Skip to main content

Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse VII 1921 Heft 2"

See other formats


INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT 

PSYCHOANALYSE 

OFFIZIELLES ORGAN 

DER 

INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG 

HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DR. SIOM, FREUD 

WIEN 

UNTER MITWIRKUNG VON: 

DR. KARL ABRAHAM DR. JAN VAN EMDEN DR. S. FERENCZI 

BERLIN HAAG BUDAPEST 

DR. E. HITSCHMANN DR. ERNEST JONES DR. E. OBERHOLZER 

WIEN LONDON ZÜRICH 

REDIGIERT VO>f 

DR. OTTO RANK 

WIEN 


B 

i 

VII. JAHRGANG 19 2 1 HEFT 2 







Die 


„Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse“ 

erscheint 4mal jährlich im Gesamtumfang von 24—32 Druckbogen als 

Offizielles Organ 

der 

„Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“. 

Bezugsbedingungen: 

Es bezahlen bei direktem Bezüge: 

Mitglieder der Zweigvereinigungen den ermäßigten Jahrespreis: 

Amerika. 4 Dollar 

Deutschland. 40 Mark 

England. 1 Pfund 

Holland. 10 Gulden 

Österreich. 150 Kronen 

Schweiz. 20 Franken 

Ungarn. 120 Kronen 


Alle anderen Bezieher den Ordinärpreis: 


Amerika . . 
I leutschland 
England . . 
Holland . . 
Österreich . 
Schweiz . . 
Ungarn . . 


5 Dollar 
50 Mark _ 
25 Schillinge 
12 Gulden 
300 Kronen 
25 Franken 
250 Kronen 


Das Präsidium der 

Internationalen Psycho¬ 
analytischen Vereinigung 

in London. 


Die Leitung des 

Internationalen Psycho¬ 
analytischen Verlags £■ h! 

in Wien. 


Alle für die Redaktion der „Internationalen Zeitschrift für 
Psychoanalyse“ bestimmten Zuschriften und Sendungen sind an 

Dr. Otto Rank, Wien, I. Grünangergasse 3~5 

zu richten. 

Manuskripte sind vollkommen druckfertig einzusenden. 

Von den „Originalarbeiten“ und „Mitteilungen“ erhalten die 
Mitarbeiter je 25 Separatabzüge gratis geliefert. 


Nachdruck sämtlicher Beiträge verboten. 
Übersetzungsrecht in alle Sprachen Vorbehalten. 

Copyright 1921 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

G. m. b. H.“ 




















Originalarbeiten. 


Psychoanalyse und klinische Psychiatrie. 

Referat, erstattet am sechsten Internationalen Psychoanalytischen 
Kongreß im Haag (8. bis 11. September 1920). 

Von Ludwig Binswanger (Kreuzlingen). 

„Sie werden mir zugeben, daß im Wesen der psychiatrischen 
Arbeit nichts liegt, was sich gegen die psychoanalytische Forschung 
sträuben könnte.“ „Die Psychoanalyse verhält sich zur Psychiatrie 
etwa wie die Histologie zur Anatomie; die eine studiert die 
äußeren Formen der Organe, die andere den Aufbau derselben aus 
den Geweben und Elementarteilen. Ein Widerspruch zwischen 
diesen beiden Arten des Studiums, von denen das eine das andere 
fortsetzt, ist nicht gut denkbar“ (Vorlesungen zur Einführung 
in die Psychoanalyse. S. 286). Mit dieser Analogie will Freud 
offenbar sagen, daß der Psychiatrie die Aufgabe der äußeren 
Beschreibung ihres Materials obliegt, der Psychoanalyse 
hingegen die Aufgabe der inneren Zergliederung desselben; 
der Psychiatrie also die wissenschaftliche Feststellung des hand¬ 
greiflichen Nebeneinander (ontische oder phänomenologische 
Betrachtung), der Psychoanalyse hingegen die Aufstellung des 
Nacheinander oder Auseinander (genetische Betrachtung). Mit dieser 
Abgrenzung ihrer Aufgaben wird sich die Psychoanalyse eher 
zufriedengeben als die Psychiatrie, behauptet doch auch die letztere, 
daß ihr, wie jeder Naturwissenschaft, die Beschreibung 
nur Vorstufe, nur Hilfsmittel sei, eigentliches Ziel aber die 
Erklärung, d. h. der Einblick in den Aufbau der Geistes¬ 
krankheit, ja sogar die Einwirkung auf denselben. Wir werden 
also nicht Psychiatrie als Oberflächenbeschreibung, Psychoanalyse 
als Aufbauerklärung einfach einander gegenüberstellen können, 
sondern, da beide Forschungsgebiete von der Beschreibung zur 
Erklärung vorzudringen behaupten, müssen wir die Frage so stellen: 
Besteht einUnterschied in der wissenschaftlichen 
Erklärungsweise beider Disziplinen, und wenn ja, 
worin besteht dieser Unterschied? 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 10 

INTERNATIONAL 
Efl PSYCHOANALYTIC 
I UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 











138 


Ludwig Binswanger 


a) Klinische Psychiatrie. 

Meine Damen und Herren! Die Versuche, in den Aufbau oder, 
wie man auch gern sagt, in das Wesen der Geisteskrankheit 
einzudringen, sind uralt. Die einfachste und radikalste Lösung war 
von jeher die populäre: Die Geisteskrankheit, die so in die Augen 
springende Veränderung des menschlichen Individuums, hat nicht 
ein besonderes, nur ihr zukommendes Wesen, sondern sie ist ein 
besonderes Wesen: bei den Griechen ein Gott oder ein Dämon, 
der in den Menschen eingedrungen ist, im Mittelalter der Teufel 
und auch heute noch vielerorts irgendein böser Geist. Die wissen¬ 
schaftliche Betrachtung hat zwar mit diesen Spukgestalten 
aufgeräumt; immer jedoch sah sie in der Krankheit ein 
besonderes Sein oder Wesen, und noch in unserer Zeit mußte 
der kluge Rigaer Psychiater Tiling davor warnen, zu glauben, 
„die Krankheit dringe in den gesunden Menschen ein fast wie 
eine fremde Person. (Individuelle Geistesartung und Geistesstörung. 
Wiesbaden 1904.) Diese Verselbständigung, ja Personifizierung der 
Geisteskrankheit ist ein notwendiges Produkt der psychiatrisch¬ 
klinischen Methode. Ist es doch gerade die Aufgabe des Psychiaters, 
an seinem Untersuchungsobjekt, dem geistig erkrankten Menschen, 
alles dasjenige auszuscheiden, was von der früheren Persönlichkeit 
desselben Menschen oder von dem Durchschnittstypus des normalen 
Menschen überhaupt sich abhebt, also das Neuartige und Andersartige 
herauszugreifen und für sich allein, losgelöst von der gesunden 
Persönlichkeit, zu betrachten. Das so gewonnene Material krank¬ 
hafter Tatsachen oder Symptome verlangt nun aber, entsprechend 
dem notwendigen Gang des wissenschaftlichen Denkens, nach einer 
Zusammenfassung oder Vereinheitlichung in einen Symptomen- 
komplex, gleichsam eine Einheit erster Ordnung, die aber sogleich 
wieder zu einem Vergleich mit anderen derartigen Einheiten drängt, 
und so zu neuen Unterscheidungen und neuen Einheiten höherer 
Ordnung führt. Auf welchem Punkt wir dann haltmachen, worin 
wir die eigentliche selbständige Krankheitseinheit, das Wesen 
der Krankheit erblicken wollen, das hängt teils von der Entwicklung 
unseres methodologischen Denkens, teils und insbesondere von 
dem Stand unserer empirischen Kenntnisse ab. Für die Psychiatrie 
liegen die Verhältnisse dabei ungleich schwieriger als für irgend¬ 
eine andere Erfahrungswissenschaft, weil sie genötigt ist, dauernd 
auf dem schwanken Seil eines metaphysischen Problems, nämlich 
des Verhältnisses von Seele und Leib, einher zu balancieren und 
doch dergleichen zu tun, wie wenn dieses Problem einer empirischen 












Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


139 


Lösung- fähig wäre. Sie hat also dauernd mit einer Unbekannten 
zu rechnen und soll doch dafür sorgen, daß diese Unbekannte 
völlig aus der Rechnung verschwinde. 

In der Psychiatrie der Gegenwart sind es im wesentlichen 
drei Wege, auf denen wir zu Einheiten gelangen, welche mit 
mehr oder weniger Recht den Namen von Krankheitseinheiten 
verdienen. Den ersten Weg befolgt die naturwissenschaftliche 
Methode, und sie berücksichtigt bald mehr die körperliche, bald 
mehr die seelische Erscheinungsreihe. Das Wesen der Krankheit 
ist dann erfaßt, wenn es gelingt, die abnormen Erscheinungen so 
zusammenzufassen, daß sie einen bestimmten biologischen Vorgang 
oder Prozeß von angebbarem Beginn, Verlauf und Ausgang 
darstellen. Auf der körperlichen Seite wird sich, gemäß dem 
Grundsatz, „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“, dieser 
Prozeß als pathologisch-anatomischer Hirnrindenprozeß kundtun, wie 
wir es etwa bei der progressiven Paralyse erreicht haben. Auf der 
seelischen Seite werden wir uns umso eifriger bemühen, einen 
solchen biologischen Prozeß festzustellen, je weniger es uns gelingen 
mag, ihn in der Hirnrinde aufzuspüren. Der Krankheitsprozeß 
der schizophrenen Assoziationsstörung, der schizophrenen 
Schwächung der Assoziationsspannung (Bleuler) gehört, so 
konstruktiver und hypothetischer Natur er auch sein mag, hierher. 
Mit beiden Lösungen dieses ersten Weges entfernen wir uns ganz 
und gar von der ei’krankten Persönlichkeit, das Wesen der Krankheit 
ist außerhalb ihrer gelegen und nur auf Umwegen kehren wir zu 
ihr zurück. 

Der zweite Weg, um zum Begriff einer Krankheitseinheit zu 
gelangen, macht schon früher Halt als der erste, indem er sich 
zunächst mit den Einheiten niederster Ordnung, den sogenannten 
Symptomenverkuppelungen (Hoche) begnügt. Indem man annimmt, 
daß die in der Geisteskrankheit auftretenden abnormen Erscheinungs¬ 
gruppen in der normalen Psyche gleichsam präformiert bereitliegen, 
greift man hier zu einer psycho-biologischen Erklärungsweise. 
Das Wesen der Krankheit läge hier in einer bis jetzt nicht näher 
zu ergründenden Anlage des seelischen Organismus, gemäß welcher 
auf irgendwelche hypothetische Reize hin jene Symptomenkomplexe 
„ausgelöst“ werden. Wir haben dann den Begriff der funktionellen 
oder endogenen Geistesstörungen vor uns, also vorwiegend des 
manisch-depressiven Irreseins. Auch hier läge das Wesen der Krank¬ 
heit außerhalb der Persönlichkeit; denn seelischer Organismus und 
Persönlichkeit sind zweierlei. Die Veränderung, welche die Persönlich¬ 
keit hier erleidet, kommt nach dieser Anschauung ebenso von außen 


io* 







140 


Ludwig Binswanger 


in sie hinein wie bei den Prozeßerkrankungen. Für die geistige 
Persönlichkeit sind auch die, ihren Träger, den geistigen Organismus, 
betreffenden Vorgänge exogen. 

Nun kennt aber die neuere Psychiatrie noch einen dritten 
Weg, um zum Wesen der Krankheit zu gelangen. Hier handelt es 
sich weder um einen fortschreitenden Krankheitsprozeß, noch um 
eine von Zeit zu Zeit auftretende Auslösung präformierter Symptomen- 
komplexe, sondern um primäre Veränderungen der Persönlichkeit 
selbst. Und zwar unterscheiden wir hier zwischen vorübergehenden 
krankhaften Reaktionen der Persönlichkeit auf einzelne Erlebnisse 
und einer dauernden krankhaften Entwicklung der abnorm veran¬ 
lagten Persönlichkeit. Wir befinden uns hier auf dem großen Gebiet 
der Psychopathien, der Neurosen und der Paranoia. Jaspers hat 
sich um die begriffliche Abgrenzung dieser Zustände, Kraepelin 
um die klinische Darstellung, insbesondere hinsichtlich der Paranoia, 
die größten Verdienste erworben. Wenn Sie die heute auf diesem 
Gebiet herrschenden psychiatrischen Anschauungen mit denjenigen 
vergleichen, welche noch im ersten Dezennium unseres Jahrhunderts 
vorherrschend waren (ich verweise z. B. auf den für jene Anschauungen 
klassischen Meraner Vortrag von CI. Neisser über Individualität 
und Psychose, Berlin 1906), so wird Ihnen der Fortschritt, der sich 
hier angebahnt hat, in die Augen springen. Es ist klar, daß die 
psychoanalytische Forschungsrichtung sich mit diesem dritten Weg 
und dem Gebiet, zu dem er führt, am nächsten berührt, wiewohl 
sie in wesentlichen Punkten gerade wieder davon abweicht. 

Unter einer akuten psychopathologischen Reaktion versteht 
man einen abnormen Seelenzustand, dessen Inhalt in psychologisch 
durchsichtigem Zusammenhang mit einem Erlebnis steht, der ohne 
das betreffende Erlebnis nicht aufgetreten wäre und der auch 
in seinem Verlauf von dem Erlebnis abhängig ist (Jaspers). 
Die an sich folgerichtige Entwicklung einer abnorm veranlagten 
Persönlichkeit stellt gleichsam die chronische Verlaufsform dieser 
Reaktion dar. Systematische Anwendung fand diese Betrachtungs¬ 
weise in der Psychiatrie zuerst auf dem Gebiete der Haftpsychosen 
(„Ganser“), nachdem sie vorher auch schon beidenFuguezuständen u.ä. 
herangezogen worden war, um sich dann auf die großen Gebiete 
der nicht somatisch bedingten traumatischen Neurosen, der Renten¬ 
neurosen, der Katastrophen- und Schreckpsychosen, der hysterischen 
Reaktionen und vor allem auch der chronischen Paranoia auszu¬ 
dehnen. Hinsichtlich der letzteren nähert man sich bereits der 
Auffassung, daß sie „nichts als eine krankhafte Reaktion eines 
Psychopathen auf gewisse unangenehme Umstände sei“ (Bleuler). 

















Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


141 


Fassen wir alle diese Reaktionen unter dem summarischen Titel der 
Zweck- oder Wunschpsychosen zusammen, so finden wir sogleich den 
Faden, an Hand dessen hier die Bildung klinischer Einheiten erfolgt: 
es ist die Art und Weise, w i e die Persönlichkeit bestimmte 
Erlebnisse ihres historischen Werdegangs psychologisch verarbeitet, 
was sie aus ihnen macht, wie sie sie in das Ganze ihres 
Wesens aufnimmt usw. Hier herrscht die rein psychologische 
Betrachtungsweise. An Stelle deskriptiv- oder konstruktiv-natur¬ 
wissenschaftlicher und psychobiologischer Begriffe treten jetzt 
solche, die nur durch Einfühlung oder psychologisches 
Verstehen gewonnen sind. Immerhin sucht man auch hier einen 
begriftlichen Unterbau zu konstruieren, aus dem man jene 
persönlichen Reaktionen erklären zu können glaubt. Dieser Unterbau 
ist der Charakter. 

Vor zwei Jahren ist von einem rührigen jungen Forscher, 
Kretschmer, ein Buch erschienen, welches in der Welt der 
klinischen Psychiatrie ein gewisses Aufsehen hervorgerufen hat: 
Der sensitive Beziehungswahn, ein Beitrag zur Paranoiafrage und 
zur psychiatrischen Charakterlehre (Berlin 1918). Nach den 
charakterologischen Versuchen von Klag es, die sich, etwa 
abgesehen von Hysterie und Manie-Melancholie, nicht direkt auf 
die klinische Psychiatrie bezogen, haben wir hier den ersten Versuch 
einer Charakterologie vor uns, welcher den Anspruch erhebt, für 
die klinische Psychiatrie maßgebend und wegleitend zu sein. 

Unter Charakter wird hier verstanden „das aus der Gesamt¬ 
summe der gemütlichen und willensmäßigen Reaktionen einer 
Persönlichkeit auf ihre fortlaufenden Erlebnisse abgezogene 
Durchschnittsbild derselben, wobei zeitlich sich bewe¬ 
gende Vorgänge zu m ater iell f eststehenden ,Eigen¬ 
schaften’ umgestempelt werden“ (S. 9). Unter Erlebnis 
andererseits wird „die affektfähige Empfindung oder Vorstellungs¬ 
gruppe“ verstanden, deren „Durchgang durch die Seele von 
Anfang bis zu Ende“ es zu verfolgen gilt. Auf dem Wege dieser 
Verfolgung müsse es gelingen, sämtliche Eigenschaften, d. h. die 
Reaktionsmöglichkeiten eines Charakters, wissenschaftlich klar 
geordnet zu erfassen. Die Gesamtleistungsfähigkeit des Charakters 
ist eine dynamische Größe, nämlich die Summe der psychischen 
Gesamtenergie oder psychischen Kraft eines Individuums. Nur 
darf diese Kraft (der Charakter) nicht als eine Größe für sich 
angesehen werden, sondern sie ist konsequent in ihrer lebendigen 
Beziehung auf das Erlebnis zu betrachten. Auf Grund dieser 
Seelenphysik werden dann die vier Grundfähigkeiten des Charakters 








142 


Ludwig Binswanger 


herausgehoben, nämlich Eindrucks- und Retentionsfähigkeit, intra¬ 
psychische Aktivität und Leitungsfähigkeit. Sie sehen, wir haben 
hier ein Schema vor uns, das dem dynamischen Schema Freuds 
und der Bleuler- Jung sehen Komplexlehre sehr ähnlich ist. 
Auch hier ist die Rede von verhaltener oder sich um die affekt¬ 
starke Gruppe „stauender“ psychischer Energie, „die nun als ein 
bewußt empfundener quälender Fremdkörper ohne Anschluß im 
Bewußtsein liegt“ (S. 21). 

Auf Grund dieser Seelenphysik unternimmt es dann 
Kretschmer, das Bild seines sensitiven Beziehungswahns zu 
zeichnen, in welchem er eine besondere Gruppe der Paranoiker, 
die sensitiven oder Gewissensparanoiker zusammenfaßt und den 
Gruppen der Wunsch- und Kampfparanoiker gegenüberstellt. Der 
sensitive Beziehungswahn ist „gesetzmäßig durch den sensitiven 
Charakter bedingt“, dessen physikalische Konstruktion ich Ihnen 
aber ersparen möchte. Rein deskriptiv handelt es sich um Charak¬ 
tere von überzartem, verinnerlichtem Gemütsleben, großer seelischer 
Verwundbarkeit und Schüchternheit, von tiefempfundenem Altruis¬ 
mus, skrupulöser Ethik, von verfeinerter Selbstbeobachtung und 
Selbstkritik, großem Liebes- und Vertrauensbedürfnis, zugleich 
aber von selbstbewußtem Ehrgeiz und Eigensinn, nachhaltigen 
gespannten Affekten und von ausgesprochener sozialer Tüchtigkeit. 
Vom Zwangsneurotiker, an den jeder bei dieser Schilderung denkt, 
soll diesen sogenannten Beziehungsneurotiker das Fehlen der 
„besonderen Kleinlichkeit und Pedanterie“ unterscheiden, ein Beispiel, 
auf was für geringfügige differentialdiagnostische Merkmale eine 
jede Charakterologie schließlich hinauslaufen muß. Die Erlebnis¬ 
wirkung nun, die zum sensitiven Beziehungswahn führt, beruht 
auf dem für den sensitiven Charakter bezeichnenden Mechanismus 
der Verhaltung oder Retention mit folgender Inversion. Unter 
Retention wird die Erhaltung affektbetonter Vorstellungen inner¬ 
halb des Seelenlebens, d. h. die Verhinderung des sofortigen 
Wiederaustrittes des Eindruckes in Form einer äußeren Reaktion 
und seine Festhaltung als lebendigen Faktors innerhalb des 
Seelenlebens verstanden oder kürzer: die bewußte Verhaltung 
affektstarker Vorstellungsgruppen bei lebendiger intrapsychischer 
Aktivität und) mangelnder Leitungsfahigkeit. Unter Inversion 
aber versteht der Verfasser „den unwillkürlichen oder reflek¬ 
torischen Umschlag des primären Ei'lebnisinhaltes in eine sekun¬ 
däre krankhafte und scheinbar fremdartige Vorstellungsgruppe, 
die von nun an einen von jenem getrennten, selbständigen 
seelischen Mechanismus darstellt“. Es handelt sich also bei der 








Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 14d 

Inversion tun den Vorgang der symbolisch anschaulichen Dar¬ 
stellung des in seinem Erlebniswert durchaus intakten Primär- 
erh bnisses auf dem Wege der assoziativen Verbindung mit einem 
Alltagserlebnis, also um eine jener „Entdeckungen“, die zu den 
Grundpfeilern der psychoanalytischen Lehre gehören. Daß jener 
Umschlag aber „reflektorisch“ erfolgen soll, ist neu. Ob diese 
Verschiebung des Problems ins Pseudophysiologische einen Fort¬ 
schritt bedeutet oder nicht, hängt lediglich vom methodologischen 
Standpunkte des Beurteilers ab. Ich selbst erblicke darin keinen 
Gewinn. Was im übrigen das krankheitserzeugende Primär¬ 
erlebnis angeht, so handelt es sich hier regelmäßig um das 
Erlebnis der beschämenden Insuffizienz, der ethischen Niederlage 
mit dem Verlust der Selbstachtung, etwa um die beschämende 
Einsicht in heftige erotische Gefühle bei alternden Mädchen, 
Vorwürfe über Masturbation, Scheitern im Kampf um das beruf¬ 
liche Ideal oder die berufliche Ehre usw. Außer dieser rein 
psychischen Ätiologie kommen nun aber wieder biologische 
Faktoren zu Ehren, die wir, nicht zum Schaden der psychiatrischen 
Diagnostik, immer mehr hatten verschwinden sehen: erbliche 
Belastung und Erschöpfung. Trotzdem wird das Erlebnis als 
krankheitserzeugend, nicht bloß als inhaltgebend betrachtet, wie es 
in der psychoanalytischen Schule der Fall sei. „Die psychologische 
Wechselwirkung zwischen Charakter und Erlebnis stellt vielmehr 
beim sensitiven Beziehungswahn die wesentliche Krankheits¬ 
ursache dar“ (S. 127). Auf die sehr reichhaltige Symptomatik 
dieses Wahns brauche ich hier nicht einzugehen. 

Es wird Sie nun interessieren, zu vernehmen, welche Stellung 
der Autor zu Freud einnimmt. „Man kann,“ sagt er, „Freud 
als Theoretiker und Therapeuten grundsätzlich entschieden 
ablehnen und doch dem in der psychoanalytischen Literatur nieder¬ 
gelegten Tatsachenmaterial etwas mehr gerecht werden, als es 
bisher vonseiten der herrschenden psychiatrischen Schulen, zum 
Schaden der wissenschaftlichen Erkenntnis, geschehen ist.“ (S. 25.) 
Von seinen charakterologischen Gedankengängen meint er, daß 
sie mit der psychoanalytischen Literatur nicht nur keine näheren 
Berührungspunkte hätten, sondern vielfach in Gegensatz dazu 
ständen. Im übrigen seien „dieHineindeutung psychologischer 
Zusammenhänge in den Vorstellungsinhalt eines paranoischen 
Prozesses, der als solcher biologisch gegeben ist und zu seiner 
Entstehung psychologischer Ursachen nicht bedarf, und die 
einfache Darlegung der vom Patienten gegebenen Entwick¬ 
lungsfäden einer psychopathischen Reaktion... 







144 


Ludwig Binswanger 

grundsätzlich und absolut verschiedene Dinge. Dort kann im Ernst 
niemals die Entstehung der Krankheit selbst, sondern bestenfalls 
innerhalb der schon gegebenen Psychose die formale Genese 
ihres Inhaltes erklärt werden; hier aber handelt es sich um den 
Kausalzusammenhang der Psychose als solcher“ (S. 128). Hiezu 
sei bemerkt, daß die Hineindeutung psychologischer Zusammen¬ 
hänge und die Darlegung selbstbeobachteter Entwicklungsfäden 
sich wohl begrifflich, aber niemals sachlich rein trennen lassen, 
da eines in das andere unmerklich hineinspielt, während es 
andererseits durchaus richtig ist, paranoischen Prozeß und psycho¬ 
pathische Reaktion grundsätzlich zu trennen; jedoch tut sich uns 
schon hier die prinzipielle Kluft auf zwischen der klinischen 
Grundanschauung der Psychoanalyse und derjenigen der 
Psychiatrie: Während die Psychiatrie bei der Prozeßerkrankung 
allen und jeden klinischen Wert auf den biologischen Prozeß 
legt, die formale Genese des Inhaltes aber nur nebenbei als 
„epidemische“ Spielerei bewertet, bei den seelisch-reaktiven 
Psychosen hingegen den gesetzmäßigen Zusammenhang ganz und 
gar ins Psychische verlegt, biologische Faktoren aber nur als 
konkommittierend betrachtet, berücksichtigt die Psychoanalyse, 
wie wir alsbald sehen werden, beide Erklärungsweisen prinzipiell 
anders, indem sie sie keineswegs derart akademisch trennt, 
sondern in dem lebendigen Ganzen ihrer Lehre von der seelischen 
Krankheit aufgehen läßt. 

Meine Damen und Hei’ren! Ich bin hier etwas ausführlicher 
geworden, weil uns die Besprechung des Kretschme rschen Buches 
später der Mühe überheben wird, die für die Psychoanalyse so 
wichtige Frage ihrer Stellung zur Charakterologie im einzelnen zü 
behandeln. Ferner aber um Ihnen zu zeigen, wie weit man sich in 
der Psychiatrie der Gegenwart auf dem Gebiet der Psychogenie 
vorwagt und wo man halt macht. Wir dürfen die sehr gut 
geschriebene, systematisch sehr gründlich ausgearbeitete, von 
völliger klinischer Sachkenntnis zeugende Arbeit vielleicht als 
symptomatisch für die Ansprüche der jüngsten Psychiatergeneration 
auffassen, wenn wir ihren Erfolg in Betracht ziehen. Auch die 
Stellung, die der Autor gegenüber dem Tatsachenmaterial der 
psychoanalytischen Forschungsrichtung einnimmt, mag von 
allgemeiner Bedeutung sein. Jedenfalls ist sie ein Fortschritt 
gegenüber jener Zeit, wo der klinische Psychiater noch „auf die 
Verkehrtheit des letzten Zieles all dieser Erkenntnisbestrebungen“ 
hinweisen zu müssen glaubte (Isserlin, 1910). Wenn wir diese 
Studie trotzdem unbefriedigt aus der Hand legen, so liegt dies, 








145 


Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 

abgesehen von klinischen Aussetzungen (ungenügende Abgrenzung 
von der Schizophrenie, also der psychopathologischen Proze߬ 
psychose par excellence und von der Zwangsneurose), insbesondere 
an methodologischen Bedenken. Vorausgeschickt sei nur noch die 
Krage, ob hier wirklich keine näheren Beziehungen zur Psycho¬ 
analyse existieren, worauf ich nur mit der Gegenfrage antworten 
möchte, ob jemand zu glauben vermag, daß diese ganze Charakter¬ 
physik, Affektdynamik und Lehre von der Inversion ohne die 
immense Arbeit der Wiener und Zürcher Schule überhaupt 
mOglich gewesen wäre, ja ob sie nicht überhaupt nur ein streng 
systematischer Ausbau der betreffenden Lehren dieser Schulen ist. 
Die Gegensätze liegen, wie wir gleich sehen werden, nicht innerhalb 
der Charakterphysik selbst, sondern in der Stellung, die diese im 
Ganzen der psychiatrisch-klinischen Anschauungen .dort, des 
psychoanalytischen Systems hier, einnimmt. 

Hinsichtlich der „Charakterphysik“ an und für sich ist nun 
zu sagen, daß für sie dieselben Einwände gelten, die seit dem 
Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Lehre von den seelischen 
Vermögen erhoben werden. Wie Kretschmer eingangs selbst 
hervorhebt, ist der Charakter lediglich ein Durchschnittsbild, 
sind die regelmäßig wiederkehrenden Eigenschaften 
lediglich umgestempelte und fixierte, regelmäßig wiederkehrende 
zeitliche Vorgänge. Der Charakterbegriff ist also nichts anderes 
als ein Typusbegriff, ein allgemeiner oder Gattungsbegriff, die 
Eigenschaft oder Fähigkeit nichts anderes als die objektivierte 
Regelmäßigkeit psychischer Vorgänge. Solange es sich nur um 
Beschreibung, um Inventarisierung des Tatsachenmaterials handelt, 
sind solche Begriffe unentbehrlich; sie werden aber zu Fallstricken 
und führen zu Tautologien, wenn sie zum Zwecke der Erklärung, 
und gar der kausalen Gesetzmäßigkeit, dienen sollen. Es führt zu 
keinerlei Erweiterung und Vermehrung unserer Erkenntnis, wenn 
man als Ursache von einander ähnlichen Vorgängen den 
Gattungsbegriff dieser Vorgänge verselbständigt und ihm ein 
eigenes Wesen hypostasiert, indem man ihm den für das 
nie meßbare Seelische gänzlich „leeren Titel“ Kraft oder Vermögen 
anhängt l . Daran ändert auch der biologische Mantel nichts, den 

1 „Man hat aber schon längst eingesehen, daß die gemeinüblichen 
Erklärungen gewisser Veränderungen und Tatsachen aus besonderen Ursachen 
und Vermögen derselben im Grunde nichts weiter ausmachen, als eine bloße 
Wiederholung der Erscheinung und der Tatsache selbst, deren Eigenschaften 
man erst begreiflich machen will, mit der Hinzufügung des Wortes Kraft 
oder Vermögen“ (Schulze, Aenesidemus, 1792, S. 106). 









146 


Ludwig Binswanger 


Kretschmer seinem sensitiven Beziehungswahn umhängt, da 
die biologischen Ursachen der Erschöpfung und Entartung nur als 
konkommittierende Begleiterscheinungen zu denken sind neben 
der wesentlichen Krankheitsursache, der psychologischen 
Wechselwirkung zwischen Charakter und Erlebnis. Vor allem 
aber: wenn man den an sich sehr interessanten und lehrreichen 
Versuch wagt, durch die sehr verschiedenartigen Zustandsbilder 
der Beziehungsneurose, der sprunghaften Wahnbildung, des akuten 
und systematisierten Wahnsinns hindurch, eine Krankheitseinheit, 
das Wesen „sensitiver Wahn“, festzustellen, bedarf es, um zu 
einer halbwegs befriedigenden Lösung zu gelangen, eines einheit¬ 
lichen, leicht demonstrierbaren Substrats, auf das alle jene 
wechselnden Zustände zurückzubeziehen sind. In dem sensitiven 
Charakter aber ein solches Substrat zu sehen, vermögen wir nach 
den vorigen Ausführungen nicht. Es mag sein, daß das eine oder 
andere Bild, das der Autor uns vorführt, sich eine selbständige 
Geltung innerhalb der Paranoia zu erringen vermag; die Gesamtheit 
all dieser Bilder aber von der leichtesten Zwangsneurose bis zum 
physikalischen Verfolgungswahn unter einen Hut zu bringen, 
diesen Versuch müssen wir als gescheitert betrachten, wenn 
jener Hut durch die Konstruktion eines Charaktertypus’ 
repräsentiert wird 1 . 

Meine Damen und Herren! Die Anknüpfungspunkte sind nun 
bezeichnet, von denen aus wir das Verhältnis der Psychoanalyse zur 
Psychiatrie ganz im Groben darstellen können. Zunächst sei aber noch 
darauf hingewiesen, daß die d r e i Wege, auf denen wir in der Psychiatrie 
zu Krankheitsbegriffen gelangen, — daß es einen einheitlichen 
Krankheitsbegriff hier nicht gibt, haben Sie gesehen — daß diese 
drei Wege keineswegs immer getrennt nebeneinander herlaufen. 
Daß es zum Beispiel einen guten Sinn hat, bei Prozeßerkrankungen, 
insbesondere bei psychopathologischen Prozessen, noch nach der 
Art und Weise von Reaktionen der Persönlichkeit zu fragen, 
wissen Sie von der Schizophrenie her. So unterscheidet Bleuler 
bekanntlich die „direkt dem Krankheitsprozeß entspringenden 
Symptome“ von den sekundären, „erst durch die Reaktion der 
kranken Psyche“ entstehenden, und sein epochemachendes Buch 

1 Kretschmer hat den rigoros-dogmatischen Standpunkt, den er in 
der Schrift über den sensiblen Beziehungswahn eingenommen, seither auf¬ 
gegeben. Vgl. Gedanken über die Fortentwicklung der psychiatrischen 
Systematik. Ztsch. f. d. ges. Neurol. und Psychiatr. 48,1919, und Die psycho- 
patholog. Forschung und ihr Verhältnis zur heutigen klin. Psychiatrie. 
Ebd. 57, 1920. 









Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


147 


über die Schizophrenien setzt ja diese Unterscheidung mit dem 
Rüstzeug der psychoanalytischen Forschungsmethode über das 
ganze große Gebiet hin durch. Es soll damit nur noch einmal daran 
erinnert werden, was dem Psychoanalytiker übrigens selbstverständlich 
ist, daß die Forschung nach psychologischen Zusammenhängen, 
nach psychischen Reaktionen und Entwicklungen (im weiteren, 
nicht rein-klinischen Sinne!) natürlich auch da ihren Sinn und 
ihre Berechtigung hat, wo das psychische Geschehen formal durch 
einen Krankheitsprozeß alteriert ist. Für die Diagnostik resultiert 
daraus, daß neben der Prozeßdiagnose sehr gut eine Persön¬ 
lichkeit*- oder Charakterdiagnose einhergehen kann. Im Prinzip 
hindert nichts daran, auch bei einem Paralytiker Komplex- 
forscliungen anzustellen, solange seine Psyche überhaupt noch 
„reagiert“. 

b) Psychoanalyse. 

Wir haben gesehen, daß die Psychiatrie sich auf den beiden 
ersten Wegen zur Bildung des Krankheitsbegriffes von der einheitlichen 
Persönlichkeit weit entfernt, aber zu wohl umrissenen Krankheits¬ 
bildern gelangt, der Paralyse etwa, den Schizophrenien, dem 
manisch-depressiven Irresein, daß sie hingegen auf dem dritten 
Weg bestrebt ist, die Persönlichkeit zu erhalten, gerade sie in 
den Krankheitsbegriff aufzunehmen, wobei sie aber noch kein 
klinisch befriedigendes Resultat erreicht hat. Das gilt auch für die 
so schönen Ansätze Tilings. 

Die Psychoanalyse hingegen, womit ich lediglich diedurchFreud 
angebahnte und ausgebaute Forschungsrichtung kurz bezeichne, geht 
ausschließlich von der Persönlichkeit aus, verliert das Ganze der Persön¬ 
lichkeit nie aus dem Auge, betrachtet die Krankheit nicht wie einen 
fremden Eindringling, sondern wie ein in kontinuierlichem Fluß 
befindliches Stück der lebendigen Persönlichkeit selbst. Wir dürfen nicht 
vergessen, sagt Freud, „daß die Krankheit nichts Abgeschlossenes, 
Erstarrtes ist, sondern weiter wächst und ihre Entwicklung fortsetzt 
wie ein lebendes Wesen“ (Vorlesungen S. 520)'.Mit dieser Auffassung 
der Krankheit bleibt der Krankheitsbegriff zwar in großer 
Wirklichkeits- und Lebensnähe, aber umso schwerer ist er nach 
Umfang und Inhalt darzustellen; denn wenn wir das Leben in 

1 Es ist noch viel zu wenig betont worden, wie nahe sich Freuds 
Betrachtungsweise des gesunden und kranken Seelenlebens mit den Betrach¬ 
tungsweisen der modernen „Philosophen des Lebens“ berührt, zum Beispiel 
Simmels und vor allem Bergsons. (Vgl. z. B. „Le sentiment lul-meme 
est un ütre qui vit, qui se däveloppe, qui change par consequent sans 
cesse . . . .“ Essai sur les Donnöes immediates de la Conscience, p. 100.) 









148 


Ludwig Binswanger 


Begriffe aufnehmen wollen, erstarrt uns entweder das Leben im 
Begriff oder zerfließt uns der Begriff im Leben. So viel man auch 
über die „Konstruktionen“ Freuds abgeurteilt hat, ihre enge 
Berührung mit dem Leben, mit der anschaulichen Mannig¬ 
faltigkeit desselben kann nur der beurteilen, dem jenes Anschauungs¬ 
material mühelos aus der Erfahrung zufließt. 

Fassen wir den Weg der psychoanalytischen Forschung, 
soweit sie für die Psychiatrie in Frage kommt, näher ins Auge, 
so steht am Eingang also das Bild der Persönlichkeit. Wie wir zu 
diesem Bild gelangen, durch Intuition im Sinne Bergsons, durch 
reine Wesensschau im Sinne Husserls oder durch eine 
transzendentale oder Vernunftidee im Sinne Kants, das können 
wir hier, wo wir von dem fertigen empirischen Bild der Person 
ausgehen, unerörtert lassen. Wir nehmen an, die individuelle 
Persönlichkeit stehe vor uns in ihrer äußeren Gestalt, ihrem 
historischen Werdegang, ihren Schicksalen, Leiden und Freuden, 
Erinnerungen, Befürchtungen, Wünschen und Zielen. Wir gehen völlig 
auf in der Einheit dieses Wesens, in seiner Intuition oder in seiner 
„Idee“. Nun erst beginnt die begriffliche Analyse, die begriffliche Sektion 
dieser Persönlichkeit. In der Schulpsychologie seit Mendelssohn, 
Tetens, Kant zerschneidet gleich der erste Schnitt die Persön¬ 
lichkeit in drei Teile: in die Funktionen des Denkens, Fühlens, 
Wollens, aus denen wir die lebendige Einheit der Persönlichkeit, 
die mehr ist als eine Summe von Funktionen, nie wieder herstellen 
können. Anders in der Psychoanalyse. Sie teilt die Persönlichkeit 
nicht in Funktionen oder irgendwie geartete Gattungen psychischen 
Geschehens, sondern dringt unter völliger Wahrung ihrer Einheit 
in ihre inneren Wesensbestandteile ein. Als ersten, gleichsam 
auf der Hand liegenden Wesenszug der Persönlichkeit hebt sie das 
heraus, was wir mit einem möglichst unpräjudizierlichen Ausdruck 
den innerenWiderspruch der Persönlichkeit oder, intransitiv 
gewendet, die innere Widersprochenheit des seelischen 
Erlebens nennen können. Sie findet rasch, daß diese innere Wider¬ 
sprochenheit daher rührt, daß die Persönlichkeit nicht nur passiv 
erlebt, nicht nur Erlebnisse „hat“, sondern auch intentional auf sie 
gerichtet ist, sich aktiv zu ihnen stellt, sie beurteilt und wertet, 
sie auszeichnet oder verwirft. Was ihr dabei als Wert, Norm oder 
Maßstab dient, kann uns hier, wo wir hauptsächlich nach der 
Methode der psychoanalytischen Forschung, weniger nach ihrem 
sachlichen Gehalt fragen, gleichgültig sein. Wichtig ist nur, daß 
die Persönlichkeit in der Psychoanalyse zu allererst als wertendes 
Wesen aufgefaßt wird. Im Vordergrund der Menschenbetrachtung 








149 


Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 

Freuds steht keineswegs der Mensch als ein von der Wirklichkeit 
bloß Reize empfangender, sie erkennend bloß abbildender un 
motorisch auf sie reagierender Automat, sondern als ein nach Normen 
oder Werten urteilendes geistiges Wesen. Wie der Mensch die 
Welt wertet und als einen Teil der Welt sich selbst, das ist die 
<Grundfrage der Psychoanalyse. Dafür hat sie den terminus technicus: 
nPsyc hischerKonflikt“. Wie der Mensch im Gewissens¬ 
konflikt. (in der allerweitesten Bedeutung dieses Wortes) sich dreht 
und wendet, wie er vor sich, Gott und der Welt „rein“, wertvoll 
oder normgerecht dastehen will und doch immer wieder seiner 
„Unreinheit“. Wertlosigkeit oder Normwidrigkeit gewahr wird, wie 
er Gott, sich selbst und die Welt betrügt, um wenigstens das 
Phantom der Reinheit zu erhaschen, das und nichts anderes ist 
das Grundthema der Psychoanalyse. 

Auf Grund der Widersprochenheit der Erlebnisse gelangen 
wir zu zwei Aspekten der Persönlichkeit, zur Persönlichkeit als 
die Norm, den Wert vertretende „Instanz“ und zur Persönlichkeit 
als die Norm verwerfende „Instanz“. Beide Ausdrücke bezeichnen 
natürlich zunächst nur Verselbständigungen oder Personifikationen 
des Inbegriffs der normgemäßen und der normwidrigen Erlebnis¬ 
tendenzen der Persönlichkeit. 

Als zweiten inneren Wesensbestandteil der Persönlichkeit, 
der aber mit dem ersten aufs engste zusammenhängt, finden wir die 
Ungleichartigkeit hinsichtlich der Beherrschung 
ihres eigenen Erlebnisschatzes durch das auf¬ 
fassende Bewußtsein, passiv und bildlich gewendet, die 
ungleichmäßige Entfernung oder Zugänglichkeit der Erlebnisse 
vom Zentrum der bewußten Persönlichkeit aus. Das Bild, das die 
Psychoanalyse vom einzelnen Individuum bekommt, färbt sich also 
erstens nach der Art und Tiefe des die Person durchziehenden 
Widerspruchs, zweitens nach der Art und Tiefe der von der 
Persönlichkeit aufgebrachten Durchdringung ihrer Erlebnisse mit 
dem auffassenden oder intentionalen Bewußtsein. 

Den dritten und zentralsten Wesensbestandteil der 
Persönlichkeit endlich erblickt die Psychoanalyse in dem Verhältnis 
zwischen dem ersten und zweiten. Daß ein bestimmtes Verhältnis 
existiert zwischen dem Werterleben, insbesondere dem Selbst¬ 
werterleben und der Durchdringung des Erlebens mit Bewußtsein 
(oder seiner bewußten Beherrschung seitens der Persönlichkeit), 
dies ist die Grundüberzeugung der psychoanalytischen Schule. Und 
das Bild der einzelnen Persönlichkeit konstituiert sich wiederum 
wesentlich nach der Art dieses Verhältnisses. 







150 


Ludwig Binswanger 


Derjenige Begriff, in dem diese drei Wesensmerkmale der 
Persönlichkeit Zusammentreffen, ist der Begriff der Verdrängung. 
Er meint zunächst nichts anderes als einen empirisch-phänomeno¬ 
logischen Tatbestand im Seelenleben der Persönlichkeit auf Grund 
jener Bestandteile. An diesen Tatbestand knüpft sich dann all das, 
was wir als Entstellung und Wiederkehr des Verdrängten, 
als seelische Kompromißerscheinungen usw. kennen, und was uns 
das Bild der gesunden und kranken Persönlichkeit immer mehr 
von der inhaltlichen Seite her vervollständigt. Je tiefer wir hier 
dringen, je zahlreichere und feinere Wesensbestandteile wir dann 
noch aufdecken mögen, nirgends stoßen wir auf etwas anderes 
als auf die Persönlichkeit selbst, auf ihr Wesen und Walten. Die 
systematische Vertiefung und Durchdringung der Persönlichkeit 
durch wohl abgrenzbare und begriffliche Merkmale, die hierdurch 
ermöglichte Aufdeckung und Verfolgung seelischer Tatbestände 
durch alle ihre wechselvollen Schicksale hindurch, mit einem Wort: 
die Besitzergreifung der Persönlichkeit durch das 
begriffliche Denken, hierin erblicke ich den Hauptimpuls, 
den die Wissenschaft vom Menschen als Individuum durch Freud 
erhalten hat. 

Nun wissen wir aber, meine Damen und Herren, daß das, 
was ich Ihnen soeben in möglichst allgemeiner und freier Form 
vorgetragen habe, nur einen Teil des Gebietes und der Energie des 
Freud sehen Denkens und Forschens ausmacht. Freud selbst 
bezeichnet diesen ersten Teil seiner Lehre als die „deskriptive 
Darstellung“, von der er stets bestrebt ist, zu einer „dynamischen 
Auffassung“ weiterzuschreiten; mit anderen Worten, er tendiert 
immer zur Einordnung der beschriebenen seelischen Tatbestände in 
einen supponierten Kräftezusammenhang, welch letzterer wieder von 
der Konstruktion eines seelischen Apparates getragen wird. Wir stehen 
jetzt vor Freuds „Seelenphysik“, wo die Person, ähnlich wie in den 
„Grundtatsachen des Seelenlebens“ von Lipps, in ein Kräftereservoir 
verwandelt wird und die quantitative Betrachtung, welche für das 
rein Seelische ja immer nur darstellerischen und Gleichniswert 
haben kann, die inhaltliche Betrachtung verdrängt. Dies geschieht 
zum Schaden der Persönlichkeitspsychologie, die umso größeren 
Gewinn davonträgt, je reiner sie durchgeführt wird, zum Nutzen 
der Psychiatrie, die, da sie mehr ist als Psychologie, auf das 
quantitative Moment nicht verzichten kann. Das Schicksal der 
Persönlichkeit ist jetzt nicht mehr bestimmt durch das Was 
ihres Erlebens, also durch das rein Psychologische, das immer 
nur qualitativen Charakter hat, sondern durch das Maß ihres 









151 



Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 

Erlebens, d. h. durch die ihr zur Verfügung stehende Summe 
seelischer Energie. Das Steigen und Fallen des Manometers an 
diesem Reservoir, die Verteilung ferner der Energiemengen in den 
verschiedenen kommunizierenden Röhren des seelischen Apparates, 
das Zurückfluten, Sichaufstauen, die Beweglichkeit, Verschieb¬ 
barkeit usw. der Energiebesetzungen, dies entscheidet jetzt über 
das Schicksal der Person. 

Wir bedürfen nun nicht mehr des auf intuitivem, rein 
phänomenologischem oder transzendentalem Wege gewonnenen 
Hildes der seelischen Persönlichkeit, sondern all jener Begriffe, bei 
denen der Naturwissenschaftler sich erst wieder wohl fühlt und 
von denen er glaubt, daß sie das Requisit des wissenschaftlichen 
Begriffssystems überhaupt ausmachen. Der Ausgang des Seelen¬ 
konti ikts eines Hamlet oder Ödipus, einer Antigone oder Lady 
Macbet h droht sich jetzt umzugestalten und zu reduzieren auf die 
Frage, wo, d. h. in welchen Kanalsystemen ihres Energiereservoirs, 
u ml wann das in Unordnung gebrachte Kräftegleichgewicht wieder 
hergestellt sein werde. Ich sage ausdrücklich „droht“, denn nur 
krassem Unverstand mag es gelingen, Freuds Seelenphysik, 
losgelöst, von seiner Psychologie, als selbständiges wissenschaftliches 
Gebäude zu betrachten. Wie nahe die quantitative und qualitative 
Betrachtung des Seelenlebens bei Freud innerlich Zusammen¬ 
hängen, mag im Vorbeigehen ein Blick auf den Begriff des 
Unbewußten lehren, womit einerseits ein deskriptiv-phänomeno¬ 
logischer Tatbestand, ein Phänomen, wie Freud sagt, andererseits 
ein bestimmtes „System“ im seelischen Apparat gemeint ist. 
Dieses System ist aber nicht nur eine bestimmte „Lokalität“, ein 
topisch bestimmter Ort im Seelenapparat, wo die Energiebesetzungen 
und -Umsetzungen quantitativ anders verlaufen als in der Örtlichkeit 
des Bewußten, sondern diese ganze sich an Fechner anlehnende 
Hilfskonstruktion oder Fiktion dient ja doch nur dazu, dem 
qualitativ anderen Geschehen, das wir mit dem Titel „das 
Unbewußte“ bezeichnen, faßlichen Ausdruck zu verleihen. Auf die 
enormen qualitativen Unterschiede desjenigen seelischen Geschehens 
aufmerksam gemacht zu haben, das sich als Widersprochenes 
unter dauernder Ablehnung und entsprechend anderer Beleuchtung 
innerhalb der Persönlichkeit abspielt, darin erblicke ich den zweiten 
Ruhmestitel der Freudschen Forschung. Der große Unterschied 
zwischen der „Seelenphysik“ Freuds und derjenigen der großen 
Systeme der Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts — 
Descartes’, Hobbes’, Spinozas, Leibnizens — besteht 
darin, daß diese Systeme aus vorwiegend metaphysischen und 








152 


Ludwig Binswanger 


methodologischen Gründen ganz allgemein dem Prinzip der 
Kausalgesetzlichkeit, insbesondere der mechanischen Kausalität, 
des Reflexmechanismus usw. auch auf dem Gebiete des Seelenlebens 
Geltung zu verschaffen suchten, während Freuds Seelenmechanik 
und seelische Strukturierung nur zur Verdeutlichung und Fixierung 
der Fülle des empirischen psychologischen Materials 
dient und nur daher seine Existenzberechtigung nimmt. Von 
Kretschmers Charakterphysik andererseits unterscheidet 
sie sich durch eine grundsätzliche sachliche Verschiedenheit, die 
uns sogleich auf das dritte Gebiet des Freud sehen Denkens 
führen wird. 

Meine Damen und Herren! Die Kräfte, die den Charakterapparat 
bei Kretschmer in Bewegung setzen und die Bewegung unter¬ 
halten, sind eben die Charakterkräfte, d. h. mit dem Kraftmerkmal 
versehene Charaktereigenschaften, also seelische Daten. Die Kräfte 
des Freudschen Seelenapparates haben eine ganz andere 
Provenienz. Sie entstammen einer Quelle, die tatsächlich Kräfte 
spendet, nämlich dem biologischen Organismus. Indem Freud 
entsprechend seiner ganzen wissenschaftlichen Vergangenheit und 
Denkrichtung von Anfang an den Zusammenhang des Seelenlebens 
mit dem biologischen Geschehen betont hat, hat er der reinen 
Persönlichkeitsforschung oder Psychologie, die keine Verquickung 
mit irgendeiner anderen Disziplin, insbesondere einer naturwissen¬ 
schaftlichen, verträgt, zwar Eintrag getan, der psychiatrischen 
Verwertbarkeit seiner Lehre aber Vorschub geleistet. Der Psychiatrie, 
die es mit dem gesamten, seelisch-körperlichen Wesen zu tun hat, 
ist mit Persönlichkeitsforschung allein, auch wenn sie sich 
physikalisch drapiert, nicht gedient; sie ist, wie eingangs betont, 
auf eine Forschungsmethode angewiesen, die das metaphysische 
Problem Seele und Leib irgendwie gleich dem gordischen Knoten 
zerhauen hat. In der neueren Psychiatrie geschieht dies, indem — 
gemäß dem Satze: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten — 
die psychischen Vorgänge als die „höheren“ hirnphysiologischen 
Vorgänge aufgefaßt werden. Sorglos, wie der Reiter über den Bodensee, 
überspringt sie so jenen metaphysischen Abgrund. Auch Freud 
sieht in dem Gehirn das „Organ der Seele“; doch handelt es sich 
hier um eine stillschweigende Voraussetzung ohne systembildendes 
Leben. Die Metaphysik Freuds liegt auf einem anderen Gebiet. 
Auch er hofft, „den gemeinsamen Boden aufzudecken, von dem 
aus das Zusammentreffen körperlicher mit seelischer Störung 
verständlich wird“. Dieser gemeinsame Boden ist aber nicht die 
physiologische Gehirnfunktion, wie etwa bei Wernicke, oder der 






Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


153 


anatomische Hirnrindenbau, wie bei Kraepelin und seinen 
Schülern. Leib und Seele und deren Störungen treffen bei Freud 
zusammen im Trieb, d. h. in demjenigen an den Organismus 
geknüpften Geschehen, das wir als die Triebhaftigkeit schlechthin 
bezeichnen und nach oben von dem normativen Erleben, nach unten 
von den rein physikalisch-chemischen Vorgängen begrifflich 
abgrenzen können. Im Trieb sieht Freud bekanntlich den „Grenz- 
begriff zwischen dem Psychischen und Somatischen“, das Zusammen¬ 
sein von „organischen Mächten“ und deren „psychischen Repräsen¬ 
tation“. ln Freuds Trieb verbirgt sich jenes metaphysische 
Teufelchen, das in der Psychiatrie in der Hirnrinde sein Unwesen 
treibt. Der Begriff des Triebes ist der eigentliche Kernpunkt der 
K r e u <1 sehen Lehre, das Fundament des ganzen Gebäudes, der 
Gegenstand, auf den er in unermüdlicher Forscherarbeit die Haupt¬ 
energie seines Denkens verwandt hat. In der offiziellen Psychiatrie 
ist dieser wichtigste, folgenschwerste Teil seiner Lehre weder in 
seiner theoretischen Bedeutung erkannt, noch in seinen empirischen 
Grundlagen gewürdigt. (Erst in den ausgezeichneten Arbeiten 
Schilders weht uns eine neue Luft entgegen!) Solange die 
klinische Psychiatrie die Beziehungen etwa zwischen Trieb- 
perversionen und neurotischen Symptomen nicht anerkennt und 
solange sie hartnäckig die Augen verschließt gegen die Tatsache, 
«laß «'ine Menge einzelner Symptome sowie manche Kr a.nkh eit.s- 
phast'n und -stufen irgendeiner Triebbefriedigung dienen, solange 
das kann man ruhig aussprechen — hat die klinische Psychiatrie 
den Kern und das Wesen der psychoanalytischen Forschungsrichtung 
un«l ihrer Ergebnisse nicht berührt. 

Doch gehen wir weiter systematisch vor. Wir haben die 
Persönlichkeitsforschung und Seelenphysik Freuds gestreift und 
befinden uns jetzt bei seiner dritten Betrachtungsweise, der 
biologischen. Freud selbst verwendet hier den Ausdruck 
„ökonomische Betrachtung“ und spricht auch in deutscher 
Wendung von einer Erforschung des seelischen „Haushalts“. Wir 
können, einen anderen, seit Kant in der Biologie eingebürgerten 
Ausdruck gebrauchend, auch von einer teleologischen 
Betrachtung reden. Gefragt wird jetzt nicht mehr nach dem Bestand 
psychologischer Zusammenhänge innerhalb des Erlebens der 
Persönlichkeit, noch nach quantitativen oder Maßverhältnissen 
zwischen Kraftgrößen innerhalb des seelischen Apparates, sondern 
nach teleologischen, d. i. zweckvollen Zusammenhängen inner¬ 
halb des biologischen Leistungszusammenhanges, des biologischen 
Organismus’. Doch bitte ich Sie wohl zu beachten, daß diese 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 11 







154 


Ludwig Binswanger 


! 

:! 


! 




Teleologisierung, dieses Abstellen auf ein Telos, einen Zweck oder 
eine Absicht, nur für die biologische Betrachtungsart Freuds 
gilt, keineswegs für die psychologische. Es ist etwas ganz anderes, 
ob man, wie es in der Biologie geschieht, nach Absichten oder 
Zwecken der „Natur“ fragt oder, wie es in der Psychologie 
geschieht, nach Absichten oder Zwecken der Person! Im letzteren 
Falle verfährt man durchaus psychologisch-kausal; denn 
die Absichten einer Person, das sind ja gerade ihre „Beweggründe“, 
die Ursachen ihres Tuns und Handelns. 

Die biologisch-teleologische Grundfrage Freuds knüpft nun 
keineswegs an seine Psychologie an, sondern, gemäß dem 
dreistöckig gegliederten Bau seiner Lehre, an seine Seelen¬ 
physik. Was bezweckt die Natur oder was für eine Absicht verfolgt 
die Natur, so fragt Freud, mit der „Arbeit unseres seelischen 
Apparates“? Wir kennen die Antwort: Diese Absicht ist auf 
„Gewinnung von Lust und Vermeidung von Unlust gerichtet“, 
auf „automatische Regulierung durch das Lustprinzip“. „Das 
Endziel der seelischen Tätigkeit, das sich qualitativ als Streben 
nach Lustgewinn und Unlustvermeidung beschreiben läßt, stellt 
sich für die ökonomische Betrachtung als die Aufgabe dar, die im 
seelischen Apparat wirkenden Erregungsgrößen (Reizmengen) zu 
bewältigen und deren Unlust schaffende Stauung hintanzuhalten“ 
Hier haben Sie alle drei Betrachtungsweisen: die qualitativ¬ 
psychologische, die quantitative und die teleologische nebeneinander. 
Sie erkennen die Abhängigkeit, in die die reine Persönlichkeits¬ 
forschung durch die Verquickung mit den beiden anderen Betrachtungs¬ 
arten, nicht zu ihrem Nutzen, kommt. Ich betrachte es als eine 
Vergewaltigung des Persönlichkeitsbegriffs, wenn man ihn durch 
naturgesetzliche und teleologische Gesichtspunkte entpersönlicht; 
aber Psychiatrie deckt sich ja, ich wiederhole, nicht mit Psychologie, 
auch nicht mit Pathopsychologie, sondern sie ist wie Medizin 
überhaupt: Biologie. Sicherlich haben wir in der Verquickung jener 
drei Betrachtungsarten eine wissenschaftliche Konstruktion vor 
uns. Freud selbst weiß das am besten, aber anstatt die Ausgestaltung 
des ganzen Baues lediglich zu bekritteln, sollte die Psychiatrie 
sich auf dessen methodologische Fundamente besinnen, dann würde 
sie erkennen, daß es sich hier um einen Versuch handelt, der 
gerade diejenigen wissenschaftlichen Elemente enthält, die ihre 
eigenste Aufgabe ausmachen. Gehirnforschung im physiologischen 








1 Vorlesungen, S. 435. 











155 



Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 

uml neurologischen Sinne soll gewiß nicht in ihrer Bedeutung für 
di,- Psychiatrie herabgesetzt werden, ebensowenig wie die natur¬ 
wissenschaftlich betriebene Psychologie oder Leistungspsychologie. 
Jedoch handelt es sich hier lediglich um Hilfswissenschaften, die 
ein System der Psychiatrie als biologische Wissenschaft 
niciit einfach in toto übernehmen oder gar im einzelnen zu ihrer 
Basis erheben darf, aus welcher sie vielmehr in freier Gestaltung 
ihrer Aufgabe diejenigen Elemente herausgreifen muß, die sich 
ihren praktischen und methodologischen Bedürfnissen fügen. 

Die Ausgestaltung der Trieblehre durch Freud können wir 
hier im einzelnen natürlich nicht verfolgen. Wir wollen nur kurz 
ihren Zusammenhang mit den beiden anderen Forschungsrichtungen 
feststellen. Daß die Psychoanalyse nicht Charakterologie ist, daß 
< "harakterologie, wo sie überhaupt in Frage kommt, für sie höchstens 
ein Durchgangsstadium ist, erkennen wir sofort, wenn wir diesen 
Zusammenhang erfaßt haben. Die Charaktereigenschaften sind hier 
nicht einfach fixierte oder materialisierte und dann noch dynamisch 
unterbaute Verhaltungsweisen der Persönlichkeit; sie sind nichts 
Letztes, Feststehendes, sondern Erstes, Auflösbares. Hat die 
Persönlichkeitsforschung inhaltlich bestimmte Verhaltungsweisen 
der Person festgestellt, hat die quantitative Betrachtung ein Urteil 
über das dynamische Maß derselben gefällt, so tritt erst die 
biologische Betrachtung ins Feld und fragt, welche Triebunterlagen 
hier in Betracht kommen. Genau so verhält es sich hinsichtlich 
der neurotischen Symptome! Auch hier drei Fragen: In welchem 
psychologischen Zusammenhang steht das Symptom oder, wie 
Freud gern sagt, welcher Absicht der Person dient es, zweitens 
welche Quantität oder „Energiebesetzung“ beansprucht es und 
drittens, welcher Trieb äußert sich in ihm? Und ebendasselbe gilt 
mutatis mutandis für die ganze Krankheit. 

Nun wird das Verhältnis zwischen dynamischer und biologischer 
Betrachtung bekanntlich dadurch noch ein besonders enges, daß 
die K r a f t m e n g e, von der dort die Rede ist, durchaus aufgefaßt 
wird als eine von den Trieben gelieferte Kraft, als Triebkraft im 
eigentlichen Sinne des Wortes, nicht aber als seelische Kraft oder 
seelische Energie schlechthin, was nie mehr als bildlichen Wert 
beanspruchen kann. Dadurch wächst die Bedeutung, die der Trieb 
bei Freud erhält, natürlich ganz enorm. Es kommt nun alles 
darauf an, wie mit der Triebhaftigkeit weiter verfahren wird. Die 
grobe Scheidung in Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und. in Sexual¬ 
triebe ist auch für Freud ein Notbehelf, kein Dogma. Was aber 


11 * 







156 


Ludwig Binswanger 


mit ihr geleistet werden kann, hat Freud gezeigt. Man kann 
grundsätzliche Bedenken erheben, ob all das, was Freud der 
Triebhaftigkeit zumutet, ihr wirklich zugemutet werden kann, 
wobei ich persönlich ganz besonders an das rein normative Erleben 
denke ; man kann ferner im einzelnen verschiedener Meinung sein, 
ob der Anteil der Sexual- oder der Ichtriebe an einer Symptom¬ 
bildung größer ist; man kann ferner darüber betrübt sein, daß 
das Erleben der Persönlichkeit, ihre entscheidenden Lebenskonflikte, 
auf einen Kampf zwischen zwei Triebrichtungen eingeengt wird — 
all das wirft die große praktische Leistung, die F r e u d mit seinem 
Begriffssystem geschaffen hat, und dieses Begriffssystem selbst 
nicht um. Auch ein wissenschaftliches Individuum wie dasjenige 
der Psychoanalyse hat seine Fehler und Mängel; es darf aber 
beanspruchen, aus seinen eigenen Zwecken und nach seinen eigenen 
Mitteln verstanden und beurteilt zu werden. 

Nach alledem können wir uns nun dem Krankheitsbegriff 
der Psychoanalyse zuwenden. Über ihn selbst spricht sich Freud 
nirgends eingehend aus, wohl aber über die Verursachung der 
Krankheit. Ich kann hier nicht im einzelnen wiederholen, was 
Freud in seinem Aufsatz „Über neurotische Erkrankungstypen“ 
(Sammlung kleiner Schriften III) und in der 22. bis 26. seiner 
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse über die 
Ätiologie der Neurosen gesagt hat. Ich erinnere Sie nur kurz an 
die hier künstlich isolierten, in Wirklichkeit fast immer zusammen 
auftretenden Bedingungen der äußeren Versagung, des seelischen 
Unvermögens zur Erfüllung der Realforderung, der Entwicklungs¬ 
hemmung der Libidofunktion und der damit verbundenen 
Konfliktsneigung und schließlich der durch rein organische 
Veränderungen bedingten Vermehrung oder Verminderung der 
absoluten Libidoquantität. Wenn wir das Zusammenspiel all dieser 
Faktoren in der Freudschen Theorie auch nur einigermaßen 
begriffen haben, so werden wir uns sofort darüber klar, daß 
Freud die seelische Erkrankung weder rein psychogen noch 
rein somatogen auffaßt, weder rein durch das äußere Schicksal 
noch durch die seelische Erlebnisreaktion, weder allein durch 
konstitutionell-biologische Momente (Heredität), noch allein durch 
akzidentell-biologische (körperliche Erkrankungen, Erschöpfung, 
Pubertät, Klimakterium usw.) entstanden sein läßt. Wohl gibt es 
Grenzfälle, in denen die eine oder andere Bedingung der gesamten 
„Ergänzungsreihe“ (Freu d) relativ rein auftritt; aber diese 
Grenzfälle ändern an der Auffassung von der seelischen Krankheit 
als solcher nichts, die in ihrer endgültigen Gestalt doch immer 








Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 

nur durch ein Zusammenwirken aller oder mehrerer Momente 
h.'ilin -i ist In welch kunstvoller Weise Freud das uns in der 
Erfahrung: immer wieder vor Augen tretende Zusammenwirken 
all dieser Momente zu einem einheitlichen seelisch-organischen 
Geschehen gestaltet hat, mag der Hinweis auf das Zusammen- 
wiri • n von rein seelischer Verdrängung, rein seelischer Regression 
au f die infantile Situation (Hysterie), rein biologischer Regression 
auf frühere Stufen der Trieborganisation (Zwangsneurose), ferner 
von biologischer Triebfixierung und rein quantitativer Triebenergie- 
verschiebung viTansrhaiilichon. Diese Schlagworte sollen uns nur 
deutlich große Fülle von Beobachtungsmaterial und 
die enorme geistige Arbeit zu ihrer Ordnung', Gruppierung und 
/.um Verständnis ihres Zusammenhanges einen Moment vor Augen 
führen. Von irgendeiner jener Bedingungen her kann also 
.las seelische Gleichgewicht der Person gestört werden, am 
wenigsten jedoch auf rein psychischem Weg; denn der Gesunde 
leidet an denselben Konflikten wie der Kranke, und das rein 
qualitative Erleben führt nur dann zur Krankheit, wenn ein 
quantitatives Moment, eine relative Triebverschiebung oder eine 
Schwächung oder Steigerung der absoluten Triebenergie hinzu- 
kommt. Freilich können wir das jeweilige Triebenergiequantum 
nicht, messen; „wir können es“, meint Freud, „nur postulieren, 
nachdem der Krankheitserfolg eingetreten ist.“ Aber, wie wir 
wissen, entscheidet über Gesundheit und Krankheit auch das rein 
quantitative Moment nicht. Der eine verträgt dieselbe Verschiebung 
der Libidomenge, denselben Zuwachs oder Entzug derselben, der 
den andern zum neurotischen oder psychotischen Krüppel macht. 
Wie es in bezug auf ein biologisches Objekt, wie es der seelisch 
kranke Mensch in letzter Linie darstellt, selbstverständlich sein 
sollte, tritt nun als letztes und ausschlaggebendes Moment das 
teleologisch-biologische erst recht klar hervor. Es tritt uns hier 
noch ein Faktor entgegen, den wir erst recht nicht messen 
und nur, nachdem der Krankheitserfolg eingetreten ist, 
postulieren können. Dieser Faktor beruht auf der Annahme, daß 
jedes Individuum nur einen ganz bestimmten Betrag von Libido 
überhaupt „bewältigen, d. h. in Spannung erhalten, sublimieren 
oder direkt verwenden kann.“ Fiir den Ausbruch der Krankheit 
kommt nun alles auf „das Verhältnis des wirksamen Libido¬ 
betrages“ zu jener Quantität von Libido in Betracht, welche das 
einzelne Ich in Spannung erhalten, sublimieren oder verwenden 
kann. Der Begriff einer solchen, von Individuum zu Individuum 
variierenden und nur bis zu einer bestimmten Grenze anzuspannen- 






158 


Ludwig Binswanger 


den Triebenergie 1 , ist, wie gesagt, erst recht ein Postulat des 
teleologischen Denkens, keine Ursache im Sinne des kausalen 
Denkens. Dabei soll dieser Gegensatz nicht überspannt werden; 
wie enge beide Erklärungsweisen Zusammenhängen und aufeinander 
angewiesen sind, hat schon Kant gezeigt. (Vergleiche aber vor 
allem auch Sigwart: Der Kampf gegen den Zweck. Kleine 
Schriften II.) Das Verhältnis zwischen wirksamem Libidobetrag und 
der von dem Individuum überhaupt zu bewältigenden Libido¬ 
quantität beruht durchaus auf dem zweckmäßigen biologischen 
Zusammenarbeiten der einzelnen Triebrichtungen, und zweckmäßig 
ist dieses Zusammenarbeiten dann zu nennen, wenn es — seinen 
Zweck erfüllt, nämlich die seelische Gesundheit aufrecht erhält. 

Meine Damen und Herren! Ich muß Sie hier einen Augenblick 
an die zwei verschiedenen Wege erinnern, auf denen wir zu den 
Begriffen von Gesundheit und Krankheit gelangen können. Der 
eine Weg ist das generalisierende oder verallgemeinernde Verfahren, 
wobei dann Gesundheit und Krankheit lediglich deskriptive 
Allgemeinbegriffe oder begriffliche Querschnitte durch die Breite 
des als normal oder anormal Geltenden darstellen. Was aber als 
normal oder anormal gelten soll, das hat dann jeweils schon die 
empirische Forschung an durchaus schwankenden, empirischen 
Einzelmerkmalen festgestellt. Wir gelangen so zu Durchschnitts¬ 
oder Idealtypen (Max Weber, Jaspers) für die einzelnen 
Krankheitseinheiten sowohl als für den Begriff von Krankheit und 
Gesundheit überhaupt. Dieser Weg ist derjenige der psychiatrisch¬ 
klinischen Forschung. Der andere Weg ist derjenige der Psycho¬ 
analyse. Geht die Psychiatrie, wie die medizinische Klinik überhaupt, 
vom lebendig Einzelnen zum Allgemeinen vor, um dann aus der 
Summe der Einzelheiten einen durchaus leblosen Typus zu bilden, 
so geht die Psychoanalyse von einem lebensvollen Allgemeinen 
aus, um dann zu immer lebensärmeren Einzelmerkmalen herab¬ 
zusteigen. Wie wir gesehen haben, ist der oberste Begriff der 
Psychoanalyse gar nicht derjenige der Krankheit, sondern der der 
Gesundheit. Lebensvoll ist er, weil er kein abstrakter Durchschnitts¬ 
begriff, sondern ein teleologischer Leistungsbegriff ist. Teleologisch 
aber ist er nicht im naturphilosophischen Sinne, wo der Weg 
zwischen Mitteln und Zweck im metaphysischen Dunkel liegt, 
sondern im echt biologischen Sinn, wo der Zweck heuristisches 

1 Ich sage hier absichtlich Triebenergie statt Libido quantität, weil wir 
die Theorie Freuds auf die gesamte Triebhaftigkeit, also auch auf die 
Ichtriebenergie, übertragen müssen, wenn wir seine Lehre auf das gesamte 
Gebiet der Psychiatrie anwenden wollen. 












159 


Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


Prinzip zur Aufdeckung von Kausalbeziehungen 
Der Weg von den Mitteln zum Zweck liegt hier klar vor uns; 
wenn auch nicht durchweg mit empirischen Daten belegt, so doch 

I .rifflich klar vorgezeichnet und im Fortschreiten der empirischen 

p »rschung ausfüUbar. Gesundheit ist hier nicht einfach identisch 
mit subjektivem Wohlbefinden des Individuums oder mit objektiver 
fhcroinst immung mit dem gesunden Durchschnittstyp, sondern 
Gesundheit ist hier das Zusammenwirken verschiedenartigster 

Teilfunktionen zur Erreichung eines einheitlichen, nur durch 
i ene bestimmten Teilfunktionen zu erlangenden, einmaligen, 
individuellen Zwecks. Der Zweck ist hier durchweg durch die 
gegebenen Mittel bestimmt, und die Frage nach Gesundheit oder 
Krankheit läuft hier immer darauf hinaus, ob mit den dem 
Individuum verliehenen Mitteln dasjenige Maß von Leistungs¬ 
fähigkeit erreicht wird, das durch die Mittel garantiert ist. 

Infolgedessen kann Freud auch nicht von einzelnen Kränk¬ 
ln its ursachon reden. Die Aufstellung seiner ätiologischen Typen 
hat für ihn „keinen hohen theoretischen Wert; es sind bloß 
verschiedene Wege zur Herstellung einer gewissen pathogenen 
Konstellation im seelischen Haushalt“. Diese Konstellation oder 
Situation ist aber „nicht etwa eine Neuheit für das Seelenleben 
und durch das Eindringen einer sogenannten Krankheitsursache 4 
geschaffen“, pathogen wird sie ja lediglich durch jenes quantitative 


Verhältnis. Daher ist auch der „unfruchtbare Gegensatz von äußeren 
und inneren Momenten“, also von exogen und endogen, von 
Schicksal und Konstitution, aufzugeben. Die Verursachung der 
neurotischen Erkrankung ist „regelmäßig in einer bestimmten 
psychischen Situation zu finden, welche auf verschiedenen Wegen 
hergestellt werden kann“. 

Aus dem teleologischen Gesundheitsbegriff der Psychoanalyse 
und ihren ätiologischen Ansichten erhellt nun ohne weiteres ihr 
Krankheitsbegriff. Krankheit ist hier nicht Abweichung 
von einem deskriptiven Typus und Zusammenfassung des 
Abweichenden zu einem neuen Typus, sondern Abweichung von 
einem lebendigen Zweck und Zusammenfassung des Abweichenden 
in bezug auf die Grade seiner Zweckwidrigkeit. Am deutlichsten 
wird dieser Unterschied, wenn wir daran denken, was der 
Psychoanalytiker theoretisch unter Heilung versteht. Heilung 
bedeutet für ihn nicht die neuerliche Wiederübereinstimmung mit 
dem Durchschnittstypus des Normalen, die Restitutio ad integrum, 
sondern Wiederherstellung des zweckvollen Zusammenarbeitens 
der Teilfunktionen zu einer einheitlichen Gesamtleistung. Ich 









160 


Ludwig Binswanger 


erinnere hier insbesondere an das, was der Psychoanalytiker als 
Heilungstendenz paranoider Prozesse auffaßt, an die heilsame „Stille 
nach dem Sturm“ des akuten paranoiden Schubes, von der schon 
Tiling spricht, und erinnere Sie zur Illustration des Gesagten 
an den Wiederaufbau des Weltgebäudes nach vorangegangenem 
„Weltuntergang“ im Falle Sehreber. Der Psychoanalytiker kann 
also unter Umständen da eine Heilungstendenz erblicken, wo der 
Psychiater von einer paranoiden Verblödung sprechen muß. Auf 
Grund der teleologischen Betrachtungsweise wird es für den 
Psychoanalytiker sehr leicht, die „Krankheit“ in dem teleologischen 
Zusammenhänge der Einzelfunktionen des Individuums zu belassen 
und sie in ganz demselben Sinne wie das gesunde Geschehen in 
den kontinuierlichen Fluß des Lebens der Person einzuordnen. 

Nach all dem richtet sich auch die Diagnostik. Ein auf 
ihren Anschauungen aufgebautes klinisches System hat die Psycho¬ 
analyse uns bisher zwar nicht geschenkt. In ihrer praktisch¬ 
diagnostischen Aufgabe hält sie sich gerne an die Lehren ihrer 
älteren Schwester, die meist rascher zu einem praktischen Resultat 
führen. Inwiefern sich ihre eigenen diagnostischen Anschauungen 
zu denjenigen der klinischen Psychiatrie als „histologische“ Fort¬ 
setzung anatomischer Beschreibung verhalten, inwieweit es sich 
dabei jedoch viel mehr um eine Kreuzung der Betrachtungs¬ 
weisen, als um eine Fortsetzung der einen durch die andere 
handelt, sei im folgenden noch kurz angedeutet. 

Auch für die psychoanalytische Diagnostik kommt selbst¬ 
verständlich zunächst der gesamte biologische Leistungszusammen¬ 
hang des Individuums in Betracht. Was in einzelnen Schichten oder 
Dimensionen desselben vorgeht, ist allein nicht ausschlaggebend, 
Hiedurch gelangt sie in Berührung zu der neuerdings auch von 
psychiatrischer Seite (Kretschmer) empfohlenen mehrdimen¬ 
sionalen Diagnostik. Auch die Psychoanalyse liefert Schichtdiagnosen, 
jedoch kommt für die Krankheitsdiagnose selbst nur das Zusammen¬ 
wirken der einzelnen schichtdiagnostischen Merkmale zu einem 
einheitlichen Ganzen in Betracht, wozu wir in der Psychiatrie 
noch nicht gelangt sind. Nicht das Vorhandensein von Verdrängungs¬ 
erscheinungen, von Inversionen (nach dem Terminus Kretsch¬ 
mers), von Introversion oder Projektion in die Außenwelt 
entscheidet über das Krankheitsbild. Dieselben „Mechanismen“, 
um diesen wenig glücklichen Ausdruck einmal zu gebrauchen, die 
beim Gesunden im Traum und in der Fehlhandlung gefunden 
werden, können in den Neurosen und in den schwersten Psychosen 
gefunden werden. Maßgebend für die Differentialdiagnose auch 







Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


161 


schon zwischen Gesundheit und Krankheit überhaupt ist nicht das 
Vorhandensein solcher Mechanismen, sondern der biologische 
Zusammenhang, in dein sie Vorkommen, mit den Worten Freu d s 
„die Lebenswichtigkeit der Leistungen, in die sie verlegt sind“. 
Ob gie an harmlosen Leistungen des Alltaglebens oder „an den 
wichtigsten individuellen oder sozialen Leistungen hervortreten, 
das unterscheidet Gesundheit und Krankheit und die einzelnen 
nkheiten mehr voneinander, als etwa die Mannigfaltigkeit oder 
die Lebhaftigkeit von Krankheitsäußerungen“ (Psychopathologie 
des Ultaglebens, .i. Aull., S. 148 ff.). Aber auch hier stehen wir vor 
.letzten“ Tatsache; vielmehr hat sich Freud eindringlich 
llht, auch hiefür noch nach Gründen zu forschen. In welche 
Leistungen die einzelnen Mechanismen verlegt werden, das hängt nach 
ihm bekanntlich mit dem Entwicklungsgang der Libidofunktion und 
deren Verhältnis zu den Selbsterhaltungstrieben zusammen. Wir 
haben hier das hypothetischste, aber auch das interessanteste 
Stück der Libidotheorie vor uns. Es kommt jetzt alles darauf an, 
aus der psychoanalytischen Erforschung der seelischen Zusammen^ 
hänge des Individuums einen Einblick in den Entwicklungsgang, 
in das Vorwärtsschreiten, Stehenbleiben oder Rückwärtsschreiten 
seiner Triebfunktionen im einzelnen zu gewinnen und darauf zu 
achten, ob die einzelnen psychiatrisch abgegrenzten Krankheits¬ 
bilder eine Verschiedenheit hinsichtlich der Entwicklung der 
seelisch-biologischen Triebrichtungen aufweisen. Ich brauche Sie 
hier nicht daran zu erinnern, zu welchen biologischen, insbesondere 
.sexualbiologischen Unterschieden zwischen Hysterie, Zwangs¬ 
neurose, Dementia praecox, Paranoia, Freud hier gelangt ist. Für 
Nichtanalytiker sei nur envähnt, daß wir die Hysterie nicht nur 
nach dem Konversionsmechanismus, sondern vielmehr nach der 
Rückkehr der „Libidobesetzung“ auf die infantilen Liebesobjekte 
diagnostizieren, die Zwangsneurose weniger nach dem Substitutions¬ 
mechanismus (= Kretschmers Inversion), als nach der 
„Rückkehr der gesamten Sexualorganisation zu einer niedrigeren 
Stufe der Entwicklung“, die Dementia paranoides weniger durch 
den Projektionsmechanismus, als ebenfalls durch einen Rückgang 
der Libidofunktion, jedoch auf eine andere frühere Stufe, als es 
bei der Zwangsneurose der Fall zu sein scheint (Narzißmus). Wie 
enge dann ursprüngliche Fixierung einzelner Triebkomponenten, 
deren Rückwirkung auf die weiter vorgeschrittenen Komponenten, 
eigentliche Verdrängung und Symptombildung Zusammenhängen, 
kann ich hier im einzelnen nicht mehr ausführen. Ich möchte nur 
das eine gezeigt haben, daß alle drei Betrachtungsweisen, die wir 







162 


Ludwig Binswanger 


vorhin auseinandergehalten haben, die psychologische, die quanti¬ 
tative und die biologische insgesamt auch für die psychoanalytische 
Diagnostik in Betracht kommen, wobei der Hauptakzent freilich 
auf der untersten Schicht liegt. Wir können ruhig sagen, daß 
wir in der Psychoanalyse, im Gegensatz zur Psychiatrie, nicht zu 
klinischen, sondern zu biologischen Diagnosen der seelischen 
Erkrankungen gelangen. Jedoch ist auch diese Formulierung, wie 
leicht ersichtlich, eine einseitige. 

Es ist nun noch von Interesse, sich zu überlegen, welche 
Stellung im psychoanalytischen System die organische Hirnrinden¬ 
erkrankung, etwa der paralytische, arteriosklerotische, toxische 
Hirnrindenprozeß einnimmt; zweifellos keine andere als irgendeine 
sonstige organische Körperkrankheit. Die organischen Krankheiten 
überhaupt, ob des Gehirns oder eines anderen Organs, fallen unter 
die Bedingungen des letzten ätiologischen Typus Freuds, nämlich 
desjenigen, durch welchen eine Abnahme oder Zunahme der 
absoluten Triebenergiemenge heraufbeschworen wird. „Eine 
Schwächung des Ichs durch organische Krankheit oder durch 
besondere Inanspruchnahme seiner Energie“, sagt Freud, „wird 
imstande sein, Neurosen zum Vorschein kommen zu lassen, die 
sonst trotz aller Disposition latent geblieben wären“ (Über 
neurot. Erkrankungstypen, S. 312). Die organischen Hirnrinden- 
erkrankungen kämen dann an das äußerste Ende dieser Reihe und 
würden diejenige Gruppe bilden, bei welcher die Schwächung des 
Ichs an absoluter Triebenergie derart ausgesprochen ist, daß es 
auch ohne alle Disposition zur Psychose kommen muß. Für die 
Psychoanalyse ist es nämlich gleichgültig, ob die rein biologisch¬ 
physiologische oder anatomische Ursache unmittelbar im Gehirn 
liegt oder in einem anderen Organ, wobei dann die Hirnrinden¬ 
störung nur mittelbar oder sekundär ist. Sie hat es ja nie auf 
eine einzige Ursache abgesehen. Von Wichtigkeit ist für sie ja 
nur das Zusammenwirken der einzelnen Krankheitsbedingungen zu 
einer pathogenen Situation. Auch Verlauf und Ausgang der 
Krankheit kommen für ihre Stellung im psychoanalytischen System 
nicht in Betracht. Daß es bei der klimakterischen Melancholie zu 
einer Restitutio ad integrum, bei der paralytischen Depression 
aber später zu einer Zertrümmerung des seelischen Apparates 
überhaupt kommt, spielt hier keine Rolle, ähnlich wie es für das 
ganz andersartige System Wernickes keinen Unterschied 
macht, ob es sich um eine rein endogene oder um eine paralytische 
Manie handelt. Die rein körperlichen Veränderungen und ihre 
Zusammenhänge überläßt die Psychoanalyse der medizinischen 









163 



Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 

Klinik und insbesondere der Neurologie, die Beziehungen zwischen 
Störung der Hirnrindenfunktion und seelischer Erkrankung der 
speziellen Psychiatrie. Für ihren eigenen Krankheitsbegriff ist es 
gleichgültig, aus welcher anatomischen Örtlichkeit oder rein 
biologischen Quelle die absolute Steigerung oder Schwächung der 
Triebenergie stammt. Da sie nur die F o 1 g e n dieser Veränderungen 
int Hinblick auf das einheitliche Zusammenwirken der seelischen, 
dynamischen und biologischen Funktionen im Auge hat, ist die 
besondere Enge der Beziehungen zwischen „Seelenorgan“ und 
seelischer Gesundheit für sie irrelevant. 

Was für den organischen Hirnprozeß gilt, gilt auch für den 
pgychopathologischen Prozeß, soweit dieser mit den Hilfsmitteln 
der naturwissenschaftlich-konstruktiven Psychologie dargestellt 
wird. Die Höhe oder Tiefe der Assoziationsspannung z. B. ist ein 
rein biologisches Moment, das von ihr nicht für sich allein zu 
würdigen ist, sondern, wie das auch bei Bleuler praktisch 
immer der Fall ist, in seinen gesamten Folgen für den 
psychologischen und biologischen Problemkreis. 

Ähnliches gilt für die Präformationslehre der endogenen 
Phasen. Daß ein Individuum biologisch so konstituiert ist, daß 
von Zeit zu Zeit die in uns allen schlummernden Symptomen- 
verkuppelungen plötzlich manifest werden, interessiert sie nicht 
unmittelbar. Nur das Zusammenwirken dieses rein biologischen 
Momentes mit dem psychologischen und dynamischen, die 
Wechselbeziehungen zwischen ihnen allen und die möglichen 
Rückwirkungen des einen auf das andere kommen für sie in 
Betracht. Ob daher eine Melancholie rein endogen oder das andere 
Mal durch einen schweren Schicksalsschlag ausgelöst ist, 
ändert an ihrer Aufgabe, das melancholische Individuum in der 
Ganzheit seiner psychischen, dynamischen und biologischen 
Existenz zu betrachten, nichts. 

Hinsichtlich der in der Psychiatrie herrschenden Psychogenie- 
lehre ist das Nötigste gerade auch durch die Gegenüberstellung 
mit Kretschmer bereits gesagt. Der rein psychogene Ganser 
des Strafgefangenen, der rein psychogene Zittertremor des 
Lazarettinsassen, die rein psychogene Aphasie, Abasie, Arith- 
momanie, Erythrophobie usw. ändern wiederum nichts daran, daß 
der Psychoanalytiker gehalten ist, von der rein aktuellen 
Verursachung, sei sie rein seelisch wie hier, rein endogen wie 
anderswo, zur Betrachtung des teleologischen Zusammenhanges 
der gesamten seelisch-biologischen Person fortzuschreitfen. Es ist 
die psychoanalytische Neurosentherapie, welche, mitnichten das 







164 


Ludwig Binswanger 


Ganze der Psychoanalyse, sondern nur einen kleinen, angewandten 
Teil derselben ausmachen'd, diesen Sachverhalt kontinuierlich 
übersehen läßt. 

Meine Damen und Herren! Die Gegenüberstellung von 
Psychoanalyse und klinischer Psychiatrie führt uns mit Deutlichkeit 
das Dilemma vor Augen, in dem die Psychiatrie sich befindet. Sie hat 
sich zu entscheiden, ob sie lediglich eine angewandte Wissenschaft 
bleiben will, ein nur durch ihre praktische Aufgabe zusammen¬ 
gehaltenes Konglomerat von Psychopathologie, Neurologie und 
Biologie, oder ob sie eine einheitliche psychiatrische Wissenschaft 
werden will. Es wird niemandem einfallen zu verlangen, daß die 
Psychiatrie in Psychoanalyse aufgehen müsse; aber es kann der 
Psychiatrie nicht schaden, an den methodologischen Grundlagen 
der Psychoanalyse zu studieren, wie ein wissenschaftliches System 
beschaffen ist, das eine derartig nahe Berührung zu ihrem eigenen 
Problemkreis hat, wie dasjenige der Psychoanalyse. Daß es bei 
der Entwicklung eines solchen Systems nicht ohne „Konstruktion“ 
abgeht, zeigt nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch das 
einzige psychiatrische System, das diesen Namen verdient, 
dasjepige Wernickes. Aus der Konstruktion eines solchen 
Systems aber einen wissenschaftlichen Vorwurf abzuleiten, zeugt 
von Verkennung der Aufgabe der Wissenschaft. „Unter der 
Regierung der Vernunft“, sagt Kant, „dürfen unsere Erkenntnisse 
überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System 
ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke 
derselben unterstützen und befördern können.“ Daß das psycho¬ 
analytische System ewig so bleiben wird, wie es heute dasteht, 
wird sein Schöpfer selbst zum wenigsten wünschen, betont er 
doch immer wieder das Unfertige, Vorläufige, Problematische in 
seiner Lehre. Es wird noch einer geduldigen Anspannung unseres 
Denkens und einer unendlich fleißigen Fortsetzung unseres 
Forschens bedürfen, bis wir das methodologische Fundament des 
psychoanalytischen Systems bis ins einzelne rein erkannt und 
mit empirischem Material auch nur einigermaßen befriedigend 
ausgefüllt haben werden. Dies hängt aber nicht nur von uns 
allein, sondern ebenso sehr von den Fortschritten ab, welche 
diejenigen Wissenschaften machen werden, aus denen die Psycho¬ 
analyse ihr System aufbaut, also die Biologie und Physiologie, die 
psychiatrische Klinik und insbesondere die Psychologie. Über die 
grundlegende Umwälzung, die innerhalb der letzteren rein 
methodologisch in den letzten Jahrzehnten vor sich gegangen ist, 
hoffe ich selbst, Sie in Bälde in einer größeren Schrift orientieren 









Psychoanalyse und klinische Psychiatrie 


165 


zu können. Insbesondere ist es der breite Strom der von H u s s e r 1 
ausgehenden phänomenologischen Forschungsrichtung, von der 
auch die Psychoanalyse nur eine heilsame Revision ihrer begriff¬ 
lichen Grundlagen erhoffen kann. In der Psychiatrie ist das 
Hineintragen dieser Begriffsklärung bereits an vielen Orten zu 
verspüren. Unter den vielen Versuchen, die „psychiatrische 
Erkenntnis“ in ihrer Eigenart herauszuheben und zu vertiefen, 
die uns jetzt an allen Ecken und Enden begegnen, scheinen mir 
die von der Phänomenologie ausgehenden Versuche die aussichts¬ 
reichsten zu sein. Jaspers hat damit in gewisser Hinsicht 
angefangen, und Schilder ist damit in seinen ausgezeichneten 
Arbeiten (vergleiche vor allem Selbstbewußtsein und Persönlich¬ 
keit sbewußt sein, Berlin 1914 und Wahn und Erkenntnis, Berlin 1918) 
fortgefahren. Gerade an den Arbeiten Schild er s können wir 
beobachten, in welcher Weise sich klinische Psychiatrie und Psycho¬ 
analyse, die sich mit Ausnahme Zürichs an den Universitäten so 
feindlich gegenüberstanden, nunmehr aufs innigste berühren 
werden: es ist die phänomenologische Forschungsrichtung, die 
beide Disziplinen in den Fluß ihrer wissenschaftlichen Arbeit 
aufnimmt, und es ist unverkennbar, daß das, was von den 
klinischen Psychiatern, mit Ausnahme Bleulers und seiner 
Schule, versäumt wurde, nunmehr von den jungen Revisionisten 
in der Psychiatrie nachgeholt wird. Sie haben fast alle ein offenes 
Auge dafür, was für eine Fundgrube empirischen Materials in 
der Psychoanalyse zutage gefördert worden ist, und wie nötig 
die Psychiatrie dieses Materials zu ihrer Ergänzung bedarf, und 
sie finden kein besseres Erfahrungsmaterial, um ihren eigenen 
methodologischen Forschungsdrang zu stillen, als dasjenige der 
Psychoanalyse. Dies zeigt sich weniger quantitativ als qualitativ. 
Die Zeiten sind vorüber, wo der Forschungskreis der Psychoanalyse, 
immer mitder Ausnahme Zürichs (und etwa Leidens), von der klinischen 
Psychiatrie ausgeschlossen blieb. Was auf dem Boden der rein 
empirischen Forschung nicht zusammenfinden konnte, wird 
allmählich auf dem Boden der immer tiefer grabenden methodo¬ 
logischen Besinnung und theoretischen Forschung ohne Feindschaft 
nebeneinander einhergehen. 








Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit. 

Beitrag zur Kenntnis der oralen Phase der Libidoentwicklung. 

Von Dr. Michael Josef Eisler (Budapest). 

Die Wissenschaft hat bislang das biologische Phänomen des 
Schlafes wohl deskriptiv behandeln, als dynamischen Vorgang aber 
in befriedigender Weise nicht erklären können. Unsere gesicherten 
Kenntnisse über den Schlaf sind dürftig genug. Wir haben ihn als 
eine Grunderscheinung in der organischen Welt erkannt, die, der 
Atmung und Nahrungsaufnahme vergleichbar, an der periodischen 
Erneuerung des Einzelwesens mitbeteiligt ist. Worin jedoch diese 
Erneuerung besteht, wissen wir nicht; zumindest nicht mit jener 
Genauigkeit, wie wir die Atmungs- und Verdauungsvorgänge 
kennen. Auch die eigenartige Verknüpfung des Schlafzustandes 
mit gewissen psychischen Erscheinungen hat sein Verständnis 
erschwert und eine experimentelle Untersuchung, der wir zunächst 
die meisten tatsächlichen Erfahrungen verdanken, problematisch 
gemacht. So hat sich denn, wie wir sagen müssen mit vielem 
Recht, die Anschauung unter den Biologen gebildet, daß dem 
Schlaf eine generelle Bedeutung fast wie dem Inbegriff „Leben“ 
zukomme, weshalb sein Problem die Physiologie nicht unmittelbar 
angehe; wo es aber dennoch zur Sprache gebracht werden muß, 
geschieht es nicht ohne gewisse Anzeichen eines deutlichen 
Mißbehagens. Alles in allem zeigt sich in den Standpunkten gegen¬ 
über dem Schlafproblem eine verdeckte oder uneingestandene 
Ratlosigkeit. 

Die psychoanalytische Forschung ist dieser Frage durchaus 
nicht aus dem Wege gegangen, was sie jedoch hierüber zu sagen 
für nötig gefunden hat, darf mit ihren sonstigen Ergebnissen nicht 
ohne weiteres auf eine Linie gestellt werden. In einer Arbeit, die 
mehr theoretisch-konstruktiv vorgeht, als an unmittelbarem 
Tatsachenmaterial Klarheit schafft, hat Ferenczi 1 den Schlaf 
des neugeborenen Kindes als den halluzinatorischen Versuch einer 

i Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Internat. Zeitschr. f. 
ärztl. Psa. I. Jg. 1913. S. 128. 









Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit 


167 


Rückkehr in den Schutz des Mutterleibes ausgesprochen. Dies ist, 
wie schon bemerkt, keine aus dem Erfahrbaren geschöpfte 
Beobachtung, vielmehr eine Abstraktion, die sich aber aus der 
Gesamtheit der psychoanalytischen Denkweise folgerichtig und 
ohne Zwang ergibt. Freud 1 hat diese Abstraktion in gleichem 
Sinne noch klarer ausgebaut: „Wir sind nicht gewöhnt, viele 
Gedanken daran zu knüpfen, daß der Mensch allnächtlich die Hüllen 
ablegt, die er über seine Haut gezogen hat, und etwa noch die 
Ergänzungsstücke seiner Körperorgane, soweit es ihm gelungen 
ist, deren Mängel durch Ersatz zu decken, also die Brille, falschen 
Haare, Zähne usw. Man darf hinzufügen, daß er beim Schlafengehen 
eine ganz analoge Entkleidung seines Psychischen vornimmt, auf 
die meisten seiner psychischen Erwerbungen verzichtet und so von 
beiden Seiten her eine außerordentliche Annäherung an die Situation 
herstellt, welche der Ausgang seiner Lebensentwicklung war. Das 
Schlafen ist somatisch eine Reaktivierung des Aufenthaltes im 
Mutterleibe mit der Erfüllung der Bedingungen von Ruhelage, 
Wärme und Reizabhaltung, ja viele Menschen nehmen im Schlafe 
die fötale Körperhaltung wieder ein. Der psychische Zustand des 
Schlafenden charakterisiert sich durch nahezu völlige Zurückziehung 
aus der Welt der Umgebung und Einstellung alles Interesses für 
sie.“ Und an anderer Stelle 2 : „Wir führen jetzt im Sinne der 
Libidotheorie aus, daß der Schlaf ein Zustand ist, in welchem 
alle Objektbesetzungen, die libidinösen ebensowohl, wie die 
egoistischen, aufgegeben und ins Ich zurückgezogen werden. Ob 
damit nicht ein neues Licht auf die Erholung durch den Schlaf 
und auf die Natur der Ermüdung überhaupt geworfen wird? Das 
Bild der seligen Isolierung im Intrauterinleben, welches uns der 
Schlafende allnächtlich wieder heraufbeschwört, wird so auch nach 
der psychischen Seite vervollständigt. Beim Schlafenden hat sich 
der Urzustand der Libidoverteilung wiederhergestellt, der volle 
Narcissmus, bei dem Libido und Ichinteresse noch vereint und 
ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich wohnen.“ 
Dies ist, wenn nicht alles, so doch das Wichtigste, was die 
Psychoanalyse über das Schlafproblem gebracht hat. Die zwei 
Aussagen Freuds, die mehr den Charakter von glänzenden Apercus 
haben, enthalten nichtsdestoweniger die ganze Fülle seiner luciden, 
vorsichtig aufgebauten Erfahrungen. Seine Anschauung vom Wesen 


1 Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre. Internat. Zeitschr. f. 
ärztl. Psa. IV. Jg. 1916/17. S. 277. 

2 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien 1917. S. 486. 








168 


Dr. Michael Josef Eisler 


des Schlafes ist somit durchaus Eigentum der psychoanalytischen 
Denkrichtung und war in der schulmäßigen Biologie und Psychologie 
nirgendwo vorgebildet. Wir greifen den folgenden Erörterungen 
vor, wenn wir bemerken, daß wir ihnen zunächst nichts anzufügen 
haben. Unsere Untersuchung geht in der Erforschung des Problems 
nicht so tief zurück, die klinischen Zustandsbilder, welche ihr 
zugrunde liegen, lassen aber noch eine weitere, praktisch vielleicht 
sogar wichtigere Erfassung zu. Wir werden uns nicht allzuweit 
über den Kreis des Erfahrbaren bewegen, nebenbei jedoch die 
Gelegenheit finden, die geistvolle Konstruktion Freuds durch 
eine klinische Beobachtung zu stützen. 

Es gehört zu den geläufigsten Erkenntnissen in der Psycho¬ 
analyse, daß die Befriedigung der oralen Libido bei jedem Säugling 
zugleich den Schlaf fördert, einerlei ob durch die Nahrungsaufnahme 
allein oder das fortgesetzte Wonnesaugen am Finger. Dieses innige 
Zusammengehen von oraler Befriedigung und Schlafbedürfnis zu 
einer Zeit, wo das Lebewesen keinen anderen Drang zu beschwichtigen 
hat, muß einen überaus festen Konnex schaffen, dem wir aus 
späteren Phasen der Entwicklung nichts gleichbedeutendes gegen¬ 
überstellen können. Es soll uns daher nicht wundernehmen, wenn 
Beide fortan die Tendenz zeigen, ihre erst vielleicht lockere 
Vereinigung immer mehr auszubauen und unter pathologischen 
Verhältnissen sich gegenseitig in Mitleidenschaft zu ziehen. Indem 
wir diesen naheliegenden, bislang vielleicht übersehenen, Schluß 
vom Boden der Theorie weg an geeigneten Beispielen nachprüfen, 
hoffen wir eine Reihe von Erscheinungen unserem Verständnis 
besser einfügen zu können. Der Übersichtlichkeit zuliebe soll der 
erste Fall etwas ausführlicher behandelt werden. 

1. Ein lebhaft veranlagtes, den Freuden des Lebens sehr zugeneigtes 
Mädchen erkrankt im 18. Lebensjahr nach einem Zwischenfall, der ihr auf 
einem Ausflug begegnet, an einer nervösen Störung, welche sich folgender¬ 
maßen äußert. Sowie sie im Begriffe steht, irgendeine Gesellschaft aufzusuchen, 
verspürt sie momentan eine Art Krampf im Halse, einen Würgreflex also, 
der zur bekannten Gruppe des globus hystericus gehört. Dieses Symptom 
ängstigt sie derart, daß sie ihre Absicht fallen läßt und sich zuhause verschließt. 
Allmählich wird sie sich unter großer Bestürzung bewußt, daß das Übel nicht 
vorübergehender Natur sei, vielmehr gehäuft auftritt; die Folge davon 
ist eine steigernde Scheu, mit ihren Bekannten zu verkehren. Gleichzeitig 
entwickelt sie unter großem seelischen Aufwand eine ungemeine Findigkeit, 
ihren wahren Zustand, dessen sie sich in auffälliger Weise schämt, vor der 
Welt zu verbergen, was ihr bisher fast ausnahmslos gelungen ist. Zu dem 
nächsten Erfolg der Neurose haben wir zu rechnen, daß sie sich seither zur 
Rolle eines Weibes unfähig hält, weshalb sie auch mehrere, durchaus passende 
Heiratsanträge zurückgewiesen hat. Als Vorwand gibt sie an, sie wolle ihren 










Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit 


169 


künftigen Gatten nicht der einflußreichen Stellung ihres Vaters verdanken, 
denn ihretwegen heirate man sie ja doch nicht. Ehe sie in die Analyse kam, 
hatte sie vorher eine Art Schutz gegen den plötzlichen Krampf im Halse 
ermittelt. Sobald es ihr in Gesellschaft, die sie nicht ganz meiden konnte, 
unvermerkt gelang, einen trockenen Bissen, etwa ein Stückchen Brot, in den 
Mund zu stecken und herabzuwürgen, unterblieb der gefürchtete Anfall. 
War sie dann über den ärgsten Punkt hinweggekommen, so fühlte sie sich 
ein wenig befreit und hielt aus. Aber auch dieses Auskunftsmittel war nicht 
verläßlich und versagte oft. Nach einem dreijährigen endlos schwankenden 
Kampf gegen den Dämon der Neurose, war die Patientin längst unfähig 
geworden, ohne Brottalisman auch nur einen Schritt aus dem Hause zu wagen. 

Die Natur ihres Leidens — seine relative Häufigkeit und 
Bekanntheit — soll uns nicht abhalten, dem Sachverhalt 
nunmehr niilierzutreten. Es sind immer dieselben Tatsachen, denen 
wir uns im Leben gegenüberfinden und es hängt nur von unserer 
theoretischen Einstellung und Überlegung ab, welche Folgerungen 
wir aus jenen ziehen. 

In dem vorliegenden Falle präsentierte sich der Würgreflex 
als ein psychisch vieldeutiges Symptom, das, wie wir den Klagen 
der Patientin entnehmen durften, durch viele Momente seines 
Erscheinens bedingt war. Allein schon diese Vorgeschichte beweist, 
daß es sich nicht um einen einfachen globus, sondern um ein 
Konversionssymptom handle, in welchem ein ungewöhnlicher 
Affektreichtum zur Verdichtung gelangte. Solches ist die Regel 
bei jeder monosymptomatischen Hysterie, die nach längerem Fort¬ 
bestand in Verbindung zu den wichtigsten Lebensäußerungen des 
Kranken tritt. Zur weiteren Charakteristik des Symptoms heben 
wir hervor, daß es wie ein erektiles Gebilde im Halse festsaß 
und niemals eine Eßstörung hervorrief 1 . Die Einverleibung eines 
festen Gegenstandes als magisches Schutzmittel hat einen anderen 
Sinn. Durch die Neigung, ihre Mundpartie möglichst verdeckt zu 
halten, hatte uns die Patientin verraten, zu welcher Bedeutung 
die orale Region bei ihr erhoben war. 

Es handelte sich bei der Patientin um eine orale Libidofixierung von 
ungewöhnlicher dispositioneller Stärke, die alle die Jahre hindurch nicht von 
ihrer infantilen Rolle gelassen und auch keine Gegenwirkung hervorgerufen 
hatte. Zum größeren Teile war sie unmittelbar an die Nahrungsaufnahme 
gebunden geblieben, denn die Patientin zeigte eine auffällige Lust am Essen. 
Mit Vorliebe schlürfte sie die Suppe oder das Wasser; das rasche Trinken 
machte ihr weniger Freude. Auch schleckte sie manchmal unter Scherz den 
Teller aus; sie sagte dann, sie mache es wie die Tiere. Nachts trat häufiges 
Speichelfließen bei ihr, wie auch bei anderen Familienmitgliedern auf. — Ihr 
Vater und ihre Schwester litten zeitweilig an nervösem Erbrechen; ein naher 
Verwandter väterlicherseits kam sogar mit Wolfsrachen zur Welt. In diesem 
Falle war demnach der Archaismus des Mundes auch anatomisch vorgezeichnet. 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 12 










170 


Dr. Michael Josef Eisler 


In der Analyse ergab sich zunächst, daß der Zeitpunkt ihrer 
Erkrankung determiniert war und zwar durch einen merkwürdigen 
Umstand: ihre Neurose war zufolge einer Prophezeiung 
ausgebrochen. Als kleines Mädchen wurde sie nämlich von einer 
Tante, die auch später in ihrem Leben eine Rolle spielte, bei 
einer verbotenen Handlung — Onanie — betreten und gerügt: 
„Wenn du das wieder machst, wirst du als großes Mädchen krank 
werden.“ Der vorhergesagte Termin (Großwerden) fiel dann 
genau mit dem Lebensjahr zusammen, in welchem ihre ältere 
Schwester Frau geworden war. Die Tante hatte demnach recht 
behalten und sie konnte nicht wie ihre Schwester Braut und 
Gattin werden. Als sich im weiteren Verfolg der analytischen 
Behandlung ein stark verdrängter „Männlichkeitskomplex“ — die 
aufgegebene Sehnsucht, wie ein Knabe gebaut zu sein — zutage 
fördern ließ, erschien jene ominöse Prophezeiung in neuem 
Lichte als Korrelat einer Kastrationsdrohung, die uns in 
zahlreichen Neurosen so viel zu schaffen gibt. Diese beiden Motive, 
der verdrängte Männlichkeitskomplex 1 und die Drohung, führten 
zu einem energischen Abbruch ihrer genitalen Sexualität. Die 
Onanie wurde zwar nach dem Einsetzen der Pubertät fortgeführt, 
ja durch Mithilfe einer Gouvernante zum homoerotischen Akt 
erhöht, blieb aber mehr eine Art mechanischer Befriedigung und 
trat mit dem verdrängten psychischen Material nur insoweit in 
Verbindung, als sie den spärlichen Ersatz für die gehemmte, doch 
im Unbewußten festgehaltene heterosexuelle Objektwahl stellte. 
Die Zähigkeit ihrer Neurose leistete zwar diesem Ersatz Vorschub 
und ließ seine momentane Bedeutung als Abfuhrmöglichkeit 
bestimmter libidinöser Spannungen anwachsen, doch bot sie 
zugleich Garantie dafür, daß nach dem Freiwerden so stark 
verdrängter Energiemengen die ursprüngliche Neigung zum Manne 
am Ende erstarken werde. 

Neben dem infantilen war als rezenter Anlaß ihrer Erkrankung 
die Heirat einer Cousine nachzuweisen. Sie hatte durch Gunst 
der Umstände an den Intimitäten eines langen Brautstandes 
teilgenommen und frustrane Erregungen erlebt, die sie sich 
niemals ernstlich eingestehen wollte. Ihre alte Neigung, sexuelle 
Vorgänge zu verdrängen, und eine im Familienkreise künstlich 
wachgehaltene seelische Unschuld traten nun wieder in Aktion. 
Diesmal war jedoch das Maß voll und die Neurose brach aus. Ihr 


1 Unter den Erlebnissen der Kindheit war ein schmerzliches für sie ; 
bei einem sexuellen Spiel wurde ihre Person mit Spott abgewiesen. 







Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit 


171 


Weg war durch die dispositioneile Verstärkung der oralen Libido 
vorgezeichnet. Sie bemächtigte sich dieses Partialtriebes mit 
ungewöhnlicher Kraft und brachte so ziemlich die ganze Skala 
jener pathologischen Phantasien hervor, welche aus diesem Trieb 
Nahrung ziehen. Ich möchte nebenbei zwei Produkte hervorheben, 
weil sie mir als charakteristische Gebilde aus der oralen Phase 
erschienen sind und bei ihrer generellen Natur in jedem mensch¬ 
lichen Charakter Spuren hinterlassen. Die Regression der Libido 
auf die orale oder kannibalische Stufe ändert nicht nur ihre 
Form, sondern auch ihre Inhalte bis zur Unkenntlichkeit. Es 
hält dann schwer, im Symptom die uranfängliche libidinöse 
Erregung noch als solche zu erkennen. In dem vorliegenden Falle 
mußte ich als die stärksten psychischen Emanationen, zu welchen 
sich die Libido herabgebildet und ihren Bezug zur Umwelt 
geschaffen hat, einen exzessiven Neid und gewisse Mordlust¬ 
phantasien erkennen, die der bewußten Persönlichkeit der 
Patientin durchaus fremd waren und von ihrem übrigen Charakter 
merkwürdig abstachen. Insbesondere der Neid ist mir auch 
nachher stets als narzißtische Abbiegung vom 
oralen Trieb erschienen und ein wichtiger Fingerzeig für die 
Festlegung eines Charakters auf diesen Partialtrieb gewesen. Wo 
man den Neid frühzeitig, etwa bei Kindern, beobachten kann, wird 
man die Wahrnehmung machen, daß er nur solchen Personen 
gegenüber auftritt, an denen man zugleich libidiös haften blieb. 

Indem durch den Krankheitsprozeß die bis dahin latent 
wirksame orale Libido zur Führerschaft gelangt war und von der 
gesamten Persönlichkeit Besitz ergriff, die sich ihr völlig unter¬ 
ordnen mußte, hatte die Patientin zugleich ein merkwürdiges 
Verhalten im Schlafe angenommen, welches die Neurose in 
unerwarteter Richtung ergänzte. Ihr Schlafbedürfnis war immer 
groß gewesen und die lebhafte Beschreibung, die sie davon gab, 
ließ eingangs schon die Vermutung aufkommen, es handle sich 
um einen für sie ausgesprochen lustbetonten Akt. Eine solche 
Lust, vom Schläfer bezeugt, ist übrigens jedermann plausibel, sie 
leuchtet auch dem Durchschnittsmenschen ein. Die Analyse hat 
allein schon aus diesem Grunde Anlaß genug, hier ein Problem 
zu sehen. In der Neurose erfuhr nun diese Schlaflust der Patientin 
eine symptomatische Ausgestaltung. Einzelnes davon ist uns ohne 
weiteres verständlich, wie die Neigung, auf dem Bauche zu liegen 
und sich absolut einzuhüllen, also Behaglichkeit und Wärme als 
Vorbedingung des Schlafens zu schaffen. Mit dem Eintritt des 
Schlafes aber war die Tendenz nach Erhöhung dieses Zustandes 

12* 









172 


Dr. Michael Josef Eisler 


nicht erledigt. Die Patientin berichtete über drei sogenannte 
„Schlafhandlungen“, die sie zeitweilig ohnejede 
Rückerinnerung ausführte 1 . Sie streifte nachts mitten 
im Schlaf ihr Hemd ab und fand sich am nächsten Morgen 
nackt liegend; sie stieg, ohne zu erwachen, vom Bett und 
urinierte, wobei es aber niemals passierte, daß sie das Geschirr 
ungeschickt benützt hätte; schließlich leerte sie schlafend das für 
sie bereitgestellte Glas Wasser, ohne es nachher fallen zu lassen 
oder beim Zurückstellen hart anzustoßen. Es kam sogar vor, daß 
sie zwei Glas, die man auf ihrem Nachttischchen gelassen hatte, 
austrank. Ich hebe hervor, daß in diesem Falle die Aktionen 
automatische Schlaf-, nicht Traumhandlungen bedeuteten, 
welche letzteren bereits kompliziertere Vorgänge sind und ein 
psychisch faßbares Material in Handlung umsetzen. Hier konnte 
von der Bearbeitung einer Phantasie nicht die Rede sein, da die 
Patientin niemals weitere Assoziationen zum Thema lieferte. 
Durch seine relative Einfachheit erscheint jedoch der Fall geeignet, 
den Ausgangspunkt zur Erklärung von verwickelteren abzugeben. 
Der Sinn der ersten Schlafhandlung, die gleich den anderen als 
Ausdruck ihrer autoerotischen Strebungen zu gelten hat, wird 
ohne weiteres offenbar, wenn wir die Hypothese Freuds über 
den Schlafzustand zu der unserigen machen. Sie schläft „nackt 
wie im Mutterleib“, darf man sagen. Aber sie tut mit den 
nächsten zwei noch ein anderes, was an bestimmte fötale Aktionen 
erinnert. Wir wissen, daß der Fötus bereits Schluckbewegungen 
macht, als deren Folge man in seinem Mageninnern Fruchtwasser 
nachweisen kann, ebenso entleert er seine Blase, denn die Amnion¬ 
flüssigkeit der Mutter enthält oft die chemischen Bestandteile 
des Urins 2 . 

Ich glaube nicht, daß es willkürlich erscheint, den Schlaf¬ 
aktionen der Patientin eine solche Bedeutung zu unterschieben. 
Vielleicht schimmert hier durch, daß die orale Phase der Libido¬ 
entwicklung nicht die erste ist, sondern sich unmittelbar an eine 
vorangehende anschließt, die etwa die lethargische oder 
apno'ische genannt werden kann 3 . Im vorliegenden Fall war die 


1 Nur aus dem verbliebenen Effekt schloß sie nach dem Erwachen, 
daß sie im Schlafe etwas gemacht habe. 

2 Es sind dieselben zwei Funktionen, die man schon in der Erziehung 
fast jedes Kindes zu Automatismen heranbilden kann, so daß sie im Schlaf 
verrichtet werden. 

3 Die zweite Benennung wird durch meine Ausführungen am Ende als 
die zutreffendere sich erweisen. 









Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit 


178 


Regression auf die orale Stufe erfolgt, die infolge ihres innigen 
Konnexes, wie wir ihn einleitend hervorgehoben haben, zugleich 
Spuren des urtümlichen Schlafzustandes aktiviert hat. Im übrigen 
sehe ich theoretisch keine Schwierigkeit darin, den weiteren 
Schluß zu ziehen, daß die pathologische Regression der Libido 
unmittelbar auch auf die lethargische Stufe erfolgen kann ; die schon 
von C h a r c o t beschriebene hysterischeSchlafkrankheit 
wäre etwa dann das eine materielle Beispiel hiefür. Gewisse 
Eigenheiten dieser Krankheit, Neigung zu Krampfanfällen und 
Atmungshemmungen würden den Wirkungskreis dieser Stufe 
noch deutlicher machen. Solche Erwägungen fallen aber bereits 
aus dem Rahmen dieser Untersuchung. 

Das nächste Beispiel ist einer foudroyanten Schlafstörung, 
die an dem tödlichen Ausgange des Falles mitbeteiligt ist, gewidmet. 
Ich muß vorausschicken, daß ich mein Wissen über die nach¬ 
stehende Krankheitsgeschichte nicht aus einer regelrecht geführten 
Analyse geschöpft habe, doch war mir die Patientin durch mehr 
als 15 Jahre bekannt, ihre körperliche und geistige Entwicklung 
während dieser Zeit meiner Obhut anvertraut, wie auch die 
Umstände ihres Abganges unmittelbar beobachtet werden konnten. 
Dies dürfte zusammen den Ergebnissen einer Analyse wohl 
gleichkommen. 

2. Die neurotische Veranlagung der Patientin kam seinerzeit deutlich 
nur in den Schwierigkeiten ihrer Erziehung als Kind zum Ausdruck. Ein 
langes Verweilen in verschiedenen Autoerotismen, darunter eine starke orale 
Libidobetätigung, kennzeichneten die Jahre bis zur Latenz. Die Unterdrückung 
der Partial triebe erfolgte nicht gleichmäßig ; eine gewisse Voreiligkeit als 
Rest ihrer beträchtlichen infantilen Agressionsneigungen (durch die über¬ 
triebene Zärtlichkeit des Vaters entbunden) blieb dauernd bestehen. Zu einem 
schönen und bewunderten Mädchen erblüht, entwickelte sich ein sonderbarer 
narzißtischer Zustand bei ihr : sie war den Huldigungen der Anbeter 
gegenüber fast wehrlos ; jedes ihr zugewendete Interesse entwaffnete sie, so 
daß man sie irrtümlich für eine stark sinnliche Natur hielt, die man behüten 
mußte. Im Grunde genommen war dies aber nicht notwendig, da sie niemals 
die erlaubte Grenze überschritt. Sie behandelte vielmehr ihre Beziehungen 
mit merkwürdiger Offenheit und erzählte sie mit sichtbarem Vergnügen. 
Geliebt zu sein und von sich reden hören, dies war ihr Wunsch. Das gesell¬ 
schaftliche Milieu, in welchem sie lebte, bot ihr keine Gelegenheit, seelisch 
zu reifen. Mit ihrer Heirat fingen dann die ersten Schwierigkeiten an, vor 
allem versagte sie, unerwarteterweise für ihre Angehörigen, als empfindendes 
Weib. Sie erwies sich als frigid ; bald darauf klagte sie, dem Geschlechtsakt 
gegenüber starke Abneigung zu haben, wiewohl sie ihren Mann liebe und 
hochschätze. Eine dauernde Unruhe verbunden mit hypochondrischen und 
Angstzuständen bemächtigten sich ihrer, und ohne zu wissen, nahm sie für 
die erlebten frustranen Erregungen Rache an dem Manne, indem sie ihn 






174 


Dr. Michael Josef Eisler 


durch häufiges plötzliches Unwohlsein in Schach hielt. Eine psychoanalytische 
Behandlung, die ich in diesem Stadium vorschlug, wurde mit dem Bemerken 
abgelehnt, eine Schwangerschaft würde dem Übel wohl besser abhelfen. 
Die ganze Unruhe der jungen Frau wandte sich nun dieser Hoffnung 
zu, wobei auch der geheime Gedanke mitsprach, der neue Zustand 
böte ihr nun die ersehnte Gelegenheit, für ihre Pflichten als Gattin Aufschub 
zu erlangen. Sie befand sich, als die erwartete Schwangerschaft bald darauf 
eintrat, in einer unerträglichen Seelenverfassung. Einerseits gab sie sich sehr 
ambitiös die redliche Mühe, ihrem Manne Liebe zu erweisen und seine 
geduldige Anhänglichkeit durch wahre Neigung zu erwidern, andererseits 
verstärkte sich in ihr ein physischer Widerwillen — die Angst vor den 
Nächten in der Ehe — bis zum Ekel. In unheimlicher Folge traten neue 
Symptome auf : feindselige Regungen gegen den Verursacher ihrer Krankheit, 
eine Übertragung derselben auf das erwartete Kind, und als Verdrängungs¬ 
erfolg schreckhafte Gefühle. Eine Reise ihres Mannes, welche sie im 
Unbewußten dahin ausdeutete, er hätte sie in ihrem elenden Zustande hilflos 
allein gelassen, führte endlich den Ausbruch der eigentlichen Krankheit herbei, 
die von den Angehörigen nun nicht mehr übersehen werden konnte. Ohne 
äußeren Anlaß — also weder Unfall noch irgendeine Fiebererkrankung — 
steigerte sich eines nachts die Ängstlichkeit und ihr Kleinmut zu einem 
psychischen Schock, der den kurz vorher zum erstenmal empfundenen Fötus¬ 
bewegungen ein Ende setzte. Am nächsten Tage war es offenbar, daß das 
Kind in ihr gestorben sei. Unglückselige Umstände brachten es mit sich, daß 
die Entfernung des toten Kindes erst mehrere Tage nachher unter drohenden 
Symptomen seitens der kranken Mutter (hämolytischer Icterus und sterile 
Zersetzung der Placenta) durchgeführt wurde. Ein exzessiver Schwäche¬ 
zustand und eine völlige psychische Widerstandslosigkeit folgten dem 
operativen Eingriff. Jede geringste Zufälligkeit in der Behandlung wurde 
neurotisch ausgenützt. Die gynäkologischen Untersuchungen lösten fast 
delirante Erregungszustände aus, eine ärztlicherseits peinlich genaue Diät¬ 
vorschrift rief Appetitlosigkeit hervor. Als man dieser letzteren infolge der 
wachsenden Schwäche der Patientin begegnen wollte, trat jedesmal Erbrechen 
auf. Zu dem Unterernährungszustand gesellten sich neuerdings einsetzende 
Uterusblutungen hinzu, die der behandelnde Gynäkolog durch eine organische 
Veränderung nicht erklären konnte; sie hatten den Charakter einer 
ausgiebigen Menstruatio praecox und alle Anzeichen sprachen dafür, daß das 
Hauptmotiv der Erkrankung, die neurotische Angst vor dem Geschlechts¬ 
verkehr, der ja nun wieder in Aussicht stand, diese in Erscheinung gerufen 
hatte, denn der exzessive Ekel der Patientin wandte sich nun diesem neuen 
Symptom zu. Sie klagte ohne Unterlaß : „Wenn nur die Blutungen aufhörten, 
würde ich essen können.“ Das unter gewaltigen körperlichen Anspannungen 
und Erschütterungen erfolgende Erbrechen ließ aber die Blutungen nicht 
aufhören. Mit dem Anwachsen aller dieser Krankheitserscheinungen ging 
eine tiefe seelische Veränderung in der Patientin vor, die infantile Züge 
annahm. Auf eine gewisse Strenge reagierten die Symptome mit vorüber¬ 
gehender Besserung. Jede ärztliche Bemühung scheiterte aber zur Gänze an 
dem einen Symptom, das durch die Abwehr gegen den Rückfall in die orale 
Phase in den Strom der Neurose mitgerissen wurde : die völlig unzugängliche 
Schlaflosigkeit der Patientin. Sie bildete das Maß für jene pathologische 
Kraft, welche zur Unterdrückung der oralen Libido notwendig war. Ganze 







Über Schlaflust und gestörte Sehlaffähigkeit 


175 


vier Wochen hindurch hielt dieser alarmierende Zustand an; so lange konnte 
sich der robuste Organismus der Kranken dem Ansturm der Schlaflosigkeit 
widersetzen. In einem Moment, da ihr Bewußtsein bereits getrübt war, übte 
sie ein Suicid aus, das sich aus ihrer Veranlagung deuten ließ (Tod durch 
Verbrennung). 

Indem wir die Grundzüge dieses Falles, also gleichsam seine 
Struktur, ins Auge fassen, kommen wir zu dem folgenden Schluß. 
Je ausgiebiger sich ein Individuum in der oralen Phase betätigt 
hat und je energischer diese Entwicklungsstufe später verdrängt 
wurde, umsomehr bleibt die Möglichkeit vorhanden, daß durch den 
Vorgang einer pathologischen Regression der Libido auch die 
Schlaffähigkeit mitgerissen wird. Die orale Libido bedarf eben einer 
hohen Gegenbesetzung, die geeignet ist, in entsprechenden Fällen 
den allgemeinen Schlafwunsch des Ichs (Libidoeinziehung) aufzuheben. 
Ich weise zur nächsten Unterstützung dieser These auf einen Fall 
hin, den Abraham 1 in einer bedeutenden Arbeit über die orale 
Organisation veröffentlicht hat. Es bedarf nur einer geringfügigen 
Umstellung der dort erhobenen Tatsachen, um den Zusammenhang 
klar zu machen. Der männliche Patient Abrahams zeigte als 
Kind einen schier unerziehbaren oralen Trieb (Benagung des Bett¬ 
gestells) ; später wurde die Befriedigung dieser Zone zur Bedingung 
des Einschlafens, wobei die Masturbation, die sich ja fast immer 
unmittelbar an die orale Libidobetätigung anschließt, als Zwischen¬ 
glied eintrat. Jeden Versuch, der oralen Libido oder der 
Masturbation ein Ziel zu setzen, „mußte der Patient durch ebenso 
lange Perioden hartnäckiger Schlaflosigkeit erkaufen“. Die Schlaf¬ 
losigkeit der Melancholiker, die nach Abraham zufolge „Abwehr 
eines drohenden Rückfalles in die orale Organisation“ erkranken, 
findet in diesem Konnex eine Erklärung 2 . 

Ich versuche, den Zusammenhang der Schlaffähigkeit mit der 
oralen Organisation an einigen — gekürzten — Beispielen des 
weiteren darzulegen. Es liegt im Wesen des klinischen Materials, 
daß diese Beispiele sich auf Schlafstörungen beziehen, die 
der Beobachtung zunächst zugänglich gemacht werden. Der 
eingangs erörterte erste Fall bildete eine Ausnahme, da die 
regressive Libido dort bei der oralen Triebrichtung keinen 

1 Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der 
Libido. „Zeitschrift für ärztl. Psychoanalyse“, IV. Jg. 1916, Seite 86—87. 

2 Siehe auch Freud: Trauer und Melancholie. „Zeitschr. f. ärztl. 
Psychoanalyse“, IV. Jg., Heft 6. 

Große Affektentbindungen ermöglichen oft eine passagere Regression 
auf die orale Stufe; in solchen Momenten „fühlt man die Kehle wie zusammen¬ 
geschnürt“. 









176 


Dr. Michael Josef Eisler 


Widerstand, vielmehr eine Verstärkung und Festlegung erfuhr, 
wodurch auch das vorher hohe Schlafbedürfnis gesteigert und zu 
regressiven Erscheinungen gebracht wurde. 

3. Aus der Analyse einer sehr verwickelten Neurose, die jedoch in fast 
geräuschlosen Symptomen verlief und den äußeren Lebensgang des Patienten 
nur unmerklich beeinflußte, möchte ich folgende Zusammenhänge unter 
Weglassung der nicht hierher gehörigen Materialien zur Diskussion stellen. 
Es handelte sich um einen Mann mit labiler Potenz, der in ungewohnten 
Lebenslagen (bei neuen Bekanntschaften mit Frauen) an ejaculatio praecox, 
ansonst aber an ejaculatio tardiva litt, so daß er sich über seine eigentliche 
Männlichkeit niemals völlig klar wurde. Der häufig ausgeübte Beischlaf mit 
verschiedenen Personen führte trotzdem nur eine unvollständige Befriedigung 
herbei, die sich u. a. in zwei Symptomen äußerte. Er masturbierte zwischen¬ 
durch in den Pausen, da er jede, selbst kurze Abstinenz schlecht ertrug, 
und hatte einen gestörten Schlaf, d. h. er konnte insbesondere in den 
Nächten unmittelbar nach dem Sexualakt oder der Onanie, bei der also wie 
beim Beischlaf irgendeine Triebrichtung unbefriedigt geblieben war, nicht 
einschlafen. 

Dieses letztere mußte ich annehmen, wollte ich die von 
Freud längst behauptete Tatsache, nach welcher die Schlaflosigkeit 
ein Folgezustand unerledigter Sexualerregungen sei, nicht fallen 
lassen. Die Deutung dieses Symptoms ergab sich, als in der Sexual¬ 
konstitution des Patienten eine beträchtliche orale Libidofixierung, 
sowie deren weitere Schicksale aufgedeckt wurden. Diese war 
nach ausgiebiger Betätigung in der Kindheit mit dem Einsetzen 
der Pubertät gewissermaßen ohne Rollenbeteilung geblieben. Zwar 
ist der Patient ein sehr anspruchsvoller Kußliebhaber, doch konnte 
diese Neigung seiner oralen Libido niemals voll Genüge leisten; 
seine sonstigen autoerotischen Neigungen, die ohne Liebesobjekt 
auskamen, ließen auch das Ausbiegen in eine Perversion nicht zu. 
Auf solche Weise vermochte dieser vom Leben abgeschnittene 
Partialtrieb im Unbewußten gleichsam seine potentielle Kraft 
beizubehalten, um schließlich nach Schmälerung des Vollgenusses 
im Sexualakt als temporäre Schlafstörung wirksam, d. h. pathologisch 
zu werden. Bemerkenswert ist, daß die orale Libido hinter dem 
Symptom der Schlaflosigkeit ihr Inkognito nicht aufgeben mußte. 
Ähnliches erweist der nächste Fall. 

4. Die Schlaflosigkeit eines 48jährigen Mannes, die mit dem Auflassen 
der Genitalfunktionen einsetzte, um dann einer sexuell anspruchslos gewordenen 
Person im wahren Sinne zum Martyrium zu werden, ließ sich dahin erklären, daß 
hier durch den Prozeß des Alterns wohl die bewußtseinsfähigen Triebregungen 
außer Wirkung gebracht wurden, die unbewußten — verdrängten — jedoch 
die im Climax regelmäßige Steigerung erfahren hatten, darunter eine bislang 
unbeteiligt gebliebene orale Libido. Da aber diese in der ausgeschalteten 
Sexualtätigkeit nicht mehr zu Geltung gelangen konnte, rief sie ihr 















Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit 177 

Ergänzungsstück, die Schlaflosigkeit, in Erscheinung. Als indirekter Beweis 
einer ungewöhnlichen oralen Disposition bei dem Patienten mag dienen, daß 
seine Tochter bis zu ihrem 15. Lebensjahr eine Lutscherin geblieben war und 
später als reifes Mädchen durch ihre sexuelle Bedürfnislosigkeit sehr an den 
gegenwärtigen Zustand des Vaters gemahnte, dem sie auch in physischen 
Einzelheiten ähnlich ist. 

5. In einem Fall von exzessiver Schlaflosigkeit, die sich als Folge einer 
seelisch bedingten, tief eingewurzelten Abneigung gegen den normalen 
Verkehr — als Motiv einer Auflehnung gegen den Lebenswandel der Mutter, 
mit der er sich sonst identifizierte — behaupten konnte, entwickelte sich 
eine orale Perversion als endgültige Trägerin der verbliebenen Sexualtrieb¬ 
regungen des Patienten. Ehe jedoch diese zum Durchbruch kam, hatte sich 
die Schlaflosigkeit dauernd festgesetzt. Der Patient litt zeitlebens an 
salivatio nervosa. 

Ich glaube, die Reihe dieser Beobachtungen ließe sich bei 
Einhaltung der führenden Gesichtspunkte mühelos fortsetzen. So 
viel steht jedoch mit dem Gesagten zu Recht fest, daß wir unter 
gewissen Verhältnissen ein ergänzendes Verhalten von Trieben 
oder, falls wir das Schlafbedürfnis nicht auf die Dignität eines 
Triebes herabsetzen wollen, ein Zusammengehen von Trieben mit, 
kardinalen Lebenserscheinungen, die der organischen Natur anhaften, 
annehmen dürfen. Folgende Erwägungen sollen diesen Satz unter¬ 
stützen. Als eine Lebenserscheinung von prinzipieller Bedeutung 
gilt der Zustand, den wir Bewußtsein nennen. Nun sehen wir, 
daß dieser im eigentlichen Sinne mit dem Anheben der 
Atmungstätigkeit beginnt. Euphemistisch darf jeder Mensch 
sagen, seitdem er atmet, sei er sich seiner selbst bewußt. Es ist 
wiederum die Pathologie, die uns lehrt, daß zwischen dem 
Bewußtsein und der Atmung tiefreichende Zusammenhänge bestehen. 
Bei allen krankhaften Störungen, bezw. Unterbrechungen des 
Bewußtseins, die wir mit dem vulgären Sammelbegriff „Anfall“ 
bezeichnen (Ohnmacht, Epilepsie, teilweise hysterischer Anfall), ist 
die Atemhemmung ein dominierendes Symptom, das diese Zustände 
vom Schlafzustand unterscheidet. Im Sinne der Freud sehen 
Libidotheorie haben wir anzunehmen, daß jeder regressive Vorgang, 
sofern er nicht ins Ich einbezogen wird, auf ein Organ trifft, daß 
ihm dispositionell entgegenkommt. Es hat nichts Schwieriges auf 
sich, wenn wir in der Theorie den Schluß ziehen, daß auch im 
Atmungsorgan eine solche Libidoposition aufgerichtet sein kann. 
Ein Fall von hysterischer Dyspnoe, den ich behandelte, brachte 
mich zuerst flüchtig auf diesen Gedanken. Später fand ich in einem 
mir sehr nahe stehenden Falle bei Untersuchung einer infantilen 
Angstbereitschaft, die sich noch nicht in Phobie gewandelt hatte 
und in ekklampsieartigen Anfällen Abfuhr verschaffte, denselben 









178 


Dr. Michael Josef Eisler 


regressiven Weg zum Atmungsorgan vorgezeichnet 1 . Damals sagte 
ich mir, es müsse eine rückläufige Libidobewegung auf eine 
apnoische Phase, die ich vorhin auch eine lethargische 
genannt habe, geben. Ich möchte mit dieser Benennung eine große 
Reihe von sehr verwickelten Erscheinungen nicht künstlich 
vereinfachen und breche deshalb an dieser Stelle ab. Es war mir 
diesmal nur um die Parallele zu tun, und wenn ich auf jene 
zwischen oralem Trieb und Schlafbedürfnis einiges Licht gesammelt 
habe, halte ich vorläufig meine Aufgabe für gelöst 2 . 

1 Siehe Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Pychoanalyse. Wien 
1917, S. 461. Dort heißt es u. a. „Der Name Angst — angustiae, Enge — 
betont den Charakter der Beengung im Atmen . . .“ 

2 Unsere therapeutischen Bemühungen haben bislang bei den nervösen 
Schlafstörungen wenig Erfolg aufzuweisen. Diesen bedauerlichen Umstand 
dürfen wir daraus erklären, daß der automatische Zustand des Schlafes, der 
zu verschiedenen Autoerotismen Verwandtschaft pflegt, zunächst mit geringer 
psychischer Energie besetzt ist, und erst später seine Beziehungen zu den 
verschiedenen seelischen Tätigkeiten aufnimmt. Die analytische Behandlung 
findet aber eine natürliche Grenze dort, wo das rein Psychische, also ein 
Differenzierungsprodukt, in den allgemeinen Strom des Vitalen eintaucht. 









1 


Zur Technik der Kinderanalyse 1 . 

Von Dr. Hermine Hug-Hellmuth. 

„Die Antwort auf technische Fragen ist in 
der Psychoanalyse niemals selbstverständlich.“ 
Freud, Klinische Schriften zur 
Neurosenlehre, IV. Folge. 

Die Analyse des Kindes und die des Erwachsenen haben 
gleichen Zweck und gleiches Ziel: Die Wiedererlangung der 
seelischen Gesundheit, die Herstellung des durch uns bekannte 
und unbekannte Eindrücke erschütterten psychischen Gleich¬ 
gewichtes. 

Die Aufgabe des Arztes ist erfüllt mit der Heilung, gleich¬ 
gültig, welche Wege der Patient in bezug auf die ethische Wertung 
seines Verhaltens gegen die Außenwelt geht; es genügt, wenn 
der Mensch berufs- und lebenstüchtig geworden ist, wenn er dem 
Ansturm, den Enttäuschungen des Lebens von nun ab nicht mehr 
zu erliegen droht. 

Die heilerziehliche Analyse darf sich nicht zufrieden geben, 
den jungen Menschen von seinem Leiden zu befreien, sie muß 
ihm auch moralische, ästhetische und soziale Werte geben. Ihr Objekt 
ist nicht der reife Mensch, der gesundet für sein Tun und Lassen 
einzustehen imstande ist, sondern das Kind, der Jugendliche, also 
Menschen, die mitten im Entwicklungsgänge stehend, unter 
der erzieherischen Führung des Analytikers zu zielbewußten 
willenskräftigen Menschen erstarken sollen. Der heilpädagogische 
Analytiker darf nie vergessen, daß vor allem die Kinder¬ 
analyse stets Charakteranalyse, Erziehung ist. 

Die Eigenartigkeit der kindlichen Seele, ihr besonderes 
Verhältnis zur Umwelt bedingt eine besondere Technik ihrer 
Analyse. 

Drei Punkte sind von vornherein maßgebend: 

1. Das Kind kommt nicht wie der Erwachsene aus eigenem 
Antrieb, sondern durch den Willen der Eltern zur Analyse und — 


Vortrag, gehalten auf dem VI. Internationalen Psychoanalytischen 
Kongreß im Haag, 8. bis 12 . September 1920. 







180 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


darin gleicht übrigens sein Los dem des reifen Menschen — in 
der Regel erst, wenn alle anderen Mittel sich als unzureichend 
erwiesen haben. 

2. Das Kind steht mitten im Ablauf der es krank machenden 
Erlebnisse. Der Erwachsene krankt an Geschehnissen der Vergangen¬ 
heit, das Kind an gegenwärtigen; der stete Wechsel der Ereignisse 
erzeugt ein ewig sich änderndes Bild des Verhältnisses des Kindes 
zu seiner Umgebung. 

3. Das Kind hat im Gegensatz zum Manne und wohl in Überein¬ 
stimmung mit einer großen Zahl weiblicher erwachsener Patienten 
häufig gar kein Interesse sich zu ändern, seine augenblickliche 
Einstellung zu der Umwelt aufzugeben. Es kommt sich in seinen 
„Unarten“ unendlich wichtig vor, das Gefühl der Allmacht, unter 
die es die Personen seines Umkreises zwingt, sein Narzißmus, der 
sich in der steten Beachtung seitens der Umgebung sonnt, läßt 
es nicht verzichten auf seine „Schlimmheit“. Dem stark sadistischen, 
wie dem ausgesprochen masochistischen Kinde sind die Tag für Tag 
sich wiederholenden Auftritte, Wutausbrüche und Strafen ein 
Bedürfnis ihrer kranken Seele. Ebensowenig verlangen aber auch 
jene glücklichen Naturen nach der Genesung, die sich schon als 
Kinder jeder Lebenslage anzupassen verstehen, von den steten 
Verdrießlichkeiten im Elternhaus nur die freundliche Seite des 
„Wiedergutseins“ in der Erinnerung behalten, eine zeitweilige 
Unterbringung in einer Erziehungsanstalt als angenehme 
Abwechslung betrachten, kurz, sich in jeder Änderung ihres 
Lebenskreises zurechtfinden. 

So hatte ich einen kleinen Gewohnheitsdieb zur Behandlung 
übernommen, der in allen Erlebnissen in der Schule und daheim 
eine „Hetz“ sah und sich mit dem vollständigen Mißerfolg im 
Lernen mit der Bemerkung abfand: „Der Vater hat auch nicht 
lernen wollen und jetzt geht’s uns doch so gut.“ Und einem anderen 
zwölfjährigen Jungen, einem kleinen Durchgänger, den ich an der 
heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik analysierte, 
war der Aufenthalt daselbst infolge der ausgezeichneten Verköstigung 
so angenehm, daß er trotz seiner oftmals geäußerten Sehnsucht 
nach den Eltern im Grunde doch keine Änderung wünschte. 

Die Erfahrung lehrte mich, daß im allgemeinen die Mädchen 
in den Pubertätsjahren häuslichen Konflikten hilfloser gegenüber¬ 
stehen und sie ihnen darum auch schmerzhafter sind als Knaben 
im gleichen Alter. Die Erklärung ist wohl zum Teil in der stärkeren 
Gebundenheit des Mädchens ans Elternhaus infolge seiner von früh 
an mehr auf Verdrängung arbeitenden Erziehung zu suchen, 





Zur Technik der Kinderanalyse 


181 


ziim Teil in einer geringeren Fähigkeit, der in der Reifezeit heftig 
anflodernden inzestuösen Regungen auf dem Wege der Sublimierung 
Herr zu werden. 

In der für die psychoanalytische Kindertherapie grundlegenden 
Untersuchung über die Phobie eines fünfj ährigen Knaben 
zeigt uns Freud die Methode, durch die es beim kleinen Kinde 
gelingt, jene Tiefen der Seele zu durchleuchten, in denen sich die in 
kindliche Angst sich umsetzenden libidinösen Regungen abspielen. 
Auf dieser Altersstufe ist eine der Analyse des Erwachsenen analoge 
Behandlung ausgeschlossen; es kann einzig eine auf psycho¬ 
analytische Erkenntnisse gegründete Erziehung 
in Anwendung kommen; ein volles Verständnis für die infantile 
Gedanken- und Gefühlswelt wird das volle Vertrauen des Kindes 
erwecken und mit Hilfe dieser beiden Faktoren ist der Weg 
gewonnen, der das Kind vor mancherlei Fehlern und Schäden 
bewahrt. Da die körperliche und seelische Pflege des kleinen 
Kindes vornehmlich in weiblicher Hand liegt, führt uns die eben 
ausgesprochene Erkenntnis zur Forderung, kluge, gütige Frauen 
für das psychoanalytische Erziehungswerk heranzubilden. 

Eine regelrechte Analyse läßt sich erst etwa vom siebenten, 
achten Lebensjahr ab durchführen. Aber auch bei Kindern dieser 
frühen Altersstufe muß der Analytiker, wie ich später ausführen 
werde, vom gewohnten Geleise abbiegen, sich mit Teilerfolgen 
begnügen, wo er befürchten müßte, durch ein zu gewaltsames 
Bohren im Gefühls- und Gedankenkreis das Kind einzuschüchtern, 
an seine Auffassungskraft zu hohe Anforderungen zu stellen und 
seine Seele zu verwirren, statt zu befreien. 

Im allgemeinen lassen sich die jugendlichen Analysanden 
ungezwungen in zwei Gruppen scheiden; solche, die zum voraus 
wissen oder bald erfahren, worin die Behandlung besteht, was 
ihr Zweck und Ziel ist; und solche, die wegen ihres zarten Alters 
oder weil sie unter ihren Symptomen vorläufig selber nicht leiden, 
z. B. ausgesprochene homosexuelle Neigungen, oder endlich wegen 
anderer individueller Faktoren, wie einer debilen Konstitution, über 
den Zweck des Zusammenseins mit dem Analytiker nicht aufgeklärt 
werden können. Diese Kinder mögen denn ruhig an der Meinung 
festhalten, daß man diese Stunden mit ihnen verbringe, um ihnen 
irgendwelche Kenntnisse zu vermitteln, eine „Unart“ abzugewöhnen, 
mit ihnen zu spielen oder auch aus besonderem Interesse für 
ihre Person. 

Ein 13 jähriger debiler Knabe hatte keinen Augenblick einen 
Zweifel an der Aussage der Mutter, ich sei eine Freundin des 








182 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


eingerückten Vaters und komme, ihn, den Jungen, zu seinem 
Namenstage zu beglückwünschen. Da er mit schwerer Zunge 
sprach, nahm er auch die weitere Erklärung, ich würde 
ihn deutlich sprechen lehren, ohne Mißtrauen auf und mühte sich 
auch tatsächlich um eine klarere Aussprache. 

Die Mutter eines einährigen Knaben, der vollständig in 
seiner Phantasie- und Traumwelt lebte, hatte ohne mein Vor¬ 
wissen eine Einführung gewählt, die mir nicht unbedenklich 
schien. Sie gab an, eine Dame ihrer Bekanntschaft interessiere 
sich sehr für die Träume der Kinder und werde sich von ihm 
darüber erzählen lassen. Im Verlaufe der Analyse überzeugte ich 
mich, daß die Mutter keinen Schaden angerichtet habe, denn die 
in der ersten Zeit vielleicht etwas erkünstelten Traumberichte 
waren ja doch nur Spiegelbilder seiner bewußten und unbewußten 
Tagesphantasien. 

Wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, zum Analy- 
sanden über den Zweck der gemeinsamen Stunden zu sprechen, 
darüber läßt sich keine Regel aufstellen; Erfahrung und persön¬ 
liches Feingefühl sind allein die verläßlichen Führer. 

In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Frage steht die 
Stellung gewisser Forderungen, deren Erfüllung dem erwach¬ 
senen Patienten eingangs der Behandlung als conditio sine qua 
non der Kur bezeichnet wird. Es ist von vorneherein einzusehen, 
daß man bei den psychoanalytischen Zöglingen der zweiten Gruppe 
überhaupt auf die direkte Forderung der unbedingten Offenheit 
und kritiklosen Aussprache aller Einfälle verzichten muß und sie 
nur gelegentlich in einem günstigen Augenblick stellen kann. 
Dagegen ist bei Analysanden der ersten Gruppe, also reiferen 
jungen Menschen, die nicht selten durch ein Familienmitglied, 
das sich einer Psychoanalyse unterzogen hatte, über deren Wesen 
unterrichtet sind, oft schon in der ersten Stunde die Bedingung 
der vollsten Offenheit, sowie der Verschwiegenheit gegen Alters¬ 
genossen, die Geschwister und sonstige Familienangehörige am 
Platze. Freilich darf gerade hinsichtlich des auferlegten Schweigens 
nicht übersehen werden, daß Gebote und Verbote den jungen 
Menschen geradezu zur Übertretung herausfordern. 

Das Zeitausmaß wird bei der Kinderanalyse in der 
Regel durch den Schulbesuch, den die Eltern durchaus nicht 
verkürzt sehen wollen, bestimmt. Von wenigen Fällen abgesehen, 
in denen dem jungen Patienten der Anschluß besondere Schwierig¬ 
keiten bereitet, habe ich immer gefunden, daß eine Kürzung auf 
drei bis vier Wochenstunden den Erfolg der Analyse, wenn sie nur 









Zur Technik der Kinderanalyse 


183 


genügend lang fortgeführt wird, nicht beeinträchtigt. Hingegen 
erscheint mir eine genaue Zeiteinhaltung von der größten Wichtigkeit. 
Hier liegt ein Stück Selbsterziehung, das dem jungen Menschen nicht 
erspart werden soll. Es kostet einen wohl manchmal eine starke 
Selbstüberwindung, auf eine wichtige Mitteilung, die das Kind bis 
zum Stundenende zurückhielt, zu verzichten, aber es hieße dem 
Zögling die Oberhand überlassen, wollte man auf seine durch das 
Zögern maskierten jugendlichen Ansprüche eingehen. 

Während die heilerziehliche Analyse von Kindern reiferen 
Alters (14 bis 18 Jahre) oft bald der des Erwachsenen ähnlich 
verläuft, indem man schon in den ersten Stunden über die 
Bedingungen der Behandlung, über die positive und die negative 
Übertragung, den Widerstand, die Bedeutung der unbe- 
wußtenSeelenströmungen für den ganzen Ablauf unseres 
Erlebens sprechen kann, gestaltet sich die Analyse des jüngeren 
oder des in der geistigen Entwicklung zurückgebliebenen Kindes 
von vornherein anders. 

So halte ich es für ungünstig, die kleinen Patienten zur 
Vorbesprechung mit dem Analytiker mitzunehmen. Das Warten im 
Nebenzimmer während der Unterredung, durch die das Kind sich 
entlarvt, gedemütigt fühlt, erzeugt in ihm nicht selten eine so starke 
Aufregung, sei es Angst, Erbitterung, Trotz, Scham, daß die 
Behandlung dadurch gefährdet oder mindest ihre Einleitung 
erschwert wird. Man hat einen Widerstand zu beseitigen, ehe man 
noch die Möglichkeit hatte, eine Brücke des Einverständnisses zu 
schlagen; man ist gewissermaßen vor die Aufgabe gestellt, über 
eine Kluft hinüber einen Trümmerhaufen wegzuräumen. 

So wie die erste Bekanntschaft des Analytikers mit dem 
jungen Patienten soll auch die Behandlung selbst womöglich im 
Heim des letzteren stattfinden. Die Analyse muß unabhängig 
gemacht werden von der Laune des Analysanden, der es trefflich 
versteht, einmal ein Unwohlsein zu produzieren, das ihn am Kommen 
verhindert, ein andermal zu spät zu kommen oder die Analysenstunde 
zu schwänzen. Denn dem Kinde fehlt nicht bloß das Interesse an 
der Geldfrage, in der für den Erwachsenen ein steter Ansporn zur 
lückenlosen Fortführung der Kur liegt, sondern es bietet sich ihm 
noch obendrein in dem Bewußtsein, seinen Eltern diese Auslage 
zu verursachen, eine Gelegenheit, Trotz- und Rachegelüste gegen 
sie zu befriedigen. Natürlich drängt jedes Kind in der Hochflut 
der positiven Übertragung, die Analyse ins Heim des Analytikers 
zu verlegen; aber ich habe mich jedesmal, wenn äußere Gründe 
für diesen Ortswechsel sprachen, von der Unbeständigkeit dieser 







184 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


Änderung überzeugen können. So sehr auch Zeit und Kraft 
des heilerziehlichen Analytikers durch diese Forderung belastet 
werden, da er höchstens die halbe tägliche Patientenzahl des 
ärztlichen Kollegen bewältigen kann und so schwer auch eine 
vollständig ungestörte, unbelauschte Aussprache im Hause des 
Patienten durchzusetzen ist, scheinen mir diese Übel doch gering 
im Vergleich zu dem, die Durchführbarkeit der Analyse schon 
rein äußerlich dem Kinde zu überlassen. Daß auch das Elternhaus 
die Überwachung des Kindes auf dem Wege zum und vom 
Analytiker trotz aller Sorglichkeit als auf die Dauer undurch¬ 
führbar bald zum Vorwand des Abbruches der Behandlung nimmt, 
ist keinem Kinderanalytiker neu. 

So günstig mitunter die zeitweise Entfernung schwer erzieh¬ 
barer Kinder vom Elternhause wirkt, habe ich doch einige 
Bedenken gegen ihre psychoanalytische Behandlung in irgend¬ 
welchen Instituten, in denen sie als interne oder Tageszöglinge 
untergebracht sind, einmal weil dem Kinde das Schweigegebot in 
einer Situation, in der es sich gegenüber den Kollegen unendlich 
wichtig vorkommt, unerträglich schwer erscheint und weil es 
ferner leicht dem Spott der anderen ausgesetzt ist, wenn es 
eine „Stunde“ hat, über deren Zweck und Inhalt die anderen 
keine Auskunft erlangen können. Wie die Behandlung sich 
gestalten wird, wenn vielleicht einmal in besseren Zeiten 
mein Gedanke von der Gründung psychoanalytischer 
Jugendheime sich verwirklicht, läßt sich heute nicht sagen; 
nur glaube ich, wird es ganz besonderen Taktes, großer erzieh¬ 
licher Tüchtigkeit und Erfahrung bedürfen, den sicher bedeutenden 
Schwierigkeiten, die der psychoanalytischen Behandlung aus dem 
Zusammenleben der Zöglinge erwachsen, erfolgreich zu begegnen. 
Die Eifersucht der Analysanden untereinander, der Vergleich, der 
nicht immer zugunsten des Analytikers ausfällt, in dessen Hand 
eben ein Patient gegeben ist, die nicht zu verhindernde gegen¬ 
seitige Aussprache der Kinder über ihre Analyse dürfen in ihrer 
Schwere nicht unterschätzt werden. Trotzdem glaube ich, daß die 
Gründung psychoanalytischer Jugendheime das Problem der Führung 
des schwer erziehbaren Kindes, an dem unzählige Eltern und die 
Schule scheitern, wird lösen oder doch minder hart empfinden 
lehren. 

Ein bedeutsamer Unterschied in der Analyse des Kindes und 
der des Erwachsenen ergibt sich aus einer scheinbar reinen 
Äußerlichkeit: soll der Patient während der Behandlungsstunde 
liegen oder sitzen? Für den sehr jugendlichen Patienten ist 
















Zur Technik der Kinderanalyse 


185 


die Frage schon durch die Schranken, die sein Alter der Analyse 
zieht, beantwortet. Aber auch für das reifere Kind bedeutet das 
„Liegen“ eine Vorbereitung zu einer Angstsituation. Niederlegen 
weckt im Kinde die Erinnerung an erlebte oder phantasierte 
Überwältigüngsszenen; das eine befürchtet Prügel, das andere eine 
Operation, beide werden von heimlichem Schuldbewußtsein, heim¬ 
licher Kastrationsangst überfallen. Patienten im Pubertätsalter 
wähnen sich nicht selten im „Liegen“ der Hypnose und in ihr 
der Vergewaltigung preisgegeben. Verführungsphantasien homo- 
wie heterosexueller Art spielen bei „nervösen“ Knaben und 
Mädchen eine große Rolle und werden durch die Aufforderung 
des Niederlegens sofort auf die Person des Analytikers proiziert. 

Ein löjähriger Junge, der wegen einer schweren Gewitter-, 
Sturm- und Erdbebenphobie in meine heilerziehliche Behandlung 
kam, gestand mir im Laufe der Analyse, daß er sich der Kur 
unbedingt widersetzt hätte, wenn er sich, wie er es von einem 
analysierten Bekannten seiner Familie gehört hatte, auf die 
Ottomane hätte legen müssen, da er in steter Furcht vor der 
Hypnose lebte. Und tatsächlich war der Junge während der Kon¬ 
sultation bei einem Nervenarzt seiner Vaterstadt, der ihn hypnoti¬ 
sieren wollte, bei diesem Versuch in einen schweren Aufregungs¬ 
zustand geraten, in dem er die Polizei zu Hilfe rief und schließ- 
lieh fluchtartig* auf die Straße eilte. 

Ich habe nicht bemerken können, daß der Erfolg der Analyse 
durch das Einandergegenübersitzen geschädigt worden wäre. 

Von der größten Wichtigkeit ist die erste Stunde; in ihr 
gilt es, den Anschluß an die junge Seele zu finden, „das Eis zu 
brechen“. Sie verursacht dem Anfänger viel Kopfzerbrechen und 
Herzklopfen und bringt dem geübten Analytiker fast in jedem 
Fall neue methodische Aufschlüsse und Richtlinien. Aber es läßt 
sich keine Regel, kein Programm aufstellen; Intelligenz, Alter 
und Temperament des Patienten werden entscheiden, welcher 
Weg einzuschlagen sei. 

Bei reiferen Analysanden ist oft die volle Wahrheit die 
richtige Form, ihr Vertrauen im Sturm zu erobern. 

Die Mutter eines schwer nervösen 14jährigen Mädchens 
führte mich bei der Tochter als eine Freundin, die sie viele Jahre 
nicht gesehen hätte, ein ; aber das Kind ließ sich nicht täuschen ; nach 
wenigen Minuten fragte es: „Wer sind Sie denn eigentlich?“ und 
die ehrliche Erklärung, ich befasse mich mit jungen Menschen, 
die das Leben allzu schwer nehmen, mit ihm nicht fertig werden, 
ich wolle auch ihr helfen, in besseren Einklang zur Mutter zu 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2 13 











186 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


kommen, verfehlte nicht ihre Wirkung. Das Kind schloß sich 
stürmisch an mich an und holte sich in allen Fragen, die es 
quälten, bei mir, „die ich ihre zweite, nein, ihre wahre Mutter 
sei“, Rat. 

Manchmal hilft bei Patienten, die sich hartnäckig gegen jedes 
Gespräch verschließen, irgend ein Kunstgriff. Ein kleiner neun¬ 
jähriger Selbstmordkandidat nimmt in der ersten Stunde von 
meiner Anwesenheit nicht die geringste Notiz, legt den Kopf auf 
den Tisch und reagiert auf kein Wort. Eine Mücke, die mir knapp am 
Gesicht vorbeisummt, bringt mich auf den Einfall, zu tun, als wäre 
mir etwas ins Auge gefallen. Sofort springt der Junge, der sich 
überall gern in den Vordergrund stellt, auf: „Bitte, lassen Sie 
mich sehen, ich werde es Ihnen herausnehmen; aber Sie dürfen 
nicht reiben“ usw. Mit seiner Hilfeleistung war das Eis gebrochen, 
er hatte sich mir unentbehrlich gemacht. Und jedesmal, wenn 
ein starker Widerstand ihn in sich verkriechen ließ, brauchte ich 
nur seinen Rat, seine Hilfe in Anspruch nehmen und die Analyse 
ging wieder rüstig vorwärts. 

Ein Kunstgriff, der nach meiner Erfahrung nie versagt, ist, 
dem Analysanden Streiche anderer Kinder zu erzählen. Da man 
von den Eltern über die „Unarten“ und „Eigenheiten“ des 
kleinen Patienten genügend unterrichtet ist, hat man nicht zu 
besorgen, ein Kind durch solche Berichte zu ihm bislang fremden 
Missetaten anzuregen. Durch eine richtig geführte Analyse ist 
noch kein Kind moralisch geschädigt worden, weder im Sexuellen 
noch nach einer anderen Richtung. Wenn eine augenblickliche 
Verschlechterung des Betragens dem Laien eine solche Befürchtung 
nahelegt, so weiß sie doch der Analytiker als günstiges 
Anzeichen eines Erfolges zu schätzen. 

Die Reaktion der Kinder auf diese Form der Einleitung ist 
eine dreifache. Häufig erwidert der Patient mit einem Bericht 
gleicher Untaten, die zuerst — andere vollbrachten, und dann 
allmählich für die eigene Person zugegeben werden. Oder es erfolgt 
eine heftige Ablehnung: „Das habe ich nie getan!“ Wir wissen 
aus der Analyse der Erwachsenen, daß jedes affektvolle Nein ein 
Zugeständnis bedeutet. Endlich kommt es vor, daß das Kind die 
Mitteilung ganz gleichgültig anhört. Denn wir werden kaum irren 
in der Annahme, daß die Eltern etwas im Benehmen ihres Kindes 
mißverstanden oder daß sich hinter den mitgeteilten Tatsachen 
noch viel Schlimmeres verbirgt. 

Beim Kinde von sieben, acht Jahren ist ein Eingehen auf 
seine Spiele oft der Bahnbrecher, und zugleich lassen sich in den 























Zur Technik der Kinderanalyse 


187 


Spielformen manche Symptome, Eigenheiten und Charakterzüge 
erkennen; bei solchen sehr jugendlichen Patienten wird mitunter 
das Spiel seine Rolle während der ganzen Behandlung behaupten. 

Ein siebenjähriger Knabe, der an schwerer Schlaflosigkeit mit 
krampfartigem Lachen und Zuckungen litt, was den Verdacht der 
Beobachtung des elterlichen Sexuellverkehrs nahelegte, zeigte am 
Tage eine vollständige Apathie, lag stundenlang schweigend ohne 
zu spielen auf dem Teppich, aß viel, aber ohne Lust und Auswahl 
und hatte scheinbar sein früher außerordentlich starkes Zärtlichkeits¬ 
bedürfnis plötzlich verloren. In der Analyse ließ er mich die ganze 
Stunde, ohne viel zu reagieren, mit seinen Spielsachen spielen, gab 
selten eine Antwort, so daß es schwer zu entscheiden war, ob er 
überhaupt meine Worte auffaßte. In einer der ersten Stunden 
erzählte ich von einem kleinen Jungen, der nachts nicht schlafen 
wolle, Lärm mache, daß auch die Eltern nicht schlafen können; der 
kleine Rudi mache auch Lärm am Nachmittag, wenn Vater ruhen 
wolle ; dann sei Vater böse und Rudi bekomme Schläge. (Reaktion: 
der kleine Hansl läuft zum Büfett, nimmt einen „Krampus“ mit 
Rute herunter und schlägt mich auf den Arm: „Du bist schlimm!“) 
Dann habe Rudi den Vater gar nicht gern; er wäre froh, wenn 
Vater nicht da wäre. (Reaktion: „Papa ist im Krieg“ — sein 
Vater, ein höherer Offizier, war tatsächlich bis zum Kriegsende 
im Feld und nur auf kurzem Urlaub zu seiner Familie nach Wien 
gekommen. — Plötzlich nimmt er seine kleine Kanone und sagt: 
„Puff, puff.“) 

Am nächsten Tag künden sich seine Todeswünsche gegen 
den Vater noch deutlicher; er spielt mit einem kleinen Auto und 
überfährt den Chauffeur, den ich eben als Vater des kleinen Rudi 
bezeichnete, mehrmals; ich telephoniere im Spiele dem Söhnchen 
vom Unfall des Vaters, lasse Rudi sehr weinen und sage, daß der 
kleine Junge früher oft gern gehabt hätte, wenn der strenge 
Vater einmal fort gewesen wäre; aber weil er ihn doch sehr lieb 
habe, kränke er sich jetzt. Die Reaktion des kleinen Hansl ist 
charakteristisch; er hört mir, auf dem Boden liegend, zu, fragt 
ab und zu gespannt: „Was tut der kleine Rudi jetzt?“ Plötzlich 
springt er auf und läuft zur Tür hinaus. In gleicher Weise 
beantwortet er am folgenden Tag die von ihm gewünschte Wieder¬ 
holung des Spieles. In dem spontanen Verlassen des Zimmers 
läßt sich die Arbeit seines Unbewußten klar erkennen. Aber es 
zeigt sich uns auch ein bedeutsamer Unterschied im Ablauf des 
psychischen Geschehens beim Erwachsenen und beim Kinde. 
Während die Analyse des reifen Menschen auf die volle Einsicht 


13* 








188 


Dr Hermine Hug-Hellmuth 


der unbewußten Motive und Gefühle abzielt, genügt beim Kinde 
dieses wortlose, durch eine Symbolbehandlung ausgedrückte 
Zugeständnis vollständig. Ja, wir lernen aus der Analyse des 
Kindes vermuten, daß sich bei ihm die seelischen Vorgänge 
überhaupt in ganz anderen Schichten und in anderer, bald 
loseren, bald starreren Verknüpfung vollziehen als beim Erwach¬ 
senen ; daß beim Kinde viele Eindrücke, trotzdem sie die 
Bewußtseinsschwelle nie erreichten, doch deutliche Spuren in der 
Seele zurücklassen. Auch die Analyse macht diese Erinnerungsreste 
von „Urszenen“ nicht bewußt \ der Prozeß der Verschmelzung 
neuer Eindrücke mit ihnen vollzieht sich vielleicht im Vorbewußten 
und späteren Erlebnissen auf höheren Entwicklungsstufen bleibt 
es Vorbehalten, sie ins Bewußtsein treten zu lassen. Dies würde 
zur Erklärung der Tatsache beitragen, warum die allerfrühesten 
für alle Menschen ziemlich gleichartigen Eindrücke, z. B. die 
Maßnahmen der Aufzucht, in dem einen den Grund zu einer 
Neurose legen, indes der andere ungeschädigt aus ihnen 
hervorgeht. 

Am seltensten wird der jugendliche Patient gleich in der 
ersten Stunde, da er voll Mißtrauen gegen den Analytiker, die 
Vater- oder Mutter-Imago, seine psychischen Fühlhörner ausstreckt, 
selbst frei erzählen. Es sei denn, daß eine maßlose Erbitterung 
gegen Eltern oder Geschwister das Kind treibt, spontan in Klagen 
und Schimpfen auszubrechen. In diesem Falle gilt es, dem jungen 
Menschenkinde die größte Duldsamkeit, ein volles Eingehen auf 
seine Beschwerden zu zeigen. 

Von der größten Wichtigkeit ist die erste Mitteilung 
oder eine Symptomhandlung des Kindes in der 
ersten 1 Stunde; denn sie enthalten den Kernkom- 
plex der infantilen Neurose. 

Ein löjähriger Junge kommt wegen schwerer Angstzustände, 
die er bald als „Angst vor der Angst“ charakterisiert, in die 
analytische Behandlung. Seine erste Mitteilung lautet: „In unserer 
Klasse sind die beiden besten Schüler Juden, dann komme ich, 
die guten Schüler sind wieder Juden und alle übrigen sind 
Christen.“ Der Knabe verrät durch diese Feststellung den in ihm 
ewig nagenden unbewußten Vorwurf gegen den Vater, der wegen 
der Verheiratung mit einer Arierin vom Judentum zum Protestan¬ 
tismus übergetreten ist. 


1 Vergleiche Freuds Studie „Ein Kind wird geschlagen“, Zeit¬ 
schrift V/4, 1919. 

















Zur Technik der Kinderanalyse 


189 


Den kleinen Hansl, dem wir einen wertvollen Einblick in den 
Mechanismus des seelischen Geschehens beim Kinde verdanken, 
weckt folgendes Spiel aus der vollständigen Teilnahmslosigkeit in 
der ersten Stunde : Ich bemerke im Spiegelbild, daß er in der 
Nase bohrt und sage: „0, was tut denn der Hansl ? Pfui, da mag 
ich nicht hinschauen.“ Darauf stellt er sich schelmisch lachend 
vor den Spiegel, ruft: „Nicht herschauen!“ und bohrt wieder in 
in der Nase; natürlich erwartet er meine Abwehr; unermüdlich 
wiederholt er das Spiel, indem er bloß Nasenbohren mit Heraus¬ 
strecken der Zunge abwechseln läßt. Im Spiele ist ihm das 
oftmalige Erlebnis der Strenge des Vaters vorbildlich, der er durch 
Verheimlichung seiner kleinen Missetaten zu entgehen sucht. 

Ein lßjähriges Mädchen leidet infolge starken Schielens beider 
Augen unter schweren Minderwertigkeitsgefühlen. Als bezeichnende 
Symptomhandlung, vom Auge und seinen Abnormitäten 
nichts wissen zu wollen, bedeckt sie spontan meinen auf den 
Tisch liegenden Zwicker mit der Hand. Später gesteht sie mir, 
daß dieser Fehler lange ihr sonst sehr zärtliches Verhältnis zu 
mir gestört habe. 

Ein lOjähriger Knabe, der infolge seiner überstarken Phantasie¬ 
tätigkeit im Lernen versagt, berichtet in der ersten Stunde über 
eine „Lohengrin“-Aufführung, in der ihm die Stellung des Helden 
recht mißfallen habe; er ahmt sie nach, indem er mir seine 
Kehrseite prononziert zuwendet und tadelt diese Stellung eines 
Sängers auf der Bühne heftig: „Bitte, Frau Doktor, darf sich eip 
Schauspieler so vor das Publikum stellen?“ Nach kurzem Gang 
der Analyse bestätigt sich meine Vermutung, daß der Knabe 
unter starken Exhibitionsverdrängung leidet. 

Die erste Mitteilung eines 14jährigen Mädchens, das sich 
qualvollen Grübeleien hingibt, ist die scharfe höhnende Kritik des 
geographischen Unterrichtes, den sie angeblich als zehn- bis 
elfjähriges Kind in steter Wiederholung über das „Klima“ erhielt; 
auch jetzt werde im Lyzeum dasselbe Kapitel, Klima, Sonnenstand, 
Schatten, mit der gleichen Hartnäckigkeit behandelt. „Was für 
einen Zweck es habe, von Sonnenstand und Schatten zu lernen, 
einem elfjährigen Kinde seien diese Dinge ganz gleichgültig usw.“; 
diese Klage füllt fast die ganze Stunde mit der größten Eintönigkeit 
aus und auch im weiteren Verlauf der Analyse kommt die Grüb¬ 
lerin immer wieder auf dieses Thema, bis sich endlich der 
Zusammenhang dieser Frage mit dem Hauptinteresse des Mäd¬ 
chens, dem Sexualverkehr des Menschen, entpuppt. Über den 
Umweg einer großen Vorliebe für Pferde — sie beschäftigt sich 








190 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


eingehend mit Werken über Pferdezucht — dem Interesse an 
Reisebeschreibungen und dem Liebesieben fremder Völker kommt 
die Kernfrage: „Wie lange verkehren eigentlich bei den verschie¬ 
denen Rassen Mann und Frau, d. h. Vater und Mutter, miteinan¬ 
der?“ zum Vorschein. 

Die Forderung einer „aktiven Therapie“, wie sie in der Analyse 
des Erwachsenen gestellt wird, hat auch in der Kinderanalyse ihre 
Bedeutung. Sicher ist es im späteren Verlauf der Behandlung bei 
einer ganzen Reihe von Analysanden angezeigt, ihnen kleine 
Aufgaben aufzutragen. Besonders dort, wo der Patient durch starke 
Minderwertigkeitsgefühle gehemmt ist, wird ein richtiges Maß von 
geforderten Leistungen das Selbstbewußtsein erstarken machen. 

Der scheue, unselbständige debile Junge, der mit schwerer 
Zunge sprach und viel vom Hohn der Straßenjungen zu leiden 
hatte, setzte nach sechsmonatiger Behandlung seinen Großvater 
durch sein männliches, selbständiges Auftreten bei einer Behörde 
in Erstaunen. Er, der kaum vors Haus gehen wollte, wurde durch 
die Analyse so weit gebracht, daß er an Spaziergängen teilnahm 
und allein, erst für mich, dann für die Mutter, kleine Besorgungen 
tadellos erledigte. 

Viel wichtiger als die Erteilung von Aufträgen scheint mir 
die tunlichste Vermeidung direkter Verbote. Was mehr als Verbot 
und Auftrag fruchtet, ist das „Beraten“. Diese Form des 
gemeinsamen Erwägens der Gründe und Gegengründe in einer 
bestimmten Situation wirkt außerordentlich günstig auf das 
Selbstvertrauen des durch seine Minderwertigkeitsgefühle be¬ 
drückten Patienten. 

Für den Gang der Analyse selber läßt sich beim Kinde so 
wenig wie beim Erwachsenen ein Programm machen. Gütiges 
verständnisvolles Zuhören, ein aufmunterndes, ja gelegentlich auch 
scherzhaftes Wort an der rechten Stelle, ein liebevolles Eingehen 
auf alle Nichtigkeiten, die dem Kinde keineswegs solche sind, 
geben den Weg, der zum vollen Vertrauen der jungen Seele führt. 
Stete Wachsamkeit, nichts zu vergessen, nichts zu verwechseln, 
was in früheren Stunden gesprochen wurde, vervollständigt die 
Ansprüche des Kindes an den Analytiker. Inwieweit und wann 
die freie Assoziation verwendbar ist, läßt sich nur von Fall zu 
Fall entscheiden. Nach meiner Erfahrung gilt Abrahams 1 
Bemerkung, daß ältere Menschen weit mehr der Führung in 


1 Zur Prognose psychiatrischer Behandlungen in vorgeschrittenem 
Lebensalter. Diese Zeitschrift VI, 1920, 113. 


















1 


Zur Technik der Kinderanalyse 191 

der Analyse bedürfen als Personen in mittleren Jahren, 
auch für das Kind und Jugendliche. Vielleicht mit dem Bei¬ 
fügen, daß bei diesen mit noch größerer Vorsicht gearbeitet 
werden muß als beim alten Menschen; wohl sind erstarrte 
Vorstellungs- und Gefühlsmassen schwer zu entwirren, aber die 
größere Plastizität der jungen Seele birgt zugleich die Gefahr 
einer unbeabsichtigten Suggestion an Stelle der Vermittlung einer 
möglichst klaren Einsicht. Freilich habe ich mich immer wieder 
überzeugen können, daß die Kinder viel mehr wissen und 
über die Geschehnisse ihres Umkreises nachdenken, als wir in 
unserer anerzogenen Ängstlichkeit wahrhaben wollen. Klingt es 
nicht geradezu tragikomisch, von einem elfjährigen Mädchen, dem 
man seine stete Frage nach dem Vollzüge des Sexualaktes 
sorgsam schrittweise beantwortet, plötzlich das Geständnis zu 
hören, es habe als fünfjähriges Kind von der Mutter zur Spionage 
angeleitet, den intimen Verkehr des Vaters mit einer Dirne durchs 
Schlüsselloch belauscht? 

Natürlich kommt den Träumen auch in der Kinderanalyse 
ihre Rolle zu und man hat nicht mehr als beim Erwachsenen zu 
befürchten, daß der Widerstand ein gehäuftes oder erdichtetes 
Traumerleben bedinge. Der angebliche Nachttraum bedeutet ja nur 
eine Tagphantasie, die das Kind als solche vielleicht nie ausspräche. 
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, wie schwierig es ist, 
manches Kind zur kritiklosen Mitteilung jedes Einfalles zu bringen, 
weil es von der Nutzanwendung der guten Lehre seiner täglichen 
Umgebung, „keinen Unsinn zu reden“ usw., nicht loskommt. 

Wenn auch natürlich in der Kinderanalyse der Gebrauch 
technischer Ausdrücke, wie Ödipus-, Kastrationskomplex, Exhi¬ 
bition usw. unverwendbar ist, so müssen doch die Tatsachen dem 
Kinde klar werden. Auch beim recht jugendlichen Patienten ist 
es notwendig, gewisse Erscheinungen im Gange der Behandlung 
zu erklären. Er wird den „Widerstand“ gut verstehen, wenn er 
ihm zuerst in seinem Zusammenhänge mit der „negativen 
Übertragung“ im Sinne des „Aus Trotz nicht reden“, dann mit 
der „positiven“, im Sinne der Scham, sich oder das Elternhaus 
durch eine Mitteilung vor dem Analytiker herabzusetzen, erklärt 
wird; endlich auch bei der bald gebrauchten Wendung: „Jetzt 
habe ich schon alles gesagt.“ 

Vom Widerstand in der Form des Nichtpreisgebenwollens 
der Familie führt ein Zugang zur Erörterung der negativen 
Übertragung, die im allgemeinen viel willigere Annahme findet als 
die positive. Die Besprechung der letzteren erfordert, auch wenn 







192 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


sie recht deutlich zu erkennen ist, besondere Vorsicht in der 
Formulierung'; denn im Grunde ist das Kind doch nicht gewillt 
seme Eltern gegen einen fremden Menschen einzutauschen, auch 
dann nicht, wenn alle Berechtigung dazu vorhanden wäre. 
Dessenungeachtet ist die erste Gefühlseinstellung oft schon zu 
Beginn der Behandlung fast regelmäßig eine starke positive 
Übertragung, verwirklicht der Analytiker doch durch sein 
affektfreies Hören und Eingehen auf jedes Gespräch das heimliche 
Vater- oder Mutterideal des Kindes. Natürlich spielt es diese 
Konstellation sofort gegen das Elternhaus aus. Es kommt dann 
zu jenen für die Familie aufregenden und aufreizenden Äußerungen 
des Kindes: „Der Herr Doktor hat gesagt, ich brauche das und 
das nicht tun,“ oder „da muß ich erst die Frau Doktor fragen.“ 
Jedes Anhören seiner Klage während der Analysenstunde faßt das 
Kind als Zustimmung auf, spinnt daran seine Phantasien und 
verleiht ihnen Realitätswert. Auch sind die jugendlichen Patienten 
stets geneigt, Komplotte gegen die Eltern zu schmieden und dabei 
auf die Unterstützung des Analytikers zu rechnen. Wie der 
Erwachsene, will auch das Kind in der Hochflut der positiven 
Übertragung mit der Behandlung nicht fertig werden. 

Die negative Übertragung tritt in der Regel zuerst in der 
Form von Furcht vor Verrat auf; dann lassen sich die Kinder bei 
jeder Mitteilung Eide der Verschwiegenheit leisten. Das Mißtrauen 
gegen den Analytiker ist begründet durch die Unfreiwilligkeit des 
Kindes und durch die ungezählten Enttäuschungen, die auch das 
gütigste Elternhaus dem Kinde von früh an bereitet. Daraus 
erklärt sich gut, daß es die Unterredungen des Analytikers mit 
den Eltern ängstlich und zugleich eifersüchtig überwacht und sie 
zu belauschen und abzukürzen sucht. 

Wir wissen, welche bedeutsame Rolle im infantilen Seelen¬ 
leben der Sexualität, ihrer Wahrnehmung und der Ablenkung dieses 
kindlichen Interesses seitens der Umgebung zukommt. Das Kind 
ist gewohnt, bei den Eltern und anderen erwachsenen Familien¬ 
mitgliedern wenig befriedigende Antwort auf diese Rätselfragen zu 
erhalten und es nimmt daher die offene Aussprache über sexuelle 
Dinge in der Analyse zwiespältig auf. Es fühlt sich in seiner 
Wertung als vollgewichtiger Mensch gehoben, es strebt offen¬ 
sichtlich die Freimütigkeit des Analytikers durch besondere Zutun¬ 
lichkeit zu lohnen; aber zugleich ist es, sowie ein heftigerer Wider¬ 
stand einsetzt, flugs bereit, aus der früheren Verdrängung heraus 
die Person des Analytikers, um der verpönten Gespräche willen, zu 
erniedrigen. So stark wirken die elterliche Autorität und die ersten 












Zur Technik der Kinderanalyse 


193 


erziehlichen Einflüsse im Kinde nach, daß es bei jedem Erwachsenen, 
der sich mit ihm eingehend beschäftigt, die gleichen Forderungen, 
die gleiche Lebensanschauung erwartet. Ihm verkörpert der Ana¬ 
lytiker auch in viel stärkerem Maße als dem reifen Patienten die 
Vater- oder Mutter-Imago. Und deshalb dauert es eine gute Weile 
bis es ihm zur Gewißheit wird, daß der Analytiker nicht „zu den 
Eltern hält“, daß es bei ihm wirklich volle Freiheit und volles 
Verständnis für jede Äußerung fl nde . Die kindliche Überschätzung 
der Autorität im positiven und negativen Sinne erschwert die 
Arbeit, weil der Patient mit scharfem Blicke prüft, wo er am 
Analytiker eine Blöße entdecken könnte, die ihm das Recht zur 
Kündigung des Autoritätsglaubens gäbe. Und diese erwünschte 
Blöße meint der junge Mensch, besonders das Kind in der 
unbefangenen Besprechung der sexuellen Probleme zu finden und 
darum zeigt sich in dieser Phase der Behandlung die Ambivalenz 
des Analysanden zu seinem Führer und Berater am offenkundigsten; 
der fühlbare Gegensatz zwischen den Eltern in der Wirklichkeit 
und ihrer Imago in der Phantasie weckt den uralten Kinderwunsch, 
Vater und Mutter möchten die Vertrauten des kleinen Herzens 
sein, zur ursprünglichen Lebhaftigkeit und somit wachen alle Gefühle 
der frühen Enttäuschung wieder auf. Aus diesem unausbleiblichen, 
durch die Kindheitserinnerungen begründeten Konflikt der jungen 
Seele in ihrer Einstellung zum Behandelnden ergeben sich die 
Grundforderungen an seine Person. Hauptsache in der Analyse 
von Kindern und Jugendlichen bleibt die Einfühlung des 
Analytikers in die erkrankte Seele. Es kommt nicht so sehr darauf 
an, wieviel von den Komplexen man dem jungen Menschenkinde 
bewußt klar gemacht hat, wie viel es „einsieht“, es genügt 
fürs erste die Reaktion überhaupt. Viele Stunden später zeigt ein 
Wort des Kindes, daß es die damals empfangene Erklärung in 
seiner Seele bewahrt und gewertet hat. Aber nicht in bewußter 
Arbeit hat sich die Annahme vollzogen; ein großer Teil der 
psychoanalytischen Leistung des Kindes vollzieht sich in seinem 
Unbewußten, bleibt ihm im Gegensatz zum Erwachsenen dauernd 
unbewußt, nur die Änderung seines Verhaltens gibt dem Analytiker 
den Beweis, daß die aufgewendete Mühe nicht vergeblich war. 
Nach meiner Erfahrung gehören jene Kinder, an deren rascher 
Zustimmung man sich freuen zu dürfen vermeint, zum schwerst 
zu behandelnden Typus; es sind die gut dressierten Kinder, die zu 
a ^ em »J a<< sagen, aber ein „Nein“ denken und danach handeln. 

Einfühlung und Geduld sind die Grundpfeiler, die von 
der ersten Bekanntschaft mit dem jugendlichen Patienten an auf- 









194 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


gerichtet werden müssen, damit das Vertrauen auf festem Grunde, 

unter festem Dache wohne. 

* * 

* 

Einen wichtigen Faktor in der Kinderanalyse bildet das 
Verhältnis des Analytikers zum Elternhause des jungen Patienten. 
Man könnte meinen, daß der heilerziehliche Psychoanalytiker in 
diesem einen Punkt im Vorteil gegen seinen ärztlichen Kollegen 
sei, da ja das Kind auf Wunsch der Eltern zur Behandlung kommt, 
während der erwachsene Kranke aus eigenem Antrieb, oft gegen 
den Willen seiner Familie sich in die Kur begibt. Diese Erwartung 
erweist sich leider als unrichtig. Auch beim Kinde ist die Psycho¬ 
analyse die letzte Zufluchtsstätte und die Eltern sind gegen sie 
voll Mißtrauen, da sie ja alle anderen Erziehungsmittel fehlschlagen 
sahen. Trotzdem erwarten sie eine „Wunderkur“, die in Tagen 
beseitigen soll, was in Jahren verfehlt wurde. An dieser Erwartung 
hält das Elternhaus fest trotz der eindringlichen Mitteilung des 
Analytikers, daß die Dauer der Behandlung nicht zum voraus 
angebbar sei, weil sie von der Eigenart des Kindes abhänge, aber 
daß sie sich gewiß über Monate erstrecken werde. Ich habe mich 
immer wieder überzeugen müssen, daß die Eltern schon zu Beginn 
der Behandlung ihr insgeheim eine Frist gesetzt haben, an der sie, 
ohne der Einsicht zugänglich zu sein, daß eine Kur auf halbem 
Wege abbrechen, Zeit, Mühe und Geld verschwenden heißt, festhalten. 
Für die Folgen des vorzeitigen Abbruches, eine wesentliche 
Erhöhung des Übels, die das Kind in bewußter oder unbewußter 
Auflehnung gegen den Entzug der erst aufgezwungenen und nun 
entbehrten Hilfe produziert, wird dann natürlich das psycho¬ 
analytische Vorfahren verantwortlich gemacht. Das für die Eltern 
überaus schmerzliche, aus Sorge, Scham und Erbitterung gemischte 
Gefühl des Scheiterns in der Erziehung trägt zur Schärfe dieser 
Verurteilung bei. Auch die Erkenntnis, daß sich in der Analyse 
alle oft in der besten Absicht begangenen Erziehungsfehler offen¬ 
baren, daß der Analytiker einen der Familie unerwünschten Einblick 
in die internen Angelegenheiten bekommt, erzeugt bei den meisten 
Eltern Mißstimmung und Ängstlichkeit. Diese Scheu vor der Preis¬ 
gabe der Familienverhältnisse wird der Analyse des Kindes ver¬ 
hängnisvoller als der des Erwachsenen, der die fühlbaren Fortschritte 
seiner Genesung nicht allzu ängstlichen Rücksichten zu opfern 
gewillt ist. Eine andere Schwierigkeit erwächst aus dem über¬ 
eifrigen Bestreben der Eltern, die Analyse durch ihre Mithilfe zu 
fördern und zu beschleunigen. Zumindest die Mütter wollen fast 
insgesamt „aktive Therapie“ betreiben. Es ist unendlich schwer, 













Zur Technik der Kinderanalyse 


195 


sie zu überzeugen, daß ihre Aufgabe auf einem anderen Felde 
Hegt, daß sie die richtigen Helfer sind, wenn sie dem Kinde 
während der Behandlung das größtmögliche Ausmaß von Geduld 
und Duldsamkeit zuteil werden lassen. Sie müssen zur Einsicht 
geführt werden, daß die junge Seele während der Analyse einen 
Prozeß des Umkristallisierens durchmacht, unter dem zunächst 
die alten Formen zerstört werden; daß dieses Abtragen nicht ohne 
Erschütterung vor sich gehe und daß diese Stöße sich zunächst 
in einem Anwachsen der auszurottenden „Unarten“ und „Eigen¬ 
heiten“ äußern. Fast regelmäßig tritt nach einer auffallenden, 
aber vorübergehenden Besserung der Symptome, die in den Eltern 
die voreilige Erwartung weckt, die Behandlung werde — trotz der 
ausdrücklichen Vorsicht des Analytikers hinsichtlich einer Angabe 
über die Arbeitsdauer — in einigen Wochen, ja Stunden vollendet 
sein, ein starker Umschwung zum Schlechteren ein. Das eine 
Kind widersetzt sich mit noch größerer Heftigkeit als bisher den 
erziehlichen Forderungen des Elternhauses; das andere, das wegen 
seines überreichen Phantasielebens im Lernen versagt, wird in der 
ungewohnten Freiheit, all sein geheimes Denken und Fühlen un¬ 
behindert aussprechen zu können, schwelgen, es berauscht sich 
an seinen Tagträumen und wendet sich vorerst noch gründlicher 
vom Lernen ab als vordem. Diese offenkundige Verschlimmerung 
im Verhalten, das heißt im seelischen Befinden des Kindes wird 
von den Eltern anders gewertet als vom Analytiker, der in ihr 
ein gutes Anzeichen für den weiteren Gang der Analyse sieht. 

Es ist nicht leicht, die Eltern davon zu überzeugen, daß 
der Verzicht auf Lernerfolge während der Analyse geradezu die 
Anwartschaft auf Erfolge nach der Behandlung enthalte. Nur 
selten sind sie geneigt, der seelischen Erkrankung gleiches Recht 
einzuräumen wie einer körperlichen. Wie kein Vater sein Kind, 
das an einer Lungenentzündung darniederliegt, zur Schule schickt, 
so dürfen auch keine Lernforderungen an ein psychisch leidendes 
Kind gestellt werden. 

Aus dem Elternnarzißmus erklärt sich die tiefe Eifersucht, 
die namentlich die Mütter erfüllt, wenn sie ihr Kind sich stürmisch 
an die Person des Analytikers anschließen sehen. Hier setzt für ihn 
eine wichtige Aufgabe ein: er muß der Mutterdie positive Übertragung, 
als ein vorübergehendes für das Gelingen der psychoanalytischen 
Arbeit notwendiges Phänomen, durch das sie nicht geschädigt 
werde, erklären. 

Trotz der Schwierigkeiten, die das Verhältnis zwischen Eltern 
und Analytiker sich nicht so freundlich gestalten lassen, als es im 









196 


Dr. Hermine Hug-Hellmuth 


Interesse des Kindes gelegen wäre, ist auf den Kontakt nicht zu 
verzichten. Er ist eine berechtigte Forderung des Elternhauses 
und für die Behandlung zweckmäßig. Denn das Kind übergeht, 
ohne bewußt Kritik zu üben wie der Erwachsene, rein instinktiv, 
was keine Gefühlsnote trägt oder was von ihm gefühlsmäßig 
vollständig erledigt wurde. So erfahren wir oft in der Analyse 
nichts von Verdrießlichkeiten daheim oder in der Schule, einfach 
weil es diesem Kinde Bedürfnis ist, solche Szenen heraufr 
zubeschwören und sein Interesse deran erlischt, sobald sie sich 
nach Erwarten abspielten. Daneben ist nicht zu vergessen, daß 
das Kind auch bewußt verschweigt. Auch zur Ermittlung des 
Zeitpunktes oder der Richtigkeit einer Erinnerung ist mitunter 
eine Anfrage bei den Eltern von Nutzen. Ebenso ist es wertvoll, 
Einblick in die früheste Lebenszeit des Patienten zu gewinnen. 
An dieser Stelle können die Eltern ihr Bedürfnis nach aktiver 
Mithilfe bei der Analyse befriedigen durch die schriftliche Beant¬ 
wortung einer Reihe von Fragen über die frühinfantile körperliche 
und seelische Entwicklung des Kindes. Diese Auskünfte enthalten 
wertvolle Winke betreffs des Milieus, der Lebensanschauungen, der 
Erziehungsformen, in denen der Patient aufwächst. Von besonderem 
Interesse für die analytische Arbeit ist das Übergehen gewisser 
Fragen, z. B. über die kindliche Onanie und die Form ihrer Ab¬ 
stellung, sowie die dezidierte Verneinung von Punkten, die, 
wie das Interesse am Verdauungsvorgang usw., selbstredend für 
jedes Kind bejaht werden müßten. Diese affektive Ablehnung alles 
„Anstößigen“ gibt dem Analytiker Richtlinien, in welcher Form 
das sexuelle Problem zu behandeln sei. 

Die Psychoanalyse des eigenen Kindes halte ich für 
undurchführbar. Nicht allein deshalb, weil das Kind Vater oder 
Mutter kaum je seine tiefsten Wünsche und Gedanken enthüllt, 
weder sein Bewußtes, noch sein Unbewußtes völlig preisgibt, 
sondern weil in diesem Falle der Analytiker allzu oft zur Konstruktion 
greifen müßte und weil der Elternnarzißmus die psychoanalytische 
Offenheit des eigenen Kindes schwerlich ertrüge. 

Auch die Beziehung des Analytikers zu den Geschwistern 
des Patienten ist nicht ohne Einfluß auf den Gang der Analyse, 
Im allgemeinen suchen jüngere Geschwister eifrig einen Anschluß 
an den Behandelnden, während ältere sich häufig in stummer 
neidvoller Feindseligkeit und zugleich in der dumpfen Erwartung 
eines Verrates ihrer Person von ihm fernhalten. Die eine wie die 
andere Einstellung findet eine gehässige Kritik des Analysanden; 
mißtrauisch, eifersüchtig überwacht er den Verkehr seines Beraters 









Die Technik der Kinderanalyse 


197 


mit Bruder oder Schwester, und sieht seine Phantasie, der 
Analytiker sei den Geschwistern feindlich gesinnt, nur ungern 
zerstört. 

Die aus den Kinderanalysen gewonnenen Erkenntnisse lassen 
sich in wenige Sätze zusammenfassen. Beinahe regelmäßig sind 
es Mißgriffe in der Erziehung, durch die eine schlimme Anlage, 
ein schädigendes Erlebnis, statt in der verderblichen Wirkung 
abgeschwächt zu werden, künstlich gefördert wird. Übergroße 
Strenge da, ein Übermaß an Zärtlichkeit dort, und fast immer der 
Mangel an Konsequenz in der Erziehung verschulden die Übel, unter 
denen dann Eltern und Kind gleicherweise leiden. Die Eltern müßten 
vor dem Kinde einer Analyse unterzogen werden, dann bedürften 
wahrscheinlich weniger Kinder der Analyse. 











Mitteilungen. 


Klinische Beiträge. 

Der Ausbruch einer manischen Erregung. 

Von Dr. Michael Josef Eisler, Budapest. 

Während die beschreibende Psychiatrie ihre Auffassung von den seelischen 
Erkrankungen sowie deren Darstellung nach der formalen Seite auszubauen 
bestrebt ist, hat die Psychoanalyse dort, wo sie ein gleiches Gebiet betritt, 
ihr Augenmerk stets auch auf die Inhalte der Psychosen gerichtet, und zwar 
unter der Voraussetzung, auf solche Weise über die Rolle eines ihrer Haupt¬ 
probleme dabei, der Libido, etwas Neues zu erfahren. Dieser Gesichtspunkt 
aus dem Inhaltlichen einer Seelenstörung deren Eigenart zu erschließen, soll 
der folgenden Mitteilung als Grundlage dienen. 

Es handelt sich um ein 26jähriges bis zum Ausbruch der Krankheit 
vollkommen gesundes Mädchen, das keine Anzeichen einer gesteigerten nervösen 
Disposition zeigte und nur unter dem Druck tief kränkender Erlebnisse zusammen¬ 
gebrochen war. Ehe die ersten deutlichen Symptome einer manischen Erregung bei 
ihr auftraten, spielte sich unmittelbar vorher eine Szene ab, die ich aus dem 
Bericht einer feinfühligen, durch den Krankheitsfall mitleidsvoll betroffenen 
Dame erfahren und später in Zusammenhang mit dem Hauptpunkt der Vor¬ 
geschichte bringen konnte. Das kranke Mädchen hatte das Elternhaus fluchtartig 
verlassen und Unterkunft bei nahen Verwandten gesucht. Als Motiv gab sie 
an, daß man sie zu Hause nicht verstehe und ihrem seelischen Leide kein 
Verständnis entgegenbringe. Sie rief dann den alten Hausarzt ihrer Familie 
telephonisch an und bat ihn flehentlich um Hilfe. Sie bestimmte eine Stunde, 
zu welcher sie ihn ganz bestimmt erwarten würde; der Arzt kam aber nicht, 
sondern verordnete bloß ein Beruhigungsmittel. Bis zur angegebenen Stunde 
wuchs der Erregungszustand des Mädchens dauernd, während sie noch immer¬ 
fort auf den Arzt wartete. Als dann Minuten über den bestimmten Zeitpunkt 
verstrichen waren, begann sie überraschenderweise mit einem Male sein 
Nichtkommen zu entschuldigen. Sie besah ihre Armbanduhr wiederholt und 
bemerkte gleichsam mit Nachdruck: „Ich war auch nicht pünktlich hier im 
Salon, so darf sich der Doktor auch verspäten.“ Wir kamen nachher ebenfalls 
auf diese Szene zu sprechen. Der Gesamteindruck, den sie noch am selben 
Abend erweckte, bewog ihre Umgebung, über ihren Zustand einen Spezialisten 
zu befragen. Es war diesmal der Analytiker, dem die Möglichkeit geboten 
wurde, sich über das Krankheitsbild eine Meinung zu verschaffen. 















Dr. Michael Josef Eisler: Der Ausbruch einer manischen Erregung 199 

Die einsetzende manische Erregung zeigte noch Spuren einer Depression, 
die einige Wochen hindurch ohne besondere Erscheinungen dem Anfall voraus¬ 
gegangen war, wie sie wahrscheinlich im Vorstadium jeder Manie nachzuweisen 
ist. Als ich die Kranke zum erstenmal sah, trat ihre Manie im Syndrom 
des Stimmungswechsels, des beschleunigtenVorstellungs- 
ablaufes und der außerordentlichen Flüßigkeit der 
psychischen Vorgänge tKräpelin) vollkommen klar zutage. So 
stürmisch aber auch die Äußerungen der Krankheit waren, verhinderten sie 
doch nicht einen unmittelbaren psychischen Kontakt mit der Patientin. Das 
Material meines Berichtes ist einzig aus diesem Rapport erfloßen, und ich 
konnte mich fast wie in einer regelrechten Analyse in den seelischen Prozessen 
der Kranken umschauen. 

Sehr bald wurde es evident, daß die Szene, die kurz vor Ausbruch der 
manischen Erregung vorfiel, nicht ohne tiefere Bedeutung war. Sie bildete eben 
die „Wiederholung“ eines peinlichen und beschämenden Erlebnisses von früher, 
das auf solche Weise seinen Generalanteil an der Störung des seelischen 
Gleichgewichtes bei der Patientin verraten hat. Die intime Bekanntschaft mit 
einem jungen Manne, der zuletzt dem Zwange einen bindenden Aussprache 
ausgewichen war, also eine „reale Kränkung und Enttäuschung“, waren der 
Angelpunkt der Psychose. Der junge Mann hatte seine Absicht, die Bekanntschaft 
abzubrechen, das Mädchen eines abends deutlich wissen lassen, als er einer 
verabredeten Begegnung im Theater nicht Folge leistete und wegblieb. Das 
verliebte Mädchen ahnte zwar die volle Wahrheit, trotzdem rief sie den jungen 
Mann am drittnächsten Tage telephonisch an und teilte ihm die fälschliche 
Nachricht mit, sie sei nicht im Theater gewesen und müsse sich nun für diese 
Unhöflichkeit entschuldigen. Es war offenkundig, was auch das kranke Mädchen 
mit einer Spur von Unbefangenheit zugab, daß sie ihr weibliches Liebeswerben 
trotz der erlebten Demütigung fortsetzte, weil sie von dem jungen Manne 
nicht lassen konnte. Aber auch dieses schmerzliche Opfer blieb vergebens. 
Wir begreifen jetzt den hilfesuchenden Telephonanruf besser, wie auch ihre 
geradezu rührenden Worte, womit sie das Fernbleiben des Hausarztes vor der 
Umgebung und zur Überraschung der letzteren zu entschuldigen suchte. 

Diese große Enttäuschung hatte die Kranke etwa ein Jahr vor dem 
manischen Anfall erfahren. In der Zwischenzeit machte sie die Bekanntschaft 
eines jungen Arztes; dem Anscheine nach bewarb sich dieser um die Hand 
des Mädchens, das ihm zwar weniger Neigung eiitgegenbrachte als dem ersten 
Manne, doch jederzeit bereit war, seine Frau zu werden. Der junge Arzt heiratete 
aber zuletzt ein anderes reiches Mädchen. Ich muß über die Familienverhältnisse 
der Kranken nachholen, daß sie das einzige Kind ihrer Eltern war, die bis 
zum Ausbruch des Krieges ein großes Vermögen besaßen und der Tochter 
eine sorgfältige Erziehung angedeihen ließen, später jedoch rasch verarmten. 
Dieser materielle Ruin der Familie fiel mit dem Großwerden des Mädchens 
und der Zeit zusammen, wo es eine Ehe hätte schließen können. Vom Vater 
erzählte die Kranke, daß er ein roher und geizig gewordener Mensch sei, der 
sie zwingen wollte, ihr Brot selbst zu erwerben. Die Mutter war viel jünger 
und ertrug die Lasten einer lieblosen Ehe nur aus Rücksicht auf die einzige 
Tochter, die gewissermaßen das Opfer der mütterlichen Ambition wurde. 
Sie ließ nämlich die Tochter studieren und überredete sie, trotz mehrfachem 
Versagen ihre Universitätsstudien als Philologin zu beenden. Auch diese Willens¬ 
überspannung haben wir zu den Motiven, die eine seelische Erkrankung 









200 


Mitteilungen 


vorbereiteten, zu rechnen. Der allgemeine Eindruck, den ich gewann, sprach 
durchaus für eine mäßige Intelligenz der Kranken, d. h. für eine nicht allzu¬ 
große Fähigkeit zur Sublimierung. 

Die mit großem Affektaufwand durchgesetzte Abkehr vom Eltem- 
hause läßt sich nunmehr als ein Wunschersatz auffassen: sie hat die Stelle 
jener verlorenen Hoffnung eingenommen, einst in der Würde einer jungen 
Frau vom Heim der Eltern wegzuziehen. Vielleicht ist auch der Verdacht 
nicht unbegründet, daß irgend ein Moment im Charakter des Mädchens es zur 
verschmähten und verlassenen Braut bestimmt hat. Der unmittelbaren Beob¬ 
achtung wurden noch folgende deutlich ausgesprochene Züge im Wesen der 
Kranken zugänglich gemacht, welche die berichteten Zusammenhänge in ein 
schärferes Licht rücken. In allen krankhaften Äußerungen herrschte eine 
starke wohl dispositionelle — Gefühlsambivalenz vor, die durch den 
Ausbruch der Manie eine weitere Steigerung erfahren hatte. Ihre Beschreibung 
ist nicht gut möglich, wiewohl sie dem Eindruck nach geradezu die Haupt¬ 
rolle im Bilde der Krankheit übernehmen durfte. Sodann zeigten sich Spuren 
von sadistischen und aggressiven Antrieben. Die letzte Nacht vor der Inter¬ 
nierung des Mädchens in einer geschlossenen Anstalt, deren Ereignisse alle 
Angehörigen von der unmittelbaren Notwendigkeit eines solchen Schrittes 
überzeugten, ließ ein sehr wichtiges Stück der kranken Psyche wirksam 
werden und war noch in allen Momenten gut faßbar. (Die weitere Entwicklung 
der Manie hat mit ihren alarmierenden Erscheinungen natürlich die psychischen 
Inhalte vielfach verschleiert.) Als Folge des ungedämmten Aufruhrs in der 
Seele des Mädchens hatte sich eine große Schlaflosigkeit eingestellt, die dann 
nicht ohne Rückwirkung auf den ganzen Zustand blieb. Das Mädchen 
versammelte alle in der Wohnung befindlichen Verwandten um sich und 
richtete an jeden einzelnen in unbeherrschter Weise eine dringliche Bitte. Die 
Cousinen mußten Klavier spielen oder einen modernen Tanz vorzeigen • ein 
aus der Gefangenschaft kürzlich zurückgekehrter Cousin sollte sich an alle 
widerlichen und schweren Strapazen erinnern; der Tante erzählte sie, daß 
man ihr den Tod eines Angehörigen aus Schonung verheimlichte, usw. 
Zwischendurch verlangte sie naßkalte Umschläge, die abwechselnd auf 
verschiedene Körperstellen gelegt werden mußten. (Kühlunggegen dengesteigerten 
sexuellen Drang ? Hiefür sprechen auch einzelne hypochondrische Klagen.) Das 
früher gemessen auftrelende Mädchen ließ durch solches anspruchsvolle 
Benehmen und die forcierte Taktlosigkeit jeden erzieherischen Effekt in sich 
zunichte werden und benahm sich wie ein „schlimmes“ Kind. Zu diesen 
infantilen Zügen ist weiterhin das Verhalten der Kranken in der Übertragung 
zu rechnen, welche leicht in voller Stärke auftrat und durch die bestehende 
Gefühlsambivalenz rasch verschärft wurde 1 . 

Ehe ich den Bericht über die analytischen Ermittlungen beschließe, 
möchte ich noch auf eine merkwürdige Äußerungsform der Ambivalenz 
hinweisen. Als ich die Kranke in die Anstalt begleitete, bemerkte ich, daß sie 
ein für kleine Ausgaben bestimmtes Taschengeld mit offenkundigem Abscheu 


1 Zur Beurteilung, ob der Fall nach Abklingen der Manie durch eine psycho¬ 
analytische Behandlung weiter befreit werden könne, gehört die volle Einschätzung dieser 
Tatsachen. Ich mochte mit Rücksicht auf sie die Leitung in die Hand einer Psycho- 
analytikerin gelegt wissen, weil ich in den Übertragungsmomenten — die getäuschte Liebe 
in einen jungen Arzt —starke Widerstände, auch die Möglichkeit eines neuerlichen Anfalles 
m Rechnung ziehe. 























Dr. Michael Josef Eisler: Der Ausbruch einer manischen Erregung 201 


zurückwies und hinzusetzte, daß sie von Geld überhaupt nichts wissen wolle. 
Erinnern wir uns daran, daß ihre Verheiratung an der eingetretenen Verarmung 
der Eltern — und fügen wir dazu — an der Gleichgültigkeit ihrer vermögenden 
Anverwandten gescheitert war. Sie haßte daher das Geld als den eigentlichen 
Verderber ihres Glückes, zugleich aber auch jene, die am Gelde mehr als am 
Wohle der Kranken hingen. Ihre Ambivalenz richtete sich also gleichsam gegen 
die Analerotik der anderen. Im Grunde genommen ist eine solche Gefühls¬ 
reaktion nicht allzu selten. 

Man kann es billigerweise nicht verlangen, daß ein einzelner, der 
analytischen Exploration überdies nur kurz zugänglich gewordener Fall uns 
über alle die Bedingungen aufkläre, die eine bestimmte Seelenstörung hervor¬ 
zurufen fähig sind; immerhin dürfen wir den Versuch wagen, aus dem 
Beobachtungsmaterial einzelne Schlüsse zu ziehen. 

Gehen wir von dem Symptom der großen Übertragungs¬ 
fähigkeit aus, das, wie wir sahen, als letztes Motiv für den Ausbruch der 
Manie ausschlaggebend wurde. Noch ehe wir seine weiteren Beziehungen 
untersuchen, setzen wir voraus, daß dieses von allgemeiner Bedeutung ist, 
denn es kann uns einen durchgehenden Charakterzug jeder Manie erklären, 
nämlich den Mangel einer Störung des Selbstgefühls bei dieser 
Krankheit. Die potenzielle Fähigkeit zur Liebe verbindet sich in der Regel mit 
dem Gefühl des persönlichen Wertes, wenn auch der letztere sich dem 
gewählten Objekt gegenüber gerne seiner Freiheit begibt. (Bei der Melancholie 
finden wir den kompletten Gegensatz: Verlust der Liebesfähigkeit und die 
Tendenz zur Selbsterniedrigung 1 . Geschieht nun, was unser Fall demonstriert, 
daß die übergroß aufgebotene Objektlibido sozusagen nach einer Überrumpelung 
zurückgezogen werden muß, so entsteht eine bedeutende Gleichgewichts¬ 
störung, die wir noch näher bezeichnen werden. Der Rückzug erfolgt unter 
dem Diktat der Realität, aber auch — und hier tritt ein inneres Motiv in 
Aktion — einer Gefühlsambivalenz folgend, die auf solche Weise zur 
Herrschaft gelangt. 

Es wäre von großer Wichtigkeit, wenn wir über das Wesen der 
Ambivalenzneigung mehr gesicherte Kenntnisse, als die ihres bloßen 
Vorhandenseins besäßen. Freud nimmt sie dort, wo er ihre Rolle in seinem 
weitaus am gründlichsten studierten Fall anführt, als eine Gelegenheit hin, „die 
von der psychoaualytischen Kur aufgedeckt, aber nicht weiter aufgeklärt und 
dementsprechend nicht unmittelbar beeinflußt werden konnte.“ (Aus der 
Geschichte einer infantilen Neurose. Kl. Schriften, IV. Teil, S. 714.) Wahr¬ 
scheinlich hängt sie mit dem Prozeß der Triebumwandlungen zusammen, die 
in sehr früher Zeit vorfallen und darf als deren Niederschlag im Psychischen 
gelten. Sie wird zu einer Position des Ich und übt sodann Einfluß auf die 
Rollenbesetzung der Libido aus. Nun ist gerade das Verhältnis der Ambivalenz 
zur Objektlibido in weiterem Umfange klargemacht worden, und zwar bei der 
Zwangsneurose. Diese ist nur möglich, wenn die Libido auf die sadistisch¬ 
anale Stufe regrediert, wo die Ambivalenz sich ihrer ganz bemächtigt und 


1 Hier und im folgenden sind die Darlegungen Freuds aus der Arbeit „Trauer 
und Melancholie“ (Kl. Sehr., IV. Teil, S. 356) vielfach zum Ausgangspunkt gewählt. In bezug 
auf das Ambivalenzproblem verweise ich auf Abraham „Ansätze zur psychoanalytischen 
Erforschung und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins“. Zentralblatt für Psycho¬ 
analyse, II. Jahrg., S. 302. 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VII/2. 


14 










202 


Mitteilungen 


ihre Äußerungen bestimmt. Halten wir an der Tatsache fest, daß es sich hier 
um die Beziehung der Ambivalenz zu einer .gebundenen Besetzungsenergie“ 
handelt, denn mit dem Prozeß der Regression wurde die Libido wieder 
verankert. 

Bei der Manie finden sich folgende Verhältnisse vor: es werden unter 
dem Druck äußerer Erlebnisse große Mengen von Objektlibido frei, die überdies 
einer dauernd starken Anziehung der Ambivalenz Folge leisten. Ein regressives 
Entweichen ist nicht möglich, weil solches nur bei entsprechender disposi¬ 
tioneller Anlage (Fixierungsstellen) gelingt. Diese ungebundenen Energiemengen, 
deren Spielraum ein kleiner ist, hat die Psyche zu bewältigen. Der manische 
Erregungszustand bedeutet demnach den Kraftaufwand, welchen die ei krankte 
Psyche zu ihrer Herstellung macht. Sie ist eine Form der Ablösung vom 
Objekt. Nach Ablauf des Prozesses ist die Psyche wie bei der Trauer und 
Melancholie frei geworden. Theorie und Prognose stimmen hier also überein. 
Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Verhältnissen bei der Angsthysterie ist 
unverkennbar. Wenn man Fälle aus dieser Gruppe genau studiert, wird man 
jedesmal eine große Ambivalenzneigung entdecken, die in vielfacher Weise 
mit den psychischen Inhalten dieser Neurose verknüpft ist. Ihren wichtigsten 
Bezug hat sie aber zu den freien Mengen von narzißtischer Libido, über die 
der Angsthysteriker verfügt und deren Umwandlung in Angst stets die bis 
dahin unterdrückte Ambivalenz durchführt. 

Der psychische Kraftaufwand, den die Ambivalenzneigung in der 
manischen Erregung leistet, ist ein ungemein hoher. Während er in der 
Neurose, dort, wo er zur Geltung gelangt, die Produkte des Unbewußten 
bearbeitet, drängt er hier allem Anscheine nach gegen das Bewußtsein an. 
Der eigentümliche Zustand des Manischen 1 , welchen man nur bei oberfläch¬ 
licher Betrachtung als Abart einer Halluzination auffassen kann, läßt sich 
vielleicht am besten aus dieser „Ausfallsrichtung“ der Ambivalenz verstehen. 
Es war merkwürdig zu sehen, wie rasch die Kranke nach erfolgter Isolierung 
alle Angehörigen, wie auch die Personen, die im Verlaufe ihrer Krankheit eine 
vorübergehende Rolle bei ihr gespielt hatten, totsagte und auf solche Weise 
gleichsam aus ihrem Affektleben hinausdrängte. Als Korrelat dieser Einstellung 
zeigte sich bei allen Angehörigen eine nicht minder starke, wenn auch 
verdeckte Ambivalenz gegenüber der Kranken. Man verhält sich im Leben zu 
den Geistesgestörten fast wie zu Toten. 

In den Symptomenkomplex der Manie gehört wohl auch eine Über¬ 
empfindlichkeit der Sinnesorgane, d. h. eine gesteigerte Aufnahmsfähigkeit 
für äußere Reize. Es war nicht nur meine Patientin, die dieses Verhalten 
zeigte. Sie wurde zur Zeit der größten Unruhe mit einer anderen Kranken in 
einem Zimmer untergebracht, da für beide nur eine Überwachungsperson zur 
Verfügung stand. Sofort stellte sich ein eigenartiger Rapport zwischen den 
Kranken her. Sie griffen gegenseitig einzelne Gebärden, Bewegungen und 
Worte auf und fügten diese unmittelbar in ihr agitatives Benehmen ein. Dabei 
bildete sich im Verlaufe ihres Beisammenseins kein tieferreichendes Verhältnis 
zwischen ihnen, also keine Übertragung, aus; im Grunde genommen blieben 
sie einander indifferent. Ihr gegenseitiges Interesse war auf eine vorübergehende 


1 Freud vergleicht ihn in trefflicher Weise mit dem Rausch des Alkoholikers. 
Ähnliche Zustände sind vielleicht auch die sogenannten Ekstasen der Mystiker. 




























Df. S. Feldmann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen 203 

Beeinflussung durch die Sinnesorgane reduziert. Gehör und Auge waren 
beschäftigt, einen realen Eindruck momentan sehr intensiv festzuhalten, 
vielleicht um auf solche Weise eine kurze Ablenkung vom Innern, dem Schau¬ 
platz des Krankheitsprozesses, durchzusetzen. 

Wenn wir nun das Gesagte zusammenfassen, dürfen wir die bedeutsame 
Tatsache nicht übersehen, daß im Bilde dieser manischen Erregung immer 
nur dieselben Komplexe im Vordergründe standen. Es war hier also die 
Tendenz unverkennbar, die letzteren auf jede Weise energisch abzunützen. 
Wahrscheinlich erklärt sich hiedurch auch der Umstand, daß — trotz darauf 
gerichtetem Interesse — keine Gelegenheit gefunden wurde, aus dem früheren 
Leben der Patientin etwa die infantilen Verhältnisse zu erfassen. Alle Äuße¬ 
rungen der Krankheit bis auf die geringsten reflektorischen Vorgänge waren 
auf einen engen Raum beschränkt; man darf hierin das Streben nach Heilung 
erblicken. 

Ich bin mir bewußt, daß diese Auskünfte, falls sie richtig ermittelt 
wurden, den tatsächlichen Verhältnissen ffur im groben gerecht werden. Mehr 
und reichlicheres Material ist nötig, um den dürftigen Rahmen auszufüllen, 
nur die Summe feinerer Einzelerfahrungen wird das Gesetzmäßige und alle 
von ihm umschlossenen Möglichkeiten erkennen lassen. 


über Erkrankungsanlässe bei Psychosen. 

Von Dr. S. Feldmann (Budapest), 

Zivilarzt in einem Militärspital auf der Abteilung für Nerven- und 

Geisteskranke 1 . 

Der Umstand, daß beim Militär die Kranken ziemlich rasch in Spitals- 
behandlung gelangen, bot mir Gelegenheit, einige Fälle von Psychose sozusagen 
in statu nascendi zu beobachten. Die sekundäre Bearbeitung der Seelen¬ 
störung, die im vorgeschrittenen Stadium das Bild verschwommen macht und 
die Übersicht erschwert, fiel hier weg, so daß sich die Psychose vor meinen 
Augen entwickelte. 

Die Erfahrung hat die Psychoanalyse die Behauptung aufstellen lassen, 
daß bei der Entstehung einer Seelenstörung zwei Faktoren maßgebend sind: 
die Fixierung an eine Entwicklungsstufe und die Versagung. Es ändert nichts 
an der Sache, daß bei den hier gegebenen Fällen der exogene Faktor — eine 
organische Erkrankung, respektive eine schwerere körperliche Verletzung — 
eine hervorragende Rolle spielte. Es wird sich zeigen, daß bei diesen Kranken 
die Realität sich so weit geändert hatte, daß eine konfliktlose Anpassung 
nicht möglich war, wenigstens für die Kranken nicht. Die Folge war eine 
Regression zu der individuell gegebenen Fixierungsstelle, die fortschreitende 
Zurückziehung der Libido von der Außenwelt, schließlich nach der gelungenen 
Abwehr die durch die Fixierungsstelle determinierte Psychose und 
deren Inhalt. 

Es war für mich als Psychoanalytiker schon a priori klar, daß die 
geänderte Realität, die Versagung, nur den Anstoß zur Regression geben kann, 
die inhaltliche Bearbeitung geht von der Fixierungsstelle aus. 


1 Vortrag, gehalten am 6. November 1920, im Ung. Psychoanalytischen (Freud-) Verein. 


14* 







204 


Mitteilungen 


Von den drei Fällen war der erste ein Paraphreniker, bei dem im Laufe 
eines Rheumatismus ein Schwangerschaftswahn auftrat. Bei 
dem zweiten Paraphreniker ein Größenwahn nach Amputation beider Füße. 
Der dritte, ein P a r a 1 y t i k e r, bei dem die Art und die Lokalisation der 
Krankheit: Zerfall der Hirnsubstanz, die funktionellen psychischen Erscheinungen 
keineswegs erklären konnte. Ceteris paribus versteht sich, daß auch auf 
andere Schädigungen der Hirnsubstanz eine Psychose nachfolgt. Der Defekt 
bestimmt die konsekutive physische Ausfallerscheinung, aber keineswegs den 
Wahn, die Depression etc. Bei dem ersten Kranken, einem 35jährigen Bauern, 
handelte es sich um eine Paraphrenie mit Schwangerschaftsphantasien. 
Er war schon während der Mobilisierung im Jahre 1912—1913 eingerückt und 
machte damals den bosnischen Feldzug mit. Er rückte im Jahre 1914 wieder 
ein, kämpfte an allen Kriegsschauplätzen und erlitt unbedeutende Schu߬ 
verletzungen am linken Bein und am rechten Arm. Im Jahre 1916 zog er sich 
eine Erkältung zu, deren Folge rheumatische Schmerzen im 
Hüftgelenk, in der Lendengegend, d$pn Schmerzen im Bauche etc. waren. 
Im Jahre 1917 geriet er in russische Gefangenschaft und kam nach vielen 
Monaten zurück und, da er sich wegen seiner Krankheit (Rheumatismus) bei 
den Behörden fortwährend beklagte, daß er draußen am Felde nicht weiter 
arbeiten könne, bekam er eine Lizenz als Rauchfangkehrer. Aber er konnte 
auch diesen neuen Beruf wegen seiner rheumatischen Schmerzen nicht 
ausüben und deshalb begab er sich wieder in ein Spital, wo aber die 
Behandlung erfolglos blieb. Er wurde nach Budapest auf die Abteilung für 
Nervenkranke, wohin man die Rheumatiker einzuteilen pflegt, transferiert, um 
von hier aus einen Platz in einem Budapester Heilbad zu bekommen. Kaum 
war er aber einige Tage auf der Nervenabteilung, als sein Benehmen dem 
behandelnden Arzte auffiel und mich auf den Kranken aufmerksam machte, 
der dann auf diese Weise auf die Abteilung für Geisteskranke gebracht wurde 
und da durch mehrere Monate unter meiner Beobachtung stand. 

Der Mann benahm sich gegen jeden mißtrauisch, er antwortete aber 
doch auf die anamnestischen Fragen bereitwillig und noch zusammenhängend. 
Er sagte, daß er im Kriege sehr viel gelitten habe, deshalb schmerze ihn 
alles, der Kopf sei ihm schwer, seine Lunge zerfetzt, durchgeschossen, die 
Beine, die Hüfte, sein Bauch schmerzten ihn sehr. Er sprach ununterbrochen 
ausschweifend, mit schmerzhafter, wehleidiger Miene, mit der Redensart eines 
Geistlichen. Später ging er schon zu den übrigen Kranken und erzählte jedem 
„seine Leiden, seine Schmerzen“. Er mußte viel mitmachen, Tage und Nächte 
durchmarschieren, er, der früher zu Hause friedlich gearbeitet hatte. Er war 
manchmal gezwungen, stundenlang im Wasser zu liegen und so zog er sich 
eine Erkältung zu. Deshalb habe er jetzt die Schmerzen. 

Er kämpfte an allen Fronten und wurde Augenzeuge von wunderbaren 
Ereignissen. Er begegnete auch einmal während eines Gefechtes seinem 
eigenen Vater. Das machte großen Eindruck auf ihn. Und das war noch 
nicht alles. Er flog einigemal mit Aeroplan in die Höhe, er, der einfache 
Bauer. Er sprach in salbungsvollem Tone, bildete verschrobene Worte, sprach 
immer in passiver Form und in endlosen Sätzen. 

Nach einigen Tagen konnte man ihn vom Bette nicht hinaus bekommen, 
er lag dort bis zum Hals zugedeckt, klapperte mit den Zähnen, als hätte er 















Dr. S. Feldmann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen 


205 


Schüttelfrost und beklagte sich weiter. Er fing aber bald mit seinem Wahn 
an, zuerst nur verschwommen, dann immer kühner und deutlicher. Voller 
Leiden kam er vom Felde zurück. Es ist aber ein Wunder geschehen. 
Dieses Wunder geschah schon in seinem Heimatsorte in Somogyberezna. Eine 
Eibaut wuchs auf seinem Rücken und er gebar Zwillinge. Er gebar aber 
auch seine Mutter. Er hatte im Kriege Wunden erlitten. Er ist durch den 
Manngott koitiert und so schwanger geworden. Er weiß nicht wieso, aber 
jemand von hinten. Auch seine Mutter hatte Zwillinge. Er, die Mutter und 
der Manngott bilden eine Einheit. Das Wunder ist geschehen, die Eihaut ist 
geplatzt und die Zwillinge kamen heraus. Er habe auch jetzt Wehen, im 
Kriege ist das alles geschehen, von dort kam er zurück mit zerfetzter Lunge, 
mit rheumatischen Schmerzen, mit Wehen. 

Er wollte immer geläufig sprechen, blieb nie in der Rede stecken, sein 
Wortschatz reichte aber nicht au3 und er war zu Wortneubildungen gezwungen. 
Er blieb so tagelang im Bette, seufzte den ganzen Tag und benahm sich wie 
eine Gebärende, den Kopf nach hinten gebeugt, mit verzerrtem Gesicht. Er 
stand nach einigen Tagen auf, ging nackt herum und streichelte seinen Bauch. 
Die Wehen hörten nicht auf und er beklagte sich weiter. Es war dabei 
komisch zu hören, wie er manchmal deutsche und sogar lateinische Worte benützte, 
welche Kenntnisse er wahrscheinlich im Felde erworben hatte. Charakteristisch 
war aber die stereotype Wiederholung seines Wahnes, zeitweise mit 
verschiedenen Ergänzung3n, zuletzt Besch mpfungen gegen den Arzt, der aus 
dem Spital ein Bordell mache, man wolle ihn nächtlich koitieren, mit Kot 
einschmieren. Er wurde durch den Manngott koitiert, er ist Stabsarzt, Gott, 
er kann auch fliegen. 

Er verfiel bald in katatonische Starre. Er blieb im Bette bewegungslos 
mit verzerrtem Gesicht, brach jedwede Verbindung mit der Außenwelt ab, 
verweigerte die Nahrungsaufnahme. Seine ganze Lage im katato¬ 
nischen Zustande war vollkommen gleich mitderjenigen, 
welche er einnahm, als er sich wegen der Wehen beklagte. 
Die Katatonie war also ein kristallisierter Ausdruck 
seines Wahnes, eine Art Körperdialekt 1 . 

Am Anfang, als die organische Erkrankung die Aufmerksamkeit des Ich 
auf sich zog, war ein gewisser Kontakt mit der Außenwelt noch vorhanden. 
Aber ein beträchtlicher Teil der Objektlibido wurde schon für den erkrankten 
Körperteil in Anspruch genommen. Die narzißtische Besetzung war aber noch 
nicht vollständig. Später, im Laufe der Krankheit, konnte der Patient die 
Libidobedürfnisse des erkrankten Körperteiles nicht mehr bewältigen, der 
Kontakt mit der Außenwelt mußte abgebrochen werden. Der beschädigte 
Körperteil wurde mit dem Ich identifiziert, das ganze Quantum der Objekt¬ 
libido auf den kranken Körperteil-Ich zurückgezogen, und durch eine Art 
narzißtiischen Rausch (nach der Benennung Fe der ns) festgehalten. Im 
Laufe dieser Umwälzung sind verschiedene unbewußte Elemente zum 


1 Nunberg: Über den katatonischen Anfall. Internationale Ztschrift 1920. Heft I. „Die 
Funktion der Organe oder Körperteile verschafft autoerotisch-narzißtisclie Befriedigung. Die 
Befriedigung der Partialtriebe gelingt auch anscheinend vollkommen, und mit Recht kann 
deshalb der katatonische Anfall nach dem treffenden Worte von Federn als 
narzißtischer Rausch bezeichnet werden. Der Anfall stellt eine vollkommene 
Wunscherfüllung dar und ist eine Bejahung aller Perversione n.“ 







206 


Mitteilungen 


Vorschein gekommen: die homosexuelle Fixierung zum Vater-Gott, Identi¬ 
fizierung mit der Mutter 1 . 

Ich möchte zu diesen Erörterungen weiteres Beweismaterial bringen, 
indem ich den zweiten Fall dieser Gruppe vorführe. 

Ein Zigeuner, derim Kriegeseine beidenFüßeinfolge 
schwerer Verletzungen verloren hatte. Er bummelte viele Monate lang 
in den Spitälern herum, bis er endlich in Nachbehandlung kam. Aus unbekannten 
Gründen wurde seine Prothese nicht fertig, er wollte auch die Invalidenschule 
nicht besuchen, da er zu keinem Beruf, den man ihn lernen lassen wollte, Lust 
hatte. Er lag also monatelang beschäftigungslos, mit Langweile, ans Bett gefesselt. 

Ich konnte nur diese spärlichen Daten erhalten, als er auf die Abteilung 
für Geisteskranke transferiert wurde, mit der kurzen Bemerkung, daß der 
Kranke keinem gehorchen will, er schreit fortwährend, hält sich nicht rein. 
Bei der Übernahme konnte ich von dem Kranken nur sehr wenig erfahren. 
Auf jede Frage kam die stereotype Antwort: er wolle ins andere Spital 
zurück. Als dies nicht geschah, beschimpfte er die Ärzte und forderte von 
ihnen seine Füße. Die Ärzte verstünden nichts, sie hätten ihm die Füße 
abgeschnitten. Er werde Arzt sein, er werde die Füße nicht abschneiden. 
Dieser Zustand hielt durch mehrere Wochen an. Dann fiel mir auf, daß der 
Kranke, der einen Leibsiuhl vor seinem Beite hatte, stundenlang auf diesem 
saß und er mußte von dort durch den Wärter zurückgebracht werden. Er 
kroch aber öfters mit wunderbarer Geschicklichkeit zurück, vom Bett direkt 
zum Stuhl und blieb dort stundenlang. Sein Körper bildete quasi eine Brücke, 
indem er die Nates am Leibstuhl, die Stumpfenden am Bette hielt. Nach 
kurzer Zeit fiel er in eine eigene Art katatonischer Starre. Er saß in der 
angegebenen Richtung wie ein Fakir, mit majestätischem 
Ausdruck, in der linken Hand ein Stück Brot. Er blieb so durch zwei Tage, 
verweigerte die Nahrungsaufnahme stumm. Endlich am dritten Tag gelang es 
mir, seinen „Rausch“ zu unterbrechen. Ich nahm ihm das Brot weg und 
versprach ihm, es zurückzugeben, wenn er antworten werde. Er geriet in 
heftigen Zorn und sagte: „Lasse mich in Ruhe, ich bin jetzt Köni g.“ 
Die katatonische Stellung war damit erklärt. 

1 Dieser, aber auch andere Fälle haben mir die Erfahrung geliefert, daß auch der 
Psychotiker eine starke Übertragungsfähigkeit besitzt. Zwar finden wir bei den Psychosen 
solche Zeitpunkte, avo ihr Zustand und Verhalten eine totale Zurückziehung ihrer 
Aufmerksamkeit von der Außenwelt zeigt, aber man kann fast in jedem Falle, auch wenn 
die Krankheit noch virulent ist und von Heilung oder Stillstand noch keine Rede sein 
kann, eine manchmal ziemlich starke Übertragung erreichen. Nur ist diese Übertragung 
in mancher Hinsicht eine andere als bei den Neurosen. Der Widerstand läßt in dieser Zeit 
nach und die Kranken geben weitgehende Erklärungen, aber nur so weit, als man sie zur 
Einsicht ihrer Krankheit nicht zwingen will. Sie verraten die Bestandteile ihres Arsenals 
in der Hoffnung, daß man diese Kenntnisse nicht für ihre Heilung verwenden werde. Macht 
man es anders, so verstärken sich die Widerstände und die Kranken verschanzen sich 
vollständig. Ich habe also die Kranken, wenn ich von ihnen Auskünfte über ihre Krankheit 
bekommen wollte, noch in ihrem Wahn bestärkt und so die Widerstände zeitweise 
entkräftet. So habe ich z. B. in jedem untersuchten Falle die Wahnvorstellung als real 
angenommen, ich bin auf den Wahn des Kranken eingegangen, habe sozusagen die Realität 
dem Wahne angepaßt, ich habe den Psychotiker gespielt, mit den Kranken gelebt und damit 
nicht nur erreicht, daß ich die Kranken in jeder Hinsicht beobachten konnte, mich in die 
Krankheit oinfühlte, sondern es trat auch eine Übertragung ein, die sich in einem großen 
Vertrauen vonseiten des Kranken äußerte. — Tausk sagt, daß der Psychotiker tobt, weil 
er die Welt für verrückt hält. Die Kranken werden unruhig, zornig, tobsüchtig, sobald sie 
durch die eigene Zensur oder durch das Verhalten der Umgebung zur Krankheitseinsicht 
gedrängt werden. 




















Dr. S. Feldmann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen 


207 


Auf Grund unserer psychoanalytischen Kenntnisse können wir uns die 
Entwicklung dieser Psychose auf folgende Weise zurechtlegen: die Zigeuner 
sind bekanntlich sehr beweeungslustig, die Rasse ist durch einen besonderen 
Bewegungs- und Wandertrieb ausgezeichnet, dessen Quelle ein beträchtliches 
Maß °von Muskelerotik sein mag. Nun wurde unser Zigeuner infolge der 
Amputation ans Bett gefesselt Die Verletzung rüttelte zu sehr an seinem 
Narzißmus und Lusistreben. Zuerst kam die Verzweiflung, er machte manche 
Versuche, sich der Realität anzupassen Die Schädigung war aber zu schwer, 
er * mußte der Realität ausweichen, für die beraubten Lust quellen eine 
Entschädigung bekommen. Die Verletzung zwang ihn, bei der Ausführung 
seiner exkrementalen Bedürfnisse etwas länger zu verweilen, als er es 
vielleicht sonst getan hatte, die infantile Analerotik wurde wieder belebt, er 
saß wie die Kinder am „Throne“, und von da war nur ein kleiner Sprung 
zum Größenwahn, daß er König sei und am Throne sitze. Im katato¬ 
nischen Zustand kristallisierte sich dieser Wahn aus. 

Der dritte Fall, den ich im Rahmen dieser Erörterungen besprechen 
möchte, w r ar ein Paralytiker. 

Wir Psychoanalytiker sind vielleicht die ersten, die auch bei den 
Erscheinungen der Paralyse, w^o also ein ausgesprochener Zerfallprozeß in 
der Hirnsubstanz hervorgeht, Psychologen bleiben und begnügen uns nicht, das 
ganze Bild der Paralyse mit dem anatomischen Prozeß zu erklären. Dasselbe 
gilt für die Kranken, die eine Schädelverletzung erlitten haben und 
nachträglich an einer Psychose erkranken. Die organischen Ausfallerscheinungen 
werden von der Art und Größe der Verletzung bestimmt, der Inhalt der 
Psychose aber nicht. 

Das beschädigte Ich löst sich von der Verletzung ab und es entsteht 
eine Regression bis zu einer Stelle, welche individuell ver chieden ist, wir 
könnten sagen, bis zu der Stelle, wo bei dem Kranken schon vor der 
Schädigung eine Fixierung stattgefunden hat. 

Diesen letzten Satz möchte ich mit folgendem Beispiel unterstützen. 

Ein 33jähriger Gendarmeriewachtmeister, ein Paralytiker, wurde 
auf die Abteilung in ganz verwirrtem Zustande eingebracht. Der Mann lag 
fast bewußtlos im Bette, reagierte auf die Umgebung absolut nicht. Er hatte 
schreckhafte Visionen, sah am Plafond immer jemanden, der ihn bedrohte. 
Er verdeckte deshalb sein Gesicht mit einem Taschentuch. Ich beschäftigte 
mich sehr viel mit dem Kranken und er beruhigte sich bald, die Visionen 
verschwanden. Es entstand langsam eine deutliche homosexuelle Übertragung 
auf den Arzt: der Arzt sei ein schöner Mann, der Arzt solle ihn küssen. Er 
schenkte mir Papierstücke, Fetzen, die er als Geld betrachtete. Dann 
entwickelte sich ein Benehmen, welches dem eines Kindes ganz ähnlich war. 
Er machte sich aus Papier eine „Krone“, aus Holz ein Zepter, legte 
„Geldstücke“ vor sich, schmückte sich mit allerhand Fetzen, legte die Urin¬ 
flasche vor sich, setzte sich in einen Sessel und sagte, er sei jetzt ein König 
und sitze am Throne. Er ließ seinen Kot unter sich und beschmutzte sich und 
die Wand damit. Er nahm einen kleinen Polster auf seinen linken Arm, 
nannte den Polster: „der kleine Gustav“ (er hieß so), den er selbst zur Welt 
gebracht habe, küßte ihn und gab ihm zu essen. 

Er entschädigte sich also für die wahrgenomraene Schädigung seines 
Körpers mit der Zuitickziehung der Libido auf das Ich, liebkoste sich und indem 
er sich wiedergebar, glich er wenigstens psychisch die erlittene Schädigung aus. 







208 


Mitteilungen 


Zwei Fehlhandiungen einer Kebephrenen. 

Mitteilung von Dr. K. Abraham. 


Ein junges Mädchen leidet an einer schleichend verlaufenden Hebe- 
phrenie. Sie ist mißtrauisch und ablehnend, zeigt mancherlei Ansätze zur 
Wahnbildung, hat aber bisher keine festen Wahnideen produziert. Ihr besonderes 
Mißtrauen richtet sich darauf, daß andere sie betrügen oder bestehlen könnten. 

Eines Tages berichtet die Patientin mir in großer Aufregung, ihr seien 
50 Mark aus einem Koffer in ihiem Zimmer abhanden gekommen; sie will 
von keiner anderen Erklärung wissen, als daß Hausgenossen in ihrer Pension 
sie beraubt hätten. Bei sorgfältiger Durchsicht unter Assistenz einer anderen 
Person findet die Patientin das Geld wieder; sie selbst hatte die Fünfzm- 
marknote in einer Weise untergebracht, daß sie leicht übersehen werden 
konnte. Sie hatte sie nämlich in ein gefaltetes Blatt ihres Briefpapiers und 
dieses Papier zu den unbenutzten Bogen gelegt. 

Kurze Zeit darauf erneute Aufregung. Die Patientin vermißt 150 Mark; 
sie will alles sorgfältig durchsucht haben, aber ohne Erfolg. Am nächsten Ta^e 
ergibt sich, daß sie das Geld, welches sie vermißte, tatsächlich gar nicht mehr 
besaß, weil sie es verausgabt hatte. 


Bemerkenswert ist nun der Anlaß, der zu den beiden Fehlhandlungen 
ge ührt hat. Die Patientin gesteht, ein sogenanntes Traumbuch zu besitzen, 
aus welchem sie sich über die Vorbedeutung ihrer Träume Rat holt Eines 
Morgens erwachte sie aus einem Traum, in welchem sie eine Uhr an einer 
goldenen Halskette trug. Das Traumbuch gab als Bedeutung dieses Traumes 
an: „Du wirst bestohlen 1“ Wir verstehen, wie stark diese Prophezeiung den 
unbewußten Wünschen der Patientin entgegenkam. Am nächsten Tage 

ges ch ah es, daß sie die Fünfzigmarknote vermißte. Sie hatte 

also durch die geschilderte Art der Aufbewahrung den Anschein, daß das 
Geld gestohlen sei, unbewußt arrangiert. 

Als sie damals vom Verlust des Geldes sprach, hatte sie mir eingehend 
erklärt, daß sie das Geld unmöglich verausgabt haben könne, und hatte mit 
peinlicher Genauigkeit alle Ausgaben der vorausg“gangenen Zeit aufgezählt. 
Nachdem sie sich auf diesem Wege der besonderen Treue ihres Gedächtnisses 
versichert hatte, konnte die zweite, ebenfalls vom Unbewußten der Patientin 
arrangierte Fehlhandlung besonders gut den Anschein eines Diebstahls 
erwecken. Sie stützte sich auf ein tendenziöses Versagen eben jener Funktion 
eien Verläßlichkeit die Patientin so besonders gerühmt hatte Der Verdacht 
eines Vergessens mußte ihr daher fern liegen. 

Die mitgeteilten Fehlhandlungen sind von Interesse, weil sie zeigen 
wie ein paranoisch eingestelltes Individuum sich die unbewußten Wünsche 
des Beeinträchtigtseins selbst zu erfüllen versteht. 

Nach Niederschrift obiger Notiz hat die Patientin eine weitere Fehl- 
handlung verübt, welche der gleichen Tendenz dient. Sie verlor nämlich den 
Schlüsse 1 zu ihrem Zimmer, so daß sie es nicht mehr verschließen konnte. 
Nachdem also die beiden ersten Fehlhandlungen, die einen Diebstahl 
vortauschen sollten, allzu schnell aufgeklärt waren, änderte ihr Unbewußtes 
die Technik des Vorgehens. Anstatt den Anschein eines Diebstahls zu erwecken 
arrangierte die Patientin jetzt die Möglichkeit des Bestohlen Werdens. Ihre 
Hartnäckigkeit im Begehen dieser Fehlhandlungen ist die gleiche, mit der sie und 
andere Kranke ihresgleichen an der Idee des Beeinträchtigtwerdens festhalten 
















Dr. U. Vollrath: „Anadyrskaja bolj' 


209 


! 


„Anadyrskaja bolj.“ 

Mitgeteilt von Dr. U. Vollrath (Teupitz). 

Kenn an erwähnt in seiner Reiseschilderung „Zeltleben in Sibirien“ 
(Meyers Volksbücher, S. 319 ff.) einen eigenartigen Krankheitszustand, dem er 
unter Übernahme der Bezeichnung der Eingeborenen Nordostsibiriens den 
Namen „Anadyrskaja bolj“ (Anadyrsche Krankheit, nach der zur Zeit Kennans 
1865/66 etwa 200 Einwohner zählenden, unter dem Polarkreis gelegenen Dorf¬ 
gruppe Anadyrsk) beilegt. Er erfuhr davon zuerst, als er sab, wie ein Kosak 
seiner Begleitung einem anderen ihn besuchenden Kosaken nach langem Suchen 
unter seinen Ilabseligkeiten auf dessen Bitten ein altes, zerissenes, schmutziges 
Halstuch aushändigte und nach dem Grande dafür fragte. Der Kosak erwiderte 
ihm, die Tochter des Besuchers habe die Anadyrskaja bolj und verlange in 
diesem Zustande gerade ein Halstuch und da sein altes das einzige in der 
ganzen Ansiedlung Gishega sei, so müsse er es geben, wenn es auch abgerissen, 
schmutzig und nicht zu gebrauchen sei. Kennan gibt dann folgende Schilderung. 

„Die Anadyrskaja bolj, so genannt, weil sie in Anadyrsk zuerst aufgetreten 
war, stellte eine besondere Art Krankheit vor, die sehr viel Ähnlichkeit mit 
der modernen spiritistischen „Verzückung“ hatte, in Nordostsibirien schon seit 
langem herrschte und allen gewöhnlichen Heilmitteln und Arten der Behandlung 
Trotz bot. Die davon befallenen Personen, in der Regel Frauen, verloren das 
Bewußtsein, erlangten plötzlich die Fähigkeit, in Sprachen zu reden, die sie 
nie gehört hatten, besonders in der Gakoutsprache, und waren zeitweilig mit 
einer Art „zweiten Gesichts“ begabt, das sie befähigte, Dinge genau zu 
beschreiben, die sie nicht sehen konnten oder niemals gesehen hatten. In 
diesem Zustande pflegten sie häufig nach einem bestimmten Gegenstände zu 
verlangen, dessen Aussehen und Aufenthaltsort sie genau beschrieben, und 
wurde er ihnen nicht gebracht, so gerieten sie in Krämpfe, sangen in der 
Gakoutsprache, stießen sonderbare Schreie aus und gebärdeten sich überhaupt 
wie Wahnsinnige. Nichts vermochte sie zu beruhigen, es sei denn, daß der 
verlangte Gegenstand herbeigeschafft wurde. So hatte denn auch Kolmagoroffs 
Tochter gebieterisch nach einem wollenen Halstuche verlangt und da der 
arme Kosak nichts dergleichen in seinem Hause besaß, hatte er sich auf den 
Weg gemacht, um irgendwo im Dorfe eines aufzutreiben. Das war alles, was 
mir Wuschin über die Sache mitzuteilen vermochte. Der Befehlshaber der 
Kosaken, ein einfacher, ehrlicher alter Mann, dem in keinem Falle eine 
absichtliche Täuschung zuzutrauen war, bestätigte alles, was mir Wuschin 
gesagt hatte, und machte uns noch viele ergänzende Mitteilungen. Er sagte, 
er habe seine Tochter in ihren Verzückungen oft die Gakoutsprache sprechen 
und sie Ereignisse erzählen hören, die sich zur selben Zeit mehrere hundert 
Meilen entfernt zugetragen hätten. Der Major fragte, wieso er wisse, daß seine 
Tochter gerade die Gakoutsprache gesprochen habe. Er erwiderte, er sei nicht 
ganz sicher, ob es gerade diese gewesen sei, jedenfalls sei es aber weder 
Russisch, noch Korjakisch, noch irgend eine der ihm bekannten Sprachen der 
Eingeborenen gewesen und habe ihm sehr nach Gakoutisch geklungen. Ich 
fragte nun, was geschehe, wenn die kranke Person nach Dingen verlange, die 
unmöglich zu beschaffen seien. Padjerin erwiderte, er habe nie von einem 
solchen Falle gehört; wenn der verlangte Gegenstand ein ungewöhnlicher 
gewesen sei, so habe das Mädchen stets angegeben, wo er zu finden sei, 













210 


Mitteilungen 


wobei sie oft mit der größten Genauigkeit Dinge beschrieben habe, die sie, 
soviel er wußte, niemals gesehen haben könne. Einmal, sagte er, habe seine 
Tochter nach einem gewissen scheckigen Hunde verlangt, den er vor seinen 
Schlitten zu spannen pflegte. Man habe den Hund ins Zimmer gebracht und 
auf diese Weise das Mädchen sofort beruhigt; dagegen sei von diesem Tage 
an der Hund so wild und unruhig geworden, daß er fast unlenkbar gewesen 
sei und er ihn schließlich habe töten müssen. 

„Glauben Sie denn wirklich,“ fragte der Major, „daß diese Weiber in 
der Gakoutsprache reden, die sie nie gehört, und Dinge beschreiben, die sie 
nie gesehen haben?“ Padjerin zuckte ausdrucksvoll die Achseln und sagte 
er glaube, was er sehe. Und dann fuhr er in seinem Berichte fort und erzählte 
uns noch unglaublichere Dinge über die Symptome dieser Krankheit und über 
die geheimnisvollen Kräfte, die sie in den davon befallenen Personen entwickle, 
und berief sich bei seinen Behauptungen stets auf die Erfahrungen, die er 
mit seiner Tochter gemacht habe. Er glaubte offenbar fest an das wirkliche 
Vorhandensein der Krankheit, wollte aber absolut nicht angeben, welcher 
wirkenden Kraft er die Erscheinung des Hellsehens und die Fähigkeit, fremde 
Sprachen zu sprechen, zuschreibe, die die bemerkenswertesten Symptome des 
Übels bilden. 

Im Verlaufe des Tages kamen wir zufällig zu dem Isprawnik oder 
russischen Gouverneur, wo wir im Laufe des Gespräches die Anadyrskaja bolj 
erwähnten und einige von den Geschichten erzählten, die wir von Padjerin 
gehört hatten. Der Isprawnik, ein Skeptiker in jeder Beziehung und ganz 
besonders in dieser, sagte, er habe oft von der Krankheit reden gehört, seine 
Frau glaube auch fest daran, seiner Meinung nach sei aber die ganze Sache 
Schwindel und verdiene keine andere Behandlung als die durch körperliche 
Züchtigung. Die russische Landbevölkerung, sagte er, sei sehr abergläubisch 
und lasse sich fast alles weismachen, und die Anadyrskaja bolj sei zum Teile 
Wahn, zum Teile Betrug, dessen sich die Frauen bedienten, um auf Kosten 
ihrer männlichen Verwandten ihre selbssüchtigen Zwecke zu fördern. Eine 
Frau, die eiuen neuen Hut wolle und ihn auf dem gewöhnlichen Wege der 
Quälereien nicht erlangen könne, finde es sehr bequem, als letztes Auskunfts¬ 
mittel eine „Verzückung“ zu benutzen, in der sie dann den Hut als physio¬ 
logische Notwendigkeit fordere. Bleibe der Ehemann noch immer verstockt, 
so genügten in der Regel einige gut fingierte Krämpfe und ein oder zwei Lieder 
in der sogenannten Gakoutsprache, um ihn kirre zu machen. Er erzählte dann 
einen Fall, wo ein russischer Händler, dessen Frau von der Anadyrskaja bolj 
befallen wurde, wirklich eine Winterreise von Gishega nach dem 300 Werst 
entfernten Gamsk gemacht habe, um ihr ein Seidenkleid zu verschaffen, das 
sie verlangt hatte und das nirgends anderswo zu bekommen war. Natürlich 
verlangten die Frauen nicht immer Dinge, von denen man voraussetzen 
könnte, sie hätten sie auch im Zustande der Gesundheit begehrt. Geschähe 
dies, so würde der Verdacht der betrogenen Gatten, Väter und Brüder bald 
rege werden und zu unbequemen Fragen, wenn nicht gar zu noch unangenehmeren 
Nachforschungen über das Wesen der geheimnisvollen Krankheit Anlaß geben 
Um dies zu vermeiden und die Männer über die eigentliche Natur der 
Täuschung im unklaren zu lassen, verlangen die Frauen oft nach Hunden, 
Schlitten, Äxten und ähnlichen Dingen, von denen sie in keinem Falle Gebrauch 
machen können und überzeugen auf diese Weise ihre leichtgläubigen Verwandten, 
daß ihre Wünsche sich bloß aus krankhaften Launen herleiten und sich auf 


















Dr. S. Ferenczi: Die Symbolik der Brücke 


211 


keine bestimmte Absicht gründen. Dies war die rationalistische Erklärung, die 
der Isprawnik von dem seltenen Wahne gab, der unter dem Namen Anadyrskaja bolj 
bekannt ist; und obwohl diese Erklärung mehr Schlauheit auf Seiten der 
Frauen und mehr Leichtgläubigkeit auf Seiten der Männer voraussetzte, als 
ich bisher bei beiden Geschlechtern vorhanden geglaubt hatte, so konnte ich 
doch nicht umhin, sie sehr plausibel zu finden, denn sie reichte für die 
meisten der in Betracht kommenden Erscheinungen aus. 

Angesichts dieser bemerkenswerten Leistung weiblicher Strategie müssen 
unsere klügsten Frauen in Amerika doch zugeben, daß ihre sibirischen Schwestern 
es in der Kunst, ihre Launen zu befriedigen und ihren Herren und Gebietern 
Sand in die Augen zu streuen, viel weiter gebracht haben als sämtliche Vereine 
zur Wahrung der Frauenrechte in der ganzen Welt. Eine Scheinkrankheit mit 
solchen Symptomen zu erfinden, sie in einer ganzen Gegend epidemisch werden 
zu lassen und sie als Hebel zu gebrauchen, um die Geldtasche der Männer 
zu öffen und die Wünsche der Frauen zu befriedigen, das ist denn doch der größte 
Triumph, denn jemals Weiberschlauheit über Männertorheit davongetragen hat.“ 

Auch wenn man die allzu einseitige rationalistische Erklärung Kennans 
und seines Gewährmannes abzieht, bleibt für den Psychoanalytiker noch genug 
des Interessanten an dieser Beobachtung Übrig. 

Die Symbolik der Brücke. 

Von Dr. S. Ferenczi (Budapest). 

Bei der Feststellung der symbolischen Beziehung eines Objektes oder einer 
Tätigkeit zu einer unbewußten Phantasie ist man zunächst auf Mutmaßungen 
angewiesen, die sich durch spätere Erfahrung vielfache Modifikationen, 
oft gänzliche Umgestaltung gefallen lassen müssen. Bestätigungen, die einem 
oft von den verschiedensten Gebieten der Erkenntnis Zuströmen, haben hier 
den Wert von bedeutsamen Indizien, so daß alle Zweige der Individual- und 
der Massenpsychologie an der Feststellung einer speziellen symbolischen Relation 
beteiligt sein können; Traumdeutung und Neurosenanalyse bleiben aber nach 
wie vor die verläßlichsten Grundlagen jeder Symbolik, weil wir an ihnen 
auch die Motivierung, überhaupt die ganze Genese solcher psychischen Gebilde 
»in anima vili“ beobachten können. Das Gefühl der Sicherheit einer 
symbolischen Beziehung kann man meiner Ansicht nach überhaupt nur in der 
Psychoanalyse gewinnen. Symbolische Deutungen auf anderen Wissensgebieten 
(Mythologie, Märchenkunde, Folklore etc.) haben immer den Charakter des 
Oberflächlichen, des Flächen haften; es verbleibt einem dabei immer das 
unsichere Gefühl, daß die Deutung ebensowohl auch anders hätte lauten 
können, wie denn auch diese Wissenszweige dazu neigen, denselben Inhalten 
immer wieder neue Bedeutungen unterzulegen. Das Fehlen der Tiefendimension 
mag es auch sein, was die wesenlose Allegorie von dem Symbol, das von Fleisch 
und Blut ist, unterscheidet. 

Brücken spielen in Träumen oft eine auffallende Rolle. Bei der 
Deutung der Träume von Neurotikern wird man häufig vor die Frage der 
typischen Bedeutung der Brücke gestellt, besonders, wenn dem Patienten zur 
Traumbrücke nichts Historisches einfallen will. Der Zufall des Kranken¬ 
materials mag es mit sich gebracht haben, daß ich in einer ganzen Anzahl 
von Fällen folgende sexualsymbolische Deutung an Stelle der Brücke einsetzen 
konnte: Die Brücke ist das männliche Glied, und zwar das mächtige 






212 


Mitteilungen 


Glied des Vaters, das zwei Landschaften (das riesenhaft, weil vom infantilen 
Wesen gedachte Elternpaar) miteinander verbindet. Diese Brücke ist über ein 
großes und gefährliches Wasser gelegt, aus dem alles Leben stammt, in das 
man sich zeitlebens zurücksehnt und als Erwachsener, wenn auch nur durch 
einen Körperteil vertreten, periodisch auch wirklich zurückkehrt. Daß man 
sich auch im Traume nicht direkt, sondern auf einer stützenden Planke diesem 
Gewässer nähert, ist bei dem besonderen Charakter der Träumenden verständ¬ 
lich ; sie litten ausnahmslos an sexueller Impotenz und schützten sich 
durch die Schwäche ihrer genitalen Exekutivorgane vor der gefährlichen 
Nähe des Weibes. Diese symbolische Deut mg der Brückenträume bewährte 
sich nun, wie gesagt, in mehreren Fällen; auch fand ich in einem volkstümlichen 
Märchen und der obszönen Zeichnung eines französischen Künstlers die 
Bestätigung meiner Annahme; in beiden handelte es sich um das riesenhafte 
männliche Glied, das, über einen breiten Fluß gelegt, im Märchen sogar stark 
genug war, ein schweres Pferdegespann zu tragen. 

Die letzte Bestätigung, zugleich die eigentliche, bisher vermißte Vertiefung 
meines Verständnisses für dieses Symbol brachte mir aber ein Patient, der an 
Brückenangst und Ejaculatio retaidata litt. Nebst mancherlei 
Erfahrungen, die die Kastrations- und Todesangst dieses Kranken zu wecken 
und zu steigern geeignet waren (er war ein Schneiderssohn), ergab die Analyse 
folgendes erschütternde Erlebnis aus seinem neunten Lebensjahr: die Mutter 
(eine Hebamme!), die ihn abgöttisch liebte, wollte die Nähe ihres Kindes 
auch in der schmerzvollen Nacht nicht vermissen, in der sie einem Mädchen 
das Leben gab, so daß der kleine Knabe von seinem Bette aus den ganzen 
Prozeß der Geburt, wenn auch nicht mitansehen, so doch mitanhören mußte 
und aus den Äußerungen der Pflegepersonen auch Einzelheiten über das 
Kommen und das zeitweilige Wieder verschwinden des kindlichen Körpers 
entnehmen konnte. Der Angst, die sich dem Zeugen einer Geburtsszene 
unweigerlich mitteilt, kann sich der Knabe nicht entzogen haben; er fühlte 
sich in die Lage des Kindes ein, daß eben die erste und größte Angst, das 
Vorbild jeder späteren, durchmachte, stundenlang zwischen Mutterleib und 
Außenwelt hin und her schwankte. Dieses Hin und Her, diese Verbindungs¬ 
stelle zwischen Leben und Nochnicht- (oder Nichtmehr-) Leben gab nun der 
Angsthysterie des Kranken die spezielle Form der Brückenangst, Das gegen¬ 
überliegende Ufer der Donau bedeutete für ihn das Jenseits, das, wie gewöhn¬ 
lich, nach dem Bilde des Lebens vor der Geburt gestaltet war 1 . Nie in seinem 
Leben ist er noch zu Fuß über die Brücke gegangen, nur in Fahrzeugen, die 
sehr rasch fahren und in Begleitung einer starken, ihm imponierenden Persön¬ 
lichkeit. Als ich ihn — nach genügender Erstarkung der Übertragung — zum 
erstenmal dazu brachte, mit mir nach langer Zeit wieder einmal die Fahrt zu 
machen, klammerte er sich krampfhaft an mich an, alle seine Muskeln waren straff 
gespannt, der Atem angehalten. Auf der Rückfahrt ging es ebenso, doch nur 
bis zur Mitte der Brücke; als das diesseitige Ufer, das für ihn das Leben 
bedeutete, sichtbar wurde, löste sich der Krampf, er wurde lustig, laut und 
redselig, die Angst war verschwunden. 

Wir können nun auch die Ängstlichkeit des Patienten bei der Annäherung 
ans weibliche Genitale und die Unfähigkeit zur vollkommenen Hingabe an 
das Weib verstehen, das für ihn, wenn auch unbewußt, immer noch ein 

1 Vergleiche dazu Ranks völkerpsychologisch gestützte Ausführungen in der 
Lohengrinsage, 1911. 














Dr. S. Ferenczi: Die Symbolik der Brücke 


213 


gefahrdrohendes tiefes Wasser bedeutet, in dem er ertrinken muß, wenn ihn 
nicht ein Stärkerer „über Wasser hält“. 

Ich denke, die zwei Deutungen: Brücke = Bindeglied zwischen den 
Eltern, und: Brücke = Verbindung zwischen Leben und Nichtleben (Tod), 
ergänzen sich auf die wirksamste Art; ist doch das väterliche Glied tatsächlich 
die Brücke, die den Nochnichtgeborenen zum Leben befördert hat. Doch 
erst diese letztere Über-Deutung gab dem Gleichnis jenen tieferen Sinn, ohne 
den es kein wirkliches Symbol gibt. 

Es liegt nahe, die Verwendung des Brückensymbols im Falle der 
neurotischen Brückenangst zur Darstellung des rein seelischen „Zusammen¬ 
hanges“, der „Verbindung“, Verknüpfung“ („Wortbrücke“ Freut*), mit einem 
Wort: einer psychischen oder logischen Relation, d. h. als „autosymbolisches“, 
„funktionales“ Phänomen im Sinne Silberers zu deuten. Doch gleichwie 
im gegebenen Beispiel diesen Phänomenen gut-materiale Vorstellungen über 
die Vorgänge eines Geburtsaktes zugrundeliegen, so glaube ich, daß es über¬ 
haupt kein funktionales Phänomen ohne eine materiale, d. h. sich auf 
Objektvorstellungen beziehende Parallele gibt. Allerdings mag bei narzi߬ 
tischer Betonung der „Ich-Erinnerungs-Systeme“ 1 die Assoziation mit den 
Objekterinnerungen in den Hintergrund treten und der Anschein eines 
reinen AutosymbolLmus erweckt werden. Andererseits ist es möglich, daß es 
auch kein „materiales“ seelisches Phänomen gibt, dem nicht auch eine, wenn 
auch nur blasse Erinnerungsspur an die es begleitende Selbstwahrnehmung 
beigemengt wäre. Schließlich sei daran erinnert, daß — in ultima analysi — 
fast jedes, vielleicht gar überhaupt jedes Symbol auch eine physiologische 
Grundlage hat, d. h. irgendwie den ganzen Körper, ein Körperorgan oder 
dessen Funktion zum Ausdrucke bringt 2 . 

In diesen Andeutungen sind, wie ich glaube, Hinweise für eine zu 
gestaltende Topik der Symbolbildung enthalten und da der dabei tätige 
Verdrängungs-Dynamismus bereits bei früherer Gelegenheit beschrieben 
wurde 3 , so fehlt uns zur „metapsychologischen“ Einsicht in das Wesen der 
Symbole im Sinne Freuds nur die Kenntnis der Verteilung psychophysischer 
Quantitäten bei diesem Kräftespiel und genauere Daten über Onto- und 
Phylogenese 4 . 

Das in der Brückenangst zur Schau getragene psychische Material trat 
beim Patienten auch in einem konversionshysterischen Symptom zum 
Vorschein. Bei plötzlichem Schreck, beim Anblicke von Blut oder irgend 
einem körperlichen Gebrechen neigt er zu Ohnmächten. Als Vorbild dieser 
Anfälle diente ihm die Erzählung der Mutter, daß er nach einer schwierigen 
Geburt halbtot zur Welt kam und mit vieler Bemühung zum Atmen gebracht 
werden mußte. Diese Erinnerung war das Urtrauma, an das sich das spätere 
(die Anwesenheit beim Gebären der Mutter) anlehnen konnte. 

Es braucht kaum besonders hervorgehoben zu werden, daß die Brücke 
in Träumen auch ohne jeden symbolischen Sinn, aus historischem Traum¬ 
material stammend, Vorkommen kann. 

1 Siehe dazu meine Abhandlung über den Tic, diese Zeitschrift VII. Jahrg; Nr. 1. 

8 Vergleiche damit die diesbezüglichen Bemerkungen in der Arbeit: „Hysterische Mate¬ 
rialisationsphänomene“ in „Hysterie und Pathoneurosen“, Internationale Psychoanalytische 
Bibliothek Nr. 2, vom Verfasser. 

8 Siehe „Zur Ontogenese der Symbole“, diese Zeitschrift I. 436, vom Verfasser. 

4 Vergleiche damit die Arbeit von Jones über die Symbolik, diese Zeitschrift. 
V. Jahrgang, Seite 244. 








Mitteilungen 

Beiträge zur Traumdeutung. 

Zwei Entbindungsträume einer Schwangeren. 

Von Dr. J. Marclnowski (Heilbrunn). 

1. „Mir träumte von einem großen Sandberg, ähnlich dem, der in W. vor 
unserem Hause war, nur war er spitz zugehend. Oben um die Spitze mußte 
ich immer herumgehen. Ich hatte das Gefühl: Du mußt — ich weiß nicht, 
um das zu üben oder so. Ich habe dabei immer heruntergeguckt und mich mit 
den Händen ängstlich im Sande festgeklammert. Am Fuße des Berges ging 
eine Fahrstraße, daneben war Wasser. Ich war furchtbar schwindlich, ganz wie auf 
den BergeD. Plötzlich, als ich so herumkroch, mit dem Angstgefühl abzustürzen, 
öffnete sich der Berg und ich wurde wie iu einen Trichter hinabgezogen mit 
dem Gefühl, jetzt mußt du im Sande ersticken, der Sand stürzt dir aller nach. 
Statt dessen aber fühlte ich, wie ich ganz schnell heruntersauste und unten 
in einem freien Raum wie in einem weiten Rohr ankam, unmittelbar an der 
Fahrstraße. Gegenüber der Straße befand sich ein Restaurant, wo die Leute 
Kaffee tranken. Die ganze Situation erinnerte mich an die Moorlacke, wo wir als 
Kinder oft gespielt haben. Darüber erwachte ich. Mein Gefühl hinterher war 
ganz anders, als ich es sonst nach Fallträumen hatte, mir war wohl und 
erleichtert.“ 

2. „Ich war unten bei unserer Wirtschafterin in der Küche. Die Wirtschafts¬ 
räume waren wie in T., lagen aber wie bei uns im Kellergeschoße etwas tief. 
Daraus führten verschiedene kurze Treppen nach oben wie aus einem Schacht 
heraus und ich sah, wie die Sonne so richtig reinschien in die Gänge. Ich 
wollte herauf zum Essen in den Saal und hatte Angst, du würdest schelten, 
wenn ich wie immer zu spät käme. Aber an allen Ausgängen, an denen ich 
versuchte, heraufzukommen, mußte ich immer an der obersten Stufe umkehren, 
weil die Ausgänge mit unerklärlichen Dingen verschlossen waren. Sie war wie 
eine Jalousie, die sich bewegte und durch die ich immer nur mit dem Kopf 
durchkam und mit den Schultern stecken blieb. Dann plötzlich gelang es mir, 
mich durch eine der Öffnungen durchzuzwängen, die auf einmal nachgab. Da 
war ich oben im Seiteneingang vom Wirtschaftshof in T. draußen im Freien 
in der Sonne. Ich hatte meinen braunen Hänger an und als ich an mir 
heruntersah, ob ich ordentlich war, um in den Saal zu gehen, da war der 
Rock in tiefen Falten zusammengequetscht und die Falten waren mit lauter 
Kletten zusammengehalten. Das war mir sehr unangenehm; es war wie Spinn¬ 
gewebe, das ich beim Durchgehen erwischt hatte. Ich dachte, du hast dich 
ganz schmutzig gemacht.“ 

Ich gebe die Träume ohne Analyse wieder, weil sie sich durch die 
Lebenslage der Träumerin von selbst deuten und damit einen Beweis liefern, 
der unabhängig analytischer Technik für unsere Auffassung vom Traumdenken 
erwächst, die Theorie bestätigend, ohne daß man die analytische Deutungs¬ 
arbeit dafür anschuldigen kann. Die Entbindung erfolgte vier Wochen später. 

In beiden Träumen erscheint die Träumerin nun nicht in der Rolle der 
Gebärenden, sondern es ist, als ob sie in ihrer Lage die eigene Geburt in 
angstvoller Rückerinnerung noch einmal belebte und diesem Erinnern symbolisch 
Ausdruck verliehe. Der Sandberg mit seiner der menschlichen Hautfarbe 
entsprechenden Farbe ist unschwer als der schwangere Leib zu erkennen, aus 
dem die Träumerin mit angstvollem Gefühl auf die Lebensbahn: die Fahrstraße 







Dr. M. J. Eisler: Mutterleibs- und Geburtrettungsphantasien im Traum 215 


gelangt. Freud 1 macht einmal irgendwo die Bemerkung, die eigene Geburt sei 
der erste große Angstanfall in unserem Leben. Und in der Tat, wenn wir uns 
in die Lage eines Kindes in seiner Geburtsstunde hineindenken, so ist das nur 
allzu verständlich, daß auch dieser Eindruck lebhaft haften bleibt, wenn auch 
natürlich ohne klar bewußte Vorsteliungsmöglichkeit, wie sie ja dem rein 
emotionalen Erinnern überhaupt mangelt. Angst und Erstickungsgefühle gehören 
zusammen. Für den Humor im Traum kommt dann nach der großen Erleich¬ 
terung der freudige Kaffee für die Hebamme und die hilfeleistenden Angehörigen 
zur Geltung und zum Schlüsse gibt der Traum gleichsam wit eine nachträgliche 
Überschrift erst die Deutung: die ganze Geschichte erinnert an die Geschichte 
vom Klapperstorch, der die kleinen Kinder aus dem Sumpf, der Moorlacke, holt. 

Auch der zweite Traum gibt die Gefühle des zu gebärenden Kindes 
wieder, nicht die der Mutter. Das Zuspätkommen zum Essen hat seinen Sinn, 
denn das vorige Kind kam sehr verspätet zur Welt und sollte deshalb den 
scherzhaften Namen Laura (von lauern) erhalten. Eigenartig ist dann die 
Schilderung des Geburtsvorganges, der vordrängende und in der Wehe zurück¬ 
weichende Kopf und die hinderlichen Geburtswege. Daß die verschiedenen 
Gänge ins Freie führen, sind Anklänge an kindliche Sexualtheorien. Draußen 
befindet sich dann das Neugeborene auch neben dem Eingang zum Wirtschafts¬ 
hof, d. h. neben der Darmöffnung, wie ja die ganze Geschichte sich in den 
unteren Regionen des Körperhaushaltes abspielt, wo die Nahrungssorgen erledigt 
werden. Daher auch der braune Hänger, das mit Kindspech beschmierte 
Neugeborene, dessen Haut nach der Geburt ja tatsächlich oft faltig ist und 
das zum mindisten noch keineswegs salonfähig ausschaut, dazu beim 
Durch quetschen allerhand abbekommen hat. 

Solche Träume sind, wie gesagt, oft besser geeignet, die Berechtigung 
unserer Traumpsychologie zu erweisen, als es eine tiefsinnige Deutungschwierigen 
Traummateriales zu leisten vermöchte. 

Mutterleibs- und Geburtrettungs-Phantasien im Traum. 

Von Dr. M, J. Eisler (Budapest). 

Die Lösung von Träumen, die eine Mutterleibs- oder Geburtrettungs- 
Phantasie zur Grundlage haben (beide treten oft untrennbar ineinander 
verwoben auf), bereitet dem Analytiker in der Regel keine Schwierigkeiten 
mehr, sobald er sein inneres Gehör auf diese Tatsache eingestellt hat. Die 
Assoziationen des Erzählers, der den Traum bringt, leisten hiezu nur geringe 
Dienste; erst wenn sie den Sinn des Traumes im ganzen erfahren haben, 
schaffen sie das Material herbei, aus welchem die Einzelheiten zusammengestellt 
sind. Aus diesen nimmt dann die Analyse ihren Fortgang. 

Die Beispiele, welche ich nun anführe, sind in erster Reihe wegen ihrer 
formellen Abgerundetheit merkwürdig, doch ist auch die Art, wie ich zu ihrer 
Kenntnis gelangte, erwähnenswert. Ich muß hier einen kleinen Beitrag zur 
Traumdeutung in Erinnerung bringen, den ich unter dem Titel „Das Labyrinth“ 
(Diese Zeitschrift IV. Jahrgang., Seite 297) — ein durch inzestuöse 
Pubertäts-Phantasien geweckter Rettungstraum — publiziert habe. Von dieser 
Arbeit hatte mein — jüngerer — Bruder seinerzeit zum Zweck der Veröffent¬ 
lichung eine Maschinenabschrift verfertigt. Der Inhalt hinterließ einen tiefen 


1 Die Traumdeutung, 4. Auflage, 1914, Seite 290, Anmerkung ♦*. 









216 


Mitteilungen 


Eindruck in ihm, dem ein wenig Zweifel an die Glaubwürdigkeit der Sache 
beigemengt war. Zunächst scheint er mich auch mit dem Träumer identifiziert 
zu haben, welcher Gedanke den Eindruck nur verstärkt hat. An einem der 
nächstfolgenden Tage träumt ihm in der Form eines Weckreiztraumes folgendes 
(er wurde tatsächlich durch einen Kameraden geweckt, auf dessen Anruf er 
den ersten Teil träumt, nachher einschläft und den Traum beendet): 

„Ich befinde mich ineinemmassivausBetongebauten 
leerenZimmer, das nur eine Ausgangtüre hat, derenFlügel 
fehlen. Im nächsten Moment höre ich draußen sprechen, 
es war dieStimme eines älteren und eines jüngeren Herrn 
(Professor und Assistent). Ich möchte es nicht, daß sie 
mich bemerken, deshalb schwinge ich mich mit zwei bis 
drei Schwimmbewegungen in dieLuft und bleibe in der 
einen etwas dunkleren Ecke des Zimmers wagrecht, den 
Kopf nach oben gewendet, schweben. Ich spreche zu ihnen 
und bekomme nach kurzer Zeit schwere Aufgaben, die ich 
mit Leichtigkeit löse, zuletzt die Berechnung und den 
Plan eines großenDampfers. Bald darauf wird ein schönes, 
junges Mädchen in das Zimmer geschickt, ich fliege herab 
und bemerke, daß jetzt auch ein Sofa im Zimmer ist; das 
Mädchen setzt sich unaufgefordert nieder, ich will mich 
neben ihr niederlassen, als ich geweckt werde . . 
Fortsetzung des Traumes: „Ich öffne eine mit Eisen beschlagene 
Türe und trete ein, ich sehe einen langen Gang, aus dem 
zahlreiche andere Gänge ausgehen, ich steige in ihnen 
herum, da merke ich, daß jemand im großen Gang nach mir 
sucht. Ich erblicke einen älteren Herrn, einen Professor 
dem wahrscheinlich diese Gänge gehören, denn er 
bemerkt sofort, daß hier ein Fremder eingedrungen ist; 
er hält einen Schirm unter dem linken Arm und trägt eine 
große Brille. Ich bin unsichtbar, darum trete ich ganz 
nahe an ihn heran und will ihm die Brille entreißen, er 
drückt sie aber so stark gegen den Nasenrücken, daß es 
mir unmöglich ist, diese wegzunehmen. Im nächsten 
Moment greift er mit der rechten Hand in die Tasche und 
zieht einen Revolver hervor, den er in der Richtung, wo er 
mich glaubt, abfeuert; ich lege mich platt auf den Boden 
und sehe noch den Rauch aus dem Revolver emporsteigen 
und die Kugel in der Richtung, wo ich früher gestanden 
bin, fortfliegen, als ich erwache...“ 

An diesem durchsichtigen Traum wären nur Einzelheiten zu deuten. 
Der erste Teil enthält die Darstellung des Intrauterinlebens; das auffällige 
Benehmen des Träumers, der sich als Embryo dünkt, deute ich — einer 
Bemerkung von Ferenczi folgend — als Paradoxie des Gedankens: „Es ist 
doch nicht möglich, daß ein ungeborenes Kind irgendwelche Empfindungen 
haben kann.“ Absurdität wird im Traum als Superklugheit hingestellt 1 . Unter 
Professor und Assistent meint er den Vater und mich. — Im zweiten Teil des 
Traumes ist die Belauschung des elterlichen Verkehrs wie im Beispiel Freuds 


1 Der Träumer ist Beamter einer Schiffahrtsgesellschaft. 



















Dr. M. J. Eisler: Mutterleibs- und Geburtrettungsphantasien im Traum 217 

(Traumdeutung, 5. Aufl., S. 272), zugleich das stark ambivalente Verhältnis 
zum Vater (zurückgewendete Kastrationsdrohung) dargestellt. 

Die tieferen Motive, aus welchen dieser Traum entstand, erfuhr ich, als 
mir wenige Wochen später ein in der Situation — Mutterleibsphantasie — 
ähnlicher Traum gebracht wurde: 

»Ich fühle mich, als wäre ich gestorben. Ich gehe 
über den Ring auf die ...straße zu und habe das Gefühl, 
als ob mir jemand folgen würde. Rechts in der Gasse trete 
ich in das zweite Haus und steige in den zweiten Stock 
hinauf. Ich öffne eine Türe und betrete ein Zimmer, 
welches keinen anderen Ausgang hat. Rings herum sehe 
ich Stellagen, auf welchen sich Särge befinden. In der 
Mitte des Zimmers steht mein Bruder L..., der mich mit 
denWorten empfängt:,Endlich kommst du, wir erwarteten 
dich schon! 6 Ich habe das Gefühl, daß in dem einen Sarg 
meine Schwester liegt, obzwar ich sie nicht sehe. In 
diesem Moment kommt ein Fremder, der mir bisher nach¬ 
gegangen war. Er öffnet, bleibt im Rahmen der Türe 
stehen und will eintreten, doch ich rufe ihn in ener¬ 
gisch e m, ab e r r u hi ge m T o n e an: ,Was suchen Sie hier, das 
ist ja der Ruheplatz aller meiner Geschwister, 6 worauf er 
sich sofort zurückzi eht und die Türe schließt, Ichkehre 
mich jetzt zum Bruder hin und erwache.“ 

Den Gefühlshintergrund des Traumes bildet eine ernste und nachhaltige 
Trauer um einen verlorenen Jugendfreund. Er setzt mit einer ausgesprochenen 
Todessehnsucht ein. Freud hat mit großer Feinheit und psychologischem 
Tiefsinn den Zustand beschrieben, in welchem sich der Trauernde, in der 
„Trauerarbeit“ Befangene, befindet, an den das Gebot ergeht, alle seine 
libidinösen Objektbesetzungen vom Verlorenen zurückzuziehen (Trauer und 
Melancholie, Sammlung kleiner Schriften, 4. Teil, S. 356). In einem Moment 
der egoistischen Freude, am Leben geblieben zu sein, rührt das Unbewußte 
an die Situation der Geburt und des Aufenthaltsortes vor der Geburt. Aus 
einer solchen narzißtischen Selbstbesinnung ist der Traum enstanden, doch 
kommt darin die düstere Grundstimmung 1 ebenso zur Geltung. Die Deutung 
der Einzelheiten darf hier übergangen werden, auch die Analogien zwischen 
diesem und dem vorangehenden Traum sollen nur im großen erwähnt werden. 
Den Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung erhielt ich, als mir mein 
Bruder einen dritten Traum erzählte, den er aber schon vor der Kenntnis 
meines Beitrages über das „Labyrinth“ geträumt hatte und jetzt aus der 
Erinnerung hervorholen konnte: 

„Ich befinde mich mit einem Freunde (es ist nicht der 
Betrauerte, sondern ein anderer, der ebenfal 1 s tot ist) auf 
dem Wasser in einem Kahne. Dieser kippt infolge des 
stürmischen Wetters um und wir fallen beide insWasser. Der 
Freund ist im Ve rsin ken, wobei er mi r mit der Han d r uf end 
winkt, ich aber rette mich mit großer Anstrengung ans Ufer.“ 

Die Rettung aus dem Wasser ist, wie wir wissen, die primäre 
Darstellungsform des Geburtstraumes. 


1 Die Gleichsetzung von Begräbnisstätte und Mutterleib ist im unbewußten Denken 
aller Völker aufzufinden. 


Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. VIl/2. 


15 








218 


Mitteilungen 


Eine Traumanalyse mit Fehlleistung. 

Von Martin Elsner (Leipzig). 

Nachfolgende Traumdeutung ist nicht nur zugleich ein schönes Beispiel 
für das Finden eines nicht im Bewußtsein Gegenwärtigen durch Ersatzbildungen, 
sondern enlhält außerdem noch eine leicht verständliche Fehlleistung. 

Ich sitze mit meinem jung verheirateten, kürzlich von einer Soramerreise 
zurückgekommenen Freund beim Tee und wir sprechen über Träume. Er will 
mir einen Traum, der nur wenige Tage zurückliegt, erzählen, erinnert ihn aber 
nicht. Ich bitte sofort um Ersatzvorstellungen: 

1. Es war ein vergnüglicher Traum. 

2. Er geht mit seiner Frau eng umschlungen einen Weg entlang durch 
eine Art Park. Sie bleiben stehen und küssen sich. 

3. Ein merkwürdiger Bucheinband mit vergnüglichen Silberfischlein 
darauf, über den er sich oft amüsiert hat. 

4. Ein Zirkusakt: Ein Akrobat steht auf der Hand eines andern und 
wirbelt sich von da aus spiralig durch die Luft. Ist daher eigentlich nicht als 
Mensch erkennbar. 

5. Eine Badekabine am Meer. 

Weiterhin gegen einen Widerstand: 

6. „L h wollte gerade darauf kommen, hatte den Traum fast deutlich, da 
sehe ich einige Affen, die sich am Popo kratzen.“ 

7. Die Funkstation bei W., die er kürzlich im Vorbeifahren sah. 

8. Das Haus am S. Berg bei G. (Sein Sommeraufenthalt). Eine Wanderung 
dorthin fiel wegen schlechten Wetters aus, die Wagen waren schon bestellt 
gewesen. (Nach der Deutung des Traumes fügt er zu diesem Moment noch: 
Der Berg hat eine geschwungene, leibesähnliche Form.) 

Traum: Er ist in einer Meeresgrotte, ähnlich der blauen Grotte bet 
Capri, eine Wachskerze brennt darin. Es kommt ein Frosch geschwommen, 
verschluckt das Licht, macht beim Hinunterschlucken fürchterliche Schling¬ 
bewegungen, beginnt dann furchtbar zu lachen, so daß der Träumer aus vollem 
Halse mitlacht. 

Anschließende Einfälle: 

9. Auch nach dem Verschlingen des Lichtes blieb es hell, so daß er das 
Lachen deutlich sah. 

10. Er hat gegen Dr. Lustig, einen ehemaligen Verehrer seiner Frau, die 
ihn früher schätzte, eine nachträgliche Eifersucht. Dr. Lustig ist sonst ein netter 
Mensch. Die beiderseitigen Familien waren damals einverstanden. 

11. Dr. Lustig hat seinen Mittagstisch in der Nähe eines Technikums, 
auf dem oben eine Funkstation angebracht ist. 

12. Seine Frau zeigte mehrmals Eifersucht gegen ein Mädchen, das zu 
seinem Bureaupersonal gehört. (Umkehr.) 

13. Frösche sind ihm sonst unsympathisch, dieser eine war es nicht. 

14. Eine Photographie von Dr. Lustig und seiner Frau in einem Bad 
bei G. Sie sitzen am Wasser, etwas entfernt von der übrigen Gesellschaft. 
Obwohl es ein ganz harmloses Bild ist, hat es ihn oft gewurmt. 

Kritik: Der latente Trauminhalt spricht sich in allen Ersatzvorstellungen 
aus. 1. deutet auf das Lachen, vielleicht sogar auf den Namen Dr. „Lustig“. 









Varii Autores 


219 


In 4. steht ein Mann über einem andern. Daß der Zweite kaum erkennbar ist, 
deutet wohl darauf hin, daß der Träumer sich selbst meint. Zu 5 vergleiche 14. 
Hier will der manifeste Traum auf tauchen, aber das Ich des Träumers stellt 
den letzten Widerstand entgegen: Ich will ja gar nicht an Di*. Lustig denken, 
er ist ein Affe, ein Frosch, er kann mich am A-betid besuchen. (Wie sich diese 
Antipathie veibirgt, ist interessant: 10, 13. Aber die Zurückschiebung gelingt 
nicht mehr, über 7. und 8. ist der manifeste Traum bewußt. Zu 8. vergleiche 10. 
Die bestellten Wagen, die ausgefallene Fahrt. 

Grotte und Licht, zu denen sich keine Einfälle erzielen ließen, sind 
wahrscheinlich symbolisch zu deuten. 

Obwohl der manifeste Traum eine sehr harmlose Gestalt trägt, die sogar 
als vergnüglich empfunden wird, wurde er doch vergessen: eine wohlbegründete 
Fehlleistung, deren Motiv aus dem latenten Inhalt unschwer zu erraten ist. 

Ein Traum mit kannibalischer Tendenz. 

Mitteilung von Dr. R. H. Foerster (Hamburg). 

Ein Patient, der sich wegen eines Depressionszustandes in Behandlung 
befindet, träumt: 

»Vor mir liegt ein Hund, dessen Fell abgezogen ist; er lebt noch etwas 
und ich soll ihn aufessen.“ 

Der Patient zeigte im Beginn der Behandlung bei stärkster negativer 
Übertragung auf den Arzt sadistisch-feindselige Impulse diesem gegenüber. In 
Tagträumen stellt er sich vor, er selbst habe sich erschossen; er hat einen 
Brief hinterlassen, der dem Staatsanwalt zugehen soll. Er klagt darin den Arzt 
an, durch seine „unerhörte Behandlung“ seinen Tod verursacht zu haben. In 
der Phantasie erlebt er eine Gerichtsverhandlung, in welcher der Arzt wegen 
fahrlässiger Tötung verurteilt wird. Der Tagtraum enthüllt sich in der Analyse 
als Vorwurf, der geg^n den Vater des Patienten gerichtet ist. In der folgenden 
Nacht stellt sich dann der obige Traum ein, in welchem die feindselige Tendenz 
bis zur Anthropophagie regrediert. (Verspeisung des Totem.) 

Verwiesen sei noch darauf, daß das Verspeisen bei lebendigem Leibe 
noch die weitere Bedeutung der Kastration in sich schließt. (Kastration durch 
Beißen, Tier als Genitalsymbol.) 


Angsttraum und Ödipusphantasie. 

Von Dr. J. Hermann (Budapest). 

Ein 15 Jahre alter Knabe bat während der Nacht einen Angsttraum. Er 
wacht auf und läuft aus seinem Schlafzimmer — wo er mit dem Großvater 
schläft — ins dritte Zimmer, wo Vater und Mutter schlafen; er küßt die Mutter, 
um sich zu beruhigen, dann legt er sich ins Bett des Vaters. Der Vater über¬ 
läßt sein Bett dem Sohne und sucht dessen Bett auf. Ich frage am nächsten 
Tage den Knaben, ob er den Vater um seinen Platz ersuchte; er antwortet, 
daß er nicht umsonst sich einen Vater erzogen habe. Der von mir interpellierte 
Vater gab die Aufklärung, daß er die Schlafstellen wechselte, um dem Sohne 
zu zeigen, daß er, der Vater, sich nicht fürchte. 


15* 







Kritiken und Referate. 


Aus der psychiatrischen Literatur. 

Dr. Oskar Lessing, Berlin. Innere Sekretion und Dementia praecox. 

(Verlag von S. Karger, Berlin 1921.) 

Die kleine Schrift stellt es sich zur Aufgabe, den Stand des Wissens in 
dieser Frage zu zeigen, diese Aufgabe hat sie gelöst, es geht aber aus ihr 
hervor, daß wir eigentlich noch gar nichts weiter darüber wissen, als daß ein 
Zusammenhang bestehen müsse. Verfasser ist einseitig in dem Sinne eingestellt, 
daß die psychischen Störungen aus der Störung der inneren Sekretion abgeleitet 
werden müssen und hat sich die Frage nicht vorgelegt, ob nicht das Verhältnis 
auch umgekehrt sein könne, wofür doch manche psychoanalytischen Erfahrungen 
sprechen. (Eigene, nicht veröffentlichte Beobachtungen des Referenten lassen 
fast mit Gewißheit vermuten, daß die Störungen der Schweißabsonderung, 
z. B. Hyperhidrosis pedum, auf die Verfasser viel Wert legt, durch Erogenisierung 
bezw. Entziehung der Libidobesetzung zu erklären sind.) So muß Verfasser 
zugestehen, daß die Psychologie für die Beantwortung der behandelten Frage 
keine wesentlichen Aufschlüsse geben könne. 

Professor Wllmanns, Heidelberg. Zunahme des Ausbruches geistiger 

Störungen in den Frühjahrs- und Sommermonaten. 

(Münchener Medizinische Wochenschrift, 1920, S. 175.) 

Professor Weizel, Heidelberg. Akute Psychosen und Jahreszeit. 

Verhandlung des Deutschen Vereines für Psychiatrie, Hamburg, 1920. 

Referat der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 

Bd. 22, S. 376. 

Die beiden Verfasser weisen an Hand einer größeren Statistik auf die 
am besten bei Frauen vom Lande im Alter zwischen 15—30 Jahren, aber 
auch sonst gut zu beobachtende Tatsache hin, daß Schizophrenie und Manisch- 
depressives Irresein im Frühsommer gehäuft auftreten — auch die Kurven 
der ehelichen und unehelichen Zeugung, der Sittlichkeitsverbrechen, der 
Selbstmorde zeigen in derselben Zeit ihren Gipfel — und vermuten darin 
eine Äußerung der latenten Brunstzeit des Menschen. Dieser Auffassung 
kann die Psychoanalyse, die die psychotischen Erscheinungen als Reaktionen 
auch auf vermehrtes Andrängen der Triebe anzusehen gelehrt hat, nur 
beistimmen. 

Dr. von Muralt, Zürich. Analyse eines Grippedelirs. Allgemeine Zeit¬ 
schrift für Psychiatrie, Bd. 76, Heft 4. 

Wiedergabe eines interessanten Grippedelirs eines Theologie-Studierenden, 
das — an der Hand von sehr wenig Einfällen — wie ein Traum gedeutet 
wird. Die Deutung bleibt unbefriedigend, was einmal an den äußeren Verhältnissen 
der Analyse, zum anderen daran liegt, daß Verfasser auf dem Boden Jungscher 
Anschauungen steht. 




















Kritiken und Referate 


221 


Professor E. Kraepelin, München. Die Erscheinungsformen des Irre¬ 
seins. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 62. 
K. gesteht zu, daß das Bestreben in der Psychiatrie, Krankheitsformen 
zu umgrenzen, nicht befriedigende Ergebnisse habe erzielen können, er sucht 
daher, um der Frage: Krankheit gegen Symptomenkomplex näher zu kommen, 
nach neuen Wegen, lehnt aber die Nutzbarmachung des durch die psycho¬ 
analytische Forschung gewiesenen Weges ab und kommt so nicht viel weiter 
als zu einigen Ausblicken unf Aufstellungen allgemeinster Art. Das Wichtigste 
davon: zahlreiche Änßerungsformen des Irreseins sind durch vorgebildete 
Einrichtungen der Psyche ein für allemal festgelegt und treten bei verschieden¬ 
artigen krankmachenden Einwirkungen in gleicher Form auf. Diese Äußerungs¬ 
formen sind die delirante, die paranoide, die emotionelle, die hysterische, die 
triebhafte, die schizophrene, die sprachhalluzinatorische, die encephalopathische, 
die oligophrene, die spasmodische. Auf die engen Beziehungen mancher dieser 
Äußerungsformen zur Phylogenie hat vor ihm die Psychoanalyse (Freud und 
Ferenczi) schon hingewiesen, ebenso könnte K. die psychoanalytischen 
Ergebnisse vielfach als Stütze seiner Ausführungen heranziehen, die durch 
die Einführung des Unbewußten und der Libidotheorie erst ihres jetzt 
notgedrungen oberflächlich bleibenden Charakters entkleidet würden. 

W. Mayer-Groß, Heidelberg. Über die Stellungnahme zur abgelaufenen 
akuten Psychose. (Eine Studie über verständliche Zusammenhänge 
in der Psychiatrie.) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und 
Psychiatrie. Bd. 60. 

Die der Heidelberger Klinik entstammende Arbeit behandelt eine 
interessante Frage aus dem „weiten Gebiete, das zwischen Heilung mit 
vollkommener Krankheitseinsicht und Fortdauer der seelischen Störung liegt“. 
Auf Grund von scharfsinnigen Untersuchungen, an der Hand von gut ausgesuchten 
Beispielen, unterscheidet Verfasser mehrere Arten der Stellungnahme des Ichs 
zu seiner Psychose: die erste ist die „Verzweiflung“, die eintritt, wenn die 
„Werteschicht des Selbst“ nur klein ist, so daß ein geringer Anstoß genügen 
kann, „das — ganz entleerte — Selbst in den Abgrund zu stoßen“, und die 
Tendenz der „Kontinuität“ des Selbst stark ist. Ist die Verzweiflung die 
Verneinung der Zukunft, so ist das „neue Leben“ die Verneinung der 
Vergangenheit, das Erlebnis der Psychose wird nicht verarbeitet, nur die 
Umwelt wird vertauscht. Das „neue Leben“ kann sich über dem Abgrunde 
der Verzweiflung aufbauen; eine Abart von ihm ist der „hebephrene Dauer¬ 
zustand“, in dem das ganze neue Leben etwas Provisorisches, Spielerisches 
bekommt, jede Kontinuität verneint wird. Eine dritte Art der Stellungnahme 
ist die Verneinung des Erlebnisses selbst — die „Ausscheidung“, die Nicht¬ 
anerkennung des Bruches der Kontinuität. (Wenn hier einmal das Wort 
„verdrängt“ fällt, so steht es, da nicht in Beziehung zum Unbewußten 
gesetzt, am unrichtigen Platze.) Findet eine Werteumkehr auch für die 
Vergangenheit statt, so tritt die „Bekehrung“ ein: das psychotische Erlebnis 
wird zur Stunde der Erleuchtung, der Wiedergeburt, oft, aber nicht immer, 
von religiöser Färbung; die neue Existenz wird auf die Psychose fundiert, 
Die letzte Einstellung, die Verfasser herausarbeitet, ist die „Einschmelzung“, 
die bei einem auf einen sicheren Kreis von Existenzwerten gegründeten 
Selbst mit stärkster Tendenz zur Kontinuität eintritt. Sie ist so der Gegenpol 
zur Verzweiflung. Da die Existenzwerte im Laufe des Lebens sich wandeln 







222 


Kritiken und Referate 


können, so kann sich auch die Stellungnahme je nach Zeitdauer nach Ablauf 
der Psychose und nach Lebensalter ändern, Ausscheidung und Einschmelzung 
können als Nachwirkungsformen des reifen, abgeschlossenen Individuums 
angesehen werden, während Verzweiflung und Bekehrung mehr bei jugend¬ 
lichen Personen zu finden sein werden. Die Einschmelzung wird aber immer 
naturnotwendig die zeitlich letzte Nachwirkungsform sein. 

Die gemeinsame Wurzul aller Nachwirkung ist die „Erschütterung der 
Existenzwerte Es ist sehr zu bedauern, daß Verfasser sich anscheinend nur 
wenig in die psychoanalytischen Gedankengänge vertieft hat (er führt auch 
nur Freuds „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse“ an), vor allem die 
Mitteilungen Freuds über die Psychologie der Schizophrenie als einer 
narzißtischen Psychose nicht kennt. Seine „Existenzwerte“ decken sich fast 
vollständig mit dem von Freud aufgestellten Begriffe des „Ideal-Ich“. Ohne 
Berücksichtigung des narzißtischen Anteiles der Libido und seines engen 
Verhältnisses zum „Ideal-Ich“ müssen seine Untersuchungen notgedrungen 
unvollständig und unbefriedigend bleiben, sie geben bei völligem Außeracht¬ 
lassen des Unbewußten nur einen Beitrag zur Psychologie der Ichtriebe. Als 
solcher ist immerhin der Aufsatz nicht ohne Wert und auch für den Psycho¬ 
analytiker von Interesse. Wenn Verfasser in einer Fußnote der Freudschen 
Psychologie den Vorwurf macht, „daß sie die Psychologie der Hysterie zum 
Maßstab für jedes seelische, vor allem für das normalpsychische Verhalten 
mache und so eine seelische Entwicklung des erwachsenen Menschen, die 
sich im Gebiete des geistigen Selbst vollziehe, in der Mannigfaltigkeit ihrer 
Konflikte so gut wie überhaupt nicht kenne“, so würden schon Freuds 
„Vorlesungen zur Einführung“ in die Psychoanalyse“ ihn haben belehren 
können, worauf das zurückzuführen ist und daß Freud ausdrücklich auf die 
Wichtigkeit und Notwendigkeit besonderer Untersuchungen über die Schicksale 
der Ichtriebe als Ergänzung der psychoanalytischen Forschungen verlangt hat. 

Die psychoanalytisch gerichteten Ausführungen Bertschingers zum 
gleichen Thema („Heilungsvorgänge bei Schizophrenen“, Allgemeine Zeitschrift 
für Psychiatrie, Bd. 68), referiert und ergänzt von Ludwig Binswanger im 
Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I), in denen Korrektur, Umsymbolisierung 
und Umgehung als Wege des Heilungsvorganges auf gestellt werden, scheinen 
Verfasser entgangen zu sein. Dr. U. Vollrath, Teupitz. 

Hans Meier-Müller, Zur Psychologie der sogenannten trauma¬ 
tischen Neurose. Aus der Zürcher Nervenpoliklinik (Professor 

C. v. Monakow). (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 

Bd. VI, Heft 2, 1920.) 

Verfasser hat in der vorliegenden Arbeit eine größere Anzahl von 
Fällen von sogenannter traumatischer Neurose aus dem Material der Züricher 
Nervenpoliklinik einer tieferen Analyse unterzogen — soweit das in einem 
poliklinischen Betriebe möglich ist — und gelangt dabei zusammenfassend 
zu folgenden Schlußfolgerungen über Wesen, Entstehung und Ablauf dieses 
Krankheitsbildes: 

1. Eine sogenannte „Disposition“ zur Erkrankung an traumatischer 
Neurose scheint sich dann zu ergeben, wenn auf eine im Sinne der „Psycho¬ 
pathie von der Norm intellektuell und affektiv abweichende Psyche wieder¬ 
holte Insulte des instinktiven Lebens einwirken, als deren Folge eine (also 
schon vor dem Unfall bestehende) latente Neurose resultiert. 


* 

















Kritiken und Referate 


223 


2. Die vor dem Unfall nachweisbaren seelischen Konflikte sind eine 
conditio sine qua non für die Entstehung der traumatischen Neurose. 

8. Die Konflikte müssen nicht nur das sexuelle Triebleben betreffen, 
tun es aber auffallend häufig. 

4. Dem Unfall als solchen kommt Bedeutung zu als das die traumatische 
Neurose direkt auslösende Moment, indem er dem betreffenden Menschen 
seinen inneren Konflikten und der Umgebung gegenüber eine ganz andere 
Stellung einzunehmen gestattet. 

5. „Versichert“ oder „Nichtversichert“ spielen für die Auslösung der 
traumatischen Neurose keine Rolle, wohl aber für die Fixierung. 

6. Ausschlaggebend für den Ausbau, die Verschärfung und endlich die 
sogenannte Fixierung der traumatischen Neurose ist einzig die durch den 
Unfall geschaffene Situation, je nachdem diese letztere die allgemeinen 
Lebensbedingungen erträglicher oder schwieriger gestaltet. Meistens wird 
aus den früher angeführten Gründen eine angenehme Situation resultieren 
und dem Patienten ein längeres Verweilen in derselben wünschenswert 
erscheinen lassen. Er wird sogar zu diesem Zwecke — unbewußt — die 
Tendenz zeigen, die krankhaften Erscheinungen zu übertreiben und so nach 
außen das Bild der Aggravation bieten. Selten liegt — für den Nichtversicherten 
— der „günstige“ Fall vor, daß die äußeren Bedingungen ihm ein Verweilen im 
Zustande des Krankseins gestatten über den Zeitpunkt der organischen Heilung 
des Unfalles hinaus. Meistens führen Lohnausfall mit seinen Folgen, Impulse 
von seiten der Familie und Freunde den Mann rasch wieder zur Arbeit zurück. 

7. Die Bedeutung des Versichertseins liegt hauptsächlich in dem 
Umstande, daß der durch den Lohnausfall bedingte mächtigste Impuls zur 
Wiederaufnahme der Arbeit dahinfällt, und daß ferner durch die obligatorische 
ärztliche Kontrolle der Kampf entfacht wird, der mit absoluter Sicherheit 
zur Verschlimmerung des Krankheitsbildes und zur Fixierung der traumatischen 
Neurose führt. Dieser Kampf wird von seiten der Patienten mit unglaublicher 
Hartnäckigkeit geführt, handelt es sich doch für ihn um die Aufrechterhaltung 
der elementaren Lebensfunktionen. Durch starke Autosuggestion gefälschte 
Logik im Sinne seiner Wünsche und — nicht zuletzt — durch kräftige 
Unterstützung vom Milieu aus (Familie und Freunde), hält er an der nach 
seiner Meinung berechtigten Forderung auf gründliche Ausheilung seines 
durch den Unfall verursachten Leidens fest. Hier ist auch die Bedeutung des 
Alkohols zu bedenken, wobei mehr dessen willenlähmende als demoralisierende 
Wirkung sich bemerkbar macht. In diesem Sinne trägt Alkoholmißbrauch 
einen starken Anteil an der Verschlimmerung der Symptome. 

Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nach längerem Unterbruch kostet 
auch dann eine erhöhte Willensanspannung, wenn man Freude hat an seinem 
Beruf. Wie sollte der traumatische Neurotiker sich dazu aufschwingen können, 
dem es graut vor seiner automatischen Arbeit! 

8. Die allgemeine Verschlimmerung des Krankheitsbildes („Kakonkrisen“ 
von Monakow) im Verlaufe des Kampfes fällt wohl oft dem nicht psychologisch 
orientierten Arzte zur Last, der allzu rasch bereit ist, bösen Willen zu 
vermuten und mit Ausdrücken, wie Simulation und Arbeitsscheu, um sich 
schlägt. Auch die charakteristische Neigung dieser Patienten zum Querulieren 
dürfte auf die gleichen Ursachen zurückzuführen sein, wobei allerdings auch 
die Verhetzung vom Milieu aus ihren redlichen Anteil trägt. 







224 


Kritiken und Referate 


Angstkrisen („Kakonkrisen“ von Monakow) sind für diese Phase des 
Kampfes charakteristisch. 

9. Begehrungsvorstellungen (pathologisches Symptom) sind immer 
nachweisbar, aber das ist wohl nichts für die traumatische Neurose Spezifisches. 
Sie finden sich in jeder Neurose bald in dieser, bald in jener Form. 

10. Eine Sonderstellung der sogenannten traumatischen Neurose ist 
eigentlich nur in dem Sinne berechtigt, als bei einem an schweren seelischen 
Konflikten, also an einer mehr oder weniger latenten Neurose leidenden 
Individuum durch ein unvorhergesehenes äußeres Ereignis (Unfall, Krankheit, 
Krieg) die Neurose manifest wird. Ausschlaggebend für das Schicksal der so’ 
ausgelösten traumatischen Neurose ist die Situation, die durch den Unfall 
geschaffen wird. Gestattet diese neue Situation dem Neurotiker, seine 
Konflikte zu einem befriedigenden Kompromisse zu bringen und resultiert 
für ihn daraus eine neue Quelle der Befriedigung (Lustgewinn), so wird er 
den Wunsch haben, mittelst des ihm von der Versicherung angebotenen 
Gfeldes in dieser Situation zu verharren, das heißt die Neurose wird sich 
fixieren. Gestaltet umgekehrt die durch den Unfall geschaffene Lage dem 
Patienten die Lösung seiner Konflikte noch schwieriger, indem neue Sorgen 
(also Unlustmomente) dazukommen, so wird er die noch so unerquickliche 
frühere Situation der neuen Hölle vorziehen, das heißt er wird wieder 
arbeiten und damit versinkt die alte Neurose wieder — wie ehedem — in 
das Latenzstadium, bis ein späteres Trauma sie von neuem manifest macht. 

Im zweiten Abschnitt seiner Arbeit kommt Verfasser auf die Therapie 
und Prophylaxe der traumatischen Neurose zu sprechen und bekämpft 
unter anderem die Ansicht Nägelis, daß eine traumatische Neurose nur 
durch Kapitalabfindung heilbar sei. Psychoanalyse vermag die 
nicht zu veralteten, das heißt zu verbitterten Fälle, zu heilen ohne Geld¬ 
angebot. Eine ausführliche Krankengeschichte sucht das zu beweisen. Über 
diese Fragen gelangt Verfasser zu den folgenden Schlüssen: 

a) Prophylaxe. 

1. Eine wirksame Prophylaxe gegen Erkrankung an traumatischer 
Neurose scheint uns nur möglich, einmal durch zielbewußte Belehrung der 
in Frage kommenden Volksschichten über das Wesen dieser Erkrankung im 
Sinne einer vernünftigen Massen-Psychotherapie (Landau, psychische 
Isolierung), dann durch die intensive ärztliche Mitarbeit an der Verbesserung 
der sozialhygienischen Verhältnisse überhaupt. 

2. Der Gefahr weiterer Züchtung von „Begehrungsvorstellungen“ auf 
dem Wege psychischer Infektion wird wohl am besten gesteuert durch 
allgemein durchgeführte, systematische Herabsetzung der Abfindungssummen 
auf ein bestimmtes Minimum. Daß eine solche Maßregel nicht von einem 
Jahr auf das andere möglich ist, sondern Hand in Hand gehen muß mit den 
unter 1 erwähnten Punkten, ist selbstverständlich. 

b) Therapie. 

1. Die Fälle von traumatischer Neurose sind weniger —• als bis anhin 
— zu verschleppen. Der erstzugezogene Arzt sollte sich bemühen, die Diagnose 
lasch zu stellen. Das ist bei der Häufigkeit und der Klarheit des vorliegenden 
Symptomenkomplexes nicht schwierig. Will er nicht selbst einen psycho¬ 
therapeutischen Versuch (Psychoanalyse) unternehmen, so soll er auch 





















Kritiken und Referate 


225 


keine körperlichen Prozeduren einleiten, den Patienten von einer Erholungs¬ 
station in die andere schicken (Militärfälle!) und damit bei dem Patienten 
die Krankheitsidee befestigen, sondern er sollte es sich zur unbedingten 
Pflicht machen, den Patienten entweder einem Nervenarzt zuzuweisen oder 
von sich aus der Versicherung rascheste Erledigung des Falles Vorschlägen. 

2. Andererseits sollte wiederum der Arzt sich hüten, den Zustand des 
Patienten dadurch zu schlimmem, daß er — im Unmut über seinen thera¬ 
peutischen Mißerfolg — dem Patienten schlechten Willen, Übertreibung oder 
gar Simulation vorwirft. Wir haben einfach kein Recht zu solchen beleidigenden 
Äußerungen, solange wir uns nicht bemühen, einen Einblick zu bekommen 
in die Psyche des Kranken und alle Umstände erkannt haben, die den 
vorliegenden Zustand mitbedingten. Wir kommen nicht darum herum: wenn 
es gelingen sollte, die Erziehung des Arztes etwas mehr mit psychologischem 
Verständnis zu beladen — viel mehr, als es bis anhin geschehen ist! — dann 
erst wird es möglich sein, mit vereinten Kräften dieser sozialen Krankheit, 
die mit Recht eine „Volksseuche“ genannt worden ist, zu Leibe zu rücken. 

Autorreferat. 

S. Galant, Algohallucinosis. Berlin 1920. August Hirschwald. 

(221 Seiten.) 

Rein sachlich ließen sich die in dem vorliegenden, etwas sonderbar 
anmutenden Buch niedergelegten Spekulationen etwa kurz so andeuten: 

Die Psyche setzt sich nach Galant aus drei Grundelementen: dem 
Unbewußten, der Affektivität und dem Bewußten zusammen. Ein unbewußtes 
Denken gibt es nicht. Der Prozeß des Denkens, so wie er sich im Gehirn, 
abspielt, ist unbewußt, das Denken an sich ist aber bewußt, ist vom 
Bewußtsein begleitet! — Der Prozeß des Denkens und das Denken an sich 
sind streng auseinander zu halten. — Dem Bewußten, dem Denken wird das 
Triebleben als Unbewußtes gegenübergestellt und das Unbewußte 
definiert als die Entäußerungen und Wandlungen unseres Trieblebens. — 
Das Unbewußte ist unsere Sexualität, Wir modernen Menschen 
haben keine anderen Triebe als die sexuellen. Die Kultur hat uns, 
mit Ausnahme der sexuellen, alle anderen Triebe weggenommen. Doch weiter: 
die Brücke, die das Bewußte mit dem Unbewußten verbindet, sucht der 
Autor in der Affektivität, die bei der Entäußerung des Unbewußten die 
Hauptrolle spiele. „Ohne Sexualität gibt es überhaupt keine Affektivität . . 
„Über diese Brücke geht die Kommunikation zwischen beiden Endgliedern 
der Psyche, des Bewußten und Unbewußten und umgekehrt, so daß das 
Bewußte eine Menge vom Unbewußten enthält. Das ist der normale, gesunde 
Zustand unserer Psyche: der Zustand des Gleichgewichtes.“ 

Die Entwicklung der Sexualität gestaltet sich nach Galant unge¬ 
fähr folgendermaßen: Das Unbewußte = Sexualität bringen wir mit auf die Welt 
und es äußert sich schon als Saugen an der Mutterbrust. Eine autoerotische Phase 
gibt es nicht, die gegenteilige Behauptung Freuds sei einfach eine Fabel! Der Säug¬ 
ling befriedigt also — unbewußt — ein wenig später mit einer minimalsten Dosis 
Bewußtsein — seine Sexualität. Dann tritt — sehr früh — die Affektivität 
auf. „Das Unbewußte wird verdrängt, es tritt das auf, was W. Fließ die 
sexuelle Latenzperiode nennt.“ (S. 20.) Die Angst entsteht nicht 
sekundär infolge Verdrängung aus der Libido, sondern ist primär ein 

rein sexueller Affekt undmit der Wollust gleichzustellen! Die 










226 


Kritiken und Referate 


sogenannte primäre Sexualperiode (die ersten vier bis fünf Jahre) 
charakterisieren sich durch eine „Übersättigung durch fortwährende 
unbehinderte Erfüllung der sexuellen Wünsche“. Es folgt darauf die Latenz¬ 
periode, die sich normalerweise bis zur Pubertät ausdehnt, die Zeit des 
Aufbaues des Intellekts, wo das Bewußte in den Vordergrund trete. — Mit 
der Pubertät wird die sekundäre Sexualperiode eröffnet, wo ein 
kleiner Teil des Unbewußten ins Bewußtsein eintrete. Das ist der normale 
Verlauf der Entwicklung der Sexualität, der mit der Pubertät nicht 
abgeschlossen worden ist und je nach den geistigen Begabungen des 
Individuums entweder ganz ins Bewußte übertreten kann, dann haben wir 
das Genie (!), oder aber sich unbewußt befriedigt im Koitus, auf perversem 
Wege oder . . .“ — Was die Träume anbetrifft, so sind sie alle sexuelle 
Wunscherfüllungen. Freuds Traumdeutungen sind falsch (!); Galant deutet 
sie uns richtig um und vermittelt uns noch das Verständnis für die 
sogenannten algolagnischen (d. h. masochistischen und sadistischen) 
Träume, die Freud falsch oder überhaupt nicht berücksichtige. Diese Träume 
vom Tod geliebter Personen enthalten als speziellen Wunsch Algolagnie und 
seien immer von einem Lu st aff ekt begleitet („ob es Lust oder Schmerz oder 
Angst sei“). „Der Ödipuskomplex ist auf die Todträume nicht anwendbar, erweist 
sich also als ein Begriff, der überflüssigerweise aus Mangel an Erkenntnis 
des wirklichen Sinnes der Todträume eingeführt worden ist.“ (S. 42.) 

Wir sind nun soweit vorbereitet, um das nötige Verständnis für das 
aufzubringen, was Galant als Algohallucinosis bezeichet und als neues 
selbständiges Krankheitsbild der Dementia praecox gegenüberstellen möchte. 
Die Ableitung ist klar, man muß sich nur an die drei „Elemente“ der Psyche 
erinnern: die Affektivität, die beim Normalen die Brücke herstelle zwischen 
dem Bewußten und Unbewußten, habe ihre Vermittlerrolle auf gegeben und 
sich ganz in das Unbewußte zurückgezogen. „Das Wesen der Algo- 
hallucinose besteht also in der Spaltung der Psyche in das 
Bewußte und Unbewußte, wobei das Unbewußte das Bewußte 
besiegt und in Form von Halluzinationen auftritt. (!) Die 
Halluzinationen stellen also das Charakteristikum, das primäre und wesentliche, 
vielleicht auch das einzige Symptom der Algohallucinosis dar. Wir müssen 
ihnen unsere besondere Aufmerksamkeit schenken und sie aufs genaueste 
analysieren.“ (S. 63.) — Galant widmet dieser Analyse der Halluzinationen 
39 Seiten seines Buches und kommt dabei zu folgender Erkenntnis: „die 
Halluzinationen sind mit den Träumen zu identifizieren. Die ersteren stellen, 
wie die letzteren, die Äußerungen des Unbewußten dar und benutzen, um 
sich ins Leben durchzusetzen, dieselben Mechanismen wie der Traum. Der 
einzige Unterschied ist der, daß der Traum ohne Kampf, da das Bewußte im 
Schlaf abgeschafft ist, sich ins Leben durchsetzt, die Halluzinationen aber 
einen Kampf mit dem Bewußten ausstehen müssen. — Die Halluzinationen 
sind demnach: 1. Wunschhalluzinationen; 2. ihre Ausdrucksweise sind Symbole; 
3. die Mechanismen sind dieselben wie im Traum. Der halluzinatorische 
Anfall ist ein Kampf zwischen Bewußten und Unbewußten, wobei das 
Unbewußte durch Fesselung der Affektivität sich ins Leben in Form von 
Halluzinationen durchsetzt . . .“ (S. 104.) 

Auffallend heftig wehrt sich der Verfasser gegenüber eventuellen 
Bestrebungen, seine „Theorien mit denen Freuds zu identifizieren!“ Seine 
Theorien seien im allgemeinen mit denen Freuds unvergleichbar (das 























Kritiken und Referate 


227 


geben wir ohne weiteres zu! Der Ref.). „Unsere Auffassung des Seelenlebens 
als Ganzes, unsere Definition des Unbewußten, sowie das Prinzip, auf dem 
wir unsere Theorie der Algohallucinosis aufbauen: die Algolagnie, sind den 
Freudschen Lehren ganz fremd. Und wie weit wir und Freud auseinander¬ 
gehen, ist daraus zu schließen, daß das, was wir als Algolagnie bezeichnen^ 
bei Freud als Ödipuskomplex Erwähnung findet, ein Begriff, der ganz 
überflüssig ist und aus Unverständnis für das Unbewußte entstanden ist.“ 
(Sic!) „Man vergesse auch nicht, daß die Halluzinationen, die die wichtigste 
Entäußerung des Unbewußten im wachen Leben sind und zu den schwersten 
geistigen Erkrankungen führen, in Freuds Theorien gar keine Würdigung 
finden, wiederum offenbar, weil Freud nicht weiß, was mit den Halluzinationen 
anzufangen sei und er den Mechanismus des Unbewußten im Menschenleben 
nicht verstanden hat.“ (!) — Im übrigen aber werden Freuds Verdienste 
anerkannt, sie haben auch Galant „den Weg zur Wahrheit geebnet“. „Das 
ist aber alles, denn die Theorie Freuds, so wie sie in seinen Schriften nieder¬ 
gelegt ist, ist kaum für die Neurosenlehre anwendbar, bei der Algo¬ 
hallucinosis aber ist sie ganz ohnmächtig; das einzig primäre Symptom 
der Algohallucinosis, die Halluzinationen, seien nicht nur kein „Negativ der 
Perversion“, wie Freud von den Symptomen der Neurosen behauptet, sondern 
eine direkte Befriedigung der Perversion.“ 

Die Besprechung des Unbewußten von seiten des Autors gestaltet sich 
nun zu einer Auseinandersetung mit Freud, die jeden Leser, der Freuds 
ernste Forschung kennt — ob er mit ihren Schlußfolgerungen einverstanden 
sei oder nicht! — mit Erstaunen, um nicht zu sagen mit Entrüstung erfüllen 
muß. Selbst auf die Gefahr hin persönlich zu werden, kann ich die Äußerung 
nicht unterdrücken, daß Galants ebenso unwissenschaftliche wie unfeine Art 
der Kritik an dem zirka vier Dezennien älteren Freud auf den geschulten 
Leser einen sehr merkwürdigen Eindruck machen muß. 

In der Entwicklung seiner The orien ist der Verfasser so unklar und 
verworren, daß man im Zusammenhang mit der direkt pathologisch 
anmutenden Selbstüberschätzung auf Kosten ernster und genialer Forscher 
wie Freud und Bleuler — den Eindruck gewinnt, er stehe ganz im Banne 
des rein autistischen Denkens. Die wenigen Stellen des Buches, worin der 
Autor neue Gedankengänge zu äußern glaubt, erweisen sich für denjenigen, 
der Freuds Schriften kennt, als oberflächliche, verklausulierte Verallgemeine¬ 
rungen tiefer — zirka 30 Jahre zurückliegender! — Gedankengänge aus 
„Traumdeutung“ und den übrigen Werken Freuds. 

Hans Meier-Müller, Zürich. 

Dr. S. Galant, Crises clitoridiennes-artige Erscheinungen 

bei einem 14jährigen Knaben. (Neurologisches Zentralblatt 

Nr. 16, 1920.) 

Ein Patient, bei dem der Verfasser eine „Onanie-Entwöhnungskur“ mit 
Erfolg durchgeführt hatte, „beklagt sich angstvoll, daß bei ihm von Zeit zu 
Zeit jedesmal nach dem Urinieren ein starker Orgasmus 
auftritt, ohne daß es dabei zur Erectio penis oder Samenentleerung 
käme.“ Eine sexuelle Erregung sei nicht damit verbunden. Diese „Orgasmus¬ 
krisen“ dauerten zirka zwei Monate lang und verschwanden dann spurlos. 
Dr. Galant betrachtet die Erscheinung als „Folge einer übertriebenen Onanie“ 
und führt sie „auf eine Überreizung des Nervensystems zurück, die zu 









228 


Kritiken und Referate 


reflektorischen (?) Entladungen der Gefühlssphäre der Genitalen führt“. — 
Während bis jetzt solche Crises clitoridiennes nur bei an Tabes dorsalis 
erkrankten Frauen beschrieben worden seien, glaubt der Autor, daß ihr 
Auftreten nicht unbedingt zur Diagnose Tabes berechtige, sondern „daß sie 
durch verhältnismäßige harmlose Ursachen, wie Onanie ausgelöst werden 
können, wie der beschriebene männliche Fall zeige. 

Hans Maier -Mülle r, Zürich. 

Dr. Fritz Zimmermann y Gerichtsassessor in Essen, Justitiar der Süddeutschen 
Eisenbahngesellschaft. Die Rentenkampfneurose. (Zeitung des 
Vereines Deutscher Eisenbahnverwaltungen.) 

In dem Medizinisches und Gerichtliches zusammenfassenden Artikel 
verrät Verfasser — obwohl im allgemeinen nicht weit über den Nonne’schen 
Standpunkt hinausgehend — gute Einsicht in die Wunschpsychogenie der 
Unfallneurosen, auch daß ihm einige Ergebnisse der Freudschen Neurosen¬ 
forschung nicht unbekannt sind. In einer kurzen Anmerkung findet man 
wenigstens die Erwähnung: „Die Freudsche Neurosenlehre führt jede 
Hysterie auf sexuelle Traumen (Trauma-Verwundung) zurück.“ Vergleiche 
auch über die Hysterie folgende Bemerkung: Beim Hysterischen sind die 
(erotischen) Triebe stärker als die logischen Hemmungen.“ Auch der Vergleich 
des Künstlers mit dem Neurotiker, das Arbeiten mit dem Begriffe der 
Wunschversagung deutet auf Beeinflussung des Verfassers durch analytische 
Werke, obwohl ohne nähere Angabe seiner Quellen. Das weniger allgemein 
verständliche Problem der Unfallneurose als narzißtische Erkrankung findet 
im Artikel noch keine Erwähnung. 

* Dr. S. Pfeifer, Budapest. 

Dr. Paul Schilder, Wien, Über Identifizierung, auf Grund der 
Analyse eines Falles von Homosexualität. (Ein Beitrag 
zur Frage des Aufbaues der Persönlichkeit. (Zeitschrift für die 
gesamte Neurologie und Psychiatrie, Orig.-Bd. 59.) 

Schilder teilt zunächst die analytische Betrachtung eines durchsichtigen 
Falles von Homosexualität bei einem 37jährigen Manne mit, dessen sexuelles 
Interesse seit seinem 15. Jahre etwa Knaben galt, denen gegenüber er sich 
unbewußt in die Rolle der Mutter versetzt, andererseits versetzt er sich auch 
wieder in ihre Lage; Patient identifiziert sich also sowohl mit seiner Mutter 
als auch mit einer früheren eigenen Entwicklungsstufe. Von einer vorläufigen 
Definition des Begriffes Identifizierung ausgehend — das Individuum setzt 
sich Personen der wirklichen oder phantasierten Umwelt gleich und bringt 
diese Gleichsetzung in Symptomen, seien es Handlungen oder Phantasien, 
zum Ausdruck, bereichert sich durch fremde Erlebnisstücke, ohne von dem 
Vorgänge Kenntnis zu haben — unterzieht Schilder nun diesen Begriff einer 
eingehenden Untersuchung, die auch an viele andere psychoanalytischen 
Fragen streift. Es ist schwer, von der gedankenreichen Arbeit einen kurzen 
Auszug zu geben, und es kann daher nur das Wichtigste heraus- 
gegriffen werden. 

Identifizierung geschieht auf Grund des gleichen ätiologischen 
Ausspruches und ermöglicht, sich etwas von den Erlebnissen der anderen 
Person anzueignen. Diese Aneignung geht nach affektiven Bedürfnissen 
und betrifft Eigenschaften jener Person, die eine bestimmte, eine erotische 

























Kritiken und Referate 


229 


Rolle spielt. Überraschend ist nicht das Vorhandensein der in den affektiven 
Bedürfnissen zutage tretenden Wünsche, sondern die Persönlichkeits¬ 
veränderung durch sie. Zum Bilde der Identifizierung gehört eine Projektion 
des eigenen Ichs, und zwar mehrerer Merkmale; die Identifizierung erledigt 
also zweierlei: Einnehmen einer neuen, Aufgabe einer alten Position. 
Kennzeichnend für sie ist die Verdichtung großen Stils, die sie neben 
der Unbewußtheit gegen das Eine-Rolle-Spielen abgrenzt. Doch gibt es 
Übergänge dazu, ebenso wie zwischen der spielerischen Wahnbildung der 
Degenerierten und dem starren Systeme einer Paranoia. Identifizierung ist 
keine Änderung im Selbstbewußtsein, sondern eine Änderung im Bestände der 
Persönlichkeit. Wenn im psychoanalytischen Sprachgebrauche unter Identifi¬ 
zierung auch die Gleichsetzung zweier fremder Persönlichkeiten oder 
Lebewesen verstanden wird, so möchte Schilder das von dem, was er unter 
Identifizierung versteht, scharf trennen, bei ihm ist Identifizierung nur 
Änderung im PersÖnlichkeitsbestande. 

Werden bei der Appersonierung nur einzelne Züge übernommen, so 
übernimmt die Identifizierung einen ganzen Komplex, der durch das Band der 
fremden Persönlichkeit zusammengehalten wird. Projektionsmechanismen 
und Identifizierung sind Gegenstücke, die Projektion stößt Erlebnisstücke ab, 
die Identifizierung nimmt fremde Persönlichkeiten hinein. Einzelne Kranken¬ 
geschichten zeigen die klinische Bedeutung der Identifizierung und ihre 
Abgrenzung gegen Wahn, Spiel und Appersonierung. Wichtig ist, daß einzelne 
appersonierte Züge projiziert werden und als Vorwurf wiederkommen können. 

Zum Schlüsse geht Schilder noch auf die Frage ein, ob die Homo¬ 
sexualität durch psychische Momente kausal bedingt ist oder ob es sich um 
eine somatisch fixierte, intersexuale Konstitution handelt und kommt zu 
dem Ergebnisse, daß ein Einfluß des Psychischen auf das Physische des 
Organismus anzunehmen ist, „daß vor allem die Sexualkonstitution eine 
Plastizität und eine Umschmelzbarkeit innerhalb gewisser Grenzen bewahrt hat, 
sie also durch seelische Einflüsse umgeändert werden kann. Diese Abänderung 
muß aber nicht durch seelische Einflüsse reversibel sein. Sie könnte seelisch 
entstehen, sich somatisch fixieren, so daß sie nur durch somatische Methoden 
beseitigt werden könnte. Und es muß schließlich als organische Form 
erstarrte Sexualkonstitutionen geben, die auf keine Weise umgeschmolzen 
werden können. Selbst diese somatisch erstarrte unbeeinflußbare Sexual¬ 
konstitution muß sich psychisch in verständlichen Zusammenhängen darstellen. 
Der verständliche Zusammenhang beweist also nichts gegen die kausale 
Rolle somatischer Faktoren. Daß somatische Einflüsse den verständlichen 
Zusammenhang durchbrechen können, läßt im Vereine damit, daß der verständ¬ 
liche Zusammenhang Wirkungen am Organismus hervorruft, daran denken, den 
Organismus als Niederschlag, als Erstarrungsform jener Erlebnisse aufzufassen, 
die sich im verständlichen Zusammenhänge äußern.“ Diese Ausführungen, 
deren hypothetischen Charakter Schilder ausdrücklich betont, sind deswegen 
ausführlich hergesetzt, weil sie im Hinblicke auf die an die Steinachschen For¬ 
schungen anknüpfenden Erörterungen besondere Aufmerksamkeit verdienen. 

Dr. Paul Schilder, Wien, Über Gedankenentwicklung. (Zeitschrift für 

die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Orig.-Bd. 59.) 

Jeder Gedanke macht im Denkprozesse eine Entwicklung durch, die 
über ein Durchgangsstadium symbolischer und symbolähnlicher Vorstellungen 







Kritiken und Referate 


230 

geht. Auch die Wortvorstellung ist eine Durchgangsstufe. — Fehlbildungen 
Fixierung normaler Durchgangsphasen, im Differenzierungsprozesse des 
Gedankens können bei der Paraphrenie beobachtet werden, auch im Denken 
der Primitiven, der Kinder, treffen wir Stufen der Entwicklung an. Jeder 
einzelne Denkakt rekapituliert die Phylogenese und Ontogenese des 
Denkens. — 

Dies das Ergebnis der äußerlich kleinen, aber bedeutungsvollen Arbeit 
Schilders, die für den Psychoanalytiker noch mehr an Wert gewonnen hätte, 
wenn Verfasser auf das Material zurückgegriffen hätte, das Freud 
(„Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“, 
Jahrbuch III.) und Jones („Die Theorie der Symbolik,“ diese Zeitschrift V.) 
zu dieser Frage beigesteuert haben, und sich damit auseinandergesetzt, 
insbesondere das Unbewußte berücksichtigt hätte. Einzelne Aufstellungen des 
Verfassers finden sich dort schon, z. B. bei F r e u d des Realitätsprinzip 
und anderes. Dr. U. Vollrath, Teupitz. 

Dr. ü. Vollrath, Zur Psychologie der Standesfragen. Zugleich eine 

Abwehr. (Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1920, Nr. 37—38.) 

Mit jugendlichem Freimut und psychoanalytischer Menschenkenntnis 
bricht Vollrath nochmals eine Lanze gegen das Beamtentum in der Leitung 
der Irrenanstalten und die Besetzung der Ärztestellen durch solche Personen, 
die nur Lebensstellung und Ruheposten und nicht wissenschaftliches Arbeiten 
und Fortschreiten anstreben. Gewisse Elemente gehen nur aus 
inneren Hemmungen, aus Ahnung eigener neurotischer Veranlagung in 
diesen Beruf ein. Nur psychoanalytisches Verstehen könne diese „Beamten¬ 
mentalität“ klar machen. Das Aufrücken nach Anciennität, die Fernhaltung 
frischeren Luftzugs, den junge Kliniker brächten, das Lebenslängliche der 
Stellen hält Vollrath für wichtige Ursachen dafür, daß die Anstalten dem 
wissenschaftlichen Fortschritt meistens nichts leisten. Wirklich großzügige 
Naturen und ärztliche Persönlichkeiten bleiben dadurch den Anstalten fern. 
Negative Auslese und Fernhaltung von Zuzug machen die bisherigen 
üblen Zustände zu dauernden, wenn nicht neue, freiere Gesichtspunkte endlich 
geltend werden. Dr. E. Hitschmann. 

Wilhelm Stekel, 1. Onanie und Homosexualität. 2. Die Geschlechts¬ 
kälte derFrau. (Störungen des Trieb- und Affektlebens, Bd II. und IH. 

Urban <fc Schwarzenberg, Berlin-Wien, 1917 und 1920.) 

Stekel war der erste, der auf Grund seiner großen schriftstellerischen 
Begabung und einer frischen Bedenkenlosigkeit größere Kapitel der psycho¬ 
analytischen Praxis darstellte. 1908 erschienen seine „nervösen Angstzustände und 
ihre Behandlung“ und gewannen große Verbreitung. Freud leitete das Werk mit 
einem wohlwollenden Vorwort ein, erklärt aber dort ausdrücklich, daß die 
Beobachtungen und alle Einzelheiten der Auffassung und Deutung Stekels 
Eigentum seien. Freuds streng wissenschaftliche Arbeitsweise hat es immer 
unterlassen, kurze, also unvollständige Analysen zu publizieren, seine voraus¬ 
setzungslose gründliche Forschung vermeidet es, der Popularisierung zuliebe 
Lückenhaftes oder Halbfertiges preiszugeben. Andererseits aber ist selbst das 
ärztliche Publikum so weit entfernt (gewesen und ist es heute noch) von 
Sexualwissenschaft und Psychologie des Unbewußten, Traumdeutung u. dgl.j 
daß Stekels Bücher, gleichsinnige Zeitungsartikel und Konzertsaal-Vorträge — 











Kritiken und Referate 


231 


indem sie sich an ein größeres Publikum wenden — einen großen 
praktischen und propagatorischen Wert haben. 

Die ärztlichen Leser namentlich der weiteren Bände von Stekels 
„Störungen des Trieb- und Affektlebens“ müssen immerhin gewarnt werden 
zu glauben, diese relativ kurzen Analysen, wie sie Stekel gern in 
ansprechender novellistischer Form bringt, entsprächen der Art, wie 
Freud und seine Schüler die unbewußten Zusammenhänge einer Neurose 
aufklären. Die Technik der Analyse ist wohl im ersten Band geschildert, 
in den Krankengeschichten aber vielfach zugunsten einfacher Berichte 
der Patienten vernachlässigt. Schöngeistige Lesefrüchte würzen allenthalben den 
Text, aber Klarheit und Eindeutigkeit der Fälle mangelt zuweilen. Greifen wir 
Fall Nr. 24 aus der „Geschlechtskälte der Frau“ heraus, so wird die Darstellung 
wie folgend zusammengefaßt: „Ihre Anästhesie hatte also drei Wurzeln: 
1. Die Homosexualität. 2. Die moralischen Hemmungen. 3. Den Haß gegen 
den Verführer. 4. Eine infantile Fixierung an die Mutter.“ Es sind also aus 
den drei Wurzeln (durch flüchtige Ergänzung?) vier geworden, aber die enorme 
Analerotik des Falles ist nicht dazu gezählt und gerade dasWesentlichste, 
warum nämlich nicht eine Homosexuelle oder eine Sexual-Ablehnerin 
entstandenist, sondern eine in der Scheide der Wollust Ermangelnde 
— bleibt unklar. Hinter all dem Sensationellen, Interessanten und 
Popularisirenden des Buches fehlt das Hervorheben des eigentlich Tiefsten, 
Letzten, des Exakt-Wissenschaftlichen. Der „Kastrationskomplex“, dem die 
Psychoanalyse in der Anästhesiefrage die größte Bedeutung zuweist, findet 
keine Erwähnung. Je länger der Autor Freud und seinem Kreis fernsteht, 
destomehr fühlt er sich gedrängt, seine Isolierung durch wissenschaftliche 
Momente zu begründen; Kleinigkeiten sind aufgebauscht, man sucht aber 
vergebens nach Stekelschen Entdeckungen. Er sucht zwar jede Gelegenheit, 
Freud und seinen engeren Schülern etwas am Zeuge zu flicken, aber das 
eigene wissenschaftliche Mäntelchen ist doch nur aus Freudschem Stoffe 
verfertigt, wenn es auch nach dem TVinde gehängt wird, ob er nun von 
Jung oder Adler herbläst. Für die Homosexualität gibt Stekel folgende 
einheitliche Formel: „Die homosexuelle Neurose ist eine durch die sadistische 
Einstellung zum entgegengesetzten Geschlechte motivierte Flucht in das 
eigene Geschlecht.“ Bedenken wir, daß der Sadismus viel älter im Individuum 
ist, als die Geschlechtswahl, ursprünglich bisexuell oder richtiger asexuell 
ist, so ergibt sich die Unhaltbarkeit jener so allgemein ausgesprochenen 
Formel. Eine solche Neigung zur formulatio praecox ist öfters zu finden. 

Als beschäftigter Praktiker von guter Beobachtung und vielseitiger 
Begabung, streut Stekel zahlreiche wertvolle Hinweise aus, nicht alle 
freilich kommen in ihrer Umgebung zur Geltung. „Wenn die Könige bauen, 
haben die Kärrner zu tun.“ Stekel ist einer der geschicktesten, aber er eilt 
ungeduldig mit seiner Ladung voraus, denn er will für sich den Dank 
usurpieren, der dem König gebührt. Stekels Mühle mahlt zu rasch; er benutzt 
den Hunger der ärztlichen Welt nach psychoanalytischer Aufklärung der 
Psychoneurosen und gibt ihnen schmackhaftes Brot, aber es besteht 
nicht nur aus Weizen. Die Geschichte der Wissenschaft wird Freud 
einst recht geben! Was das Onanieproblem anlangt, so gewinnt Stekels 
Standpunkt von der körperlichen Unschädlichkeit derselben immer mehr an 
Anhang; sein Verdienst muß hier anerkannt werden. Doch geht er zuweit, 
wenn er auch jede psychische Schädigung leugnet und rät, die Kinder 








232 


Kritiken und Referate 


in dieser Hinsicht gar nicht zu beobachten. Wie wenig genau es Stekel 
in der Polemik gegen Freud nimmt, zeigt seine Angabe, als hätte Freud je 
behauptet, jeder Onanist zeige das eigenartige Bild der von ihm beschrie¬ 
benen sexuellen Neurasthenie. Es ist bekanntlich auchnicht richtig, daß Freudsich 
nicht selbst öfter im Verlauf seiner Forschungen korrigiert habe. Auf die weitere, 
oft hämische Kritik an Freud und seiner Schule sei hier nicht eingegangen; sie 
entspringt dem Groll des Isolierten, des Epigonen. Stekels Werke geben dem 
praktischen Arzte viel Aufklärung und Wissen von Dingen, von denen er bisher 
nichts wußte, so namentlich über die Bedeutung der Psychologie und Sexualität 
in der Medizin. Mancher, der allzulange gezögert hat, sich Freud anzuschließen 
und es jetzt nicht ohne Beschämung tun könnte, läßt sich vom „teilweisen 
Gegner“ Stekel durch die Hintertür einführen und erspart „pater, peccayi“ 
zu sagen. Aber auch jeder Psychoanalytiker kann die Werke mit Interesse 
und Anregung durchblättern. Der sexualethische Anarchismus mag freilich 
manchem nicht Zusagen. Dr. E. Hitschmann. 




















INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER V ERLAG 

Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Band 10 

Dr. KARL ABRAHAM 

KLINISCHE BEITRÄGE ZUR 
PSYCHOANALYSE 

300 Seiten Großoktav. Preis Mark 30‘_ 


Dr. Binswangers Kuranstalt Bellevue 

für 

Nerven- und GemütsMe 

(einschließlich Entziehungskuren) 

Gegr. 185/. IMinp am Butan, Schweiz. Gegr. 1857. 

Leitender Arzt: Dr. LUDWIG BINSWANGER. Zwei Hausärzte. 

Die Anstalt besteht aus zehn in einem großen Park zerstreut 
liegenden Villen. Sieben Villen für Neurosen und Erschöpfungs¬ 
zustände etc., drei Villen für Gemütskranke. 

Neben der üblichen physikalischen, diätetischen u. medikamen¬ 
tösen Therapie wird das Hauptgewicht gelegt auf 

Psychotherapie, ßeedukation etc. 

Die Arbeitstherapie wird durch Schreinerei, Weberei, Garten¬ 
arbeit und einen großen Landwirtschaftsbetrieb ermöglicht. 

Prospekte durch die Verwaltung. 


Kuranstalt 

für 

Angst- und Zwangskrnnke 

und alle anderen Formen der 

Psychoneurosen 

Klinische Behandlung mit Ein¬ 
schluß der Psychoanalyse. 

San.-Rat Dr. WANKE 

Nervenarzt 

Friedrichroda in Thür. 


Lochau-Bregenz 

am Bodensee (Vorarlberg) 

400 Meter über dem Meere. 
Physikalische Heilanstalt mit 
allen modernen Behelfen. 
Psycho-Therapie. 
Kurarzt: Dr. E. von Hartungen. 
Erstklassige Verpflegung und 
Unterkunft. * 

Strand Palast tiotßl (Ad. Strittmatter) 















Inhalt. 


Seite 


Originalarbeiten. 

Ludwig B i n s w a n g e r(Kreuzlingen): Psychoanalyse und klinische 

Psychiatrie.137 

Pr. Michael Josef Eisler (Budapest): Über Schlaflust und 

gestörte Schlaffähigkeit.166 

Pr. Hermine H u g - H e 11 m u t li: Zur Technik der Kinderanalyse 179 

Mitteilungen. 

Klinische Beiträge. 

Pr. Michael Josef Eisler (Budapest): Per Ausbruch einer 


manischen Erregung.198 

Pr. S. Feldmann (Budapest): Über Erkrankungsanlässe bei 

Psychosen. 203 

Pr. K. Abraham: Zwei Fehlhandlungen einer Hebephrenen . . 208 

Pr. P. V o 11 r a t h (Teupitz): Anadyrskaja bolj.209 

Pr. S. Ferenc z i (Budapest): Pie Symbolik der Brücke.211 

B e i t r ä ge zur Traumdeutun g. 

Pr. J. M a r c i n o w s k i (Heilbrunn): Zwei Entbindungsträume 

einer Schwangeren.214 

Pr. M. J. Eisler (Budapest): Mutterleibs- und Geburtrettungs- 

Plmntasien im Traum. . .215 

Martin Elsner (Leipzig): Eine Traumanalyse mit Fehlleistung . 218 

Pr. R. H. Fo erster (Hamburg): Ein Traum mit kannibalischer 

Tendenz . 21 / 


Pr. ,1. Hermann (Budapest): Angsttraum und Ödipusphantasie 219 

Kritiken und Referate. 

A 11 s der p s y c h i a t r i s c h e n Literat u r. 

Pr. Oskar Lessing: Innere Sekretion und Peinentia praecox. . 220 
Prof. W i 1 m a n n s : Zunahme des Ausbruches geistiger Störungen 


in den Frühjahrs- und Sommermonaten.220 

Prof. Wetzel: Akute Psychosen und Jahreszeit.. . 220 

Pr. von Muralt: Analyse eines Grippedelirs.220 

Prof. E. Kraepelin: Pie Erscheinungsformen des Irreseins . . 221 
W. Mayer-Groß: Iber die Stellungnahme zur abgelaufenen 

akuten Psychose (Pr. U. Vollrath, Teupitz) .221 

Hans Meier- M ü Iler: Zur Psychologie der sogenannten 

traumatischen Neurose (Autorreferat).222 

S. Galant: Algohallucinosis (Hans Meier-Müller, Zürich) .... 225 
Pr. S. Galant: Crises clitoridiennes-artige Erscheinungen bei 

einem 14jährigen Knaben (Hans Meier-Müller, Zürich) .... 227 
Pr. Fritz Zimmermann : Pie Rentenkampfneurose (Pr. S. Pfeifer) 228 
Pr. Paul Schilder: Über Identifizierung, auf Grund der Analyse 

eines Falles von Homosexualität.228 

Pr. Paul S ch i 1 der: Über Gedankenentwicklung (Pr. U. Vollrath) 229 
Pr. U. Vollrath: Zur Psychologie der Standesfragen. Zugleich 

eine Abwehr (Pr. E. Hitschmann, Wien).230 

Wilhelm Stekel: 1. Onanie und Homosexualität. 2. Pie Geschlechts¬ 
kälte der Frau (Pr. E. Hitschmann, Wien) . .*•.230 


Druck der Gesellschaft für graphische Industrie, Abt. vorm. ÖZUPAG, Wien, III. Rüdeng. 11, 


■ . ^ 


.. .