, wenn wir bemerken, daß wir ihnen zunächst nichts anzufügen
haben. Unsere Untersuchung geht in der Erforschung des Problems
nicht so tief zurück, die klinischen Zustandsbilder, welche ihr
zugrunde liegen, lassen aber noch eine weitere, praktisch vielleicht
sogar wichtigere Erfassung zu. Wir werden uns nicht allzuweit
über den Kreis des Erfahrbaren bewegen, nebenbei jedoch die
Gelegenheit finden, die geistvolle Konstruktion Freuds durch
eine klinische Beobachtung zu stützen.
Es gehört zu den geläufigsten Erkenntnissen in der Psycho¬
analyse, daß die Befriedigung der oralen Libido bei jedem Säugling
zugleich den Schlaf fördert, einerlei ob durch die Nahrungsaufnahme
allein oder das fortgesetzte Wonnesaugen am Finger. Dieses innige
Zusammengehen von oraler Befriedigung und Schlafbedürfnis zu
einer Zeit, wo das Lebewesen keinen anderen Drang zu beschwichtigen
hat, muß einen überaus festen Konnex schaffen, dem wir aus
späteren Phasen der Entwicklung nichts gleichbedeutendes gegen¬
überstellen können. Es soll uns daher nicht wundernehmen, wenn
Beide fortan die Tendenz zeigen, ihre erst vielleicht lockere
Vereinigung immer mehr auszubauen und unter pathologischen
Verhältnissen sich gegenseitig in Mitleidenschaft zu ziehen. Indem
wir diesen naheliegenden, bislang vielleicht übersehenen, Schluß
vom Boden der Theorie weg an geeigneten Beispielen nachprüfen,
hoffen wir eine Reihe von Erscheinungen unserem Verständnis
besser einfügen zu können. Der Übersichtlichkeit zuliebe soll der
erste Fall etwas ausführlicher behandelt werden.
1. Ein lebhaft veranlagtes, den Freuden des Lebens sehr zugeneigtes
Mädchen erkrankt im 18. Lebensjahr nach einem Zwischenfall, der ihr auf
einem Ausflug begegnet, an einer nervösen Störung, welche sich folgender¬
maßen äußert. Sowie sie im Begriffe steht, irgendeine Gesellschaft aufzusuchen,
verspürt sie momentan eine Art Krampf im Halse, einen Würgreflex also,
der zur bekannten Gruppe des globus hystericus gehört. Dieses Symptom
ängstigt sie derart, daß sie ihre Absicht fallen läßt und sich zuhause verschließt.
Allmählich wird sie sich unter großer Bestürzung bewußt, daß das Übel nicht
vorübergehender Natur sei, vielmehr gehäuft auftritt; die Folge davon
ist eine steigernde Scheu, mit ihren Bekannten zu verkehren. Gleichzeitig
entwickelt sie unter großem seelischen Aufwand eine ungemeine Findigkeit,
ihren wahren Zustand, dessen sie sich in auffälliger Weise schämt, vor der
Welt zu verbergen, was ihr bisher fast ausnahmslos gelungen ist. Zu dem
nächsten Erfolg der Neurose haben wir zu rechnen, daß sie sich seither zur
Rolle eines Weibes unfähig hält, weshalb sie auch mehrere, durchaus passende
Heiratsanträge zurückgewiesen hat. Als Vorwand gibt sie an, sie wolle ihren
Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit
169
künftigen Gatten nicht der einflußreichen Stellung ihres Vaters verdanken,
denn ihretwegen heirate man sie ja doch nicht. Ehe sie in die Analyse kam,
hatte sie vorher eine Art Schutz gegen den plötzlichen Krampf im Halse
ermittelt. Sobald es ihr in Gesellschaft, die sie nicht ganz meiden konnte,
unvermerkt gelang, einen trockenen Bissen, etwa ein Stückchen Brot, in den
Mund zu stecken und herabzuwürgen, unterblieb der gefürchtete Anfall.
War sie dann über den ärgsten Punkt hinweggekommen, so fühlte sie sich
ein wenig befreit und hielt aus. Aber auch dieses Auskunftsmittel war nicht
verläßlich und versagte oft. Nach einem dreijährigen endlos schwankenden
Kampf gegen den Dämon der Neurose, war die Patientin längst unfähig
geworden, ohne Brottalisman auch nur einen Schritt aus dem Hause zu wagen.
Die Natur ihres Leidens — seine relative Häufigkeit und
Bekanntheit — soll uns nicht abhalten, dem Sachverhalt
nunmehr niilierzutreten. Es sind immer dieselben Tatsachen, denen
wir uns im Leben gegenüberfinden und es hängt nur von unserer
theoretischen Einstellung und Überlegung ab, welche Folgerungen
wir aus jenen ziehen.
In dem vorliegenden Falle präsentierte sich der Würgreflex
als ein psychisch vieldeutiges Symptom, das, wie wir den Klagen
der Patientin entnehmen durften, durch viele Momente seines
Erscheinens bedingt war. Allein schon diese Vorgeschichte beweist,
daß es sich nicht um einen einfachen globus, sondern um ein
Konversionssymptom handle, in welchem ein ungewöhnlicher
Affektreichtum zur Verdichtung gelangte. Solches ist die Regel
bei jeder monosymptomatischen Hysterie, die nach längerem Fort¬
bestand in Verbindung zu den wichtigsten Lebensäußerungen des
Kranken tritt. Zur weiteren Charakteristik des Symptoms heben
wir hervor, daß es wie ein erektiles Gebilde im Halse festsaß
und niemals eine Eßstörung hervorrief 1 . Die Einverleibung eines
festen Gegenstandes als magisches Schutzmittel hat einen anderen
Sinn. Durch die Neigung, ihre Mundpartie möglichst verdeckt zu
halten, hatte uns die Patientin verraten, zu welcher Bedeutung
die orale Region bei ihr erhoben war.
Es handelte sich bei der Patientin um eine orale Libidofixierung von
ungewöhnlicher dispositioneller Stärke, die alle die Jahre hindurch nicht von
ihrer infantilen Rolle gelassen und auch keine Gegenwirkung hervorgerufen
hatte. Zum größeren Teile war sie unmittelbar an die Nahrungsaufnahme
gebunden geblieben, denn die Patientin zeigte eine auffällige Lust am Essen.
Mit Vorliebe schlürfte sie die Suppe oder das Wasser; das rasche Trinken
machte ihr weniger Freude. Auch schleckte sie manchmal unter Scherz den
Teller aus; sie sagte dann, sie mache es wie die Tiere. Nachts trat häufiges
Speichelfließen bei ihr, wie auch bei anderen Familienmitgliedern auf. — Ihr
Vater und ihre Schwester litten zeitweilig an nervösem Erbrechen; ein naher
Verwandter väterlicherseits kam sogar mit Wolfsrachen zur Welt. In diesem
Falle war demnach der Archaismus des Mundes auch anatomisch vorgezeichnet.
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 12
170
Dr. Michael Josef Eisler
In der Analyse ergab sich zunächst, daß der Zeitpunkt ihrer
Erkrankung determiniert war und zwar durch einen merkwürdigen
Umstand: ihre Neurose war zufolge einer Prophezeiung
ausgebrochen. Als kleines Mädchen wurde sie nämlich von einer
Tante, die auch später in ihrem Leben eine Rolle spielte, bei
einer verbotenen Handlung — Onanie — betreten und gerügt:
„Wenn du das wieder machst, wirst du als großes Mädchen krank
werden.“ Der vorhergesagte Termin (Großwerden) fiel dann
genau mit dem Lebensjahr zusammen, in welchem ihre ältere
Schwester Frau geworden war. Die Tante hatte demnach recht
behalten und sie konnte nicht wie ihre Schwester Braut und
Gattin werden. Als sich im weiteren Verfolg der analytischen
Behandlung ein stark verdrängter „Männlichkeitskomplex“ — die
aufgegebene Sehnsucht, wie ein Knabe gebaut zu sein — zutage
fördern ließ, erschien jene ominöse Prophezeiung in neuem
Lichte als Korrelat einer Kastrationsdrohung, die uns in
zahlreichen Neurosen so viel zu schaffen gibt. Diese beiden Motive,
der verdrängte Männlichkeitskomplex 1 und die Drohung, führten
zu einem energischen Abbruch ihrer genitalen Sexualität. Die
Onanie wurde zwar nach dem Einsetzen der Pubertät fortgeführt,
ja durch Mithilfe einer Gouvernante zum homoerotischen Akt
erhöht, blieb aber mehr eine Art mechanischer Befriedigung und
trat mit dem verdrängten psychischen Material nur insoweit in
Verbindung, als sie den spärlichen Ersatz für die gehemmte, doch
im Unbewußten festgehaltene heterosexuelle Objektwahl stellte.
Die Zähigkeit ihrer Neurose leistete zwar diesem Ersatz Vorschub
und ließ seine momentane Bedeutung als Abfuhrmöglichkeit
bestimmter libidinöser Spannungen anwachsen, doch bot sie
zugleich Garantie dafür, daß nach dem Freiwerden so stark
verdrängter Energiemengen die ursprüngliche Neigung zum Manne
am Ende erstarken werde.
Neben dem infantilen war als rezenter Anlaß ihrer Erkrankung
die Heirat einer Cousine nachzuweisen. Sie hatte durch Gunst
der Umstände an den Intimitäten eines langen Brautstandes
teilgenommen und frustrane Erregungen erlebt, die sie sich
niemals ernstlich eingestehen wollte. Ihre alte Neigung, sexuelle
Vorgänge zu verdrängen, und eine im Familienkreise künstlich
wachgehaltene seelische Unschuld traten nun wieder in Aktion.
Diesmal war jedoch das Maß voll und die Neurose brach aus. Ihr
1 Unter den Erlebnissen der Kindheit war ein schmerzliches für sie ;
bei einem sexuellen Spiel wurde ihre Person mit Spott abgewiesen.
Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit
171
Weg war durch die dispositioneile Verstärkung der oralen Libido
vorgezeichnet. Sie bemächtigte sich dieses Partialtriebes mit
ungewöhnlicher Kraft und brachte so ziemlich die ganze Skala
jener pathologischen Phantasien hervor, welche aus diesem Trieb
Nahrung ziehen. Ich möchte nebenbei zwei Produkte hervorheben,
weil sie mir als charakteristische Gebilde aus der oralen Phase
erschienen sind und bei ihrer generellen Natur in jedem mensch¬
lichen Charakter Spuren hinterlassen. Die Regression der Libido
auf die orale oder kannibalische Stufe ändert nicht nur ihre
Form, sondern auch ihre Inhalte bis zur Unkenntlichkeit. Es
hält dann schwer, im Symptom die uranfängliche libidinöse
Erregung noch als solche zu erkennen. In dem vorliegenden Falle
mußte ich als die stärksten psychischen Emanationen, zu welchen
sich die Libido herabgebildet und ihren Bezug zur Umwelt
geschaffen hat, einen exzessiven Neid und gewisse Mordlust¬
phantasien erkennen, die der bewußten Persönlichkeit der
Patientin durchaus fremd waren und von ihrem übrigen Charakter
merkwürdig abstachen. Insbesondere der Neid ist mir auch
nachher stets als narzißtische Abbiegung vom
oralen Trieb erschienen und ein wichtiger Fingerzeig für die
Festlegung eines Charakters auf diesen Partialtrieb gewesen. Wo
man den Neid frühzeitig, etwa bei Kindern, beobachten kann, wird
man die Wahrnehmung machen, daß er nur solchen Personen
gegenüber auftritt, an denen man zugleich libidiös haften blieb.
Indem durch den Krankheitsprozeß die bis dahin latent
wirksame orale Libido zur Führerschaft gelangt war und von der
gesamten Persönlichkeit Besitz ergriff, die sich ihr völlig unter¬
ordnen mußte, hatte die Patientin zugleich ein merkwürdiges
Verhalten im Schlafe angenommen, welches die Neurose in
unerwarteter Richtung ergänzte. Ihr Schlafbedürfnis war immer
groß gewesen und die lebhafte Beschreibung, die sie davon gab,
ließ eingangs schon die Vermutung aufkommen, es handle sich
um einen für sie ausgesprochen lustbetonten Akt. Eine solche
Lust, vom Schläfer bezeugt, ist übrigens jedermann plausibel, sie
leuchtet auch dem Durchschnittsmenschen ein. Die Analyse hat
allein schon aus diesem Grunde Anlaß genug, hier ein Problem
zu sehen. In der Neurose erfuhr nun diese Schlaflust der Patientin
eine symptomatische Ausgestaltung. Einzelnes davon ist uns ohne
weiteres verständlich, wie die Neigung, auf dem Bauche zu liegen
und sich absolut einzuhüllen, also Behaglichkeit und Wärme als
Vorbedingung des Schlafens zu schaffen. Mit dem Eintritt des
Schlafes aber war die Tendenz nach Erhöhung dieses Zustandes
12*
172
Dr. Michael Josef Eisler
nicht erledigt. Die Patientin berichtete über drei sogenannte
„Schlafhandlungen“, die sie zeitweilig ohnejede
Rückerinnerung ausführte 1 . Sie streifte nachts mitten
im Schlaf ihr Hemd ab und fand sich am nächsten Morgen
nackt liegend; sie stieg, ohne zu erwachen, vom Bett und
urinierte, wobei es aber niemals passierte, daß sie das Geschirr
ungeschickt benützt hätte; schließlich leerte sie schlafend das für
sie bereitgestellte Glas Wasser, ohne es nachher fallen zu lassen
oder beim Zurückstellen hart anzustoßen. Es kam sogar vor, daß
sie zwei Glas, die man auf ihrem Nachttischchen gelassen hatte,
austrank. Ich hebe hervor, daß in diesem Falle die Aktionen
automatische Schlaf-, nicht Traumhandlungen bedeuteten,
welche letzteren bereits kompliziertere Vorgänge sind und ein
psychisch faßbares Material in Handlung umsetzen. Hier konnte
von der Bearbeitung einer Phantasie nicht die Rede sein, da die
Patientin niemals weitere Assoziationen zum Thema lieferte.
Durch seine relative Einfachheit erscheint jedoch der Fall geeignet,
den Ausgangspunkt zur Erklärung von verwickelteren abzugeben.
Der Sinn der ersten Schlafhandlung, die gleich den anderen als
Ausdruck ihrer autoerotischen Strebungen zu gelten hat, wird
ohne weiteres offenbar, wenn wir die Hypothese Freuds über
den Schlafzustand zu der unserigen machen. Sie schläft „nackt
wie im Mutterleib“, darf man sagen. Aber sie tut mit den
nächsten zwei noch ein anderes, was an bestimmte fötale Aktionen
erinnert. Wir wissen, daß der Fötus bereits Schluckbewegungen
macht, als deren Folge man in seinem Mageninnern Fruchtwasser
nachweisen kann, ebenso entleert er seine Blase, denn die Amnion¬
flüssigkeit der Mutter enthält oft die chemischen Bestandteile
des Urins 2 .
Ich glaube nicht, daß es willkürlich erscheint, den Schlaf¬
aktionen der Patientin eine solche Bedeutung zu unterschieben.
Vielleicht schimmert hier durch, daß die orale Phase der Libido¬
entwicklung nicht die erste ist, sondern sich unmittelbar an eine
vorangehende anschließt, die etwa die lethargische oder
apno'ische genannt werden kann 3 . Im vorliegenden Fall war die
1 Nur aus dem verbliebenen Effekt schloß sie nach dem Erwachen,
daß sie im Schlafe etwas gemacht habe.
2 Es sind dieselben zwei Funktionen, die man schon in der Erziehung
fast jedes Kindes zu Automatismen heranbilden kann, so daß sie im Schlaf
verrichtet werden.
3 Die zweite Benennung wird durch meine Ausführungen am Ende als
die zutreffendere sich erweisen.
Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit
178
Regression auf die orale Stufe erfolgt, die infolge ihres innigen
Konnexes, wie wir ihn einleitend hervorgehoben haben, zugleich
Spuren des urtümlichen Schlafzustandes aktiviert hat. Im übrigen
sehe ich theoretisch keine Schwierigkeit darin, den weiteren
Schluß zu ziehen, daß die pathologische Regression der Libido
unmittelbar auch auf die lethargische Stufe erfolgen kann ; die schon
von C h a r c o t beschriebene hysterischeSchlafkrankheit
wäre etwa dann das eine materielle Beispiel hiefür. Gewisse
Eigenheiten dieser Krankheit, Neigung zu Krampfanfällen und
Atmungshemmungen würden den Wirkungskreis dieser Stufe
noch deutlicher machen. Solche Erwägungen fallen aber bereits
aus dem Rahmen dieser Untersuchung.
Das nächste Beispiel ist einer foudroyanten Schlafstörung,
die an dem tödlichen Ausgange des Falles mitbeteiligt ist, gewidmet.
Ich muß vorausschicken, daß ich mein Wissen über die nach¬
stehende Krankheitsgeschichte nicht aus einer regelrecht geführten
Analyse geschöpft habe, doch war mir die Patientin durch mehr
als 15 Jahre bekannt, ihre körperliche und geistige Entwicklung
während dieser Zeit meiner Obhut anvertraut, wie auch die
Umstände ihres Abganges unmittelbar beobachtet werden konnten.
Dies dürfte zusammen den Ergebnissen einer Analyse wohl
gleichkommen.
2. Die neurotische Veranlagung der Patientin kam seinerzeit deutlich
nur in den Schwierigkeiten ihrer Erziehung als Kind zum Ausdruck. Ein
langes Verweilen in verschiedenen Autoerotismen, darunter eine starke orale
Libidobetätigung, kennzeichneten die Jahre bis zur Latenz. Die Unterdrückung
der Partial triebe erfolgte nicht gleichmäßig ; eine gewisse Voreiligkeit als
Rest ihrer beträchtlichen infantilen Agressionsneigungen (durch die über¬
triebene Zärtlichkeit des Vaters entbunden) blieb dauernd bestehen. Zu einem
schönen und bewunderten Mädchen erblüht, entwickelte sich ein sonderbarer
narzißtischer Zustand bei ihr : sie war den Huldigungen der Anbeter
gegenüber fast wehrlos ; jedes ihr zugewendete Interesse entwaffnete sie, so
daß man sie irrtümlich für eine stark sinnliche Natur hielt, die man behüten
mußte. Im Grunde genommen war dies aber nicht notwendig, da sie niemals
die erlaubte Grenze überschritt. Sie behandelte vielmehr ihre Beziehungen
mit merkwürdiger Offenheit und erzählte sie mit sichtbarem Vergnügen.
Geliebt zu sein und von sich reden hören, dies war ihr Wunsch. Das gesell¬
schaftliche Milieu, in welchem sie lebte, bot ihr keine Gelegenheit, seelisch
zu reifen. Mit ihrer Heirat fingen dann die ersten Schwierigkeiten an, vor
allem versagte sie, unerwarteterweise für ihre Angehörigen, als empfindendes
Weib. Sie erwies sich als frigid ; bald darauf klagte sie, dem Geschlechtsakt
gegenüber starke Abneigung zu haben, wiewohl sie ihren Mann liebe und
hochschätze. Eine dauernde Unruhe verbunden mit hypochondrischen und
Angstzuständen bemächtigten sich ihrer, und ohne zu wissen, nahm sie für
die erlebten frustranen Erregungen Rache an dem Manne, indem sie ihn
174
Dr. Michael Josef Eisler
durch häufiges plötzliches Unwohlsein in Schach hielt. Eine psychoanalytische
Behandlung, die ich in diesem Stadium vorschlug, wurde mit dem Bemerken
abgelehnt, eine Schwangerschaft würde dem Übel wohl besser abhelfen.
Die ganze Unruhe der jungen Frau wandte sich nun dieser Hoffnung
zu, wobei auch der geheime Gedanke mitsprach, der neue Zustand
böte ihr nun die ersehnte Gelegenheit, für ihre Pflichten als Gattin Aufschub
zu erlangen. Sie befand sich, als die erwartete Schwangerschaft bald darauf
eintrat, in einer unerträglichen Seelenverfassung. Einerseits gab sie sich sehr
ambitiös die redliche Mühe, ihrem Manne Liebe zu erweisen und seine
geduldige Anhänglichkeit durch wahre Neigung zu erwidern, andererseits
verstärkte sich in ihr ein physischer Widerwillen — die Angst vor den
Nächten in der Ehe — bis zum Ekel. In unheimlicher Folge traten neue
Symptome auf : feindselige Regungen gegen den Verursacher ihrer Krankheit,
eine Übertragung derselben auf das erwartete Kind, und als Verdrängungs¬
erfolg schreckhafte Gefühle. Eine Reise ihres Mannes, welche sie im
Unbewußten dahin ausdeutete, er hätte sie in ihrem elenden Zustande hilflos
allein gelassen, führte endlich den Ausbruch der eigentlichen Krankheit herbei,
die von den Angehörigen nun nicht mehr übersehen werden konnte. Ohne
äußeren Anlaß — also weder Unfall noch irgendeine Fiebererkrankung —
steigerte sich eines nachts die Ängstlichkeit und ihr Kleinmut zu einem
psychischen Schock, der den kurz vorher zum erstenmal empfundenen Fötus¬
bewegungen ein Ende setzte. Am nächsten Tage war es offenbar, daß das
Kind in ihr gestorben sei. Unglückselige Umstände brachten es mit sich, daß
die Entfernung des toten Kindes erst mehrere Tage nachher unter drohenden
Symptomen seitens der kranken Mutter (hämolytischer Icterus und sterile
Zersetzung der Placenta) durchgeführt wurde. Ein exzessiver Schwäche¬
zustand und eine völlige psychische Widerstandslosigkeit folgten dem
operativen Eingriff. Jede geringste Zufälligkeit in der Behandlung wurde
neurotisch ausgenützt. Die gynäkologischen Untersuchungen lösten fast
delirante Erregungszustände aus, eine ärztlicherseits peinlich genaue Diät¬
vorschrift rief Appetitlosigkeit hervor. Als man dieser letzteren infolge der
wachsenden Schwäche der Patientin begegnen wollte, trat jedesmal Erbrechen
auf. Zu dem Unterernährungszustand gesellten sich neuerdings einsetzende
Uterusblutungen hinzu, die der behandelnde Gynäkolog durch eine organische
Veränderung nicht erklären konnte; sie hatten den Charakter einer
ausgiebigen Menstruatio praecox und alle Anzeichen sprachen dafür, daß das
Hauptmotiv der Erkrankung, die neurotische Angst vor dem Geschlechts¬
verkehr, der ja nun wieder in Aussicht stand, diese in Erscheinung gerufen
hatte, denn der exzessive Ekel der Patientin wandte sich nun diesem neuen
Symptom zu. Sie klagte ohne Unterlaß : „Wenn nur die Blutungen aufhörten,
würde ich essen können.“ Das unter gewaltigen körperlichen Anspannungen
und Erschütterungen erfolgende Erbrechen ließ aber die Blutungen nicht
aufhören. Mit dem Anwachsen aller dieser Krankheitserscheinungen ging
eine tiefe seelische Veränderung in der Patientin vor, die infantile Züge
annahm. Auf eine gewisse Strenge reagierten die Symptome mit vorüber¬
gehender Besserung. Jede ärztliche Bemühung scheiterte aber zur Gänze an
dem einen Symptom, das durch die Abwehr gegen den Rückfall in die orale
Phase in den Strom der Neurose mitgerissen wurde : die völlig unzugängliche
Schlaflosigkeit der Patientin. Sie bildete das Maß für jene pathologische
Kraft, welche zur Unterdrückung der oralen Libido notwendig war. Ganze
Über Schlaflust und gestörte Sehlaffähigkeit
175
vier Wochen hindurch hielt dieser alarmierende Zustand an; so lange konnte
sich der robuste Organismus der Kranken dem Ansturm der Schlaflosigkeit
widersetzen. In einem Moment, da ihr Bewußtsein bereits getrübt war, übte
sie ein Suicid aus, das sich aus ihrer Veranlagung deuten ließ (Tod durch
Verbrennung).
Indem wir die Grundzüge dieses Falles, also gleichsam seine
Struktur, ins Auge fassen, kommen wir zu dem folgenden Schluß.
Je ausgiebiger sich ein Individuum in der oralen Phase betätigt
hat und je energischer diese Entwicklungsstufe später verdrängt
wurde, umsomehr bleibt die Möglichkeit vorhanden, daß durch den
Vorgang einer pathologischen Regression der Libido auch die
Schlaffähigkeit mitgerissen wird. Die orale Libido bedarf eben einer
hohen Gegenbesetzung, die geeignet ist, in entsprechenden Fällen
den allgemeinen Schlafwunsch des Ichs (Libidoeinziehung) aufzuheben.
Ich weise zur nächsten Unterstützung dieser These auf einen Fall
hin, den Abraham 1 in einer bedeutenden Arbeit über die orale
Organisation veröffentlicht hat. Es bedarf nur einer geringfügigen
Umstellung der dort erhobenen Tatsachen, um den Zusammenhang
klar zu machen. Der männliche Patient Abrahams zeigte als
Kind einen schier unerziehbaren oralen Trieb (Benagung des Bett¬
gestells) ; später wurde die Befriedigung dieser Zone zur Bedingung
des Einschlafens, wobei die Masturbation, die sich ja fast immer
unmittelbar an die orale Libidobetätigung anschließt, als Zwischen¬
glied eintrat. Jeden Versuch, der oralen Libido oder der
Masturbation ein Ziel zu setzen, „mußte der Patient durch ebenso
lange Perioden hartnäckiger Schlaflosigkeit erkaufen“. Die Schlaf¬
losigkeit der Melancholiker, die nach Abraham zufolge „Abwehr
eines drohenden Rückfalles in die orale Organisation“ erkranken,
findet in diesem Konnex eine Erklärung 2 .
Ich versuche, den Zusammenhang der Schlaffähigkeit mit der
oralen Organisation an einigen — gekürzten — Beispielen des
weiteren darzulegen. Es liegt im Wesen des klinischen Materials,
daß diese Beispiele sich auf Schlafstörungen beziehen, die
der Beobachtung zunächst zugänglich gemacht werden. Der
eingangs erörterte erste Fall bildete eine Ausnahme, da die
regressive Libido dort bei der oralen Triebrichtung keinen
1 Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der
Libido. „Zeitschrift für ärztl. Psychoanalyse“, IV. Jg. 1916, Seite 86—87.
2 Siehe auch Freud: Trauer und Melancholie. „Zeitschr. f. ärztl.
Psychoanalyse“, IV. Jg., Heft 6.
Große Affektentbindungen ermöglichen oft eine passagere Regression
auf die orale Stufe; in solchen Momenten „fühlt man die Kehle wie zusammen¬
geschnürt“.
176
Dr. Michael Josef Eisler
Widerstand, vielmehr eine Verstärkung und Festlegung erfuhr,
wodurch auch das vorher hohe Schlafbedürfnis gesteigert und zu
regressiven Erscheinungen gebracht wurde.
3. Aus der Analyse einer sehr verwickelten Neurose, die jedoch in fast
geräuschlosen Symptomen verlief und den äußeren Lebensgang des Patienten
nur unmerklich beeinflußte, möchte ich folgende Zusammenhänge unter
Weglassung der nicht hierher gehörigen Materialien zur Diskussion stellen.
Es handelte sich um einen Mann mit labiler Potenz, der in ungewohnten
Lebenslagen (bei neuen Bekanntschaften mit Frauen) an ejaculatio praecox,
ansonst aber an ejaculatio tardiva litt, so daß er sich über seine eigentliche
Männlichkeit niemals völlig klar wurde. Der häufig ausgeübte Beischlaf mit
verschiedenen Personen führte trotzdem nur eine unvollständige Befriedigung
herbei, die sich u. a. in zwei Symptomen äußerte. Er masturbierte zwischen¬
durch in den Pausen, da er jede, selbst kurze Abstinenz schlecht ertrug,
und hatte einen gestörten Schlaf, d. h. er konnte insbesondere in den
Nächten unmittelbar nach dem Sexualakt oder der Onanie, bei der also wie
beim Beischlaf irgendeine Triebrichtung unbefriedigt geblieben war, nicht
einschlafen.
Dieses letztere mußte ich annehmen, wollte ich die von
Freud längst behauptete Tatsache, nach welcher die Schlaflosigkeit
ein Folgezustand unerledigter Sexualerregungen sei, nicht fallen
lassen. Die Deutung dieses Symptoms ergab sich, als in der Sexual¬
konstitution des Patienten eine beträchtliche orale Libidofixierung,
sowie deren weitere Schicksale aufgedeckt wurden. Diese war
nach ausgiebiger Betätigung in der Kindheit mit dem Einsetzen
der Pubertät gewissermaßen ohne Rollenbeteilung geblieben. Zwar
ist der Patient ein sehr anspruchsvoller Kußliebhaber, doch konnte
diese Neigung seiner oralen Libido niemals voll Genüge leisten;
seine sonstigen autoerotischen Neigungen, die ohne Liebesobjekt
auskamen, ließen auch das Ausbiegen in eine Perversion nicht zu.
Auf solche Weise vermochte dieser vom Leben abgeschnittene
Partialtrieb im Unbewußten gleichsam seine potentielle Kraft
beizubehalten, um schließlich nach Schmälerung des Vollgenusses
im Sexualakt als temporäre Schlafstörung wirksam, d. h. pathologisch
zu werden. Bemerkenswert ist, daß die orale Libido hinter dem
Symptom der Schlaflosigkeit ihr Inkognito nicht aufgeben mußte.
Ähnliches erweist der nächste Fall.
4. Die Schlaflosigkeit eines 48jährigen Mannes, die mit dem Auflassen
der Genitalfunktionen einsetzte, um dann einer sexuell anspruchslos gewordenen
Person im wahren Sinne zum Martyrium zu werden, ließ sich dahin erklären, daß
hier durch den Prozeß des Alterns wohl die bewußtseinsfähigen Triebregungen
außer Wirkung gebracht wurden, die unbewußten — verdrängten — jedoch
die im Climax regelmäßige Steigerung erfahren hatten, darunter eine bislang
unbeteiligt gebliebene orale Libido. Da aber diese in der ausgeschalteten
Sexualtätigkeit nicht mehr zu Geltung gelangen konnte, rief sie ihr
Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit 177
Ergänzungsstück, die Schlaflosigkeit, in Erscheinung. Als indirekter Beweis
einer ungewöhnlichen oralen Disposition bei dem Patienten mag dienen, daß
seine Tochter bis zu ihrem 15. Lebensjahr eine Lutscherin geblieben war und
später als reifes Mädchen durch ihre sexuelle Bedürfnislosigkeit sehr an den
gegenwärtigen Zustand des Vaters gemahnte, dem sie auch in physischen
Einzelheiten ähnlich ist.
5. In einem Fall von exzessiver Schlaflosigkeit, die sich als Folge einer
seelisch bedingten, tief eingewurzelten Abneigung gegen den normalen
Verkehr — als Motiv einer Auflehnung gegen den Lebenswandel der Mutter,
mit der er sich sonst identifizierte — behaupten konnte, entwickelte sich
eine orale Perversion als endgültige Trägerin der verbliebenen Sexualtrieb¬
regungen des Patienten. Ehe jedoch diese zum Durchbruch kam, hatte sich
die Schlaflosigkeit dauernd festgesetzt. Der Patient litt zeitlebens an
salivatio nervosa.
Ich glaube, die Reihe dieser Beobachtungen ließe sich bei
Einhaltung der führenden Gesichtspunkte mühelos fortsetzen. So
viel steht jedoch mit dem Gesagten zu Recht fest, daß wir unter
gewissen Verhältnissen ein ergänzendes Verhalten von Trieben
oder, falls wir das Schlafbedürfnis nicht auf die Dignität eines
Triebes herabsetzen wollen, ein Zusammengehen von Trieben mit,
kardinalen Lebenserscheinungen, die der organischen Natur anhaften,
annehmen dürfen. Folgende Erwägungen sollen diesen Satz unter¬
stützen. Als eine Lebenserscheinung von prinzipieller Bedeutung
gilt der Zustand, den wir Bewußtsein nennen. Nun sehen wir,
daß dieser im eigentlichen Sinne mit dem Anheben der
Atmungstätigkeit beginnt. Euphemistisch darf jeder Mensch
sagen, seitdem er atmet, sei er sich seiner selbst bewußt. Es ist
wiederum die Pathologie, die uns lehrt, daß zwischen dem
Bewußtsein und der Atmung tiefreichende Zusammenhänge bestehen.
Bei allen krankhaften Störungen, bezw. Unterbrechungen des
Bewußtseins, die wir mit dem vulgären Sammelbegriff „Anfall“
bezeichnen (Ohnmacht, Epilepsie, teilweise hysterischer Anfall), ist
die Atemhemmung ein dominierendes Symptom, das diese Zustände
vom Schlafzustand unterscheidet. Im Sinne der Freud sehen
Libidotheorie haben wir anzunehmen, daß jeder regressive Vorgang,
sofern er nicht ins Ich einbezogen wird, auf ein Organ trifft, daß
ihm dispositionell entgegenkommt. Es hat nichts Schwieriges auf
sich, wenn wir in der Theorie den Schluß ziehen, daß auch im
Atmungsorgan eine solche Libidoposition aufgerichtet sein kann.
Ein Fall von hysterischer Dyspnoe, den ich behandelte, brachte
mich zuerst flüchtig auf diesen Gedanken. Später fand ich in einem
mir sehr nahe stehenden Falle bei Untersuchung einer infantilen
Angstbereitschaft, die sich noch nicht in Phobie gewandelt hatte
und in ekklampsieartigen Anfällen Abfuhr verschaffte, denselben
178
Dr. Michael Josef Eisler
regressiven Weg zum Atmungsorgan vorgezeichnet 1 . Damals sagte
ich mir, es müsse eine rückläufige Libidobewegung auf eine
apnoische Phase, die ich vorhin auch eine lethargische
genannt habe, geben. Ich möchte mit dieser Benennung eine große
Reihe von sehr verwickelten Erscheinungen nicht künstlich
vereinfachen und breche deshalb an dieser Stelle ab. Es war mir
diesmal nur um die Parallele zu tun, und wenn ich auf jene
zwischen oralem Trieb und Schlafbedürfnis einiges Licht gesammelt
habe, halte ich vorläufig meine Aufgabe für gelöst 2 .
1 Siehe Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Pychoanalyse. Wien
1917, S. 461. Dort heißt es u. a. „Der Name Angst — angustiae, Enge —
betont den Charakter der Beengung im Atmen . . .“
2 Unsere therapeutischen Bemühungen haben bislang bei den nervösen
Schlafstörungen wenig Erfolg aufzuweisen. Diesen bedauerlichen Umstand
dürfen wir daraus erklären, daß der automatische Zustand des Schlafes, der
zu verschiedenen Autoerotismen Verwandtschaft pflegt, zunächst mit geringer
psychischer Energie besetzt ist, und erst später seine Beziehungen zu den
verschiedenen seelischen Tätigkeiten aufnimmt. Die analytische Behandlung
findet aber eine natürliche Grenze dort, wo das rein Psychische, also ein
Differenzierungsprodukt, in den allgemeinen Strom des Vitalen eintaucht.
1
Zur Technik der Kinderanalyse 1 .
Von Dr. Hermine Hug-Hellmuth.
„Die Antwort auf technische Fragen ist in
der Psychoanalyse niemals selbstverständlich.“
Freud, Klinische Schriften zur
Neurosenlehre, IV. Folge.
Die Analyse des Kindes und die des Erwachsenen haben
gleichen Zweck und gleiches Ziel: Die Wiedererlangung der
seelischen Gesundheit, die Herstellung des durch uns bekannte
und unbekannte Eindrücke erschütterten psychischen Gleich¬
gewichtes.
Die Aufgabe des Arztes ist erfüllt mit der Heilung, gleich¬
gültig, welche Wege der Patient in bezug auf die ethische Wertung
seines Verhaltens gegen die Außenwelt geht; es genügt, wenn
der Mensch berufs- und lebenstüchtig geworden ist, wenn er dem
Ansturm, den Enttäuschungen des Lebens von nun ab nicht mehr
zu erliegen droht.
Die heilerziehliche Analyse darf sich nicht zufrieden geben,
den jungen Menschen von seinem Leiden zu befreien, sie muß
ihm auch moralische, ästhetische und soziale Werte geben. Ihr Objekt
ist nicht der reife Mensch, der gesundet für sein Tun und Lassen
einzustehen imstande ist, sondern das Kind, der Jugendliche, also
Menschen, die mitten im Entwicklungsgänge stehend, unter
der erzieherischen Führung des Analytikers zu zielbewußten
willenskräftigen Menschen erstarken sollen. Der heilpädagogische
Analytiker darf nie vergessen, daß vor allem die Kinder¬
analyse stets Charakteranalyse, Erziehung ist.
Die Eigenartigkeit der kindlichen Seele, ihr besonderes
Verhältnis zur Umwelt bedingt eine besondere Technik ihrer
Analyse.
Drei Punkte sind von vornherein maßgebend:
1. Das Kind kommt nicht wie der Erwachsene aus eigenem
Antrieb, sondern durch den Willen der Eltern zur Analyse und —
Vortrag, gehalten auf dem VI. Internationalen Psychoanalytischen
Kongreß im Haag, 8. bis 12 . September 1920.
180
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
darin gleicht übrigens sein Los dem des reifen Menschen — in
der Regel erst, wenn alle anderen Mittel sich als unzureichend
erwiesen haben.
2. Das Kind steht mitten im Ablauf der es krank machenden
Erlebnisse. Der Erwachsene krankt an Geschehnissen der Vergangen¬
heit, das Kind an gegenwärtigen; der stete Wechsel der Ereignisse
erzeugt ein ewig sich änderndes Bild des Verhältnisses des Kindes
zu seiner Umgebung.
3. Das Kind hat im Gegensatz zum Manne und wohl in Überein¬
stimmung mit einer großen Zahl weiblicher erwachsener Patienten
häufig gar kein Interesse sich zu ändern, seine augenblickliche
Einstellung zu der Umwelt aufzugeben. Es kommt sich in seinen
„Unarten“ unendlich wichtig vor, das Gefühl der Allmacht, unter
die es die Personen seines Umkreises zwingt, sein Narzißmus, der
sich in der steten Beachtung seitens der Umgebung sonnt, läßt
es nicht verzichten auf seine „Schlimmheit“. Dem stark sadistischen,
wie dem ausgesprochen masochistischen Kinde sind die Tag für Tag
sich wiederholenden Auftritte, Wutausbrüche und Strafen ein
Bedürfnis ihrer kranken Seele. Ebensowenig verlangen aber auch
jene glücklichen Naturen nach der Genesung, die sich schon als
Kinder jeder Lebenslage anzupassen verstehen, von den steten
Verdrießlichkeiten im Elternhaus nur die freundliche Seite des
„Wiedergutseins“ in der Erinnerung behalten, eine zeitweilige
Unterbringung in einer Erziehungsanstalt als angenehme
Abwechslung betrachten, kurz, sich in jeder Änderung ihres
Lebenskreises zurechtfinden.
So hatte ich einen kleinen Gewohnheitsdieb zur Behandlung
übernommen, der in allen Erlebnissen in der Schule und daheim
eine „Hetz“ sah und sich mit dem vollständigen Mißerfolg im
Lernen mit der Bemerkung abfand: „Der Vater hat auch nicht
lernen wollen und jetzt geht’s uns doch so gut.“ Und einem anderen
zwölfjährigen Jungen, einem kleinen Durchgänger, den ich an der
heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik analysierte,
war der Aufenthalt daselbst infolge der ausgezeichneten Verköstigung
so angenehm, daß er trotz seiner oftmals geäußerten Sehnsucht
nach den Eltern im Grunde doch keine Änderung wünschte.
Die Erfahrung lehrte mich, daß im allgemeinen die Mädchen
in den Pubertätsjahren häuslichen Konflikten hilfloser gegenüber¬
stehen und sie ihnen darum auch schmerzhafter sind als Knaben
im gleichen Alter. Die Erklärung ist wohl zum Teil in der stärkeren
Gebundenheit des Mädchens ans Elternhaus infolge seiner von früh
an mehr auf Verdrängung arbeitenden Erziehung zu suchen,
Zur Technik der Kinderanalyse
181
ziim Teil in einer geringeren Fähigkeit, der in der Reifezeit heftig
anflodernden inzestuösen Regungen auf dem Wege der Sublimierung
Herr zu werden.
In der für die psychoanalytische Kindertherapie grundlegenden
Untersuchung über die Phobie eines fünfj ährigen Knaben
zeigt uns Freud die Methode, durch die es beim kleinen Kinde
gelingt, jene Tiefen der Seele zu durchleuchten, in denen sich die in
kindliche Angst sich umsetzenden libidinösen Regungen abspielen.
Auf dieser Altersstufe ist eine der Analyse des Erwachsenen analoge
Behandlung ausgeschlossen; es kann einzig eine auf psycho¬
analytische Erkenntnisse gegründete Erziehung
in Anwendung kommen; ein volles Verständnis für die infantile
Gedanken- und Gefühlswelt wird das volle Vertrauen des Kindes
erwecken und mit Hilfe dieser beiden Faktoren ist der Weg
gewonnen, der das Kind vor mancherlei Fehlern und Schäden
bewahrt. Da die körperliche und seelische Pflege des kleinen
Kindes vornehmlich in weiblicher Hand liegt, führt uns die eben
ausgesprochene Erkenntnis zur Forderung, kluge, gütige Frauen
für das psychoanalytische Erziehungswerk heranzubilden.
Eine regelrechte Analyse läßt sich erst etwa vom siebenten,
achten Lebensjahr ab durchführen. Aber auch bei Kindern dieser
frühen Altersstufe muß der Analytiker, wie ich später ausführen
werde, vom gewohnten Geleise abbiegen, sich mit Teilerfolgen
begnügen, wo er befürchten müßte, durch ein zu gewaltsames
Bohren im Gefühls- und Gedankenkreis das Kind einzuschüchtern,
an seine Auffassungskraft zu hohe Anforderungen zu stellen und
seine Seele zu verwirren, statt zu befreien.
Im allgemeinen lassen sich die jugendlichen Analysanden
ungezwungen in zwei Gruppen scheiden; solche, die zum voraus
wissen oder bald erfahren, worin die Behandlung besteht, was
ihr Zweck und Ziel ist; und solche, die wegen ihres zarten Alters
oder weil sie unter ihren Symptomen vorläufig selber nicht leiden,
z. B. ausgesprochene homosexuelle Neigungen, oder endlich wegen
anderer individueller Faktoren, wie einer debilen Konstitution, über
den Zweck des Zusammenseins mit dem Analytiker nicht aufgeklärt
werden können. Diese Kinder mögen denn ruhig an der Meinung
festhalten, daß man diese Stunden mit ihnen verbringe, um ihnen
irgendwelche Kenntnisse zu vermitteln, eine „Unart“ abzugewöhnen,
mit ihnen zu spielen oder auch aus besonderem Interesse für
ihre Person.
Ein 13 jähriger debiler Knabe hatte keinen Augenblick einen
Zweifel an der Aussage der Mutter, ich sei eine Freundin des
182
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
eingerückten Vaters und komme, ihn, den Jungen, zu seinem
Namenstage zu beglückwünschen. Da er mit schwerer Zunge
sprach, nahm er auch die weitere Erklärung, ich würde
ihn deutlich sprechen lehren, ohne Mißtrauen auf und mühte sich
auch tatsächlich um eine klarere Aussprache.
Die Mutter eines einährigen Knaben, der vollständig in
seiner Phantasie- und Traumwelt lebte, hatte ohne mein Vor¬
wissen eine Einführung gewählt, die mir nicht unbedenklich
schien. Sie gab an, eine Dame ihrer Bekanntschaft interessiere
sich sehr für die Träume der Kinder und werde sich von ihm
darüber erzählen lassen. Im Verlaufe der Analyse überzeugte ich
mich, daß die Mutter keinen Schaden angerichtet habe, denn die
in der ersten Zeit vielleicht etwas erkünstelten Traumberichte
waren ja doch nur Spiegelbilder seiner bewußten und unbewußten
Tagesphantasien.
Wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, zum Analy-
sanden über den Zweck der gemeinsamen Stunden zu sprechen,
darüber läßt sich keine Regel aufstellen; Erfahrung und persön¬
liches Feingefühl sind allein die verläßlichen Führer.
In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Frage steht die
Stellung gewisser Forderungen, deren Erfüllung dem erwach¬
senen Patienten eingangs der Behandlung als conditio sine qua
non der Kur bezeichnet wird. Es ist von vorneherein einzusehen,
daß man bei den psychoanalytischen Zöglingen der zweiten Gruppe
überhaupt auf die direkte Forderung der unbedingten Offenheit
und kritiklosen Aussprache aller Einfälle verzichten muß und sie
nur gelegentlich in einem günstigen Augenblick stellen kann.
Dagegen ist bei Analysanden der ersten Gruppe, also reiferen
jungen Menschen, die nicht selten durch ein Familienmitglied,
das sich einer Psychoanalyse unterzogen hatte, über deren Wesen
unterrichtet sind, oft schon in der ersten Stunde die Bedingung
der vollsten Offenheit, sowie der Verschwiegenheit gegen Alters¬
genossen, die Geschwister und sonstige Familienangehörige am
Platze. Freilich darf gerade hinsichtlich des auferlegten Schweigens
nicht übersehen werden, daß Gebote und Verbote den jungen
Menschen geradezu zur Übertretung herausfordern.
Das Zeitausmaß wird bei der Kinderanalyse in der
Regel durch den Schulbesuch, den die Eltern durchaus nicht
verkürzt sehen wollen, bestimmt. Von wenigen Fällen abgesehen,
in denen dem jungen Patienten der Anschluß besondere Schwierig¬
keiten bereitet, habe ich immer gefunden, daß eine Kürzung auf
drei bis vier Wochenstunden den Erfolg der Analyse, wenn sie nur
Zur Technik der Kinderanalyse
183
genügend lang fortgeführt wird, nicht beeinträchtigt. Hingegen
erscheint mir eine genaue Zeiteinhaltung von der größten Wichtigkeit.
Hier liegt ein Stück Selbsterziehung, das dem jungen Menschen nicht
erspart werden soll. Es kostet einen wohl manchmal eine starke
Selbstüberwindung, auf eine wichtige Mitteilung, die das Kind bis
zum Stundenende zurückhielt, zu verzichten, aber es hieße dem
Zögling die Oberhand überlassen, wollte man auf seine durch das
Zögern maskierten jugendlichen Ansprüche eingehen.
Während die heilerziehliche Analyse von Kindern reiferen
Alters (14 bis 18 Jahre) oft bald der des Erwachsenen ähnlich
verläuft, indem man schon in den ersten Stunden über die
Bedingungen der Behandlung, über die positive und die negative
Übertragung, den Widerstand, die Bedeutung der unbe-
wußtenSeelenströmungen für den ganzen Ablauf unseres
Erlebens sprechen kann, gestaltet sich die Analyse des jüngeren
oder des in der geistigen Entwicklung zurückgebliebenen Kindes
von vornherein anders.
So halte ich es für ungünstig, die kleinen Patienten zur
Vorbesprechung mit dem Analytiker mitzunehmen. Das Warten im
Nebenzimmer während der Unterredung, durch die das Kind sich
entlarvt, gedemütigt fühlt, erzeugt in ihm nicht selten eine so starke
Aufregung, sei es Angst, Erbitterung, Trotz, Scham, daß die
Behandlung dadurch gefährdet oder mindest ihre Einleitung
erschwert wird. Man hat einen Widerstand zu beseitigen, ehe man
noch die Möglichkeit hatte, eine Brücke des Einverständnisses zu
schlagen; man ist gewissermaßen vor die Aufgabe gestellt, über
eine Kluft hinüber einen Trümmerhaufen wegzuräumen.
So wie die erste Bekanntschaft des Analytikers mit dem
jungen Patienten soll auch die Behandlung selbst womöglich im
Heim des letzteren stattfinden. Die Analyse muß unabhängig
gemacht werden von der Laune des Analysanden, der es trefflich
versteht, einmal ein Unwohlsein zu produzieren, das ihn am Kommen
verhindert, ein andermal zu spät zu kommen oder die Analysenstunde
zu schwänzen. Denn dem Kinde fehlt nicht bloß das Interesse an
der Geldfrage, in der für den Erwachsenen ein steter Ansporn zur
lückenlosen Fortführung der Kur liegt, sondern es bietet sich ihm
noch obendrein in dem Bewußtsein, seinen Eltern diese Auslage
zu verursachen, eine Gelegenheit, Trotz- und Rachegelüste gegen
sie zu befriedigen. Natürlich drängt jedes Kind in der Hochflut
der positiven Übertragung, die Analyse ins Heim des Analytikers
zu verlegen; aber ich habe mich jedesmal, wenn äußere Gründe
für diesen Ortswechsel sprachen, von der Unbeständigkeit dieser
184
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
Änderung überzeugen können. So sehr auch Zeit und Kraft
des heilerziehlichen Analytikers durch diese Forderung belastet
werden, da er höchstens die halbe tägliche Patientenzahl des
ärztlichen Kollegen bewältigen kann und so schwer auch eine
vollständig ungestörte, unbelauschte Aussprache im Hause des
Patienten durchzusetzen ist, scheinen mir diese Übel doch gering
im Vergleich zu dem, die Durchführbarkeit der Analyse schon
rein äußerlich dem Kinde zu überlassen. Daß auch das Elternhaus
die Überwachung des Kindes auf dem Wege zum und vom
Analytiker trotz aller Sorglichkeit als auf die Dauer undurch¬
führbar bald zum Vorwand des Abbruches der Behandlung nimmt,
ist keinem Kinderanalytiker neu.
So günstig mitunter die zeitweise Entfernung schwer erzieh¬
barer Kinder vom Elternhause wirkt, habe ich doch einige
Bedenken gegen ihre psychoanalytische Behandlung in irgend¬
welchen Instituten, in denen sie als interne oder Tageszöglinge
untergebracht sind, einmal weil dem Kinde das Schweigegebot in
einer Situation, in der es sich gegenüber den Kollegen unendlich
wichtig vorkommt, unerträglich schwer erscheint und weil es
ferner leicht dem Spott der anderen ausgesetzt ist, wenn es
eine „Stunde“ hat, über deren Zweck und Inhalt die anderen
keine Auskunft erlangen können. Wie die Behandlung sich
gestalten wird, wenn vielleicht einmal in besseren Zeiten
mein Gedanke von der Gründung psychoanalytischer
Jugendheime sich verwirklicht, läßt sich heute nicht sagen;
nur glaube ich, wird es ganz besonderen Taktes, großer erzieh¬
licher Tüchtigkeit und Erfahrung bedürfen, den sicher bedeutenden
Schwierigkeiten, die der psychoanalytischen Behandlung aus dem
Zusammenleben der Zöglinge erwachsen, erfolgreich zu begegnen.
Die Eifersucht der Analysanden untereinander, der Vergleich, der
nicht immer zugunsten des Analytikers ausfällt, in dessen Hand
eben ein Patient gegeben ist, die nicht zu verhindernde gegen¬
seitige Aussprache der Kinder über ihre Analyse dürfen in ihrer
Schwere nicht unterschätzt werden. Trotzdem glaube ich, daß die
Gründung psychoanalytischer Jugendheime das Problem der Führung
des schwer erziehbaren Kindes, an dem unzählige Eltern und die
Schule scheitern, wird lösen oder doch minder hart empfinden
lehren.
Ein bedeutsamer Unterschied in der Analyse des Kindes und
der des Erwachsenen ergibt sich aus einer scheinbar reinen
Äußerlichkeit: soll der Patient während der Behandlungsstunde
liegen oder sitzen? Für den sehr jugendlichen Patienten ist
Zur Technik der Kinderanalyse
185
die Frage schon durch die Schranken, die sein Alter der Analyse
zieht, beantwortet. Aber auch für das reifere Kind bedeutet das
„Liegen“ eine Vorbereitung zu einer Angstsituation. Niederlegen
weckt im Kinde die Erinnerung an erlebte oder phantasierte
Überwältigüngsszenen; das eine befürchtet Prügel, das andere eine
Operation, beide werden von heimlichem Schuldbewußtsein, heim¬
licher Kastrationsangst überfallen. Patienten im Pubertätsalter
wähnen sich nicht selten im „Liegen“ der Hypnose und in ihr
der Vergewaltigung preisgegeben. Verführungsphantasien homo-
wie heterosexueller Art spielen bei „nervösen“ Knaben und
Mädchen eine große Rolle und werden durch die Aufforderung
des Niederlegens sofort auf die Person des Analytikers proiziert.
Ein löjähriger Junge, der wegen einer schweren Gewitter-,
Sturm- und Erdbebenphobie in meine heilerziehliche Behandlung
kam, gestand mir im Laufe der Analyse, daß er sich der Kur
unbedingt widersetzt hätte, wenn er sich, wie er es von einem
analysierten Bekannten seiner Familie gehört hatte, auf die
Ottomane hätte legen müssen, da er in steter Furcht vor der
Hypnose lebte. Und tatsächlich war der Junge während der Kon¬
sultation bei einem Nervenarzt seiner Vaterstadt, der ihn hypnoti¬
sieren wollte, bei diesem Versuch in einen schweren Aufregungs¬
zustand geraten, in dem er die Polizei zu Hilfe rief und schließ-
lieh fluchtartig* auf die Straße eilte.
Ich habe nicht bemerken können, daß der Erfolg der Analyse
durch das Einandergegenübersitzen geschädigt worden wäre.
Von der größten Wichtigkeit ist die erste Stunde; in ihr
gilt es, den Anschluß an die junge Seele zu finden, „das Eis zu
brechen“. Sie verursacht dem Anfänger viel Kopfzerbrechen und
Herzklopfen und bringt dem geübten Analytiker fast in jedem
Fall neue methodische Aufschlüsse und Richtlinien. Aber es läßt
sich keine Regel, kein Programm aufstellen; Intelligenz, Alter
und Temperament des Patienten werden entscheiden, welcher
Weg einzuschlagen sei.
Bei reiferen Analysanden ist oft die volle Wahrheit die
richtige Form, ihr Vertrauen im Sturm zu erobern.
Die Mutter eines schwer nervösen 14jährigen Mädchens
führte mich bei der Tochter als eine Freundin, die sie viele Jahre
nicht gesehen hätte, ein ; aber das Kind ließ sich nicht täuschen ; nach
wenigen Minuten fragte es: „Wer sind Sie denn eigentlich?“ und
die ehrliche Erklärung, ich befasse mich mit jungen Menschen,
die das Leben allzu schwer nehmen, mit ihm nicht fertig werden,
ich wolle auch ihr helfen, in besseren Einklang zur Mutter zu
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2 13
186
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
kommen, verfehlte nicht ihre Wirkung. Das Kind schloß sich
stürmisch an mich an und holte sich in allen Fragen, die es
quälten, bei mir, „die ich ihre zweite, nein, ihre wahre Mutter
sei“, Rat.
Manchmal hilft bei Patienten, die sich hartnäckig gegen jedes
Gespräch verschließen, irgend ein Kunstgriff. Ein kleiner neun¬
jähriger Selbstmordkandidat nimmt in der ersten Stunde von
meiner Anwesenheit nicht die geringste Notiz, legt den Kopf auf
den Tisch und reagiert auf kein Wort. Eine Mücke, die mir knapp am
Gesicht vorbeisummt, bringt mich auf den Einfall, zu tun, als wäre
mir etwas ins Auge gefallen. Sofort springt der Junge, der sich
überall gern in den Vordergrund stellt, auf: „Bitte, lassen Sie
mich sehen, ich werde es Ihnen herausnehmen; aber Sie dürfen
nicht reiben“ usw. Mit seiner Hilfeleistung war das Eis gebrochen,
er hatte sich mir unentbehrlich gemacht. Und jedesmal, wenn
ein starker Widerstand ihn in sich verkriechen ließ, brauchte ich
nur seinen Rat, seine Hilfe in Anspruch nehmen und die Analyse
ging wieder rüstig vorwärts.
Ein Kunstgriff, der nach meiner Erfahrung nie versagt, ist,
dem Analysanden Streiche anderer Kinder zu erzählen. Da man
von den Eltern über die „Unarten“ und „Eigenheiten“ des
kleinen Patienten genügend unterrichtet ist, hat man nicht zu
besorgen, ein Kind durch solche Berichte zu ihm bislang fremden
Missetaten anzuregen. Durch eine richtig geführte Analyse ist
noch kein Kind moralisch geschädigt worden, weder im Sexuellen
noch nach einer anderen Richtung. Wenn eine augenblickliche
Verschlechterung des Betragens dem Laien eine solche Befürchtung
nahelegt, so weiß sie doch der Analytiker als günstiges
Anzeichen eines Erfolges zu schätzen.
Die Reaktion der Kinder auf diese Form der Einleitung ist
eine dreifache. Häufig erwidert der Patient mit einem Bericht
gleicher Untaten, die zuerst — andere vollbrachten, und dann
allmählich für die eigene Person zugegeben werden. Oder es erfolgt
eine heftige Ablehnung: „Das habe ich nie getan!“ Wir wissen
aus der Analyse der Erwachsenen, daß jedes affektvolle Nein ein
Zugeständnis bedeutet. Endlich kommt es vor, daß das Kind die
Mitteilung ganz gleichgültig anhört. Denn wir werden kaum irren
in der Annahme, daß die Eltern etwas im Benehmen ihres Kindes
mißverstanden oder daß sich hinter den mitgeteilten Tatsachen
noch viel Schlimmeres verbirgt.
Beim Kinde von sieben, acht Jahren ist ein Eingehen auf
seine Spiele oft der Bahnbrecher, und zugleich lassen sich in den
Zur Technik der Kinderanalyse
187
Spielformen manche Symptome, Eigenheiten und Charakterzüge
erkennen; bei solchen sehr jugendlichen Patienten wird mitunter
das Spiel seine Rolle während der ganzen Behandlung behaupten.
Ein siebenjähriger Knabe, der an schwerer Schlaflosigkeit mit
krampfartigem Lachen und Zuckungen litt, was den Verdacht der
Beobachtung des elterlichen Sexuellverkehrs nahelegte, zeigte am
Tage eine vollständige Apathie, lag stundenlang schweigend ohne
zu spielen auf dem Teppich, aß viel, aber ohne Lust und Auswahl
und hatte scheinbar sein früher außerordentlich starkes Zärtlichkeits¬
bedürfnis plötzlich verloren. In der Analyse ließ er mich die ganze
Stunde, ohne viel zu reagieren, mit seinen Spielsachen spielen, gab
selten eine Antwort, so daß es schwer zu entscheiden war, ob er
überhaupt meine Worte auffaßte. In einer der ersten Stunden
erzählte ich von einem kleinen Jungen, der nachts nicht schlafen
wolle, Lärm mache, daß auch die Eltern nicht schlafen können; der
kleine Rudi mache auch Lärm am Nachmittag, wenn Vater ruhen
wolle ; dann sei Vater böse und Rudi bekomme Schläge. (Reaktion:
der kleine Hansl läuft zum Büfett, nimmt einen „Krampus“ mit
Rute herunter und schlägt mich auf den Arm: „Du bist schlimm!“)
Dann habe Rudi den Vater gar nicht gern; er wäre froh, wenn
Vater nicht da wäre. (Reaktion: „Papa ist im Krieg“ — sein
Vater, ein höherer Offizier, war tatsächlich bis zum Kriegsende
im Feld und nur auf kurzem Urlaub zu seiner Familie nach Wien
gekommen. — Plötzlich nimmt er seine kleine Kanone und sagt:
„Puff, puff.“)
Am nächsten Tag künden sich seine Todeswünsche gegen
den Vater noch deutlicher; er spielt mit einem kleinen Auto und
überfährt den Chauffeur, den ich eben als Vater des kleinen Rudi
bezeichnete, mehrmals; ich telephoniere im Spiele dem Söhnchen
vom Unfall des Vaters, lasse Rudi sehr weinen und sage, daß der
kleine Junge früher oft gern gehabt hätte, wenn der strenge
Vater einmal fort gewesen wäre; aber weil er ihn doch sehr lieb
habe, kränke er sich jetzt. Die Reaktion des kleinen Hansl ist
charakteristisch; er hört mir, auf dem Boden liegend, zu, fragt
ab und zu gespannt: „Was tut der kleine Rudi jetzt?“ Plötzlich
springt er auf und läuft zur Tür hinaus. In gleicher Weise
beantwortet er am folgenden Tag die von ihm gewünschte Wieder¬
holung des Spieles. In dem spontanen Verlassen des Zimmers
läßt sich die Arbeit seines Unbewußten klar erkennen. Aber es
zeigt sich uns auch ein bedeutsamer Unterschied im Ablauf des
psychischen Geschehens beim Erwachsenen und beim Kinde.
Während die Analyse des reifen Menschen auf die volle Einsicht
13*
188
Dr Hermine Hug-Hellmuth
der unbewußten Motive und Gefühle abzielt, genügt beim Kinde
dieses wortlose, durch eine Symbolbehandlung ausgedrückte
Zugeständnis vollständig. Ja, wir lernen aus der Analyse des
Kindes vermuten, daß sich bei ihm die seelischen Vorgänge
überhaupt in ganz anderen Schichten und in anderer, bald
loseren, bald starreren Verknüpfung vollziehen als beim Erwach¬
senen ; daß beim Kinde viele Eindrücke, trotzdem sie die
Bewußtseinsschwelle nie erreichten, doch deutliche Spuren in der
Seele zurücklassen. Auch die Analyse macht diese Erinnerungsreste
von „Urszenen“ nicht bewußt \ der Prozeß der Verschmelzung
neuer Eindrücke mit ihnen vollzieht sich vielleicht im Vorbewußten
und späteren Erlebnissen auf höheren Entwicklungsstufen bleibt
es Vorbehalten, sie ins Bewußtsein treten zu lassen. Dies würde
zur Erklärung der Tatsache beitragen, warum die allerfrühesten
für alle Menschen ziemlich gleichartigen Eindrücke, z. B. die
Maßnahmen der Aufzucht, in dem einen den Grund zu einer
Neurose legen, indes der andere ungeschädigt aus ihnen
hervorgeht.
Am seltensten wird der jugendliche Patient gleich in der
ersten Stunde, da er voll Mißtrauen gegen den Analytiker, die
Vater- oder Mutter-Imago, seine psychischen Fühlhörner ausstreckt,
selbst frei erzählen. Es sei denn, daß eine maßlose Erbitterung
gegen Eltern oder Geschwister das Kind treibt, spontan in Klagen
und Schimpfen auszubrechen. In diesem Falle gilt es, dem jungen
Menschenkinde die größte Duldsamkeit, ein volles Eingehen auf
seine Beschwerden zu zeigen.
Von der größten Wichtigkeit ist die erste Mitteilung
oder eine Symptomhandlung des Kindes in der
ersten 1 Stunde; denn sie enthalten den Kernkom-
plex der infantilen Neurose.
Ein löjähriger Junge kommt wegen schwerer Angstzustände,
die er bald als „Angst vor der Angst“ charakterisiert, in die
analytische Behandlung. Seine erste Mitteilung lautet: „In unserer
Klasse sind die beiden besten Schüler Juden, dann komme ich,
die guten Schüler sind wieder Juden und alle übrigen sind
Christen.“ Der Knabe verrät durch diese Feststellung den in ihm
ewig nagenden unbewußten Vorwurf gegen den Vater, der wegen
der Verheiratung mit einer Arierin vom Judentum zum Protestan¬
tismus übergetreten ist.
1 Vergleiche Freuds Studie „Ein Kind wird geschlagen“, Zeit¬
schrift V/4, 1919.
Zur Technik der Kinderanalyse
189
Den kleinen Hansl, dem wir einen wertvollen Einblick in den
Mechanismus des seelischen Geschehens beim Kinde verdanken,
weckt folgendes Spiel aus der vollständigen Teilnahmslosigkeit in
der ersten Stunde : Ich bemerke im Spiegelbild, daß er in der
Nase bohrt und sage: „0, was tut denn der Hansl ? Pfui, da mag
ich nicht hinschauen.“ Darauf stellt er sich schelmisch lachend
vor den Spiegel, ruft: „Nicht herschauen!“ und bohrt wieder in
in der Nase; natürlich erwartet er meine Abwehr; unermüdlich
wiederholt er das Spiel, indem er bloß Nasenbohren mit Heraus¬
strecken der Zunge abwechseln läßt. Im Spiele ist ihm das
oftmalige Erlebnis der Strenge des Vaters vorbildlich, der er durch
Verheimlichung seiner kleinen Missetaten zu entgehen sucht.
Ein lßjähriges Mädchen leidet infolge starken Schielens beider
Augen unter schweren Minderwertigkeitsgefühlen. Als bezeichnende
Symptomhandlung, vom Auge und seinen Abnormitäten
nichts wissen zu wollen, bedeckt sie spontan meinen auf den
Tisch liegenden Zwicker mit der Hand. Später gesteht sie mir,
daß dieser Fehler lange ihr sonst sehr zärtliches Verhältnis zu
mir gestört habe.
Ein lOjähriger Knabe, der infolge seiner überstarken Phantasie¬
tätigkeit im Lernen versagt, berichtet in der ersten Stunde über
eine „Lohengrin“-Aufführung, in der ihm die Stellung des Helden
recht mißfallen habe; er ahmt sie nach, indem er mir seine
Kehrseite prononziert zuwendet und tadelt diese Stellung eines
Sängers auf der Bühne heftig: „Bitte, Frau Doktor, darf sich eip
Schauspieler so vor das Publikum stellen?“ Nach kurzem Gang
der Analyse bestätigt sich meine Vermutung, daß der Knabe
unter starken Exhibitionsverdrängung leidet.
Die erste Mitteilung eines 14jährigen Mädchens, das sich
qualvollen Grübeleien hingibt, ist die scharfe höhnende Kritik des
geographischen Unterrichtes, den sie angeblich als zehn- bis
elfjähriges Kind in steter Wiederholung über das „Klima“ erhielt;
auch jetzt werde im Lyzeum dasselbe Kapitel, Klima, Sonnenstand,
Schatten, mit der gleichen Hartnäckigkeit behandelt. „Was für
einen Zweck es habe, von Sonnenstand und Schatten zu lernen,
einem elfjährigen Kinde seien diese Dinge ganz gleichgültig usw.“;
diese Klage füllt fast die ganze Stunde mit der größten Eintönigkeit
aus und auch im weiteren Verlauf der Analyse kommt die Grüb¬
lerin immer wieder auf dieses Thema, bis sich endlich der
Zusammenhang dieser Frage mit dem Hauptinteresse des Mäd¬
chens, dem Sexualverkehr des Menschen, entpuppt. Über den
Umweg einer großen Vorliebe für Pferde — sie beschäftigt sich
190
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
eingehend mit Werken über Pferdezucht — dem Interesse an
Reisebeschreibungen und dem Liebesieben fremder Völker kommt
die Kernfrage: „Wie lange verkehren eigentlich bei den verschie¬
denen Rassen Mann und Frau, d. h. Vater und Mutter, miteinan¬
der?“ zum Vorschein.
Die Forderung einer „aktiven Therapie“, wie sie in der Analyse
des Erwachsenen gestellt wird, hat auch in der Kinderanalyse ihre
Bedeutung. Sicher ist es im späteren Verlauf der Behandlung bei
einer ganzen Reihe von Analysanden angezeigt, ihnen kleine
Aufgaben aufzutragen. Besonders dort, wo der Patient durch starke
Minderwertigkeitsgefühle gehemmt ist, wird ein richtiges Maß von
geforderten Leistungen das Selbstbewußtsein erstarken machen.
Der scheue, unselbständige debile Junge, der mit schwerer
Zunge sprach und viel vom Hohn der Straßenjungen zu leiden
hatte, setzte nach sechsmonatiger Behandlung seinen Großvater
durch sein männliches, selbständiges Auftreten bei einer Behörde
in Erstaunen. Er, der kaum vors Haus gehen wollte, wurde durch
die Analyse so weit gebracht, daß er an Spaziergängen teilnahm
und allein, erst für mich, dann für die Mutter, kleine Besorgungen
tadellos erledigte.
Viel wichtiger als die Erteilung von Aufträgen scheint mir
die tunlichste Vermeidung direkter Verbote. Was mehr als Verbot
und Auftrag fruchtet, ist das „Beraten“. Diese Form des
gemeinsamen Erwägens der Gründe und Gegengründe in einer
bestimmten Situation wirkt außerordentlich günstig auf das
Selbstvertrauen des durch seine Minderwertigkeitsgefühle be¬
drückten Patienten.
Für den Gang der Analyse selber läßt sich beim Kinde so
wenig wie beim Erwachsenen ein Programm machen. Gütiges
verständnisvolles Zuhören, ein aufmunterndes, ja gelegentlich auch
scherzhaftes Wort an der rechten Stelle, ein liebevolles Eingehen
auf alle Nichtigkeiten, die dem Kinde keineswegs solche sind,
geben den Weg, der zum vollen Vertrauen der jungen Seele führt.
Stete Wachsamkeit, nichts zu vergessen, nichts zu verwechseln,
was in früheren Stunden gesprochen wurde, vervollständigt die
Ansprüche des Kindes an den Analytiker. Inwieweit und wann
die freie Assoziation verwendbar ist, läßt sich nur von Fall zu
Fall entscheiden. Nach meiner Erfahrung gilt Abrahams 1
Bemerkung, daß ältere Menschen weit mehr der Führung in
1 Zur Prognose psychiatrischer Behandlungen in vorgeschrittenem
Lebensalter. Diese Zeitschrift VI, 1920, 113.
1
Zur Technik der Kinderanalyse 191
der Analyse bedürfen als Personen in mittleren Jahren,
auch für das Kind und Jugendliche. Vielleicht mit dem Bei¬
fügen, daß bei diesen mit noch größerer Vorsicht gearbeitet
werden muß als beim alten Menschen; wohl sind erstarrte
Vorstellungs- und Gefühlsmassen schwer zu entwirren, aber die
größere Plastizität der jungen Seele birgt zugleich die Gefahr
einer unbeabsichtigten Suggestion an Stelle der Vermittlung einer
möglichst klaren Einsicht. Freilich habe ich mich immer wieder
überzeugen können, daß die Kinder viel mehr wissen und
über die Geschehnisse ihres Umkreises nachdenken, als wir in
unserer anerzogenen Ängstlichkeit wahrhaben wollen. Klingt es
nicht geradezu tragikomisch, von einem elfjährigen Mädchen, dem
man seine stete Frage nach dem Vollzüge des Sexualaktes
sorgsam schrittweise beantwortet, plötzlich das Geständnis zu
hören, es habe als fünfjähriges Kind von der Mutter zur Spionage
angeleitet, den intimen Verkehr des Vaters mit einer Dirne durchs
Schlüsselloch belauscht?
Natürlich kommt den Träumen auch in der Kinderanalyse
ihre Rolle zu und man hat nicht mehr als beim Erwachsenen zu
befürchten, daß der Widerstand ein gehäuftes oder erdichtetes
Traumerleben bedinge. Der angebliche Nachttraum bedeutet ja nur
eine Tagphantasie, die das Kind als solche vielleicht nie ausspräche.
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, wie schwierig es ist,
manches Kind zur kritiklosen Mitteilung jedes Einfalles zu bringen,
weil es von der Nutzanwendung der guten Lehre seiner täglichen
Umgebung, „keinen Unsinn zu reden“ usw., nicht loskommt.
Wenn auch natürlich in der Kinderanalyse der Gebrauch
technischer Ausdrücke, wie Ödipus-, Kastrationskomplex, Exhi¬
bition usw. unverwendbar ist, so müssen doch die Tatsachen dem
Kinde klar werden. Auch beim recht jugendlichen Patienten ist
es notwendig, gewisse Erscheinungen im Gange der Behandlung
zu erklären. Er wird den „Widerstand“ gut verstehen, wenn er
ihm zuerst in seinem Zusammenhänge mit der „negativen
Übertragung“ im Sinne des „Aus Trotz nicht reden“, dann mit
der „positiven“, im Sinne der Scham, sich oder das Elternhaus
durch eine Mitteilung vor dem Analytiker herabzusetzen, erklärt
wird; endlich auch bei der bald gebrauchten Wendung: „Jetzt
habe ich schon alles gesagt.“
Vom Widerstand in der Form des Nichtpreisgebenwollens
der Familie führt ein Zugang zur Erörterung der negativen
Übertragung, die im allgemeinen viel willigere Annahme findet als
die positive. Die Besprechung der letzteren erfordert, auch wenn
192
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
sie recht deutlich zu erkennen ist, besondere Vorsicht in der
Formulierung'; denn im Grunde ist das Kind doch nicht gewillt
seme Eltern gegen einen fremden Menschen einzutauschen, auch
dann nicht, wenn alle Berechtigung dazu vorhanden wäre.
Dessenungeachtet ist die erste Gefühlseinstellung oft schon zu
Beginn der Behandlung fast regelmäßig eine starke positive
Übertragung, verwirklicht der Analytiker doch durch sein
affektfreies Hören und Eingehen auf jedes Gespräch das heimliche
Vater- oder Mutterideal des Kindes. Natürlich spielt es diese
Konstellation sofort gegen das Elternhaus aus. Es kommt dann
zu jenen für die Familie aufregenden und aufreizenden Äußerungen
des Kindes: „Der Herr Doktor hat gesagt, ich brauche das und
das nicht tun,“ oder „da muß ich erst die Frau Doktor fragen.“
Jedes Anhören seiner Klage während der Analysenstunde faßt das
Kind als Zustimmung auf, spinnt daran seine Phantasien und
verleiht ihnen Realitätswert. Auch sind die jugendlichen Patienten
stets geneigt, Komplotte gegen die Eltern zu schmieden und dabei
auf die Unterstützung des Analytikers zu rechnen. Wie der
Erwachsene, will auch das Kind in der Hochflut der positiven
Übertragung mit der Behandlung nicht fertig werden.
Die negative Übertragung tritt in der Regel zuerst in der
Form von Furcht vor Verrat auf; dann lassen sich die Kinder bei
jeder Mitteilung Eide der Verschwiegenheit leisten. Das Mißtrauen
gegen den Analytiker ist begründet durch die Unfreiwilligkeit des
Kindes und durch die ungezählten Enttäuschungen, die auch das
gütigste Elternhaus dem Kinde von früh an bereitet. Daraus
erklärt sich gut, daß es die Unterredungen des Analytikers mit
den Eltern ängstlich und zugleich eifersüchtig überwacht und sie
zu belauschen und abzukürzen sucht.
Wir wissen, welche bedeutsame Rolle im infantilen Seelen¬
leben der Sexualität, ihrer Wahrnehmung und der Ablenkung dieses
kindlichen Interesses seitens der Umgebung zukommt. Das Kind
ist gewohnt, bei den Eltern und anderen erwachsenen Familien¬
mitgliedern wenig befriedigende Antwort auf diese Rätselfragen zu
erhalten und es nimmt daher die offene Aussprache über sexuelle
Dinge in der Analyse zwiespältig auf. Es fühlt sich in seiner
Wertung als vollgewichtiger Mensch gehoben, es strebt offen¬
sichtlich die Freimütigkeit des Analytikers durch besondere Zutun¬
lichkeit zu lohnen; aber zugleich ist es, sowie ein heftigerer Wider¬
stand einsetzt, flugs bereit, aus der früheren Verdrängung heraus
die Person des Analytikers, um der verpönten Gespräche willen, zu
erniedrigen. So stark wirken die elterliche Autorität und die ersten
Zur Technik der Kinderanalyse
193
erziehlichen Einflüsse im Kinde nach, daß es bei jedem Erwachsenen,
der sich mit ihm eingehend beschäftigt, die gleichen Forderungen,
die gleiche Lebensanschauung erwartet. Ihm verkörpert der Ana¬
lytiker auch in viel stärkerem Maße als dem reifen Patienten die
Vater- oder Mutter-Imago. Und deshalb dauert es eine gute Weile
bis es ihm zur Gewißheit wird, daß der Analytiker nicht „zu den
Eltern hält“, daß es bei ihm wirklich volle Freiheit und volles
Verständnis für jede Äußerung fl nde . Die kindliche Überschätzung
der Autorität im positiven und negativen Sinne erschwert die
Arbeit, weil der Patient mit scharfem Blicke prüft, wo er am
Analytiker eine Blöße entdecken könnte, die ihm das Recht zur
Kündigung des Autoritätsglaubens gäbe. Und diese erwünschte
Blöße meint der junge Mensch, besonders das Kind in der
unbefangenen Besprechung der sexuellen Probleme zu finden und
darum zeigt sich in dieser Phase der Behandlung die Ambivalenz
des Analysanden zu seinem Führer und Berater am offenkundigsten;
der fühlbare Gegensatz zwischen den Eltern in der Wirklichkeit
und ihrer Imago in der Phantasie weckt den uralten Kinderwunsch,
Vater und Mutter möchten die Vertrauten des kleinen Herzens
sein, zur ursprünglichen Lebhaftigkeit und somit wachen alle Gefühle
der frühen Enttäuschung wieder auf. Aus diesem unausbleiblichen,
durch die Kindheitserinnerungen begründeten Konflikt der jungen
Seele in ihrer Einstellung zum Behandelnden ergeben sich die
Grundforderungen an seine Person. Hauptsache in der Analyse
von Kindern und Jugendlichen bleibt die Einfühlung des
Analytikers in die erkrankte Seele. Es kommt nicht so sehr darauf
an, wieviel von den Komplexen man dem jungen Menschenkinde
bewußt klar gemacht hat, wie viel es „einsieht“, es genügt
fürs erste die Reaktion überhaupt. Viele Stunden später zeigt ein
Wort des Kindes, daß es die damals empfangene Erklärung in
seiner Seele bewahrt und gewertet hat. Aber nicht in bewußter
Arbeit hat sich die Annahme vollzogen; ein großer Teil der
psychoanalytischen Leistung des Kindes vollzieht sich in seinem
Unbewußten, bleibt ihm im Gegensatz zum Erwachsenen dauernd
unbewußt, nur die Änderung seines Verhaltens gibt dem Analytiker
den Beweis, daß die aufgewendete Mühe nicht vergeblich war.
Nach meiner Erfahrung gehören jene Kinder, an deren rascher
Zustimmung man sich freuen zu dürfen vermeint, zum schwerst
zu behandelnden Typus; es sind die gut dressierten Kinder, die zu
a ^ em »J a<< sagen, aber ein „Nein“ denken und danach handeln.
Einfühlung und Geduld sind die Grundpfeiler, die von
der ersten Bekanntschaft mit dem jugendlichen Patienten an auf-
194
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
gerichtet werden müssen, damit das Vertrauen auf festem Grunde,
unter festem Dache wohne.
* *
*
Einen wichtigen Faktor in der Kinderanalyse bildet das
Verhältnis des Analytikers zum Elternhause des jungen Patienten.
Man könnte meinen, daß der heilerziehliche Psychoanalytiker in
diesem einen Punkt im Vorteil gegen seinen ärztlichen Kollegen
sei, da ja das Kind auf Wunsch der Eltern zur Behandlung kommt,
während der erwachsene Kranke aus eigenem Antrieb, oft gegen
den Willen seiner Familie sich in die Kur begibt. Diese Erwartung
erweist sich leider als unrichtig. Auch beim Kinde ist die Psycho¬
analyse die letzte Zufluchtsstätte und die Eltern sind gegen sie
voll Mißtrauen, da sie ja alle anderen Erziehungsmittel fehlschlagen
sahen. Trotzdem erwarten sie eine „Wunderkur“, die in Tagen
beseitigen soll, was in Jahren verfehlt wurde. An dieser Erwartung
hält das Elternhaus fest trotz der eindringlichen Mitteilung des
Analytikers, daß die Dauer der Behandlung nicht zum voraus
angebbar sei, weil sie von der Eigenart des Kindes abhänge, aber
daß sie sich gewiß über Monate erstrecken werde. Ich habe mich
immer wieder überzeugen müssen, daß die Eltern schon zu Beginn
der Behandlung ihr insgeheim eine Frist gesetzt haben, an der sie,
ohne der Einsicht zugänglich zu sein, daß eine Kur auf halbem
Wege abbrechen, Zeit, Mühe und Geld verschwenden heißt, festhalten.
Für die Folgen des vorzeitigen Abbruches, eine wesentliche
Erhöhung des Übels, die das Kind in bewußter oder unbewußter
Auflehnung gegen den Entzug der erst aufgezwungenen und nun
entbehrten Hilfe produziert, wird dann natürlich das psycho¬
analytische Vorfahren verantwortlich gemacht. Das für die Eltern
überaus schmerzliche, aus Sorge, Scham und Erbitterung gemischte
Gefühl des Scheiterns in der Erziehung trägt zur Schärfe dieser
Verurteilung bei. Auch die Erkenntnis, daß sich in der Analyse
alle oft in der besten Absicht begangenen Erziehungsfehler offen¬
baren, daß der Analytiker einen der Familie unerwünschten Einblick
in die internen Angelegenheiten bekommt, erzeugt bei den meisten
Eltern Mißstimmung und Ängstlichkeit. Diese Scheu vor der Preis¬
gabe der Familienverhältnisse wird der Analyse des Kindes ver¬
hängnisvoller als der des Erwachsenen, der die fühlbaren Fortschritte
seiner Genesung nicht allzu ängstlichen Rücksichten zu opfern
gewillt ist. Eine andere Schwierigkeit erwächst aus dem über¬
eifrigen Bestreben der Eltern, die Analyse durch ihre Mithilfe zu
fördern und zu beschleunigen. Zumindest die Mütter wollen fast
insgesamt „aktive Therapie“ betreiben. Es ist unendlich schwer,
Zur Technik der Kinderanalyse
195
sie zu überzeugen, daß ihre Aufgabe auf einem anderen Felde
Hegt, daß sie die richtigen Helfer sind, wenn sie dem Kinde
während der Behandlung das größtmögliche Ausmaß von Geduld
und Duldsamkeit zuteil werden lassen. Sie müssen zur Einsicht
geführt werden, daß die junge Seele während der Analyse einen
Prozeß des Umkristallisierens durchmacht, unter dem zunächst
die alten Formen zerstört werden; daß dieses Abtragen nicht ohne
Erschütterung vor sich gehe und daß diese Stöße sich zunächst
in einem Anwachsen der auszurottenden „Unarten“ und „Eigen¬
heiten“ äußern. Fast regelmäßig tritt nach einer auffallenden,
aber vorübergehenden Besserung der Symptome, die in den Eltern
die voreilige Erwartung weckt, die Behandlung werde — trotz der
ausdrücklichen Vorsicht des Analytikers hinsichtlich einer Angabe
über die Arbeitsdauer — in einigen Wochen, ja Stunden vollendet
sein, ein starker Umschwung zum Schlechteren ein. Das eine
Kind widersetzt sich mit noch größerer Heftigkeit als bisher den
erziehlichen Forderungen des Elternhauses; das andere, das wegen
seines überreichen Phantasielebens im Lernen versagt, wird in der
ungewohnten Freiheit, all sein geheimes Denken und Fühlen un¬
behindert aussprechen zu können, schwelgen, es berauscht sich
an seinen Tagträumen und wendet sich vorerst noch gründlicher
vom Lernen ab als vordem. Diese offenkundige Verschlimmerung
im Verhalten, das heißt im seelischen Befinden des Kindes wird
von den Eltern anders gewertet als vom Analytiker, der in ihr
ein gutes Anzeichen für den weiteren Gang der Analyse sieht.
Es ist nicht leicht, die Eltern davon zu überzeugen, daß
der Verzicht auf Lernerfolge während der Analyse geradezu die
Anwartschaft auf Erfolge nach der Behandlung enthalte. Nur
selten sind sie geneigt, der seelischen Erkrankung gleiches Recht
einzuräumen wie einer körperlichen. Wie kein Vater sein Kind,
das an einer Lungenentzündung darniederliegt, zur Schule schickt,
so dürfen auch keine Lernforderungen an ein psychisch leidendes
Kind gestellt werden.
Aus dem Elternnarzißmus erklärt sich die tiefe Eifersucht,
die namentlich die Mütter erfüllt, wenn sie ihr Kind sich stürmisch
an die Person des Analytikers anschließen sehen. Hier setzt für ihn
eine wichtige Aufgabe ein: er muß der Mutterdie positive Übertragung,
als ein vorübergehendes für das Gelingen der psychoanalytischen
Arbeit notwendiges Phänomen, durch das sie nicht geschädigt
werde, erklären.
Trotz der Schwierigkeiten, die das Verhältnis zwischen Eltern
und Analytiker sich nicht so freundlich gestalten lassen, als es im
196
Dr. Hermine Hug-Hellmuth
Interesse des Kindes gelegen wäre, ist auf den Kontakt nicht zu
verzichten. Er ist eine berechtigte Forderung des Elternhauses
und für die Behandlung zweckmäßig. Denn das Kind übergeht,
ohne bewußt Kritik zu üben wie der Erwachsene, rein instinktiv,
was keine Gefühlsnote trägt oder was von ihm gefühlsmäßig
vollständig erledigt wurde. So erfahren wir oft in der Analyse
nichts von Verdrießlichkeiten daheim oder in der Schule, einfach
weil es diesem Kinde Bedürfnis ist, solche Szenen heraufr
zubeschwören und sein Interesse deran erlischt, sobald sie sich
nach Erwarten abspielten. Daneben ist nicht zu vergessen, daß
das Kind auch bewußt verschweigt. Auch zur Ermittlung des
Zeitpunktes oder der Richtigkeit einer Erinnerung ist mitunter
eine Anfrage bei den Eltern von Nutzen. Ebenso ist es wertvoll,
Einblick in die früheste Lebenszeit des Patienten zu gewinnen.
An dieser Stelle können die Eltern ihr Bedürfnis nach aktiver
Mithilfe bei der Analyse befriedigen durch die schriftliche Beant¬
wortung einer Reihe von Fragen über die frühinfantile körperliche
und seelische Entwicklung des Kindes. Diese Auskünfte enthalten
wertvolle Winke betreffs des Milieus, der Lebensanschauungen, der
Erziehungsformen, in denen der Patient aufwächst. Von besonderem
Interesse für die analytische Arbeit ist das Übergehen gewisser
Fragen, z. B. über die kindliche Onanie und die Form ihrer Ab¬
stellung, sowie die dezidierte Verneinung von Punkten, die,
wie das Interesse am Verdauungsvorgang usw., selbstredend für
jedes Kind bejaht werden müßten. Diese affektive Ablehnung alles
„Anstößigen“ gibt dem Analytiker Richtlinien, in welcher Form
das sexuelle Problem zu behandeln sei.
Die Psychoanalyse des eigenen Kindes halte ich für
undurchführbar. Nicht allein deshalb, weil das Kind Vater oder
Mutter kaum je seine tiefsten Wünsche und Gedanken enthüllt,
weder sein Bewußtes, noch sein Unbewußtes völlig preisgibt,
sondern weil in diesem Falle der Analytiker allzu oft zur Konstruktion
greifen müßte und weil der Elternnarzißmus die psychoanalytische
Offenheit des eigenen Kindes schwerlich ertrüge.
Auch die Beziehung des Analytikers zu den Geschwistern
des Patienten ist nicht ohne Einfluß auf den Gang der Analyse,
Im allgemeinen suchen jüngere Geschwister eifrig einen Anschluß
an den Behandelnden, während ältere sich häufig in stummer
neidvoller Feindseligkeit und zugleich in der dumpfen Erwartung
eines Verrates ihrer Person von ihm fernhalten. Die eine wie die
andere Einstellung findet eine gehässige Kritik des Analysanden;
mißtrauisch, eifersüchtig überwacht er den Verkehr seines Beraters
Die Technik der Kinderanalyse
197
mit Bruder oder Schwester, und sieht seine Phantasie, der
Analytiker sei den Geschwistern feindlich gesinnt, nur ungern
zerstört.
Die aus den Kinderanalysen gewonnenen Erkenntnisse lassen
sich in wenige Sätze zusammenfassen. Beinahe regelmäßig sind
es Mißgriffe in der Erziehung, durch die eine schlimme Anlage,
ein schädigendes Erlebnis, statt in der verderblichen Wirkung
abgeschwächt zu werden, künstlich gefördert wird. Übergroße
Strenge da, ein Übermaß an Zärtlichkeit dort, und fast immer der
Mangel an Konsequenz in der Erziehung verschulden die Übel, unter
denen dann Eltern und Kind gleicherweise leiden. Die Eltern müßten
vor dem Kinde einer Analyse unterzogen werden, dann bedürften
wahrscheinlich weniger Kinder der Analyse.
Mitteilungen.
Klinische Beiträge.
Der Ausbruch einer manischen Erregung.
Von Dr. Michael Josef Eisler, Budapest.
Während die beschreibende Psychiatrie ihre Auffassung von den seelischen
Erkrankungen sowie deren Darstellung nach der formalen Seite auszubauen
bestrebt ist, hat die Psychoanalyse dort, wo sie ein gleiches Gebiet betritt,
ihr Augenmerk stets auch auf die Inhalte der Psychosen gerichtet, und zwar
unter der Voraussetzung, auf solche Weise über die Rolle eines ihrer Haupt¬
probleme dabei, der Libido, etwas Neues zu erfahren. Dieser Gesichtspunkt
aus dem Inhaltlichen einer Seelenstörung deren Eigenart zu erschließen, soll
der folgenden Mitteilung als Grundlage dienen.
Es handelt sich um ein 26jähriges bis zum Ausbruch der Krankheit
vollkommen gesundes Mädchen, das keine Anzeichen einer gesteigerten nervösen
Disposition zeigte und nur unter dem Druck tief kränkender Erlebnisse zusammen¬
gebrochen war. Ehe die ersten deutlichen Symptome einer manischen Erregung bei
ihr auftraten, spielte sich unmittelbar vorher eine Szene ab, die ich aus dem
Bericht einer feinfühligen, durch den Krankheitsfall mitleidsvoll betroffenen
Dame erfahren und später in Zusammenhang mit dem Hauptpunkt der Vor¬
geschichte bringen konnte. Das kranke Mädchen hatte das Elternhaus fluchtartig
verlassen und Unterkunft bei nahen Verwandten gesucht. Als Motiv gab sie
an, daß man sie zu Hause nicht verstehe und ihrem seelischen Leide kein
Verständnis entgegenbringe. Sie rief dann den alten Hausarzt ihrer Familie
telephonisch an und bat ihn flehentlich um Hilfe. Sie bestimmte eine Stunde,
zu welcher sie ihn ganz bestimmt erwarten würde; der Arzt kam aber nicht,
sondern verordnete bloß ein Beruhigungsmittel. Bis zur angegebenen Stunde
wuchs der Erregungszustand des Mädchens dauernd, während sie noch immer¬
fort auf den Arzt wartete. Als dann Minuten über den bestimmten Zeitpunkt
verstrichen waren, begann sie überraschenderweise mit einem Male sein
Nichtkommen zu entschuldigen. Sie besah ihre Armbanduhr wiederholt und
bemerkte gleichsam mit Nachdruck: „Ich war auch nicht pünktlich hier im
Salon, so darf sich der Doktor auch verspäten.“ Wir kamen nachher ebenfalls
auf diese Szene zu sprechen. Der Gesamteindruck, den sie noch am selben
Abend erweckte, bewog ihre Umgebung, über ihren Zustand einen Spezialisten
zu befragen. Es war diesmal der Analytiker, dem die Möglichkeit geboten
wurde, sich über das Krankheitsbild eine Meinung zu verschaffen.
Dr. Michael Josef Eisler: Der Ausbruch einer manischen Erregung 199
Die einsetzende manische Erregung zeigte noch Spuren einer Depression,
die einige Wochen hindurch ohne besondere Erscheinungen dem Anfall voraus¬
gegangen war, wie sie wahrscheinlich im Vorstadium jeder Manie nachzuweisen
ist. Als ich die Kranke zum erstenmal sah, trat ihre Manie im Syndrom
des Stimmungswechsels, des beschleunigtenVorstellungs-
ablaufes und der außerordentlichen Flüßigkeit der
psychischen Vorgänge tKräpelin) vollkommen klar zutage. So
stürmisch aber auch die Äußerungen der Krankheit waren, verhinderten sie
doch nicht einen unmittelbaren psychischen Kontakt mit der Patientin. Das
Material meines Berichtes ist einzig aus diesem Rapport erfloßen, und ich
konnte mich fast wie in einer regelrechten Analyse in den seelischen Prozessen
der Kranken umschauen.
Sehr bald wurde es evident, daß die Szene, die kurz vor Ausbruch der
manischen Erregung vorfiel, nicht ohne tiefere Bedeutung war. Sie bildete eben
die „Wiederholung“ eines peinlichen und beschämenden Erlebnisses von früher,
das auf solche Weise seinen Generalanteil an der Störung des seelischen
Gleichgewichtes bei der Patientin verraten hat. Die intime Bekanntschaft mit
einem jungen Manne, der zuletzt dem Zwange einen bindenden Aussprache
ausgewichen war, also eine „reale Kränkung und Enttäuschung“, waren der
Angelpunkt der Psychose. Der junge Mann hatte seine Absicht, die Bekanntschaft
abzubrechen, das Mädchen eines abends deutlich wissen lassen, als er einer
verabredeten Begegnung im Theater nicht Folge leistete und wegblieb. Das
verliebte Mädchen ahnte zwar die volle Wahrheit, trotzdem rief sie den jungen
Mann am drittnächsten Tage telephonisch an und teilte ihm die fälschliche
Nachricht mit, sie sei nicht im Theater gewesen und müsse sich nun für diese
Unhöflichkeit entschuldigen. Es war offenkundig, was auch das kranke Mädchen
mit einer Spur von Unbefangenheit zugab, daß sie ihr weibliches Liebeswerben
trotz der erlebten Demütigung fortsetzte, weil sie von dem jungen Manne
nicht lassen konnte. Aber auch dieses schmerzliche Opfer blieb vergebens.
Wir begreifen jetzt den hilfesuchenden Telephonanruf besser, wie auch ihre
geradezu rührenden Worte, womit sie das Fernbleiben des Hausarztes vor der
Umgebung und zur Überraschung der letzteren zu entschuldigen suchte.
Diese große Enttäuschung hatte die Kranke etwa ein Jahr vor dem
manischen Anfall erfahren. In der Zwischenzeit machte sie die Bekanntschaft
eines jungen Arztes; dem Anscheine nach bewarb sich dieser um die Hand
des Mädchens, das ihm zwar weniger Neigung eiitgegenbrachte als dem ersten
Manne, doch jederzeit bereit war, seine Frau zu werden. Der junge Arzt heiratete
aber zuletzt ein anderes reiches Mädchen. Ich muß über die Familienverhältnisse
der Kranken nachholen, daß sie das einzige Kind ihrer Eltern war, die bis
zum Ausbruch des Krieges ein großes Vermögen besaßen und der Tochter
eine sorgfältige Erziehung angedeihen ließen, später jedoch rasch verarmten.
Dieser materielle Ruin der Familie fiel mit dem Großwerden des Mädchens
und der Zeit zusammen, wo es eine Ehe hätte schließen können. Vom Vater
erzählte die Kranke, daß er ein roher und geizig gewordener Mensch sei, der
sie zwingen wollte, ihr Brot selbst zu erwerben. Die Mutter war viel jünger
und ertrug die Lasten einer lieblosen Ehe nur aus Rücksicht auf die einzige
Tochter, die gewissermaßen das Opfer der mütterlichen Ambition wurde.
Sie ließ nämlich die Tochter studieren und überredete sie, trotz mehrfachem
Versagen ihre Universitätsstudien als Philologin zu beenden. Auch diese Willens¬
überspannung haben wir zu den Motiven, die eine seelische Erkrankung
200
Mitteilungen
vorbereiteten, zu rechnen. Der allgemeine Eindruck, den ich gewann, sprach
durchaus für eine mäßige Intelligenz der Kranken, d. h. für eine nicht allzu¬
große Fähigkeit zur Sublimierung.
Die mit großem Affektaufwand durchgesetzte Abkehr vom Eltem-
hause läßt sich nunmehr als ein Wunschersatz auffassen: sie hat die Stelle
jener verlorenen Hoffnung eingenommen, einst in der Würde einer jungen
Frau vom Heim der Eltern wegzuziehen. Vielleicht ist auch der Verdacht
nicht unbegründet, daß irgend ein Moment im Charakter des Mädchens es zur
verschmähten und verlassenen Braut bestimmt hat. Der unmittelbaren Beob¬
achtung wurden noch folgende deutlich ausgesprochene Züge im Wesen der
Kranken zugänglich gemacht, welche die berichteten Zusammenhänge in ein
schärferes Licht rücken. In allen krankhaften Äußerungen herrschte eine
starke wohl dispositionelle — Gefühlsambivalenz vor, die durch den
Ausbruch der Manie eine weitere Steigerung erfahren hatte. Ihre Beschreibung
ist nicht gut möglich, wiewohl sie dem Eindruck nach geradezu die Haupt¬
rolle im Bilde der Krankheit übernehmen durfte. Sodann zeigten sich Spuren
von sadistischen und aggressiven Antrieben. Die letzte Nacht vor der Inter¬
nierung des Mädchens in einer geschlossenen Anstalt, deren Ereignisse alle
Angehörigen von der unmittelbaren Notwendigkeit eines solchen Schrittes
überzeugten, ließ ein sehr wichtiges Stück der kranken Psyche wirksam
werden und war noch in allen Momenten gut faßbar. (Die weitere Entwicklung
der Manie hat mit ihren alarmierenden Erscheinungen natürlich die psychischen
Inhalte vielfach verschleiert.) Als Folge des ungedämmten Aufruhrs in der
Seele des Mädchens hatte sich eine große Schlaflosigkeit eingestellt, die dann
nicht ohne Rückwirkung auf den ganzen Zustand blieb. Das Mädchen
versammelte alle in der Wohnung befindlichen Verwandten um sich und
richtete an jeden einzelnen in unbeherrschter Weise eine dringliche Bitte. Die
Cousinen mußten Klavier spielen oder einen modernen Tanz vorzeigen • ein
aus der Gefangenschaft kürzlich zurückgekehrter Cousin sollte sich an alle
widerlichen und schweren Strapazen erinnern; der Tante erzählte sie, daß
man ihr den Tod eines Angehörigen aus Schonung verheimlichte, usw.
Zwischendurch verlangte sie naßkalte Umschläge, die abwechselnd auf
verschiedene Körperstellen gelegt werden mußten. (Kühlunggegen dengesteigerten
sexuellen Drang ? Hiefür sprechen auch einzelne hypochondrische Klagen.) Das
früher gemessen auftrelende Mädchen ließ durch solches anspruchsvolle
Benehmen und die forcierte Taktlosigkeit jeden erzieherischen Effekt in sich
zunichte werden und benahm sich wie ein „schlimmes“ Kind. Zu diesen
infantilen Zügen ist weiterhin das Verhalten der Kranken in der Übertragung
zu rechnen, welche leicht in voller Stärke auftrat und durch die bestehende
Gefühlsambivalenz rasch verschärft wurde 1 .
Ehe ich den Bericht über die analytischen Ermittlungen beschließe,
möchte ich noch auf eine merkwürdige Äußerungsform der Ambivalenz
hinweisen. Als ich die Kranke in die Anstalt begleitete, bemerkte ich, daß sie
ein für kleine Ausgaben bestimmtes Taschengeld mit offenkundigem Abscheu
1 Zur Beurteilung, ob der Fall nach Abklingen der Manie durch eine psycho¬
analytische Behandlung weiter befreit werden könne, gehört die volle Einschätzung dieser
Tatsachen. Ich mochte mit Rücksicht auf sie die Leitung in die Hand einer Psycho-
analytikerin gelegt wissen, weil ich in den Übertragungsmomenten — die getäuschte Liebe
in einen jungen Arzt —starke Widerstände, auch die Möglichkeit eines neuerlichen Anfalles
m Rechnung ziehe.
Dr. Michael Josef Eisler: Der Ausbruch einer manischen Erregung 201
zurückwies und hinzusetzte, daß sie von Geld überhaupt nichts wissen wolle.
Erinnern wir uns daran, daß ihre Verheiratung an der eingetretenen Verarmung
der Eltern — und fügen wir dazu — an der Gleichgültigkeit ihrer vermögenden
Anverwandten gescheitert war. Sie haßte daher das Geld als den eigentlichen
Verderber ihres Glückes, zugleich aber auch jene, die am Gelde mehr als am
Wohle der Kranken hingen. Ihre Ambivalenz richtete sich also gleichsam gegen
die Analerotik der anderen. Im Grunde genommen ist eine solche Gefühls¬
reaktion nicht allzu selten.
Man kann es billigerweise nicht verlangen, daß ein einzelner, der
analytischen Exploration überdies nur kurz zugänglich gewordener Fall uns
über alle die Bedingungen aufkläre, die eine bestimmte Seelenstörung hervor¬
zurufen fähig sind; immerhin dürfen wir den Versuch wagen, aus dem
Beobachtungsmaterial einzelne Schlüsse zu ziehen.
Gehen wir von dem Symptom der großen Übertragungs¬
fähigkeit aus, das, wie wir sahen, als letztes Motiv für den Ausbruch der
Manie ausschlaggebend wurde. Noch ehe wir seine weiteren Beziehungen
untersuchen, setzen wir voraus, daß dieses von allgemeiner Bedeutung ist,
denn es kann uns einen durchgehenden Charakterzug jeder Manie erklären,
nämlich den Mangel einer Störung des Selbstgefühls bei dieser
Krankheit. Die potenzielle Fähigkeit zur Liebe verbindet sich in der Regel mit
dem Gefühl des persönlichen Wertes, wenn auch der letztere sich dem
gewählten Objekt gegenüber gerne seiner Freiheit begibt. (Bei der Melancholie
finden wir den kompletten Gegensatz: Verlust der Liebesfähigkeit und die
Tendenz zur Selbsterniedrigung 1 . Geschieht nun, was unser Fall demonstriert,
daß die übergroß aufgebotene Objektlibido sozusagen nach einer Überrumpelung
zurückgezogen werden muß, so entsteht eine bedeutende Gleichgewichts¬
störung, die wir noch näher bezeichnen werden. Der Rückzug erfolgt unter
dem Diktat der Realität, aber auch — und hier tritt ein inneres Motiv in
Aktion — einer Gefühlsambivalenz folgend, die auf solche Weise zur
Herrschaft gelangt.
Es wäre von großer Wichtigkeit, wenn wir über das Wesen der
Ambivalenzneigung mehr gesicherte Kenntnisse, als die ihres bloßen
Vorhandenseins besäßen. Freud nimmt sie dort, wo er ihre Rolle in seinem
weitaus am gründlichsten studierten Fall anführt, als eine Gelegenheit hin, „die
von der psychoaualytischen Kur aufgedeckt, aber nicht weiter aufgeklärt und
dementsprechend nicht unmittelbar beeinflußt werden konnte.“ (Aus der
Geschichte einer infantilen Neurose. Kl. Schriften, IV. Teil, S. 714.) Wahr¬
scheinlich hängt sie mit dem Prozeß der Triebumwandlungen zusammen, die
in sehr früher Zeit vorfallen und darf als deren Niederschlag im Psychischen
gelten. Sie wird zu einer Position des Ich und übt sodann Einfluß auf die
Rollenbesetzung der Libido aus. Nun ist gerade das Verhältnis der Ambivalenz
zur Objektlibido in weiterem Umfange klargemacht worden, und zwar bei der
Zwangsneurose. Diese ist nur möglich, wenn die Libido auf die sadistisch¬
anale Stufe regrediert, wo die Ambivalenz sich ihrer ganz bemächtigt und
1 Hier und im folgenden sind die Darlegungen Freuds aus der Arbeit „Trauer
und Melancholie“ (Kl. Sehr., IV. Teil, S. 356) vielfach zum Ausgangspunkt gewählt. In bezug
auf das Ambivalenzproblem verweise ich auf Abraham „Ansätze zur psychoanalytischen
Erforschung und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins“. Zentralblatt für Psycho¬
analyse, II. Jahrg., S. 302.
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2.
14
202
Mitteilungen
ihre Äußerungen bestimmt. Halten wir an der Tatsache fest, daß es sich hier
um die Beziehung der Ambivalenz zu einer .gebundenen Besetzungsenergie“
handelt, denn mit dem Prozeß der Regression wurde die Libido wieder
verankert.
Bei der Manie finden sich folgende Verhältnisse vor: es werden unter
dem Druck äußerer Erlebnisse große Mengen von Objektlibido frei, die überdies
einer dauernd starken Anziehung der Ambivalenz Folge leisten. Ein regressives
Entweichen ist nicht möglich, weil solches nur bei entsprechender disposi¬
tioneller Anlage (Fixierungsstellen) gelingt. Diese ungebundenen Energiemengen,
deren Spielraum ein kleiner ist, hat die Psyche zu bewältigen. Der manische
Erregungszustand bedeutet demnach den Kraftaufwand, welchen die ei krankte
Psyche zu ihrer Herstellung macht. Sie ist eine Form der Ablösung vom
Objekt. Nach Ablauf des Prozesses ist die Psyche wie bei der Trauer und
Melancholie frei geworden. Theorie und Prognose stimmen hier also überein.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Verhältnissen bei der Angsthysterie ist
unverkennbar. Wenn man Fälle aus dieser Gruppe genau studiert, wird man
jedesmal eine große Ambivalenzneigung entdecken, die in vielfacher Weise
mit den psychischen Inhalten dieser Neurose verknüpft ist. Ihren wichtigsten
Bezug hat sie aber zu den freien Mengen von narzißtischer Libido, über die
der Angsthysteriker verfügt und deren Umwandlung in Angst stets die bis
dahin unterdrückte Ambivalenz durchführt.
Der psychische Kraftaufwand, den die Ambivalenzneigung in der
manischen Erregung leistet, ist ein ungemein hoher. Während er in der
Neurose, dort, wo er zur Geltung gelangt, die Produkte des Unbewußten
bearbeitet, drängt er hier allem Anscheine nach gegen das Bewußtsein an.
Der eigentümliche Zustand des Manischen 1 , welchen man nur bei oberfläch¬
licher Betrachtung als Abart einer Halluzination auffassen kann, läßt sich
vielleicht am besten aus dieser „Ausfallsrichtung“ der Ambivalenz verstehen.
Es war merkwürdig zu sehen, wie rasch die Kranke nach erfolgter Isolierung
alle Angehörigen, wie auch die Personen, die im Verlaufe ihrer Krankheit eine
vorübergehende Rolle bei ihr gespielt hatten, totsagte und auf solche Weise
gleichsam aus ihrem Affektleben hinausdrängte. Als Korrelat dieser Einstellung
zeigte sich bei allen Angehörigen eine nicht minder starke, wenn auch
verdeckte Ambivalenz gegenüber der Kranken. Man verhält sich im Leben zu
den Geistesgestörten fast wie zu Toten.
In den Symptomenkomplex der Manie gehört wohl auch eine Über¬
empfindlichkeit der Sinnesorgane, d. h. eine gesteigerte Aufnahmsfähigkeit
für äußere Reize. Es war nicht nur meine Patientin, die dieses Verhalten
zeigte. Sie wurde zur Zeit der größten Unruhe mit einer anderen Kranken in
einem Zimmer untergebracht, da für beide nur eine Überwachungsperson zur
Verfügung stand. Sofort stellte sich ein eigenartiger Rapport zwischen den
Kranken her. Sie griffen gegenseitig einzelne Gebärden, Bewegungen und
Worte auf und fügten diese unmittelbar in ihr agitatives Benehmen ein. Dabei
bildete sich im Verlaufe ihres Beisammenseins kein tieferreichendes Verhältnis
zwischen ihnen, also keine Übertragung, aus; im Grunde genommen blieben
sie einander indifferent. Ihr gegenseitiges Interesse war auf eine vorübergehende
1 Freud vergleicht ihn in trefflicher Weise mit dem Rausch des Alkoholikers.
Ähnliche Zustände sind vielleicht auch die sogenannten Ekstasen der Mystiker.
Df. S. Feldmann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen 203
Beeinflussung durch die Sinnesorgane reduziert. Gehör und Auge waren
beschäftigt, einen realen Eindruck momentan sehr intensiv festzuhalten,
vielleicht um auf solche Weise eine kurze Ablenkung vom Innern, dem Schau¬
platz des Krankheitsprozesses, durchzusetzen.
Wenn wir nun das Gesagte zusammenfassen, dürfen wir die bedeutsame
Tatsache nicht übersehen, daß im Bilde dieser manischen Erregung immer
nur dieselben Komplexe im Vordergründe standen. Es war hier also die
Tendenz unverkennbar, die letzteren auf jede Weise energisch abzunützen.
Wahrscheinlich erklärt sich hiedurch auch der Umstand, daß — trotz darauf
gerichtetem Interesse — keine Gelegenheit gefunden wurde, aus dem früheren
Leben der Patientin etwa die infantilen Verhältnisse zu erfassen. Alle Äuße¬
rungen der Krankheit bis auf die geringsten reflektorischen Vorgänge waren
auf einen engen Raum beschränkt; man darf hierin das Streben nach Heilung
erblicken.
Ich bin mir bewußt, daß diese Auskünfte, falls sie richtig ermittelt
wurden, den tatsächlichen Verhältnissen ffur im groben gerecht werden. Mehr
und reichlicheres Material ist nötig, um den dürftigen Rahmen auszufüllen,
nur die Summe feinerer Einzelerfahrungen wird das Gesetzmäßige und alle
von ihm umschlossenen Möglichkeiten erkennen lassen.
über Erkrankungsanlässe bei Psychosen.
Von Dr. S. Feldmann (Budapest),
Zivilarzt in einem Militärspital auf der Abteilung für Nerven- und
Geisteskranke 1 .
Der Umstand, daß beim Militär die Kranken ziemlich rasch in Spitals-
behandlung gelangen, bot mir Gelegenheit, einige Fälle von Psychose sozusagen
in statu nascendi zu beobachten. Die sekundäre Bearbeitung der Seelen¬
störung, die im vorgeschrittenen Stadium das Bild verschwommen macht und
die Übersicht erschwert, fiel hier weg, so daß sich die Psychose vor meinen
Augen entwickelte.
Die Erfahrung hat die Psychoanalyse die Behauptung aufstellen lassen,
daß bei der Entstehung einer Seelenstörung zwei Faktoren maßgebend sind:
die Fixierung an eine Entwicklungsstufe und die Versagung. Es ändert nichts
an der Sache, daß bei den hier gegebenen Fällen der exogene Faktor — eine
organische Erkrankung, respektive eine schwerere körperliche Verletzung —
eine hervorragende Rolle spielte. Es wird sich zeigen, daß bei diesen Kranken
die Realität sich so weit geändert hatte, daß eine konfliktlose Anpassung
nicht möglich war, wenigstens für die Kranken nicht. Die Folge war eine
Regression zu der individuell gegebenen Fixierungsstelle, die fortschreitende
Zurückziehung der Libido von der Außenwelt, schließlich nach der gelungenen
Abwehr die durch die Fixierungsstelle determinierte Psychose und
deren Inhalt.
Es war für mich als Psychoanalytiker schon a priori klar, daß die
geänderte Realität, die Versagung, nur den Anstoß zur Regression geben kann,
die inhaltliche Bearbeitung geht von der Fixierungsstelle aus.
1 Vortrag, gehalten am 6. November 1920, im Ung. Psychoanalytischen (Freud-) Verein.
14*
204
Mitteilungen
Von den drei Fällen war der erste ein Paraphreniker, bei dem im Laufe
eines Rheumatismus ein Schwangerschaftswahn auftrat. Bei
dem zweiten Paraphreniker ein Größenwahn nach Amputation beider Füße.
Der dritte, ein P a r a 1 y t i k e r, bei dem die Art und die Lokalisation der
Krankheit: Zerfall der Hirnsubstanz, die funktionellen psychischen Erscheinungen
keineswegs erklären konnte. Ceteris paribus versteht sich, daß auch auf
andere Schädigungen der Hirnsubstanz eine Psychose nachfolgt. Der Defekt
bestimmt die konsekutive physische Ausfallerscheinung, aber keineswegs den
Wahn, die Depression etc. Bei dem ersten Kranken, einem 35jährigen Bauern,
handelte es sich um eine Paraphrenie mit Schwangerschaftsphantasien.
Er war schon während der Mobilisierung im Jahre 1912—1913 eingerückt und
machte damals den bosnischen Feldzug mit. Er rückte im Jahre 1914 wieder
ein, kämpfte an allen Kriegsschauplätzen und erlitt unbedeutende Schu߬
verletzungen am linken Bein und am rechten Arm. Im Jahre 1916 zog er sich
eine Erkältung zu, deren Folge rheumatische Schmerzen im
Hüftgelenk, in der Lendengegend, d$pn Schmerzen im Bauche etc. waren.
Im Jahre 1917 geriet er in russische Gefangenschaft und kam nach vielen
Monaten zurück und, da er sich wegen seiner Krankheit (Rheumatismus) bei
den Behörden fortwährend beklagte, daß er draußen am Felde nicht weiter
arbeiten könne, bekam er eine Lizenz als Rauchfangkehrer. Aber er konnte
auch diesen neuen Beruf wegen seiner rheumatischen Schmerzen nicht
ausüben und deshalb begab er sich wieder in ein Spital, wo aber die
Behandlung erfolglos blieb. Er wurde nach Budapest auf die Abteilung für
Nervenkranke, wohin man die Rheumatiker einzuteilen pflegt, transferiert, um
von hier aus einen Platz in einem Budapester Heilbad zu bekommen. Kaum
war er aber einige Tage auf der Nervenabteilung, als sein Benehmen dem
behandelnden Arzte auffiel und mich auf den Kranken aufmerksam machte,
der dann auf diese Weise auf die Abteilung für Geisteskranke gebracht wurde
und da durch mehrere Monate unter meiner Beobachtung stand.
Der Mann benahm sich gegen jeden mißtrauisch, er antwortete aber
doch auf die anamnestischen Fragen bereitwillig und noch zusammenhängend.
Er sagte, daß er im Kriege sehr viel gelitten habe, deshalb schmerze ihn
alles, der Kopf sei ihm schwer, seine Lunge zerfetzt, durchgeschossen, die
Beine, die Hüfte, sein Bauch schmerzten ihn sehr. Er sprach ununterbrochen
ausschweifend, mit schmerzhafter, wehleidiger Miene, mit der Redensart eines
Geistlichen. Später ging er schon zu den übrigen Kranken und erzählte jedem
„seine Leiden, seine Schmerzen“. Er mußte viel mitmachen, Tage und Nächte
durchmarschieren, er, der früher zu Hause friedlich gearbeitet hatte. Er war
manchmal gezwungen, stundenlang im Wasser zu liegen und so zog er sich
eine Erkältung zu. Deshalb habe er jetzt die Schmerzen.
Er kämpfte an allen Fronten und wurde Augenzeuge von wunderbaren
Ereignissen. Er begegnete auch einmal während eines Gefechtes seinem
eigenen Vater. Das machte großen Eindruck auf ihn. Und das war noch
nicht alles. Er flog einigemal mit Aeroplan in die Höhe, er, der einfache
Bauer. Er sprach in salbungsvollem Tone, bildete verschrobene Worte, sprach
immer in passiver Form und in endlosen Sätzen.
Nach einigen Tagen konnte man ihn vom Bette nicht hinaus bekommen,
er lag dort bis zum Hals zugedeckt, klapperte mit den Zähnen, als hätte er
Dr. S. Feldmann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen
205
Schüttelfrost und beklagte sich weiter. Er fing aber bald mit seinem Wahn
an, zuerst nur verschwommen, dann immer kühner und deutlicher. Voller
Leiden kam er vom Felde zurück. Es ist aber ein Wunder geschehen.
Dieses Wunder geschah schon in seinem Heimatsorte in Somogyberezna. Eine
Eibaut wuchs auf seinem Rücken und er gebar Zwillinge. Er gebar aber
auch seine Mutter. Er hatte im Kriege Wunden erlitten. Er ist durch den
Manngott koitiert und so schwanger geworden. Er weiß nicht wieso, aber
jemand von hinten. Auch seine Mutter hatte Zwillinge. Er, die Mutter und
der Manngott bilden eine Einheit. Das Wunder ist geschehen, die Eihaut ist
geplatzt und die Zwillinge kamen heraus. Er habe auch jetzt Wehen, im
Kriege ist das alles geschehen, von dort kam er zurück mit zerfetzter Lunge,
mit rheumatischen Schmerzen, mit Wehen.
Er wollte immer geläufig sprechen, blieb nie in der Rede stecken, sein
Wortschatz reichte aber nicht au3 und er war zu Wortneubildungen gezwungen.
Er blieb so tagelang im Bette, seufzte den ganzen Tag und benahm sich wie
eine Gebärende, den Kopf nach hinten gebeugt, mit verzerrtem Gesicht. Er
stand nach einigen Tagen auf, ging nackt herum und streichelte seinen Bauch.
Die Wehen hörten nicht auf und er beklagte sich weiter. Es war dabei
komisch zu hören, wie er manchmal deutsche und sogar lateinische Worte benützte,
welche Kenntnisse er wahrscheinlich im Felde erworben hatte. Charakteristisch
war aber die stereotype Wiederholung seines Wahnes, zeitweise mit
verschiedenen Ergänzung3n, zuletzt Besch mpfungen gegen den Arzt, der aus
dem Spital ein Bordell mache, man wolle ihn nächtlich koitieren, mit Kot
einschmieren. Er wurde durch den Manngott koitiert, er ist Stabsarzt, Gott,
er kann auch fliegen.
Er verfiel bald in katatonische Starre. Er blieb im Bette bewegungslos
mit verzerrtem Gesicht, brach jedwede Verbindung mit der Außenwelt ab,
verweigerte die Nahrungsaufnahme. Seine ganze Lage im katato¬
nischen Zustande war vollkommen gleich mitderjenigen,
welche er einnahm, als er sich wegen der Wehen beklagte.
Die Katatonie war also ein kristallisierter Ausdruck
seines Wahnes, eine Art Körperdialekt 1 .
Am Anfang, als die organische Erkrankung die Aufmerksamkeit des Ich
auf sich zog, war ein gewisser Kontakt mit der Außenwelt noch vorhanden.
Aber ein beträchtlicher Teil der Objektlibido wurde schon für den erkrankten
Körperteil in Anspruch genommen. Die narzißtische Besetzung war aber noch
nicht vollständig. Später, im Laufe der Krankheit, konnte der Patient die
Libidobedürfnisse des erkrankten Körperteiles nicht mehr bewältigen, der
Kontakt mit der Außenwelt mußte abgebrochen werden. Der beschädigte
Körperteil wurde mit dem Ich identifiziert, das ganze Quantum der Objekt¬
libido auf den kranken Körperteil-Ich zurückgezogen, und durch eine Art
narzißtiischen Rausch (nach der Benennung Fe der ns) festgehalten. Im
Laufe dieser Umwälzung sind verschiedene unbewußte Elemente zum
1 Nunberg: Über den katatonischen Anfall. Internationale Ztschrift 1920. Heft I. „Die
Funktion der Organe oder Körperteile verschafft autoerotisch-narzißtisclie Befriedigung. Die
Befriedigung der Partialtriebe gelingt auch anscheinend vollkommen, und mit Recht kann
deshalb der katatonische Anfall nach dem treffenden Worte von Federn als
narzißtischer Rausch bezeichnet werden. Der Anfall stellt eine vollkommene
Wunscherfüllung dar und ist eine Bejahung aller Perversione n.“
206
Mitteilungen
Vorschein gekommen: die homosexuelle Fixierung zum Vater-Gott, Identi¬
fizierung mit der Mutter 1 .
Ich möchte zu diesen Erörterungen weiteres Beweismaterial bringen,
indem ich den zweiten Fall dieser Gruppe vorführe.
Ein Zigeuner, derim Kriegeseine beidenFüßeinfolge
schwerer Verletzungen verloren hatte. Er bummelte viele Monate lang
in den Spitälern herum, bis er endlich in Nachbehandlung kam. Aus unbekannten
Gründen wurde seine Prothese nicht fertig, er wollte auch die Invalidenschule
nicht besuchen, da er zu keinem Beruf, den man ihn lernen lassen wollte, Lust
hatte. Er lag also monatelang beschäftigungslos, mit Langweile, ans Bett gefesselt.
Ich konnte nur diese spärlichen Daten erhalten, als er auf die Abteilung
für Geisteskranke transferiert wurde, mit der kurzen Bemerkung, daß der
Kranke keinem gehorchen will, er schreit fortwährend, hält sich nicht rein.
Bei der Übernahme konnte ich von dem Kranken nur sehr wenig erfahren.
Auf jede Frage kam die stereotype Antwort: er wolle ins andere Spital
zurück. Als dies nicht geschah, beschimpfte er die Ärzte und forderte von
ihnen seine Füße. Die Ärzte verstünden nichts, sie hätten ihm die Füße
abgeschnitten. Er werde Arzt sein, er werde die Füße nicht abschneiden.
Dieser Zustand hielt durch mehrere Wochen an. Dann fiel mir auf, daß der
Kranke, der einen Leibsiuhl vor seinem Beite hatte, stundenlang auf diesem
saß und er mußte von dort durch den Wärter zurückgebracht werden. Er
kroch aber öfters mit wunderbarer Geschicklichkeit zurück, vom Bett direkt
zum Stuhl und blieb dort stundenlang. Sein Körper bildete quasi eine Brücke,
indem er die Nates am Leibstuhl, die Stumpfenden am Bette hielt. Nach
kurzer Zeit fiel er in eine eigene Art katatonischer Starre. Er saß in der
angegebenen Richtung wie ein Fakir, mit majestätischem
Ausdruck, in der linken Hand ein Stück Brot. Er blieb so durch zwei Tage,
verweigerte die Nahrungsaufnahme stumm. Endlich am dritten Tag gelang es
mir, seinen „Rausch“ zu unterbrechen. Ich nahm ihm das Brot weg und
versprach ihm, es zurückzugeben, wenn er antworten werde. Er geriet in
heftigen Zorn und sagte: „Lasse mich in Ruhe, ich bin jetzt Köni g.“
Die katatonische Stellung war damit erklärt.
1 Dieser, aber auch andere Fälle haben mir die Erfahrung geliefert, daß auch der
Psychotiker eine starke Übertragungsfähigkeit besitzt. Zwar finden wir bei den Psychosen
solche Zeitpunkte, avo ihr Zustand und Verhalten eine totale Zurückziehung ihrer
Aufmerksamkeit von der Außenwelt zeigt, aber man kann fast in jedem Falle, auch wenn
die Krankheit noch virulent ist und von Heilung oder Stillstand noch keine Rede sein
kann, eine manchmal ziemlich starke Übertragung erreichen. Nur ist diese Übertragung
in mancher Hinsicht eine andere als bei den Neurosen. Der Widerstand läßt in dieser Zeit
nach und die Kranken geben weitgehende Erklärungen, aber nur so weit, als man sie zur
Einsicht ihrer Krankheit nicht zwingen will. Sie verraten die Bestandteile ihres Arsenals
in der Hoffnung, daß man diese Kenntnisse nicht für ihre Heilung verwenden werde. Macht
man es anders, so verstärken sich die Widerstände und die Kranken verschanzen sich
vollständig. Ich habe also die Kranken, wenn ich von ihnen Auskünfte über ihre Krankheit
bekommen wollte, noch in ihrem Wahn bestärkt und so die Widerstände zeitweise
entkräftet. So habe ich z. B. in jedem untersuchten Falle die Wahnvorstellung als real
angenommen, ich bin auf den Wahn des Kranken eingegangen, habe sozusagen die Realität
dem Wahne angepaßt, ich habe den Psychotiker gespielt, mit den Kranken gelebt und damit
nicht nur erreicht, daß ich die Kranken in jeder Hinsicht beobachten konnte, mich in die
Krankheit oinfühlte, sondern es trat auch eine Übertragung ein, die sich in einem großen
Vertrauen vonseiten des Kranken äußerte. — Tausk sagt, daß der Psychotiker tobt, weil
er die Welt für verrückt hält. Die Kranken werden unruhig, zornig, tobsüchtig, sobald sie
durch die eigene Zensur oder durch das Verhalten der Umgebung zur Krankheitseinsicht
gedrängt werden.
Dr. S. Feldmann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen
207
Auf Grund unserer psychoanalytischen Kenntnisse können wir uns die
Entwicklung dieser Psychose auf folgende Weise zurechtlegen: die Zigeuner
sind bekanntlich sehr beweeungslustig, die Rasse ist durch einen besonderen
Bewegungs- und Wandertrieb ausgezeichnet, dessen Quelle ein beträchtliches
Maß °von Muskelerotik sein mag. Nun wurde unser Zigeuner infolge der
Amputation ans Bett gefesselt Die Verletzung rüttelte zu sehr an seinem
Narzißmus und Lusistreben. Zuerst kam die Verzweiflung, er machte manche
Versuche, sich der Realität anzupassen Die Schädigung war aber zu schwer,
er * mußte der Realität ausweichen, für die beraubten Lust quellen eine
Entschädigung bekommen. Die Verletzung zwang ihn, bei der Ausführung
seiner exkrementalen Bedürfnisse etwas länger zu verweilen, als er es
vielleicht sonst getan hatte, die infantile Analerotik wurde wieder belebt, er
saß wie die Kinder am „Throne“, und von da war nur ein kleiner Sprung
zum Größenwahn, daß er König sei und am Throne sitze. Im katato¬
nischen Zustand kristallisierte sich dieser Wahn aus.
Der dritte Fall, den ich im Rahmen dieser Erörterungen besprechen
möchte, w r ar ein Paralytiker.
Wir Psychoanalytiker sind vielleicht die ersten, die auch bei den
Erscheinungen der Paralyse, w^o also ein ausgesprochener Zerfallprozeß in
der Hirnsubstanz hervorgeht, Psychologen bleiben und begnügen uns nicht, das
ganze Bild der Paralyse mit dem anatomischen Prozeß zu erklären. Dasselbe
gilt für die Kranken, die eine Schädelverletzung erlitten haben und
nachträglich an einer Psychose erkranken. Die organischen Ausfallerscheinungen
werden von der Art und Größe der Verletzung bestimmt, der Inhalt der
Psychose aber nicht.
Das beschädigte Ich löst sich von der Verletzung ab und es entsteht
eine Regression bis zu einer Stelle, welche individuell ver chieden ist, wir
könnten sagen, bis zu der Stelle, wo bei dem Kranken schon vor der
Schädigung eine Fixierung stattgefunden hat.
Diesen letzten Satz möchte ich mit folgendem Beispiel unterstützen.
Ein 33jähriger Gendarmeriewachtmeister, ein Paralytiker, wurde
auf die Abteilung in ganz verwirrtem Zustande eingebracht. Der Mann lag
fast bewußtlos im Bette, reagierte auf die Umgebung absolut nicht. Er hatte
schreckhafte Visionen, sah am Plafond immer jemanden, der ihn bedrohte.
Er verdeckte deshalb sein Gesicht mit einem Taschentuch. Ich beschäftigte
mich sehr viel mit dem Kranken und er beruhigte sich bald, die Visionen
verschwanden. Es entstand langsam eine deutliche homosexuelle Übertragung
auf den Arzt: der Arzt sei ein schöner Mann, der Arzt solle ihn küssen. Er
schenkte mir Papierstücke, Fetzen, die er als Geld betrachtete. Dann
entwickelte sich ein Benehmen, welches dem eines Kindes ganz ähnlich war.
Er machte sich aus Papier eine „Krone“, aus Holz ein Zepter, legte
„Geldstücke“ vor sich, schmückte sich mit allerhand Fetzen, legte die Urin¬
flasche vor sich, setzte sich in einen Sessel und sagte, er sei jetzt ein König
und sitze am Throne. Er ließ seinen Kot unter sich und beschmutzte sich und
die Wand damit. Er nahm einen kleinen Polster auf seinen linken Arm,
nannte den Polster: „der kleine Gustav“ (er hieß so), den er selbst zur Welt
gebracht habe, küßte ihn und gab ihm zu essen.
Er entschädigte sich also für die wahrgenomraene Schädigung seines
Körpers mit der Zuitickziehung der Libido auf das Ich, liebkoste sich und indem
er sich wiedergebar, glich er wenigstens psychisch die erlittene Schädigung aus.
208
Mitteilungen
Zwei Fehlhandiungen einer Kebephrenen.
Mitteilung von Dr. K. Abraham.
Ein junges Mädchen leidet an einer schleichend verlaufenden Hebe-
phrenie. Sie ist mißtrauisch und ablehnend, zeigt mancherlei Ansätze zur
Wahnbildung, hat aber bisher keine festen Wahnideen produziert. Ihr besonderes
Mißtrauen richtet sich darauf, daß andere sie betrügen oder bestehlen könnten.
Eines Tages berichtet die Patientin mir in großer Aufregung, ihr seien
50 Mark aus einem Koffer in ihiem Zimmer abhanden gekommen; sie will
von keiner anderen Erklärung wissen, als daß Hausgenossen in ihrer Pension
sie beraubt hätten. Bei sorgfältiger Durchsicht unter Assistenz einer anderen
Person findet die Patientin das Geld wieder; sie selbst hatte die Fünfzm-
marknote in einer Weise untergebracht, daß sie leicht übersehen werden
konnte. Sie hatte sie nämlich in ein gefaltetes Blatt ihres Briefpapiers und
dieses Papier zu den unbenutzten Bogen gelegt.
Kurze Zeit darauf erneute Aufregung. Die Patientin vermißt 150 Mark;
sie will alles sorgfältig durchsucht haben, aber ohne Erfolg. Am nächsten Ta^e
ergibt sich, daß sie das Geld, welches sie vermißte, tatsächlich gar nicht mehr
besaß, weil sie es verausgabt hatte.
Bemerkenswert ist nun der Anlaß, der zu den beiden Fehlhandlungen
ge ührt hat. Die Patientin gesteht, ein sogenanntes Traumbuch zu besitzen,
aus welchem sie sich über die Vorbedeutung ihrer Träume Rat holt Eines
Morgens erwachte sie aus einem Traum, in welchem sie eine Uhr an einer
goldenen Halskette trug. Das Traumbuch gab als Bedeutung dieses Traumes
an: „Du wirst bestohlen 1“ Wir verstehen, wie stark diese Prophezeiung den
unbewußten Wünschen der Patientin entgegenkam. Am nächsten Tage
ges ch ah es, daß sie die Fünfzigmarknote vermißte. Sie hatte
also durch die geschilderte Art der Aufbewahrung den Anschein, daß das
Geld gestohlen sei, unbewußt arrangiert.
Als sie damals vom Verlust des Geldes sprach, hatte sie mir eingehend
erklärt, daß sie das Geld unmöglich verausgabt haben könne, und hatte mit
peinlicher Genauigkeit alle Ausgaben der vorausg“gangenen Zeit aufgezählt.
Nachdem sie sich auf diesem Wege der besonderen Treue ihres Gedächtnisses
versichert hatte, konnte die zweite, ebenfalls vom Unbewußten der Patientin
arrangierte Fehlhandlung besonders gut den Anschein eines Diebstahls
erwecken. Sie stützte sich auf ein tendenziöses Versagen eben jener Funktion
eien Verläßlichkeit die Patientin so besonders gerühmt hatte Der Verdacht
eines Vergessens mußte ihr daher fern liegen.
Die mitgeteilten Fehlhandlungen sind von Interesse, weil sie zeigen
wie ein paranoisch eingestelltes Individuum sich die unbewußten Wünsche
des Beeinträchtigtseins selbst zu erfüllen versteht.
Nach Niederschrift obiger Notiz hat die Patientin eine weitere Fehl-
handlung verübt, welche der gleichen Tendenz dient. Sie verlor nämlich den
Schlüsse 1 zu ihrem Zimmer, so daß sie es nicht mehr verschließen konnte.
Nachdem also die beiden ersten Fehlhandlungen, die einen Diebstahl
vortauschen sollten, allzu schnell aufgeklärt waren, änderte ihr Unbewußtes
die Technik des Vorgehens. Anstatt den Anschein eines Diebstahls zu erwecken
arrangierte die Patientin jetzt die Möglichkeit des Bestohlen Werdens. Ihre
Hartnäckigkeit im Begehen dieser Fehlhandlungen ist die gleiche, mit der sie und
andere Kranke ihresgleichen an der Idee des Beeinträchtigtwerdens festhalten
Dr. U. Vollrath: „Anadyrskaja bolj'
209
!
„Anadyrskaja bolj.“
Mitgeteilt von Dr. U. Vollrath (Teupitz).
Kenn an erwähnt in seiner Reiseschilderung „Zeltleben in Sibirien“
(Meyers Volksbücher, S. 319 ff.) einen eigenartigen Krankheitszustand, dem er
unter Übernahme der Bezeichnung der Eingeborenen Nordostsibiriens den
Namen „Anadyrskaja bolj“ (Anadyrsche Krankheit, nach der zur Zeit Kennans
1865/66 etwa 200 Einwohner zählenden, unter dem Polarkreis gelegenen Dorf¬
gruppe Anadyrsk) beilegt. Er erfuhr davon zuerst, als er sab, wie ein Kosak
seiner Begleitung einem anderen ihn besuchenden Kosaken nach langem Suchen
unter seinen Ilabseligkeiten auf dessen Bitten ein altes, zerissenes, schmutziges
Halstuch aushändigte und nach dem Grande dafür fragte. Der Kosak erwiderte
ihm, die Tochter des Besuchers habe die Anadyrskaja bolj und verlange in
diesem Zustande gerade ein Halstuch und da sein altes das einzige in der
ganzen Ansiedlung Gishega sei, so müsse er es geben, wenn es auch abgerissen,
schmutzig und nicht zu gebrauchen sei. Kennan gibt dann folgende Schilderung.
„Die Anadyrskaja bolj, so genannt, weil sie in Anadyrsk zuerst aufgetreten
war, stellte eine besondere Art Krankheit vor, die sehr viel Ähnlichkeit mit
der modernen spiritistischen „Verzückung“ hatte, in Nordostsibirien schon seit
langem herrschte und allen gewöhnlichen Heilmitteln und Arten der Behandlung
Trotz bot. Die davon befallenen Personen, in der Regel Frauen, verloren das
Bewußtsein, erlangten plötzlich die Fähigkeit, in Sprachen zu reden, die sie
nie gehört hatten, besonders in der Gakoutsprache, und waren zeitweilig mit
einer Art „zweiten Gesichts“ begabt, das sie befähigte, Dinge genau zu
beschreiben, die sie nicht sehen konnten oder niemals gesehen hatten. In
diesem Zustande pflegten sie häufig nach einem bestimmten Gegenstände zu
verlangen, dessen Aussehen und Aufenthaltsort sie genau beschrieben, und
wurde er ihnen nicht gebracht, so gerieten sie in Krämpfe, sangen in der
Gakoutsprache, stießen sonderbare Schreie aus und gebärdeten sich überhaupt
wie Wahnsinnige. Nichts vermochte sie zu beruhigen, es sei denn, daß der
verlangte Gegenstand herbeigeschafft wurde. So hatte denn auch Kolmagoroffs
Tochter gebieterisch nach einem wollenen Halstuche verlangt und da der
arme Kosak nichts dergleichen in seinem Hause besaß, hatte er sich auf den
Weg gemacht, um irgendwo im Dorfe eines aufzutreiben. Das war alles, was
mir Wuschin über die Sache mitzuteilen vermochte. Der Befehlshaber der
Kosaken, ein einfacher, ehrlicher alter Mann, dem in keinem Falle eine
absichtliche Täuschung zuzutrauen war, bestätigte alles, was mir Wuschin
gesagt hatte, und machte uns noch viele ergänzende Mitteilungen. Er sagte,
er habe seine Tochter in ihren Verzückungen oft die Gakoutsprache sprechen
und sie Ereignisse erzählen hören, die sich zur selben Zeit mehrere hundert
Meilen entfernt zugetragen hätten. Der Major fragte, wieso er wisse, daß seine
Tochter gerade die Gakoutsprache gesprochen habe. Er erwiderte, er sei nicht
ganz sicher, ob es gerade diese gewesen sei, jedenfalls sei es aber weder
Russisch, noch Korjakisch, noch irgend eine der ihm bekannten Sprachen der
Eingeborenen gewesen und habe ihm sehr nach Gakoutisch geklungen. Ich
fragte nun, was geschehe, wenn die kranke Person nach Dingen verlange, die
unmöglich zu beschaffen seien. Padjerin erwiderte, er habe nie von einem
solchen Falle gehört; wenn der verlangte Gegenstand ein ungewöhnlicher
gewesen sei, so habe das Mädchen stets angegeben, wo er zu finden sei,
210
Mitteilungen
wobei sie oft mit der größten Genauigkeit Dinge beschrieben habe, die sie,
soviel er wußte, niemals gesehen haben könne. Einmal, sagte er, habe seine
Tochter nach einem gewissen scheckigen Hunde verlangt, den er vor seinen
Schlitten zu spannen pflegte. Man habe den Hund ins Zimmer gebracht und
auf diese Weise das Mädchen sofort beruhigt; dagegen sei von diesem Tage
an der Hund so wild und unruhig geworden, daß er fast unlenkbar gewesen
sei und er ihn schließlich habe töten müssen.
„Glauben Sie denn wirklich,“ fragte der Major, „daß diese Weiber in
der Gakoutsprache reden, die sie nie gehört, und Dinge beschreiben, die sie
nie gesehen haben?“ Padjerin zuckte ausdrucksvoll die Achseln und sagte
er glaube, was er sehe. Und dann fuhr er in seinem Berichte fort und erzählte
uns noch unglaublichere Dinge über die Symptome dieser Krankheit und über
die geheimnisvollen Kräfte, die sie in den davon befallenen Personen entwickle,
und berief sich bei seinen Behauptungen stets auf die Erfahrungen, die er
mit seiner Tochter gemacht habe. Er glaubte offenbar fest an das wirkliche
Vorhandensein der Krankheit, wollte aber absolut nicht angeben, welcher
wirkenden Kraft er die Erscheinung des Hellsehens und die Fähigkeit, fremde
Sprachen zu sprechen, zuschreibe, die die bemerkenswertesten Symptome des
Übels bilden.
Im Verlaufe des Tages kamen wir zufällig zu dem Isprawnik oder
russischen Gouverneur, wo wir im Laufe des Gespräches die Anadyrskaja bolj
erwähnten und einige von den Geschichten erzählten, die wir von Padjerin
gehört hatten. Der Isprawnik, ein Skeptiker in jeder Beziehung und ganz
besonders in dieser, sagte, er habe oft von der Krankheit reden gehört, seine
Frau glaube auch fest daran, seiner Meinung nach sei aber die ganze Sache
Schwindel und verdiene keine andere Behandlung als die durch körperliche
Züchtigung. Die russische Landbevölkerung, sagte er, sei sehr abergläubisch
und lasse sich fast alles weismachen, und die Anadyrskaja bolj sei zum Teile
Wahn, zum Teile Betrug, dessen sich die Frauen bedienten, um auf Kosten
ihrer männlichen Verwandten ihre selbssüchtigen Zwecke zu fördern. Eine
Frau, die eiuen neuen Hut wolle und ihn auf dem gewöhnlichen Wege der
Quälereien nicht erlangen könne, finde es sehr bequem, als letztes Auskunfts¬
mittel eine „Verzückung“ zu benutzen, in der sie dann den Hut als physio¬
logische Notwendigkeit fordere. Bleibe der Ehemann noch immer verstockt,
so genügten in der Regel einige gut fingierte Krämpfe und ein oder zwei Lieder
in der sogenannten Gakoutsprache, um ihn kirre zu machen. Er erzählte dann
einen Fall, wo ein russischer Händler, dessen Frau von der Anadyrskaja bolj
befallen wurde, wirklich eine Winterreise von Gishega nach dem 300 Werst
entfernten Gamsk gemacht habe, um ihr ein Seidenkleid zu verschaffen, das
sie verlangt hatte und das nirgends anderswo zu bekommen war. Natürlich
verlangten die Frauen nicht immer Dinge, von denen man voraussetzen
könnte, sie hätten sie auch im Zustande der Gesundheit begehrt. Geschähe
dies, so würde der Verdacht der betrogenen Gatten, Väter und Brüder bald
rege werden und zu unbequemen Fragen, wenn nicht gar zu noch unangenehmeren
Nachforschungen über das Wesen der geheimnisvollen Krankheit Anlaß geben
Um dies zu vermeiden und die Männer über die eigentliche Natur der
Täuschung im unklaren zu lassen, verlangen die Frauen oft nach Hunden,
Schlitten, Äxten und ähnlichen Dingen, von denen sie in keinem Falle Gebrauch
machen können und überzeugen auf diese Weise ihre leichtgläubigen Verwandten,
daß ihre Wünsche sich bloß aus krankhaften Launen herleiten und sich auf
Dr. S. Ferenczi: Die Symbolik der Brücke
211
keine bestimmte Absicht gründen. Dies war die rationalistische Erklärung, die
der Isprawnik von dem seltenen Wahne gab, der unter dem Namen Anadyrskaja bolj
bekannt ist; und obwohl diese Erklärung mehr Schlauheit auf Seiten der
Frauen und mehr Leichtgläubigkeit auf Seiten der Männer voraussetzte, als
ich bisher bei beiden Geschlechtern vorhanden geglaubt hatte, so konnte ich
doch nicht umhin, sie sehr plausibel zu finden, denn sie reichte für die
meisten der in Betracht kommenden Erscheinungen aus.
Angesichts dieser bemerkenswerten Leistung weiblicher Strategie müssen
unsere klügsten Frauen in Amerika doch zugeben, daß ihre sibirischen Schwestern
es in der Kunst, ihre Launen zu befriedigen und ihren Herren und Gebietern
Sand in die Augen zu streuen, viel weiter gebracht haben als sämtliche Vereine
zur Wahrung der Frauenrechte in der ganzen Welt. Eine Scheinkrankheit mit
solchen Symptomen zu erfinden, sie in einer ganzen Gegend epidemisch werden
zu lassen und sie als Hebel zu gebrauchen, um die Geldtasche der Männer
zu öffen und die Wünsche der Frauen zu befriedigen, das ist denn doch der größte
Triumph, denn jemals Weiberschlauheit über Männertorheit davongetragen hat.“
Auch wenn man die allzu einseitige rationalistische Erklärung Kennans
und seines Gewährmannes abzieht, bleibt für den Psychoanalytiker noch genug
des Interessanten an dieser Beobachtung Übrig.
Die Symbolik der Brücke.
Von Dr. S. Ferenczi (Budapest).
Bei der Feststellung der symbolischen Beziehung eines Objektes oder einer
Tätigkeit zu einer unbewußten Phantasie ist man zunächst auf Mutmaßungen
angewiesen, die sich durch spätere Erfahrung vielfache Modifikationen,
oft gänzliche Umgestaltung gefallen lassen müssen. Bestätigungen, die einem
oft von den verschiedensten Gebieten der Erkenntnis Zuströmen, haben hier
den Wert von bedeutsamen Indizien, so daß alle Zweige der Individual- und
der Massenpsychologie an der Feststellung einer speziellen symbolischen Relation
beteiligt sein können; Traumdeutung und Neurosenanalyse bleiben aber nach
wie vor die verläßlichsten Grundlagen jeder Symbolik, weil wir an ihnen
auch die Motivierung, überhaupt die ganze Genese solcher psychischen Gebilde
»in anima vili“ beobachten können. Das Gefühl der Sicherheit einer
symbolischen Beziehung kann man meiner Ansicht nach überhaupt nur in der
Psychoanalyse gewinnen. Symbolische Deutungen auf anderen Wissensgebieten
(Mythologie, Märchenkunde, Folklore etc.) haben immer den Charakter des
Oberflächlichen, des Flächen haften; es verbleibt einem dabei immer das
unsichere Gefühl, daß die Deutung ebensowohl auch anders hätte lauten
können, wie denn auch diese Wissenszweige dazu neigen, denselben Inhalten
immer wieder neue Bedeutungen unterzulegen. Das Fehlen der Tiefendimension
mag es auch sein, was die wesenlose Allegorie von dem Symbol, das von Fleisch
und Blut ist, unterscheidet.
Brücken spielen in Träumen oft eine auffallende Rolle. Bei der
Deutung der Träume von Neurotikern wird man häufig vor die Frage der
typischen Bedeutung der Brücke gestellt, besonders, wenn dem Patienten zur
Traumbrücke nichts Historisches einfallen will. Der Zufall des Kranken¬
materials mag es mit sich gebracht haben, daß ich in einer ganzen Anzahl
von Fällen folgende sexualsymbolische Deutung an Stelle der Brücke einsetzen
konnte: Die Brücke ist das männliche Glied, und zwar das mächtige
212
Mitteilungen
Glied des Vaters, das zwei Landschaften (das riesenhaft, weil vom infantilen
Wesen gedachte Elternpaar) miteinander verbindet. Diese Brücke ist über ein
großes und gefährliches Wasser gelegt, aus dem alles Leben stammt, in das
man sich zeitlebens zurücksehnt und als Erwachsener, wenn auch nur durch
einen Körperteil vertreten, periodisch auch wirklich zurückkehrt. Daß man
sich auch im Traume nicht direkt, sondern auf einer stützenden Planke diesem
Gewässer nähert, ist bei dem besonderen Charakter der Träumenden verständ¬
lich ; sie litten ausnahmslos an sexueller Impotenz und schützten sich
durch die Schwäche ihrer genitalen Exekutivorgane vor der gefährlichen
Nähe des Weibes. Diese symbolische Deut mg der Brückenträume bewährte
sich nun, wie gesagt, in mehreren Fällen; auch fand ich in einem volkstümlichen
Märchen und der obszönen Zeichnung eines französischen Künstlers die
Bestätigung meiner Annahme; in beiden handelte es sich um das riesenhafte
männliche Glied, das, über einen breiten Fluß gelegt, im Märchen sogar stark
genug war, ein schweres Pferdegespann zu tragen.
Die letzte Bestätigung, zugleich die eigentliche, bisher vermißte Vertiefung
meines Verständnisses für dieses Symbol brachte mir aber ein Patient, der an
Brückenangst und Ejaculatio retaidata litt. Nebst mancherlei
Erfahrungen, die die Kastrations- und Todesangst dieses Kranken zu wecken
und zu steigern geeignet waren (er war ein Schneiderssohn), ergab die Analyse
folgendes erschütternde Erlebnis aus seinem neunten Lebensjahr: die Mutter
(eine Hebamme!), die ihn abgöttisch liebte, wollte die Nähe ihres Kindes
auch in der schmerzvollen Nacht nicht vermissen, in der sie einem Mädchen
das Leben gab, so daß der kleine Knabe von seinem Bette aus den ganzen
Prozeß der Geburt, wenn auch nicht mitansehen, so doch mitanhören mußte
und aus den Äußerungen der Pflegepersonen auch Einzelheiten über das
Kommen und das zeitweilige Wieder verschwinden des kindlichen Körpers
entnehmen konnte. Der Angst, die sich dem Zeugen einer Geburtsszene
unweigerlich mitteilt, kann sich der Knabe nicht entzogen haben; er fühlte
sich in die Lage des Kindes ein, daß eben die erste und größte Angst, das
Vorbild jeder späteren, durchmachte, stundenlang zwischen Mutterleib und
Außenwelt hin und her schwankte. Dieses Hin und Her, diese Verbindungs¬
stelle zwischen Leben und Nochnicht- (oder Nichtmehr-) Leben gab nun der
Angsthysterie des Kranken die spezielle Form der Brückenangst, Das gegen¬
überliegende Ufer der Donau bedeutete für ihn das Jenseits, das, wie gewöhn¬
lich, nach dem Bilde des Lebens vor der Geburt gestaltet war 1 . Nie in seinem
Leben ist er noch zu Fuß über die Brücke gegangen, nur in Fahrzeugen, die
sehr rasch fahren und in Begleitung einer starken, ihm imponierenden Persön¬
lichkeit. Als ich ihn — nach genügender Erstarkung der Übertragung — zum
erstenmal dazu brachte, mit mir nach langer Zeit wieder einmal die Fahrt zu
machen, klammerte er sich krampfhaft an mich an, alle seine Muskeln waren straff
gespannt, der Atem angehalten. Auf der Rückfahrt ging es ebenso, doch nur
bis zur Mitte der Brücke; als das diesseitige Ufer, das für ihn das Leben
bedeutete, sichtbar wurde, löste sich der Krampf, er wurde lustig, laut und
redselig, die Angst war verschwunden.
Wir können nun auch die Ängstlichkeit des Patienten bei der Annäherung
ans weibliche Genitale und die Unfähigkeit zur vollkommenen Hingabe an
das Weib verstehen, das für ihn, wenn auch unbewußt, immer noch ein
1 Vergleiche dazu Ranks völkerpsychologisch gestützte Ausführungen in der
Lohengrinsage, 1911.
Dr. S. Ferenczi: Die Symbolik der Brücke
213
gefahrdrohendes tiefes Wasser bedeutet, in dem er ertrinken muß, wenn ihn
nicht ein Stärkerer „über Wasser hält“.
Ich denke, die zwei Deutungen: Brücke = Bindeglied zwischen den
Eltern, und: Brücke = Verbindung zwischen Leben und Nichtleben (Tod),
ergänzen sich auf die wirksamste Art; ist doch das väterliche Glied tatsächlich
die Brücke, die den Nochnichtgeborenen zum Leben befördert hat. Doch
erst diese letztere Über-Deutung gab dem Gleichnis jenen tieferen Sinn, ohne
den es kein wirkliches Symbol gibt.
Es liegt nahe, die Verwendung des Brückensymbols im Falle der
neurotischen Brückenangst zur Darstellung des rein seelischen „Zusammen¬
hanges“, der „Verbindung“, Verknüpfung“ („Wortbrücke“ Freut*), mit einem
Wort: einer psychischen oder logischen Relation, d. h. als „autosymbolisches“,
„funktionales“ Phänomen im Sinne Silberers zu deuten. Doch gleichwie
im gegebenen Beispiel diesen Phänomenen gut-materiale Vorstellungen über
die Vorgänge eines Geburtsaktes zugrundeliegen, so glaube ich, daß es über¬
haupt kein funktionales Phänomen ohne eine materiale, d. h. sich auf
Objektvorstellungen beziehende Parallele gibt. Allerdings mag bei narzi߬
tischer Betonung der „Ich-Erinnerungs-Systeme“ 1 die Assoziation mit den
Objekterinnerungen in den Hintergrund treten und der Anschein eines
reinen AutosymbolLmus erweckt werden. Andererseits ist es möglich, daß es
auch kein „materiales“ seelisches Phänomen gibt, dem nicht auch eine, wenn
auch nur blasse Erinnerungsspur an die es begleitende Selbstwahrnehmung
beigemengt wäre. Schließlich sei daran erinnert, daß — in ultima analysi —
fast jedes, vielleicht gar überhaupt jedes Symbol auch eine physiologische
Grundlage hat, d. h. irgendwie den ganzen Körper, ein Körperorgan oder
dessen Funktion zum Ausdrucke bringt 2 .
In diesen Andeutungen sind, wie ich glaube, Hinweise für eine zu
gestaltende Topik der Symbolbildung enthalten und da der dabei tätige
Verdrängungs-Dynamismus bereits bei früherer Gelegenheit beschrieben
wurde 3 , so fehlt uns zur „metapsychologischen“ Einsicht in das Wesen der
Symbole im Sinne Freuds nur die Kenntnis der Verteilung psychophysischer
Quantitäten bei diesem Kräftespiel und genauere Daten über Onto- und
Phylogenese 4 .
Das in der Brückenangst zur Schau getragene psychische Material trat
beim Patienten auch in einem konversionshysterischen Symptom zum
Vorschein. Bei plötzlichem Schreck, beim Anblicke von Blut oder irgend
einem körperlichen Gebrechen neigt er zu Ohnmächten. Als Vorbild dieser
Anfälle diente ihm die Erzählung der Mutter, daß er nach einer schwierigen
Geburt halbtot zur Welt kam und mit vieler Bemühung zum Atmen gebracht
werden mußte. Diese Erinnerung war das Urtrauma, an das sich das spätere
(die Anwesenheit beim Gebären der Mutter) anlehnen konnte.
Es braucht kaum besonders hervorgehoben zu werden, daß die Brücke
in Träumen auch ohne jeden symbolischen Sinn, aus historischem Traum¬
material stammend, Vorkommen kann.
1 Siehe dazu meine Abhandlung über den Tic, diese Zeitschrift VII. Jahrg; Nr. 1.
8 Vergleiche damit die diesbezüglichen Bemerkungen in der Arbeit: „Hysterische Mate¬
rialisationsphänomene“ in „Hysterie und Pathoneurosen“, Internationale Psychoanalytische
Bibliothek Nr. 2, vom Verfasser.
8 Siehe „Zur Ontogenese der Symbole“, diese Zeitschrift I. 436, vom Verfasser.
4 Vergleiche damit die Arbeit von Jones über die Symbolik, diese Zeitschrift.
V. Jahrgang, Seite 244.
Mitteilungen
Beiträge zur Traumdeutung.
Zwei Entbindungsträume einer Schwangeren.
Von Dr. J. Marclnowski (Heilbrunn).
1. „Mir träumte von einem großen Sandberg, ähnlich dem, der in W. vor
unserem Hause war, nur war er spitz zugehend. Oben um die Spitze mußte
ich immer herumgehen. Ich hatte das Gefühl: Du mußt — ich weiß nicht,
um das zu üben oder so. Ich habe dabei immer heruntergeguckt und mich mit
den Händen ängstlich im Sande festgeklammert. Am Fuße des Berges ging
eine Fahrstraße, daneben war Wasser. Ich war furchtbar schwindlich, ganz wie auf
den BergeD. Plötzlich, als ich so herumkroch, mit dem Angstgefühl abzustürzen,
öffnete sich der Berg und ich wurde wie iu einen Trichter hinabgezogen mit
dem Gefühl, jetzt mußt du im Sande ersticken, der Sand stürzt dir aller nach.
Statt dessen aber fühlte ich, wie ich ganz schnell heruntersauste und unten
in einem freien Raum wie in einem weiten Rohr ankam, unmittelbar an der
Fahrstraße. Gegenüber der Straße befand sich ein Restaurant, wo die Leute
Kaffee tranken. Die ganze Situation erinnerte mich an die Moorlacke, wo wir als
Kinder oft gespielt haben. Darüber erwachte ich. Mein Gefühl hinterher war
ganz anders, als ich es sonst nach Fallträumen hatte, mir war wohl und
erleichtert.“
2. „Ich war unten bei unserer Wirtschafterin in der Küche. Die Wirtschafts¬
räume waren wie in T., lagen aber wie bei uns im Kellergeschoße etwas tief.
Daraus führten verschiedene kurze Treppen nach oben wie aus einem Schacht
heraus und ich sah, wie die Sonne so richtig reinschien in die Gänge. Ich
wollte herauf zum Essen in den Saal und hatte Angst, du würdest schelten,
wenn ich wie immer zu spät käme. Aber an allen Ausgängen, an denen ich
versuchte, heraufzukommen, mußte ich immer an der obersten Stufe umkehren,
weil die Ausgänge mit unerklärlichen Dingen verschlossen waren. Sie war wie
eine Jalousie, die sich bewegte und durch die ich immer nur mit dem Kopf
durchkam und mit den Schultern stecken blieb. Dann plötzlich gelang es mir,
mich durch eine der Öffnungen durchzuzwängen, die auf einmal nachgab. Da
war ich oben im Seiteneingang vom Wirtschaftshof in T. draußen im Freien
in der Sonne. Ich hatte meinen braunen Hänger an und als ich an mir
heruntersah, ob ich ordentlich war, um in den Saal zu gehen, da war der
Rock in tiefen Falten zusammengequetscht und die Falten waren mit lauter
Kletten zusammengehalten. Das war mir sehr unangenehm; es war wie Spinn¬
gewebe, das ich beim Durchgehen erwischt hatte. Ich dachte, du hast dich
ganz schmutzig gemacht.“
Ich gebe die Träume ohne Analyse wieder, weil sie sich durch die
Lebenslage der Träumerin von selbst deuten und damit einen Beweis liefern,
der unabhängig analytischer Technik für unsere Auffassung vom Traumdenken
erwächst, die Theorie bestätigend, ohne daß man die analytische Deutungs¬
arbeit dafür anschuldigen kann. Die Entbindung erfolgte vier Wochen später.
In beiden Träumen erscheint die Träumerin nun nicht in der Rolle der
Gebärenden, sondern es ist, als ob sie in ihrer Lage die eigene Geburt in
angstvoller Rückerinnerung noch einmal belebte und diesem Erinnern symbolisch
Ausdruck verliehe. Der Sandberg mit seiner der menschlichen Hautfarbe
entsprechenden Farbe ist unschwer als der schwangere Leib zu erkennen, aus
dem die Träumerin mit angstvollem Gefühl auf die Lebensbahn: die Fahrstraße
Dr. M. J. Eisler: Mutterleibs- und Geburtrettungsphantasien im Traum 215
gelangt. Freud 1 macht einmal irgendwo die Bemerkung, die eigene Geburt sei
der erste große Angstanfall in unserem Leben. Und in der Tat, wenn wir uns
in die Lage eines Kindes in seiner Geburtsstunde hineindenken, so ist das nur
allzu verständlich, daß auch dieser Eindruck lebhaft haften bleibt, wenn auch
natürlich ohne klar bewußte Vorsteliungsmöglichkeit, wie sie ja dem rein
emotionalen Erinnern überhaupt mangelt. Angst und Erstickungsgefühle gehören
zusammen. Für den Humor im Traum kommt dann nach der großen Erleich¬
terung der freudige Kaffee für die Hebamme und die hilfeleistenden Angehörigen
zur Geltung und zum Schlüsse gibt der Traum gleichsam wit eine nachträgliche
Überschrift erst die Deutung: die ganze Geschichte erinnert an die Geschichte
vom Klapperstorch, der die kleinen Kinder aus dem Sumpf, der Moorlacke, holt.
Auch der zweite Traum gibt die Gefühle des zu gebärenden Kindes
wieder, nicht die der Mutter. Das Zuspätkommen zum Essen hat seinen Sinn,
denn das vorige Kind kam sehr verspätet zur Welt und sollte deshalb den
scherzhaften Namen Laura (von lauern) erhalten. Eigenartig ist dann die
Schilderung des Geburtsvorganges, der vordrängende und in der Wehe zurück¬
weichende Kopf und die hinderlichen Geburtswege. Daß die verschiedenen
Gänge ins Freie führen, sind Anklänge an kindliche Sexualtheorien. Draußen
befindet sich dann das Neugeborene auch neben dem Eingang zum Wirtschafts¬
hof, d. h. neben der Darmöffnung, wie ja die ganze Geschichte sich in den
unteren Regionen des Körperhaushaltes abspielt, wo die Nahrungssorgen erledigt
werden. Daher auch der braune Hänger, das mit Kindspech beschmierte
Neugeborene, dessen Haut nach der Geburt ja tatsächlich oft faltig ist und
das zum mindisten noch keineswegs salonfähig ausschaut, dazu beim
Durch quetschen allerhand abbekommen hat.
Solche Träume sind, wie gesagt, oft besser geeignet, die Berechtigung
unserer Traumpsychologie zu erweisen, als es eine tiefsinnige Deutungschwierigen
Traummateriales zu leisten vermöchte.
Mutterleibs- und Geburtrettungs-Phantasien im Traum.
Von Dr. M, J. Eisler (Budapest).
Die Lösung von Träumen, die eine Mutterleibs- oder Geburtrettungs-
Phantasie zur Grundlage haben (beide treten oft untrennbar ineinander
verwoben auf), bereitet dem Analytiker in der Regel keine Schwierigkeiten
mehr, sobald er sein inneres Gehör auf diese Tatsache eingestellt hat. Die
Assoziationen des Erzählers, der den Traum bringt, leisten hiezu nur geringe
Dienste; erst wenn sie den Sinn des Traumes im ganzen erfahren haben,
schaffen sie das Material herbei, aus welchem die Einzelheiten zusammengestellt
sind. Aus diesen nimmt dann die Analyse ihren Fortgang.
Die Beispiele, welche ich nun anführe, sind in erster Reihe wegen ihrer
formellen Abgerundetheit merkwürdig, doch ist auch die Art, wie ich zu ihrer
Kenntnis gelangte, erwähnenswert. Ich muß hier einen kleinen Beitrag zur
Traumdeutung in Erinnerung bringen, den ich unter dem Titel „Das Labyrinth“
(Diese Zeitschrift IV. Jahrgang., Seite 297) — ein durch inzestuöse
Pubertäts-Phantasien geweckter Rettungstraum — publiziert habe. Von dieser
Arbeit hatte mein — jüngerer — Bruder seinerzeit zum Zweck der Veröffent¬
lichung eine Maschinenabschrift verfertigt. Der Inhalt hinterließ einen tiefen
1 Die Traumdeutung, 4. Auflage, 1914, Seite 290, Anmerkung ♦*.
216
Mitteilungen
Eindruck in ihm, dem ein wenig Zweifel an die Glaubwürdigkeit der Sache
beigemengt war. Zunächst scheint er mich auch mit dem Träumer identifiziert
zu haben, welcher Gedanke den Eindruck nur verstärkt hat. An einem der
nächstfolgenden Tage träumt ihm in der Form eines Weckreiztraumes folgendes
(er wurde tatsächlich durch einen Kameraden geweckt, auf dessen Anruf er
den ersten Teil träumt, nachher einschläft und den Traum beendet):
„Ich befinde mich ineinemmassivausBetongebauten
leerenZimmer, das nur eine Ausgangtüre hat, derenFlügel
fehlen. Im nächsten Moment höre ich draußen sprechen,
es war dieStimme eines älteren und eines jüngeren Herrn
(Professor und Assistent). Ich möchte es nicht, daß sie
mich bemerken, deshalb schwinge ich mich mit zwei bis
drei Schwimmbewegungen in dieLuft und bleibe in der
einen etwas dunkleren Ecke des Zimmers wagrecht, den
Kopf nach oben gewendet, schweben. Ich spreche zu ihnen
und bekomme nach kurzer Zeit schwere Aufgaben, die ich
mit Leichtigkeit löse, zuletzt die Berechnung und den
Plan eines großenDampfers. Bald darauf wird ein schönes,
junges Mädchen in das Zimmer geschickt, ich fliege herab
und bemerke, daß jetzt auch ein Sofa im Zimmer ist; das
Mädchen setzt sich unaufgefordert nieder, ich will mich
neben ihr niederlassen, als ich geweckt werde . .
Fortsetzung des Traumes: „Ich öffne eine mit Eisen beschlagene
Türe und trete ein, ich sehe einen langen Gang, aus dem
zahlreiche andere Gänge ausgehen, ich steige in ihnen
herum, da merke ich, daß jemand im großen Gang nach mir
sucht. Ich erblicke einen älteren Herrn, einen Professor
dem wahrscheinlich diese Gänge gehören, denn er
bemerkt sofort, daß hier ein Fremder eingedrungen ist;
er hält einen Schirm unter dem linken Arm und trägt eine
große Brille. Ich bin unsichtbar, darum trete ich ganz
nahe an ihn heran und will ihm die Brille entreißen, er
drückt sie aber so stark gegen den Nasenrücken, daß es
mir unmöglich ist, diese wegzunehmen. Im nächsten
Moment greift er mit der rechten Hand in die Tasche und
zieht einen Revolver hervor, den er in der Richtung, wo er
mich glaubt, abfeuert; ich lege mich platt auf den Boden
und sehe noch den Rauch aus dem Revolver emporsteigen
und die Kugel in der Richtung, wo ich früher gestanden
bin, fortfliegen, als ich erwache...“
An diesem durchsichtigen Traum wären nur Einzelheiten zu deuten.
Der erste Teil enthält die Darstellung des Intrauterinlebens; das auffällige
Benehmen des Träumers, der sich als Embryo dünkt, deute ich — einer
Bemerkung von Ferenczi folgend — als Paradoxie des Gedankens: „Es ist
doch nicht möglich, daß ein ungeborenes Kind irgendwelche Empfindungen
haben kann.“ Absurdität wird im Traum als Superklugheit hingestellt 1 . Unter
Professor und Assistent meint er den Vater und mich. — Im zweiten Teil des
Traumes ist die Belauschung des elterlichen Verkehrs wie im Beispiel Freuds
1 Der Träumer ist Beamter einer Schiffahrtsgesellschaft.
Dr. M. J. Eisler: Mutterleibs- und Geburtrettungsphantasien im Traum 217
(Traumdeutung, 5. Aufl., S. 272), zugleich das stark ambivalente Verhältnis
zum Vater (zurückgewendete Kastrationsdrohung) dargestellt.
Die tieferen Motive, aus welchen dieser Traum entstand, erfuhr ich, als
mir wenige Wochen später ein in der Situation — Mutterleibsphantasie —
ähnlicher Traum gebracht wurde:
»Ich fühle mich, als wäre ich gestorben. Ich gehe
über den Ring auf die ...straße zu und habe das Gefühl,
als ob mir jemand folgen würde. Rechts in der Gasse trete
ich in das zweite Haus und steige in den zweiten Stock
hinauf. Ich öffne eine Türe und betrete ein Zimmer,
welches keinen anderen Ausgang hat. Rings herum sehe
ich Stellagen, auf welchen sich Särge befinden. In der
Mitte des Zimmers steht mein Bruder L..., der mich mit
denWorten empfängt:,Endlich kommst du, wir erwarteten
dich schon! 6 Ich habe das Gefühl, daß in dem einen Sarg
meine Schwester liegt, obzwar ich sie nicht sehe. In
diesem Moment kommt ein Fremder, der mir bisher nach¬
gegangen war. Er öffnet, bleibt im Rahmen der Türe
stehen und will eintreten, doch ich rufe ihn in ener¬
gisch e m, ab e r r u hi ge m T o n e an: ,Was suchen Sie hier, das
ist ja der Ruheplatz aller meiner Geschwister, 6 worauf er
sich sofort zurückzi eht und die Türe schließt, Ichkehre
mich jetzt zum Bruder hin und erwache.“
Den Gefühlshintergrund des Traumes bildet eine ernste und nachhaltige
Trauer um einen verlorenen Jugendfreund. Er setzt mit einer ausgesprochenen
Todessehnsucht ein. Freud hat mit großer Feinheit und psychologischem
Tiefsinn den Zustand beschrieben, in welchem sich der Trauernde, in der
„Trauerarbeit“ Befangene, befindet, an den das Gebot ergeht, alle seine
libidinösen Objektbesetzungen vom Verlorenen zurückzuziehen (Trauer und
Melancholie, Sammlung kleiner Schriften, 4. Teil, S. 356). In einem Moment
der egoistischen Freude, am Leben geblieben zu sein, rührt das Unbewußte
an die Situation der Geburt und des Aufenthaltsortes vor der Geburt. Aus
einer solchen narzißtischen Selbstbesinnung ist der Traum enstanden, doch
kommt darin die düstere Grundstimmung 1 ebenso zur Geltung. Die Deutung
der Einzelheiten darf hier übergangen werden, auch die Analogien zwischen
diesem und dem vorangehenden Traum sollen nur im großen erwähnt werden.
Den Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung erhielt ich, als mir mein
Bruder einen dritten Traum erzählte, den er aber schon vor der Kenntnis
meines Beitrages über das „Labyrinth“ geträumt hatte und jetzt aus der
Erinnerung hervorholen konnte:
„Ich befinde mich mit einem Freunde (es ist nicht der
Betrauerte, sondern ein anderer, der ebenfal 1 s tot ist) auf
dem Wasser in einem Kahne. Dieser kippt infolge des
stürmischen Wetters um und wir fallen beide insWasser. Der
Freund ist im Ve rsin ken, wobei er mi r mit der Han d r uf end
winkt, ich aber rette mich mit großer Anstrengung ans Ufer.“
Die Rettung aus dem Wasser ist, wie wir wissen, die primäre
Darstellungsform des Geburtstraumes.
1 Die Gleichsetzung von Begräbnisstätte und Mutterleib ist im unbewußten Denken
aller Völker aufzufinden.
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VIl/2.
15
218
Mitteilungen
Eine Traumanalyse mit Fehlleistung.
Von Martin Elsner (Leipzig).
Nachfolgende Traumdeutung ist nicht nur zugleich ein schönes Beispiel
für das Finden eines nicht im Bewußtsein Gegenwärtigen durch Ersatzbildungen,
sondern enlhält außerdem noch eine leicht verständliche Fehlleistung.
Ich sitze mit meinem jung verheirateten, kürzlich von einer Soramerreise
zurückgekommenen Freund beim Tee und wir sprechen über Träume. Er will
mir einen Traum, der nur wenige Tage zurückliegt, erzählen, erinnert ihn aber
nicht. Ich bitte sofort um Ersatzvorstellungen:
1. Es war ein vergnüglicher Traum.
2. Er geht mit seiner Frau eng umschlungen einen Weg entlang durch
eine Art Park. Sie bleiben stehen und küssen sich.
3. Ein merkwürdiger Bucheinband mit vergnüglichen Silberfischlein
darauf, über den er sich oft amüsiert hat.
4. Ein Zirkusakt: Ein Akrobat steht auf der Hand eines andern und
wirbelt sich von da aus spiralig durch die Luft. Ist daher eigentlich nicht als
Mensch erkennbar.
5. Eine Badekabine am Meer.
Weiterhin gegen einen Widerstand:
6. „L h wollte gerade darauf kommen, hatte den Traum fast deutlich, da
sehe ich einige Affen, die sich am Popo kratzen.“
7. Die Funkstation bei W., die er kürzlich im Vorbeifahren sah.
8. Das Haus am S. Berg bei G. (Sein Sommeraufenthalt). Eine Wanderung
dorthin fiel wegen schlechten Wetters aus, die Wagen waren schon bestellt
gewesen. (Nach der Deutung des Traumes fügt er zu diesem Moment noch:
Der Berg hat eine geschwungene, leibesähnliche Form.)
Traum: Er ist in einer Meeresgrotte, ähnlich der blauen Grotte bet
Capri, eine Wachskerze brennt darin. Es kommt ein Frosch geschwommen,
verschluckt das Licht, macht beim Hinunterschlucken fürchterliche Schling¬
bewegungen, beginnt dann furchtbar zu lachen, so daß der Träumer aus vollem
Halse mitlacht.
Anschließende Einfälle:
9. Auch nach dem Verschlingen des Lichtes blieb es hell, so daß er das
Lachen deutlich sah.
10. Er hat gegen Dr. Lustig, einen ehemaligen Verehrer seiner Frau, die
ihn früher schätzte, eine nachträgliche Eifersucht. Dr. Lustig ist sonst ein netter
Mensch. Die beiderseitigen Familien waren damals einverstanden.
11. Dr. Lustig hat seinen Mittagstisch in der Nähe eines Technikums,
auf dem oben eine Funkstation angebracht ist.
12. Seine Frau zeigte mehrmals Eifersucht gegen ein Mädchen, das zu
seinem Bureaupersonal gehört. (Umkehr.)
13. Frösche sind ihm sonst unsympathisch, dieser eine war es nicht.
14. Eine Photographie von Dr. Lustig und seiner Frau in einem Bad
bei G. Sie sitzen am Wasser, etwas entfernt von der übrigen Gesellschaft.
Obwohl es ein ganz harmloses Bild ist, hat es ihn oft gewurmt.
Kritik: Der latente Trauminhalt spricht sich in allen Ersatzvorstellungen
aus. 1. deutet auf das Lachen, vielleicht sogar auf den Namen Dr. „Lustig“.
Varii Autores
219
In 4. steht ein Mann über einem andern. Daß der Zweite kaum erkennbar ist,
deutet wohl darauf hin, daß der Träumer sich selbst meint. Zu 5 vergleiche 14.
Hier will der manifeste Traum auf tauchen, aber das Ich des Träumers stellt
den letzten Widerstand entgegen: Ich will ja gar nicht an Di*. Lustig denken,
er ist ein Affe, ein Frosch, er kann mich am A-betid besuchen. (Wie sich diese
Antipathie veibirgt, ist interessant: 10, 13. Aber die Zurückschiebung gelingt
nicht mehr, über 7. und 8. ist der manifeste Traum bewußt. Zu 8. vergleiche 10.
Die bestellten Wagen, die ausgefallene Fahrt.
Grotte und Licht, zu denen sich keine Einfälle erzielen ließen, sind
wahrscheinlich symbolisch zu deuten.
Obwohl der manifeste Traum eine sehr harmlose Gestalt trägt, die sogar
als vergnüglich empfunden wird, wurde er doch vergessen: eine wohlbegründete
Fehlleistung, deren Motiv aus dem latenten Inhalt unschwer zu erraten ist.
Ein Traum mit kannibalischer Tendenz.
Mitteilung von Dr. R. H. Foerster (Hamburg).
Ein Patient, der sich wegen eines Depressionszustandes in Behandlung
befindet, träumt:
»Vor mir liegt ein Hund, dessen Fell abgezogen ist; er lebt noch etwas
und ich soll ihn aufessen.“
Der Patient zeigte im Beginn der Behandlung bei stärkster negativer
Übertragung auf den Arzt sadistisch-feindselige Impulse diesem gegenüber. In
Tagträumen stellt er sich vor, er selbst habe sich erschossen; er hat einen
Brief hinterlassen, der dem Staatsanwalt zugehen soll. Er klagt darin den Arzt
an, durch seine „unerhörte Behandlung“ seinen Tod verursacht zu haben. In
der Phantasie erlebt er eine Gerichtsverhandlung, in welcher der Arzt wegen
fahrlässiger Tötung verurteilt wird. Der Tagtraum enthüllt sich in der Analyse
als Vorwurf, der geg^n den Vater des Patienten gerichtet ist. In der folgenden
Nacht stellt sich dann der obige Traum ein, in welchem die feindselige Tendenz
bis zur Anthropophagie regrediert. (Verspeisung des Totem.)
Verwiesen sei noch darauf, daß das Verspeisen bei lebendigem Leibe
noch die weitere Bedeutung der Kastration in sich schließt. (Kastration durch
Beißen, Tier als Genitalsymbol.)
Angsttraum und Ödipusphantasie.
Von Dr. J. Hermann (Budapest).
Ein 15 Jahre alter Knabe bat während der Nacht einen Angsttraum. Er
wacht auf und läuft aus seinem Schlafzimmer — wo er mit dem Großvater
schläft — ins dritte Zimmer, wo Vater und Mutter schlafen; er küßt die Mutter,
um sich zu beruhigen, dann legt er sich ins Bett des Vaters. Der Vater über¬
läßt sein Bett dem Sohne und sucht dessen Bett auf. Ich frage am nächsten
Tage den Knaben, ob er den Vater um seinen Platz ersuchte; er antwortet,
daß er nicht umsonst sich einen Vater erzogen habe. Der von mir interpellierte
Vater gab die Aufklärung, daß er die Schlafstellen wechselte, um dem Sohne
zu zeigen, daß er, der Vater, sich nicht fürchte.
15*
Kritiken und Referate.
Aus der psychiatrischen Literatur.
Dr. Oskar Lessing, Berlin. Innere Sekretion und Dementia praecox.
(Verlag von S. Karger, Berlin 1921.)
Die kleine Schrift stellt es sich zur Aufgabe, den Stand des Wissens in
dieser Frage zu zeigen, diese Aufgabe hat sie gelöst, es geht aber aus ihr
hervor, daß wir eigentlich noch gar nichts weiter darüber wissen, als daß ein
Zusammenhang bestehen müsse. Verfasser ist einseitig in dem Sinne eingestellt,
daß die psychischen Störungen aus der Störung der inneren Sekretion abgeleitet
werden müssen und hat sich die Frage nicht vorgelegt, ob nicht das Verhältnis
auch umgekehrt sein könne, wofür doch manche psychoanalytischen Erfahrungen
sprechen. (Eigene, nicht veröffentlichte Beobachtungen des Referenten lassen
fast mit Gewißheit vermuten, daß die Störungen der Schweißabsonderung,
z. B. Hyperhidrosis pedum, auf die Verfasser viel Wert legt, durch Erogenisierung
bezw. Entziehung der Libidobesetzung zu erklären sind.) So muß Verfasser
zugestehen, daß die Psychologie für die Beantwortung der behandelten Frage
keine wesentlichen Aufschlüsse geben könne.
Professor Wllmanns, Heidelberg. Zunahme des Ausbruches geistiger
Störungen in den Frühjahrs- und Sommermonaten.
(Münchener Medizinische Wochenschrift, 1920, S. 175.)
Professor Weizel, Heidelberg. Akute Psychosen und Jahreszeit.
Verhandlung des Deutschen Vereines für Psychiatrie, Hamburg, 1920.
Referat der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie.
Bd. 22, S. 376.
Die beiden Verfasser weisen an Hand einer größeren Statistik auf die
am besten bei Frauen vom Lande im Alter zwischen 15—30 Jahren, aber
auch sonst gut zu beobachtende Tatsache hin, daß Schizophrenie und Manisch-
depressives Irresein im Frühsommer gehäuft auftreten — auch die Kurven
der ehelichen und unehelichen Zeugung, der Sittlichkeitsverbrechen, der
Selbstmorde zeigen in derselben Zeit ihren Gipfel — und vermuten darin
eine Äußerung der latenten Brunstzeit des Menschen. Dieser Auffassung
kann die Psychoanalyse, die die psychotischen Erscheinungen als Reaktionen
auch auf vermehrtes Andrängen der Triebe anzusehen gelehrt hat, nur
beistimmen.
Dr. von Muralt, Zürich. Analyse eines Grippedelirs. Allgemeine Zeit¬
schrift für Psychiatrie, Bd. 76, Heft 4.
Wiedergabe eines interessanten Grippedelirs eines Theologie-Studierenden,
das — an der Hand von sehr wenig Einfällen — wie ein Traum gedeutet
wird. Die Deutung bleibt unbefriedigend, was einmal an den äußeren Verhältnissen
der Analyse, zum anderen daran liegt, daß Verfasser auf dem Boden Jungscher
Anschauungen steht.
Kritiken und Referate
221
Professor E. Kraepelin, München. Die Erscheinungsformen des Irre¬
seins. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 62.
K. gesteht zu, daß das Bestreben in der Psychiatrie, Krankheitsformen
zu umgrenzen, nicht befriedigende Ergebnisse habe erzielen können, er sucht
daher, um der Frage: Krankheit gegen Symptomenkomplex näher zu kommen,
nach neuen Wegen, lehnt aber die Nutzbarmachung des durch die psycho¬
analytische Forschung gewiesenen Weges ab und kommt so nicht viel weiter
als zu einigen Ausblicken unf Aufstellungen allgemeinster Art. Das Wichtigste
davon: zahlreiche Änßerungsformen des Irreseins sind durch vorgebildete
Einrichtungen der Psyche ein für allemal festgelegt und treten bei verschieden¬
artigen krankmachenden Einwirkungen in gleicher Form auf. Diese Äußerungs¬
formen sind die delirante, die paranoide, die emotionelle, die hysterische, die
triebhafte, die schizophrene, die sprachhalluzinatorische, die encephalopathische,
die oligophrene, die spasmodische. Auf die engen Beziehungen mancher dieser
Äußerungsformen zur Phylogenie hat vor ihm die Psychoanalyse (Freud und
Ferenczi) schon hingewiesen, ebenso könnte K. die psychoanalytischen
Ergebnisse vielfach als Stütze seiner Ausführungen heranziehen, die durch
die Einführung des Unbewußten und der Libidotheorie erst ihres jetzt
notgedrungen oberflächlich bleibenden Charakters entkleidet würden.
W. Mayer-Groß, Heidelberg. Über die Stellungnahme zur abgelaufenen
akuten Psychose. (Eine Studie über verständliche Zusammenhänge
in der Psychiatrie.) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und
Psychiatrie. Bd. 60.
Die der Heidelberger Klinik entstammende Arbeit behandelt eine
interessante Frage aus dem „weiten Gebiete, das zwischen Heilung mit
vollkommener Krankheitseinsicht und Fortdauer der seelischen Störung liegt“.
Auf Grund von scharfsinnigen Untersuchungen, an der Hand von gut ausgesuchten
Beispielen, unterscheidet Verfasser mehrere Arten der Stellungnahme des Ichs
zu seiner Psychose: die erste ist die „Verzweiflung“, die eintritt, wenn die
„Werteschicht des Selbst“ nur klein ist, so daß ein geringer Anstoß genügen
kann, „das — ganz entleerte — Selbst in den Abgrund zu stoßen“, und die
Tendenz der „Kontinuität“ des Selbst stark ist. Ist die Verzweiflung die
Verneinung der Zukunft, so ist das „neue Leben“ die Verneinung der
Vergangenheit, das Erlebnis der Psychose wird nicht verarbeitet, nur die
Umwelt wird vertauscht. Das „neue Leben“ kann sich über dem Abgrunde
der Verzweiflung aufbauen; eine Abart von ihm ist der „hebephrene Dauer¬
zustand“, in dem das ganze neue Leben etwas Provisorisches, Spielerisches
bekommt, jede Kontinuität verneint wird. Eine dritte Art der Stellungnahme
ist die Verneinung des Erlebnisses selbst — die „Ausscheidung“, die Nicht¬
anerkennung des Bruches der Kontinuität. (Wenn hier einmal das Wort
„verdrängt“ fällt, so steht es, da nicht in Beziehung zum Unbewußten
gesetzt, am unrichtigen Platze.) Findet eine Werteumkehr auch für die
Vergangenheit statt, so tritt die „Bekehrung“ ein: das psychotische Erlebnis
wird zur Stunde der Erleuchtung, der Wiedergeburt, oft, aber nicht immer,
von religiöser Färbung; die neue Existenz wird auf die Psychose fundiert,
Die letzte Einstellung, die Verfasser herausarbeitet, ist die „Einschmelzung“,
die bei einem auf einen sicheren Kreis von Existenzwerten gegründeten
Selbst mit stärkster Tendenz zur Kontinuität eintritt. Sie ist so der Gegenpol
zur Verzweiflung. Da die Existenzwerte im Laufe des Lebens sich wandeln
222
Kritiken und Referate
können, so kann sich auch die Stellungnahme je nach Zeitdauer nach Ablauf
der Psychose und nach Lebensalter ändern, Ausscheidung und Einschmelzung
können als Nachwirkungsformen des reifen, abgeschlossenen Individuums
angesehen werden, während Verzweiflung und Bekehrung mehr bei jugend¬
lichen Personen zu finden sein werden. Die Einschmelzung wird aber immer
naturnotwendig die zeitlich letzte Nachwirkungsform sein.
Die gemeinsame Wurzul aller Nachwirkung ist die „Erschütterung der
Existenzwerte Es ist sehr zu bedauern, daß Verfasser sich anscheinend nur
wenig in die psychoanalytischen Gedankengänge vertieft hat (er führt auch
nur Freuds „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse“ an), vor allem die
Mitteilungen Freuds über die Psychologie der Schizophrenie als einer
narzißtischen Psychose nicht kennt. Seine „Existenzwerte“ decken sich fast
vollständig mit dem von Freud aufgestellten Begriffe des „Ideal-Ich“. Ohne
Berücksichtigung des narzißtischen Anteiles der Libido und seines engen
Verhältnisses zum „Ideal-Ich“ müssen seine Untersuchungen notgedrungen
unvollständig und unbefriedigend bleiben, sie geben bei völligem Außeracht¬
lassen des Unbewußten nur einen Beitrag zur Psychologie der Ichtriebe. Als
solcher ist immerhin der Aufsatz nicht ohne Wert und auch für den Psycho¬
analytiker von Interesse. Wenn Verfasser in einer Fußnote der Freudschen
Psychologie den Vorwurf macht, „daß sie die Psychologie der Hysterie zum
Maßstab für jedes seelische, vor allem für das normalpsychische Verhalten
mache und so eine seelische Entwicklung des erwachsenen Menschen, die
sich im Gebiete des geistigen Selbst vollziehe, in der Mannigfaltigkeit ihrer
Konflikte so gut wie überhaupt nicht kenne“, so würden schon Freuds
„Vorlesungen zur Einführung“ in die Psychoanalyse“ ihn haben belehren
können, worauf das zurückzuführen ist und daß Freud ausdrücklich auf die
Wichtigkeit und Notwendigkeit besonderer Untersuchungen über die Schicksale
der Ichtriebe als Ergänzung der psychoanalytischen Forschungen verlangt hat.
Die psychoanalytisch gerichteten Ausführungen Bertschingers zum
gleichen Thema („Heilungsvorgänge bei Schizophrenen“, Allgemeine Zeitschrift
für Psychiatrie, Bd. 68), referiert und ergänzt von Ludwig Binswanger im
Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I), in denen Korrektur, Umsymbolisierung
und Umgehung als Wege des Heilungsvorganges auf gestellt werden, scheinen
Verfasser entgangen zu sein. Dr. U. Vollrath, Teupitz.
Hans Meier-Müller, Zur Psychologie der sogenannten trauma¬
tischen Neurose. Aus der Zürcher Nervenpoliklinik (Professor
C. v. Monakow). (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie
Bd. VI, Heft 2, 1920.)
Verfasser hat in der vorliegenden Arbeit eine größere Anzahl von
Fällen von sogenannter traumatischer Neurose aus dem Material der Züricher
Nervenpoliklinik einer tieferen Analyse unterzogen — soweit das in einem
poliklinischen Betriebe möglich ist — und gelangt dabei zusammenfassend
zu folgenden Schlußfolgerungen über Wesen, Entstehung und Ablauf dieses
Krankheitsbildes:
1. Eine sogenannte „Disposition“ zur Erkrankung an traumatischer
Neurose scheint sich dann zu ergeben, wenn auf eine im Sinne der „Psycho¬
pathie von der Norm intellektuell und affektiv abweichende Psyche wieder¬
holte Insulte des instinktiven Lebens einwirken, als deren Folge eine (also
schon vor dem Unfall bestehende) latente Neurose resultiert.
*
Kritiken und Referate
223
2. Die vor dem Unfall nachweisbaren seelischen Konflikte sind eine
conditio sine qua non für die Entstehung der traumatischen Neurose.
8. Die Konflikte müssen nicht nur das sexuelle Triebleben betreffen,
tun es aber auffallend häufig.
4. Dem Unfall als solchen kommt Bedeutung zu als das die traumatische
Neurose direkt auslösende Moment, indem er dem betreffenden Menschen
seinen inneren Konflikten und der Umgebung gegenüber eine ganz andere
Stellung einzunehmen gestattet.
5. „Versichert“ oder „Nichtversichert“ spielen für die Auslösung der
traumatischen Neurose keine Rolle, wohl aber für die Fixierung.
6. Ausschlaggebend für den Ausbau, die Verschärfung und endlich die
sogenannte Fixierung der traumatischen Neurose ist einzig die durch den
Unfall geschaffene Situation, je nachdem diese letztere die allgemeinen
Lebensbedingungen erträglicher oder schwieriger gestaltet. Meistens wird
aus den früher angeführten Gründen eine angenehme Situation resultieren
und dem Patienten ein längeres Verweilen in derselben wünschenswert
erscheinen lassen. Er wird sogar zu diesem Zwecke — unbewußt — die
Tendenz zeigen, die krankhaften Erscheinungen zu übertreiben und so nach
außen das Bild der Aggravation bieten. Selten liegt — für den Nichtversicherten
— der „günstige“ Fall vor, daß die äußeren Bedingungen ihm ein Verweilen im
Zustande des Krankseins gestatten über den Zeitpunkt der organischen Heilung
des Unfalles hinaus. Meistens führen Lohnausfall mit seinen Folgen, Impulse
von seiten der Familie und Freunde den Mann rasch wieder zur Arbeit zurück.
7. Die Bedeutung des Versichertseins liegt hauptsächlich in dem
Umstande, daß der durch den Lohnausfall bedingte mächtigste Impuls zur
Wiederaufnahme der Arbeit dahinfällt, und daß ferner durch die obligatorische
ärztliche Kontrolle der Kampf entfacht wird, der mit absoluter Sicherheit
zur Verschlimmerung des Krankheitsbildes und zur Fixierung der traumatischen
Neurose führt. Dieser Kampf wird von seiten der Patienten mit unglaublicher
Hartnäckigkeit geführt, handelt es sich doch für ihn um die Aufrechterhaltung
der elementaren Lebensfunktionen. Durch starke Autosuggestion gefälschte
Logik im Sinne seiner Wünsche und — nicht zuletzt — durch kräftige
Unterstützung vom Milieu aus (Familie und Freunde), hält er an der nach
seiner Meinung berechtigten Forderung auf gründliche Ausheilung seines
durch den Unfall verursachten Leidens fest. Hier ist auch die Bedeutung des
Alkohols zu bedenken, wobei mehr dessen willenlähmende als demoralisierende
Wirkung sich bemerkbar macht. In diesem Sinne trägt Alkoholmißbrauch
einen starken Anteil an der Verschlimmerung der Symptome.
Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nach längerem Unterbruch kostet
auch dann eine erhöhte Willensanspannung, wenn man Freude hat an seinem
Beruf. Wie sollte der traumatische Neurotiker sich dazu aufschwingen können,
dem es graut vor seiner automatischen Arbeit!
8. Die allgemeine Verschlimmerung des Krankheitsbildes („Kakonkrisen“
von Monakow) im Verlaufe des Kampfes fällt wohl oft dem nicht psychologisch
orientierten Arzte zur Last, der allzu rasch bereit ist, bösen Willen zu
vermuten und mit Ausdrücken, wie Simulation und Arbeitsscheu, um sich
schlägt. Auch die charakteristische Neigung dieser Patienten zum Querulieren
dürfte auf die gleichen Ursachen zurückzuführen sein, wobei allerdings auch
die Verhetzung vom Milieu aus ihren redlichen Anteil trägt.
224
Kritiken und Referate
Angstkrisen („Kakonkrisen“ von Monakow) sind für diese Phase des
Kampfes charakteristisch.
9. Begehrungsvorstellungen (pathologisches Symptom) sind immer
nachweisbar, aber das ist wohl nichts für die traumatische Neurose Spezifisches.
Sie finden sich in jeder Neurose bald in dieser, bald in jener Form.
10. Eine Sonderstellung der sogenannten traumatischen Neurose ist
eigentlich nur in dem Sinne berechtigt, als bei einem an schweren seelischen
Konflikten, also an einer mehr oder weniger latenten Neurose leidenden
Individuum durch ein unvorhergesehenes äußeres Ereignis (Unfall, Krankheit,
Krieg) die Neurose manifest wird. Ausschlaggebend für das Schicksal der so’
ausgelösten traumatischen Neurose ist die Situation, die durch den Unfall
geschaffen wird. Gestattet diese neue Situation dem Neurotiker, seine
Konflikte zu einem befriedigenden Kompromisse zu bringen und resultiert
für ihn daraus eine neue Quelle der Befriedigung (Lustgewinn), so wird er
den Wunsch haben, mittelst des ihm von der Versicherung angebotenen
Gfeldes in dieser Situation zu verharren, das heißt die Neurose wird sich
fixieren. Gestaltet umgekehrt die durch den Unfall geschaffene Lage dem
Patienten die Lösung seiner Konflikte noch schwieriger, indem neue Sorgen
(also Unlustmomente) dazukommen, so wird er die noch so unerquickliche
frühere Situation der neuen Hölle vorziehen, das heißt er wird wieder
arbeiten und damit versinkt die alte Neurose wieder — wie ehedem — in
das Latenzstadium, bis ein späteres Trauma sie von neuem manifest macht.
Im zweiten Abschnitt seiner Arbeit kommt Verfasser auf die Therapie
und Prophylaxe der traumatischen Neurose zu sprechen und bekämpft
unter anderem die Ansicht Nägelis, daß eine traumatische Neurose nur
durch Kapitalabfindung heilbar sei. Psychoanalyse vermag die
nicht zu veralteten, das heißt zu verbitterten Fälle, zu heilen ohne Geld¬
angebot. Eine ausführliche Krankengeschichte sucht das zu beweisen. Über
diese Fragen gelangt Verfasser zu den folgenden Schlüssen:
a) Prophylaxe.
1. Eine wirksame Prophylaxe gegen Erkrankung an traumatischer
Neurose scheint uns nur möglich, einmal durch zielbewußte Belehrung der
in Frage kommenden Volksschichten über das Wesen dieser Erkrankung im
Sinne einer vernünftigen Massen-Psychotherapie (Landau, psychische
Isolierung), dann durch die intensive ärztliche Mitarbeit an der Verbesserung
der sozialhygienischen Verhältnisse überhaupt.
2. Der Gefahr weiterer Züchtung von „Begehrungsvorstellungen“ auf
dem Wege psychischer Infektion wird wohl am besten gesteuert durch
allgemein durchgeführte, systematische Herabsetzung der Abfindungssummen
auf ein bestimmtes Minimum. Daß eine solche Maßregel nicht von einem
Jahr auf das andere möglich ist, sondern Hand in Hand gehen muß mit den
unter 1 erwähnten Punkten, ist selbstverständlich.
b) Therapie.
1. Die Fälle von traumatischer Neurose sind weniger —• als bis anhin
— zu verschleppen. Der erstzugezogene Arzt sollte sich bemühen, die Diagnose
lasch zu stellen. Das ist bei der Häufigkeit und der Klarheit des vorliegenden
Symptomenkomplexes nicht schwierig. Will er nicht selbst einen psycho¬
therapeutischen Versuch (Psychoanalyse) unternehmen, so soll er auch
Kritiken und Referate
225
keine körperlichen Prozeduren einleiten, den Patienten von einer Erholungs¬
station in die andere schicken (Militärfälle!) und damit bei dem Patienten
die Krankheitsidee befestigen, sondern er sollte es sich zur unbedingten
Pflicht machen, den Patienten entweder einem Nervenarzt zuzuweisen oder
von sich aus der Versicherung rascheste Erledigung des Falles Vorschlägen.
2. Andererseits sollte wiederum der Arzt sich hüten, den Zustand des
Patienten dadurch zu schlimmem, daß er — im Unmut über seinen thera¬
peutischen Mißerfolg — dem Patienten schlechten Willen, Übertreibung oder
gar Simulation vorwirft. Wir haben einfach kein Recht zu solchen beleidigenden
Äußerungen, solange wir uns nicht bemühen, einen Einblick zu bekommen
in die Psyche des Kranken und alle Umstände erkannt haben, die den
vorliegenden Zustand mitbedingten. Wir kommen nicht darum herum: wenn
es gelingen sollte, die Erziehung des Arztes etwas mehr mit psychologischem
Verständnis zu beladen — viel mehr, als es bis anhin geschehen ist! — dann
erst wird es möglich sein, mit vereinten Kräften dieser sozialen Krankheit,
die mit Recht eine „Volksseuche“ genannt worden ist, zu Leibe zu rücken.
Autorreferat.
S. Galant, Algohallucinosis. Berlin 1920. August Hirschwald.
(221 Seiten.)
Rein sachlich ließen sich die in dem vorliegenden, etwas sonderbar
anmutenden Buch niedergelegten Spekulationen etwa kurz so andeuten:
Die Psyche setzt sich nach Galant aus drei Grundelementen: dem
Unbewußten, der Affektivität und dem Bewußten zusammen. Ein unbewußtes
Denken gibt es nicht. Der Prozeß des Denkens, so wie er sich im Gehirn,
abspielt, ist unbewußt, das Denken an sich ist aber bewußt, ist vom
Bewußtsein begleitet! — Der Prozeß des Denkens und das Denken an sich
sind streng auseinander zu halten. — Dem Bewußten, dem Denken wird das
Triebleben als Unbewußtes gegenübergestellt und das Unbewußte
definiert als die Entäußerungen und Wandlungen unseres Trieblebens. —
Das Unbewußte ist unsere Sexualität, Wir modernen Menschen
haben keine anderen Triebe als die sexuellen. Die Kultur hat uns,
mit Ausnahme der sexuellen, alle anderen Triebe weggenommen. Doch weiter:
die Brücke, die das Bewußte mit dem Unbewußten verbindet, sucht der
Autor in der Affektivität, die bei der Entäußerung des Unbewußten die
Hauptrolle spiele. „Ohne Sexualität gibt es überhaupt keine Affektivität . .
„Über diese Brücke geht die Kommunikation zwischen beiden Endgliedern
der Psyche, des Bewußten und Unbewußten und umgekehrt, so daß das
Bewußte eine Menge vom Unbewußten enthält. Das ist der normale, gesunde
Zustand unserer Psyche: der Zustand des Gleichgewichtes.“
Die Entwicklung der Sexualität gestaltet sich nach Galant unge¬
fähr folgendermaßen: Das Unbewußte = Sexualität bringen wir mit auf die Welt
und es äußert sich schon als Saugen an der Mutterbrust. Eine autoerotische Phase
gibt es nicht, die gegenteilige Behauptung Freuds sei einfach eine Fabel! Der Säug¬
ling befriedigt also — unbewußt — ein wenig später mit einer minimalsten Dosis
Bewußtsein — seine Sexualität. Dann tritt — sehr früh — die Affektivität
auf. „Das Unbewußte wird verdrängt, es tritt das auf, was W. Fließ die
sexuelle Latenzperiode nennt.“ (S. 20.) Die Angst entsteht nicht
sekundär infolge Verdrängung aus der Libido, sondern ist primär ein
rein sexueller Affekt undmit der Wollust gleichzustellen! Die
226
Kritiken und Referate
sogenannte primäre Sexualperiode (die ersten vier bis fünf Jahre)
charakterisieren sich durch eine „Übersättigung durch fortwährende
unbehinderte Erfüllung der sexuellen Wünsche“. Es folgt darauf die Latenz¬
periode, die sich normalerweise bis zur Pubertät ausdehnt, die Zeit des
Aufbaues des Intellekts, wo das Bewußte in den Vordergrund trete. — Mit
der Pubertät wird die sekundäre Sexualperiode eröffnet, wo ein
kleiner Teil des Unbewußten ins Bewußtsein eintrete. Das ist der normale
Verlauf der Entwicklung der Sexualität, der mit der Pubertät nicht
abgeschlossen worden ist und je nach den geistigen Begabungen des
Individuums entweder ganz ins Bewußte übertreten kann, dann haben wir
das Genie (!), oder aber sich unbewußt befriedigt im Koitus, auf perversem
Wege oder . . .“ — Was die Träume anbetrifft, so sind sie alle sexuelle
Wunscherfüllungen. Freuds Traumdeutungen sind falsch (!); Galant deutet
sie uns richtig um und vermittelt uns noch das Verständnis für die
sogenannten algolagnischen (d. h. masochistischen und sadistischen)
Träume, die Freud falsch oder überhaupt nicht berücksichtige. Diese Träume
vom Tod geliebter Personen enthalten als speziellen Wunsch Algolagnie und
seien immer von einem Lu st aff ekt begleitet („ob es Lust oder Schmerz oder
Angst sei“). „Der Ödipuskomplex ist auf die Todträume nicht anwendbar, erweist
sich also als ein Begriff, der überflüssigerweise aus Mangel an Erkenntnis
des wirklichen Sinnes der Todträume eingeführt worden ist.“ (S. 42.)
Wir sind nun soweit vorbereitet, um das nötige Verständnis für das
aufzubringen, was Galant als Algohallucinosis bezeichet und als neues
selbständiges Krankheitsbild der Dementia praecox gegenüberstellen möchte.
Die Ableitung ist klar, man muß sich nur an die drei „Elemente“ der Psyche
erinnern: die Affektivität, die beim Normalen die Brücke herstelle zwischen
dem Bewußten und Unbewußten, habe ihre Vermittlerrolle auf gegeben und
sich ganz in das Unbewußte zurückgezogen. „Das Wesen der Algo-
hallucinose besteht also in der Spaltung der Psyche in das
Bewußte und Unbewußte, wobei das Unbewußte das Bewußte
besiegt und in Form von Halluzinationen auftritt. (!) Die
Halluzinationen stellen also das Charakteristikum, das primäre und wesentliche,
vielleicht auch das einzige Symptom der Algohallucinosis dar. Wir müssen
ihnen unsere besondere Aufmerksamkeit schenken und sie aufs genaueste
analysieren.“ (S. 63.) — Galant widmet dieser Analyse der Halluzinationen
39 Seiten seines Buches und kommt dabei zu folgender Erkenntnis: „die
Halluzinationen sind mit den Träumen zu identifizieren. Die ersteren stellen,
wie die letzteren, die Äußerungen des Unbewußten dar und benutzen, um
sich ins Leben durchzusetzen, dieselben Mechanismen wie der Traum. Der
einzige Unterschied ist der, daß der Traum ohne Kampf, da das Bewußte im
Schlaf abgeschafft ist, sich ins Leben durchsetzt, die Halluzinationen aber
einen Kampf mit dem Bewußten ausstehen müssen. — Die Halluzinationen
sind demnach: 1. Wunschhalluzinationen; 2. ihre Ausdrucksweise sind Symbole;
3. die Mechanismen sind dieselben wie im Traum. Der halluzinatorische
Anfall ist ein Kampf zwischen Bewußten und Unbewußten, wobei das
Unbewußte durch Fesselung der Affektivität sich ins Leben in Form von
Halluzinationen durchsetzt . . .“ (S. 104.)
Auffallend heftig wehrt sich der Verfasser gegenüber eventuellen
Bestrebungen, seine „Theorien mit denen Freuds zu identifizieren!“ Seine
Theorien seien im allgemeinen mit denen Freuds unvergleichbar (das
Kritiken und Referate
227
geben wir ohne weiteres zu! Der Ref.). „Unsere Auffassung des Seelenlebens
als Ganzes, unsere Definition des Unbewußten, sowie das Prinzip, auf dem
wir unsere Theorie der Algohallucinosis aufbauen: die Algolagnie, sind den
Freudschen Lehren ganz fremd. Und wie weit wir und Freud auseinander¬
gehen, ist daraus zu schließen, daß das, was wir als Algolagnie bezeichnen^
bei Freud als Ödipuskomplex Erwähnung findet, ein Begriff, der ganz
überflüssig ist und aus Unverständnis für das Unbewußte entstanden ist.“
(Sic!) „Man vergesse auch nicht, daß die Halluzinationen, die die wichtigste
Entäußerung des Unbewußten im wachen Leben sind und zu den schwersten
geistigen Erkrankungen führen, in Freuds Theorien gar keine Würdigung
finden, wiederum offenbar, weil Freud nicht weiß, was mit den Halluzinationen
anzufangen sei und er den Mechanismus des Unbewußten im Menschenleben
nicht verstanden hat.“ (!) — Im übrigen aber werden Freuds Verdienste
anerkannt, sie haben auch Galant „den Weg zur Wahrheit geebnet“. „Das
ist aber alles, denn die Theorie Freuds, so wie sie in seinen Schriften nieder¬
gelegt ist, ist kaum für die Neurosenlehre anwendbar, bei der Algo¬
hallucinosis aber ist sie ganz ohnmächtig; das einzig primäre Symptom
der Algohallucinosis, die Halluzinationen, seien nicht nur kein „Negativ der
Perversion“, wie Freud von den Symptomen der Neurosen behauptet, sondern
eine direkte Befriedigung der Perversion.“
Die Besprechung des Unbewußten von seiten des Autors gestaltet sich
nun zu einer Auseinandersetung mit Freud, die jeden Leser, der Freuds
ernste Forschung kennt — ob er mit ihren Schlußfolgerungen einverstanden
sei oder nicht! — mit Erstaunen, um nicht zu sagen mit Entrüstung erfüllen
muß. Selbst auf die Gefahr hin persönlich zu werden, kann ich die Äußerung
nicht unterdrücken, daß Galants ebenso unwissenschaftliche wie unfeine Art
der Kritik an dem zirka vier Dezennien älteren Freud auf den geschulten
Leser einen sehr merkwürdigen Eindruck machen muß.
In der Entwicklung seiner The orien ist der Verfasser so unklar und
verworren, daß man im Zusammenhang mit der direkt pathologisch
anmutenden Selbstüberschätzung auf Kosten ernster und genialer Forscher
wie Freud und Bleuler — den Eindruck gewinnt, er stehe ganz im Banne
des rein autistischen Denkens. Die wenigen Stellen des Buches, worin der
Autor neue Gedankengänge zu äußern glaubt, erweisen sich für denjenigen,
der Freuds Schriften kennt, als oberflächliche, verklausulierte Verallgemeine¬
rungen tiefer — zirka 30 Jahre zurückliegender! — Gedankengänge aus
„Traumdeutung“ und den übrigen Werken Freuds.
Hans Meier-Müller, Zürich.
Dr. S. Galant, Crises clitoridiennes-artige Erscheinungen
bei einem 14jährigen Knaben. (Neurologisches Zentralblatt
Nr. 16, 1920.)
Ein Patient, bei dem der Verfasser eine „Onanie-Entwöhnungskur“ mit
Erfolg durchgeführt hatte, „beklagt sich angstvoll, daß bei ihm von Zeit zu
Zeit jedesmal nach dem Urinieren ein starker Orgasmus
auftritt, ohne daß es dabei zur Erectio penis oder Samenentleerung
käme.“ Eine sexuelle Erregung sei nicht damit verbunden. Diese „Orgasmus¬
krisen“ dauerten zirka zwei Monate lang und verschwanden dann spurlos.
Dr. Galant betrachtet die Erscheinung als „Folge einer übertriebenen Onanie“
und führt sie „auf eine Überreizung des Nervensystems zurück, die zu
228
Kritiken und Referate
reflektorischen (?) Entladungen der Gefühlssphäre der Genitalen führt“. —
Während bis jetzt solche Crises clitoridiennes nur bei an Tabes dorsalis
erkrankten Frauen beschrieben worden seien, glaubt der Autor, daß ihr
Auftreten nicht unbedingt zur Diagnose Tabes berechtige, sondern „daß sie
durch verhältnismäßige harmlose Ursachen, wie Onanie ausgelöst werden
können, wie der beschriebene männliche Fall zeige.
Hans Maier -Mülle r, Zürich.
Dr. Fritz Zimmermann y Gerichtsassessor in Essen, Justitiar der Süddeutschen
Eisenbahngesellschaft. Die Rentenkampfneurose. (Zeitung des
Vereines Deutscher Eisenbahnverwaltungen.)
In dem Medizinisches und Gerichtliches zusammenfassenden Artikel
verrät Verfasser — obwohl im allgemeinen nicht weit über den Nonne’schen
Standpunkt hinausgehend — gute Einsicht in die Wunschpsychogenie der
Unfallneurosen, auch daß ihm einige Ergebnisse der Freudschen Neurosen¬
forschung nicht unbekannt sind. In einer kurzen Anmerkung findet man
wenigstens die Erwähnung: „Die Freudsche Neurosenlehre führt jede
Hysterie auf sexuelle Traumen (Trauma-Verwundung) zurück.“ Vergleiche
auch über die Hysterie folgende Bemerkung: Beim Hysterischen sind die
(erotischen) Triebe stärker als die logischen Hemmungen.“ Auch der Vergleich
des Künstlers mit dem Neurotiker, das Arbeiten mit dem Begriffe der
Wunschversagung deutet auf Beeinflussung des Verfassers durch analytische
Werke, obwohl ohne nähere Angabe seiner Quellen. Das weniger allgemein
verständliche Problem der Unfallneurose als narzißtische Erkrankung findet
im Artikel noch keine Erwähnung.
* Dr. S. Pfeifer, Budapest.
Dr. Paul Schilder, Wien, Über Identifizierung, auf Grund der
Analyse eines Falles von Homosexualität. (Ein Beitrag
zur Frage des Aufbaues der Persönlichkeit. (Zeitschrift für die
gesamte Neurologie und Psychiatrie, Orig.-Bd. 59.)
Schilder teilt zunächst die analytische Betrachtung eines durchsichtigen
Falles von Homosexualität bei einem 37jährigen Manne mit, dessen sexuelles
Interesse seit seinem 15. Jahre etwa Knaben galt, denen gegenüber er sich
unbewußt in die Rolle der Mutter versetzt, andererseits versetzt er sich auch
wieder in ihre Lage; Patient identifiziert sich also sowohl mit seiner Mutter
als auch mit einer früheren eigenen Entwicklungsstufe. Von einer vorläufigen
Definition des Begriffes Identifizierung ausgehend — das Individuum setzt
sich Personen der wirklichen oder phantasierten Umwelt gleich und bringt
diese Gleichsetzung in Symptomen, seien es Handlungen oder Phantasien,
zum Ausdruck, bereichert sich durch fremde Erlebnisstücke, ohne von dem
Vorgänge Kenntnis zu haben — unterzieht Schilder nun diesen Begriff einer
eingehenden Untersuchung, die auch an viele andere psychoanalytischen
Fragen streift. Es ist schwer, von der gedankenreichen Arbeit einen kurzen
Auszug zu geben, und es kann daher nur das Wichtigste heraus-
gegriffen werden.
Identifizierung geschieht auf Grund des gleichen ätiologischen
Ausspruches und ermöglicht, sich etwas von den Erlebnissen der anderen
Person anzueignen. Diese Aneignung geht nach affektiven Bedürfnissen
und betrifft Eigenschaften jener Person, die eine bestimmte, eine erotische
Kritiken und Referate
229
Rolle spielt. Überraschend ist nicht das Vorhandensein der in den affektiven
Bedürfnissen zutage tretenden Wünsche, sondern die Persönlichkeits¬
veränderung durch sie. Zum Bilde der Identifizierung gehört eine Projektion
des eigenen Ichs, und zwar mehrerer Merkmale; die Identifizierung erledigt
also zweierlei: Einnehmen einer neuen, Aufgabe einer alten Position.
Kennzeichnend für sie ist die Verdichtung großen Stils, die sie neben
der Unbewußtheit gegen das Eine-Rolle-Spielen abgrenzt. Doch gibt es
Übergänge dazu, ebenso wie zwischen der spielerischen Wahnbildung der
Degenerierten und dem starren Systeme einer Paranoia. Identifizierung ist
keine Änderung im Selbstbewußtsein, sondern eine Änderung im Bestände der
Persönlichkeit. Wenn im psychoanalytischen Sprachgebrauche unter Identifi¬
zierung auch die Gleichsetzung zweier fremder Persönlichkeiten oder
Lebewesen verstanden wird, so möchte Schilder das von dem, was er unter
Identifizierung versteht, scharf trennen, bei ihm ist Identifizierung nur
Änderung im PersÖnlichkeitsbestande.
Werden bei der Appersonierung nur einzelne Züge übernommen, so
übernimmt die Identifizierung einen ganzen Komplex, der durch das Band der
fremden Persönlichkeit zusammengehalten wird. Projektionsmechanismen
und Identifizierung sind Gegenstücke, die Projektion stößt Erlebnisstücke ab,
die Identifizierung nimmt fremde Persönlichkeiten hinein. Einzelne Kranken¬
geschichten zeigen die klinische Bedeutung der Identifizierung und ihre
Abgrenzung gegen Wahn, Spiel und Appersonierung. Wichtig ist, daß einzelne
appersonierte Züge projiziert werden und als Vorwurf wiederkommen können.
Zum Schlüsse geht Schilder noch auf die Frage ein, ob die Homo¬
sexualität durch psychische Momente kausal bedingt ist oder ob es sich um
eine somatisch fixierte, intersexuale Konstitution handelt und kommt zu
dem Ergebnisse, daß ein Einfluß des Psychischen auf das Physische des
Organismus anzunehmen ist, „daß vor allem die Sexualkonstitution eine
Plastizität und eine Umschmelzbarkeit innerhalb gewisser Grenzen bewahrt hat,
sie also durch seelische Einflüsse umgeändert werden kann. Diese Abänderung
muß aber nicht durch seelische Einflüsse reversibel sein. Sie könnte seelisch
entstehen, sich somatisch fixieren, so daß sie nur durch somatische Methoden
beseitigt werden könnte. Und es muß schließlich als organische Form
erstarrte Sexualkonstitutionen geben, die auf keine Weise umgeschmolzen
werden können. Selbst diese somatisch erstarrte unbeeinflußbare Sexual¬
konstitution muß sich psychisch in verständlichen Zusammenhängen darstellen.
Der verständliche Zusammenhang beweist also nichts gegen die kausale
Rolle somatischer Faktoren. Daß somatische Einflüsse den verständlichen
Zusammenhang durchbrechen können, läßt im Vereine damit, daß der verständ¬
liche Zusammenhang Wirkungen am Organismus hervorruft, daran denken, den
Organismus als Niederschlag, als Erstarrungsform jener Erlebnisse aufzufassen,
die sich im verständlichen Zusammenhänge äußern.“ Diese Ausführungen,
deren hypothetischen Charakter Schilder ausdrücklich betont, sind deswegen
ausführlich hergesetzt, weil sie im Hinblicke auf die an die Steinachschen For¬
schungen anknüpfenden Erörterungen besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Dr. Paul Schilder, Wien, Über Gedankenentwicklung. (Zeitschrift für
die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Orig.-Bd. 59.)
Jeder Gedanke macht im Denkprozesse eine Entwicklung durch, die
über ein Durchgangsstadium symbolischer und symbolähnlicher Vorstellungen
Kritiken und Referate
230
geht. Auch die Wortvorstellung ist eine Durchgangsstufe. — Fehlbildungen
Fixierung normaler Durchgangsphasen, im Differenzierungsprozesse des
Gedankens können bei der Paraphrenie beobachtet werden, auch im Denken
der Primitiven, der Kinder, treffen wir Stufen der Entwicklung an. Jeder
einzelne Denkakt rekapituliert die Phylogenese und Ontogenese des
Denkens. —
Dies das Ergebnis der äußerlich kleinen, aber bedeutungsvollen Arbeit
Schilders, die für den Psychoanalytiker noch mehr an Wert gewonnen hätte,
wenn Verfasser auf das Material zurückgegriffen hätte, das Freud
(„Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“,
Jahrbuch III.) und Jones („Die Theorie der Symbolik,“ diese Zeitschrift V.)
zu dieser Frage beigesteuert haben, und sich damit auseinandergesetzt,
insbesondere das Unbewußte berücksichtigt hätte. Einzelne Aufstellungen des
Verfassers finden sich dort schon, z. B. bei F r e u d des Realitätsprinzip
und anderes. Dr. U. Vollrath, Teupitz.
Dr. ü. Vollrath, Zur Psychologie der Standesfragen. Zugleich eine
Abwehr. (Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1920, Nr. 37—38.)
Mit jugendlichem Freimut und psychoanalytischer Menschenkenntnis
bricht Vollrath nochmals eine Lanze gegen das Beamtentum in der Leitung
der Irrenanstalten und die Besetzung der Ärztestellen durch solche Personen,
die nur Lebensstellung und Ruheposten und nicht wissenschaftliches Arbeiten
und Fortschreiten anstreben. Gewisse Elemente gehen nur aus
inneren Hemmungen, aus Ahnung eigener neurotischer Veranlagung in
diesen Beruf ein. Nur psychoanalytisches Verstehen könne diese „Beamten¬
mentalität“ klar machen. Das Aufrücken nach Anciennität, die Fernhaltung
frischeren Luftzugs, den junge Kliniker brächten, das Lebenslängliche der
Stellen hält Vollrath für wichtige Ursachen dafür, daß die Anstalten dem
wissenschaftlichen Fortschritt meistens nichts leisten. Wirklich großzügige
Naturen und ärztliche Persönlichkeiten bleiben dadurch den Anstalten fern.
Negative Auslese und Fernhaltung von Zuzug machen die bisherigen
üblen Zustände zu dauernden, wenn nicht neue, freiere Gesichtspunkte endlich
geltend werden. Dr. E. Hitschmann.
Wilhelm Stekel, 1. Onanie und Homosexualität. 2. Die Geschlechts¬
kälte derFrau. (Störungen des Trieb- und Affektlebens, Bd II. und IH.
Urban <fc Schwarzenberg, Berlin-Wien, 1917 und 1920.)
Stekel war der erste, der auf Grund seiner großen schriftstellerischen
Begabung und einer frischen Bedenkenlosigkeit größere Kapitel der psycho¬
analytischen Praxis darstellte. 1908 erschienen seine „nervösen Angstzustände und
ihre Behandlung“ und gewannen große Verbreitung. Freud leitete das Werk mit
einem wohlwollenden Vorwort ein, erklärt aber dort ausdrücklich, daß die
Beobachtungen und alle Einzelheiten der Auffassung und Deutung Stekels
Eigentum seien. Freuds streng wissenschaftliche Arbeitsweise hat es immer
unterlassen, kurze, also unvollständige Analysen zu publizieren, seine voraus¬
setzungslose gründliche Forschung vermeidet es, der Popularisierung zuliebe
Lückenhaftes oder Halbfertiges preiszugeben. Andererseits aber ist selbst das
ärztliche Publikum so weit entfernt (gewesen und ist es heute noch) von
Sexualwissenschaft und Psychologie des Unbewußten, Traumdeutung u. dgl.j
daß Stekels Bücher, gleichsinnige Zeitungsartikel und Konzertsaal-Vorträge —
Kritiken und Referate
231
indem sie sich an ein größeres Publikum wenden — einen großen
praktischen und propagatorischen Wert haben.
Die ärztlichen Leser namentlich der weiteren Bände von Stekels
„Störungen des Trieb- und Affektlebens“ müssen immerhin gewarnt werden
zu glauben, diese relativ kurzen Analysen, wie sie Stekel gern in
ansprechender novellistischer Form bringt, entsprächen der Art, wie
Freud und seine Schüler die unbewußten Zusammenhänge einer Neurose
aufklären. Die Technik der Analyse ist wohl im ersten Band geschildert,
in den Krankengeschichten aber vielfach zugunsten einfacher Berichte
der Patienten vernachlässigt. Schöngeistige Lesefrüchte würzen allenthalben den
Text, aber Klarheit und Eindeutigkeit der Fälle mangelt zuweilen. Greifen wir
Fall Nr. 24 aus der „Geschlechtskälte der Frau“ heraus, so wird die Darstellung
wie folgend zusammengefaßt: „Ihre Anästhesie hatte also drei Wurzeln:
1. Die Homosexualität. 2. Die moralischen Hemmungen. 3. Den Haß gegen
den Verführer. 4. Eine infantile Fixierung an die Mutter.“ Es sind also aus
den drei Wurzeln (durch flüchtige Ergänzung?) vier geworden, aber die enorme
Analerotik des Falles ist nicht dazu gezählt und gerade dasWesentlichste,
warum nämlich nicht eine Homosexuelle oder eine Sexual-Ablehnerin
entstandenist, sondern eine in der Scheide der Wollust Ermangelnde
— bleibt unklar. Hinter all dem Sensationellen, Interessanten und
Popularisirenden des Buches fehlt das Hervorheben des eigentlich Tiefsten,
Letzten, des Exakt-Wissenschaftlichen. Der „Kastrationskomplex“, dem die
Psychoanalyse in der Anästhesiefrage die größte Bedeutung zuweist, findet
keine Erwähnung. Je länger der Autor Freud und seinem Kreis fernsteht,
destomehr fühlt er sich gedrängt, seine Isolierung durch wissenschaftliche
Momente zu begründen; Kleinigkeiten sind aufgebauscht, man sucht aber
vergebens nach Stekelschen Entdeckungen. Er sucht zwar jede Gelegenheit,
Freud und seinen engeren Schülern etwas am Zeuge zu flicken, aber das
eigene wissenschaftliche Mäntelchen ist doch nur aus Freudschem Stoffe
verfertigt, wenn es auch nach dem TVinde gehängt wird, ob er nun von
Jung oder Adler herbläst. Für die Homosexualität gibt Stekel folgende
einheitliche Formel: „Die homosexuelle Neurose ist eine durch die sadistische
Einstellung zum entgegengesetzten Geschlechte motivierte Flucht in das
eigene Geschlecht.“ Bedenken wir, daß der Sadismus viel älter im Individuum
ist, als die Geschlechtswahl, ursprünglich bisexuell oder richtiger asexuell
ist, so ergibt sich die Unhaltbarkeit jener so allgemein ausgesprochenen
Formel. Eine solche Neigung zur formulatio praecox ist öfters zu finden.
Als beschäftigter Praktiker von guter Beobachtung und vielseitiger
Begabung, streut Stekel zahlreiche wertvolle Hinweise aus, nicht alle
freilich kommen in ihrer Umgebung zur Geltung. „Wenn die Könige bauen,
haben die Kärrner zu tun.“ Stekel ist einer der geschicktesten, aber er eilt
ungeduldig mit seiner Ladung voraus, denn er will für sich den Dank
usurpieren, der dem König gebührt. Stekels Mühle mahlt zu rasch; er benutzt
den Hunger der ärztlichen Welt nach psychoanalytischer Aufklärung der
Psychoneurosen und gibt ihnen schmackhaftes Brot, aber es besteht
nicht nur aus Weizen. Die Geschichte der Wissenschaft wird Freud
einst recht geben! Was das Onanieproblem anlangt, so gewinnt Stekels
Standpunkt von der körperlichen Unschädlichkeit derselben immer mehr an
Anhang; sein Verdienst muß hier anerkannt werden. Doch geht er zuweit,
wenn er auch jede psychische Schädigung leugnet und rät, die Kinder
232
Kritiken und Referate
in dieser Hinsicht gar nicht zu beobachten. Wie wenig genau es Stekel
in der Polemik gegen Freud nimmt, zeigt seine Angabe, als hätte Freud je
behauptet, jeder Onanist zeige das eigenartige Bild der von ihm beschrie¬
benen sexuellen Neurasthenie. Es ist bekanntlich auchnicht richtig, daß Freudsich
nicht selbst öfter im Verlauf seiner Forschungen korrigiert habe. Auf die weitere,
oft hämische Kritik an Freud und seiner Schule sei hier nicht eingegangen; sie
entspringt dem Groll des Isolierten, des Epigonen. Stekels Werke geben dem
praktischen Arzte viel Aufklärung und Wissen von Dingen, von denen er bisher
nichts wußte, so namentlich über die Bedeutung der Psychologie und Sexualität
in der Medizin. Mancher, der allzulange gezögert hat, sich Freud anzuschließen
und es jetzt nicht ohne Beschämung tun könnte, läßt sich vom „teilweisen
Gegner“ Stekel durch die Hintertür einführen und erspart „pater, peccayi“
zu sagen. Aber auch jeder Psychoanalytiker kann die Werke mit Interesse
und Anregung durchblättern. Der sexualethische Anarchismus mag freilich
manchem nicht Zusagen. Dr. E. Hitschmann.
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Inhalt.
Seite
Originalarbeiten.
Ludwig B i n s w a n g e r(Kreuzlingen): Psychoanalyse und klinische
Psychiatrie.137
Pr. Michael Josef Eisler (Budapest): Über Schlaflust und
gestörte Schlaffähigkeit.166
Pr. Hermine H u g - H e 11 m u t li: Zur Technik der Kinderanalyse 179
Mitteilungen.
Klinische Beiträge.
Pr. Michael Josef Eisler (Budapest): Per Ausbruch einer
manischen Erregung.198
Pr. S. Feldmann (Budapest): Über Erkrankungsanlässe bei
Psychosen. 203
Pr. K. Abraham: Zwei Fehlhandlungen einer Hebephrenen . . 208
Pr. P. V o 11 r a t h (Teupitz): Anadyrskaja bolj.209
Pr. S. Ferenc z i (Budapest): Pie Symbolik der Brücke.211
B e i t r ä ge zur Traumdeutun g.
Pr. J. M a r c i n o w s k i (Heilbrunn): Zwei Entbindungsträume
einer Schwangeren.214
Pr. M. J. Eisler (Budapest): Mutterleibs- und Geburtrettungs-
Plmntasien im Traum. . .215
Martin Elsner (Leipzig): Eine Traumanalyse mit Fehlleistung . 218
Pr. R. H. Fo erster (Hamburg): Ein Traum mit kannibalischer
Tendenz . 21 /
Pr. ,1. Hermann (Budapest): Angsttraum und Ödipusphantasie 219
Kritiken und Referate.
A 11 s der p s y c h i a t r i s c h e n Literat u r.
Pr. Oskar Lessing: Innere Sekretion und Peinentia praecox. . 220
Prof. W i 1 m a n n s : Zunahme des Ausbruches geistiger Störungen
in den Frühjahrs- und Sommermonaten.220
Prof. Wetzel: Akute Psychosen und Jahreszeit.. . 220
Pr. von Muralt: Analyse eines Grippedelirs.220
Prof. E. Kraepelin: Pie Erscheinungsformen des Irreseins . . 221
W. Mayer-Groß: Iber die Stellungnahme zur abgelaufenen
akuten Psychose (Pr. U. Vollrath, Teupitz) .221
Hans Meier- M ü Iler: Zur Psychologie der sogenannten
traumatischen Neurose (Autorreferat).222
S. Galant: Algohallucinosis (Hans Meier-Müller, Zürich) .... 225
Pr. S. Galant: Crises clitoridiennes-artige Erscheinungen bei
einem 14jährigen Knaben (Hans Meier-Müller, Zürich) .... 227
Pr. Fritz Zimmermann : Pie Rentenkampfneurose (Pr. S. Pfeifer) 228
Pr. Paul Schilder: Über Identifizierung, auf Grund der Analyse
eines Falles von Homosexualität.228
Pr. Paul S ch i 1 der: Über Gedankenentwicklung (Pr. U. Vollrath) 229
Pr. U. Vollrath: Zur Psychologie der Standesfragen. Zugleich
eine Abwehr (Pr. E. Hitschmann, Wien).230
Wilhelm Stekel: 1. Onanie und Homosexualität. 2. Pie Geschlechts¬
kälte der Frau (Pr. E. Hitschmann, Wien) . .*•.230
Druck der Gesellschaft für graphische Industrie, Abt. vorm. ÖZUPAG, Wien, III. Rüdeng. 11,
■ . ^
.. .