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JAHRBUCSEEIl:
)) für*** * * * -
PSYCHIATRIE
und
NEUROLOGIE.
HERAUSGEGEBEN
vom
Vereine für Psychiatrie und Neurologie
in Wien.
REDIGIRT
Dr. J. Fritscb.
Professor in Wien.
Dr. A. Pick,
Professor in Prajf.
Dr. v. Kraflt-Ebing, Dr. H. Otateiner.
Professor in Wien. Professor in Wien.
Dr. J. Wagner v. Jauregg,
Professor in Wien.
Unter Verantwortung von
Dr. J. Fritsch
FÜNFZEHNTER BAND.
LEIPZIG UNI> WIEN.
FRANZ D E U T I 0 K E.
1897 . .
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PV* Die Heiren Mitglieder erhalten von ihren Artikeln 50 Separat -
AbdHiclce unberechnet , eine grössere Anzahl auf Wunsch gegen Erstattung der
Herstellungskosten.
Beiträge für das nächste Heft werden bis Ende März an Herrn
Prof. Th\ J. Fritsch in Wien, I. Habsburgergasse 1, erbeten .
Yerlaga-Nr. 504.
Alle Rechte Vorbehalten.
Ü. a. k. Hol'buchUruckerei Carl Fromme ln Wien.
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Inhalt.
Seite
Starlinger, Dr. Josef, Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde
Mit Tafel I-IV. 1
Calmann, Dr. Adolf, Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit.... 48
Berze, Dr. Josef, Ueber moralische Defectzustände.62
Finhelstein, Dr. Leo, Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung 116
Referate.129
Bischof!, Dr. Ernst, Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten
Markes.187
Elzholz, Dr. Adolf, Beitrag zur Kenntnis des Delirium tremens.180
Bischoff, Dr. Ernst, Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung . . 221
Ranschburg, Dr. P., Studien über das normale und hysterische Bewusstsein 262
Hajös, Dr. L., Ueber hysterische Amnesien.296
Scarpatetti, Dr. J. v., Befund von Compression und Tuberkel im Rücken¬
mark. Mit Tafel V.310
Karplus, Dr. J. P., Ueber asthenische Ophthalmoplegie . 330
Referat©.363
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
(Aus der psychiatrischen Klinik des Herrn Prof. v. Wagner in Wien.)
Von
Dr. Josef Starlinger, ehern. I. Assistent.
Ich habe in Nr. 9 des Neurologischen Centralblattes vom
Jahre 1895 in einer vorläufigen Mittheilung die Ergebnisse der
Durchschneidung beider Pyramiden bei drei Hunden kurz ge¬
schildert. Diese Versuche wurden seither fortgesetzt, und ich
bin nun in der Lage, die Resultate von sechs solchen Fällen
zu berichten, welche klinisch genau beobachtet und mikroskopisch
untersucht werden konnten.
Bevor ich auf dieselben jedoch näher eingehe, dürfte es
nicht unpassend erscheinen, einen kurzen Rückblick über die
Entwickelung der Lehre von den Pyramidenbahnen voraus¬
zuschicken.
Zum erstenmale finden die Pyramiden nach Bur dach bei
Eustach (1552 zu Rom) in seinen erst lange nach seinem Tode
bekannt gewordenen Abbildungen Erwähnung, zu gleicher Zeit,
als die Sehhügel, Streifenhügel und Brücke Namen und Ab¬
bildung erhalten. Willis (1664 Lehrer zu Oxford) nannte sie
zuerst „Pyramides oder corpora pyramidalia”. Namen, die in den
folgenden Jahrhunderten verschiedene Autoren durch andere' zu
ersetzen versucht haben, die sich aber dann bald als die haupt¬
sächlichsten und gebräuchlichsten einbürgerten.
Die Kreuzung 1 ) der Pyramiden wurde fast gleichzeitig von
Dominico Mistichelli (1709 zu Rom) und Frangois Petit
(1710 zu Namur) entdeckt. Den Beweis ihrer Existenz lieferte
erst Petit. Diese Thatsache fand aber Widerspruch bis in die
Mitte unseres Jahrhunderts, trotzdem, dass Gail (im Beginne
*) Nach dem früheren Autor.
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd ^
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2
Dr. Josef Starlinger.
dieses Jahrhunderts) und insbesondere Bur dach sie wiederholt
und überzeugend beschrieben haben.
Schon Bosenthal (1815) entdeckte ein näheres Verhältnis,
indem er zeigte, dass die Kreuzung nur eine partielle sei.
Ganz besonders genau und überraschend nahe unseren
heutigen Auffassungen beschreibt die Pyramidenbahnen der
geniale Burdach (1826). Derselbe fasst seine diesbezügliche
Kenntniss dahin zusammen: „Der Pyramidenstrang besteht theils
aus Fasern, welche im vorderen Einschnitte des Rückenmarkes
vor dem grauen Kernstrange desselben heraufsteigen, theils aus
Kreuzungsfasern der Seitenstränge.” Nach ihm bildet er, nach¬
dem er durch Brücke und Hirnschenkel passirt ist, die Grund¬
lage des Streifenhügels. Auch über die Function des Pyramiden¬
stranges hat dieser Forscher schon eine ziemlich richtige An¬
sicht. Nach seiner Meinung bilden die Pyramiden die Leitungs¬
bahnen für die Impulse zur Muskelbewegung, nur glaubt er irrig,
dass sie auch die Empfindung vermitteln.
Merkwürdig überraschend klingen bei diesen vorgeschrittenen
Kenntnissen die Anschauungen des berühmten Stilling in seinem
Werke „Ueber die Medulla oblongata. Erlangen 1843”. Daselbst
sagt er: „Bei frischen Präparaten sieht man mit blossen Augen
den Ursprung der Pyramidenfasern von der vorderen grauen
Commissur. Eine Kreuzung der Pyramidenfasern ist nirgends wahr¬
zunehmen, eine wirkliche Kreuzung findet in der That nicht
statt. Keine Faser des weissen vorderen Stranges oder der
Pyramiden der rechten Seitenhälfte geht nach der linken und
umgekehrt.”
Ueber die Function schreibt er in dem gleichen Werke,
Seite 61:
„Während über die Function der bis jetzt gekannten
Theile der Oblongata irgend eine Idee zur Aufstellung einer
Vermuthung leitend war, fehlt dagegen jedes Factum, um über
die Function der weissen Pyramiden ins Klare zu kommen,”
und bemerkt in einer Fussnote: „Vielleicht ergeben vergleichend
anatomische Untersuchungen manches Interessante.”
Stilling negirt somit direct die Angaben Burdach’s,
die er kannte. Und nur aus dem Einflüsse Stilling’s ist es
zu erklären, wie die Burdach’schen Lehren wieder vergessen
werden konnten, so dass Türck in seinen Arbeiten über
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Die Durehschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
3
secnndäre Erkrankungen einzelner Rückenmarkstränge und
ihre Fortsetzung zum Gehirn') sie wieder förmlich ent¬
decken musste.
Von Türck rührt die Benennung „Pyramidenseitenstrang¬
bahn” und ihre anatomische Auffassung in dem heutigen Sinne
her. Durch Versuche am Kaninchen machte er wahrscheinlich,
dass in den Pyramidenseitensträngen vom Grosshirn ausgehende
motorische Impulse nach abwärts laufen. Von der Pyramiden¬
vorderstrangbahn sagt er, dass sie höher endet als der Pyramiden¬
seitenstrang. Trotz dieser klaren Darlegung Türck’s und seiner
Belege durch die Pathologie blieb diese Thatsache nicht wider¬
spruchlos und Schiff 2 ) stellt sich wieder ganz auf den Stand¬
punkt Stilling’s, indem er sagt: „So steht von physiologischer
Seite durchaus nichts der Ansicht von Stilling entgegen, dass
die Pyramiden erst im verlängerten Marke entstehende und die
aufsteigenden Rückenmarksstränge zum Theile bedeckende,
zum Theile auseinander drängende Bildungen seien; sie wären
dann analog dem Corp. restif. auf der Hinterseite”; und weiters:
„Da wir die Functionen der Pyramiden noch nicht kennen, so
ist die vielfache Ansicht zu verwerfen, dass die Pyramiden¬
kreuzung die gekreuzte Wirkung der Hirntheile auf irgend
eine Weise erklären könne.”
Nichtsdestoweniger verschafften sich die Burdach und
Türck’sehen Anschauungen immer mehr Geltung und wurden
endgiltig durch die Entdeckungen des motorischen Rinden¬
centrums von Fritsch und Hietzig und insbesondere durch die
überzeugenden Untersuchungen Flechsig’s 3 ) als die allein
richtigen dargethan und ergänzt zu unserer heutigen Auffassung.
Flechsig’s Arbeiten auf diesem Gebiete waren anatomisch
erschöpfend und abschliessend, so dass über diesen Punkt wohl
kaum besonderes Neues mehr veröffentlicht worden ist. Es ist
wohl unnöthig, speciell seine Resultate anzuführen, es ist im
Grossen und Ganzen dasjenige über die Pyramidenbahnen, was
heute Gemeingut Aller ist.
') Aprilheft 1851 und Juniheft 1853, Berichte der k. k. Akademie der
Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Classe.
s ) Lehrbuch für Physiologie 1858—1859.
3 ) Leitungsbahnen im Gehirn und Bückenmark. Leipzig 1876.
1 *
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Dr. Josef Starlinger.
Uns mögen diese kurzen historischen Umrisse — ich habe
gewissermassen nur die Epochen hervorgehoben — wieder
recht anschaulich vor Augen führen, wie viel Arbeit und Kritik
erforderlich war, um den anscheinend so einfachen Verlauf dieses
Faserzuges endlich zu sichern.
Freilich wenig ermuthigend für die Zukunft, wo noch so
vieles und gewiss noch Complicirteres zu lösen ist.
Das im Allgemeinen. Für das Specielle dieser Arbeit möge
vorerst darauf hinzuweisen erlaubt sein, dass die nachfolgenden
Versuche experimenteller Art sind und zu Studienzwecken unter¬
nommen wurden. Experimentelle Durchschneidungen der Pyra¬
miden wurden bisher in ein wandsfreier Weise noch nie aus¬
geführt.
Die secundäre Degeneration dieser Bahn wurde bisher
nur insofern Gegenstand einer Erörterung, als sie nach Gross¬
hirnläsionen in Mitleidenschaft gezogen worden ist, oder
insofern, als sie bei Rückenmarksläsionen in Verbindung mit
dem Seitenstrange Berücksichtigung finden mussten. Verfasser
machte es sich zur Aufgabe, die Pyramidenstränge an einer
leicht zu isolirenden Stelle in der Gegend der Medulla oblon-
gata zu unterbrechen, einerseits um die sich anschliessende
secundäre Degeneration zu studiren, andererseits um die Aus¬
fallserscheinungen beobachten zu können.
Die Idee, die Function der Pyramidenbahn durch Läsion in
der Höhe der Medulla oblongata zu isoliren, ist, wie ich aus
nachträglichem Literaturstudium mich überzeugen konnte, nicht
mehr neu.
Schiff 1 ) berichtet hierüber Folgendes: „Nach vielen frucht¬
losen Bemühungen ist es mir endlich gelungen, eine Methode
ausfindig zu machen, die vordersten Bündel des verlängerten
Markes, die Pyramiden in glücklichen Fällen isolirt zu durch-
schneiden. Magendie bemühte sich schon, diese Operation aus¬
zuführen. Er durchbohrte zu diesem Behufe die graue Substanz
des IV. Ventrikels von hinten her, um bis zu den Pyramiden
zu gelangen (vgl. seine Vorlesungen 1838). Diese Methode
und ihre Resultate sind zu verwerfen, da wir jetzt die grösste
Wichtigkeit der grauen Substanz für die Bewegungsleitung
*) Lehrbuch der Physiologie.
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
5
kennen und der Erfolg des Versuches der nicht unbeträchtlichen
Zerstörung der letzteren mit Recht zugeschrieben werden kann.”
„Später hat man die Pyramiden nie isolirt, sondern höchstens
in Verbindung mit den Seiten- und Hülsensträngen (und allem
Anscheine nach einem grossen Theile der seitlichen grauen
Substanz) durchschnitten. Um die Pyramiden im Niveau des
Calamus (also gerade bei ihrer Kreuzung) zu trennen, lege ich
die Atlanto occipital membran, ohne sie ganz zu durchschneiden,
so weit bloss, dass das verlängerte Mark deutlich durch sie hin¬
durchschimmert. Indem ich dann die obersten Wirbel des tief
ätherisirten Thieres mit den Fingern der einen Hand genau
fixire, führe ich von der Seite her in passender Höhe eine Nadel
durch die Muskeln und die Seitentheile des Atlas, so dass sie
in dem Wirbelcanale zum Vorschein kommt, und leite sie nun
durch den genau horizontal gehaltenen Canal quer durch, so
dass sie oberhalb der Pyramiden das Mark durchbohren, diese
abtrennen und beim Zurückgehen, wenn ich das Heft schief
nach oben bewege, diese durchschneiden muss. Ein glücklicher
Erfolg ist, wie die Section der Thiere lehrt, in Summa in einem
Zehntel der Versuche vorhanden, und die Sache gelang mir
besonders bei jungen Kaninchen. Man kann auch, wie ich es
einigemale gethan, die Pyramiden höher durchschneiden, indem
man von vorne am Halse eindringt, Larynx Oesophagus und
Vagüs und die grossen Gefässe zur Seite schiebt und zwischen
Atlas und Schädelbasis eingeht. Die Operation wird durch die
grossen Venen sehr erschwert.”
„Einzelne glückliche Erfolge haben nun erwiesen, dass es
möglich ist, eine oder beide Pyramiden abzutrennen, ohne dass
die Bewegungen des Thieres dadurch mehr geändert werden,
als sie schon vorher in Folge der Durchschneidung der Nacken¬
muskeln sich zeigten, dass diese Operation weder eine vorüber¬
gehende noch bleibende bemerkliche Lähmung nothwendig nach
sich zieht, und dass wir also nicht berechtigt sind, die Pyramiden
mit den physiologischen Eigenschaften des Vorderseitenstranges,
so weit uns diese bis jetzt bekannt sind, auszustatten.”
Nach Schiff ist diese Frage in ähnlicher Art experimentell
nicht mehr in Angriff genommen worden. Inwieweit die Schiff-
schen Versuche als beweisend anzusehen sind, erhellt wohl aus
der Art ihrer Anstellung von selbst.
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Dr. Josef Starlinger.
Es fehlt nämlich der stricte Nachweis, dass er wirklich
die Pyramiden gänzlich durchschnitten hat.
Schiff suchte denselben aus der Section allein zu erbringen.
Das ist aber kein einwandsfreier Beweis, wie jedem klar
sein muss, der solche Versuche einmal angestellt hat. Die
Gewebe, um die es sich da handelt, sind so leicht zerreisslich,
dass man nur die Ränder einer Durchtrennungswunde etwas
auseinander zu ziehen braucht, um möglicherweise sofort ein
tieferes Einreissen des Spaltes herbeizuführen. Ohne Ausein¬
anderziehen der Ränder kann man sich aber gar nicht über¬
zeugen, wie tief die Verletzung in die Medulla oblongata ein¬
gedrungen ist.
Man kann aber die Ausdehnung der Läsion genau über¬
haupt nur auf Querschnitten mittelst des Mikroskopes abgrenzen,
und zwar muss man, um die grösste Ausdehnung der Läsion
festzustellen, Serienschnitte anlegen. Von einer mikroskopischen
Untersuchung ist aber bei Schiff keine Rede.
Ich komme nun zu meinen eigenen Versuchen. Dieselben
wurden, wie schon früher erwähnt, einerseits unternommen,
um die secundäre Degeneration zu studiren, andererseits um
den Ausfall der Functionen zu beachten.
Hinsichtlich der Operationsmethode erlaube ich mir das in
meiner vorläufigen Mittheilung') bereits Gesagte nochmals zu
wiederholen.
Auf denersten Blick schien die Zugänglichkeit der Pyramiden
wegen der Tiefe ihrer Lage wenig verheissend, zumal die Be¬
trachtung der anatomischen Verhältnisse der Pyramidenbahnen
es gerathen erscheinen liess, die Pyramiden möglichst hoch,
womöglich gleich unter dem Corpus trapezoideum zu durchtrennen,
da hier die Pyramiden deutlich an der Medulla hervorspringen,
bald aber sich wegen der Kreuzung wieder in die Tiefe senken.
Nun liegt beim Hunde diese Pyramidenpartie etwa auf dem
mittleren Drittel des Clivus (Ossis basilaris) und dieser Theil
schien schwer erreichbar und wurde dadurch die Ausführung
ziemlich gewagt.
Die weitere Ueberlegung ergab, dass der Weg von vorne
her zu dem Clivus der aussichtsvollere sei.
') Neurologisches Centralblatt 1895, Nr. 9.
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 7
Dementsprechend wurde die Haut am Halse in der Median¬
linie (circa 4 bis 5 Centimeter oberhalb und ebenso viel unter¬
halb des Kehlkopfes) durchtrennt und meist stumpf zwischen
Kehlkopf und Oesophagus einerseits und den lateral von ihnen
liegenden Gebilden sammt Vagus und Carotis andererseits in
die Tiefe präparirt bis auf die tiefen Halsmuskeln, dabei die
etwa hindernden Nerven und Gefässe theils unterbunden, theils
durchschnitten. Diese so getrennten Theile wurden nun mit
Haken auseinander gehalten und das tiefe Operationsfeld frei¬
gelegt. Nun fühlte ich nach dem Tubercul. ant. atlantis, das
leicht auffindbar ist; von diesem aus wurden mit einem kleinen
Raspatorium rechts und links die inserirenden Muskeln (Muse,
obliqua colli ant. sup. beim Menschen!) abgeschoben, von den
Haken auch diese tiefen Halsmuskeln mitgefasst und abgezogen,
wodurch, die Membran, obt. ant. in ihrer ganzen Ausdehnung
freigelegt wurde. Bei den ersten Versuchen spaltete ich die
Membran und suchte das Foramen occipitale nach obenhin mit
einer Kneipzange zu erweitern, um so hoch genug an unseren
Punkt zu gelangen.
Dabei erfolgte aber fast stets eine nahezu unstillbare
Blutung, die das Operationsfeld mit Gerinnseln erfüllte, den
Ueberblick erschwerte und so die exacte Ausführung der
Pyramidendurchschneidung selbst unmöglich machte. Ich wandte
mich, um diese Schwierigkeiten zu überwinden, um Rath an
Herrn Prof. Hochstetter und erfuhr von ihm, dass beim
Hunde genau entlang des vorderen Randes des Foramen occi¬
pitale ein Sinus venosus verläuft, der nothwendig durchtrennt
werden muss, wenn man nach durchschnittener Membrana
atlanto-occip. anterior die Oeffnung durch Abkneipen der
untersten Partien des Os basilare erweitern will.
Ich modificirte das Verfahren, schob auch vom Os basilare
die Muskelansätze (des M. rect. capit. ant. maj. et min. beim
Menschen) ab, setzte über dem Os basilare eine Trepankrone
von 7 bis 8 Millimeter Durchmesser an, und zwar so, dass der
hintere Rand der Trepankrone 1 bis 2 Millimeter von dem
freien Rande des Os basilare entfernt blieb und mithin der Sinus
venosus verschont wurde, und perforirte hier. Ohne nennens-
werthe Blutung kam ich so auf die Medulla. In der Trepna-
öffnung waren in der Mitte die dünne Art. basilaris und rechts
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Dr. Josef Starlinger.
und links davon die halbrunden Pyramiden sichtbar, die mit
einem Messerchen leicht und sicher dnrchtrennt werden
konnten. Schluss der Wunde durch fortlaufende Hautnaht. Jodo-
formcollodium.
Ergänzend muss ich noch hierzu anführen, dass bei den
letzten Versuchen die Durchtrennung der Pyramiden nicht
einzeln mit dem Messer geschah, sondern dieselben zusammen
mit einem nach Art der Dechamps’schen Nadeln geformten
Instrumentchen umstochen und durch Anziehen durchrissen
wurden. Bei dieser Modification konnten einerseits die Pyramiden¬
stränge oberflächlicher und doch sicherer in toto gefasst, anderer¬
seits die Art. basilaris nicht so leicht verletzt werden.
In dieser Art wurden neun Hunde operirt, von denen sechs
am Leben blieben. Die Thiere waren zumeist von mittlerer
Grösse, circa 30 bis 40 Centimeter hoch, eine Art Rattler, und
fast alle ausgewachsene Exemplare. Diese Rasse scheint die
geeignetste zu sein, weil sie lange Schädel hat und das Os
basilare so geräumig ist. dass ein Trepan von 7 bis 8 Milli¬
meter Durchmesser Platz findet. Der Umstand ist wichtig, weil
man sonst bei zu grosser Schmalheit des Os basilare leicht mit
dem Foramen jugulare und den dasselbe passirenden Nerven
und Gefässen in Conflict geräth. Namentlich ist es der Vagus,
der unliebsame Störungen für Herz und Lunge erzeugt, was
selbst den unmittelbaren Tod des Thieres zur unerwünschten
Folge haben und denselben auch nach der Operation noch nach
sich ziehen kann.
Drei Hunde gingen in den ersten Tagen zugrunde. Im All¬
gemeinen ist jedoch die Technik unserer Operationsmethode eine
ziemlich sichere, wenngleich sie einige Gewandtheit erfordert.
Zur Narkose schien uns Chloroformäther am besten zu
sein, und zwar ganz allein, ohne etwa vorausgehende Morphium-
injection.
Nach der Operation kamen die Thiere einerseits in Folge
der Wundheilung, andererseits in Folge der mapgelhaften
Nahrungsaufnahme immer ziemlich herunter. Aber schon nach
ein bis zwei Wochen fingen sie an, sich schnell wieder zu
erholen.
Zur histologischen Untersuchung meiner Fälle bediente ich
mich der bekannten Methode nach Marchi und Algheri.
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
9
Die Idee, dass nur immer von neuen Methoden ein Vor¬
wärtsdringen in der Kenntniss des Baues der nervösen Central¬
organe zu erwarten steht, ist ziemlich allgemein nnd findet
Avohl auch in der Geschichte eine gewisse Bestätigung. Ich
will dieser Anschauung keineswegs entgegentreten, sondern
kenne die Wichtigkeit jeder neuen Methode vollinhaltlich an,
dass sie Wahrheiten neu bestätigt, Errata corrigirt und neue
Auffassungen zu gewinnen vermag. Nur alles Heil möchte ich
nicht bloss von neuen Methoden erwarten, zumal jede bald ihre
natürlichen Grenzen findet, sondern dazu auffordern, recht
fleissig die schon bestehenden ansznnützen. Die Methode nach
Marchi und Algheri ist wohl eine der vortrefflichsten dieser
Art, und wie mir scheint, noch viel zu wenig gewürdigt und
ausgenötzt. Sie ist schier grenzenlos beim Thierexperimente
und sie ist ausgiebig selbst bei der Pathologie des Menschen.
Beim Thierexperimente hängt sie von der Operationstechnik
ab und die gewinnt immer neue Felder, und in der Nerven-
pathologie des Menschen ist sie für alle Läsionen von ein paar
Wochen bis zu mehreren Monaten verwerthbar. Ich will hier
gleich dasjenige Verfahren kurz anführen, das ich bei meinen
Untersuchungen einzuhalten pflegte.
Das zu untersuchende Präparat wurde in der Regel für
10 bis 20 Tage, nachdem es dem Körper entnommen war, in
Müller’sche Flüssigkeit gelegt.
In der Regel wird in dieser Zeit ein gewisser Grad von
Härtung erzeugt, der es ermöglicht, die Stücke in circa 1 bis
2 Millimeter dicke Scheibchen zu zerlegen, ohne dass man
Gefahr läuft, dass sie in der rasch härtenden Osmiumsäure noch
wesentliche Gestaltsveränderungen erleiden. Es ist dies wichtig
für die Serienbehandlung, weil sich die Stückchen sonst leicht
werfen und nicht mehr genau aneinander fügen lassen. Die
so hergestellten Scheibchen kommen für sieben bis acht Tage
in die Marc hi-Flüssigkeit (ein Theil Osmium, zwei Theile
Müller’sche Flüssigkeit) und werden sodann im rinnenden
Wasser gut ausgewaschen. Hierauf erfolgt Abtrocknung mit
Fliesspapier und Einlegen in eine sirupdicke Celloidinlösung
für ein bis zwei Tage. Ehe nun das Celloidin erstarrt ist,
werden die Scheibchen herausgenommen und in ihrer natürlichen
Aufeinanderfolge wieder mit Celloidin aneinander gekittet.
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10
Dt. Josef Starlioger.
Auf diese Weise stellte ich immer wieder Hinterhirn und
Nachhirn bis zum zweiten bis dritten Cervicalnerven in natürlicher
Form her und verfertigte dann mit einem Reichert’schen
Tauchmikrotom eine lückenlose Serie.
Ich ging dabei so vor, dass ich oft 20 bis 30 Schnitte, je
nach Grösse derselben, selbstverständlich in den höheren
Gegenden weniger, oft nur vier, der Reihe nach auf einen
Objectträger auflegte, abtrocknete, mit einer dünnen Celloidin-
lösung zur Fixirung darüber strich und in einen Rähmchen¬
apparat spannte, wodurch die Reihenfolge garantirt blieb.
Dieser Apparat *) besteht aus einem Rechteck aus circa
2 Millimeter dickem Aluminiumdraht. An den langen Seiten
dieses Rechteckes sind eine Reihe von verschieblichen Rähmchen
angebracht. Nur das erste ist fix mit dem Rechtecke verbunden
und mit einem Handgriffe versehen.
Zwischen je zwei solche Rähmchen werden nun die Object¬
träger eingefügt. So wurden sie gemeinsam weiter behandelt,
entwässert, aufgehellt und schliesslich wurde Objectträger um
Objectträger herabgenommen, abgetrocknet, mit Canadabalsam
überschüttet und zum Trocknen hingestellt. Nach dem Trocknen
wurden sie signirt. Auf diese Weise war es möglich, eine wirk¬
liche lückenlose Serienschnittreihe herzustellen.
Ich halte gerade für Marchi eine lückenlose Serie für ein
unumgänglich nothwendiges Postulat, und deshalb wollte ich
durch die ausführlichere Darlegung meines Verfahrens den
Beweis erbringen, dass ich wirklich auch diese Bedingung
erfüllt habe.
Zur Forderung der unbedingten Nothwendigkeit der Her¬
stellung einer wirklich lückenlosen Serie zumal für die Gegend
der Medulla bin ich durch die Erfahrung gedrängt worden.
Erstens ist es unmöglich, schon durch den oberflächlichen An¬
blick beim Schneiden diejenigen Schnitte auszuwählen, die
gerade wichtig werden, und thut man es einmal, dann wird man
beim Studium sicher peinlich überrascht werden, dass gerade
diejenigen Partien fehlen, wo Uebergänge und Ergänzungen zu
suchen wären. Aber das ist es nicht allein. Ich konnte mich bei
0 Eingehend beschrieben und abgebildet im Jahresberichte der Wiener
Irrenanstalt 1894.
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Die DarchschneiduDg beider Pyramiden beim Hunde. 11
der mikroskopischen Durchmusterung der Präparate wiederholt
von einem Vorkommnisse überzeugen, das man nur in der
lückenlosen Serie nicht übersehen kann und das für die Deutung
von auffälliger Degeneration überaus wichtig ist. Ich habe
nämlich sehr häufig winzige, nur auf wenige Schritte sich
erstreckende Herde gefunden, die dem Ausbreitungsgebiete
irgend eines kleinen Gefässchens zu entsprechen schienen. Solche
Fälle fanden sich isolirt z. B. in einem der hinteren Längs¬
bündel, also ziemlich entfernt von der beabsichtigten Verletzung
ausgehend, von den kleinen Gefässen oder auch seitlich im
Haubenfelde ebenfalls auf das Gebiet kleiner Gefässe beschränkt.
Es genügt also nicht bloss einige Schnitte von der Läsionsstelle
anzufertigen und jede Degeneration auf die Läsion selbst zu
beziehen, man muss alle Schnitte haben, um die thatsächliche
Läsion übersehen und würdigen zu können.
Dieses Vorkommniss erscheint übrigens auch einiges
klinisches Interesse zu haben. Es ist nämlich in der Kranken¬
geschichte einzelner dieser operirten Thiere auffällig, dass sie
wenige Tage post operationem einen schwerkranken Eindruck
machten, trotzdem der äussere Wundverlauf völlig glatt sich
abzuwickeln schien und auch die Section keine erheblich stärkere
Läsion aufzuweisen vermochte als bei anderen. Gerade da
fanden sich aber nun bei den mikroskopischen Untersuchungen
derartige Herde oder auffällige, nachträgliche, entzündliche Ver¬
breiterungen der ursprünglichen Verletzung.
Aus dieser Thatsache resultirt gleichzeitig, welchen Werth
alle diesbezüglichen Experimente haben, wenn nicht eine lücken¬
lose Serie angelegt worden ist, und das ist eben der Grund,
weshalb ich ausführlicher bei diesem Umstande verweilte.
Bisher wurden folgende sechs Fälle untersucht:
Fall I. Ausgewachsenes, mittelgrosses Thier. Sehr mnnter
und lebhaft, aber ohne besondere Dressur.
Operirt am 18. December 1894. Pyramiden mit dem Messer
einzeln durchschnitten.
Gleich nach der Operation, als das Thier noch halb narko-
tisirt war, ergab die Prüfung der Sehnenreflexe an den Hinter¬
füssen gleiche, anscheinend nicht gesteigerte Beaction.
Nach dem Erwachen sofort spontane Gehversuche, die zu¬
nehmend erfolgreicher sich gestalteten, und eine halbe Stunde
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12
Dt. Josef Starlinger.
nach der Operation lief der Hand bereits im Laboratorium um¬
her, wobei allerdings die Hinterbeine gegenüber den vorderen
eine gewisse Unsicherheit zu zeigen schienen, insofern nämlich,
als der Hintertheil des Thieres bald mehr nach rechts, bald
mehr nach links hinneigte. Doch vermochte er schon kleine
Hindernisse (z. B. Tischfussleiste) ohne zu fallen zu überschreiten.
Nach 2 7* Stunden war der Gang schon völlig sicher. Nur
überkreuzten sich öfters die Vorderbeine und kippte der rechte
Fuss manchmal um, so dass er den Fussrücken auf den Boden
aufsetzte.
19. December. Am Morgen Erbrechen, sonst jedoch ganz
munter, springt dem Verfasser entgegen und läuft dann mit
über die Stiegen vom zweiten Stock ins Parterre hinab, etwas
langsamer, als gesunde Hunde zu thun pflegen und mit einer
Art Vorsicht, aber ohne jede andere auffälligere Störung.
21. December. Mangelhafte Nahrungsaufnahme in Folge des
durch die Wunde erschwerten Schluckactes. Wundhöhle aus¬
gedehnt. Punction erzielt einen trüben, blutigen, nicht übel¬
riechenden dicklichen Inhalt; derselbe wird entleert und ein
Compressionsverband angelegt.
25. December. Liegt meist. Ist schwer zum Aufstehen zu
bewegen, läuft aber dann ganz gut umher.
4. Januar. Wunde verheilt, der Kopf wird hoch getragen,
das Thier bewegt sich mit der alten Lebhaftigkeit, hat sich
körperlich rasch und ganz erholt, nur gelingt es noch schwer,
auf Tische und Sessel auf Commando zu springen. Er steigt
mit den Vorderpfoten hinauf, vermag sich aber nur schwer
ganz hinaufzuschwingen.
Am 16. Januar ist auch dieses nicht mehr zu sehen. Der
Hund springt auf Tische und Bänke und wieder herab, ohne
zu straucheln. Nur beim ruhigen Gehen in der Ebene streift er
manchmal mit den Krallen des rechten Vorderfusses am Boden,
auch entlastet er gerne das linke Hinterbein.
17. Januar. Getödtet mit Chloroform.
Bei der Section starke Verwachsungen im Bereiche des
Trepanloches, sowohl mit dem Knochen als auch mit der Narbe
an der Medulla. Die Lostrennung der Medulla sammt der Dura
vom Os basilare gestaltete sich daher ziemlich schwierig, so dass
die operirte Stelle (Narbe) etwas eingerissen wurde. Makro-
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 13
skopisch schienen die Pyramiden in der Ausdehnung der Oliven
vollständig unterbrochen, was auch ein Querschnitt in dieser
Höhe zu bestätigen schien. Das Präparat wurde in Müller'sehe
Flüssigkeit gelegt und nach 10 Tagen nach Marchi unter¬
sucht.
In der Ebene der Läsion (siehe Tafel I) finden sich mikro¬
skopisch folgende Befunde:
Die Pyramiden sind vollständig zerstört und durch ein
Narbengewebe ersetzt. Letzteres greift sogar noch über das
Pyramidenfeld hinaus in die rechte Olive über und ersetzt einen
grossen Theil derselben. Nach rückwärts schliesst die Narbe
beiläufig in einer Linie ab, welche man vom Hilus der einen
Olive zum anderen sich gezogen denkt. Diese ebengenannte
Zerstörung ist die Folge der operativ erzeugten Läsion. Als
secundär durch nachträgliche Entzündung oder Erweichung
entstanden ist ein schmaler, lichter (narbiger) Streifen in der
Regio motor. dextr. anzusehen, welcher den gleichseitigen Hypo-
glossuswurzeln entlang von vorne nach hinten bis zum Grau
des IV. Ventrikels reicht und auch noch den Hypoglossuskern
und das hintere linksseitige Längsbündel tangirt. Auch in
der Raphe ist ein feiner Narbenstrang nach hinten zu sehen.
Alle diese secundären Herde zeigen sich in etwa 18 bis
27 Schnitten.
Der Rand aller der directen und indirecten Läsionen lässt
eine mehr weniger dichte Anhäufung schwarzer Schollen
erkennen, was besonders um das Pyramidenfeld intensiv hervor¬
tritt, während im durch Narbengewebe ersetzten Pyramiden¬
felde nur ganz vereinzelt schwarze Pünktchen angetroffen
werden. Von intacten Pyramidenfasern ist nirgends etwas
zu sehen.
Degenerirt sind weiters in diesen Höhen zahlreiche Fibrae
arcuat. ext. und int. und Fasern der Raphe. Die degenerirten
inneren Bogenfasern lassen sich deutlich bis in die Hinterstrangs¬
kerne, die äusseren in das Corp. restif. verfolgen, wo ihre
Degeneration aufwärts bis zum Kleinhirn sich nachweislich fort¬
setzt. Ueber die Herkunft dieser Fasern lässt sich aus unseren
Präparaten keine feste Gewissheit erlangen, es besteht aber
auch kein Anhaltspunkt, der den herkömmlichen Anschauungen
über sie widerspräche.
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14
Dr. Josef Starlinger.
Interessant ist weiters für diese Schnitte aus der Läsions¬
stelle ein Befund, der fast in allen Fällen zu constatiren war. 1 )
Es biegen nämlich von der Raphe (?) aus der Gegend der
hinteren Längsbündel nach Art von Geissein vereinzelte dege-
nerirte Fasern in das Haubenfeld hinein nach vorne. Derartige
Degenerationen scheinen mit der Raphe selbst nichts zu thun
zu haben, denn sie finden sich auch dort, wo dieselbe sicher
unverletzt ist, wie ich aus anderen Präparaten entnehmen kann,
wo nur das Haubenfeld verletzt worden ist. Es hat eher den
Anschein, als ob diese Fasern von Zellen in der Regio reticul.
grisea selbst abstammen, gegen das hintere Längsbündel hin¬
ziehen, in die Raphe einbiegen, in derselben mit ähnlichen
Fasern der anderen Hälfte sich kreuzen und das contralaterale
Haubenfeld aufsuchen. Es wären das also reine Commissurfasem
und ein Analogon für ähnliche Fasern in der vorderen Commissur
des Rückenmarkes.
Schliesslich ist aus demselben Schnitte (Tafel I) noch zu
ersehen, dass auch das Respirationsbündel (gemeinsame Glosso-
pharyngeo-Vaguswurzel) in toto degenerirt ist. Es rührt dies
daher, dass der Vagus bei der Operation gequetscht worden ist.
Endlich muss noch eines Vorkommens von kleinen, nur aus
wenigen Fasern bestehenden, degenerirten Bündeln Erwähnung
gethan werden, welche sich fast in allen Fällen vorfinden.
Dieselben finden sich in der Höhe der Läsion im Centralgrau
des vierten Ventrikels ganz unabhängig von der gesetzten Läsion
und lassen sich als scharfumschriebenes Bündel nach abwärts
bis zur Decusation constant und deutlich verfolgen. Nach auf¬
wärts treten sie immer mehr an die Oberfläche des vierten Ven¬
trikels heran, drängen sich mehr nach aussen, bis sie plötzlich
verschwinden. Ich werde später noch auf sie zurückkommen.
Das sind die Veränderungen und Befunde aus den Schnitten
der Narbe. Knapp unter derselben, wo die Pyramiden bereits
wieder ihre normale Configuration erlangt haben, zeigen die
Pyramidenfelder sich dicht mit Schollen durchsäet, wodurch die
Querschnitte der Pyramiden sich scharf und ziemlich geradlinig
von der Olivenzwischenschicht scheiden, aber auch von dem
lateralen, dem peripheren Felde am rechtsseitigen Olivenpol,
') Siehe hierzu Fig. 6. (Fall II.)
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
15
das weit spärlichere Degeneration zeigt, gleichfalls deutlich sich
abheben.
Degeneration zeigt weiters, wenn auch spärlich, die Oliven¬
zwischenschicht und die rechte Regio motoria, einschliesslich
hinteres Längsbündel.
Auf der linken Seite ist am gleichnamigen motorischen Felde
die Degeneration bloss angedeutet. Von den längsgetroffenen
Fasern zeigen die einzelnen Fibr. arcuat. internae in ihrer ganzen
Ausdehnung und r.-l. die bekannten Rosenkranzzeichnungen.
Pig. 1. Pyramidenkreuzung, Fall I.
In der Höhe der Pyramidenkreuzung ist zunächst auffällig
die büschelförmige Art der Kreuzung; die kleinen büschelförmigen
Schief- und Querschnitte (r.-l.) liegen discret nebeneinander und
vermischen sich erst weiter unten. Die Kreuzung ist eine totale.
Ich habe nirgends Anhaltspunkte gewinnen können, dass ein¬
zelne Fasern ungekreuzt in derselben Seite verbleiben.
So deutlich und markant die absteigende Degeneration der
Pyramiden erscheint, so wenig sicher lässt sich eine solche
(wenigstens nach unseren Präparaten) für die Schleife erweisen.
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16
Dr. Josef Starlinger.
Ich will damit nicht das auch für die Schleife wiederholt be¬
hauptete Vorkommniss einer absteigenden Degeneration in Ab¬
rede stellen, sondern nur damit sagen, dass bei meinen Schnitten
trotz der ausgedehnten Zerstörung der Schleifenschicht für die
absteigende Degeneration kein deutlicher Beweis resultirte. De-
generirte Bogenfasern zu den Hinterstrangskernen fanden sich
allerdings in der ganzen Ausdehnung derselben. Damit ist aber
noch nicht bewiesen, dass dieselben der Schleife angehören
müssen. Die Schleifenfelder selbst, wie sie bei der ansteigenden
Degeneration der Schleife nach Zerstörung der Hinterstrangs¬
kerne sich schön und deutlich markiren, bleiben jedoch so
ziemlich schollenfrei, trotz der ausgedehnten Zerstörung der
Schleife. Das bleibt immerhin auffällig und lässt die Ver-
muthung nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass diese absteigend
degenerirenden Bogenfasern nicht mit den sonstigen Schleifen¬
fasern identisch sind, sondern aus tieferliegenden Gebilden
(Olive?) vielleicht ihren Ursprung nehmen.
Ich habe früher einzelner degenerirter Bündel gedacht und
zu ihrer weiteren Erkenntniss auf später verwiesen. In diesen
Höhen (Decusation) erscheint nun ein Befund erwähnenswerth,
der mit diesen Bündeln einigen Zusammenhang vermuthen lässt.
Es finden sich nämlich da, wo sich eben der Centralcanal schliesst
und die hintere Commissur sich zu formiren beginnt, in der
hinteren Commissur Degenerationsbündel, die von einer Seite
zur anderen laufen. Sie sind nicht häufig, auch nicht in vielen
Schnitten zu sehen, aber sie finden sich mehr weniger in allen
Fällen und immer bündelweise, ähnlich den Pyramidenbündeln
bei der Kreuzung.
Ob nun dieselben den Pyramidenbahnen zuzuzählen sind,
lässt sich nicht erweisen. Wahrscheinlich mag das einigermassen
erscheinen, wenn man den Weg, den diese Bündel nothwendiger-
weise machen, in Betracht zieht. Sie müssen aus Fasern
stammen, die durch die directe oder indirecte Beschädigung
unterbrochen worden sind. Sie müssen abwärts bis zur Kreuzung
laufen, dort umbiegen und isolirt nach hinten und aufwärts
gehen.
Die Degeneration in der ßegio motoria der Medulla lässt
sich deutlich nach abwärts in die Yorderstränge verfolgen, und
zwar mit demselben Intensitätsunterschiede, rechts stärker als
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
17
links, aber beiderseits an dem vorderen Medianspalt dichter und
sich auf den Yorderstrang beschränkend.
Im oberen Cervicalmark zerstreuen sich diese Vorderstrangs-
scbollen und breiten sich auch auf den Seitenstrang aus, halten
sich jedoch mehr an der Peripherie und so, dass das Feld des
anterolateralen Bündels, sowie die Kleinhirnseitenstrangbahn
vollkommen frei bleibt.
Die Pyramidenseitenstrangbahn markirt sich scharf und
deutlich und r.=l. im Centrum dichter, nach aussen allmählich
abklingend, schon ziemlich diffus vermischt. Im Hinterhorn finden
sich auch noch bündelförmige, degenerirte Felder, die sich weiter
abwärts immer mehr an seinen hinteren inneren Rand hindrängen,
schliesslich an die Lissauer’sche Randzone gelangen. Weiter waren
sie aber nicht mehr verfolgbar. Niemals fand ich an den hinteren
Wurzeln Degeneration.
Im oberen Brustmark rückt das Schollenfeld des Pyramiden¬
seitenstranges weiter nach hinten, rundet sich mehr und ist auf¬
fällig schwächer.
Die Degeneration im Vorderseitenstrange wird gleichfalls
schwächer, rückt im Seitenstrange noch weiter nach rückwärts
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 2
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Dr. Josef Starlinger.
und gestaltet sich mehr mantelförmig. Der Unterschied in der
Stärke besteht aber noch in demselben Masse fort.
Weiter nach abwärts lichten sich die Degenerationen immer
mehr, so dass in der Lendenanschwellung im Pyramidenseiten¬
strange die Schollen schon fast vollkommen fehlen, während im
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Die Durchschneidong beider Pyramiden beim Hunde. 19
Vorderseitenstrange dieselben sich noch ganz deutlich zeigen und
selbst noch im caudalen Theile vereinzelt anzutreffen sind.
Fall II. Ausgewachsenes Thier von derselben Gattung.
Operation am 28. Januar in Chloroformäthernarkose. Art
und Verlauf der Operation wie im vorhergehenden Falle. Nur
ermuntert sich dieser Hund später als der erste und läuft noch
nach mehreren Stunden etwas taumelnd herum.
29. Januar. Bewegungen sehr lebhaft, springt auf Schemel
und Sessel; hierbei passirt es einigemale, dass er rücklings um¬
fällt.
3. Februar. Läuft dauernd flott herum, trotz der grösseren
Halswunde und der deutlichen Abmagerung.
11. Februar. Naht an der ganzen Halswunde aufgerissen.
Die grosse granulirende Wundfläche wird mit Jodoform ver¬
bunden. '
14. Februar. Wunde bedeutend verkleinert. Beweglichkeit
uneingeschränkt, läuft auch mit drei Füssen, wenn man einen
unterbindet, ganz gut herum.
18. Februar. Im Benehmen von nichtoperirten Thieren kaum
unterscheidbar.
Scherzt und balgt sich mit den anderen Hunden, wobei er
seinen Gegner mit den Vorderpfoten umklammert und wieder¬
holt auf den Hinterfüssen ganz allein steht. In den Reflexen
keine Besonderheit. Sensibilität und Coordination ungestört.
Motorische Kraft nachweislich nicht besonders geschwächt. Heute
getödtet. Narbe zwischen Corp. trapezoid und unteren Oliven. Die
nach Marchi behandelten Schnitte zeigen an der Läsionsstelle
(Fig. 5) nachfolgenden Befund.
Direct zerstört ist die linke Pyramide und die rechte bis
auf eine kleine laterale Partie, ferner fast die ganze Oliven¬
zwischenschicht nebst einem Theile in der rechten centralen
Haubenbahn.
In einigen Schnitten höher ist ausserdem die rechte Regio
motoria secundär von einem länglichen Entzündungsherde, der
Raphe in ihrer ganzen Ausdehnung parallel laufend (in circa
24 Schnitten) durchsetzt, und sind auch kleine Herde in der
linken Haubenbahn ersichtlich.
In Fig. 5 sind demnach wieder fast dieselben Degenerationen
zu sehen wie in Tafel I, nur mit dem Unterschiede, dass hier
2 *
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Dr. Josef Starlinger.
Fig. 5. Läsionsstelle, Fall II (Photogramm).
Fig. 6. Knapp oberhalb der eigentlichen Läsionstelle, Fall II, mit sehr deutlich
ausgeprägten geisselförmigen Degenerationen.
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Die Durchschneidtuig beider Pyramiden beim Hunde.
21
beiderseits die peripheren Olivenfelder frei sind, dafür aber
rechts und links im Haubenfelde Degeneration auftritt. Sehr
deutlich sind auch hier wieder die schon beim ersten Falle her-
Fig. 7. Pyramidenkreuzuug, Fall II.
Fig. 8. Cervicalmark, Fall II.
vorgehobenen geisselförmigen Degenerationen zu sehen. Knapp
unter der Verletzung zeigen beide Pyraraidenfelder eine gleich-
massige diffuse Degeneration, nur ist bei der rechten am äusseren
Winkel der Pyramide eine geringere Anhäufung von Schollen
vorhanden.
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Dr. Josef Starlioger.
Die Läsionen in der Haubenbahn erzeugen absteigende
Degeneration, und zwar conform der Intensität der Läsionen
rechts stärker als links. Dieselbe Differenz besteht auch be¬
züglich der Regio motoria.
Analoge Verhältnisse zeigen auch die Schnitte aus der
Ereuzungsgegend. Hier confluiren die absteigenden Degene¬
rationen des motorischen und sensiblen Haubenfeldes und nehmen
den Vorderstrang und einen Theil des Seitenstranges ein. Dabei
hat es den Anschein, als ob sich die Fasern des motorischen
Feldes meist an dem Vorder- und die des sensiblen Degene¬
rationsfeldes meist an dem Seitenstrange halten. Von den
Pyramidenbündeln scheinen sich die medialen zuerst zur Kreuzung
anzuschicken und die lateralen den Schluss zu bilden. Dort, wo
bei der linken Pyramide noch ein deutlich ungekreuztes De¬
generationsfeld vorhanden ist, sind rechts schon fast alle De¬
generationszeichen verschwunden. Indessen ist aber immerhin
noch ein Theil vom Pyramidenfelde vorhanden, das jedoch
von Degenerationen vollkommen frei ist. Es ist dies jene
äussere nicht verletzte Partie, die gleich anfangs hervorgehoben
worden ist.
Im Cervicalmark persistiren dieselben Degenerationen wie
im Fall I, auch mit demselben Intensitätsunterschiede, wie er
bei Fall II ab und zu hervortritt. Der linke Pyramidenseiten¬
strang ist schon bedeutend gelichtet. Leider wurden weiter ab¬
wärts keine Schnitte mehr angelegt.
Fall HI. Mittelgrosser Hund, ausgewachsenes Thier.
5. Februar 1895. Operirt Mittags. Läuft schon am Nach¬
mittage ganz gut über die Stiegen hinab.
12. Februar. Am rechten Auge ein Ulcus com. Wundheilung
glatt. In Benehmen und Beweglichkeit ohne jede Besonderheit.
Sehr munter und lebhaften Wesens. Im Uebrigen gleich den
früheren Fällen.
4. März getödtet.
Die Section ergab in Olivenhöhe eine kleine Narbe an den Py¬
ramiden.
Die histologische Untersuchung ergab nur eine theil-
weise Durchtrennung beider Pyramiden. Gleichwohl führe ich
auch diesen Fall etwas weiter aus, weil er dessenungeachtet
eine gewisse Bedeutung hat.
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Di« Dnrchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
23
Vor allem ist zu erwähnen, dass die Läsionen nicht in eine
Schnittebene fallen. (Tafel II.)
Pig. 9. Unterhalb der Läsion, Pall III.
Fig. 10. Cervicalmark, Pall HI.
Auf der einen Seite (links) (Fig. 2, Tafel III) trifft die stich-
förmige Verletzung das äussere Drittel der Pyramide oberhalb
den Oliven und reicht in das Schleifenfeld hinein.
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Dr. Josef Starlinger.
Auf der anderen Seite (Fig. 1, Tafel III) ist die Pyramide
bis auf eine schmale mediale Zunge zerstört und nimmt einen
Theil der gleichseitigen Olive (diese Verletzung liegt tiefer) noch
mit. Die Olivenzwischenschicht ist hier nur geringgradig und nur
auf der einen Seite lädirt.
Degenerirt sind in diesen Ebenen ausser den quer getroffenen
Fasern längs getroffene Fasern in der Olivenzwischenschicht
und Fibr. arcuat. ext., letztere aber von der Unterbrechungsstelle
bloss lateralwärts gegen das Corp. restif. hin, nie gegen die
Medianlinie hin.
Fig. 11. Haisauschwellung, Fall HI.
An Schnitten unter der Läsion sieht man die rechte Pyramide
bis auf eine mediale schmale Zunge degenerirt, die linke dagegen
weist nur in der äusseren Hälfte spärliche Schollen auf.
In den seitlichen und hinteren Feldern um die Oliven
finden sich gleichfalls hier deutliche Degenerationen, die den
cerebralwärts gelegenen, höheren Läsionen entsprechen.
Das motorische Feld der Regio reticular. blieb in diesem
Falle ziemlich intact.
In der Höhe der Kreuzung der Pyramiden rücken die
Degenerationen um die Olive gegen den vorderen Vorderstrang
vor, während die hinteren Partien des Vorderstranges frei bleiben.
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Die Dnrchschneidung beider Pyramiden beim Hnnde.
25
Diese Vorderstrangsdegenerationen erschöpfen sich ziemlich
bald. Unter der Halsanschwellung sind sie kanm mehr nach¬
weisbar. Im Pyramidenseitenstrang setzt sich die Degene¬
ration mit derselben Differenz nach abwärts fort. Im linken
Pyramidenstrange ziemlich dicht, im rechten schon sehr schütter.
Aach in der Form des Degenerationsfeldes zeigt sich ein
Unterschied. Im rechten Pyramidenseitenstrange erschöpft sich
die Degeneration weit früher als im linken.
Fall IV. Ausgewachsener Hund von mittlerer Grösse.
5. März. Operirt.
15 Minuten nach Schluss der Wunde ging der Hund schon
herum. Freilich noch langsam und unter Schwanken des Hinter¬
körpers, aber er bewegte alle vier Füsse gleichmässig. Nach
circa zwei Stunden Bewegung schon völlig unauffällig, nur hält
er gern beim Stehen das linke Hinterbein angezogen, auch
hebt er beim Gehen dieses Bein meist höher als nöthig erscheint.
Mit den Vorderpfoten streift er gern am Boden. In den fol¬
genden Tagen krankte das Thier. Aeusserlich lässt sich hiefür
nichts auffinden. Das Gehen ist sichtlich erschwert, schleudernd,
das Thier zeigt eine gewisse Benommenheit, überkreuzt häufig
die Vorderbeine und entlastet das hintere linke. Die Sensibilität
scheint nachweislich nicht gestört.
14. März. Wunde per primam verheilt.
21. März. Zustand vorgeschritten gebessert. Der Hund
läuft flott und munter herum, springt, ohne auszugleiten, von
ganz ansehnlichen Höhen herab, reicht auf Geheiss die Pfoten.
25. März. Unterbindet man diesem Thiere eine hintere
Extremität, so vermag es sich anfangs mit dem einen Fuss nicht
recht aufrecht zu halten, sondern fällt um. Erst später erhält
er sich auch in dieser Form aufrecht und geht herum.
5. April. Getödtet.
Als nach zehn Tagen Härtung in Müll er'scher Flüssigkeit
die Medulla von ihren Häuten abgeschält wurde, präsentirte sich
die Läsion wie eine frisch gesetzte Verwundung mit scharfen
Bändern ohne alle Beaction. Sie sass ziemlich hoch, fast in
Höhe des Corp. trapez.
Fig. 4 (Tafel II) zeigt, dass auf der linken Seite die
Pyramiden vollständig, auf der rechten bis auf ein kleines
mediales Zäpfchen durchtrennt sind. Verletzt ist gleichzeitig
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Dr. Josef Starlinger.
auch beiderseits die dahinter liegende Schleife. Von Degeneration
ist ah diesem Schnitte ausser einer bandförmigen Schollen¬
anhäufung um die Läsion und Fibr. arcuat. im Schleifengebiete
nicht viel mehr zu sehen. Die Fibr. arcuat. ext. sind in der
Höhe weniger zahlreich, daher ihre Degeneration nur angedeutet.
An Präparaten gleich unter der Verletzung sieht man das
linke Pyramidenfeld gleichmässig und in toto von schwarzen
Pünktchen durchsetzt und das rechte bis auf ein kleines mediales
Dreieckchen davon erfüllt, aber eines ist auffällig. Während in
allen früheren Fällen so nahe unter der Verletzung jedesmal
die Degeneration sehr intensiv sich darstellte, ist hier zwar
auch die Durchsetzung mit schwarzen Pünktchen ganz gleich¬
mässig, aber weitaus spärlicher und feiner gekörnt, als bei dieser
ausgiebigen Läsion zu vermuthen wäre.
Eine Erklärung für diesen Befund ist nicht leicht einwands¬
frei zu liefern.
Das Thier lebte nach der Operation gerade so lange als
die übrigen. Es ist schwer anzunehmen, dass der Fortschritt
in der Degeneration demnach in diesem Falle ein so auffällig
anderer gewesen sein soll. Im Ausklingen kann der Degenerations-
process gewiss noch nicht gewesen sein, da dann an den Pyra¬
midensträngen eine atrophische Verschmälerung hätte bemerkt
werden müssen, wenn das Mark entsprechend den zahlreich durch¬
trennten Pyramidenfasern schon gänzlich resorbirt worden wäre.
Zudem lassen andere Färbungen (z. B. nach Pal) an Schnitten
aus fast derselben Höhe fast gar keinen Ausfall vonFasern erkennen.
Will man eine mangelhafte Imprägnirung annehmen, so
stösst sich dieses an der Thatsache, dass andere Faserzüge
desselben Schnittes (der Haube z. B.) wohl ausgeprägte Dege¬
nerationsbilder bieten. Und ich habe bei meinen Versuchen nie
gesehen, dass nach circa einem Monat die einzelnen Faserzüge
sich so verschieden verhalten würden. Ist ein Faserzug von
seinem Ernährungscentrum getrennt, so bietet er noch einen
Monat dasselbe intensive Bild von Degeneration, ob nun eine
solche nach auf- oder abwärts zu erfolgen pflegt.
Wie immer man diese Erscheinung finden mag, eine be¬
friedigende Erklärung wird sie kaum schaffen. Diese geringe
Degeneration gleich unmittelbar unter der sehr ausgiebigen
Degeneration wird immer auffällig bleiben.
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Die Dnrchscimeidung beider Pyramiden beim Hnnde.
27
Ich will einstweilen auf dieses Vorkommniss bei meinen
Versuchen nur hinweisen.
Die Pyramidendegeneration wird weiter . abwärts schnell
geringer und erschöpft sich im Brustmarke. Die Degeneration
um die Oliven herum setzt sich im Vorderstrange des Röcken-
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Dr. Josef Starlinger.
markes fort, reicht tiefer als die Pyramidendegeneration, aber
im Lendenmarke ist auch davon nichts sicheres nachweislich.
Deutlich treten in den Schnitten am distalen Pole der Oliven
Degenerationen der Fibrae arcuat. int. auf, die bis in die Hinter¬
strangskerne sich verfolgen lassen. Sie müssen also absteigend
degeneriren, da die Läsion weit höher sitzt, das scheint auf dem
ersten Blick für eine absteigende Schleifendegeneration zu
sprechen, aber aus Präparaten, wo die Hinterstrangskerne
zerstört worden sind, sieht man ebenfalls die aufsteigende
Degeneration nicht bloss auf Olivenzwischenschicht und Schleife
beschränkt, sondern auch die unmittelbar den Oliven hinten
benachbarten Felder von schwarzen Pünktchen durchsäet. Es
lässt sich somit hieraus nicht sicher entnehmen, ob diese degene-
rirten Fibr. arcuat. int. bei den Pyramidenverletzungen der
Schleife zuzuzählen sind oder nicht.
Fall V. Kleiner, junger Hund, ob schon ausgewachsen,
erscheint fraglich.
13. April. Operirt im Beisein der Herren Prof. Anton
(Graz) und Mayer (Innsbruck). Die Durchtrennung geschah
hier mit den schon eingangs beschriebenen kleinen Dechamps.
Nach zwei Stunden auch hier schon völlig anstandsloses
Herumlaufen.
26. April. Glatte Wundheilung. Das Thier von sehr munterem,
lebhaftem Wesen, vermag auch ganz allein auf den Hinter¬
beinen zu gehen.
28. April. Springt ziemlich hoch, wenn man ihm etwas Be-
gehrenswerthes vorhält. Trollt sich herum wie nichtoperirte Thiere.
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
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30. April. Getödtet.
Vordem aber noch in massiger Narkose Trepanirung in
der Gegend des rechten Gyrus sigmoideus und elektrische
Beizung dieser Gehirnpartie. Prompte Zuckungen im contra¬
lateralen Gebiete des Facialis, den vorderen und hinteren
Extremitäten.
Schliesslich konnte bei kräftiger Beizung ein epileptischer
Anfall ausgelöst werden.
Die Section ergab eine Verletzung oberhalb der grossen
Oliven.
Fig. 2 (Tafel IV) zeigt ein Präparat mitten durch die Läsion.
In demselben erscheinen beide Pyramiden bis auf ganz kleine
seitliche Dreiecke, ferner die nach hinten anschliessende Schleife
zerstört und finden sich ausserdem in der linken Begio motoria
mehrere entzündliche Herde. Um alle diese Herde zieht sich
ein Band von Degenerationsschollen. Von längsgetroffenen Fasern
zeigen Degenerationen zahlreiche Fibr. arcuat. int., Fasern in
der Baphe und Geisselfasern vom hinteren Längsbündel aus
(r.=l.). Unter der Narbe sieht man spärliche schwarze Pünktchen
in beiden Pyramidenfeldern, und zwar in den medianen Antheilen
stärker als in den lateralen und im linken motorischen Hauben¬
felde. Auch im rechten ist eine Spur zu sehen. Frei ist die
Olivenzwischenschicht, Schleife, Fibr. arcuat. int.
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Dr. Josef Starlinger.
Die Pyramidendegeneration reicht etwa bis zum oberen Brust¬
mark, erschöpft sich zu gleicher Zeit rechts und links. Die Degenera¬
tion des motorischen Feldes geht in den Vorderstrang über, reicht
Fig. 17. Oberes Brastmark, Fall Y. Fig. 18. Unteres Brnstmark, Fall V-
nach abwärts auch auf den Seitenstrang hinüber und verschwindet
erst im Lendenmarke.
Fall VI. Ausgewachsener Hund, mittelgrosses Thier.
2. Juli. Operirt. Pyramiden mit der kleinen Dechamps’schen
Nadel durchrissen. Unmittelbar nach der Operation ganz un¬
empfindlich. Das Thier rollt auf die linke Seite.
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Die Durchsclmeidung beider Pyramiden beim Hunde.
31
3. Juli. Bei Gehversuchen häufiges Ueberkugeln nach links.
Alle Bewegungen sehr ungeschickt, überkreuzt die Vorderbeine,
und zwar öfters links über rechts als umgekehrt. Beim Gehen
Aufsetzen des Pfotenrückens. Die Reflexe sind erhalten. Der
Hund liegt meist ruhig dahin. Stehen nur mit seitlich gespreizten
Füssen möglich.
4. Juli. Gang ä travers. Kopf nach links gehalten. Linke
vordere Extremität zeigt Bewegungsstörungen, wird übermässig
beim Gehen nach vorne geschleudert. Rollungen um die Längs-
axe nach links nur selten mehr. Bei Kneipen keine Abwehr¬
bewegungen.
5. Juli. Rollt sich nicht mehr. Ueberkreuzen der Beine
seltener. Empfindlichkeit besser.
6. Juli. Läuft gut, aber ä travers.
7. Juli. Streift noch mit den Krallen am Boden. Sensibilität
links besser.
8. Juli. Beim Herabsteigen über Stufen Ueberkugeln.
13. Juli. Beim Treppensteigen noch immer ungeschickt.
2. August. Getödtet. Zuvor folgender Befund:
Linkes vorderes Bein schwächer.
Beim Laufen häufiges Ueberkreuzen der Beine. Laufen nicht
gewöhnlich, mehr ein Hüpfen. Stiegensteigen erschwert, unsicher,
greift oft daneben, und hat er endlich mit beiden Vorderfüssen
eine Stufe erstiegen, hüpft er mit beiden Hinterfüssen zugleich
nach.
Die Section ergab eine ausgiebige Narbe in Olivenhöhe.
Fig. 1 (Tafel IV) zeigt einen Schnitt durch dieselbe. Danach sind
die Pyramiden beiderseits vollständig zerstört. Ausserdem aber ist
durch nachträgliche entzündliche Veränderung die Olivenzwischen¬
schicht, die motorische Haubenbahn einschliesslich des rechten
hinteren Längsbündels gleichfalls zum grössten Theile in den Zer-
störungsprocess einbezogen worden.
Um alle diese genannten Partien zieht sich eine bandförmige
Schollenanhäufung. Da linkerseits auch die Olive stark tangirt
ist, ist auch ihr laterales Feld dicht mit schwarzen Pünktchen
durchsetzt.
Die Fibrae arcuat. ext. und Fibrae arcuat. int. zeigen deutliche
Degenerationen, und zwar von letzteren sowohl die Anteriores,
als auch die Posteriores. Man kann ihren Verlauf von der Raphe
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Dr. Josef Starlinger.
weg genau bis zu den Hinterstrangskernen und zur Substant.
gelat. Rolandi hin ersehen.
Auch unterhalb der Verletzung ändert sich nicht viel an
diesen Degenerationsbildern. Ganz besonders deutlich treten die
Fibrae arcuat. ext. hervor, und sie lassen sich sehr schön durch
die Pyramiden hindurch zur Raphe hin verfolgen, wo sie dann
seitlich abbiegen. Ueber ihren weiteren Verlauf lässt sich aus
unseren Präparaten kein sicherer Anhalt gewinnen, weil sie
sich mit den Fibrae arcuat. int. so verwirren, dass sie einzeln
nicht mehr zu verfolgen sind. Doch steht der Ansicht nichts im
Wege, dass diese Fasern aus den Hinterstrangskernen kommen,
zum anderseitigen Corp. restif. und weiterhin zum Kleinhirn
gehen, also eine gekreuzte Verbindung von den Hinterstrangs¬
kernen zum Kleinhirn darstellen.
In der Höhe der Decussation treten im Allgemeinen wieder
in denselben Feldern Degenerationen auf wie in den früheren
Fällen. Die Büschel der Pyramiden sind dicht mit schwarzen
Pünktchen durchsäet, die Vorderstränge zeigen deutliche Schollen-
anhäufung und in der ganzen Ausdehnung der Hinterstrangs¬
kerne finden sich zahlreiche degenerirte Fibrae arcuat. int.
Die Pyramidendegeneration setzt sich im Cervicalmarke
intensiv fort und die Degenerationen in den Vordersträngen be¬
schränken sich meist auf die peripherischen Partien.
Aber auch in die Seitenstränge strahlen diese Degenerationen
schon hinüber, wie ein Kometenschweif sich verbreiternd.
In der Halsanschwellung runden sich die degenerirten Py¬
ramidenseitenstränge und drängen sich die Degenerationen im
Vorderseitenstrange noch mehr gegen die Peripherie. Ein Ver-
hältniss, das sich im ganzen Brustmarke nicht viel ändert, nur
dass zusehends die Degenerationen besonders im Pyramiden¬
seitenstrange abnehmen.
Im Lendenmarke unterscheiden sich die hinteren Abschnitte
der Seitenstränge in nichts mehr von den Feldern, die nie De¬
generation darboten, z. B. Hinterstränge.
Von absteigend degenerirten Pyramidenfasern ist also hier
nichts mehr zu sehen.
Dagegen sind in den Vorderseitensträngen in den peripheren
Partien noch immer deutlich die bekannten Schollen nach¬
weislich.
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
33
Fig. 19. Halsanschwellung, Fall VI.
Fig. 20. Brustmark, Fall VI.
Fig. 21. Lendenanschwellung, Fall VI.
Jahrbücher f. Psychiatrie and Neurologie. XV. Bd. 3
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34
Dr. Josef Starlinger.
Ich will zur besseren Uebersicht die bezüglich der Py¬
ramidenbahnen gefundenen Thatsachen in dem folgenden Schema
kurz zusammenfassen.
Fälle
Ort der Läsion
Zerstörung der
Pyramiden¬
stränge
Ausfalls¬
erscheinung
Ausdehnung der
Degeneration
I
—
in Olivenhöhe
rechts voll¬
ständig, links
vollständig
streift mit den
Krallen, sonst
ohne gröbere
Auffälligkeit
bis zur Lende
II
oberes Drittel der
Oliven und ober
denselben
rechts voll¬
ständig, links
zum Theile
in nichts auffällig
links schon im
Halsmark stark
gelichtet, rechts
noch deutlich
III
in Olivenhöhe
rechtszumTheile,
links zum Theile
dto.
erschöpft sich
unter dem Hals¬
mark
IV
in der Höhe des
Corpus trapez.
rechtszumTheile,
links vollständig
| Schwanken des
Hintertheiles,
wenn Fuss unter¬
bunden
links bis Hals¬
mark, rechts bis
oberes Brustmark
Y
oberhalb der
Oliven
rechts fast völlig,
links fast voll¬
ständig
in nichts auffällig
oberes Brustmark
i
VI
in Olivenhöhe
rechts voll¬
ständig, links
vollständig
ataktisch
bis zur Lende |
i
Ich habe gleich eingangs und bei der histologischen Unter¬
suchung neuerdings mir darauf hinzuweisen erlaubt, dass ich
glaube, dass das Degenerationsbild, wie es die Marchi-Methode
liefert, ein ziemlich verlässlicher Ausdruck ist für die geringere
oder grössere Menge der degenerirten Fasern. Die vorstehende
Tabelle liefert einen neuerlichen Beweis hiefür. Der Fall II
und IV zeigt genau den Läsionen entsprechende Differenzen in
der Imprägnirung. Derjenige Pyramidenstrang, der eine voll¬
ständigere Unterbrechung erfahren hat, weist auch in seinem
Verlaufe eine intensiv und extensiv stärkere Degeneration auf.
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Die Darchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
35
Die absteigende Degeneration der total durch trennten Py¬
ramiden brachte auch die Form ihres Querschnittes recht scharf
und deutlich zum Ausdrucke. Im Allgemeinen ist dieselbe in der
Medulla oblongata streng abgegrenzt. Von drei Seiten durch die
Form der Medulla bestimmt, erscheint sie nach hinten in einem
mehr weniger flachen Bogen ziemlich scharf von den dahinter¬
liegenden Gebilden gesondert. Ich habe nie ersehen, dass ver¬
sprengte Bündel existiren, oder dass das Pyramidenfeld etwa
zapfenförmig an der Baphe nach rückwärts ausladet.
In denjenigen Fällen, wo nur eine theilweise Zerstörung
stattfand, war ferner ersichtlich, dass die einzelnen Bündel unter
sich keine besondere Verflechtung oder Verlagerung eingehen,
sondern bis zur Kreuzung in derselben Lage verharren, Die
lateralen bleiben lateral, und die medialen medial. Nur verbreitert
sich nach unten hin das ursprüngliche Degenerationsfeld etwas,
indem die Schollen gegen die Peripherie mehr auseinänder-
weichen. Und in dem Sinne scheint allerdings eine gewisse Ver¬
flechtung stattzufinden. Aber es kommt nie so weit, dass etwa
die medialen zu den lateralen, oder die lateralen zu medialen
Bündeln werden. Auch bei der Kreuzung scheint stets der
Typus eingehalten zu werden, dass immer die medialen Partien
sich zuerst kreuzen.
Ich habe schon früher erwähnt, dass die Kreuzung sich
büschelförmig vollzieht. Nicht selten sieht man so ein Bündel
das ganze breite Grau durchsetzen und sich gleich ziemlich
weit in den Seitenstrang hineinbegeben, während die meisten
vorerst im Grau verweilen und erst allmählich von den nach¬
rückenden zur Seite gedrängt werden. Diese Büschel bleiben
anfangs unvermengt nebeneinander liegen, bilden im Allgemeinen
eine Dreiecksform und ganz allmählich rücken sie dicht zu¬
sammen und vermengen sich miteinander.
Im Halsmarke liegen die Schollen des Seitenstranges in völlig
kreisrunder Form derart beisammen, dass das Centrum deutlich
dichter besäet erscheint und die Schollen gegen die Peripherie hin
immer weiter auseinander rücken. Diese Rarificirung wird caudal-
wärts immer stärker. Besonders rasch vollzieht sie sich in der Hals¬
anschwellung, so dass oberflächlich geschätzt, für das Brustmark
kaum die Hälfte erübrigt. Im langen Brustmarke erschöpft sie sich
dann langsam ganz, so dass in meinen Fällen in keinem Falle im
3*
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36
Dr. Josef Starlinger.
Lendenmarke von Degeneration etwas zu ersehen war. In den
grauen Columnen des Bückenmarkes sah ich nie Degenerations¬
fäden.
Eine Verschmälerung des grauen Vorderhornes oder eine
Veränderung in den Vorderhornzellen, so weit Carminpräparate
Schlüsse gestatten, kann ich gleichfalls nicht namhaft machen.
Hier mag auch bemerkt werden, dass, obwohl makroskopisch
schon in den in Müll er'scher Flüssigkeit liegenden Stücken die
Degeneration der Pyramidenbahnen an dem weisslichen Stiche
specifischen Ausdruck fand, äusserlich niemals eine atrophische
Verkleinerung weder an den Pyramiden noch weiter abwärts
zu constatiren war. Die rundlichen Formen der Pyramiden
traten an den Präparaten der operirten Thiere gerade so scharf
hervor wie bei nicht operirten Thieren. Dieser Involutions-
process scheint also eine längere Zeit nöthig zu haben als ein
Monat der Lebensdauer, die wir unseren Versuchsthieren
gönnten. Nicht uninteressant ist an der vorliegenden Versuchs¬
weise die Art und Weise der secundären Zerstörungen.
Dieselben zeigen alle eine Tendenz, für die Gebiete nach
rückwärts von der Läsion, in Sonderheit der Eapbe entlang
sich auszubreiten. Es hängt dies offenbar mit der Gefässaus-
breitung zusammen. Es ist dies um so auffälliger, als hierdurch
oft von der ursprünglichen Läsion ganz entlegene Gebiete
tangirt werden können. So finden sich nicht selten Herde im
hinteren Längsbündel und selbst im Grau des vierten Ventrikels.
Dieser Befund überrascht umsomehr, da die Pyramiden ein
ganz entgegengesetztes Verhalten darbieten. Bei denselben
scheint niemals die ursprüngliche Läsion secundär eine Er¬
weiterung erfahren zu haben. An den Fällen, wo nur eine
partielle Läsion erzeugt wurde, schliesst die Narbe auch mit der
Degeneration völlig unvermittelt ab und selbst kleine Stränge
haben da ihre Vitalität bewahrt und gingen im Wundverlaufe
nicht unter.
Bei dem Studium über die absteigenden Pyramidenfasem
drängt sich unwillkürlich auch die Frage auf, was wird aus
den Pyramidenfasern, wo enden sie, welche Verbindungen
gehen sie ein? Darüber gibt die Degenerationsmethode keinen
Aufschluss. Auch nicht eine Vermuthung lässt sich irgendwie
stützen. Die Collateralen markiren sich niemals. Auch sah ich
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Oie Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
37
niemals vom degenerirten Seitenstrange einzelne Fäden irgend
wohin ausbiegen. Bei den lückenlosen Serien, bei einzelnen
Fällen durch das ganze Cerricalmark hätte dieses kaum ent¬
gehen können. Hält man dabei sich vor Augen, wie die Fibrae
arcuat. auch einzeln so scharf hervortreten und bis zum Flecht¬
werk der Gangliencentren schön sich verfolgen lassen, so muss
das einigermassen auffallen. Einfach blind wird die Faser nicht
enden und mit einem Schlage wird auch das degenerirende
Mark an der einzelnen Faser nicht aufhören.
Vielleicht erschöpfen die Collateralen die Nervenfaser all¬
mählich und geht auch damit eine Verdünnung des Markes Hand
in Hand. Die ungleiche Stärke der Nervenfasern, wie sie sich am
Querschnitte im Carminpräparate darbieten, würde dieser
Ansicht einige Wahrscheinlichkeit verleihen.
Ich habe beim Fall I auf scharf umschriebene degenerirte
Bündel hingewiesen, die aufwärts degeneriren.
Aehnliche aberrante Bündel mit Degenerationen finden sich
in dem oberen Cervicalmark auch absteigend. Man meint, so
ein Bündel, das Schnitt für Schnitt sich so deutlich hervorhebt,
wird einem nicht entgehen können. Allmählich aber werden die
schwarzen Scheibchen immer weniger, sie sind dann leicht
zählbar, etwa vier bis fünf. Nacheinander verschwinden auch
die, schliesslich bleibt nur mehr die Hülse des Bündels übrig,
aber nirgends und niemals war es möglich, ein degenerirtes
Fädchen daran abbiegen zu sehen.
Das ist nur möglich, wenn die Faser ihr Mark verliert,
d. h. aufhört, eine selbstständige Nervenfaser zu sein.
Eine andere Erklärung ist kaum zulässig, denn man sieht
andererseits, wie das degenerirte glossopharyngeo Vagusbündel
ein schönes Beispiel hiefür liefert, dass sich bei Serienschnitten
jedes schwarze Pünktchen als austretender Degenerationsfaden
verfolgen lässt.
Bezüglich der übrigen Degenerationen möchte ich nur
erwähnen, dass das hintere Längsbündel sich keineswegs caudal
mit den Hirnnerven erschöpft, sondern sicher über die Hals¬
anschwellung noch hinunterreicht. Hierzu lehren die Präparate
noch weiter, dass sich die Fasern des hinteren Längsbündels
vorwiegend in den der vorderen Commissur dicht anliegenden
Partien des Vorderstranges halten. Das hintere Längsbündel dege-
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38
Dr. Josef Starlinger.
nerirt vorwiegend nach abwärts, aber auch nach aufwärts, Dasselbe
gilt im Grossen und Ganzen von den Fasern des mittleren motori¬
schen Feldes, der Vorderstrangtheile der Formotio retical. Flech¬
sig’s. Nur reichen diese weiter hinunter, breiten sich abwärts
immer mehr aus und ihre Degenerationen sind noch in der Cauda
deutlich zu sehen. Nach aufwärts degenerirt nur der geringere
Theil davon und der nähert sich immer mehr dem Felde des
hinteren Längsbündels, bis er schliesslich ganz in dasselbe
übergeht und sich allmählich erschöpft.
Die Degeneration der Schleife konnte ich überall bis weit
in den Thalamus hinein deutlich verfolgen.
Näheres hierüber in einer späteren Arbeit und in Zusam¬
menhang mit anderen Experimenten.
An der früheren Uebersichtstabelle ist kenntlich, dass
die Pyramiden in allen möglichen Combinationen lädirt sind.
Es sind beide Pyramidenbahnen vollständig, es ist nur die
eine vollständig, die andere nur theilweise und es sind endlich
beide nur theilweise unterbrochen. Vergleicht man hiermit die
Ausfallserscheinungen, so ist man füglich erstaunt, dass dieselben
keine relativen Differenzen aufweisen.
Alle Hunde fangen bald nach der Operation, oft schon nach
einer halben Stunde zu gehen an. Nur der letzte Fall macht
hiervon eine begreifliche Ausnahme wegen des secundären
Uebergreifens der Läsion fast auf das gesammte mittlere
Haubenfeld.
Alle Hunde erreichen nach Ablauf der Wundheilung ihr
fast uneingeschränktes Bewegungsvermögen. Nur der letzte
wieder zeigte dauernde Störungen.
Sie springen auf Commando auf Sessel und Tische und
wieder herunter, ohne auszugleiten oder hinzufallen. Sie ver¬
fahren dabei mit einer sichtlichen Ueberlegung, benützen als
Zwischenstufe Sessel oder Schemel, benützen aber andererseits
keines von beiden, wenn sie schnell einem begehrten Gegen¬
stände nachjagen wollen. Schon bald nach der Operation voll¬
führen sie schwierigere Gangarten, wie Stiegensteigen, zeigen
dabei vollkommen zweckmässige, ja geradezu vorsichtige
Bewegungen der Extremitäten. Gerade dieses Stufensteigen
macht so den Eindruck des Ueberlegten, Gewollten und unter¬
scheidet sich recht augenfällig vom Gange in der Ebene, der
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
39
ganz automatisch sich vollzieht. Bei diesem trägt er den
Kopf in der Höhe, vielleicht schnappend nach einem Lecker¬
bissen, wenn man ihm eben einen solchen vorhält, während er
beim Stufensteigen späht und abwägt, voll Aufmerksamkeit für
die schwierige Passage. Im Zimmer sucht und balgt er sich
herum, umgreift seinen Gegner mit beiden Vorderfüssen und
macht gegen denselben ganz handliche Abwehrbewegungen.
Eine motorische Schwäche tritt im Allgemeinen dabei wenig
hervor. Der operirte Hund hält sich auf drei Beinen aufrecht,
wenn ihm eines unterbunden wird, gleichviel welches. Die
Schnellkraft der Hinterfüsse scheint nicht wesentlich beeinflusst,
wenigstens nicht mehr einige Zeit nach der Operation, Rigidität
oder Steifheit bei passiven Bewegungen, so weit bei Thieren dies
überhaupt objectiv prüfbar ist, ebenso eine Veränderung in den
Sehnenreflexen trat niemals auf. Mit einem Worte, die Unter¬
brechung der Pyramidenleitung kann beim Hunde ohne alle
gröbere Ausfallserscheinungen geschehen. Leider waren die
operirten Thiere ohne alle Dressur. Nur einer konnte die Pfote
reichen und dieser behielt dieselbe Fertigkeit auch nach der
Operation. An den operirten Thieren wurde keine Dressur mehr
versucht. In der ersten Zeit war eine solche wegen des Wund-
heilungsprocesses unthunlich und für die Folge war die Zeit
zu kurz, von einer solchen Erfolg zu erwarten; zu befürchten
stand, dass mit dem Hinausschieben der Tödtung die Präparate
für die Marchi-Untersuchung an Werth verlieren könnten.
Ausserdem war es wünschenswert!^ des Vergleiches wegen für
alle Hunde dieselbe Lebensdauer von circa einem Monat zur
Basis zu haben.
Was für Aufschlüsse über die Function der Pyramiden
beim Hunde geben nun meine Durchschneidungsversuche? Es
kann nur das eine gesagt werden, dass man nach dem Resultate
der Versuche nicht angeben kann, welches die Function der
Pyramiden ist; denn es wurden bei den operirten Thieren keine
Ausfallserscheinungen beobachtet, die man auf das Fehlen der
Pyramidenfunction hätte beziehen können. Von besonderem
Interesse ist der Umstand, dass in einigen Fällen die Thiere
wieder sehr rasch ihre volle Beweglichkeit erreichten; und wenn
das in anderen Fällen nicht ebenso rasch der Fall war, so
berechtigt das gegenüber den ersten Fällen umsoweniger zu
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40
Dr. Josef Starlinger.
dem Schlüsse, dass diese anfänglichen Bewegungsstörungen auf
Rechnung der Pyramidendurchschneidung zu setzen wären, als
ja meist noch mehr oder weniger ausgedehnte secundäre Läsionen
in der Medulla oblongata vorhanden waren.
Man kann also mit Bestimmtheit sagen, dass die motorische
Innervation für die Locomotion (Gehen, Laufen, Stiegensteigen,
Springen, sich auf die Hinterbeine erheben), sowie für das
Haschen nach Nahrung, das Ergreifen mit den Vorderpfoten
u. dgl., beim Hunde nicht durch die Pyramiden allein geht.
Man kann ferner auch mit Rücksicht auf das Ergebniss
des Versuches V sagen, dass die Innervation jener Bewegungen
und Krämpfe, welche durch elektrische Reizung der Hirnrinde
hervorgerufen werden, nicht ausschliesslich durch die Pyra¬
miden geht.
Auffallend ist noch ein Umstand: das Fehlen der spastischen
Erscheinungen nach Durchschneidung der Pyramiden. Bei
keinem meiner Hunde wurde etwas ähnliches wie Contractur
oder Steifigkeit in den Extremitäten beobachtet; bei keinem
auch fand sich eine Steigerung der Sehnenreflexe.
Es war das oben angeführte Resultat der Versuche, wie
ich schon in meiner vorläufigen Mittheilung dargelegt habe, bis
zu einem gewissen Grade a priori zu erwarten. Goltz hat schon
gezeigt, dass ein Hund, dem man die motorische Zone der
Hirnrinde beiderseits exstirpirt hat, ja dass ein Hund, dem man
den allergrössten Theil der Hirnrinde entfernt hat, noch ein
beträchtliches Mass von motorischen Leistungen aufbringt.
Es ist aber immerhin noch ein bedeutender Unterschied
zwischen einem Hunde mit durchschnittenen Pyramiden und
einem Hunde mit Exstirpation beider motorischen Zonen. Die
Bewegungsstörungen des ersteren sind geringer nach Intensität
und Dauer. Was ersteres anbelangt, zeigt ja ein Hund mit
Exstirpation beider, motorischen Zonen anfangs Lähmungs¬
erscheinungen, die beim Hunde mit durchschnittenen Pyramiden
von Anfang an fehlen, da derselbe ja in manchen Fällen sofort
nach der Operation herumzugehen und Treppen zu steigen im
Stande ist. Aus dieser Differenz im motorischen Verhalten des
pyramidenlosen und des rindenlosen Hundes ergibt sich, dass
beim Hunde von der Hirnrinde noch eine zweite motorische
Bahn ausgehen muss, welche nicht durch die Pyramiden führt.
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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde.
41
Zu demselben Postulate gelangt man auch bei Berücksichtigung
der Reizversuche; wenn die elektrische Reizung der Hirnrinde
nach Durchschneidung der Pyramiden noch einen motorischen
Effect hat, dann muss in der Medulla oblongata ausser den
Pyramiden noch eine zweite motorische Bahn vorhanden sein,
welche direct oder indirect in der Hirnrinde entspringt. Ueber
Verlauf und Verbindungen dieser Bahn wissen wir allerdings
noch nichts.
Es ist wohl klar, dass man sich hüten muss, diese Resultate
des Thierexperimentes ohneweiters auf den Menschen zu über¬
tragen. Dass die Pyramiden beim Menschen eine viel wichtigere
Rolle spielen als beim Hunde, dafür spricht schon ihre viel
mächtigere Entwickelung.
Es wäre wichtig, das Experiment am Affen zu wiederholen,
der ja im Bau und, wie die Exstirpationsversuche an der Hirn¬
rinde gezeigt haben, auch in der Function des Gehirnes dem
Menschen näher steht als der Hund. Ich hatte bis jetzt keine
Gelegenheit, die Durchschneidung der Pyramiden beim Affen
vorzunehmen, und nach einem Vorversuche, den ich unternommen
habe, scheint es wohl, dass diese Operation beim Affen viel
grössere, vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten
dürfte.
Jedenfalls müssen aber diese Versuche dazu auffordern, die
Grundlagen der herrschenden Lehre über die Function der Py¬
ramiden beim Menschen einer erneuerten Prüfung zu unterziehen.
Es werden dabei nur solche Fälle in Betracht gezogen
werden können, in denen auf die Pyramiden der Oblongata be¬
schränkte Erkrankungen vorliegen. Denn ich habe nachgewiesen,
dass eine zweite corticomusculäre Bahn (die wir uns wahr¬
scheinlich als eine indirecte denken müssen) existirt; über
den Verlauf dieser Bahn und die Beziehungen derselben zur
Pyramidenbahn wissen wir jedoch nichts. Es wird also bei
Herden in der Oblongata, die nicht bloss auf die Pyramiden be¬
schränkt sind, immer das Bedenken geltend zu machen sein,
dass die beobachteten Ausfallserscheinungen ganz oder theil-
weise auf Rechnung einer Leitungsstörung in der zweiten
corticomusculären Bahn zu setzen seien.
Derselbe Einwand wird auch zu machen sein in Fällen,
wo die Pyramidenbahn an einer anderen Stelle ihres Verlaufes
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42
Dr. Joset Starlinger.
eine Läsion erlitten bat, umsomehr, als die Pyramidenbahn an
anderen Stellen gar nicht scharf von anderen Faserzügen ge¬
trennt ist.
Zum Schlüsse gereicht es mir zur angenehmen Pflicht, Herrn
Professor v. Wagner, meinem ehemaligen Chef, für seine warme
Förderung und Unterstützung meinen aufrichtigen und ergebenen
Dank auszudrücken.
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Zur Kenntuiss der Rayuaud'schen Krankheit.
(Aus der III. medicinischen Universitätsklinik [Prof. v. Schrötter] in Wien.)
Von
Dr. Adolf Calmann aus Hamburg,
Hospitanten der Klinik.
Als Raynaud seine grundlegende Arbeit über das Krank¬
heitsbild veröffentlichte, das in seiner Gesammtheit seitdem nach
ihm benannt wird, sprach er seine Ansicht dahin aus, dass diese
Erscheinungen nur auf eine Erkrankung des Nervensystems
zurückzuführen seien, und zwar glaubte er, den Sitz derselben
in das Rückenmark verlegen zu dürfen. Schon damals hatte er
Gelegenheit, von den bisher beobachteten Fällen des von ihm
charakterisirten Symptomencomplexes eine Anzahl auszuschalten,
die sich an irgend eine constitutioneile Krankheit, gewöhnlich
eine Affection der Nieren oder des Circulationsapparates, ange¬
schlossen hatten. Um so seltsamer ist es, dass noch in der
allerneuesten Zeit Erkrankungen als Raynaud’sche Fälle ver¬
öffentlicht werden, die auf die Läsion irgend eines nicht nervösen
Organes zurückzuführen sind. Sehen wir jedoch hiervon ab, so
sind fast alle neueren Autoren sich darüber einig, die Raynaud-
sche Krankheit als eine nervöse Erkrankung an und für sich
oder als Symptom derselben aufzutässen.
Nur sind im Laufe der Zeit die Grenzen für eine Locali-
sation der Krankheitsursache weiter gesteckt worden, indem
man den peripherischen Nerven in der Aetiologie der Raynaud-
schen Affection eine Rolle zuertheilte und andererseits von
einer anatomischen Ursache des Leidens absah und dasselbe
als eine rein functioneile Erkrankung, als eine Neurose, aufgefasst
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44
Dr. Adolf Calmann.
wissen wollte. Zuerst Mounstein, 4 ) nach ihm Pitres und
Vaillard 2 ) fanden in drei Fällen im Ganzen, die durch Ob-
duction klargestellt worden waren, eine schwere degenerative
Neuritis in den erkrankten Organen; in dem einen Falle der
letztgenannten Autoren fand sich jedoch noch ausser derselben
eine leichte diffuse Sklerose in der Dorsal- und Lumbalgegend
des Bückenmarkes. Eine Ergänzung zu diesen Befunden bietet
die Beobachtung Aff leck’s, 3 ) der an dem amputirten Fusse
einer an symmetrischer Gangrän erkrankten Person eine fast
völlige Zerstörung des N. plantaris durch Neuritis feststellen
konnte. Die Auffassung dieser vier Autoren, dass die Läsion
der Nerven den Eaynaud’schen Symptomcomplex hervorrufen
könne, begegnete bald einem entschiedenen Widerspruche.
Dehio, 4 ) der ebenfalls Gelegenheit hatte, an dem amputirten
Unterschenkel einer an symmetrischer Gangrän erkrankten
Frau degenerative Veränderungen der Nerven zu studiren,
trat mit Nachdruck dafür ein, diese Schädigung der Nerven
als eine Folge der Gangrän und der mit ihr einhergehenden
Ernährungsstörungen des Organes aufzufassen. Da er nunmehr
eine Ursache der Erkrankung in seinem Falle nicht nachweisen
konnte, schliesst er sich der Gruppe derjenigen an, die in der
Baynaud’schen Krankheit ein Leiden rein neurotischen
Ursprunges sehen.
Diejenigen, welche nun für alle Baynaud’schen Fälle ein
immaterielles Leiden nervöser Natur annehmen, schiessen doch
wohl über das Ziel hinaus. Einer derartig einseitigen Anschauung
stehen eine nicht unbeträchtliche Zahl von Beobachtungen
gegenüber, die als Ursache der localen Asphyxie und ihrer
Folgezustände einen anatomisch ausgebildeten Krankheitsprocess
in vivo oder durch Obduction nachwiesen. Mit noch viel
grösserem Gewichte spricht dagegen ferner der Umstand, dass
in sämmtlichen bisher zur Obduction gelangten Fällen, so weit
ich aus meiner Umschau in der Literatur schliessen darf, nicht
ein einzigesmal eine organische Erkrankung des Nervensystems
Ueber spontane Gangrän und Infarcte. Inauguraldissertation. Strass¬
burg 1884.
2 ) Archiv de Physiologie 1885, Serie III, ßd. V.
3 ) British, Medical Journal December 8. 1888.
4 ) Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 1898.
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Zur Kenntnis der Raynaud’schen Krankheit.
45
ausgeschlossen werden konnte. Zn den oben berichteten drei
Fällen, von denen allerdings zwei nach der Auffassung Dehio’s
und derjenigen, welche diese theilen, für diese Frage nicht in
Betracht kommen, sind noch folgende hinzuzufügen.
Als vierter der Fall Hochenegg’s,') dessen Ursache
Syringomyelie war. Den fünften verdanken wir Fagge, 2 ) der
als Ursache einer symmetrischen Gangrän bei einer 26 jährigen
Dame einen Mediastinaltumor fand, welcher vor der Wirbelsäule
den ersten Dorsalnerven und den Stamm des Splanchnicus um¬
wachsen hatte. Hierzu kommt als sechster der Fall von Tabes
dorsualis, verbunden mit acuter Neuritis beider Peronei, bei dem
Kornfeld 3 ) einen ausgesprochenen Eaynaud’schen Symptomen-
complex beobachtet hatte. — Als siebenter Fall gehört hierher
die Beobachtung von Hubertus Bervoets: 4 ) Eine Potatrix
mit Dementia und Erscheinungen von Erweichung in der linken
Gehirnhemisphäre erkrankt an symmetrischer Gangrän der Zehen.
Die Autopsie ergibt Erweichung in der linken Grosshirnhemi¬
sphäre und ausgebreitete Arteriitis, Apicitis, Entartung des
Nervus tibialis posticus und des Nervus collateralis der grossen
Zehen beiderseits. Arteriitis der A. A. fibrales posticae.
Allerdings könnte in diesem Falle die Arteriosklerose
einerseits die Herderkrankungen im Grosshirn, andererseits die
symmetrische Gangrän mit secundär entstehender Neuritis
erzeugt haben; aber Bervoets selbst wies durch Thierexperi¬
mente nach, dass eine Zerstörung der Nerven eine Erkrankung
der Arterienwände im Gefolge habe, die dann nach seiner An¬
sicht die unmittelbare Ursache der symmetrischen Gangrän
würde. Danach könnten wir in seinem Falle die Degeneration
der Nerven als Grundursache der Raynaud’schen Symptome
anerkennen und seine Zugehörigkeit zu dieser Zusammenstellung
zugeben.
Mit grosser Vorsicht wäre der Fall von Warfvinge 5 ) zu
verwerthen, bei dem der Krankheitsverlauf und Obductions-
0 Wiener Medicinische Jahrbücher 1885, S. 569.
*) Siehe Thiersch, Ein Fall von symmetrischer Gangrän der Extremitäten.
Münchener Med. Wochenschrift 1895, S. 1120.
3 ) Wiener Medicinische Presse 1892, Nr. 50, 51.
4 ) Siehe ßeferat in Neurologischen Centralblatt 1895, Nr. 10.
5 ) Siehe ßeferat, Schmidt’s Jahrbücher 1890, Nr. 228, S. 118.
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46
Dr. Adolf Calmaun.
befund für eine schwere Infectionskrankheit, complicirt durch
locale Asphyxie, sprach, in dem sich ferner nur makroskopische
Veränderungen der Nervencentra ergaben, die die mikroskopische
Untersuchung nicht bestätigte.
Ganz auszuschliessen ist dagegen die Beobachtung
Thiersch’s, der in einem Falle von symmetrischer Gangrän
eine Arteriosklerose bei der Section fand, dieselbe als Ursache
der vasomotorischen Störungen anerkannte, diese aber dennoch
als ßaynaud’sche Krankheit bezeichnet.
So sehr diese Leichenbefunde, wie gesagt, zu Gunsten der
Annahme einer anatomisch nachweisbaren Ursache der sym
metrischen Gangrän sprechen, müssen wir doch ebenfalls die
Auffassung derselben als einer reinen Neurose gelten lassen.
Wir müssten sonst die verhältnissmässig grosse Zahl von
Beobachtungen an Lebenden unberücksichtigt lassen, in denen
die genaueste Untersuchung sämmtlicher Organe mit allen
Hilfsmitteln unserer modernen Diagnostik den Nachweis einer
organischen Veränderung nicht erbringen konnte; und anzu¬
nehmen, dass in allen diesen Fällen eine bestehende anatomische
Läsion irgend eines Organes nicht erkannt worden sei, hiesse
doch an dem Werthe unserer Diagnostik verzweifeln!
Um aber diese Frage, die zum grössten Theile noch rein
theoretischen Erwägungen unterworfen ist, auf das Niveau un¬
anfechtbarer Thatsachen zu bringen und durch diese eine
definitive Lösung derselben zu erzielen, stehen uns zwei gleich¬
zeitig zu verfolgende Wege offen: das Thierexperiment und die
Statistik.
Das erste hätte die Aufgabe, nachzuweisen, dass durch
Verletzung der peripherischen Nerven oder des Centralnerven¬
systems der Eaynaud’sche Symptomencomplex erzeugt werden
könne. In dieser Richtung war, wie ich oben bereits angedeutet
habe, der Versuch von Bervoets 2 ) von Erfolg: die Durch¬
schneidung des Ischiadicus bewirkte eine bedeutende Veränderung
in den Arterien, Verdickung der Arterien Wandung auf* Kosten
des Lumens, Atrophie der peripherisch gelegenen Muskelzellen,
*) Münchener Med. Wochenschrift, 26. November 1895, cf. 7.
2 l L. c. Ich musste mich wegen Unkenntniss des Holländischen mit den
Notizen des Referates begnügen.
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Zar Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit.
47
Vermehrung der central gelegenen Muskelzellen der Media bis
zum Durchbruche durch die Membrana elastica, wodurch auch
ein Aneurysma entstehen kann. An den betreffenden Extremitäten
hatte sich eine Gangrän entwickelt, für dießervoets als unmittelbare
Ursache die Erkrankung der Arterien verantwortlich macht. —
Auf diese Weise wäre jedoch nur der Nachweis zu erbringen,
dass die Raynaud’sche Krankheit der Folgezustand einer
organischen Erkrankung des Nervenapparates sei; als reine
functionelle Neurose kann sie dadurch weder erkannt noch aus¬
geschlossen werden. Hier hätte nun die Statistik einzugreifen,
die durch eine möglichst grosse Zahl gründlicher und kritischer
Beobachtungen, womöglich ergänzt durch Obductionsbefunde,
eine entscheidende Aufklärung verschaffen könnte. Ergibt diese
immer wieder eine organische Erkrankung des Nervensystems
als Grundlage der symmetrischen Gangrän, so müssten wir
schliesslich davon absehen, sie als eine Neurose zu betrachten,
während umgekehrt ein einziger negativer Sectionsbefund
genügen würde, um ein- für allemal die Möglichkeit einer im¬
materiellen Grundlage der Raynaud’schen Krankheit festzu¬
stellen.
Von diesem Gesichtspunkte aus erlaube ich mir eine Reihe
von einschlägigen Fällen, darunter einen mit Obductionsbefund,
zu veröffentlichen; ich halte mich umsomehr für berechtigt
dazu, als sämmtliche Fälle durch eine Reihe von höchst selten
beobachteten Symptomen und Complicationen ausgezeichnet sind.
Fall I.') Compression des Rückenmarkes im Lendentheile durch
einen Tumor. Raynaud’sche Krankheit, Erythromelalgie.
Jacob F., 24jähriger Taglöhner, aufgenommen in die III. medicinische Klinik
im August 1893, hat seit einem Jahre Kreuzschmerzen, Schmerzen und Schwäche in
den Beinen. Seit drei Monaten bestehen Sensibilitätsstörungen objectiver Natur in den
Beinen. Die vasomotorischen Störungen hat der Kranke erst vor einigen Monaten be¬
merkt. Die Untersuchung ergibt Folgendes: Blasen- und Mastdarmstörungen mit
unwillkürlichem Abgang von Urin und Stuhl. Lähmung und hochgradige Atrophie
der Extensoren der unteren Extremitäten. Keine Oontracturen. Sensibilitätsstörungen,
und zwar Abnahme der Sensibilität an beiden unteren Extremitäten, von der
Peripherie gegen das Gentrum zu an Intensität abnehmend. Oberhalb des
■) Dieser Fall wird von Herrn Docenten Dr. Schlesinger wegen besonders
-interessanter Erscheinungen ausführlich bearbeitet werden. Aus seiner Kranken¬
geschichte sind daher nur die Daten angeführt, die für diese Arbeit von
• Werth sind.
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48
Dr. Adolf Calmann.
Kniegelenkes keine Sensibilitätsstörungen. Die Sensibilitätsstörungeil sind für
alle Qualitäten gleich. Patellarreflexe erloschen.
Während des ganzen Spitalaufenthaltes traten fortwährend vasomotorische
Phänomene auf. Einmal waren beide Füsse stark geschwollen, ohne dass im
Harn Eiweiss oder Formelemente nachweisbar gewesen wären, oder dass sonst
Erscheinungen von Herzschwäche aufgetreten wären. Dieses Oedem war sehr
transitorisch, blieb manchmal nur durch einige Stunden, um plötzlich wieder
zu verschwinden, trat dann wiederum auf, um längere oder kürzere Zeit zu
persistiren.
Abwechselnd mit diesen Phänomenen trat noch der Symptomencomplex der
Raynaud’schen Affection, und zwar nur an den unteren Extremitäten auf, an den
oberen Extremitäten wurden nicht ein einzigesmal derartige Erscheinungen
beobachtet. Zuerst trat Erblassen der Füsse, insbesondere der Zehen auf, dann
folgte eine äusserst intensive Blaufärbung der Füsse. Die letzteren Attaquen
wiederholten sich zwei« bis dreimal in der Woche und dauerten immer durch
mehrere Stunden an. Bis zum 7. Februar waren dies die einzigen Erscheinungen;
an diesem Tage trat nach einer derartigen Attaque beiderseits vollkommen
symmetrisch am Fussrücken ein über Gulden grosser gangränärer Fleck an der
Haut auf. In den nächsten Tagen wiederholte sich der Anfall, und es trat
wiederum symmetrische Gangrän auf, welche sich besonders an der Endphalange
der grossen Zehe und an der kleinen Zehe localisirte. (Bettdruck konnte nicht
die Ursache dieser Erscheinungen sein, da die Bettdecke auf Reifen lag.)
Ausser diesen Störungen bestand noch in den ersten Monaten des Spitalauf¬
enthaltes der typische Symptomencomplex der Erythromelalgie.
Der Kranke ging schliesslich an Pneumonie zugrunde. In der letzten
Zeit hatte sich eine Cystitis entwickelt, erst im Verlaufe der letzten 14 Tage hatte
sieh Eiweiss und Oylinder im Harn gezeigt, wovon früher trotz häufiger Unter¬
suchung nichts nachgewiesen werden konnte.
Obductionsbefund: Tumor ausgehend von den Nervenwurzeln des
III. und IV. Lumbalnerven, welcher zu einer hochgradigen Compression des
Rückenmarkes geführt hatte. Der Tumor war 7*5 Centimeter lang, 15 Centimeter
dick. Die von Herrn Docenten Dr. Schlesinger vorgenommene histologische
Untersuchung ergab ein kleinzelliges Sarkom. Die Untersuchung der peri¬
pherischen Nerven ergab eine mässige Degeneration, entsprechend der Schwere
der Rückenmarksveränderung. Die Gefässe waren durchgängig, die Wände bei
der histologischen Untersuchung nur unwesentlich verändert.
Fall II. Compression des Lendenmarkes und der Cauda equinea;
Raynaud’sche Krankheit. Rosa K., 18 Jahre alt, Schulkind. (In Beobachtung
Sommer 1893.) Keine Nervenkrankheiten in der Familie. Pat. hat in den letzten
Jahren keine Infectionskrankheiten, speciell keine Diphtherie durchgemacht.
Seit zwei Jahren hat Pat. Urinbeschwerden, der Urin geht häufig von
selbst ab. Seit eineinhalb Jahren treten Parästhesien in beiden Beinen auf,
sowie Gürtelgefühl. Seit derselben Zeit klagt sie über Schmerzen in den Füssen,
ferner über Schwäche am rechten Fusse. In den letzten Wochen vor ihrer Vor¬
stellung in der III. medicinischen Klinik in Wien stellten sich starke vaso¬
motorische Störungen an den Füssen ein, seit acht Tagen Schmerzen im Knie.
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Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit.
49
Status praesens: Pupillen reagiren gut, beiderseits gleichweit, kein Doppelt¬
sehen. Cornealreflexe prompt, Augenhintergrund normal.
Im Gesicht keine Sensibilitätsstörungen, für alle Qualitäten geprüft. Das¬
selbe ist an den oberen Extremitäten der Fall, an diesen die grobe Kraft unge-
sehwächt; Muskulatur nicht atrophisch. Im unteren Brustsegment der Wirbel¬
säule eine bogenförmige Kyphose; starke Lordose der Lendenwirbelsäule (bei
wiederholter Untersuchung ergeben sich keine Zeichen von Tuberculose). Die
Wirbelsäule auf Druck und plötzliche Belastung nicht empfindlich. Leichte
Berührung am Oberschenkel nicht erkannt, Nadelstiche werden meistens gefühlt.
Temperatureindrücke besonders links schlecht empfunden. Am Unterschenkel
Hypalgesie vom Knie nach abwärts, stärker an der Aussen- als an der Innenseite.
An den Füssen starke Hyperästhesie; selbst tiefe Einstiche werden gar nicht
empfunden. An den Fusssohlen der Kitzelreflex rechts und links ganz erloschen;
selbst überall dort, wo Berührung vom Kniegelenk abwärts empfunden wird, ist
die Schmerzempfindung stark herabgesetzt. An beiden Unterschenkeln, besonders
an der Aussenseite grosse Temperaturunterschiede nur manchmal erkannt. Füsse
völlig thermoanästhetisch. Passive Bewegungen der Zehen rechts nicht erkannt.
Dieselben Störungen bestehen in beiden Sprunggelenken, im Kniegelenke und
auch im Hüftgelenke.
In einem Dreieck, dessen Basis oberhalb der Analöffnung liegt, das rechts
und links an der Innenseite des Oberschenkels bis zur Mitte nach abwärts geht,
ist das Gefühl für Schmerz und Temperaturempfindung erloschen. Analreflexe
sind nicht vorhanden.
Active Streckung in den Kniegelenken gut ausführbar; nach deren Beugung
ist jedoch die Kraft im rechten Bein herabgesetzt. Im Sprunggelenke werden
Bewegungen mit genügender Kraft ausgeführt.
Der Gang ist höchst unsicher, die Beine werden nach aussen geschleudert,
bei raschem Umdrehen starkes Schwanken.
Romberg’sches Phänomen ausserordentlich deutlich. Patellarreflexe erloschen.
In den atrophischen Muskeln erhebliche Herabsetzung der faradischen
und galvanischen Erregbarkeit, jedoch sind alle Muskeln sowohl direct als auch
vom Nerven aus erregbar. Durchwegs prävalirt die Kathodenschliessung. Die
Zuckungen erfolgen blitzartig, keine E. R.
Die vasomotorischen Störungen begannen an den Füssen, die unter allen
möglichen Bedingungen blau wurden. Während der Beobachtung der Patientin
zeigten sie sich folgendermassen:
An den Beinen, und zwar an den Füssen am stärksten ausgesprochen, war
bald eine auffallende Schwellung mit Oedem des Fussrückens, bald eine auf¬
fallend livide Färbung ohne Oedem zu beobachten. Diese Verfärbung und das
Oedem wurden niemals gleichzeitig beobachtet. Die livide Verfärbung, welche
manchmal ein ganz dunkelblaues Colorit zeigte, trat immer erst nach einem
Stadium auf, in welchem beide Füsse auffallend weiss waren. Dieser Zustand
hielt in der Regel durch einige Minuten, selten länger als eine Viertelstunde
an, und dann trat erst die Blaufärbung ein, welche durch Stunden persistirte.
Dann war durch längere Zeit, manchmal Tage lang, kein Anfall zu constatiren.
In dieser Weise verblieben die vasomotorischen Störungen in stetem Wechsel
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 4
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50
Dr. Adolf Calmann.
mit normalem Verhalten der Haut während einer mehrmonatliehen Behandlungs¬
dauer. Sie waren stets unabhängig von der Temperatur, da die locale Asphyxie
sowohl in der Kälte als auch im warmen Zimmer auftrat.
Allmählich wurde das Gehen immer schwieriger, die Blasenstörungen traten
immer mehr in den Vordergrund, die livide Verfärbung der Beine blieb stationär;
zu einer Gangränbildung kam es nie. Ebenso fehlte jede Andeutung von Ery-
thromelalgie. Während der ganzen Beobachtungsdauer wurde im Urin niemals
Eiweiss oder Cylinder oder Zucker gefunden. — Die Diagnose wurde auf Com*
pression des Lendenmarkes undderCauda equinea mit zeitweiligen
Erscheinungen des Raynaud’schen Symptomencomplexes gestellt.
Der weiteren Beobachtung entzog sich die Patientin. Einige Monate darauf
konnte laut einem Schreiben des behandelnden Arztes nunmehr ein ausgesprochener
Gibbus der Lendenwirbelsäule festgestellt werden.
In diesen beiden, in ihren klinischen Erscheinungen ganz
congruenten Fällen ergab schon die Untersuchung in vivo das
interessante Resultat, dass die Erscheinungen der symmetrischen
localen Asphyxie und Gangrän durch eine schwere Schädigung
des Rückenmarkes hervorgerufen- waren, der Sitz des Krankheits¬
herdes konnte genau bestimmt werden, die Natur desselben
ergab sich in dem Falle II aus der Verkrümmung der Wirbel¬
säule, im Falle I brachte die Autopsie Aufklärung über diese.
Die Veränderungen der Nerven im Falle I könnten diejenigen
als Stütze ihrer Ansicht in Anspruch nehmen, die in einer
Neuritis die Ursache der Raynaud’schen Erscheinung suchen.
Sicherlich ist in diesem Falle die Degeneration der Nerven
nicht als Folge der vasomotorischen Störungen anzusehen, viel¬
mehr sind sie als Begleiterscheinung der schweren Läsion des
Rückenmarkes aufzulässen. Ob sie aber direct die symmetrischen
Störungen hervorriefen und gleichsam die Vermittlerrolle für
das Rückenmark übernahmen, wird doch sehr fraglich, wenn
man die Geringfügigkeit der Nerven Veränderung, auf die die
Krankengeschichte ausdrücklich hinweist, in Betracht zieht. In
solchen Fällen scheint noch immer die ursprüngliche Raynaud-
sche Lehre zu Recht zu bestehen, die eine vom Rückenmarke
ausgelöste krankhafte Contraction der kleinen, vollkommen
durchgängigen Gefässe annimmt.
Hervorheben möchte ich noch, dass in beiden Fällen die
vasomotorischen Störungen anfallsweise auftraten und die
verschiedenen von Raynaud gekennzeichneten Stadien der
Synkope, Asphyxie und Gangrän darboten; diese Phänomene
haben also nichts gemein mit den durch völlige Gefasslähmung
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Zar Kenntniss der Raynand’schen Krankheit.
51
hervorgerufenen stationären Circulationsstörungen, die man
bei schweren Rückenmarksläsionen beobachten kann.
Die folgenden vier Beobachtungen lassen sich in eine Gruppe
zusammenfassen, da sie in ihren wesentlichen Symptomen über¬
einstimmen und auch vom ätiologischen Standpunkte aus, viel¬
leicht abgesehen von Fall VI, sich nicht voneinander trennen
lassen.
Fall III. Marcus B., 26 Jahre alt, Apotheker aus Charkow, stellt sich im
August in der III. medicinischen Klinik vor. Betreffs der hereditären Verhältnisse
wäre zu erwähnen, dass eine Grossmutter des Patienten dieselbe Krankheit gehabt
haben soll. Seit sieben oder acht Jahren hat Patient Anfälle von Raynaud’scher
Krankheit, die sich anfangs nur im Winter, später aber auch im Sommer zeigte.
Er hat seitdem fortwährend Kältegefühl in den Händen, so dass er auch im
Sommer Winterhandsehuhe trägt. Im Laufe der letzten Jahre haben sich jedes¬
mal sehr schmerzhafte und stark secernirende Panaritien an die Anfälle localer
Asphyxie angeschlossen, so dass er in Folge der fortwährenden Entzündungs-
processe an den Fingern seit nahezu zwei Jahren arbeitsunfähig ist. Die
Panaritien traten genau symmetrisch auf; wenn z. B. eines am linken Zeigefinger
begann, zeigte sich in ein bis zwei Tagen am rechten Zeigefinger ebenfalls ein
solches. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine auffallende, unten näher zu
beschreibende Gestaltveränderung der Hände.
Lues war weder anamnestisch nachweisbar, noch konnte die genaue Unter¬
suchung an der Klinik des Herrn Prof. Kaposi Anhaltspunkte für eine solche
feststellen. Potus wird*negirt. In der Gegend des Kranken sollen nie Ergotin-
vergiftungen vorgekommen sein. Auch sein Beruf gab ihm keine Gelegenheit,
sich in der entsprechenden Weise zu schädigen.
Die genaueste, mehrmals wiederholte Untersuchung des Patienten ergibt
vollständig normale Verhältnisse, sowohl in Bezug auf den Respirations- als
auch auf den Circulationstractus. Keine Erscheinungen des Nervensystems.
Die Hände haben beide an den zwei Endgliedern der Finger eine auf¬
fallend glatte Haut. Die Fingerfalten sind vollständig verstrichen; die Haut
macht den Eindruck, als ob sie für die Finger zu kurz sei; an anderen Stellen
der Finger und an den Händen ausserordentlich zart und dünn, lässt sie sich
nirgends in Falten abheben.
An sämmtlichen Fingerkuppen sind beiderseits eine Menge kleiner, unregel¬
mässig gestalteter Narben von alten Panaritien. Die Finger sind von eigentüm¬
licher Gestalt, gegen die Spitze zu auffallend verschmälert, das Nagelglied ist
wie abgenagt, die Nägel sind äusserst kurz, rissig, sich blätternd, nach den
Seiten abgebogen, Vogelkrallen ähnlich. An den Fingerkuppen sind mehrfache
tiefgreifende Defecte sichtbar (nach Panaritien). An der Haut der Hohlhand ist
nichts Auffallendes zu bemerken. Lässt man den Kranken die Hände in kaltes
Wasser tauchen, so tritt sofort ein sehr starker Anfall von localer Asphyxie ein.
Unter Kriebeln und Ameisenlaufen werden beide Hände schneeweiss (Syn¬
kope); wänrend dessen ist die Haut vollständig gefühllos, auch tiefe Nadelein-
etiche rufen keine Schmerzempfindung, keine Blutung hervor. Kurze Zeit nach¬
ts*
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52
Dr. Adolf Calmann.
dem sie weiss geworden sind, tritt eine intensive Blaufärbung der Hände und
der Finger auf, welche mehrere Stunden anhalten und sehr quälende Parästhesien
(Ameisenlaufen, Kriebeln) im Gefolge haben soll. Gangrän soll nie aufgetreten sein.
An den unteren Extremitäten treten ähnliche Attaquen nur im Bereiche
der Füsse und Zehen auf. Dieselben sind jedoch weniger intensiv als an den
Händen. Die Haut ist in geringerem Grade verändert, ist glatt und verkürzt,
jedoch keineswegs in dem Masse wie an der oberen Extremität; eine auffallende
Gestaltveränderung haben die Zehen nicht erfahren. Es besteht keine abnorme
Schweisssecretion.
Während im Anfallsstadium die Sensibilität für alle Qualitäten hochgrad g
herabgesetzt ist, bleibt sie in der anfallsfreien Zeit vollständig normal.
Im Urin fanden sich bei häufig wiederholten Untersuchungen keine patho¬
logischen Bestandtheile. Trotz aller Medication, Faradisiren, Galvanisiren,
innerer Darreichung von Arsen, Argentum nitricum u. 8. w., konnte keine
Besserung erzielt werden.
Fall IV. BarbaraB., 48 Jahre alt, Handarbeiterin. Patientin hat keine schweren
Erkrankungen durchgemacht, hat zweimal abortirt, sonst keine anamnestischen
Anhaltspunkte für Luös.
Mit 23 Jahren zeigten sich die ersten Erscheinungen ihrer jetzigen
Erkrankung. Im Anschlüsse an eine Erkältung trat zuerst ein völliges Weiss¬
werden der Finger auf, dem eine Blaufärbung folgte. Diese Erscheinungen
wiederholten sich anfallsweise und nahmen besonders bei Kälte zu. Nachdem
diese Attaquen Patientin mehrere Jahre hindurch belästigt hatten, traten wieder¬
holt sehr schmerzhafte Panaritien an den Fingern auf.
Zugleich zeigten sich an den Füssen ebenfalls vasomotorische Störungen,
doch kam es dort niemals zur Panaritienbildung.
Status praesens: Ausgedehnte Vitiligo um die Augen und Kopfhaut;
dunkle Färbung der übrigen Haut. Im Augenhintergrunde ausgedehnte chorioi-
ditische Veränderungen. Im Gesichte, am Schultergürtel und den Armen keine
nervösen Störungen sensibler oder motorischer Natur.
An den Händen fällt die livide Verfärbung auf, welche an den Fingern
am meisten ausgesprochen ist. Die Haut über den Metacarpalköpfchen ist
weisslich verfärbt (Vitiligo). Die Haut der Finger an beiden Händen vollständig
glatt und faltenlos straff gespannt, nur an dem zweiten und dritten Finger, sowie
am Daumen rechts sind im I. Interphalangealgelenk Falten an den Gelenkbeugen
sichtbar. Ueber das zweite Interphalangealgelenk zieht die Haut vollständig
faltenlos hin. Die glatte Haut zeigt nirgends eine Spur von Behaarung; die
Schweisssecretion ist nicht vollständig aufgehoben. Die Gestalt der Finger ist
auffällig verändert, die Finger sind gegen das Ende zugespitzt, insbesondere die
Endphalangen stark abgerundet.
In Folge der straff gespannten Haut sind die Bewegungen der Finger
erheblich eingeschränkt, sie können nur unvollkommen zur Faust geballt
werden; Spreizung der Finger gelingt nur unvollkommen.
Die Nägel sind an beiden Händen, besonders aber an der rechten auf¬
fallend klein, längs gerieft, stark gebogen, schilfern sich leicht ab; an dem
Zeigefinger der linken Hand ist der Nagel besonders stark afficirt. An der
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Zur Keuntniss der Raynaud’schen Krankheit.
53
Beugeseite der Hände sind die Veränderungen weniger ausgesprochen; erst an
den Endphalangen treten dieselben stärker hervor. Man sieht an jeder einzelnen
Endphalange kleine Defecte, welche nach den Panaritien entstanden sind. Die
Fingerspitzen sehen in Folge dessen wie zerstochen aus. Leichte Berührungen
an den Händen werden durchwegs gefühlt und richtig localisirt. Schmerz und
Temperaturempfindung völlig intact. — Die Zehen sind ebenfalls ausserordent¬
lich livide verfärbt, jedoch ist die Haut nicht so verändert wie an den Händen,
insbesondere nicht so faltenlos und verkürzt. Keine Zeichen von Panaritien an
den Füssen. Sensibilität für Tast-, Schmerz- und Temperaturempfindung erhalten;
keine Muskelatrophien.
Die Patellarretiexe sind etwas gesteigert; die peripherischen Nervenstämme
aui Druck nicht empfindlich.
Arteria radialis beiderseits eng, doch nicht verdickt.
Im Urin kein Zucker oder Eiweiss, noch Formelemente.
Fall V. Marie B., 31 Jahre alt, Arbeiterin. Aufgenommen den 26. April 1894.
Seit acht Jahren zeigt sich eine bläuliche Verfärbung der Finger, besonders
unter dem Einflüsse von Kälte. Sehr häufig stellen sich schmerzhafte Panaritien
ein mit Brennen in den Fingern.
Menses ab und zu unregelmässig, keine Blasen- und Mastdarmstörungen.
Status praesens: Die Art. radialis beiderseits ungleich. An der Lungenspitze
Schalldifferenz und spärliche Rasselgeräusche rechts. Herztöne rein; über dem
Sternum keine Dämpfung. Arteriae subclaviae beiderseits gleich. Im Gesichte
fällt auf, dass die Nasolabialfalte beiderseits sehr scharf ausgeprägt ist. Der
Gesichtsausdruck ist maskenähnlich, das Spiel der mimischen Muskeln fast auf¬
gehoben, die Nase verdünnt, die Nasenflügel leicht nach oben gezogen, so dass
das Septum vorstehend erscheint. Sonst keinerlei Veränderungen im Gesichte.
Sensibilität in allen Qualitäten erhalten. Am Rumpf und den Extremitäten
werden leichte Berührungen überall prompt gefühlt; Schmerzempfindung ist
auslösbar. Die Nerven sind nirgends druckempfindlich. Temperaturempfindung
an der Streckseite der Hände und Finger gut, an der Beugeseite etwas abge¬
stumpft. Lagevorstellung gut.
Weder am Schultergürtel noch an den Armen und Händen sind Muskel¬
atrophien vorhanden. Der Händedruck ist sehr schwach im Verhältnisse zur
Muskulatur. Beugung und Streckung des Unterarmes, Pronation und Supination
ist unbehindert; am Handgelenke geht die Beugung schlecht, die Streckung gut.
Biceps- und Tricepsreflexe etwas erhöht.
An den unteren Extremitäten ist die Tast-, Schmerz- und Temperatur¬
empfindung überall normal; die Nerven sind nicht druckempfindlich. Die
motorische Kraft ist entsprechend der Muskulatur, der Patellarreflex gesteigert,
der Fussclonus angedeutet.
Die vasomotorischen Störungen sind folgende: Der ganze Handrücken und
das untere Viertel des Unterarmes sind geschwollen, die Haut ist daselbst schwer
abhebbar, ebenso an den übrigen Theilen des Unterarmes. Dabei hat man das
Gefühl des Oedems, ohne dass Fingereindrücke sich in der Haut erhalten. Durch
diese Anschwellung ist der Unterarm so deformirt, dass er sich distalwärts ver¬
dickt, anstatt sich zu verdünnen.
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54
Dr. Adolf Calmann.
Die Drüben zwischen den Knochen des Metacarpo-Phalangealgelenkes
sind fast verstrichen; die Finger selbst verdickt, volar- und dorsalwärts schmutzig
livid-blau. Die Falten über den ersten Interphalangealgelenken sind ganz ver¬
schwunden, nur hier und da hat sich eine Furche erhalten. Die Nägel sind
deformirt, verkrümmt, besonders am linken Mittelfinger unregelmässig gebogen
und eingedrückt. Die Nageloberfläche der rechten Hand ist stark gefurcht, der
Nagel des Mittelfingers stark verkürzt, überwuchert von der Haut des Nagel¬
falzes.
An den Fingern sieht man einige mehrere Millimeter lange, mit Krusten
bedeckte Rhagaden, die nur zum Theile der Spaltrichtung der Haut entsprechen.
Die Finger fühlen sich kühl an. An der Fingerbeere des rechten und linken
Ringfingers sind mit Krusten beieckte oder freiliegende atrophische halblinsen¬
grosse Stellen sichtbar.
Die Haut an den Grundphalangen ist kaum abhebbar, an den übrigen
Phalangen ist dies ganz unmöglich. Es besteht keine Knochenverdickung, keine
abnorme Schweisssecretion.
Die livide Verfärbung reicht über das untere Viertel des Unterarmes
hinauf. Am Rumpf ist die Haut übererregbar, das Oeffnen des Kleides erregt
sofort Cutis auserina.
An den unteren Extremitäten ist der Fuss auffallend gross, besonders in
der Knöchelgegend ganz plump. Die Haut fühlt sich teigig an, wie ödematös
durchtränkt; doch bleiben erst auf anhaltenden Druck Gruben in derselben
zurück. Ueber dem linken Fussrücken meist isolirt stehende, hier und da zu
unregelmässigen Flecken zusammenfliessende, livid blaue, auf Fingerdruek voll¬
kommen abblassende Stellen. Leichte Varicenbildung. Im Urin keine pathologischen
Bestandteile.
Fall VI. Marie F., 42 Jahre alt, Näherin. Vater starb an einem Schlag-
anfalle, Mutter an Tabes. Patientin hat nie geboren, nie abortirt.
Potus negirt, für Lues keine Anhaltspunkte. Vor vielen Jahren wurden die
Finger plötzlich für einige Zeit ganz weiss. Seit sechs Jahren bemerkt Patientin,
dass, wenn sie aus der Kälte in die Wärme kommt, die Hände blau werden
und anschwellen, so dass sie keine Faust ballen kann. Aehnliche Erscheinungen
traten auch an den Füssen auf. Bald darauf beganuen alle Finger mit Ausnahme
des fünften der linken Hand unter grossen Schmerzen geschwürig zu werden.
Seit sechs Monaten ist die Geschwürsbildung besonders heftig aufgetreten,
auch bemerkt Patientin, dass sie in den Händen etwas ungeschickter wurde. Auch
das Gesicht, besonders Lippen und Zunge, wurden leicht blau, die Zunge
ganz steif.
Weihnachten 1893 überstand sie einen Rothlauf, fast zu gleicher Zeit traten
Oedeme am Rumpf und an den Beinen auf, jedoch nicht an den Armen; zugleich
konnte sie nicht uriniren. Diese Erscheinungen gingen jedoch bald wieder völlig
zurück. Vor vier Jahren will sie manchmal Kopfschmerzen und Schwindel, doch
niemals Doppeltsehen gehabt haben.
Status praesens: Im Gesichte keine nervösen Störungen.
/ Die Art. radialis ist links etwas schwächer als rechts, aber nicht rigide,
auch die Temporalarterien sind nicht geschlängelt.
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Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit.
55
Beide Hände sind ausserordentlich livide verfärbt, die Finger sind ganz
blau und fühlen sich kühl an. Die Formen der Finger sind wesentlich verändert,
insbesondere die Nägel; während die Phalangen nur etwas verkürzt erscheinen,
sind diese auffällig kürzer, sehr splitterig und streifig. Die Fingerkuppe hat zumTheile
ihre Wölbung verloren durch tiefgreifende Substanzverluste und Narben. Am
meisten deformirt erscheint der Zeigefinger der linken Hand, an welchem der
Nagel auch sehr stark gekürzt ist. An dem Daumen der rechten Hand ist ein
etwa kronengrosser Substanzverlust, der sich mit scharfen Bändern abgrenzt;
der Boden des Substanzverlustes befindet sich im Zustande trockener Grangrän;
dieselbe reicht bis unter das Nagelbett. (Sie ist wahrscheinlich in Folge der
Behandlung mit Carbolumschlägen entstanden.)
Bei Entwickelung eines Panaritiums sind die Schmerzen sehr stark. — Sonst
ist an der Haut der Finger keine Veränderung sichtbar.
Es bestehen ferner an den Händen keine Muskelatrophien, die kleineren
Handmuskeln sind vollständig intact. Active Bewegungen sind in vollstem
Umfange möglich, die Kraft ist der Muskulatur entsprechend. Die taetile Sensi¬
bilität ist an den cyanotischen Fingerspitzen etwas abgestumpft, Schmerz-, Tem¬
peraturempfindung und Lagevorstellung sind normal.
An den Füssen findet sich ebenfalls livide Verfärbung, die an der grossen
Zehe weitaus am stärksten ausgesprochen ist. Es ist keine auffallende Deformität
der Zehen vorhanden, nur die vierte Zehe rechts ist etwas aufgetriehen. (An
dieser Zehe haben sich viermal hintereinander angeblich ohne Ursache sehr
schmerzhafte Panaritien, verbunden mit Lymphangitis, entwickelt.)
Berührungen am Fusse werden gefühlt, Kneifen von Hautfalten ist schmerz¬
haft, die thermische Sensibilität ist nur zur Zeit der Anfälle ahgeschwächt, die
Patellarreflexe sind bedeutend erhöht, ebenso der ßiceps-, Triceps- und die
Periostreflexe. Die Nervenstämme sind auf Druck nirgends empfindlich.
Das Romberg’sehe Symptom ist angedeutet, sonst finden sich keine Sym-
ptome< die auf ein spinales Leiden hindeuten. An den Brust- und Bauchorganen
keine Abnormitäten.
Der Urin enthält keine pathologischen Bestandtheile.
Diesen Krankengeschichten will ich noch hinzufügen, dass sämmtliche
Fälle mit den üblichen Mitteln, Faradisation, Galvanisation, Arsen, roborirender
Diät etc. behandelt wurden, ohne mehr als eine vorübergehende, von der
Therapie wahrscheinlich ganz unabhängige Besserung zu erzielen.
In den soeben beschriebenen Fällen, besonders dem dritten,
vierten und fünften, erregt ein zweifacher Symptomencomplex
unsere Aufmerksamkeit, der in allen Krankengeschichten fast
völlig übereinstimmend in derselben Weise beschrieben ist und
einen ausgebildeten Typus aufweist. Abgesehen von dem
bekannten Kaynaud’schen Krankheitsbilde, der Synkope, localen
Asphyxie und Gangrän, von denen die einzelnen Stadien in
den Fällen nicht alle ausgebildet sind, überrascht uns das Auf¬
treten so zahlreicher, sich oft wiederholender Panaritien,
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56
Dr. Adolf Calmann.
die nach Angabe der Patienten äusserst schmerzhafter
Natur sind. In den letzten Jahren hat man sich zu wieder-
holtenmalen in eingehender Weise mit Erkrankungen beschäftigt,
bei welchen das Auftreten multipler, sich stets wiederholender
Panaritien eine bedeutsame Bolle spielte. Bekanntlich hat auf
Grund klinischer Beobachtungen mit Rücksicht auf sonstige
eigenartige Befunde Morvan eine Gruppe derartiger Fälle als
eigene neue Erkrankung von sämmtlichen anderen abgeschieden
und die Anschauung vertreten, dass diese Erkrankung auf
nervöser Basis beruhe. Die Fälle von Morvan zeichneten sich
alle durch die Eigenthümlichkeit aus, dass die sich so oft
wiederholenden Panaritien stets schmerzlos verliefen. In Bälde
waren diese interessanten Befunde Gegenstand eifriger Discus-
sionen; Bernhardt, 1 ) später Hoffmann 2 ) erklärten sich dahin, dass
diese Fälle identisch seien mit Syringomyelie. Ihnen entgegen
behauptete ein grosser Theil der französischen Schule, gestützt
auf Befunde Zambacös, 3 ) dass die Morvan’sche Krankheit mit
Lepra identisch sei. Nach den Untersuchungen Schlesinger’s 4 )
dürfte dieser Symptomencomplex sowohl der Lepra als auch der
Syringomyelie zukommen. — In allen diesen Arbeiten und bei
allen diesen Discussionen hatte stets wiederum der seltsame
Befund die Aufmerksamkeit erregt, dass die Panaritien schmerz¬
los’ waren, dass also gleichsam in der Analgesie gleichzeitig ein
gewisses Erklärungsmoment für das Auftreten von Panaritien
gegeben war. Man konnte die Annahme acceptiren, dass Ver¬
letzungen bei derartigen Individuen, nicht so leicht bemerkt,
länger getragen und leichter inficirt wurden.
In unseren Fällen handelt es sich aber nicht um schmerz¬
lose Panaritien; übereinstimmend geben vielmehr die Kranken
an, dass die Entzündungsprocesse recht schmerzhaft waren. Nun
ist allerdings durch Lichtung einer grösseren Zahl von Fällen
bekannt worden, dass auch bei Syringomyelie anfangs Pana¬
ritien auftreten können, die sehr schmerzhaft sind und sich
') Ueber die sogenannte Morvan’sche Krankheit. Deutsche med. Wochen¬
schrift 1891, Nr. 8.
2 ) Zur Lehre von der Syringomyelie. Deutsche Zeitschrift für Nervenheil¬
kunde. Bd. III.
3 ) Maladie de Morvan. Semaine medicale 1893, S. 289 u. f.
4 ) Die Syringomyelie. 1895.
*
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Zur Kenntniss der Kaynaud’sclien Krankheit.
57
öfters wiederholen; erst die später auftretenden Eiterherde ver¬
laufen schmerzlos. 1 )
In unseren Fällen aber wiederholten sich die eiterigen Ent-
zündungsprocesse durch eine Reihe von Jahren in gleicher Inten¬
sität und Schmerzhaftigkeit, um eine Syringomyelie anzunehmen,
fehlte ausserdem jeder Anhaltspunkt; an Lepra könnte man
ohnehin kaum denken, da alle Kranken, mit Ausnahme des Apo¬
thekers (Fall III), aus leprafreien Gegenden stammen und nur
in solchen gelebt haben; der Apotheker stammt aus Russland,
hat auch in Lepragegenden sich längere Zeit aufgehalten, bot
aber bei der genauen, von Prof. Kaposi vorgenommenen Unter¬
suchung, ebenso wie die anderen speciell in dieser Richtung
untersuchten Kranken, auch nicht das geringste Zeichen der
Lepra dar.
Ich glaube demzufolge berechtigt zu sein, das Auftreten dieser
multiplen Panaritien als eine bisher nicht genügend gewürdigte
Eigenthümlichkeit des spontan auftretenden Raynaud’schen Sym-
ptomencomplexes auffassen zu dürfen. Ich kann mich aber nicht
entschliessen, diese Erscheinungen auf die gleiche nervöse Grund¬
lage zurückzuführen wie die vasomotorischen Störungen; ich
glaube vielmehr, dass diese Eiterherde durch eine Infection von
aussen her erzeugt werden, die um so leichter eintreten kann,
als die die Attaquen begleitende Anästhesie das Entstehen
kleiner Verletzungen begünstigt und das Vorhandensein der¬
selben der Wahrnehmung des Patienten entziehen kann. Dazu
kommt noch, dass das Gewebe, welches unter ungünstigen Er¬
nährungsverhältnissen steht, für eindringende Infectionskeime
einen günstigen Nährboden bietet. In dieser Auffassung kann
mich auch der Umstand nicht wankend machen, dass in dem
einen der vier Fälle (Fall III) die Panaritien symmetrisch auf¬
getreten sein sollen; ich glaube, dass der Patient aus einem
sich mehrmals wiederholenden Zufalle eine Regel gemacht hat;
jedenfalls ist in den anderen drei Fällen keine Rede von einer
derartigen Symmetrie der Panaritienbildung.
Ich glaube für meine AÄisicht auch den Umstand verwerthen
zu können, dass die Zellgewebseiterungen sich vorwiegend an
den Händen etablirten, die doch beiweitem mehr als die
’) Vgl. Schlesinger, Die Syringomyelie, S. 41.
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Dr. Adolf Calmann.
geschützten Füsse mechanischen und chemischen Insulten aus*
gesetzt sind.
Als eine weitere Theilerscheinung von grosser Wichtigkeit
möchte ich die in den Fällen III, IV und V am vollkommensten
ausgebildete Veränderung der Haut und deren Folgezustände
hervorheben. Die Haut ist an den befallenen Fingern trocken,
derb, hart, sie lässt sich nicht auf ihrer Unterlage verschieben,
nicht in Falten aufheben, sie erscheint verkürzt, die Gelenk¬
falten sind besonders am Fingerrücken grösstentheils verstrichen,
die Bewegungen der Finger sind eingeschränkt, kurz, wir haben
das ausgesprochene Bild der Sklerodermie, beziehungsweise
Sklerodactylie. Wir können sogar an den einzelnen Fällen die
verschiedenen Stadien studiren. Während in den Fällen III, IV
und V besonders die Verkürzung der Haut an den Fingern, das
Verstrichensein der Hautfalten u. s. w. den ausgebildeten
Process, den Zustand, repräsentirt, zeigt (im Falle V) an den
oberen und speciell an den unteren Extremitäten die teigige
Beschaffenheit der Haut, die jedoch nur theilweise und nur auf
längeren Druck eine Grube bildet, auf den sich erst ent¬
wickelnden Process hin.
Die Vitiligoflecke (im Falle IV) an der Kopfhaut und über
den Metacarpalköpfchen sind endlich die Residuen eines bereits
abgelaufenen skierodermischen Processes.
Die eigentümlichen Veränderungen der Fingernägel, ihre
Splitterigkeit, die Längsriefung, ihre Verkrümmung, die Ver¬
stärkung oder Aufhebung ihrer normalen Bildung sind wahr¬
scheinlich sowohl durch die Panaritienbildung und die dadurch
entstehenden Substanzverluste und Narbenbildung, als auch durch
die Sklerodermie, die sich ebenfalls durch Narbengewebe aus¬
zeichnet, gemeinschaftlich herbeigeführt worden.
Die Frage, ob wir beide Erkrankungen auf ein und die¬
selbe Ursache zurückführen dürfen, müssen wir unbedingt bejahen,
wenn ebenso wie für die Raynaud’sche Krankheit für die Sklero¬
dermie eine Affection des Nervensystems als ursächliches Moment
angenommen wird. Zuerst war es nun M. Ball, 1 ) der sich
allgemein dahin aussprach, die Raynaud’sche Krankheit biete
') Siehe Legroux: Asphyxie locale et sclerodermie. Gazette des hopitaux
1880, Nr. 100.
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Zur Keuntniss der Raynaud’schen Krankheit.
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so viel Analogien mit gewissen Fällen von Sklerodactylie, dass
es sich nach einigen Autoren um ein und dieselbe Krankheit
handle. Fa vier 1 ) sieht in beiden Erkrankungen vasomotorische
Störungen, hervorgerufen durch eine Erhöhung der Reflexerreg¬
barkeit. Eulenburg, 2 ) der schon vor Jahren für die Auffassung
der Sklerodermie als einer nervösen Erkrankung eingetreten
war, erklärte sie in neuester Zeit s ) direct für eine Trophoneurose
und erwähnt auch damit in Zusammenhang einen von anderer
Seite veröffentlichten Fall mit dem complicirten Symptomen-
complexe von Sklerodermie, Elephantiasis und Raynaud’scher
Krankheit. Fast beweisend für eine nervöse Grundlage beider
zusammen auftretender Erkrankungen scheint mir die Beob¬
achtung Chauffard’s, 4 ) der Sklerodermie mit halbseitiger
Atrophie der Zunge im Anschlüsse an den Raynaud’schen Sym-
ptomencomplex auftreten sah.
In Betracht zu ziehen wären allerdings noch die Ueber-
legung, die Sklerodermie sei eine directe Folge der den Raynaud-
schen Symptomencomplex zusammensetzenden Ernährungs¬
störungen, sei also nicht eine mit diesem zusammengehende
Erkrankung auf gleicher Basis, sondern sei eine secundäre Er¬
scheinung der localen Asphyxie. Ich sehe aber nicht ein, warum
die von Raynaud selbst angenommenen Störungen in der Inner¬
vation der Gefasse nicht im Stande sein sollen, von den mehr
transitorischen Erscheinungen der Syncope und Asphyxie ab¬
gesehen, ebenso gut wie eine Gangrän, auch bei längerem Be¬
stände, die bleibenden Gewebsveränderungen der Sklerodermie
hervorzurufen; ich bleibe daher dabei, die Sklerodermie als einen
ätiologisch der Raynaud’schen Affection gleichwerthigen und
ihr nicht untergeordneten Zustand zu betrachten. In den Fällen
I und II kam es vielleicht darum nicht zur Entwickelung der
Sklerodermie, weil die vasomotorischen Störungen nur verhält-
nissmässig kurze Zeit dauerten; möglicherweise hätte auch eine
längere Dauer derselben kein anderes Resultat gehabt, genau
so wie in der überwiegenden Mehrzahl der bis jetzt beobach-
9 Quelques considerations sur les rapports entre la scldrodermie spontanee,
et la gangrdne symmdtrique des Extrdmitds. Thdse Paris 1880.
2 ) Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. V, Heft 4.
3 ) Deutsche ined. Wochenschrift 1894, Nr. 21, 22.
4 ) Gazette des hopitaux 1895, Nr. 82.
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60
Dr. Adolf Calmami.
teten Raynaud’scheu Fälle, die ohne die Complication der
Sklerodermie verliefen.
Diese combinirte Erkrankung scheint also mit Recht als
eine functioneile Neurose aufgefasst zu werden, und so weit es
mir ersichtlich war, ist kein Fall bekannt worden, in dem eine
organische Läsion des Nervenapparates nachgewiesen worden
wäre, die als Ursache dieser beiden zusammen auftretenden
Processe hätte in Anspruch genommen werden können. Ich
glaube daher berechtigt zu sein, die Fälle III, IV und V vor¬
läufig ebenfalls als reine Neurosen zu betrachten; die beginnende
Lungenspitzenerkrankung im Falle V steht wohl kaum im ursäch¬
lichen Zusammenhänge mit den vasomotorischen Störungen —
Fall VI dagegen ist durch geringe abnorme Erscheinungen von
Seiten des Centralnervensystemes ausgezeichnet (Andeutung von
Romberg’schem Phänomen, bedeutende Steigerung der Reflexe),
dieselben sind nicht ausreichend, um ein spinales oder ein
anderes organisches Nervenleiden auch nur mit einiger Wahr¬
scheinlichkeit annehmen zu lassen, andererseits lassen sie sich
ohne grosse Schwierigkeiten in dem Bilde einer Neurose unter¬
bringen.
Fassen wir die sechs beschriebenen Fälle zusammen, so
bestätigen sie einerseits aufs neue die Anschauung, dass der
Raynaud’sche Symptomencomplex ohne anatomisch nachweisbare
Erkrankung des Nervensystemes auftreten kann, andererseits be¬
reichern sie die Casuistik der Fälle, in denen die Raynaud’schen
Erscheinungen nur Symptome einer Affection der nervösen
Centralorgane, speciell des Rückenmarkes sind. Für eine Er¬
krankung der peripherischen Nerven als Ursache der symme¬
trischen Gangrän geben sie keine Anhaltspunkte, ebenso wenig
für Hysterie, die einzige Neurose, die manche Autoren als
Ursache für die Raynaud’sche Krankheit gelten lassen wollen.
Des Weiteren habe ich aus diesen Fällen den Eindruck
gewonnen, dass die Raynaud’schen Erscheinungen auf neuro¬
tischer Basis einen ganz anderen Charakter haben, als die nur
symptomatisch auftretenden. Bei diesen sind die Erscheinungen
der localen Asphyxie und der Synkope nicht in so intensiver
Weise ausgebildet wie bei jenen. Bei den Fällen, in denen das
Rückenmark erkrankt war, blieben die vasomotorischen Störungen
nur auf einen Körpertheil (die Füsse) beschränkt, ohne Tendenz,
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Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit.
61
sich über grössere Partien des Körpers auszubreiten, sie traten
zu Anfang besonders nur vorübergehend auf, es fehlten die
lästigen Parästhesien, kurz diese ganzen Erscheinungen traten
beiweitem gegen die typischen Symptome des Rückenmark¬
leidens zurück. Merkwürdig war in unseren beiden Fällen das
transitorische Oedem, das den Raynaud’schen Symptomen vor¬
ausging oder mit ihnen alternirte. Dieses Oedem ist wohl als ein
spinales Oedem aufzufassen, wie es zuerst von Remak
beschrieben worden ist. Von einer bleibenden Deformität, von
Sklerodermie war kein Zeichen vorhanden. Wie anders gestalten
sich dagegen die vasomotorischen Störungen in den anderen
vier Fällen! Die typischen localen Erscheinungen werden com-
plicirt durch das Auftreten zahlreicher Panaritien; von den
oberen Extremitäten breiten sich die Krankheitserscheinungen
auf die unteren aus, das Gesicht bleibt nicht verschont von
ihnen; sie führen zu schweren Störungen der Sensibilität, vor¬
nehmlich subjectiver Natur; schliesslich gesellt sich noch dazu
das Symptomenbild der Sklerodermie, um schwere und kaum
reparable Veränderungen der Haut und auffallende Deformitäten
der erkrankten Glieder herbeizuführen.
Zum Schlüsse möchte ich noch hinzufügen, dass ich es mit
Absicht vermieden habe, der Frage näher zu treten, wodurch
denn unmittelbar die Erscheinungen der localen Synkope,
Asphyxie und symmetrischen Gangrän hervorgerufen würden,
ob durch trophoneurotische oder angioneurotische Einflüsse. Die
Anschauungen hierüber sind noch im Allgemeinen sehr getheilte
und meine Fälle andererseits bieten keine Möglichkeit, zur
Klärung dieser Frage beizutragen, so dass ich mich genöthigt
sah, dieselbe ganz zu vernachlässigen.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Prof. Dr. v. Schrötter,
sage ich für die freundliche Ueberlassung der Krankengeschichten,
Herrn Docenten Dr. Schlesinger für die Anregung zu dieser
Arbeit und die liebenswürdige Förderung derselben meinen
herzlichsten Dank!
') Berliner klinische Wochenschrift 1889, Nr. 2. Oedem der oberen Extremi-
täten auf spinaler Basis.
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Ueber moralische Defectzustände.
Von
Dr. Josef Berze,
Secundararzt der n. ö. Landesirrenanstalt Kierling-Gugging.
So sehr die Thatsache anerkannt ist, dass sich moralische
Defectuosität im Verlaufe der verschiedensten psychopathischen
Zustände zeigen kann, unter deren Symptomen sie bald eine
ganz geringe Stelle einnimmt, bald so sehr hervortritt, dass sie
das ganze Krankheitsbild beherrscht, so dass die Krankheit „im
Kleide der moral insanity” erscheint, so wenig ist bisher die
Ansicht vertreten worden, dass die Mechanik der moralischen
Defectuosität nicht in allen Fällen ihrer Erscheinung dieselbe
ist, dass die von mehreren Autoren gemachten Versuche, diese
Krankheitserscheinung auf eine andere gleichsam mehr elemen¬
tare Störungserscheinung der psychischen Thätigkeit zurückzu-
fiihren, immer nur Versuche sind, die im besten Falle unser
Verständniss für einige specielle Fälle fördern können in keinem
Falle aber uns eine Basis abgeben können, die einer Generali-
sation zugänglich wäre. Wir haben uns die Aufgabe gestellt,
unserer Ueberzeugung, dass die Grundlagen für die Erscheinung
der moralischen Defectuosität in den einzelnen Fällen unter¬
einander verschieden sind, Ausdruck zu verleihen, und wollen
vorweg bemerken, dass unsere Untersuchungen uns zu dem
Schlüsse gebracht haben, dass die Genese der moralischen
Defectuosität ähnliche grundlegende Unterschiede zeigt, wie
etwa die des Grössenwahnes, wenn er im Rahmen einer Manie,
einer progressiven Paralyse, einer Paranoia erscheint, dass so¬
mit wenigstens allen den Versuchen ein Fehler anhaftet, die
darauf loszielen, eine einheitliche Quelle der zu besprechenden
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Ueber moralische Defectzustände.
63
Defectuosität ausfindig machen zu wollen, dass ihr Fehler in
der Generalisation liegt.
Es handelte sich uns zunächst um die Betrachtung mehr¬
facher Beziehungen der Mechanik der gesunden Moral; wir
mussten zunächst versuchen, die Verhältnisse zu erfassen, die
das Individuum zur moralischen Leistung fähig machen.
Die moralische Leistung zeigt sich in Handlungen und
in Unterlassungen von der Art, dass durch dieselben den
altruistischen Rücksichten Rechnung getragen wird. Wie allen
anderen psychischen Bethätigungen des Individuums liegen
auch denen, die das Gebiet des Moral tangiren, centrale Vor¬
gänge zugrunde. Die moralische Leistung ist ein Ausdruck der
Thätigkeit des Associationsorganes; in diesem treten alle
Factoren, die im positiven oder negativen Sinne bei der Ge¬
staltung der Action des Individuums mitwirken, in Function.
Woher auch immer „die Widerstände gegen die Gesittung”
stammen mögen, der Platz, wo sie ihre Wirksamkeit äussern,
wo sie gewissermassen ihre Kraft mit der Kraft der positiven
Factoren messen, liegt im „Associationsorgane, dem Träger der
Intelligenz im Ganzen”, in dem Centralorgane der Psyche, in
welchem Meynert zunächst nur „den activen Factor im
Mechanismus der Gesittung, das Organ der Moral” erblickt. Das
Associationsorgan ist das Organ, in welchem sowohl die Ver¬
tretung des primären Ich, als auch die des secundären Ich
gleichsam ihre Ansprüche erheben, die Interessen der beiden
betheiligten Factoren geltend machen, und wo die Art der Ab¬
findung der zwei Parteien bestimmt wird. Diese Vertretung im
Associationsorgane ist dadurch gegeben, dass sowohl die „Materie
des Begehrungsvermögens”, als auch das „moralische Gesetz”
durch Associationssysteme repräsentirt wird, welche wir viel¬
leicht, wie Georg Hirth, 1 ) als Lustsysteme einerseits, als
Pflichtsysteme andererseits bezeichnen möchten. Wie überall
dort, wo mehrere Associationen in Wirksamkeit treten, so ist
auch hier das Resultat von Verhältnissen abhängig, zu deren
Verständniss uns Wernicke 2 ) verhilft, indem er unsere Auf-
') Georg Hirth, Die Localisationstheorie angewandt auf psychologische
Probleme.
2 ) Wernicke, Grundriss der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen. Psycho¬
physiologische Einleitung.
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64
Dr. Josef Berze.
merksamkeit auf die Verschiedenheit der „Erregbarkeitsverhält¬
nisse” und der „Werthigkeit” derjenigen Vorstellungen lenkt,
von denen das Handeln des Individuums unter bestimmten,
gegebenen Verhältnissen abhängt. Die Verschiedenheit dieser
Verhältnisse findet Wernicke erstens in der verschiedenen Höhe
des Lust- oder Unlustaffectes, mit welchem die betreffende Vor¬
stellungsgruppe verknüpft ist, zweitens in der verschiedenen
„Geläufigkeit ihrer ßeproduction oder Leichtigkeit des An¬
sprechens” begründet, welche davon abhängt, ob sie häufiger
oder seltener benützt worden sind. Wenn wir andererseits mit
Meynert die verschiedene Höhe des Affectes auf der ver¬
schiedenen „Zahl von erregten Nervenelementen des Associa-
tionscomplexes” basirt sehen, den Ausdruck der leichteren oder
schwereren Reproduction in dem verschiedenen Grade des „Aus¬
geschliffenseins” der bestehenden Bahnen finden, können wir
auch sagen, eine hohe Erregbarkeit und Werthigkeit von Vor¬
stellungen setze ein entsprechendes, weitverzweigtes, vielfach
eingewurzeltes, ausgeschliffenes Associationssystem voraus. In
welchem Masse besonders die das moralische Postulat aus¬
machenden Associationssysteme die genannten Bedingungen
erfüllen müssen, damit die moralische Leistung zu Stande
kommt, wird erst dann klar, wenn wir uns vergegenwärtigen,
wie gross die normale Erregbarkeit und die normale Werthig¬
keit der diesem Gesetze antagonistischen Associationssysteme
ist. Die durch den leeren Magen oder die „gefüllten Schwell¬
körper” immer wieder wachgerufenen complicirten Associations¬
systeme, welche zur Nahrungsaufnahme oder zur sexuellen
Bethätigung führen, haben eine so hohe Erregbarkeit und
Werthigkeit, dass sie zu der angeführten Bethätigung drängen
und treiben, dass sie zum Drange, zum „Triebe” werden. Soll
also das moralische Gesetz diesen gleichsam primären „Trieben”
und den sich auf denselben aufbauenden unzähligen secundären
„Trieben", die wir als Theilerscheinungen des Egoismus kennen,
gegenüber wirksam sich bethätigen können, so müssen auch die
ihm zu Grunde liegenden Associationssysteme eine so hohe Erreg¬
barkeit und Werthigkeit erlangen, dass sie einen triebähnlichen
Charakter der betreffenden Vorstellungen erzeugen; wenn sie
zu positiven Bethätigungen führen sollen, fallt besonders das
Moment der leichten Erregbarkeit ins Gewicht, sollen sie
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Ueber moralische Defeetzustäude.
65
dagegen zu Unterlassungen, zu Hemmungen des Trieblebens
führen, sich also gewissermassen negativ äussern, kommt neben
dieser ebenso sehr die hohe Werthigkeit in Betracht.
Wir sehen so, dass wir in leicht erregbaren und hoch-
werthigen Associationssystemen die Grundlage sowohl für die
positive als auch für die negative Aeusserungsform, für die
gesammte Erscheinung der Moral zu suchen haben.
Von grossem Belange und hohem Interesse ist nun die
Frage, auf welche Weise Associationssysteme, die zur Wahrung
altruistischer Rücksichten führen, zu ihrer in den bezeichneten
Eigenschaften ihren Ausdruck findenden Bedeutung kommen.
Zunächst müssen sie natürlich da sein; woher stammen sie also?
Sind sie vielleicht ererbt und angeboren? Shaftesbury dachte
sich ja — nur um ein Beispiel anzuführen — den moralischen
Sinn nur als ein mit der Reflexion verbundenes, angeborenes
Geftihlsvermögen für moralische Schönheit und Hässlichkeit. Ja,
sogar der unter dem Einflüsse derselben neuen Forschungen
und Hypothesen der Hirnanatomie, die wir möglichst genau in
Rechnung zu ziehen bestrebt sind, stehende Georg Hirth meint
an einer Stelle: „Die moralischen Systeme, z. B. der Liebe und
Dankbarkeit, des Mitleids und der Opferfreudigkeit — mit dem
Reflexmechanismus der „Rührung” — sind wohl ebenso gut
vererblich, wie die raubthierartigen Instincte.” Während also
jedes Menschenkind das Gehen erst lernen muss, während das
Kind sogar das Fixiren eines leuchtenden Punktes durch langes
Tasten und Probiren erst erwerben muss, während also das
Artgedächtniss des Menschen nicht dazu hinreicht, so allgemein
wichtige Bewegungscoordinationen dem Kinde fertig als Erb-
theil mitzugeben, ist das Kind bei seinem Erscheinen schon mit
den complicirtesten moralischen Systemen ausgestattet? Während
also das Fixiren, das Gehen erst ein secundärer Automatismus
— im Sinne Hartley’s — ist, wäre die Liebe, die Dankbarkeit,
das Mitleid ein primärer Automatismus! Da entspricht doch
gewiss die Behauptung Lombroso’s der Wahrheit weit mehr,
dass die Kinder Züge des moralischen Irreseins und des Ver¬
brecherthums zeigten. Freilich leiten wir daraus nicht ab, dass
der Grund dafür darin liegt, dass sich die Keime des moralischen
Irreseins und der Verbrechernatur als Norm im ersten Lebens¬
jahre des Menschen vorfinden, sondern dass das, was gemeinhin
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. ZV. Bd. 5
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66
Dr. Josef Berze.
moralischer Sinn genannt wird, beim Kinde in diesem Alter noch
nicht entwickelt ist, dass das Kind noch „ein des moralischen
Sinnes entbehrender Mensch” ist. Es handelt im Sinne einer
unmoralischen Bethätigung, nicht weil ein positiver Factor:
Keime des moralischen Irreseins, seine Handlungen lenkt,
sondern weil der positive Factor, der den moralisch voll ent¬
wickelten Erwachsenen in die Richtung der Moral führt: die
hochwerthigen Associationssysteme, noch nicht entwickelt ist.
Wir betrachten diese Systeme eben als einen Theil des er¬
worbenen psychischen Besitzes. Es widerstrebt uns, ererbte
Associationen, die die Beziehungen des Ich zum Nicht-ich
regeln sollen, anzunehmen, schon aus dem Grunde, weil die
Theilung der gesammten Erscheinung in ein Ich und Nicht-ich,
in ein primäres und ein secundäres Ich erst Product der Er¬
fahrung ist. Nichtsdestoweniger müssen wir gewisse Anlagen
als angeboren und ererbt annehmen; diese Anlagen sind aber
viel allgemeinerer Natur. Wir müssen die Fähigkeit voraussetzen,
zunächst Associationen aufkommen zu lassen und diese Asso¬
ciationen zu bewahren; nur dann kann das weitere Postulat
erreicht werden, dass diese Associationen zu ausgeschliffenen
werden. Wir müssen also die Momente als gegeben annehmen,
welche dem Menschen die Fähigkeit geben, seine „Handlungs¬
weise aus der directen Abhängigkeit von den jeweiligen äusseren
Einwirkungen zu befreien”, wie sich Langwieser 1 ) ausdrückt.
Wir müssen die Fähigkeit des Individuums voraussetzen, in sich
ein relativ „Bleibendes im Wechsel” aufkommen zu lassen, das
ihn-möglichst frei macht von zufälligen Bedingungen, und der
gesammten bisher gemachten Erfahrung dazu verhilft, „bei der
Feststellung der Entschliessungen mitconcurriren” zu können.
Die ausgeschliffenen Associationssysteme repräsentiren ebenso
viel leicht auslösbare Kräfte, welche die Mitwirkung der Er¬
fahrung bei der Entstehung einer Bewegung im Allgemeinen
oder eines Entschlusses im Besonderen bewirken. Bewegungen
werden durch ausgeschliffene Associationsbahnen unter anderem
in der Richtung modificirt, dass sie gegenüber den primären
Bewegungen gehemmt erscheinen, sowohl was Schnelligkeit des
Ablaufes, als auch was Intensität anbetrifft. Sie werden durch
') Langwieser, Versuch einer Mechanik der psychischen Zustände.
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Ueber moralische Defectzustände.
67
dieselben ferner auch modificirt in Ansehung der Art ihres Ab¬
laufes. So vermag der Salonmensch einerseits das Gähnen lang
zu unterdrücken, wenn er einem zweifelhaft amüsanten Concert
beiwohnt, hält sich andererseits im Falle des unvermeidlichen
Eintretens dieser primären Bewegung die Hand vor den schmerz¬
lich verzerrten Mund. Geradeso verhält es sich mit der Ein¬
wirkung einflussreicher Systeme beim Zustandekommen von
Entschlüssen, insbesondere bei Entschlüssen, die zur moralischen
Leistung führen.
Kant *) lehrt uns: „Die Wirkung des moralischen Gesetzes
als Triebfeder ist zunächst nur negativ” — nämlich eine Ab¬
weisung der sinnlichen Antriebe. Derselben Auffassung begegnen
wir bei Forschern auf den verschiedensten Wissensgebieten,
ßokitansky meint: „Das Gute besteht als Gegensatz zum
Bösen in Hintangebung des Thierlebens an und für sich, an
andere und für andere,” Hieronymus Lorm findet, dass die
Sittlichkeit ihrem Wesen nach immer Selbstverleugnung ist,
dass eine sittliche Handlung — immer ein Opfer — nie aus
egoistischen Motiven hervorgehen kann. Nothwendigerweise
führt Kant weiter aus, dass das moralische Gesetz unvermeid¬
lich jeden Menschen demüthigt, indem dieser mit demselben den
sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht, dass durch den Ab¬
bruch, der den Neigungen geschieht, ein Gefühl bewirkt werden
muss, welches Schmerz genannt werden kann; erst dadurch,
dass auch der Hang zur Selbstschätzung durch die Befolgung
des moralischen Gesetzes Abbruch erleidet, wird dieses nach
Kant ein Gegenstand der Achtung, mithin auch der Grund
eines positiven Gefühles.
Diese weitläufige Deducirung des moralischen Gefühles will
den Philosophen immer weniger Zusagen. v.Volkmann spricht diese
Eichtung aus, wenn er sagt: „Dass Kant für das moralische Gefühl
keine andere Grundlage auffinden konnte, als die Demüthigung
aus der Niederlage des einen der beiden „um die Gesetzgebung
unseres Willens streitenden” Vermögen durch das andere, ist
leider die unausweichliche Consequenz seiner Psychologie, die
überall einen Kampf der einzelnen Seelenvermögen voraussetzt.
Die Folge davon ist, dass Kant gerade die immanenten Moral-
*) Kant, Kritik der praktischen Vernunft.
5 *
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Dr. Josef Berze.
gefühle, das Wohlgefallen und Missfallen, an den Willensverhält¬
nissen entgehen und durch eine allgemeine sbimmungsartige
Lust ersetzt werden, die ihren Umweg durch eine tiefe Unlust
nehmen muss. — Kant steht übrigens auch nicht an, die Ver¬
bindung des moralischen Gefühles mit dem ästhetischen in der
ästhetischen Auffassung der Gesetzmässigkeit einer Handlung
aus Pflicht anzuerkennen. Hierdurch werden wir zu der mit den
Ergebnissen der neueren Forschungen im Gebiete der Physio¬
logie der Hirnrinde in vollkommenem Einklang stehenden An¬
sicht Volkmann’s hinübergeführt, der sagt: »Unter dem morali¬
schen Gefühle verstehen wir eine Art des ästhetischen Gefühles,
die sich von den übrigen nur durch die Besonderheit ihrer ob-
jectiven Grundlage unterscheidet. Gefühle dieser Art sind die
Lust an der Uebereinstimmung des Wollens mit der sittlichen
Einsicht des Wollenden, mag diese letztere an sich genommen
richtig sein oder nicht, die Lust der Erhebung des Wollens zu
jenem Stärkegrade, der ihm als sein quantitatives Mass vor¬
schwebt, die Lust in der Lenkung des Wollens auf die Förderung
fremden Wohles, die Unlust an Rechtsverletzungen und an
unvergoltenen Wehe- und Wohlthaten.”
Was Volkmann „als objective Grundlage” bezeichnet, ist
nichts anderes als die Einwirkung der Associationscomplexe,
welche wir als Constituentien der Moral des betreffenden Indi¬
viduums ansehen. Diese Associationscomplexe werden zunächst
bestimmend für den Willen des Menschen in der Richtung eines
moralischen Gebarens, werden weiterhin aber auch zu Urhebern
eines Gefühles, und zwar entweder des der Lust — wenn die
betreffende Entäusserung mit dem Systeme stimmt, dagegen zum
Urheber des Gefühles der Unlust — wenn die Entschliessung
in einem widersätzlichen Verhältnisse zum Inhalte des Systemes
steht. (Die Controverse, ob „das” moralische Gefühl dem morali¬
schen Urtheile vorangehe [Brown, Spalding] oder nachfolge
[Payne], halten wir, von unserem Standpunkte aus, somit für
die letztere Ansicht entschieden.)
Der „Umweg durch die tiefe Unlust” scheint uns nicht für
alle moralischen Beziehungen anwendbar. Wenn nämlich auch
in gewisser Beziehung der Satz allgemeine Giltigkeit bean¬
spruchen darf, dass in letzter Linie jede moralische Leistung
eine Art Selbstbeeinträchtigung in sich schliesst, so ist doch
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Ueber moralische Defectzustände.
69
andererseits klar, dass das entwickelte secundäre Ich vielen
moralischen Leistungen das Moment der Beeinträchtigung be¬
nimmt, indem eben an Stelle des engen primären Ich das er¬
weiterte secundäre Ich tritt; dadurch müssen gewisse Beziehungen
sogar gerade das entgegengesetzte Moment gewinnen. Die
moralische Leistung bedingt nur insolange immer eine Selbst¬
verleugnung, als nur das nackte primäre Ich mit seinen
Forderungen hervortritt; je mehr sich Elemente einer secundären
Ich-Bildung zeigen, desto mehr geht der Charakter der Selbst¬
verleugnung verloren. Wenn sich beim Kinde einmal die Vor¬
stellung der Eltern mit dem primären Ich so associirt hat, dass
eine förmliche Identificirung der beiderseitigen Interessen erfolgt
ist, setzt die Erscheinung der Liebe des Kindes zu den Eltern
keine Selbstverleugnung voraus, ist im Gegentheile als Er¬
scheinung einer erweiterten Philautia von denselben Gefühlen
begleitet wie die Eigenliebe. Wenn Kant in den „Träumen eines
Geistersehers” sagt, das moralische Gefühl ordne den Privat¬
willen dem allgemeinen Willen unter, so stellt er den Kampf
der Seelenvermögen schon etwas zahmer dar als in der bereits
mehrfach citirten „Kritik der praktischen Vernunft”. Das Be-
dürfniss, einen Kampf vorauszusetzen, wird aber noch weit
geringer, wenn wir berücksichtigen, dass nach Bildung des
secundären Ich das primäre Ich für gewöhnlich seinen Separat¬
willen nicht zur Geltung bringt, sondern der Wille des Indi¬
viduums eben der Wille des erweiterten Ich, welches das primäre
Ich in sich schliesst, ist. So wird vielen moralischen Systemen
der Charakter der Hemmung genommen. Das geweckte Gefühl
•wird nicht erst secundär ein positives, sondern ist schon primär
ein solches, wie dasjenige, welches durch die Befriedigung der
Triebe erzeugt wird. Elternliebe, Geschwisterliebe, Vaterlands¬
liebe, Nächstenliebe, Mitgefühl mit allen Lebewesen, Liebe zum
Kosmos stellen in fortschreitender Entwickelung mit der Ent¬
wickelung des secundären Ich Schritt haltende moralische
Leistungen ohne Charakter der Hemmung dar. Klar tritt da¬
gegen die Beeinträchtigung hervor, wenn das engere Ich in
einen Antagonismus zum weiteren Ich tritt. Absichtlich sprechen
wir nicht von einem Antagonismus zwischen primärem und
secnndärem Ich, wie er durch den Nahrungstrieb, durch den
Geschlechtstrieb provocirt wird; denn auch die schrankenlose
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70
Dr. Josef Berze.
Berücksichtigung eines weiteren Ich zeitigt moralische Vergehen
gegenüber einem noch weiteren Ich. So führt die Liebe zu den
eigenen Kindern, zu Verwandten zu der unmoralischen Er¬
scheinung, die wir als Protectionswirthschaft im öffentlichen
Leben oft beobachten, die Liebe zur eigenen Nation und Rasse
zum Krieg gegen andere Nationen, zur Anfeindung anderer
Rassen. Bis zur Grenze der pantheistischen Weltliebe gibt es
so viele Moralitätsgrade, bis zur Grenze der Kosmophilie findet
jedes erweiterte Ich ein noch weiteres, dem gegenüber die
höhere Moral Hemmung verlangt. Wir halten die so motivirte
Trennung der moralischen Leistung in eine positive Leistung:
Bethätigung des secundären oder weiteren Ich, und in eine
negative Leistung: Hemmung der Neigungen des primären oder
engeren Ich nicht für werthlos. Wir haben nämlich Fälle kennen
gelernt, in denen die positive Bethätigung der Moral einen
hohen Grad erreicht hat, während die negative Bethätigung
recht defect geblieben oder geworden ist. Besonders auffällig
ist dieses Verhalten oft bei Hysterischen, die neben aufopfernder
Nächstenliebe, Wohlthätigkeitssinn, Arbeitsfreude, Begeisterung
für die Kunst einen oft erschreckenden Mangel jeglicher Hemmung
bekunden, wenn das engere Ich in seinen eigenen Interessen
und Neigungen unmittelbar betroffen wird, so dass sie in Hass,
Neid, Eitelkeit, Ruhmredigkeit, Geschlechtsgier, Genusssucht
keine Grenze finden. Der Grund für ein solches Verhalten
dürfte einerseits in der Labilität des psychischen Gleichgewichtes,
in der darin begründeten Abhängigkeit von Affecten und der
mit diesen wechselnden Erregbarkeit der einzelnen Associations¬
systeme, andererseits in der gesteigerten Impressionabilität zu
suchen sein. Die irgendwie erzeugte Laune kann bei ihnen
bald zu hochmoralischem, bald zu tief defectem Thun führen.
Wir glauben aber auch auf die Annahme näher eingehen
zu müssen, dass dem moralischen Urtheile nicht nur ein Gefühl
folge, sondern demselben auch ein moralisches Gefühl voraus¬
gehe; sind wir doch gewohnt, nicht nur in dem Wohlgefallen
an moralischer Bethätigung ein Gefühlselement zu finden,
sondern auch die einzelnen moralischen Motive als Gefühle auf¬
zufassen, von einem Gefühle des Mitleids, der Dankbarkeit, der
Elternliebe zu sprechen, stellen wir doch das Gemüthsleben in
einen förmlichen Gegensatz zum Verstandesleben, sprechen wir
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Ueber moralische Defeetzustände.
71
doch beispielsweise auch davon, die Sittlichkeit des Weibes sei
eine höhere (?) und dies entspreche einem regeren Gemüthsleben.
Was unterscheidet die einem gewöhnlichen Urtheile vorangehende
geistige Thätigkeit von der, welche zum moralischen Urtheile
führt, so dass wir das letztere vorzugsweise als Resultat des
Gemüthslebens ansprechen? In dem Gefühle der Lust am Ur-
theilen überhaupt können wir kein entscheidendes Moment er¬
blicken, weil es eben einerseits jedem Urtheile anhaftet, weil
andererseits gerade die moralischen Urtheile in der Regel nicht
einer selbstständigen, actuellen Gedankenarbeit entspringen,
sondern der grössten Mehrzahl nach Reproductionen von in den
psychischen Besitz des Individuums aufgenommenen, bereits vor¬
gebildeten, überlieferten Urtheilen darstellen. Bedeutungsvoller
ist schon der Umstand, dass nicht nur Urtheile in den psychischen
Besitz aufgenommen werden, sondern mit denselben auch der
ihnen entsprechende Lust- oder Unlustaffect; da aber moralische
Urtheile ganz besonders zur Affectbetonung begünstigt sind,
weil dieselben immer über das Ich im engeren oder weiteren
Kreise entscheiden, dessen Interessen fördern oder hemmen, so
wird diesen Urtheilen mehr als anderen der Charakter von
„Gefühlen” aufgedrängt. Ein weiteres, noch wichtigeres Moment
scheint uns aber in dem Bewusstseinsgrad gelegen su sein, bei
welchem gemeinhin die zum moralischen Urtheil führende Ge¬
dankenarbeit ablauft.
Der Einfluss neuer Forschungen macht sich auch in der
Richtung fühlbar, dass gewissen Seelenvermögen, die bisher als
souveräne Lenker der psychischen Thätigkeit betrachtet wurden,
den „thronenden Seelenvermögen”, eine bescheidenere Stellung
angewiesen wird, dass sie — entthront werden. So sagt Georg
Hirth: „Man wird sich vielleicht dazu entschliessen müssen,
den „Willen” und das „Ich-Bewusstsein aus der Liste der
selbstständigen, der „thronenden” Seelenvermögen zu streichen”,
und an anderer Stelle (op. cit.): „Die Worte „Aufmerksamkeit”,
„Bewusstsein”, „Wille” geben uns nur einen gewissen biologischen
Massstab für die Stärke und Ordnung der gefühlten oder
vorausgesetzten Spannungen.” Wir lernen so immer mehr die
Bedeutung der Annahme eines Huxley oder Maudsley
schätzen, dass das Bewusstsein nur mit gewissen Nervenpro-
cessen einhergehe, ohne auf dieselben einwirken zu können,
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72
Dr. Josef Berze.
eines Carpenter, der die grosse Bedeutung der unbewussten
Gehirnthätigkeit betont, eines Bibot, der dem Bewusstsein im
Mechanismus des Gedächtnisses die Bolle eines nebensächlichen
Elementes zuweist. Gleichzeitig mit der Erkenntniss, dass die
Gehirnthätigkeit des Denkens sowohl über als auch unter der
Schwelle des Bewusstseins vor sich geht, und dass für das un¬
bewusste und für das bewusste Denken dieselben Gesetze
gelten, macht sich bei uns aber auch die Ueberzeugung geltend,
dass die Bolle, welche die unbewusste Gehirnthätigkeit in unserem
geistigen Leben überhaupt spielt, verschieden sein muss von
der Bolle der bewussten Gehirnthätigkeit Diese Verschiedenheit
ist zunächst in dem Umstande begründet, dass uns die un¬
bewusste Gedankenarbeit in ihren einzelnen Phasen nicht be¬
kannt ist und nur durch ihr Eesultat, das über die Schwelle
des Bewusstseins tritt, auf ihren Ablauf schliessen lässt und
ihren Einfluss äussert, wogegen uns die bewusste Gedanken¬
arbeit, abgesehen von miteinfliessenden unbewussten Elementen,
in ihrer ganzen Entwickelung klarliegt. Wir werden daher
durch das unbewusste Denken in eine gewisse Sichtung gelenkt,
ohne dass wir die einzelnen Momente erkennen, die hierbei
wirksam werden; wir bezeichnen diese Kraft, die uns wie ein
dunkler Drang führt, bald als Voreingenommenheit, als Vor-
urtheil, Personen gegenüber als Sympathie oder Antipathie, oft
geradezu als Gefühl, besonders dann, wenn es sich um moralische
Begriffe handelt. Der Sinn für Mein und Dein ist beispielsweise
nichts anderes als die zur Berücksichtigung des Eigenthums¬
rechtes drängende Besultante aller unbewusst wirksam werdenden
Erkenntniss, die theils in Form von einfach übernommenen
fremden Urtheilen, theils als Ergebniss eigener Denkthätigkeit,
auf den Begriff des Eigenthumsrechtes Bezug habend, im
Associationsorgane aufbewahrt ist; da dieses Wirksamwerden
unbewusst geschieht, können wir den inneren Werth dieses
Beweggrundes nicht abschätzen, wie wir einen uns in seinem
ganzen Inhalt bewussten Beweggrund abschätzen können, wir
können denselben auch nicht abweisen, wie wir einen bewussten
Beweggrund abweisen, wenn wir seine momentane Berechtigung
nicht erkennen, sondern stehen unter seinem Banne, werden
durch denselben in einen gewissen stimmungsartigen Zustand
versetzt, der unser Denken und Handeln leitet. Wir können
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Ueber moralische Defectzustände.
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von einem Menschen, der uns „vom ersten Momente an anti-
pathisch” war, nur Gutes und Schönes erfahren; dennoch werden
wir ihm gegenüber immer reservirt bleiben und dabei vielleicht
sogar gut fahren. Ein moralisch vollkommenes Individuum mag
noch so sehr durch ungünstige Lebensverhältnisse etc. in die
Versuchung kommen, fremdes Eigenthum anzutasten, das Streben
nach Uebereinstimmung des Wollens mit der unbewusst wirksam
werdenden sittlichen Einsicht wird auf dasselbe doch mächtiger
einwirken als die Befriedigung der egoistischen Versuchung,
das unbewusst geweckte Gefühl der Unlust an Rechtsverletzungen
wird ihn verhindern, eine seinem Charakter, d. h. der Summe
seiner sittlichen Erkenntniss widersprechende Handlung zu be¬
gehen. Es fällt also wie überall, so auch im Gebiete der Moral
der unbewussten Gehirnthätigkeit eine Art präparatorische Arbeit
zu, sie enthebt uns der Nothwendigkeit, mit jener Energie,
welche wir zum bewussten Denken aufbringen müssen, welche
zur Entstehung neuer Gedankenreihen und neuer Urtheile
nöthig ist, alle jene Principien und Grundlagen, die für unser
Denken und Fühlen allgemein gelten, immer wieder in Betracht
zu ziehen, und befähigt uns, ja zwingt uns, unsere Urtheile auf
dieser sich gleichsam von selbst ergebenden Basis weiter auf¬
zubauen. In der unbewussten Gestaltung der zur moralischen
Leistung führenden Triebkraft liegt aber zugleich eines der
Hauptmomente, welche uns diese Kraft zum Unterschiede von
genau umschriebenen, bewusst gestalteten Beweggründen als
Drang oder als „Gefühl” erscheinen lassen. Die Gesammtheit
dieser Gefühle ist jenes Wissen, das den Namen „Gewissen”
führt, das Wirksamwerden derselben ist die „Stimme des Ge¬
wissens”.
Wenn wir so eine gewisse Beziehung der unbewussten Ge¬
dankenarbeit zur moralischen Leistung gefunden zu haben
glauben, sind wir aber weit davon entfernt zu leugnen, dass
nicht auch gelegentlich der bewussten Gedankenarbeit eine
wichtige Rolle zufällt. Die Leistungsfähigkeit der unbewussten
Thätigkeit ist ja wahrscheinlich eine begrenzte. Wie oben er¬
wähnt, handelt es sich um eine präparatorische Arbeit, die
offenbar nur so weit gehen kann, bis wohin vorher schon die
bewusste Thätigkeit geführt hat; wo der neue Weiterbau, wo
die Speciflcation beginnt, ist schon jene höhere Energie nöthig,
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Dr. Josef Berze.
die dem bewussten Denken zukommt. In Sachen der Moral tritt
letzterer Fall wohl nur äusserst selten ein. Es gibt ja gewiss
tragische moralische Conflicte, die an die geistige Thätigkeit
des Individuums hohe Anforderungen stellen; doch sie sind es
nicht, nach welchen wir die moralische Sufficienz oder InsufA-
cienz beurtheilen, sondern es wird uns in der Regel auffällig,
dass die elementarsten moralischen Begriffe vernachlässigt
werden; weiterhin handelt es sich gerade bei der Moral um die
Wirksamkeit von zumeist fertig übernommenen, vorgebildeten
Urtheilen, die erst durch ihre Erregbarkeit und Werthigkeit
eine hohe Rolle spielen. Zu letzteren Factoren gelangten sie,
ohne jemals an das Associationsorgan höhere Ansprüche ge¬
stellt zu haben, lediglich durch die wiederholte Aufnahme und
Reproduction; so wurden diese Urtheile zu Elementen des
„Charakters” ohne wesentliche active Betheiligung des Associa¬
tionsorganes, so wurden sie zu unbewusst mitwirkenden Factoren,
die viel sicherer eine moralische Bethätigung herbeiführen, als
neue bewusste Urtheilsfunctionen, welche gelegentlich ebenso gut
zu einer Vernachlässigung der Moral führen können, wenn bewusste
(„Verstandes-”) Gründe das Urtheil in dieser Richtung beeinflussen.
Nach dem bisher Gesagten ist es klar, dass wir dem
Associationsorgane als schlussbildenden Apparat eine äusserst
geringe Bedeutung für die Moral zuschreiben. Diese Ansicht
wird durch die Beobachtung gestützt, dass oft sehr schwach¬
sinnige Personen den Anforderungen der Moral in ihrem be¬
schränkten Gedanken- und Thatenkreise vollauf genügen, dass
sie manchmal geradezu als Pedanten der Moral erscheinen. Ja,
der „beschränkte Unterthanenverstand” steht sogar im Rufe,
der Moral des Staatsbürgers förderlich zu sein! Wenn der Idiot
im Stande ist, die Schwierigkeiten, welche sich bei ihm der
Apperception in den Weg stellen, zu überwinden, wenn gewisse
Vorstellungen, Associationscomplexe, Urtheile und Urtheilsreihen
in seinen psychischen Besitz einmal aufgenommen sind, spielen
sie in seinem Geistesleben eine viel bestimmendere Rolle als
beim Vollsinnigen, bei dem eine grosse Reihe von Neben¬
associationen, Nebenurtheilen, neuen Apperceptionen die Wirk*
samkeit abdunkelt.
In der Schwierigkeit der Apperception liegt aber in den¬
jenigen Fällen von Idiotie, die die moralische Defectuosität
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Ueber moralische Defectzustände.
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hervortreten lassen, der nächste Grund für ihre Erscheinung:
Die der Moral zu Grunde liegenden Associationssysteme
kommen gar nicht zur Entwickelung. Wenn auch solchen
Schwachsinnigen durch kundige Erziehung irgend welche
moralischen Systeme beigebracht werden, so ist es doch nie
möglich, bei ihnen so zusammengesetzte Associationscomplexe
zu erzeugen, dass ein entsprechender Affect hervorgerufen
wurde; die Systeme bleiben nackte Schemen, das Element des
Affectes tritt nicht hinzu. Das Resultat der Erziehung ist
bestenfalls Drill. Von dem mehr oder weniger vorhandenen
Momente der Reizbarkeit wird es in solchen Fällen abhängen,
ob die moralische Defectuosität hervortritt oder nicht; die
Autoren, welche den Schwachsinn als Basis dieser Erscheinung
auffassen, heben daher auch das Moment der Reizbarkeit hervor.
Für uns hat die moralische Defectuosität des Idioten —
als Folge mangelhafter Apperception viel weniger Interesse als
die des Imbecillen. Der Letztere führt uns um einen Schritt
weiter. Er zeigt uns, dass es zur moralischen Leistung nicht
genügt, dass das „Gefühl für Recht und Unrecht” vorhanden
ist, sondern dass es weiterhin nöthig ist, dass dieses Gefühl
unter allen Umständen geweckt wird, dass „die Wünsche und
Pläne Revue passiren” — wie sich Tiling') ausdrückt — vor
den „jedem Menschen geläufigen Begriffen von Recht und Pflicht”,
dass schliesslich dieses Gefühl von so hochwerthigem Einflüsse
ist, dass durch dasselbe die Handlungsweise des Individuums
bestimmt wird.
Sollier 2 ) hat den psychischen Zustand des Imbecillen
gegenüber dem des Idioten streng abgegrenzt. Es fällt uns nun
auf, dass gerade jene Momente, welche den Imbecillen vom
Idioten unterscheiden, die Grundlage für seine moralische
Defectuosität abgeben. Während der Idiot leichteren Grades,
d. h. der Idiot, der einer gewissen, allerdings schwachen Auf¬
merksamkeit fähig ist, nur mit schwerem Bemühen neue Er¬
fahrungen, die man seinem Geiste aufzudrängen sucht, seinem
bereits erworbenen Bewusstseins-Inhalt anreiht, wenn man ihm
*) Tiling, Ueber angeborene moralische Degeneration oder Perversität
des Charakters. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche
Medicin, 52. Band, 2. Heft.
2 ) Sollier, Der Idiot und der Imbecille.
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Dr. Josef Berze.
aber einmal gewisse Begriffe beigebracht hat, von denselben
nur äusserst schwer ablässt, sehen wir den Imbecillen rasch
erfassen, aber so rasch von einem Gegenstände auf den anderen
Überspringen, dass wir schon durch die Beobachtung überzeugt
werden, es könne keine Fixirung des Eindruckes stattgefunden
haben. Während der Idiot immer derselbe bleibt, ein wahres
Muster der Beständigkeit, ist der Imbecille ganz der Situation
unterworfen, die verkörperte Unbeständigkeit. Dieser Gegensatz
im psychischen Verhalten ist ein so auffälliger, dass man als¬
bald erkennt, dass der Schwachsinn des Idioten von dem des
Imbecillen schon genetisch verschieden ist. Die Ursache des
ersteren liegt in der erschwerten Apperception, als deren Ur¬
sache wir irgend welche angeborene oder erworbene Hindernisse
innerhalb der Sinnes- und Associationsbahnen annehmen, wogegen
dem letzteren ein abnorm erleichterter Associationsablanf zu
Grunde zu liegen scheint, welcher häufig auch Urheber einer
auffälligen manischen Färbung wird. Vielfache Beobachtungen
führen uns nämlich dahin, anzunehmen, dass die Festigkeit der
Fixation einer Association im geraden Verhältnisse steht zur
Zeit, die zu ihrer Entstehung nothwendig war. Ist die Fixation
schwach, so erfüllt das Associationsorgan seine Function als
Gedächtnissorgan nicht vollständig. Auf diesem Defecte beruht
der Schwachsinn des Imbecillen, wenn er auffällig ist; denn
es gibt ja anch intellectuell fast normale Imbecille. Auf diesem
Defecte beruht aber auch die immer vorhandene Unbeständigkeit
des Imbecillen, endlich auch die moralische Defectuosität; denn
damit Systeme hochwerthig und erregbar werden, müssen sie
erworben und aufbewahrt werden, dann erst können sie durch
wiederholte Erregung und weitere Verknüpfung mit anderen
Systemen die zwei betonten Eigenschaften gewinnen. Trotzdem
der „schlussbildende Apparat” des Imbecillen genügt, das Un¬
moralische seiner Handlungsweise einzusehen, fehlt ihm daher
das „Ausgeschliffensein der Bahnen”, so dass sich im gegebenen
Momente diese Einsicht nicht ausschlaggebend geltend macht.
Während also der Schwachsinn des Idioten in schlechter Auf¬
fassung begründet ist, liegt seine Basis beim Imbecillen in
einem Defecte des Associationsorganes als Gedächtnissorgan;
dieser Defect geht nicht so weit, dass überhaupt keine Eindrücke
haften blieben, sondern nur so weit, dass dieselben in kurzer
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Ueber moralische Defectzustände.
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Zeit abblassen, ihre Reproduction daher oberflächlich und ungenau
wird. Wenn der Imbecille fabulirt, thut er es daher oft in dem
Bestreben, gewisse Lücken der Erinnerung, welche sich ihm
fühlbar machen, auszufüllen, wobei er natürlich ab und zu von
der Wahrheit ab weicht; so belügt er sich und die Anderen.
Das einzige Moment, welches auch den Imbecillen zu einer
gewissen Beständigkeit zu zwingen vermag, ist die eigene
Persönlichkeit mit ihren Interessen; es haftet ja denjenigen
Associationen, die mit einem Ende in den Associationscomplex
des primären Ich münden, eine leichte Erregbarkeit, eine hohe
Werthigkeit an. Wenn wir nach Wernicke in der Bestimmung
der Höhe, bis zu welcher „sich präformirte AssociationsVorgänge
über die Schwelle des Bewusstseins erheben”, ein Mittel er¬
blicken, um die Aufmerksamkeit zu messen, so müssen wir
sagen, dass sich die Aufmerksamkeit des Imbecillen von der
des Normalen dadurch unterscheidet, dass sie nur auf Vorgänge
gerichtet ist, die auf ihre Persönlichkeit Bezug haben, dass sie
dagegen sehr gering ist, wenn es sich um Vorgänge handelt,
deren Mittelpunkt im Objecte, also ausserhalb der Beziehungen
des Individuums gelegen ist. Dadurch wird aber die Auf¬
merksamkeit, die dem eigenen Ich entgegengebracht wird,
relativ gesteigert, gerade so wie ein Baum grösser erscheint,
dessen Nachbarn gefällt sind. Im selben Masse also, als die
Aufmerksamkeit für objective Vorgänge sinkt, steigt beim Im¬
becillen die Aufmerksamkeit für sein Ich, sie erscheint geradezu
vertieft. Auch das Bewusstsein der Körperlichkeit, das uns im
wachen Zustande, wie Wernicke sich ausdrückt, fortwährend be¬
gleitet, spielt daher beim Imbecillen eine grössere Rolle als
beim Normalen. Diese Umstände führen dazu, dass Vorgänge,
die vom Normalmenschen gar nicht mit dem Ich in Verbindung
gebracht werden, vom Imbecillen immer vom Standpunkte der
Förderung oder Schädigung seines Ich betrachtet werden,
wodurch eine Erscheinung hervorgerufen wird, die mit dem
Beziehungswahn in einiger Verwandtschaft steht, jedenfalls als
gesteigerte Egocentricität auftritt. Während der Normale ge¬
wisse Vorschriften als feststehende Forderungen, als Richtschnur
für sein Handeln anerkennt, ist der Imbecille daran verhindert,
da er in Folge der krankhaft erhöhten Schätzung seines Ich in
der Vorschrift zunächst nur eine Schädigung dieses Ich durch
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Dr. Josef Berze.
Beschränkung seiner Actionsfreiheit erblickt. Während der
Normale im fremden Eigenthum etwas Unantastbares sieht, beim
Erwerb dieser moralischen Grundlage gar nicht an sein Ich
denkt, findet der Imbecille darin eine Behinderung seines
Strebens nach Besitz. Während der Normale daher eine Strafe
bei Ausserachtlassung von Vorschriften mehr weniger als gerecht
erkennt, findet der Imbecille darin eine ungerechte Behandlung,
eine Verfolgung. Der relativ hohe Schwellenwerth der eigenen
Persönlichkeit muss aber auch noch in anderer Richtung seinen
Ausdruck finden.
Zunächst wird dadurch das primäre Gefühl des psychischen
Schmerzes, das der moralischen Leistung nach Kant immer
anhaftet, derart gesteigert, dass es zu den schon in der Asso¬
ciationsanomalie begründeten Hindernissen der Entwickelung und
Bethätigung der Moral hinzutritt. Andererseits wird aber auch
das Gefühl der Befriedigung, der ungebundenen Bethätigung,
welches im Gegensätze zur moralischen Leistung jeder Ver¬
letzung der Moral anhaftet und das Holländer 1 ) als das
„Gefühl der Unumschränktheit”, das zur Erscheinung der Moral
insanity führen könne, in Betracht zieht, zu einer solchen Höhe
gedeihen, dass der Kranke dieses Gefühl unter allen Umständen
herbeizuführen bestrebt ist, dass dasselbe also gewissermassen
zu einer treibenden Kraft wird. So erklären wir uns, dass der¬
artige Imbecille mit erhöhter Ich-Bewerthung gerade solche
Handlungen verüben, die Verletzungen von in die Erkenntniss
aufgenommenen Gesetzen der Moral ausmachen, wir erklären
uns so die bei derartigen Individuen ganz besonders hervor¬
tretende Erscheinung der geradezu gesuchten und angestrebten
Gesetzesverletzung, der moralischen Perversität. Der Schwach¬
sinn kann nur eine in Unterlassungssünden begründete und in
Form von Ausserachtlassung moralischer Gesetze erscheinende
moralische Defectuosität zur Folge haben, die in Form ange¬
strebter Gesetzesverletzungen erscheinende moralische Defectuo¬
sität setzt ausser dem negativen Factor des Blödsinnes oder der
eine Hemmung nicht genügend aufkommen lassenden Associations¬
anomalie des Imbecillen einen positiven Factor voraus mit
treibender Kraft, den Holländer direct aus der gesteigerten
') Holländer, Zur Lehre von der Moral insanity, dieser Jahrbücher 4. Band.
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Ueber moralische Defectzustände.
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subcorticalen Function ableitet, während wir ihn anf eine relativ
gesteigerte Werthigkeit des Associationscomplexes des primären
Ich zurückführen. Dass dieser zweite Factor nothwendig ist,
um einen Imbecillen im Kleide des moralisch Perversen erscheinen
zu lassen, beweisen Fälle von Imbecilität, bei denen die Er¬
scheinung dieser Form der moralischen Defectuosität fehlt. Erst
auf dem Wege der krankhaft erhöhten Ich-Bewerthung und
Eigenbeziehung wird im concreten Falle das Moment der starren
Negation, der Opposition um ihrer selbst willen, der Gesetzes¬
übertretung um jeden Preis hervorgebracht. Dabei ist für das
Individuum der Nutzen, den wir manchmal nicht einsehen können,
in dem Gefühle der Befriedigung zu suchen, das die Verletzung
des moralischen Gesetzes durch Schädigung der Aussenwelt und
das darauf sich gründende Gefühl der Macht mit sich bringt. „Der
Geist, der stets verneint”, wird so der Grundzug der moralischen
Defectuosität mancher Imbecillen.
Wir kommen also bei dem Versuche, die Art der Genese
der moralischen Defectuosität zu ergründen, für manche Fälle
der Ansicht Holländer^ nahe, die sich übrigens ganz unmittel¬
bar aus Meynert’schen Lehren ableitet. Wir bestreiten aber,
dass seine Art der Ableitung diejenige ist, die für alle Fälle
Geltung hätte, geradeso wie wir den zum Schwachsinn als
Basis führenden Weg einer Generalisation nicht für fähig halten.
Wir sehen vielmehr aus dem Umstande, dass Holländer das
„weitere Moment der Urtheilsschwäche” schliesslich doch herbei¬
ziehen muss, um den Mangel einer Correctur der im Sinne
eines nicht fixirten Grössenwahnes gestörten „Beurtheilung der
Beziehung der Persönlichkeit zur Aussenwelt” zu erklären, dass
wir in seiner Theorie eigentlich nur eine Umkehrung der
Theorie vom Blödsinn als Basis vor uns haben. Ebenso wie die
einen Autoren, nachdem sie dem Blödsinn den unumschränkten,
einzigen Einfluss auf die Entstehung moralischer Defectuosität
vindicirt haben, andere Momente, beispielsweise das der Beiz-
barkeit — wie es Schlöss 1 ) thut — ein Moment, das zunächst
weder immer vorhanden ist, wenn es aber vorhanden ist, nicht
den Defect der moralischen „Gefühle”, sondern nur gewisse der
') Schloss, Ueber die Lehre vom moralischen Irrsinn, dieser Jahrbücher
8. Band.
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Dr. Josef Bern.
Gereiztheit entspringende Zwischenfälle erklären kann, in ihre
Begründung einführen, ebenso muss Holländer, nachdem er zu¬
erst den Grössenwahn ganz allein hat functioniren lassen, die
fühlbar werdende Lücke durch den Deus ex machina der
Urtheilsschwäche verdecken lassen, also durch die Einführung
eines Momentes wettmachen, für dessen Annahme keine be¬
stimmten Anhaltspunkte massgebend sind, dessen Constatirung
subjectivem Ermessen anheimgestellt ist, das daher derjenige
leicht einzuführen veranlasst wird, der es braucht.
Wir erklären uns aber, warum die Autoren bald ein cor-
ticales Minus, den Blödsinn, bald ein subcorticales Plus, den
von Holländer entwickelten relativen Grössenwahn, in den
Vordergrund schieben, daraus, dass es unter denjenigen Formen
von moralischer Defectuosität, bei denen überhaupt von Urtheils¬
schwäche die Rede sein kann, solche gibt, für deren Erscheinungs¬
weise das eine Moment, und wieder andere, in denen das
andere Moment bestimmend wird. Fälle, die auf Holländer^
Auffassung hinlenken, charakterisiren sich ziemlich scharf.
Solche Kranke betrachten sich als ausserhalb der Gesetze
stehend; Hausordnung, Schulordnung, sociale Ordnung hat aut
sie keine Anwendung; sie dürfen nicht mit gewöhnlichem Masse
gemessen werden, nicht nach der Schablone beurtheilt werden;
sie dürfen sich Uebergriffe erlauben, die nur den Anderen ver¬
boten sind, ihnen selbst nicht; sie sind aber auch anders als
die Anderen. Was ihnen von den Eltern, der Gesellschaft in dem
ihr primäres Ich in seiner Expansivität fördernden Sinne zu-
theil wird, betrachten sie als selbstverständlichen Zoll, für den
sie daher keinen Dank schuldig sind. Geht die Förderung ihres
Ich noch so weit, so entspricht sie doch nie ihren Ansprüchen;
sie sind daher nie zufrieden, haben immer zu fordern, was sie
ungestüm und rücksichtslos thun. Sie zeigen ein erhöhtes Ehr¬
gefühl, sind daher auch leicht gekränkt, fühlen sich bald als
Verfolgte, denen alles „zu Fleiss” gethan wird. Ihre Stimmung
ist daher oft vorübergehend gedrückt, wie affectirter Welt¬
schmerz zur Schau getragen; die Stimmung schlägt aber leicht
um und wird zu einer leicht exaltirenden heiteren Stimmung.
Ein Eingriff in ihre wirklichen oder angemassten Rechte führt,
bei ihrer Empfindlichkeit zu übertriebener Reaction; sie erscheinen
zornmüthig. Manchmal kommt es zu heftigen Erregungszu-
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Ueber moralische Defectzustände.
81
ständen, die durch ihre ganze Erscheinung im Beobachter den
Gedanken an eine vorübergehende Associationsdissolution wach¬
rufen.
Diese Erregungszustände sind es auch oft, welche den
Kranken einer psychiatrischen Beobachtung znführen. Das
Moment des Blödsinnes tritt bei diesen Formen sehr zurück. Es
liegt den unmoralischen Handlungen ein erkennbarer Zweck zu
Grunde, die ohne Rücksicht auf die Mitwelt angestrebte För¬
derung des Ich in seiner momentanen Situation; die Kranken
sind im Stande, das Moralische oder Unmoralische einer Hand¬
lung zu erkennen, was sie nicht nur dadurch documentiren,
dass sie sich als treffende Kritiker der Handlungen Anderer
aufwerfen, sondern auch an den eigenen Handlungen das Un¬
moralische bei Vorhalt herausfinden, eine Einsicht, die für sie
aber wirkungslos ist, weil sie sich einerseits im Momente der
Handlung nicht aufdrängt, andererseits weil selbst, wenn dieses
Postulat erfüllt wird, das hoch bewerthete Ich mit seiner excep-
tionellen Stellung eine solche Macht des moralischen Gefühles
voraussetzen würde, wie sie der Kranke in Folge seiner ganzen
Veranlagung nicht anfbringt. Schliesslich bekunden diese
Kranken bei der Erreichung ihres Zweckes klare Erfassung
der Situation, Umsicht, kluge Benützung der Umstände und
der Persönlichkeiten, wie sie nur bei nahezu intacter Intelligenz
erreicht werden kann. Diese Formen unterscheiden sich so weit
von jenen Formen, die mit Rücksicht darauf, dass sie sich auf
einen universellen oder partiellen Blödsinn — also auf mangel¬
haften Erwerb und mangelhafter Verwerthung des der Moral
zu Grunde liegenden Vorstellungscomplexes in Folge Insufficienz
des appercipirenden und schlussbildenden Apparates — zurück¬
führen lassen, als moralische Defectuosität bei Blödsinn, be-
zeihungsweise als partieller moralischer Blödsinn bezeichnet zu
werden verdienen, dass sie mit Rücksicht auf das bei ihnen im
Vordergründe stehende Moment der „veränderten Beziehung
ihrer Persönlichkeit zur Aussenwelt” als moralische Verrückt¬
heit immerhin angesprochen werden könnten.
In den bisher besprochenen Fällen kann von einer relativen
Insufficienz des schlussbildenden Apparates im weitesten Sinne
gesprochen werden. Der Umstand, dass es Fälle gibt, in denen
weder Schwachsinn noch die für die Imbecillität angenommene
Jahrbücher f. Psychiatrie n»d Neurologie. XV. Bd. 0
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Dr. Josef Berze.
Associationsanomalie hervortritt, verlangt, nach weiteren
Momenten zu forschen, die zur Entstehung moralischer Defec-
tuosität führen können. Wir vermögen solche Momente zu
finden, wenn wir berücksichtigen, dass die moralische Fähigkeit
eine erworbene ist, und bedenken, dass es ans diesem Grunde
nicht genügt, den Status praesens psychicus des moralisch
Defecten ins Auge zu fassen, sondern dass wir seine ganze
geistige Entwickelung zu Rathe ziehen müssen. Wir müssen be¬
denken, dass wir in der moralischen Defectuosität ein Symptom
vor uns haben, das als Resultat einer abnormen geistigen Ent¬
wickelung erscheint. Geradeso wie uns eine pathologische Becken-
form erst durch die Entwickelungsgeschichte verständlich wird,
so vermögen wir erst durch genaues Studium der geistigen Ent¬
wickelung des Individuums einen Einblick in das Wesen seines
moralischen Defectes zu gewinnen.
Wir stossen beim Studium der geistigen Entwickelung auf
Erscheinungen, die uns veranlassen, einige unserer Kranken als
Degenerirte aufzufassen, etwa jener Art, wie sie von Magnan
als dög^nöres supörieurs bezeichnet werden, als intelligente
Entartete. Die Degeneration scheint überhaupt das einzige
Moment zu sein, das allen Arten gemeinsam zukommt; freilich
sind es Angehörige aller Stufen der Entartung vom Idioten bis
zum intelligenten Entarteten, die moralisch defect erscheinen.
Während wir durch die Erhebung eingehender Anamnesen
nie zum sicheren Resultate, zur festen Ueberzeugung gelangen
konnten, dass solche intelligente moralisch-defecte Entartete
in ihrer frühen Kindheit abgeschwächte oder verlangsamte
geistige Thätigkeit gezeigt hätten, fiel uns die auch in von
Anderen verfassten Krankengeschichten erscheinende Angabe
auf, dass bei den Kranken vielmehr eine überraschend früh¬
zeitige geistige Entwickelung constatirt werden konnte. Die
Kinder werden als äusserst aufgeweckt, redegewandt und rede¬
lustig geschildert, besonders betont, dass dieselben schon früh¬
zeitig ein selbstständiges ürtheil verriethen, zu einer Zeit, wo
normale Kinder nur fremde Gedanken und Schlüsse zu über¬
nehmen pflegen, dass sie diese Fähigkeit zu selbstständigem Ur-
theile gern durch Kritik von Vorschriften, Ermahnungen, Strafen,
Züchtigungen, wie sie die Erziehung als erprobte Hilfsmittel
zur Erweckung und Ausschleifung gewisser Associationsbahnen
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Ueber moralische Defectzustände.
83
anwendet, zum Ausdrucke brachten, dass sie durch diese sich
förmlich aufdrängende Lust zu kritisiren zur starren Negation
geführt wurden, dass durch dieses Moment des Widerstandes,
des Trotzes, der Erfolg der Erziehung illusorisch wurde, da
wiederholte Strafen eine der Absicht gerade entgegenstehende
Wirkung, sich immer mehr verschärfende feindselige Gesinnung
gegen den Erzieher und immer hartnäckigeres Festhalten an
der Bethätigung und Befolgung der eigenen Neigung zur Folge
hatten. Jeder kennt solche in unserer an neuropathischer De¬
generation so überreichen Zeit immer häufiger auftretende,
vielversprechende, altkluge, witzelnde, schlagfertige, dabei aber
vorwitzige, arrogante, Familie und Umgebung terrorisirende
enfants terribles; sie sind Candidaten für die Moral insanity.
Ein erfahrener Wiener Schulmann, der das Unglück hat, ein
wahres Musterbild von Moral insanity zum Sohne zu haben, fasst
seine Bemerkungen über die frühe Kindheit desselben mit den
Worten kurz zusammen: „Ich habe schon sehr früh gesagt:
Mein Sohn wird entweder ein grosses Genie oder ein grosser
Lump!” Was dieser Schulmann in recht urwüchsiger Weise zum
Ausdrucke gebracht hat, das wird von der anthropologischen
Schule, welche auf das häufige Coincidiren vou Moral insanity
mit der „Genialitätspsychose” hin weist, ausführlich betrachtet.
Thatsächlich haben beide Abnormitäten oft dieselbe Grundlage,
nämlich die Negation. Die Negation der Gesetze der verschie¬
densten Provenienz, welche zusammengenommen die moralische
Triebfeder ausmachen, führt gelegentlich zur moralischen Defec-
tuosität, die Negation von allgemein geglaubten oder allgemein
„gewussten” Geistesproducten des menschlichen Geschlechtes
ist bei sonst entsprechender Veranlagung oft die Basis, auf der
sich geniale oder wenigstens originelle Schöpfungen entwickeln.
Das „aus der Art schlagen”, das „aus der Bahn weichen” ist
so eine häufige Grundlage für beide Zustände.
Geistige Frühreife mit Hervortreten selbstständigen Urtheiles,
selbstständiger Kritik, kämpfenden Tendenzen gegenüber der
Aussenwelt, beruht auf einer frühzeitigen Entwickelung des
Selbstbewusstseins, der Erkenntniss des eigenen Ich als einer der
Aussenwelt gegenüber abgegrenzten Individualität. Diese Erkennt¬
niss ist bei vielen Degenerirten thatsächlich schon sehr früh
vorhanden und lässt sich unschwer aus einer Eigenschaft, die
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Dr. Josef Bern.
bei ihnen anscheinend ebenfalls fast constant zu finden ist, ab¬
leiten, nämlich einer zuweilen mit körperlicher Hyperästhesie
vereinten psychischen Hyperästhesie. Das Selbstbewusstsein muss
bei hyperästhetischen Kindern bei sonst gleichbleibender psy¬
chischer Veranlagung um so eher sich entwickeln, je mehr die
Grenze der normalen Empfindlichkeit überschritten ist; denn je
kräftiger die durch die hyperästhetischen Sinne zugeleiteten
Eindrücke sind, um so eher muss der Gegensatz zwischen der
eigenen Individualität und der Extraindividualität erkannt wer¬
den. Die Negation ist nun nichts anderes als eine Art Reflex¬
äusserung des bereits constituirten psychischen Ich im repul-
siven Sinne. Ebenso wie körperliche Hyperästhesie das Eintreten
von Reflexbewegungen begünstigt, so begünstigt die psychische
Hyperästhesie die psychische Reflexäusserung der Negation.
Mit der Negation erscheinen die Contrastvorstellungen, erscheint
die Kritik, schwindet der Autoritätsglaube, werden also Be¬
dingungen geschaffen, die der Entwickelung der Moral als eines
unumstösslichen, consolidirten Erfahrungsschatzes zur Regelung
der Beziehungen des Ich zur Aussenwelt entgegensteheu.
Während das langsamer heranreifende normale Kind in der
Zeit, in welcher es fast nur als Accumulator von äusseren Ein¬
drücken, die es, man könnte sagen, unbewusst aufnimmt, func-
tionirt, eine Summe von Erfahrungen gewinnt, die eben wegen
ihrer kritiklosen Aufnahme ganz unumstösslich werden, haben
für das frühreife Kind die in dieser Zeit gewonnenen Eindrücke
keinen wesentlicheren Werth als den der momentanen Situation
entsprechenden; ein für alle Fälle geltender Erfahrungssatz
leitet sich daraus nicht ab.
Mit der Erscheinung der Kritik in einer frühen Ent¬
wickelungsperiode werden jene Bedingungen, welche bei dem
sich normal entwickelnden Kinde die Entwickelung der Moral
begünstigen, vorzeitig weggeräumt. Ein „Gefühl” der Dank¬
barkeit kann sich beispielsweise schwer entwickeln, weil das
frühreife Kind den empfangenen Gegenstand auf seinen Werth
abschätzt, Gedankengängen folgt wie: ob es nicht in den Besitz
des Gegenstandes gesetzt werden musste, ob nicht die Eltern
ihrerseits Gründe hatten, ihm den Gegenstand zukommen zu
lassen, ob es nicht selbstverständlich war, dass es damit be¬
dacht wurde etc., weil also selbstständige Gedankenreihen ein-
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Ueber moralische Defeotzustände.
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treten, welche das treibende, zwingende Moment, das einem
entwickelten Dankesgefdhle zukommt, und das von uns als das
zur Dankesbezeigung treibende Resultat einer in Folge seiner
leichten Erregbarkeit sich unbewusst vollziehenden Gedanken¬
arbeit aufgefasst wird, nicht aufkommen lassen. Es entsteht
nicht jene ausgeschliffene Verbindung zwischen Empfangen und
Danken, wie sie beim sich normal entwickelnden Kinde entsteht
und bei diesem nothwendig den Dankesact nach sich zieht —
ohne Ueberlegung, förmlich ohne Zuthun des Individuums,
welches sogar eine gewisse Lücke empfindet, wenn der Dankesact
nicht erfolgt; es wird vielmehr der Dank von einem neuen
Urtheilsacte abhängig, ist durch die Art der Erfassung der
Situation bestimmt, tritt daher entweder ein oder nicht, hat im
Falle des Zustandekommens das kalte, absichtliche Wesen einer
bewusst begründeten, aus bewussten Gründen und mit bewusstem
Zwecke vollführten Action an sich. Ebenso entwickelt sich
keine Elternliebe, keine Nächstenliebe, keine Gottesfurcht als
gewissermassen über der Situation stehender Drang, als von
der Situation nicht abhängiges Gefühl, als schwer überstimm¬
barer Bestimmungsgrund für die Handlungsweise des Individuums,
wie dies bei moralisch entwickelten Personen der Fall ist; das
moralisch defecte Individuum liebt schon als Kind den Nächsten
nur, so lange es sich in seinen Interessen durch denselben ge¬
fördert erachtet; die Eltern haben vor jedem anderen nichts
voraus, auch sie sind dem momentanen Urtheile unterworfen,
das der momentanen Situation entsprechend gefallt wird; das
Kind, welches frühreif urtheilt, bevor noch die moralischen
Leitkräfte Zeit gehabt haben, sich zu schon unbewusst aus¬
lösbaren Impulsen zu entwickeln, liebt den Vater, der ihm
Kirschen kauft, nicht weil er der Vater ist, sondern weil er
ihm Kirschen kauft, dasselbe Kind hasst den Vater, wenn er
aus irgend einem Grunde gezwungen ist, ihm einen Wunsch zu
versagen.
Hand in Hand mit der vorzeitigen Entwickelung des Selbst¬
bewusstseins geht die Entstehung der Selbstüberschätzung;
nicht gehemmt durch die in Fleisch und Blut übergegangenen
moralischen Grundsätze, die die Handlungsweise des normal
entwickelten Individuums in eine gewisse Richtung zwängen,
wird das frühreife Kind in seiner Handlungsweise nur durch
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Dr. Josef Berze.
seine eigene Entschliessung geführt, es handelt nach eigenen
Lust- nnd Unlustaffecten, thut was ihm gefällt, unterlässt was
ihm widerspricht, fühlt sich als sein eigener Herr. Personen
und Dinge werden nur nach dem Nutzen benrtheilt, den sie
ihm bringen. Das Eind weiss auch bald herauszufinden, wer
und was ihm — nach seinen Begriffen — nützt; freilich über¬
schätzt das Eind den Anhalt, den es für sein Treiben in Per¬
sonen, Umständen und Dingen zu finden glaubt Wenn nämlich
auch die Frühreife so weit gehen kann, dass das Eind im con-
creten Falle im Stande ist, seine Handlungsweise anstatt die¬
selbe fremdem Einflüsse, respective dem bereits entwickelten,
aber zu geringwerthigen, moralischen Impulse anzupassen, in der
seiner eigenen Neigung entsprechenden Richtung selbstständig zu
modificiren, so fehlt ihm doch andererseits eine Fähigkeit, die erst
durch die Erfahrung gewonnen werden kann und von der für das
frühreife Eind noch unerreichbaren Erweiterung des geistigen
Horizontes abhängt, nämlich die richtige Abschätzung der Aussen-
weit. Ueberschätzung derselben gehört ja geradezu zu den physio¬
logischen psychischen Erscheinungen des Eindesalters. Jeder¬
mann, der gelegentlich wieder in eine Gegend kommt, die er
schon als Eind einmal besucht hat, wundert sich über den
lächerlich kleinen Eirchthurm, über die niedrigen Berge, über
den kleinen Bach, über die kleine, verkrüppelte Linde vor dem
Hause. Alles war in seiner Erinnerung viel grösser, Viel
imposanter. Der Eindruck war im Eindesalter ein mächtiger,
als solcher wurde er aufbewahrt und steht im Widerspruche
mit dem neuen Eindrücke, der nach Massgabe der inzwischen
in der Erfahrung angesammelten anderen Eindrücke abfällt. In
gleicher Weise überschätzt das Eind verschiedene Anhalts¬
punkte, die es als auxiliär für sein Streben nach ungebundener
Selbstbetätigung betrachtet. Der Geldbeutel des Vaters ist für
das Eind unerschöpflich, die Bedeutung und Macht des Vaters
geht über alles, besonders wenn das Eind sieht, wie derselbe —
ein Hofrath, ein höherer Militär oder dergleichen — von anderen
Personen geachtet wird; dieser Vater kann alles gut machen,
was der Sohn verbricht; er zahlt Schulden für sein Söhnchen,
bringt Eläger zum Schweigen, spricht mit dem Lehrer ein gutes
Wort. Solche Gedankengänge, die zunächst wohl nur bewusst
ablaufen, werden in Folge der oftmaligen Wiederholung immer
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Ueber moralische Defectzustände.
87
leichter aasgelöst, zaletzt so leicht, dass sie unbewusst wirksam
werden, geradeso wie beim normal entwickelten Individuum,
dessen geistige Reife später — zu einer Zeit, wo das secundäre
Ich mit seinen Forderungen schon voll entwickelt ist — eintritt,
die Associationscomplexe der Moral wirksam werden, ohne dass
die Gedankenarbeit bewusst geleistet würde. Solche das Indi¬
viduum in seiner Ungebundenheit begünstigende Associations¬
complexe stellen aber eine Triebkraft dar, welche sogar einem
entwickelten moralischen Gefühle gegenüber entgegenzuwirken
im Stande ist, vielmehr aber noch bei nicht entwickeltem
moralischen Gefühle die Handlungen des Individuums in einer
der Moral gerade entgegengesetzten Weise beeinflussen muss.
Dies geschieht nach Ablauf einer gewissen Zeit ebenso un¬
bewusst, wie beim moralisch vollkommenen Individuum das
moralische „Gefühl” die Handlungsweise in der Richtung der
Moral unbewusst beeinflusst. Es stellt also auch das Wirksam¬
werden dieses dem moralischen Gefühle entgegengesetzten
Associationscomplexes ein „Gefühl” dar — mit allen den Eigen¬
schaften, wie sie dem moralischen Gefühle zukommen — es
entwickelt sich bei frühreifen degenerirten Kindern noch leichter
als das moralische Gefühl — ein antimoralisches Gefühl, d. i.
ein Associationscomplex von leichter Erregbarkeit und hoher
Werthigkeit, der dem hemmenden Einflüsse des moralischen
Gefühles, sei es nun entwickelt oder, wie es bei frühreifen
Kindern nicht anders sein kann, unentwickelt, entgegen¬
gesetzt ist.
Man könnte nun einwenden, dass ein antimoralisches Ge¬
fühl, das sich in der angedeuteten Weise entwickelte, wohl
nicht von Halt, von längerer Dauer sein könnte, dass mit der
Entwickelung des moralischen Gefühles diese entgegengesetzten
Gefühle ihren Werth verlieren müssten, dass mit der wachsenden
Erfahrung die Gründe, die das Kind zu unmoralischen
Handlungen zu verleiten mochten, ihren Werth verlieren und
moralische Beweggründe die Oberhand gewinnen mussten, kurz
dass mit der allmählich sich entwickelnden richtigen Beur-
theilung der Stellung des Individuums zur Aussenwelt der auf
ungenügende Basis gestellte Rückhalt für die unmoralische
Bethätigung des Individuums seinen Werth als Leitkraft für die
Handlungsweise des betreffenden Individuums einbüssen müsste.
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88
Dr. Josef Berze.
Wenn wir auch vorweg zugeben, dass dieser Schluss bis zu
einem gewissen Grade zugestanden werden muss, so möchten
wir doch andererseits zunächst betonen, dass Gedankengänge,
die einmal durch ausgeschliffene Associationsbahnen zu un¬
bewusster Wirksamkeit befähigt worden sind, selbst triftigen
Erfahrungsgründen gegenüber nicht leicht und schnell ganz
ihren Werth einbüssen, dass sie immer etwas zurücklassen,
was als „Gefühl” bei der Entstehung einer Handlung oder des
zu dieser führenden Gedankenganges in die Wagschale fällt.
Wir möchten hier auf Darwin hinweisen, welcher sagt: „Be¬
merkenswerth ist es, dass ein in den frühesten Lebensjahren,
wenn das Gehirn am eindrnckfähigsten ist, beständig ein¬
geprägter Glaube fast zum Instinct zu werden scheint; und das
Wesentlichste eines Instinctes ist, dass er unabhängig von der
Vernunft befolgt wird.” Die Beweggründe, welche seinerzeit
das frühreife Kind in der Verachtung hemmender Schranken
unterstützten, mögen schon lange nicht mehr der entwickelten
Kritik gegenüber Stand halten können und dennoch stellen sie
noch immer ein Etwas dar, das mit den Begierden, mit den
Trieben gleichsinnig, dieselben unterstützend wirkt; vielfältige
corticale Hemmungen werden durch dieses Etwas aufgehoben.
Wir entkräften daher den Einwurf, dass, da wir zugestehen
müssen, dass die das antimoralische Gefühl constituirenden
Associationen einer reiferen Kritik nicht Stand halten könnten,
von uns nun doch auch in den eben besprochenen Fällen eine
gewisse Intelligenzschwäche angenommen werden müsse, mit
dem Hinweise darauf, dass nur das kritisirt werden kann, was
in seinen Einzelheiten ins Bewusstsein tritt, dass aber die von
uns kurz als „antimoralisches Gefühl” bezeichneten Beweggründe
unbewusst, in ihren zusammenwirkenden Einzelheiten nicht er¬
kennbar, auf das Individuum einwirken, sich daher der Kritik
entziehen. Es kann der Betreffende sein „antimoralisches Ge¬
fühl” ebenso wenig abschätzen und kritisiren, wie der normal
Entwickelte sein moralisches Gefühl. Der moralisch Defecte,
dessen Defectuosität sich in der von uns betonten Weise ab.
leitet, verschwendet beispielsweise trotz der bewussten Einsicht
in die Folgen, weil zu seinem Bestreben, sich ein Vergnügen
zu schaffen, ein unbestimmtes Gefühl hinzutritt, welches ihm
die Sicherheit verschafft, dass ihm aus seiner Handlungsweise
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Ueber moralische Defectzustände.
89
kein Schaden erwachsen wird; die unbewusst wirksam werdenden
Kräfte überwiegen in Folge ihrer hohen Werthigkeit das
Resultat der bewussten Gedankenarbeit.
Das Fortdauern der Wirksamkeit gewisser Ideengruppen
in einer Zeit, wo dieselben mit dem übrigen psychischen Besitze
nicht mehr vereinbar sind, lässt sich zudem auf eine Er¬
scheinung zurückführen, die wir bei Degenerirten häufig zu
beobachten Gelegenheit haben und die man am besten als ver¬
minderte Variabilität des psychischen Inhaltes bezeichnet. Diese
ist nicht so sehr in erschwerter Apperception begründet, als
vielmehr im theilweisen Mangel einer anderen Eigenschaft des
Associationsorganes, die bisher wenig Beachtung gefunden hat,
nothwendig aber angenommen werden muss, wenn der psychische
Besitz seinem Inhalte und seiner Bewerthung nach die Er¬
fahrung getreu spiegeln soll, nämlich in dem Defecte der
Fähigkeit, gewisse Theile des psychischen Besitzes entweder
zu eliminiren oder in ihrer hohen Werthigkeit und Erregbarkeit,
die sie allmählich erlangt hatten, wieder herabzustimmen.
Ribot 1 ) ist in seinen Untersuchungen über das Gedächtniss
zum „Regressionsgesetze”, zum Gesetze, nach welchem die
Auflösung der „dynamischen Associationen” erfolgen soll, ge¬
langt. Er führt sein Gesetz zurück auf ein physiologisches
Princip: „Die Degeneration ergreift zuerst das jüngst Gebildete”,
und auf ein psychologisches: „Das Zusammengesetzte ver¬
schwindet früher als das Einfache, weil es in der Erfahrung
nicht so häufig wiederholt ist.” Es hindert uns nichts, dieselben
Momente auch für die Verminderung der Erregbarkeit und
Werthigkeit von Associationen geltend zu machen und das
„Entwerthungsgesetz” dahin zu fassen, dass die Zeit, welche
zur Tilgung, respective zur Verminderung des Einflusses ge¬
wisser Vorstellungen aut unsere Denkweise erforderlich ist,
eine desto längere ist, je zahlreicher die Associationen sind,
welche diese Vorstellungen mit dem übrigen psychischen Besitze
verbinden und je ausgeschliffener die betreffenden Bahnen sind.
Die Ursache der Entwerthung liegt in der Nichtbenützung der
Bahnen, wodurch dieselben weniger gangbar werden, abblassen;
unterstützt wird die Entwerthung durch das Auftauchen
0 Ribot, Das Gedächtniss.
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90
Dr. Josef Berze.
anderer — ausschliessender oder modificirender — Vorstellungen
und entsprechender Bewerthung derselben. Im degenerirten Ge¬
hirne scheinen sich nun gelegentlich dem Processe, welcher
dem Abblassen der Bahnen entspricht, und den wir uns als eine
Art regressive Metamorphose vorstellen, Schwierigkeiten ent¬
gegenzustellen, so dass dieselben weit über die Zeit hinaus, in
welcher sie der Erfahrung entsprechen, wirksam bleiben. Wir
gewinnen • eine Vorstellung von der hohen Werthigkeit und
hohen Erregbarkeit, die beim Degenerirten gewisse mit der Er¬
fahrung des Individuums, ja gewissermassen mit der Erfahrung
der Art contrastirende Associationsgruppen erreichen und be¬
wahren können, wenn wir uns das Erankheitsbild mancher
Perverser auf sexuellem Gebiete vor Augen halten. Letztere
bieten übrigens noch mancherlei andere Berührungspunkte mit
der in Betracht kommenden Form moralisch Defecter, darunter
auch den, dass sie diejenigen Associationen, welche die Perversion
ihres Geschlechtstriebes bewirkt haben, nicht analysiren und
daher nicht kritisiren können, daher ebenso unter deren Bann
stehen, wie unsere Defecten unter dem Banne der der Moral
entgegenwirkenden Beweggründe.
In der Natur der Sache ist es gelegen, dass es auch dem
Beobachter derartiger Fälle schwer gelingen kann, in die Zu¬
sammensetzung des „antimoralischen Gefühles” im concreten
Falle Einblick zu erlangen. Nichtsdestoweniger gelingt es, in
manchen Fällen die Hauptzüge zu erkunden. Zwei moralisch
Defecte unserer Beobachtung sollen zu Beispielen dienen.
G. R., kath., ledig, Buchbindergehilfe, 25 Jahre alt. Patient
ist der Sohn eines in früheren Decennien oft genannten Finanz¬
mannes, der sich durch seinen leichten Lebenswandel bemerk¬
bar machte, aber ein genial veranlagter Mann war. Die Mutter
des Patienten war die Maitresse dieses Mannes, seit jeher leicht¬
sinnig, verschwenderisch; erst nach der Geburt des Patienten und
seiner vier Geschwister heiratete sie ihren gegenwärtigen
Gatten. Die vier rechten Geschwister des Patienten sind sämmtlich
in hohem Masse von sich eingenommen, verschwenderisch,
zeigen „Selbstüberschätzung bis zum Grössenwahn”. Eine
Schwester soll hysterisch sein. Eine Cousine der Mutter des
Patienten war geisteskrank, ebenso deren beide Söhne. Patient soll
in seiner Jugend an häufigen Kopfschmerzen gelitten haben,
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Ueber moralische Defectzustände.
91
Krämpfe aber nie gezeigt haben, nie ernstlich krank gewesen
sein, nie eine Verletzung erlitten haben. Die Angaben über
seine geistige Entwickelung lauten verschieden. Eine Verwtndte
berichtet, er sei als Knabe intelligent gewesen, habe gut
gelernt, sei lenkbar und nachgiebig gewesen. Frühzeitig sei
aber an ihm Jähzorn aufgefallen, so dass er oft gegen seine
Umgebung Drohungen ausgestossen habe. Gelegentlich behauptet
die Mutter, der Patient sei seit seinem 12. Lebensjahre geistig
nicht mehr vorgeschritten. Später habe er sich prahlerisch,
feige, unbeständig in der Beschäftigung gezeigt. Als er, sein
väterliches Erbtheil zu beheben, das gesetzlich vorgeschriebene
Alter erreicht hatte, vergeudete er dasselbe durch zwecklose
Reisen und Einkäufe. Auch zahlte er mehreren Prostituirten 60 fl.
für ihre Leistungen. Die Denunciation einer Dirne führte zur
ersten Untersuchung seines Geisteszustandes und seiner Unter¬
bringung in der Irrenanstalt.
Patient zeigte sich bei seiner Aufnahme klar und geordnet,
gab ausführlich und mit guter Erinnerung Auskunft über die
Ereignisse seiner „Wanderjahre” und über die Art, wie er sein
Geld angebracht — binnen fünf Monaten 4000 fl. — brachte
als Entschuldigung vor, dass er eine grosse Summe auf Kleider,
Wäsche, Reisebücher, Feldstecher, Operngucker etc. verwendet
habe. Er erklärte einzusehen, dass er etwas locker gelebt habe,
bereue es, werde sich bessern.
Während der ganzen Zeit seines Lebens unter psychiatri¬
scher Beobachtung, zeigte Patient andauernd dasselbe Verhalten.
Er hatte wenig Lust zur Arbeit, hatte immer Ausreden, welchen
zumeist ein der Selbstüberschätzung entspringendes Moment zu
Grunde lag, z. B. der Aufsichtswärter in der Werkstätte lege
ihm gegenüber „schlechtes Benehmen” an den Tag, er sei schon
zu alt zu so kindischen Beschäftigungen, er passe nicht in die
Gesellschaft von solchen „Trotteln”, mit denen er gemeinschaft¬
lich arbeiten solle. Er fügte sich nie in die Hausordnung,
kritisirte dieselbe derb, bezeichnete mancherlei Vorgänge als
„grobe Schlamperei”. Zum intimeren Verkehr wählte er sich
stets moralisch defecte Individuen verschiedenster Art. Er
zeigte sich unbeständig, fasste Pläne, machte Projecte, denen
er sich mit Eifer hingab, um nach kurzer Zeit wieder gelang¬
weilt davon abzulassen. Mit trotziger Rede lehnte er jede
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Dr. Josef Berze.
Kritik seines eigenen Gebarens ab, drohte wiederholt mit An¬
zeigen an Behörden, mit Entweichung, wenn man ihn durch
Bevormundung belästigen wolle. Er geberdete sich eigensinnig,
obstinat. Als er Aussicht hatte, von einem Verwandten gegen
Revers in häusliche Pflege übernommen zu werden, wies er
diese Methode der Entlassung zurück, verlangte „Gesundheits¬
erklärung” und Aufhebung der Curatel; im entgegengesetzten
Falle, behauptete er, die Anstalt nicht verlassen zu wollen. Er
habe schon viel durchgesetzt und werde wohl auch das noch
durchsetzen.
Patient besitzt eine ganz entsprechende Durchschnittsbildung,
versteht seine Worte ziemlich gut zu setzen, antwortet z. B.
auf die Frage, wie er es mit der Religion halte: „Ich habe nur
wenig Religionsunterricht genossen; trotzdem glaube ich an die
Existenz eines göttlichen Wesens, welches Himmel und Erde
erschaffen hat. Kirchen habe ich nur in Deutschland besucht,
aber nur zu dem Zwecke, um die Kirchen zu sehen und dort
Musik zu hören.”
Wenn Patient übellaunig ist, flunkert er gewöhnlich von
„FamilienVerhältnissen”, über die er sich nicht näher aus¬
sprechen dürfe. Mit Andeutungen ist er aber nicht zurückhaltend,
sondern belästigt oft die Kranken dadurch, dass er immer
wieder auf dasselbe Thema zurückkommt; dabei thut er geheim¬
nisvoll. Nichtsdestoweniger ist zu erkennen, dass Patient sich mit
der Idee trägt, den Namen seines wahren Vaters,-jenes in der
Anamnese erwähnten Finanzmannes, anzunehmen, dass er sich
damit gleichzeitig einen grossartigen pecuniären Gewinn zu
erwerben hofft, womit natürlich grosser Einfluss und wichtige
Bedeutung in socialer Beziehung verbunden wäre. Nach solchen
Gedanken, in die er sich noch viel häufiger zu vertiefen scheint,
als er sie äussert, steigert sich die Ueberhebung des G. R.
wesentlich.
Patient batte hauptsächlich zu Beginn seines Anstaltsaufent¬
haltes über schmerzhafte Empfindungen zu klagen, besonders
über Kopfschmerz, welcher die Gegend vom Scheitel bis ins
Genick einnehme, über Kreuzschmerzen und Herzklopfen.
Häufig kehrte auch die Klage über einen drückenden Schmerz
in der Magengrube wieder, welcher sich stets gegen Morgen
einstelle und dann einem drückenden, schmerzähnlic-hen Gefühle
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Ueber moralische Defectzustände.
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im Halse weiche. Ab und zu spürte er auch einen Druck im
Magen, wie wenn „was hartes drinnen wäre”, ein ähnliches
Gefühl in der Gegend des manubrium sterni. Patient gesteht ohne
Hehl und ohne schamhafte Regung zu, dass er der Masturbation
ziemlich stark ergeben sei;seine dadurch verschärfte Neurasthenie
dürfte die beschriebenen Beschwerden erklären. Zeitweise zeigt
Patient anscheinend unwillkürliche Zuckungen verschiedener
Muskelgrnppen, besonders des Gesichtes, welche manchmal zu förm¬
lichem Grimassiren führen, ausserdem nicht besonders auffälliges,
im Affecte sich aber steigerndes Stottern. Von seinem Schlafe
sagt Patient er sei oft nicht erquickend, durch schwere Träume
gestört, bessere sich aber zu Zeiten.
Patient ist mittelgross, ziemlich kräftig, aber anämisch. Sein
Schädel ist rundoval, ohne pathologische Merkmale, misst
55 Centimeter im Umfange. Die Pupillen sind weiter und
reagiren etwas träger. Rechts besteht eine auffällige Facialis-
parese. Patellarreflexe normal. Die vegetativen Organe, die
Motilität und Sensibilität weisen weiter nichts Abnormes auf.
Wir haben die Ueberzeugung gewonnen, dass in diesem
Falle das Gefühl des Rückhaltes, welches für den Patienten
aus der hochwerthigen und leicht erregbaren Associationsgruppe
des reichen Vaters resultirte, die bedeutsamste Grundlage für
sein unmoralisches Gebaren bildet. Dass wir bei ihm die dieses
Gefühl constituirenden Ideen verhältnissmässig leicht aufünden,
das Gefühl leicht zergliedern, vielleicht sogar im vollen Umfange
erfassen können, hat seinen Grund in der relativ geringen
geistigen Veranlagung des Patienten. Je höher die geistige
Potenz des Individuums, desto schwieriger wird es sein, in die
complicirte Constitution seiner Gefühle Einblick zu erhalten,
desto räthselhafter wird uns daher unter Umständen sein
defectes Gebaren in moralischer Beziehung erscheinen. Die
höhere Intelligenz bildet somit kein Hinderniss für das Auf¬
treten moralischer Mängel; mit der höheren Intelligenz gestaltet
sich nur die Zusammensetzung der Gefühle, so auch des ge¬
legentlich auf der besprochenen pathologischen Grundlage ent¬
standenen „antimoralischen” Gefühles complicirter. Doch ist auch
dies kein nothwendiges Postulat; denn im Wesen der unbewusst
wirkenden Factoren liegt es, dass sie auch ohne inneren Werth
ihre Wirksamkeit entsprechend ihrer Werthigkeit bewahren.
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Dr. Josef ßerze.
Die Natur dieser Factoren ist auch von Belang, was die Färbung
des Krankheitsbildes anbetrifft. Wo wie in dem eben besprochenen
Falle das Gefühl des Rückhaltes ausschlaggebend ist, tritt das
Moment der Verbitterung, des Misstrauens nicht so hervor wie
in solchen Fällen, wo das Gefühl der Beeinträchtigung primär
erzeugt wird. Zur Beleuchtung dieser Verhältnisse soll folgender
Fall dienen.
E. A., Wirthschaftsadjunct, 27 Jahre alt, wurde am 3. Mai
1893 in die Landesirrenanstalt in Wien aufgenommen. Das Parere
besagte unter anderem: „K. A. erkrankte vor zwei Jahren
an Bluthusten und bildete sich ein, er werde nicht mehr gesund
und wolle so nicht weiter leben. Seit drei Monaten machte er
fortwährend Selbstmordversuche. Er schnitt sich mit einem
Rasirmesser, wollte sich erhängen, erdrosseln, eine Schere
schlucken, wollte zum Fenster hinunterspringen, wollte sich
vors Gericht führen lassen wegen Kindesmord, Defraudation,
Documentenfälschung, wurde gegen seine Umgebung aggressiv
und in Folge dessen am 16. Februar 1893 in das Krankenhaus
in J. gebracht zur Beobachtung seines Geisteszustandes. Im
Spitale selbst hat Patient einen Selbstmordversuch mittelst
Knebelung unternommen, verlangt wegen seiner Drohungen
gegen seine Umgebung vor das Strafgericht geführt zu werden,
ist geistig sehr deprimirt.” Die Aerzte des Krankenhauses
stellten die Diagnose: Blödsinn mit Aufregungszuständen.
In der Landesirrenanstalt in Wien angelangt, zeigte sich
Patient ruhig, geordnet, vollkommen orientirt. Unmittelbar nach
seiner Ankunft äussert er den Wunsch, in eine andere Anstalt
transferirt zu werden. Ueber sein Vorleben befragt, äussert sich
Patient dahin, dass er in seiner Jugend vielerlei Krankheiten
durchgemacht habe, dass er später magenleidend geworden sei,
dass sich das Magenleiden im Jahre 1885 verschärft habe, so
dass er an Fieber, Appetitlosigkeit, Diarrhöen gelitten und
phantasirt habe, dass er im Jahre 1889 seine jetzige Lungen-
affection acquirirt habe, oft und oft Blut in grösseren oder
kleineren Quantitäten ausgehustet habe, dass er also nie gesund
gewesen sei. Zudem habe er seit seinem 12. oder 13. Lebens¬
jahre heftig onanirt, in den letzten zwei Jahren aber weniger
als früher. — Er habe vier Gymnasialclassen absolvirt, sei
ein talentirter, aber etwas nachlässiger Schüler gewesen. Im
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IJeber moralische Defectzustände.
95
16. Lebensjahre habe er einen Posten als Wirthschaftspraktikant
angetreten, denselben zwei Jahre versehen, hierauf die Buch¬
binderei erlernt. In Prag habe er dann Arbeit gesucht, aber
keine gefunden, dieses Gewerbe daher aufgegeben. Seinen
Posten als Kanzlist eines Advocaten, den er darauf erhalten
habe, habe er wegen Verschärfung seines Magenleidens auf¬
geben müssen. Seither sei er ohne Beschäftigung. — Im No¬
vember 1892 sei er wegen seines Lungenleidens zu Hause in
ärztlicher Behandlung gestanden, sei damals sehr herunter¬
gekommen, habe in Folge dessen grosse Unlust zu jeder Arbeit
verspürt, sich einer fortwährenden traurigen Verstimmung nicht
erwehren können. Er habe über seine Lage und sein Vorleben
gegrübelt, beide in ursächlichen Zusammenhang gebracht und
sich so die Ansicht gebildet, dass seine Erkrankung eine Strafe
für gewisse Delicte sein könnte, die er thatsächlich begangen
habe. Er habe nämlich unter anderem als Wirthschaftsbeamter
auf dem Gute Bl. sich 120 fl. fremdes Geld auf die Weise ange¬
eignet, dass er bei der Auszahlung der Gelder, die er zu be¬
sorgen hatte, immer einiges für sich widerrechtlich zurückhielt.
Er habe daher damals Geld haben wollen, um den Betrag zu¬
rückzahlen zu können. Seine Eltern hätten ihm aber nicht ge¬
glaubt; darum habe er damit gedroht, sich dem Gerichte zu
stellen. Er habe sich weiters vorgeworfen, beim Advocaten sich
allerhand Dinge angeeignet zu haben, viel Papier verschwendet
zu haben etc. Auch seine Onanie habe ihm viel unangenehme
Gedanken gemacht. Als der Fall des Abgeordneten N.... in
den Zeitungen stand, der sich ein Sittlichkeitsdelict hatte zu
Schulden kommen lassen, sei er den Gedanken nicht los ge¬
worden, dass auch er sich eines ähnlichen Delictes schuldig
gemacht haben könnte; er habe sich nämlich erinnert, dass er
einmal in Prag vor einem nackten Kinde onanirt hatte. Dieses
- Kind sei kurz darauf erkrankt; er habe sich nun die Vorstellung
gemacht, dass die Krankheit des Kindes und der eventuelle
Tod desselben mit seinem Laster in Zusammenhang stehen
könnte. Auch aus diesem Grunde habe er sich der Polizei stellen
wollen; da aber die Angehörigen darauf nicht eingehen wollten,
sei er noch erregter geworden, habe sich schliesslich des
Gedankens, er könnte auch zum Verwandten- und gar Mutter-
mörder werden, nicht erwehren können und aus diesem Grunde
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Dr. Josef Berze.
Selbstmordversuche unternommen. Im Spitale zu I ... . habe er
sich den Aerzten ganz eröffnen wollen, sei aber nie in die
Lage gekommen, einen Arzt unter vier Augen zu sprechen, was
doch zur Besprechung so delicater Angelegenheit unbedingt
nothwendig sei. Sein fingirter Selbstmordversuch im Spitale zu
I . ... habe nur den Zweck gehabt, eine Unterredung in der
gewünschten Form herbeizuführen.
Patient zeigt das Verhalten eines moralisch defecten Indivi¬
duums. In Folge seines herabgekommenen Körperzustandes liegt er
zu Bette. Er verlangt besonders rücksichtsvolle, aufmerksame Be¬
handlung, kriegt nie genug Medicamente, kritisirt dieselben,
äussert sich, die Aerzte verstünden nichts, seien ja nur in
Psychiatrie unterrichtet, einseitige Specialisten. Gewünschte
Kostveränderungen will er sich durch Schimpfen, Drohungen etc.
verschaffen. Die übrigen Patienten betrachtet er als verachtungs¬
würdiges Gesindel; nur wenn durch das zur Schau getragene
Mitleid mit einem Kranken ein Reflex auf seine eigene unver¬
diente unglückliche Lage fallen soll, bedauert er das „arme,
unglückliche, hier erst recht von den Wärtern misshandelte
Geschöpf’. Briefe an die Mutter, die Tante, die Schwester
strotzen von gröblichsten Invectiven gegen diese Personen.
Allen wirft er vor, dass sie ihn von Kindheit an vernachlässigt,
geschädigt, lieblos behandelt hätten; nur dadurch sei er krank
geworden. Der Mutter wirft er ausserdem vor, der „Stadt-
viehsikus” in I.... sei ihr Geliebter, sie also dessen Maitresse.
Unter anderem schreibt er auch; „Ein Traum gab mir heute
Trost; denn ich sah den jüngeren Kr. elend mit Krankheit
behaftet; so wird Gott mich rächen!” Alle Unterhandlungen
bricht er schliesslich ab: „Ich will von der Sippschaft nichts
wissen.”
Zur selben Zeit äusserte K. A. „Selbstanklagen, Beein-
trächtigungs- und Verfolgungswahn, Suicidgedanken und stand
unter dem Einflüsse von Zwangsvorstellungen”. So die Kranken¬
geschichte. Die Diagnose lautete: Verrücktheit mit Neurasthenie.
Vom 19. Juli bis 26. December 1893 in Kierling untergebracht,
zeigte er dasselbe Verhalten. Er machte sich durch fortwährende
Unzufriedenheit unangenehm, hatte jeden Tag neue Wünsche.
Im Gespräche sowohl wie iD Briefen an seine Angehörigen
kommt gehobenes Selbstbewusstsein zum Ausdrucke. Seinen Auf-
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Ueber moralische Defectzustände.
97
enthalt in der Anstalt führt er auf feindselige, gewinnsüchtige
Tendenz seiner Angehörigen zurück. Gern lässt er sich über
seine „Criminalideen” aus; nebst den bereits erwähnten „Zwangs¬
vorstellungen” erwähnt er unter anderen folgende: „Als ich die
Panama-Affaire in den Zeitungen las, stieg mir der Gedanke
auf, ich bin auch ein Verbrecher, habe gestohlen, veruntreut.”
Auch bringt er bei jeder Gelegenheit, die ihm wider den Strich
geht, Selbstmordabsicht zum Ausdrucke, droht z. B., als ihn die
um ihn besorgte Mutter „gegen Revers” aus der Anstalt nehmen
will, er werde sich, wenn man ihn nicht in Ruhe lasse, durch
Pressen und Husten eine Hämoptoe zuzuziehen bestrebt sein
u. dgl. Da er sich aber schliesslich beruhigt, wird er am
26. December 1893 in die Wiener Gemeindeversorgung trans-
ferirt. Dort weiss er sich durch wiederholt geäusserte „Selbst¬
anklagen crimineller Natur und durch die Erklärung, er werde,
wenn er nicht dem Landesgerichte übergeben werde, einen
Selbstmordversuch begehen oder etwas Aergeres thun”, die
Qualificirung als „geistesgestört und gemeingefährlich” alsbald
zu verschaffen und seine Rücktransferirung in die Wiener
Landesirrenanstalt binnen 8 Tagen zu erzwingen, wo ihm die
Verpflegung besser gefällt, wo man seinen Launen mehr Vor¬
schub leistet. Am 23. Mai 1894 liess er sich zum Sommerauf¬
enthalt abermals nach Kierling übersetzen. Auf seiner Rund¬
reise hatte er sich die weiteren Diagnosen: Chronischer Wahn¬
sinn, Paranoia, Melancholie, neurasthenisches Irresein zu¬
gezogen.
In unserer Anstalt verweilt er nun wieder seit 23. Mai 1895
bis auf weiteres. Patient hat sich etwas gemässigt. Alle Er¬
scheinungen haben sich gemildert. Er beschäftigt sich gewöhnlich
mit Lectüre, liest: Kritik der reinen Vernunft von Kant und
andere Kant'sehe Werke, Feuchtersieben, Schopenhauer u. dgl.,
freilich mit wenig Verständniss. Er ist zumeist unzufrieden,
verdrossen, dabei aber zugänglich. Seinen Lebensüberdruss be¬
tont er noch immer bei jeder Gelegenheit. Als aber im Winter
1894/1895 sich sein körperlicher Zustand bedrohlich ver¬
schlimmerte, beobachtete er jedes Symptom genau und nahm
die ärztliche Hilfeleistung in sehr hohem Masse in Anspruch.
Nachdem die Gefahr wieder behoben war, zeigte er sich ruhig,
zufrieden, geordnet.
Jahrbücher f. Psychiatrie and Neurologie. XV. ßd. 7
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Dr. Josef Berze.
Wichtig in unserem Falle ist die Beschreibung des Skeletes.
Der Schädel ist stark dolichocephal. Die Tubera frontalia treten
scharf hervor. Deutliche Hinterhauptstufe. Der Thorax flach,
mässig breit, ziemlich lang. Die Lendenwirbelsäule lordotisch.
Beide untere Extremitäten deformirt, abgemagert und in ab¬
normer Stellung; die beiden Femora im Hüftgelenke gebeugt,
adducirt und nach innen rotirt; die beiden Unterschenkel mit
den Oberschenkeln in der Stellung des Genu valgum. Die Patella
beiderseits nach aussen luxirt und ebenso wie das Ligamentum
patell. und der Rectus femoris verkümmert. Der Oberkörper ist
nach vorne gebeugt; die Knie werden gebeugt gehalten. Der
Gang ist watschelnd, aus kleinen Schritten sich zusammensetzend
(congenitale Rhachitis).
Auf Umwegen erfuhren wir folgende anamnestisch wichtige
Daten: Der Vater entstammt einer Familie, in der Tuberculose
erblich ist. Er war ein Lebemann, trank, und starb mit 44 Jahren
an Tuberculose. Er unterhielt zu gleicher Zeit mit der Gross¬
mutter und der Mutter des Patienten ein Verhältniss. Als die Mutter
des Patienten im vierten Monate schwanger war, heiratete er sie,
brachte die Mitgift, ein ziemlich grosses Vermögen, in kurzer
Zeit an und starb, als Patient 15 Jahre alt war. Die Mutter ist
„nervös”, entstammt angeblich gesunden Eltern. Als Patient zur
Welt kam (er brachte die verkrüppelten Beine mit), soll sich
der Vater geäussert haben: „Wenn mir meine Frau noch
ein solches Kind gebiert, lasse ich mich scheiden!” Patient wurde
thatsächlich von seiner Geburt an von seinem Vater zurück¬
gesetzt; die Mutter hat ihn dagegen liebevoll behandelt. Er
war früh reif, hatte viel Talent, jedoch keine Ausdauer. Nach
dem Tode seines Vaters wurde er von den Verwandten des
Vaters gegenüber der Mutter unterstützt, welche ihren Einfluss
in der Richtung geltend machen wollte, den Jüngling auf die
rechte Bahn zu lenken. Der Graf von Bl., auf dessen Gute er
als Wirthschaftsbeamter beschäftigt war, hat ihm viele Ver¬
gehen nachgesehen und ihn geradezu verzärtelt, bis Patient die
Sache zu weit trieb.
Am liebsten möchten wir diesen Degenerirten unter die
Instablen Magnan’s 1 ) rechnen, und zwar zu den Formen, von
') Magnan, Psychiatrische Vorlesungen (deutsch von P. J. Möbius).
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Ueber moralische Defeetznstände.
99
denen er sagt: „Tritt der Mangel an Gleichgewicht besonders
in moralischer Beziehung hervor, zeigen sich verkehrte Triebe,
so spricht man von moralischem Irresein.” Neben diesem
moralischen Defecte erscheinen bei unserem Patienten freilich auch
auf dem neurasthenischen Boden entwickelte Symptome, die
episodisch in den Vordergrund treten; die Art, wie er dieselben
zum Ausdrucke bringt, weicht aber wiederum in einer durch den
moralischen Defect begründeten Richtung von der gewöhnlichen
Art ab. Patient spielt mit seinen Zwangsvorstellungen in über¬
treibender Weise, .erfindet, da er sieht, dass man diesem Sym¬
ptome Beachtung schenkt, immer neue „Zwangsgedanken”, wie
er sie selbst bezeichnet. Zeitweise mag unser Patient an Zwangs¬
vorstellungen auch jetzt noch leiden, zumeist aber erkennen wir
in seinen Aeusserungen Lügen; diese braucht er, um eine
Geistesstörung zu simuliren, die ihm den Aufenthalt in einer
Irrenanstalt ermöglicht. Er ist im Laufe der Zeit zum Irren¬
hauspflegling von Profession geworden, drückt sich gelegentlich
dahin aus, dass er sich bewusst sei, sein krüppelhafter Körper,
seine vorgeschrittene Phthise, seine mangelhaften Vorkenntnisse,
sein bemakeltes Vorleben seien fast unüberwindliche Hindernisse
für ihn, sich sein Brot zu erwerben; da man aber in den Ver¬
sorgungshäusern schlecht verpflegt werde, sei es für ihn das
Beste, als geisteskrank zu gelten, wodurch er sich die „leid¬
liche” Verpflegung in einer Irrenanstalt sichere. In diesem Be¬
streben werde er wesentlich durch die über ihn verhängte
Curatel unterstützt und sehe so einer sorgenlosen, wenn auch
traurigen Zukunft entgegen. Auch die Suicidversuche und
Aeusserungen von Suicidabsicht waren simulirt; er machte
darüber dem Arzte unter vier Augen zu einer Zeit, wo er sich
in Folge hoher Fiebertemperaturen sehr elend fühlte, glaub¬
würdige Mittheilung, schrieb darüber auch in einem Briefe:
„Meine Rabenmutter wollte davon nichts wissen (von der Zu¬
sendung einer Summe Geldes, welches er zum Ersätze defrau-
dirter Summen verwenden zu wollen vorgab); da griff ich zu
allen erdenklichen Selbstmordmitteln; nach deren Vereitlung
wollte ich mich dem Gerichte stellen. Als ich auch an letzterem
verhindert wurde, erfand ich zufleiss die Geschichte vom Kindes¬
mord, um ins Irrenhaus zu kommen.” So treten die vom Patienten
selbst vorgeschobenen Symptome, die auf seine neurasthenische
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100
Dr. Josef Berze.
Constitution zurückzuführen sind, gegenüber seinem moralischen
Defecte zurück. Diesen führen wir wieder auf ein „antimoralisches”
Gefühl zurück; dieses ist in unserem Falle von zweierlei Ideen
constituirt. Zunächst finden wir hochwerthige Ideen, die in
K. A. das Gefühl der Beeinträchtigung erzeugen mussten: Lieb-
lose Behandlung wegen seines krüppelhaften Körperbaues, Zu¬
rücksetzung und Vernachlässigung im Elternhause; Verbitterung
gegen seine Mitmenschen ist ihre directe Folge. Wir finden
diese Verbitterung fast ausnahmslos bei Krüppeln, die bekannter¬
weise auch auffallend oft — bei intacter Intelligenz — mora¬
lische Defecte aufweisen. Andererseits kommen wieder Momente
in Betracht, die dem Kranken einen gewissen Rückhalt ver¬
schafften: Die Unterstützung seitens der Mutter gegenüber dem
lieblosen Vater, die Nachsicht des Grafen, bei dem er bedienstet
war, weiterhin die ihm eingewurzelte Hoffnung, mit Losen
einen Haupttreffer zu machen, von der Patient selbst berichtet,
dass sie ihn zu mancher freieren Bewegung ermuntert habe.
Von derartigen Ideen unbewusst geleitet, musste er auf un¬
moralische Handlungen verfallen. Er meint gelegentlich, dass
die seinem unmoralischen Gebaren zu Grunde liegende Ueber-
legung am besten durch das Sprichwort: „Gleiches mit gleichem”
ausgedrückt werde. Dass in diesem Falle der Charakter des
moralischen Defectes ein mehr aggressiver, boshafter,, die Mit¬
welt beleidigender, schädigender ist, erklärt sich aus der zu¬
gleich mit dem Rückhalte erzeugten Verbitterung. Dass seine
Stimmung eine vorwiegend traurige ist, erklärt sich aus dem
Bewusstsein der Krüppelhaftigkeit und Unbehilflichkeit.
Wir finden also in einigen Fällen den moralischen Defect
in übermächtigen Elementen des Gefühlslebens begründet. Da wir
nun das unterscheidende Moment zwischen Geistes- und Gefühls¬
leben nur in der verschiedenen Höhe des Bewusstseins, bei welchem
die associative Thätigkeit abläuft, erblicken, die Gesetze hin¬
gegen, nach welchen beide Arten psychischer Bethätigung
geschehen, für vollkommen gleich halten, steht uns nichts im
Wege, die Kenntniss von Erscheinungen, die für das bewusste
Denken Geltung haben, auf das unbewusste Gemüthsleben zu
übertragen. Unser Erklärungsversuch gewinnt aber wesentlich
an Annehmbarkeit, wenn wir uns vorstellen, dass in der unbe¬
wusst ablaufenden Gehirnarbeit eine Idee oder eine Ideengruppe
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Ueber moralische Defectzustände.
101
einen ähnlichen Einfluss äussern kann, wie sie ihn im bewussten
Denken als „dominirende” oder — nach Wernicke — als
„prävalirende” Idee ausübt. Wir möchten auch in den be¬
schriebenen Fällen von moralischem Defecte in Folge präva-
lirender Ideen sprechen.
Rein dürften derartige Fälle vielleicht nie erscheinen. Fast
alle werden daneben noch andere Symptome einer ererbten
oder erworbenen Degeneration zeigen; und unter diesen wird
wieder das eine oder das andere den moralischen Defect mit
erklären helfen. Aber gerade in solcher Combination kommt so
begründeter moralischer Defect oft vor. Unter dem grossen
Sammelnamen „chronischer Alkoholismus” finden sich in den
Irrenanstalten moralisch-defecte Individuen der verschiedensten
Genese, in der freilich der Alkoholabusus eine constante Rolle
mitspielt; unter diesen fallen auch Kranke auf, die ihre anti-
sociale Seite zuerst nur in pathologischen Rauschzuständen ge¬
zeigt hatten. Von der Zeit an, wo sie aber „unzurechnungs¬
fähig” wurden, ein Ereigniss, dessen Tragweite sie ganz gut
zu beurtheilen wissen, sind sie gleichsam chronisch krank
geworden. Sie haben einen förmlichen Freibrief für ihr zu¬
künftiges Leben erworben. Als ultima ratio bleibt ihnen in
allen schwierigen Lebenslagen, bei mangelnden Subsistenzmitteln,
bei Befürchtung einer Strafe der Hinweis auf ihren „gericht¬
lich erhobenen Blödsinn oder Wahnsinn”. Die sonst geläufigsten
corticalen Hemmungsacte werden so bei derartigen Depravirten
vollkommen unwirksam gemacht. Die minder Intelligenten ver-
rathen ihre Speculation, die Intelligenteren halten damit hinterm
Berge; alle werden aber auch in Gelegenheiten, bei denen sie
sich diese Leitkraft nicht einmal vergegenwärtigen, von ihr
gelenkt. Und wie gross ist oft der Einfluss der Berechtigung,
als Kranker zu gelten, auf das unmoralische Gebaren jugend¬
licher moralisch Defecter! Unter diesem Schirm begehen sie
erst die gewagtesten Gaunereien.
Bisher haben wir von Formen gesprochen, die sich auf
mangelhafte Bildung der moralischen Associationssysteme zurück¬
führen lassen. Wir fanden diese bei der Idiotie schon in der
mangelhaften Apperception, bei der Imbecillität in einer mangel¬
haften Fixation begründet. Bei frühreifen Degenerirten erkannten
wir in der Frühreife an und für sich eine genügende Basis.
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102
Dr. Josef Berze.
Weiterhin erblickten wir in der zur Bildung prävalirender
Elemente, die im Stande sind, der Moral entgegen zu wirken,
die Grundlage für manche Fälle. Ausserdem kommen aber
gewisse Veränderungen im Gedankenablaufe in Betracht, die
trotz vollkommen correcter moralischer Grundlage zu Defecten
auf diesem Gebiete führen.
Zuvörderst betrachten wir die manische Verstimmung. Ihre
Grundlage ist „ein abnorm erleichterter und beschleunigter Ab¬
lauf der psychischen Acte” (Krafft-Ebing) 1 ) neben „einer
Aenderung der Selbstempfindung im Sinne einer vorwiegend
heiteren Stimmungslage”. Von diesem letzteren Momente wollen
wir hier absehen; denn wenn auch die heitere Stimmungslage
expansive Bethätigung an sich zu fördern vermag, so fällt gerade
in Beziehung auf das moralische Verhalten des Manischen das
zuerst angeführte Moment des beschleunigten Ablaufes der
psychischen Acte ins Gewicht. Dieser entspricht nur scheinbar
einer erhöhten Leistung des Associationsorganes-, denn die
Massenproduction geht gleichsam mit einer Entwerthung der
einzelnen Theile Hand in Hand. Die einander rasch ablösenden
Vorstellungen geben dem Denken und Handeln des Manischen
das Moment des Unfreien. Dieses Moment muss besonders bei
denjenigen Entschlüssen auffallen, bei denen die hohe Werthig-
keit der Vorstellungen von Belang ist, also vor allem bei
moralischen Entschlüssen. Das unmoralische Gebaren des
Manischen ist daher dadurch charakterisirt, dass es einer
mangelhaften Einwirkung jener Systeme entspricht, welche ihre
Wirkung als Hemmungsvorstellungen zu äussern haben. Der
moralische Defect des Manischen bewegt sich im Gebiete der
negativen moralischen Leistung, wie sie von uns oben unter¬
schieden worden ist. Die positive moralische Leistung ist fall¬
weise sogar gehoben. „Seid umschlungen, Millionen! Diesen
Kuss der ganzen Welt!” ist ungefähr der Ausdruck der Ge¬
sinnung dieser Manischen gegenüber der Aussenwelt. Dies
schliesst aber nicht aus, dass, abhängig von einer entsprechenden
Ausbildung des Charakters, auch Störungen der positiven mora¬
lischen Leistung hervortreten im Sinne von Boshaftigkeit u. dgl.
Besonders auffällig sind die moralischen Defecte bei der perio-
j ) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie.
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Ueber moralische Defectzustäade.
103
dischen Manie, welche — nach Krafft-Ebing — „in meist
ausgeprägtem raisonnirenden, vielfach auch Moral insanity-
Gewand und mit vorherrschendem Delirium actionis erscheint,
das dann häufig einen impulsiven und vorwiegend unsittlichen
Charakter hat”. Weiterhin kennen wir episodische maniakalische
Zustände im Leben der Degenerirten, die dadurch, dass sie
nicht rein sind, dass die maniakalische Verstimmung eine
mindergradige ist, dass ihr Eintritt eine gewisse Abhängigkeit
von Gemtithsaffecten erkennen lässt und sie daher wie eine
abnorm gesteigerte Reaction erscheinen, schliesslich durch einen
begleitenden Schwachsinn den Anschein einer sich auf Schwach¬
sinn im Wege einer erhöhten Reizbarkeit aufbauenden Moral
insanity erhalten können. Magnan hat eine Reihe solcher
Manien kritisch beleuchtet, auf ihr specielles Vorkommen bei
Epileptischen und Alkoholischen hingewiesen, zugleich auch dar-
gethan, wie nur der äussere Schein die Folge hat, dass solche
Zustände mit der typischen Manie zusammengeworfen werden,
wogegen der geübte Psychiater „hinter der maniakalischen
Erregung den primären Zustand” psychischer Degeneration
wahrnimmt. Das häufige Vorkommen solcher Zustände bei
Individuen, die nebenbei gewisse „epileptische Anzeichen” auf¬
weisen, führt uns dahin, an einen intimen Zusammenhang der¬
selben mit den epileptoiden Zuständen zu denken und besonders
den impulsiven Charakter in der später zu entwickelnden Weise
mit der Epilepsie in Verbindung zu bringen. Nichtsdestoweniger
setzen wir aber auch bei solchen degenerirten Manischen den
moralischen Defect zunächst auf Rechnung der durch den
raschen Associationsablauf begründeten Verminderung des Ein¬
flusses gewisser Systeme. Ein wichtiger Factor liegt gerade
hier ausserdem in dem mehr weniger gesteigerten Triebleben,
wodurch solche associative Vorgänge, die zu unmoralischen Hand¬
lungen führen können, um so eher wachgerufen werden.
Wenn wir uns auch nicht vollends hierzu berechtigt wissen,
neigen wir ferner zur Annahme des Bestandes chronischer
Manien hin, wobei wir wohl an ausserhalb der Irrenanstalten
beobachtete Charaktere denken. Es handelt sich um Leute
mit leichter, aber unverkennbarer, fortdauernder, manischer
Verstimmung, regem Unternehmungsgeiste, grosser Redseligkeit,
laxer Moral. Auch sie mögen gelegentlich geradezu im Kleide
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104
Dr. Josef Bei ze.
der Moral insanity erscheinen, nicht weniger auch die bleibenden
Zustandsbilder „chronischer Manie”, welche sich nach Magnan
unter Umständen aus acuter Manie entwickeln. Zweifellos ist
schliesslich ja auch in den Fällen secundärer Geistesschwäche
mit erhaltenen manischen Elementen nach Manie der moralische
Defect nicht nur auf den Schwachsinn zurückzuführen.
Von hohem Interesse ist weiterhin die Betrachtung des
Zusammenhanges des bei Epileptikern erscheinenden moralischen
Defectes mit anderen psychopathischen Symptomen dieser
Kranken, zumal wenn wir uns mit Schlagworten wie „reizbarer
Blödsinn”, „Blödsinn mit Aufregungszuständen” u. dgl. nicht
zufrieden geben. Ohne wieder in den Fehler der radicalen Ver¬
allgemeinerung zu verfallen, wie es bei Reich *) der Fall ist,
welcher schlechterdings behauptet, dass der von ihm als Epilep-
sismus bezeichnete Zustand von Gebrechlichkeit den Mutter¬
boden abgebe, aus welchem „die besonderen Gebrechen: Epi¬
lepsie, Nervosität, Irrsinn und andere Formen der Geistesstörung,
Neigung zu Ausschweifungen in Trunk und Liebe, Hang zum
Verbrechen, moralischer Irrsinn u. s. w. den Ursprung nehmen”,
dürfen wir doch betonen, dass in dem pathologischen epilep¬
tischen Charakter Züge zu finden sind, welche dem gelegentlich
auftretenden moralischen Defecte besonders charakterisirende
Momente beigeben und denselben in einzelnen Fällen sogar
begründen, auch ohne unterstützenden Blödsinn. Der moralische
Defect der Epileptiker ist vor allem durch die Brutalität der
Unternehmungen ausgezeichnet. Der Zweck heiligt ihnen alle
Mittel. Körperliche oder geistige Kraft wird vom Epileptiker
im äussersten Masse aufgebracht, um das einmal gesteckte
Ziel des Begehrens zu erreichen. Der Gegenstand des Strebens
erhebt sich so hoch über die Schwelle des Bewusstseins, dass
gleichsam alle gedankliche Thätigkeit auf den einen Punkt zu¬
sammenläuft; dafür ist der wirkliche Werth dieses Zieles ohne
Bedeutung. So beobachteten wir bei einer Epileptischen, der ein
Verband angelegt werden musste, das Entstehen des Wunsches,
sich dieses Verbandes zu entledigen; allmählich erwuchs ihr aus
dem Wunsche das Bewusstsein der unbedingten NothWendigkeit,
l ) Dr. E. Reich, Der Epilepsismus. Vide Referat in diesen Jahrbüchern,
Bd. VE.
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Ueber moralische Defectzustände.
105
so dass sie schliesslich die Wärterin bedrohte und die Aeusserung
that, sie werde sich zu tödten versuchen, wenn man ihr den
Verband nicht abnehmen sollte. Der hohe Schwellenwerth des
begehrten Gegenstandes, nm den es sich in solchen Fällen zu
handeln scheint, hat gemeinhin rücksichtsloses und unablenkbares
Streben zur Folge. Die Epileptiker erscheinen aus diesem Grunde
zugleich eigensinnig oder, wie Krafft-Ebing sagt, „hartköpfig im
Festhalten eigener Ideen”. In Lagen mit moralischer Beziehung
kommt aber ausserdem in Betracht, dass die Einwirkung jener
sich bei geringerer Intensität, daher unbewusst vollziehenden,
präparatorischen Arbeit, auf die wir die moralische Leistung
zurückführen, nicht zur Geltung kommen kann, da sie gewisser-
massen überstimmt wird, gerade so wie uns die Sonne das
Licht der Sterne verlöscht; es fällt daher die Kraft weg, die
bei normalem Bewusstsein die Modification der Handlungsweise
in ethischem Sinne erzeugt. Trotzdem also die psychischen Be¬
dingungen für den Erwerb der Pflichtsysteme und deren ent¬
sprechender Betonung vorhanden sind, kommen sie nicht zum
Einflüsse. Eine Vorstellung für die Art der pathologischen
Grundlage dieser Erscheinung geht uns ab.
Einer besonderen Betrachtung sind ferner die impulsiven
Handlungen werth, die bei Epileptikern im Zusammenhänge
mit Trübungen des Bewusstseins auftreten. In neueren Lehr¬
büchern wird das Vorkommen impulsiver Acte gelegentlich
der Besprechung des „angeborenen Schwachsinnes” kurz abgethan.
Kraepelin *) schreibt: „Die Eigenthümlichkeit dieser Krank¬
heitszustände (impulsives Irresein) besteht in dem zeitweiligen
Auftauchen mächtiger, den Willen überwältigender Antriebe zu
bestimmten Handlungen ohne klaren Beweggrund. Der Kranke
handelt dabei einfach, weil er den unwiderstehlichen Antrieb in
sich fühlt, zu handeln.” Es ist nicht einzusehen, warum eine
Krankheit „Schwachsinn” heissen soll, deren Erscheinung durch
mächtige, überwältigende Triebe, durch die „Forza irresistibile”
bedingt ist. Wenn wir auf den activen, treibenden Factor
Gewicht legen, so müssen wir zu der Annahme eines auf einer
Desorganisation begründeten Defectes der Gehirn thätigkeit
gelangen, der aber mit Schwachsinn nichts gemein hat als
9 Kraepelin, Psychiatrie.
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106
Dr. Josef Berze.
vielleicht den gelegentlichen Effect. Wir sehen ja eine ähnliche
Einwirkung eines überwältigenden Triebes bei manchem Dipso-
manen, dessen Intelligenz gar nicht anzuzweifeln ist, periodisch
auftreten, erkennen somit, dass es Erscheinungen gibt, die, ohne
sich mit Schwachsinn zu decken, den Kranken am Widerstande
gegen gewisse Impulse verhindern, beziehungsweise diese Im¬
pulse zu unüberwindlichen gestalten. Anscheinend ist auch das
Auftreten impulsiver Acte einerseits durch den hohen Schwellen¬
werth der betreffenden Vorstellung bedingt, also auf dieselbe
Grunderscheinung zurückzuführen, wie die Tilgung der unbe¬
wussten Gedankenarbeit.
Viel mehr als Schwachsinn dürfte beim Epileptiker und bei
allen den Kranken, die ihm im ethischen Verhalten nahestehen,
wie gewisse Neurastheniker, die bereits betonte Trübung des
Bewusstseins in Betracht kommen. Sie ist auf die Grund¬
erscheinung von Amentia zu beziehen, von welcher Meynert
sagt, dass sie „eine Herabsetzung des elementaren Ernährungs-
pbänomens der geweblichen Attraction im corticalen Organe
ist, welche die Association im weitgreifenden Zusammenhänge,
die höher coordinirte Association im verschiedenen Grade beein¬
trächtigt”. Die Herabsetzung der geweblichen Attraction, viel¬
leicht vergesellschaftet mit in vasomotorischen Störungen be¬
gründeter Verminderung der Blutversorgung in der Hirnrinde,
scheint bei Epileptikern sowohl auf innere als auch auf äussere
Reize hin leicht zu erfolgen. Sie findet ihren Ausdruck in der
Zornmüthigkeit, Reizbarkeit der Epileptiker, welche im Be¬
obachter zuweilen die Annahme einer vollständigen Associations¬
dissolution wachruft; sie dürfte aber auch gelegentlich die Ent¬
stehung von impulsiven Handlungen mit bedingen, wenn nämlich
in dem durch die Herabsetzung seiner Function an der erfolg¬
reichen Hemmung gewisser Impulse oder an der Modificirung
der Handlungen im Sinne einer „höher coordinirten Association”
gehinderten Associationsorgane gleichzeitig eine zur Handlung
treibende Vorstellung, mag sie nun durch Apperception oder
auf combinatorischem Wege angeregt worden sein, entsteht und
durch ihren hohen Schwellenwerth die Psyche des Kranken be¬
herrscht. Je nach der Art dieser in Folge des Darniederliegens
der anderen Associationen dominirenden Vorstellung, welche wieder
durch die Natur der betreffenden Desorganisation bestimmt
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Ueber moralische Defectzustände.
107
wird, entwickeln sich die früher als Monomanien beschriebenen
krankhaften Triebe, von welchen erfahrungsgemäss der Brand¬
stiftungstrieb für die epileptische Degeneration geradezu charak¬
teristisch ist.
Es wäre ein Irrthum, wenn wir das Auftreten impulsiver
Handlungen mit der besprochenen Art der Genese an die Er¬
scheinung typischer epileptischer Anfälle gebunden erachten
wollten; vielmehr müssen wir auch bei der Betrachtung dieses
Defectes auf die Erweiterung, welche der wissenschaftliche Be¬
griff der Epilepsie allmählich erfahren hat, Rücksicht nehmen.
Wir können uns mit der Anschauung Westphal’s') nicht be¬
freunden, wenn er sagt, dass er „kaum einen Fall von sogenannter
Moral insanity gesehen zu haben sich erinnere, in welchem
nicht epileptische Anfälle zur Evidenz nachweisbar waren”;
hingegen kommen wir wohl der Wahrheit am nächsten, wenn
wir für diejenige Form der moralischen Defectuosität, welche
die Impulsivität hervortreten lässt, die der Epilepsie zu Grunde
liegende Desorganisation als grundlegend ansprechen. Es ist
uns auch hier wieder klar, dass oft oder sogar zumeist parallel
damit der in angeborener oder erworbener Degeneration fussende
Schwachsinn laufen muss; viele Fälle von sogenanntem Blödsinn
mit Reizbarkeit dürften in dieser Weise aufzufassen sein. So auch
der von Schlöss angezogene Fall F. (vide diese Jahrbücher,
VIII, S. 263). Bei F. findet Meynert „allerdings” die conti-
nuirlich zu verfolgende Erscheinung eines geringen Grades an¬
geborenen Blödsinnes, zieht aber zur Erklärung der moralischen
Defectuosität für die verschiedenen Lebensphasen des F. ver¬
schiedene Momente heran, welche Reizbarkeit bedingten, zuerst
die wahre Epilepsie, dann die epileptoiden Zustände, zuletzt
aus verschiedenen Gründen hervortretende Reizzustände, die
besonders durch Wein so gesteigert wurden, dass F. den Ein¬
druck eines berauschten Geisteskranken machte. Diese Momente
sind durchwegs aber auch geeignet, vorübergehende Verwirrt¬
heitszustände zu erzeugen, aus welchen wir uns ohne Zuhilfe¬
nahme eines auch noch so geringen Grades von Blödsinn die
Entstehung impulsiver Handlungen abzuleiten vermögen. Wie
') Westplial, Die conträre Sexualempfindung, ein Symptom eines neuro-
pathischen (psychopathischen) Zustandes. Archiv f. Psych. und Nervenkrankheiten,
Bd. II, 1870.
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108
Dr. Josef Berze.
zweifelhaft übrigens der Bestand des Schwachsinnes bei F. war,
drückt, abgesehen von der reservirten Ausdrucksweise im
Meynert’schen Gutachten, der Umstand aus, dass er von den
untersuchenden Aerzten bald entdeckt, bald wieder vermisst
worden ist.
Zur Krankengeschichte des F. mag noch bemerkt werden,
dass die krankhafte Reizbarkeit, die zornmüthige Erregbarkeit
schon sehr früh an ihm hervortrat, dass zu erkennen war, dass
jede Hoffnung auf einen geordneten Lebenslauf des Kranken
aufgegeben werden müsse, obwohl er nach übereinstimmendem
Zeugnisse gut und leicht lernte. Ganz sinnlose Acte waren es,
zu denen er sich hinreissen liess und zu denen er inmitten einer
geordneten Zeit durch einfachen Widerspruch mit der Sicherheit
eines Experimentes veranlasst werden konnte. Nach Ablauf der
Erregungszustände konnte er sich an das Geschehene gar nicht oder
nur dunkel erinnern, so dass er sich oft ausdrückte, er begreife nicht,
warum man ihm schon wieder Vorwürfe mache, warum man ihn
in die Anstalt gebracht habe; er empfand daher auch die Be¬
handlung von Seiten seiner Umgebung als ungerecht und brachte
dieses Gefühl des ihm zugefügten Unrechtes durch eine gewisser-
massen natürliche Renitenz und Auflehnung gegen Verfügungen
zum Ausdrucke. Es entwickelte sich bei ihm zudem eine ähn¬
liche Verbitterung, wie wir sie früher zur Constitution eines
antimoralischen Gefühles herangezogen haben, so dass er sich
später auch in den freien Zeiten in unmoralischen Handlungen
gefiel. Wir können also bei ihm verfolgen, wie sich gelegentlich
die moralische Defectuosität als eine Kette impulsiver Acte dar¬
stellt, wozu sich später erst continuirliche moralische Depra-
vation gesellt.
In diesem und in mehreren ähnlichen Fällen, die wir zu
beobachten Gelegenheiten hatten, muss also der zu amentia-
ähnlichen Zuständen führenden Desorganisation viel mehr die
Rolle einer Basis, wenn schon von einer solchen gesprochen
werden soll, zugesprochen werden, als dem gelegentlich wirklich
nebenher laufenden beliebigen Grade von Dementia. Der gering¬
gradige Blödsinn, wie in dem eben angezogenen Falle, hätte nie
zur Erscheinung des moralischen Defectes geführt, hätte sich
nicht die speciell auf Epilepsie hindeutende Heredität, die „in
Epilepsie zweier Ascendenten culminirende vererbte Anlage”,
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Ueber moralische Defectzustäude.
109
wie sich Meynert aasdrückt, noch in anderen Erscheinungen,
von welchen wir der Neigung zu epileptoiden Zuständen und
der psychischen Convulsibilität besondere Bedeutung beimessen,
geltend gemacht. Andererseits ist die Einwirkung dieser letzteren
Factoren auf das moralische Gebaren so mächtig, dass sich
uns das Bedürfniss der Annahme eines grundlegenden Schwach¬
sinnes gar nicht fühlbar macht, dass wir vielmehr zur Ueber-
zeugung gelangen, dass auch auf diese Weise begründete mora¬
lische Defc-ctuosität mit intacter, ja selbst hoher Intelligenz
vereinbar ist.
Ganz eigenartig stellt sich ferner die moralische Defectuo-
sität dar, welche vorübergehend bei Neurasthenikern auffällig wird.
Krafft-Ebing 1 ) erwähnt unter den Grunderscheinungen des
neurasthenischen Charakters: „Einkehr in sich selbst bis zu
crassem Egoismus und darniederliegendem Altruismus, grosse
Emotivität, Impressionabilität, Reizbarkeit, mit mangelhafter
Fähigkeit, die Affecte zu beherrschen, grosse Steigerung der
AutosuggestibiJität mit steter Bereitschaft zu pessimistischer
Beurtheilung der Lage und der Zukunft etc.” Es ist wohl ein¬
zusehen, dass sich auf solchen Grundlagen die Erscheinung
eines ethischen Defectes entwickeln muss, welche wieder ganz
und gar nicht in einer mangelhaften Constitution der ethischen
Grundlagen, sondern in einer „Verdrängung der ethischen
Gefühle” (Krafft-Ebing) einerseits, in der Hemmung der
associativen Thätigkeit, welche nach demselben Autor „so
gross werden kann, dass eine erschwerte Anspruchsfähigkeit
des Gemüthes bis zu förmlichem gemüthlichen Torpor platz¬
greift”, andererseits begründet ist. In den Fällen, wo das erstere
Moment Ausschlag gibt, die Verdrängung der ethischen Gefühle,
ergeben sich Berührungspunkte mit dem ethischen Defecte der
Hysterischen; der moralische Defect dieser Kranken kann nicht im
Allgemeinen als moralische Verblödung bezeichnetwerden, wie es bei
Kraepelin geschieht, sondern muss — gewisse Fälle, in denen
Blödsinn mitconcurrirt, ausgenommen — auf die Verdrängung
der altruistischen Rücksichten zurückgeführt werden, welche
durch den Egoismus, beziehungsweise durch die gesteigerte
Rücksichtnahme auf die eigentliche Person, die durch die fort-
') v. Krafft-Ebing, Nervosität und neurasthenische Zustände.
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110
Dr. Josef Berze.
währende Beschäftigung mit wirklichen oder eingebildeten
Leiden erzwungen wird, bedingt ist. Diejenigen Fälle hin¬
wiederum, welche durch die im Vordergründe stehende associa-
tive Hemmung den ethischen Defect erklären, machen uns die
Genese der spärlichen Fälle eines bedeutenderen moralischen
Defectes in melancholischen Krankheitszuständen verständlich,
welche übrigens wohl am wenigsten geeignet sind, einen der¬
artigen Defect aufkommen zu lassen.
Nur um einer möglichsten Vollständigkeit willen sei noch
die gelegentlich hervortretende moralische Defectuosität Ver¬
rückter erwähnt, die sich wohl aus der im Wahne gelegenen
Isolirung des Kranken mit seinen egoistischen Tendenzen ab¬
leiten lässt. Bei Bestand von Grössenideen hilft das Gefühl der
Unumschränktheit, bei vorherrschendem Verfolgungswahne das
Gefühl der Verbitterung mit. Hallucinatorische Einflüsse ziehen
oft ethische Vergehen nach sich.
Nach der Betrachtung derjenigen moralischen Defectzustände,
die sich aus mangelhafter Constitution der betreffenden Asso¬
ciationssysteme erklären, und derjenigen, welche in einer vorüber¬
gehenden Depotenzirung oder Verdrängung der in der Anlage
normalen Systeme begründet sind, bleibt uns noch übrig, auf
die Fälle hinzuweisen, die Hand in Hand mit einer bleibenden
und oft fortschreitenden Schwächung des Associationsorganes
erscheinen, sich ebenso wie der Blödsinn als Ausfallserscheinung
darstellen und daher als moralische Abschwächung, Depravation,
zu bezeichnen sind. Es handelt sich um die moralische Ver¬
blödung im eigentlichen Sinne des Wortes bei progressiver
Paralyse, bei seniler Demenz, bei Blödsinn in Folge von Alko¬
holismus, bei secundärem Blödsinn und in diesem Sinne auch
bei mit Hysterie und Epilepsie zusammenhängenden Blödsinns¬
formen. Hier ist Blödsinn mit Reizbarkeit die unbestrittene
Basis des ethischen Defectes.
Wenn wir schliesslich nach dem Momente forschen, welches
allen moralischen Defectzuständen gemeinsam ist, so ist es
einzig und allein die angeborene oder erworbene Degeneration.
Sie zeitigt Factoren, die bei jedem Intelligenzgrade einen
ethischen Mangel bedingen können. Es nimmt uns daher auch
nicht Wunder, dass degenerirte Genies oft moralisch defect
sind; denn wenn auch einer Lehre Zweifel entgegengebracht
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Ueber moralische Defectzustände.
111
werden müssen, welche Eeactiv- und Initiativ-Genies unter
einen Hut bringen will, wahrhafte Athleten des Geistes und
kranke Grübler-Genies in derselben Gedankenreihe anzieht, so
erklären wir uns doch bei denjenigen, welche wirklich degenerirt
sind, aus den verschiedensten Symptomen psychischer Degene¬
ration ihren moralischen Defect.
Die verschiedene Genese schliesst naturgemäss Verschieden¬
heiten der Prognose, der therapeutischen Indicationen n. dgl.
in sich, was die Prognose zunächst betrifft, in der Eichtung,
dass gewissen Fällen Aussicht auf Besserung, ja annähernde
Heilung nicht abgesprochen werden kann. Während es uns
schwer fällt, an eine Heilung eines angeborenen Blödsinnes zu
denken — Gauster 1 ) kam in Folge seiner Auffassung der
Moral insanity als Erscheinungsform des Schwachsinnes in die
beneidenswerthe Lage, wiederholt Fälle von „Idiotie und ange¬
borener Imbecillität” als geheilt ausweisen zu können — und
daher bei einer auf universellem oder partiellem Blödsinn
beruhenden moralischen Defectuosität eine wirkliche Besserung
nicht erhoffen können, zeigt uns die Erfahrung, dass be¬
sonders diejenigen Kranken, bei denen die Eeizbarkeit ohne
Schwachsinn die Basis bildet, einer weitgehenden Consolidirung
ihres Charakters fähig sind, sobald eben die Eeizbarkeit zurück¬
tritt. So haben wir Gelegenheit, einen Mann, der in seinen
ersten Jünglingsjahren mit der Diagnose Schwachsinn in Form
von Moral insanity in Irrenpflege stand, fast unablässig zu be¬
obachten und können ihm das Zeugniss ausstellen, dass seine
Verhältnisse geordnet sind, seine Lebensführung seit Jahren
tadellos ist, und dass er sich seinen Lebensunterhalt durch eine
geistige Beschäftigung verdient, die an seine Intelligenz ziemlich
bedeutende Ansprüche stellt, welchen er aber derart vollkommen
und fast pedantisch genau zu genügen versteht, dass sein Vor¬
gesetzter über gewisse aus seiner noch immer nicht ganz
gewichenen Eeizbarkeit entspringende kleine Conflicte gern
hinwegsieht. Auch andere einschlägige Fälle haben wir in Er¬
fahrung gebracht.
Aber auch genetisch von diesem verschiedene Fälle wären
einer wesentlichen Besserung zugänglich, wenn derselben nicht
*) Vide Jahresbericht pro 1892/93.
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112
Dr. Josef Berze.
gewisse ausser dem Individuum gelegene Factoren geradezu im
Wege stünden. Degenerirte haben recht häufig schon degenerirte
Eltern; darin sind vielerlei Mängel der Erziehung begründet,
die vielleicht erst die derzeit noch als Utopie ausser Discussion
stehende Idee einer staatlichen Erziehung zum Theile zu be¬
seitigen im Stande sein wird. Wir sind uns bewusst, dass
gerade durch eine geordnete Früherziehung viele moralische
Defecte, die heute noch als in angeborener Anlage begründet
angesehen werden, vermieden werden könnten, und glauben,
dass jener gewissermassen mystische Kern immer weniger in
Anspruch genommen werden wird, welcher nach Schüle 1 ) „als
eigentlicher Kern unseres Individualcharakters uns angeboren”
ist, wenn Erfahrung und Erziehung das ihrige vollkommen
leisten werden. Ein Kern wird freilich immer Geltung behalten,
nämlich ein in keiner Richtung gestörtes Associationsorgan.
Neisser hat klar die Ansicht vertreten, dass der Zweck
der Erziehung die Erweckung hochwerthiger Associationssysteme
ist. Die Fähigkeit, solche aufkommen zu lassen, ist normaler¬
weise vorhanden, ist in der Kindheit am grössten, nimmt aber
mit zunehmendem Alter ab, geht im Greisenalter fast ganz ver¬
loren. Dies beruht einerseits wohl auf der grösseren Impressiona-
bilität des kindlichen Gehirnes, ausserdem aber auf einer Reihe
anderer Factoren. Zunächst fehlen präformirte Associationen,
welche wie beim Erwachsenen unter Umständen die der Moral
entsprechende Associationsgruppe auf die Stufe einer Neben¬
association herabdrücken würden. Das Kind übernimmt beispiels¬
weise den Begriff des Eigeuthumsrechtes durch die Erfahrung
einer Reihe von concreten Fällen, es übernimmt den Begriff der
Widerrechtlichkeit in der Lüge, im Betrüge, in der Eigenthums¬
verletzung; diese Begriffe werden zu unumstösslichen Principien,
weil sie zu einerZe.it auftauchten, wo noch keine antagonistischen
Vorstellungscomplexe vorhanden sind. Beim Erwachsenen dagegen,
der bis dahin noch nicht zum Besitze moralisch treibender Be¬
griffe gelangt wäre, würde z. B. der Spruch: „Ehrlich währt
am längsten” nicht zu einem wirksamen Associationscomplexe
werden können, weil er durch Erfahrung Fälle kennen gelernt
hat, die für das Gegentheil sprechen; Ehrlichkeit und Wohl¬
ergehen würden sich bei ihm nicht kräftiger associiren als etwa
Schüle, Klinische Psychiatrie.
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Ueber moralische Defectzust&nde.
113
die Vorstellung einer nach jeder Bichtung gewagten Speculation
und die des Wohlergehens in Folge des aus derselben resul-
tirenden Gewinnes. Der Mangel antagonistischer Associationen
äussert sich auch in der Gestalt des Autoritätsglaubens, von
dem Volkmann sagt: „Das Sichbefangenfühlen in der Autorität
ist gewiss noch kein moralisches Gefühl, es entwickelt sich
aber zu diesem, je mehr das Kind in dem Gebote des Vaters
die Manifestation einer höheren, unbefangenen Einsicht erkennt,
und man hat in dieser Beziehung richtig bemerkt, dass Gehor¬
sam die erste Bildungsschule der Sittlichkeit abgibt.” Weiter¬
hin fehlt dem normalen Kinde eine psychische Bethätigung, die
als apriorische Negation bezeichnet werden mag, die Er¬
scheinung des Auftretens eines dem neu gewonnenen Urtheile
entgegengesetzten Urtheiles, woran sich die Erwägung der
Gründe pro und contra anschliesst. Hört der geistig Entwickelte:
Dieses Haus kann in zwei Monaten fertig gebaut sein, so taucht
in ihm gleichzeitig die Vorstellung auf, dass das Haus bis dahin
noch nicht fertig ist. Dieses Auftauchen des Conträren oder auch des
Contradictorischen erstreckt sich aber allmählich nicht nur auf
problematische, sondern auch auf assertorische und apodiktische
Urtheile; es entspringt wohl der aus der Erfahrung gewonnenen
Erkenntniss, dass ein übernommenes Urtheil oft durch die Er¬
eignisse desavouirt wird. Mit dem Auftauchen der apriorischen
Negation erscheinen gelegentlich auch Gegengründe gegen das
primäre Urtheil, die demselben seine Bedeutung ganz oder
theilweise benehmen. Gerade in Sachen der Moral ist aber vor
der Entwickelung des erweiterten Ich ein Grund für die Negation
immer parat: Die Triebe des primären Ich. Dem Kinde fehlen
für lange Zeit die auf dem Auftreten der Contrastvorstellung
basirten psychischen Vorgänge; daher steht es dem fremden
Urtheile äusserst empfangsfahig gegenüber, fast so wie ein
Hypnotisirter der Suggestion; bei diesem ist die Kritik aus¬
geschaltet, bei jenem noch nicht entwickelt. Schliesslich bringt
es die noch beschränkte Erfahrung des Kindes mit sich, dass
die Fähigkeit des Differenzirens noch nicht entwickelt sein
kann; gleich erscheinende Situationen kehren daher leichter
wieder, wodurch die Möglichkeit, dieselben Vorstellungen in
rascher Folge oft in Association zu bringen, näher gerückt ist,
als später, wo bei entwickeltem Geistesleben vielfache Neben-
Jahrbttcber f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 8
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114
Dr. Josef Berze.
rücksichten die Situationen als verschieden erkennen lassen und
dadurch unvergleichbar machen oder wenigstens ihren Vergleich
so weit erschweren, dass sie in der Erinnerung eine gewisse
Selbstständigkeit bewahren. Während dem Kinde daher bei¬
spielsweise jede Lüge als verpönt gilt, hält der Erwachsene je
nach seinem Moralitätsgrade von der „Nothlüge” angefangen
verschiedene Lügen für erlaubt. Viele Verhältnisse machen
demnach das Gehirn des normalen Kindes ganz besonders
geeignet, Associationscomplexe von hoher Werthigkeit und
leichter Erregbarkeit aufkommen zu lassen. Das normale Kind
braucht hierzu nur das angemessene Milieu; eine „Fülle von
Begünstigungen der Entwickelung moralischer Gefühle entspringt
ihm aus einem geordneten Familienleben”. Dagegen braucht
das Kind mit Neigung zu moralischer Defectuosität eine specielle
Erziehung. Ist es frühreif, so ist es Ziel dieser Erziehung, die
Entstehung der Pflichtsysteme zu beschleunigen, sie womöglich
zu einer Zeit , zu wecken, wo der Geist noch nicht seine volle
selbstständige Betätigung erlangt hat. Bei Idioten, von denen
übrigens Landenberger übereinstimmend mit anderen Päda¬
gogen sagt, dass bei der Mehrzahl die Gemüthsseite von der
Verkümmerung weniger betroffen sei als die Intelligenz, werden
die für die Idiotenerziehung im Allgemeinen geltenden Prin-
cipien, vor allem Erregung der Aufmerksamkeit, auch bei der
sittlichen Erziehung massgebend sein müssen. Schon bei gewissen
Idioten, besonders aber bei Imbecillen werden gewisse disciplinäre
Mittel nicht zu umgehen sein. Aus diesem Grunde verlangt wohl
auch der um die Idiotenpflege so hochverdiente Pastor Sengel-
mann, 1 ) gewisse „Idioten, welche, was die Intelligenz anlangt,
auf einer höheren Stufe, hinsichtlich ihres Gemüthes aber ganz
von den Banden der Verschmitztheit, der Lüge, des diebischen
Wesens umschlungen sind, so dass von einer Wirksamkeit des
Gewissens und eines sittlichen Gefühles nicht die Rede sein
kann”, lieber in Besserungs- und Rettungsanstalten unter¬
zubringen, als in den Idiotenanstalten. Noch viel weniger passen
sie aber in Irrenanstalten, aus welchen ja glücklicherweise auch
jeder Anschein einer Disciplinirung verpönt wird; es trägt eben,
wie oben ausgeführt, zu einer moralischen Besserung nicht nur nicht
! ) Sengelmann, Systematisches Lehrbuch der Idioten-Heilpfiege.
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Ueber moralische Defectzustände.
115
bei, sondern steht ihr sogar entgegen, wenn zu anderen genetisch
wichtigen Momenten noch das Bewusstsein der Unzurechnungs¬
fähigkeit und UnVerantwortlichkeit, sowie der Sicherheit vor
Strafe und jeder anderen Remedur hinzutritt. Aus diesen
Gründen allein schon wäre die Absicht, die depravirten und
depravirenden Alkoholiker, die Landplage der Irrenanstalten,
aus denselben in eigene Anstalten zu übersetzen, lebhaft zu
begrüssen, aus diesen Gründen ist aber auch die Unterbringung
vieler anderen moralisch Defecten in geeignete Erziehungs¬
anstalten in hohem Grade wünschenswert!». Dann wird sich viel¬
leicht gerade auf diesem Gebiete ein Feld für die psychische
Behandlung eröffnen.
Ferne liegt es uns, auf die Möglichkeit, ab und zu durch
somatische Behandlung, Hebung der Ernährung, Besserung der
Blutzusammensetzung u. dgl. den psychischen Zustand günstig
zu beeinflussen, näher einzugehen.
Zum Schlüsse sind wir verpflichtet, der Unterstützung mit
herzlichem Danke zu gedenken, welche Herr Director Krayatsch
dieser Arbeit durch Ueberlassung der sehr zahlreichen Kranken¬
geschichten und durch Hinzufügung vieler aus reicher Erfahrung
geschöpften Bemerkungen hat angedeihen lassen.
8 *
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergifiung.
(Aus dem Hospital des heiligen Nicolaus in St. Petersburg.)
Von
Dr. Leo Finkeistein.
Das Gaz pauvre, zu technischen Zwecken in Westeuropa
bereits seit mehreren Jahren in Anwendung gezogen, fand in
Russland erst neulich (1894) Eingang, wo es in den Werkstätten
der franco-russischen Gesellschaft zu denselben Zwecken ver-
werthet wird. Es wird in einem besonders dazu hergerichteten
Raume durch Durchleiten von Luft über "erhitztes Anthracit ge¬
wonnen und gelangt von dort durch zwei Röhren in ein Reser¬
voir, in welchem es sich bis zu einer bestimmten Menge an¬
sammelt. Von dort wird es in die Maschinenabtheilungeu geleitet
und vermittelst des elektrischen Funkens zur Explosion gebracht;
die dabei sich entwickelnden Gase sind es, die durch ihren
Druck die Maschinenkolben in Bewegung setzen und auf diese
Weise die Dampfkraft ersetzen. Laut in der Fabrik der franco¬
russischen Gesellschaft eingezogenen Erkundigungen sind die
chemischen Eigenschaften dieses neueingefiihrten Gases bisher
noch nicht genügend aufgeklärt. Bekannt ist nur, dass es aus
einem Gemenge von Stickstoff, Kohlenoxyd, Kohlensäure und
einer geringen Menge von Kohlenwasserstoffen besteht; wegen
seines Mangels an lichterzeugenden Bestandtheilen hat es die
Benennung Gaz pauvre erhalten. Gegenwärtig hat die Fabriks¬
administration bereits eine genauere chemische Analyse dieses
schon zu Beginn seiner Anwendung als gefährlich erwiesenen
Stoffes angeordnet und w r ar so liebenswürdig, die vorläufigen
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftnng.
117
Resultate der Untersuchung mir mitzutheilen; da jedoch letztere
noch nicht vollständig abgeschlossen ist, so bin ich vorläufig
auch nicht im Stande, genaue zahlenmässige Angaben zu machen.
Jedoch ist in Frankreich die chemische Constitution des Gases
sehr wohl bekannt. Edouard Delamore Debouteville führt in
seinem Werke „Des moteurs ä gaz” (Rouen 1893) folgende,
seiner Meinung nach ziemlich constante Zusammensetzung des
Gaz pauvre an.
H= 20-0
CO = 21-0
C t H a = 3 5
C a H a = 0-5
0= 0-5
C0 2 = 5-0
N = 49-5
100
* Nach dieser Analyse zu urtheilen, enthält also das Gaz
pauvre einen überwiegenden Procentsatz an Kohlenoxyd, Stick¬
stoff und Kohlensäure.
Von sämmtlichen complicirten, zur Gewinnung und Ver¬
wendung des genannten Gases dienenden Vorrichtungen interes-
sirt uns nun am meisten jenes oben erwähnte Reservoir, in
welchem sich der im Folgenden mitzutheilende traurige Vorfall
ereignet hat. Das benannte Reservoir wird durch ein gewöhn¬
liches Gasometer — einen mächtigen Cylinder von 8 Fuss Höhe
und ebenso viel im Diameter — gebildet und besteht aus zwei
Theilen: einem unteren mit Boden versehenen Cylinder und
einer in denselben hineinpassenden, an Rollketten auf- und abwärts
laufenden Glocke. In den Boden des ersteren gelangen zwei
Röhren, die bis zum oberen Ende desselben hinaufreichen, während
dicht an dessen unterer Grenze seitlich ein durch einen Hahn
absperrbares Abflussrohr mündet. In ähnlicher Weise ist auch
die Glocke oben mit einer weiten Oeffnung, breit genug, um
einen Menschen hindurch zu lassen, sowie mit einem Sicherheits¬
ventile versehen. Die Füllung des Reservoirs gestaltet sich dem¬
nach derartig, dass nach Tiefstellung der Glocke der ganze
Apparat zunächst mit Wasser gefüllt und sodann durch die
beiden erwähnten cylindrischen Röhren das Gaz pauvre in den
Behälter hineingepresst wird. Indem dasselbe sich nun über
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118
Dr. Leo Finkeistein.
dem Wasserniveau ansammelt, drängt es die Glocke in die
flöhe und sobald diese bis zu einer an ihrem unteren Ende
angebrachten Marke emporgehoben ist, wird das Reservoir als
gefüllt betrachtet. Zu gleicher Zeit sinkt um etwas der Wasser¬
stand im unteren Cylinder.
Am 24. September 1894, wo der Unglücksfall passirte, stand
der Behälter wegen einiger erforderlicher Reparaturen ausser
Thätigkeit. Die Glocke war vollständig herabgelassen, deren
obere Oeffnung unverschlossen, während das Wasser durch das
seitliche Abflussrohr fast ganz entfernt war, so dass es kaum
3 Zoll hoch reichte. Nach der Meinung des die Aufsicht füh¬
renden Ingenieurs konnte vom Gase zu jener Zeit nur eine
ganz unbedeutende Menge im Reservoir vorhanden gewesen
sein. Herr Ingenieur W., welcher die entsprechenden Arbeiten
zu leiten hatte, sowie die damals anwesenden Arbeiter, welche
Augenzeugen des Vorfalles waren, berichten über denselben
folgendermassen: Sämmtliche Arbeiter waren um 7 Uhr Morgens
versammelt; um 9 Uhr wurden Anstalten zum Hinunterlassen
einiger von ihnen getroffen, um eine Schraubenmutter inner¬
halb des Cylinders festzudrehen. Als Erster stieg unser Patient,
Al. Grigorjeff, hinunter; er brachte selbst die Leiter herbei,
liess sie durch die obere Glockenöffnung hindurch, nahm die
nöthigen Instrumente zu sich und stieg, nachdem er ein Zünd¬
holz angerieben, die Leiter hinab. Am Boden des Reservoirs
angelangt, entfernte er letztere von der Lücke und stellte sie
an einer anderen Stelle der Glocke hin, da, wo die Reparatur
vorgenommen werden sollte. Er stieg hinauf, fragte noch von
innen her um ein Paar Anweisungen und man sah sogar, wie
er seinen Finger durch das Sicherheitsventil hindurchführte.
Nach 10 Minuten aber blieb es in der Glocke still und auf
Anrufen erfolgte keine Antwort. Unruhig über so andauerndes
Schweigen, ohne jedoch irgendwelche besondere Befürchtungen
zu hegen, beauftragte Ingenieur W. einen zweiten von den
Arbeitern hinabzusteigen, um nachzusehen, was vorgefallen sei.
Der Arbeiter kletterte an einem Strick hinunter, der von oben
bis zum Boden des Cylinders reichte, doch schon nach einigen
Secunden gab er keine Antwort mehr. In Folge dessen wurde
sofort ein Dritter, diesesmal an einem Stricke befestigt, in den
Raum hinuntergelassen, sogleich aber auf sein heftiges Rufen
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung.
119
wieder heraufgezogen. Er erklärte mir nachher, dass im Momente
des Hinablassens sich Kopfschwindel und Athembeklemmung
eingestellt hätten. Offenbar war ein Unglück passirt, welches
die Administration nicht hatte voraussehen können. Eilig wurde
die Glocke gelüftet und unter ihr die beiden Arbeiter hervor¬
geholt. Der eine von ihnen war mit dem Gesichte nach unten
liegend aufgefunden worden und bereits todt, so dass Wieder¬
belebungsversuche erfolglos blieben. Al. Grigorjeff dagegen fand
man in sitzender Stellung und in tiefem Coma. Alles eben An¬
geführte hatte sich in kaum 10 Minuten abgespielt. Krämpfe
wurden, trotz genauen Nachfragens, in Abrede gestellt. Patient
wurde sofort ins Alexanderhospital für Arbeiter befördert.
Laut Krankengeschichte gelangte er in tief comatösem
Zustande zur Aufnahme. Die Untersuchung der Lungen ergab
massenhaft feuchte Rasselgeräusche; beim Husten wird blutig
tingirtes, schaumiges Sputum expectorirt. Herzthätigkeit äus-
serst geschwächt; Puls klein. Verordnet, unter anderem, Ein-
athmen von Sauerstoff.
Am folgenden Tage, 25. September: Patient zu Bewusstsein
gekommen; gibt an, wo er angestellt ist, weiss jedoch nicht, wo
er sich befindet und was mit ihm vorgegangen. Herzthätigkeit
bedeutend besser. Kein schaumig-blutiges Sputum zu constatiren.
26. uud 27. September: Patient bei voller Besinnung, Schlaf
und Appetit gut. Herzthätigkeit befriedigend. Harn normal;
kein Eiweiss. Nähere Angaben über den Geisteszustand sind
nicht verzeichnet. Am 28. September wurde Patient aus dem
Alexanderhospitale entlassen und verbrachte die folgende Zeit
zu Hause bis zu seiner am 2. October erfolgten Aufnahme ins
Hospital St. Nicolaus. Seine wenig intelligente Frau theilte mit,
dass der psychische Zustand ihres Mannes sich von Tag zu Tag
verschlimmerte, so dass sie sich genöthigt sah, die Polizei um
Unterbringung ihres Mannes im Hospital des St. Nicolaus an¬
zugehen. Er war zu Hause schweigsam, mürrisch, seufzte häufig
auf und führte eine Reihe verkehrter Handlungen aus, zog z. B.
sein Hemd über die Beine an u. s. w. Er zeigte kein Interesse
für seine Umgebung, verlangte keine Nahrung, genoss aber
alles, was man ihm vorlegte.
Die objective Untersuchung im Hospital des St. Nicolaus
ergab folgenden Status praesens: Patient 24 Jahre alt, mittelgross,
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120
Dr. Leo Finkeistein.
mittlerer Ernährung und Constitution. Eine genaue Untersuchung
der inneren Organe zeigte nichts Pathologisches. Puls bis 98. Pu¬
pillen mässig erweitert., gleich gross, reagiren trag auf Licht. Weder
im Gesicht, noch an den übrigen Körpertheilen sind irgend welche
paretische Erscheinungen zu constatiren. Die Zunge zittert etwas
beim Hervorstrecken, desgleichen die Hände beim Uebergang in
Extension. Haut-, Knochen- und Sehnenreflexe beiderseits stark
erhöht. Reaction auf Schmerzreize gering. Gliedmassen kalt, cyano-
tisch; keine Oedeme. Temperatur 36'7. Patient sitzt unbeweglich,
sieht stumpf um sich, murmelt ab und zu etwas vor sich hin
und seufzt öfter tief auf. Antwortet nicht auf mehrmals wieder¬
holte Fragen. Trotzdem fasst Patient äussere Eindrücke, obgleich
in schwachem Masse, offenbar auf. So z. B. reagirt er nicht
auf mündliche Aufforderungen sich zu setzen, die Augen zu
öffnen oder zu schliessen u. dgl., reproducirt jedoch, aufgefordert,
geradeaus vor sich zu sehen, die meisten Bewegungen, die ihm
vorgemacht werden. Am Abend desselben Tages stellte sich,
inmitten völliger Be Weglosigkeit, ein heftiger Tobsuchtsanfall ein,
wobei Patient sein Hemd zerriss, sich aber bald beruhigte und
in seinen früheren Zustand zurückkehrte.
3. October. Psychischer Zustand unverändert. Patient ver¬
brachte den ganzen Tag in sitzender Stellung, theilnahmslos gegen¬
über seiner Umgebung. Antwortet nicht auf Fragen und murmelt
etwas, wie früher, vor sich hin. Schlaf und Appetit gut. Im
Urin Spnren von Eiweiss. Temperatur normal.
4. October. Stupor etwas geringer. Patient macht merkbare
Anstrengung zu antworten, bringt jedoch, mit Ausnahme irgend
eines Wortes, das er mehrmals wiederholt, nichts hervor. Re¬
agirt auf äussere Eindrücke etwas besser; so gelingt es z. B.
mitunter ihn zu bewegen, die Augen zu schliessen, doch sind
derartige Aufforderungen grösstentheils nur dann von Erfolg,
wenn die gewünschte Bewegung ihm vorgemacht wird.
5. October. Spricht heute etwas leichter, antwortet jedoch auf
Fragen ohne Zusammenhang. Auf die Frage, wie alt er sei.
antwortete er: 4., 5., 7. Tag, Monat und Datum kennt er nicht.
Weiss, dass er verheiratet ist; wie lange? — 23 Jahre. Psy¬
chischer Zustand in statu quo. Temperatur normal.
6.0ctober. Psychischerseits macht sich eine geringe Verschlim¬
merung bemerkbar. Patient ist schweigsamer und interesseloser
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung.
121
als zuvor. Orientirt sich schwer in der Abtheiluug, vergisst
sein Zimmer und legt sich in fremde Betten. Antwortet auf
Fragen einsilbig, zusammenhanglos. Nähert sich nach der Unter¬
suchung dem brennenden Kamine, offenbar in der Absicht hin¬
ein zu uriniren. Diese Verschlimmerung des psychischen Zustandes
hei mit einigen neuen Erscheinungen zusammen, indem am
ganzen Körper sich eine Zunahme der idio-musculären Erreg¬
barkeit bemerkbar macht. Sehnenreüexe, wie vorher, stark er¬
höht, links etwas mehr als rechts. Pupillen gleichmässig etwas
erweitert, reagiren befriedigend auf Licht. Linke Nasolabialfalte
etwas geringer ausgeprägt als rechts, linker Mundwinkel und
linke Augenbraue stehen etwas tiefer. Den Tag verbrachte der
Kranke ruhig. Schlaf und Appetit gut.
7. October. Patient orientirt sich etwas besser, spricht leichter
und beantwortet Einiges richtig; im Allgemeinen sind jedoch
Ideengang und Association etwas erschwert. Auf eigene Initia¬
tive hin spricht Patient kein Wort, theilt jedoch auf Anfragen
mit, dass er 24 Jahre alt, l'/ 2 Jahre verheiratet sei, eine Tochter
habe. Nennt seinen Stand, Heimat, Beschäftigungsart richtig.
Kann jedoch über den Vorfall vom 24. September keine Aus¬
kunft geben und reagirt auf bezügliche Fragen mit sinnlosem
Lächeln. Isst und schläft gut. Facialparese in statu quo.
8. bis 9. October. In psychischer Hinsicht keine Aenderung.
10. October. Patient klagt während der psychischen Unter¬
suchung über Kopfschmerzen, spricht etwas leichter.
11. October. Befinden erheblich gebessert. Gesichtsausdruck
bedeutend lebendiger, spricht geläufig und antwortet willig. Patient
ist nach seiner Angabe 1870 geboren, seine Eltern leben und
sind gesund, von Geistesstörungen und Anfällen irgend welcher
Art in der Familie weiss er nichts. Patient selbst negirt Potus,
ebenso Syphilis; er hält sich überhaupt für kerngesund. Er war
früher Fuhrmann, seit 4 Jahren arbeitet er in der franco-russi-
schen Fabrik. An den Unfall am 24. September hat er augen¬
scheinlich gar keine Erinnerung. Auch auf unsere detaillirte
Erzählung des Vorfalles negirt er entschieden jede Erinnerung
daran; er weiss weder, wie er seine Instrumente gesammelt,
noch wie er hinabgestiegen, noch was er innerhalb des Behälters
gethan. r Das kann nicht sein, ich war nie dorthin hinabgestiegen,
kann mich dessen nicht entsinnen .... möglich, dass es wahr
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122
Dr. Leo Finkeistein.
ist”. Daraus geht hervor, dass Al. Gr. sich nicht nur des Mo¬
mentes seiner Erkrankung, sondern auch der dieser wenigstens
2 bis 3 Stunden vorausgegangenen Umstände nicht erinnert. Erst
heute erfuhr er, dass er sich im Krankenhause befindet; ob er
inzwischen in einem anderen Hospital gelegen sei — kann er
nicht sagen. Hallucinationen irgend welcher Art leugnet er.
Nachdem er von seinem so langen Aufenthalte im Krankenhause
erfahren hatte, begann er sich sofort für seine Familie zu in-
teressiren, und bat um möglichst schnelle Entlassung. Die seit
dem 6. d. M. bestehende Facialisparese beginnt allmählich sich
auszugleichen und war zum 13. völlig verschwunden. Reflexe,
wie früher, beiderseits, doch mehr gleichmässig erhöht.
Angesichts des Falles von Andral (Kohlenoxydvergiftung),
welcher darauf hinweist, dass lebensgefährliche Erscheinungen
auch nach scheinbarer Genesung sich einstellen können, sowie
Huchzenmeyer’s (Ueber Kohlendunstvergiftung. Dissert.
Berlin 1868), welcher einen Fall von Kohlenoxydvergiftung
mit nachfolgendem Schwachsinn beschreibt, wo die Psychose
sich anfangs bis zum 10. Tage der Krankheit gebessert hatte;
sodann aber am 18. Tage vollkommen neu recidivirte, empfahlen
wir unserem Kranken noch etwa zwei Wochen zu bleiben, um
die Vollständigkeit seiner Genesung zu sichern.
Vom 11. bis 13. October zeigte der Geisteszustand Al. Gr.’s
nichts Abnormes. Die Kopfschmerzen und der Appetit besserten
sich unter dem Einflüsse einer entsprechenden Therapie. Als
einzige Spuren der überstandenen Krankheit hinterblieben zeit¬
weise Kopfschmerzen, etwas unregelmässiger Schlaf und etwas
erhöhte Reflexe.
Am 23. October verliess Patient das Hospital in gebessertem
Zustande, nachdem vorher der Director der franco-russischen
Gesellschaft sich bereit erklärt hatte, ihm einen dreiwöchent¬
lichen Urlaub zur endgiltigen Wiederherstellung zu bewilligen.
So weit wir nachträglich erfahren haben, ist Al. Gr. auch gegen¬
wärtig vollständig gesund und arbeitet auf seiner früheren Stelle.
Zur Vervollständigung der Krankengeschichte unseres Pa¬
tienten haben wir nun noch ein Paar Worte über dessen
Harn, den zu sammeln wegen des psychischen Zustandes des
Kranken nicht immer leicht war, hinzuzufügen. Ich selbst habe
die einfacheren Analysen gemacht; genauere wurden im chemi-
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre -Vergiftung.
123
sehen Laboratorium des Herrn Prof. Poehl ausgeführt. Aus
denselben entnehmen wir Folgendes: Am 7. October, im Bliithe-
zustande der Krankheit, war der Urin trübe, saurer Reaction;
specifisches Gewicht 1029. Das Harnsediment besteht aus Schleim
und enthält Plattenepithelien, oxalsaures Calcium, harnsaures
Natrium und Harnsäure. Der Urobilingehalt übersteigt nicht die
Norm; Indicangehalt erhöht. Von normalen Harnbestandtheilen
waren enthalten: Harnstoff —37-94°/ 00 (normal 23'3°/ 00 ); Harn¬
säure 0*48%o (normal 0-5 # / 00 ), Chlornatrium 9-56% 0 (normal
ll-0% 0 ); Phosphorsäure 2*32 0 /« 0 (normal 2*3% 0 ); Schwefelsäure
l-48%o (normal l-3°/ 00 ); Gesammtstickstoffmenge des Harns=20 94
Cubikcentimeter in 1000 Gramm. Von anormalen Bestand¬
teilen fanden sich Spuren von Eiweiss und Pepton und Oxal¬
säure in erhöhter Menge; Leucomalne, bestimmt nach der Methode
von Prof. Poehl = O-94 # / 0 o- Das Verhältniss der Harnsäure¬
quantität zur Phosphorsäuremenge, als Dinatriumphosphat, betrug
0-48 : 090 = 053. In Anbetracht dessen, dass der normale Coef-
ficient nach Zern er 02 bis 037 ist, muss bei unserem Patienten
eine harnsaure Diathese angenommen werden. Weiterhin betrug
das Verhältniss der gesammten Stickstoffmenge zur Stickstoff¬
quantität des Harnstoffes 20-94 : 17-70 — 100 : 84-53; d. h. die
Oxydationsintensität der stickstoffhaltigen Stoffe beträchtlich er¬
niedrigt. Das Verhältniss der gesammten Schwefelsäure war
1-48 : 0-16 = 9-25 : 1, woraus, nach Morax, folgt, dass der Fäul-
nissprocess im Darmtractus die Norm übersteigt.
Dieser Zustand der ausgesprochenen harnsauren Diathese
und der herabgesetzten Oxydationsintensität hielt bis zum
12. October an, nach welcher Zeit die Analysen eine Annäherung an
die normalen Verhältnisse ergaben. Aus der Harnuntersuchung
vom 12. October stellt sich ein bedeutend niedrigeres specifisches
Gewicht von 1012 heraus; Reaction sauer, tägliche Harnmenge
700 Cubikcentimeter. Das Sediment besteht nur aus Schleim mit
beigemengtem Pflasterepithel und Schleimkörpern; oxalsaurer
Kalk, harnsaures Natrium und Harnsäure sind verschwunden.
Der Indicangehalt ist bis auf die Norm gesunken. Das Ver¬
hältniss der Harnsäurequantität zur Phosphorsäuremenge, als
Dinatriumphosphat, beträgt 0 14 : 0*46 = 0-3, was bereits auf
ein normales Ausscheidungsvermögen der Harnsäure (Coefficient
von Zerner), d. h. auf die Abwesenheit einer harnsauren Dia-
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124
Dr. Leo Fiokelstein.
these hinweist. Kein Eiweiss; Pepton in Spuren; Oxalsäure¬
gehalt normal. Harnstoff 10*03% 0 > Harnsäure O14% 0 ; Chlor¬
natrium 8 36°/ 00 ; Phosphorsäure 1 04°/ 00 ; Stickstoflfgesammtmenge
4-9 Cubikcentimeter, deren Yerhältniss zur Stickstoffmenge des
Harnstoffes 4 91 : 4-68 = 100 : 95*32, was als normale Oxydation
der stickstoffhaltigen Körper gedeutet werden kann. Vom zuletzt
genannten Tage an blieb im Laufe der nächstfolgenden Wochen
der Urin nach mehrfach wiederholten Analysen vollständig
normal.
Die letzte genaue Analyse des Harns datirt vom 20. October.
Urinmenge 2000 Cubikcentimeter; specifisches Gewicht 1017;
Sediment aus Schleim mit beigemengten Plattenepithelien. Die
Menge normaler spectroskopisch bestimmbarer Harnbestandtheile,
sowie der Pigmentgehalt (Urobilin, Indican) übersteigen nicht
die Norm. Abnorme Bestandteile nicht vorhanden. Die Menge
normaler Harnbestandtheile auf chemischem Wege bestimmt,
nähert sich ebenfalls vollständig der Norm: Harnstoff — 13*89%«>
oder im Ganzen 28*78 Gramm (normal in 1500 Cubikcentimeter
— 35 Gramm); Harnsäure — 0*15 # /« 0 — oder 0*3 (gegen 0*75);
Chlornatrium — 13-98%o oder 27*96 (gegen 16*5); Phosphorsäure
1*0%« oder 2*0 (gegen 3*5). Gesammtstickstoff 6*74 Cubikcenti¬
meter in 1000 Gramm, oder 13*48 Gramm im Ganzen. Zerner-
scher Coefficient 0*15 : 0 44 = 0*34, woraus auf völligen Schwund
der harnsauren Diathese zu schliessen. Verhältniss des gesammten
Stickstoffes zum Stickstoff des Harnstoffes —6 74: 6*48 =100:96*14,
d. h. die Oxydation der stickstoffhaltigen Bestandtheile ist ge¬
steigert und bewegt sich jedenfalls innerhalb der Norm.
Aus der Vergleichung der angeführten Harnanalysen er¬
sehen wir, dass: 1. Die Gewebeathmung und Energie der Oxy-
dationsprocesse zu Beginn verringert war, was die Entwickelung
einer harnsauren Diathese nach sich zog, die ihren Ausdruck
in dem Zerner’sehen Coöfficient 0*53 gefunden hat. 2. Ein
weiterer Umstand weist desgleichen auf ein Sinken der Ge¬
webeathmung, nämlich die Anwesenheit von Oxalsäure. Dasselbe
ist 3. zu ersehen aus dem Verhältnisse der Harnstoffquantität
zur Kochsalzmenge = 4:1, während es normal (nach Prof.
A. W. Poehl) = 2:1 ist. („Der Einfluss des Spermins auf
den Stoffwechsel bei den Autointoxicationen im Allgemeinen und
der harnsauren Diathese im Speciellen.” Mitgetheilt auf dem
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung.
125
internationalen (Kongresse in Rom 1894). 4. Folge der herab¬
gesetzten Gewebeathmung ist augenscheinlich die Steigerung
der Darmfäulnissprocesse, die sich in einer Vermehrung des Ge¬
haltes an gepaarten Schwefelsäuren 9 - 25 :1, sowie gleichzeitig
im Anwachsen der Indicanmenge kund gibt.
Darauf folgt eine allmähliche Besserung der Psychose und
mit ihr parallel eine Verstärkung der Oxydationsprocesse. Das
Verhältniss von 100 : 84 wächst bis auf 100 : 95 und 96; es
verschwindet die Oxalsäure, der Zerner’sche Coefficient geht
bis auf die Norm zurück, desgleichen die Indicangehalte. Das
Eiweiss verschwindet. Hand in Hand mit all dem verändert sich
auch das Verhältniss der Harnstoff- zur Na Cl-Menge, indem es
bis auf 10 : 8 und sogar 13-89 : 13 89 = 1:1 ansteigt.
Welchem von den Bestandtheilen des in Rede stehenden
Gases die oben beschriebenen verderblichen Wirkungen auf den
Organismus zukommen, unterliegt, wie uns scheint, keinem
Zweifel. Wir haben einen Fall von Vergiftung mit Kohlenoxyd
vor uns, ungeachtet des hohen Procentsatzes an Stickstoff und C0 2 ,
die im Gaz pauvre enthalten sind, namentlich wenn wir über¬
legen, dass, wie seit der Arbeit von Pokrowski, 1 ) deren Re¬
sultat im Allgemeinen mit denen von Traube 2 ) übereinstimmen,
wissen, dass die Symptome der Kohlenoxydvergiftung mit
denen der Erstickung sich decken. (Bei Einathmung von N, H,
C0 2 , mechanischer Verlegung der Luftwege u. s. w.)
Wiederholen wir kurz in zeitlicher Reihenfolge die ge¬
legentlich unseres Falles gemachten Beobachtungen, so lassen
sie sich folgend resumiren:
a) Vor dem Einsteigen ins Reservoir war Al. Gr. voll¬
ständig gesund;
b) aus dem Reservoir war er in Folge einer acuten Kohlen¬
oxydvergiftung in comatösem Zustande mit lebensgefährlichen
Anzeichen hervorgeholt worden;
c) kurze Zeit danach treten Symptome der geistigen Störung
in den Vordergrund, welche, anfangs wohl schwach ausgeprägt,
’) Pokrowski, Arch. für Anatomie und Physiologie 1866 .
2 j Traube, Gesammelte Beiträge zur Pathologie und Physiologie, Bd. I.
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126
Dr. Leo Finkelsteiu.
allmählich Zunahmen und am vierten Tage nach der Vergiftung
das Bild einer Amenz gaben;
d) im Laufe der Phychose wurde einmal, am 6. October,
eine Zunahme des Stupors mit gleichzeitig auftretenden pare-
tischen Erscheinungen im Gebiete des linken N. facialis
beobachtet;
e) die Parese ging allmählich, parallel mit der Besserung
des psychischen Zustandes, zurück und schwand am siebenten
Tage nach deren Beginn;
f) während der Krankheit war eine harnsaure Diathese
constatirbar, die mit der Besserung des psychischen Zustandes
schwand;
g) nach der Wiederherstellung des Patienten stellte sich
eine Amnesie, die ganze siebzehntägige Krankheitszeit um¬
fassend, heraus;
h) ausser dieser Amnesie lassen andere Daten darauf
schliessen, dass auch eine Amnesie für alles vorhanden war,
was dem Unglücksfalle vorausgegangen war und noch in die
Gesundheitsperiode Gr.’s hineinreichte, also Zeichen einer retro-
spectiven Amnesie.
Die psychischen Störungen in Folge von Kohlenoxydvergif¬
tung sind von sehr vielen Autoren beschrieben und äussern
sich in mannigfaltiger Form. So sah Eulenberg 1 ) als Folge
davon eine Mania transitoria. Legrain 2 ) erwähnt einen von
Charcot beobachteten Fall von Neurasthenie und verschiedene
Störungen des Intellectes (Lancereaux). Rudolf Gnauck 3 ) be¬
schreibt einen schweren Fall von primärer Verrücktheit mit
rechtsseitiger Facialisparese als Begleiterscheinung. Die Mehr¬
zahl der sich entwickelnden Psychosen ist in die Rubrik Amenz
in allen möglichen Erscheinungsformen einzureihen. Raffugeau,
Boucheron 4 ) beschrieben zwei Fälle von Dementia acuta mit
Ausgang in Genesung. Th. Simon 5 ) erwähnt eines gleichen
*) Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen Gasen. S. 41, 121.
2 ) Legrain, Etüde sur les prisons de l’intelligence. Annales medico-psy-
eliol. 1891 und 1892.
3 ) Rud. Gnauck, Casuistische Mittheilungen. Charite-Annalen. Berlin
1883; S. 402 bis 409.
4 ) Citat nach Legrain, 1. c.
5 ) Th. Simon, Encephalomalacie nach Eohlendunstvergiftung. Arch. für
Psychiatr., Bd. I, S. 263.
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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung.
127
Falles, welcher lethal endete und dessen Interesse darin lag,
dass im Laufe von zehn Tagen eine lucide Zwischenzeit be¬
stand, nach welcher erst die Psychose ausbrach. Huchzen-
mayer 1 ) beschreibt als Folge von Kohlenoxydvergiftung einen
Fall von acuter Demenz, die sich zum zehnten Krankheitstage
besserte, sodann aber am achtzehnten Tage vollständig neu wieder
recidivirte. Einen länger verlaufenden Fall, in welchem Ge¬
nesung erst nach einigen Monaten eintrat, haben wir von
Röchelt. 2 ) Endlich sind unheilbare Fälle von Schwachsinn von
Oppol zer 3 ) und Barthelemy et Magnan 4 ) beschrieben. Auch
unser Fall gehört in die Kategorie der Dementia acuta, unter¬
scheidet sich aber durch einige Eigenthümlichkeiten, welche
sowohl die Pathogenese als auch den klinischen Verlauf betreffen.
Obgleich er ohne Zweifel in die Reihe jener Geistesstörungen
gehört, welche in Folge von Kohlenoxydvergiftung entstehen, ist
er doch der erste in der Literatur, welcher als Resultat des
unaufhaltsamen Fortschrittes der technischen Betriebsthätigkeit
aufzufassen ist. Andererseits trägt er noch einige Eigenheiten im
klinischen Verlaufe an sich, denen ich in der mir zugänglichen
Literatur nicht habe begegnen können und welche in einer vor¬
übergehenden Parese des N. facialis und in der retrospectiven
Amnesie bestehen. Wir wiesen freilich oben auf einen Fall von
Rud. Gnauck hin, in welchem rechtsseitige Facialisparese aus¬
geprägt war, doch hielt dieselbe hier längere Zeit an und war
mit schweren psychischen Symptomen vereint.
Was die obenerwähnte retrospective Amuesie betrifft, so
fanden wir von einer solchen nirgends eine Andeutung. Die
retrospective Amnesie ist in der Literatur bei Selbsterhängungs-
versuchen beschrieben. Am ausführlichsten ist das Material über
die klinischen Erscheinungen seitens des Centralnervensystems
nach Wiederbelebung Erhängter von Wagner 5 ) zusammen-
') Huchzenmayer, Ueber Kohlendunstvergiftung. Dissert. Berlin 1868.
2 ) Röchelt, Zur Casuistik der Leuchtgasvergiftung. Wiener Med. Presse
1875, Nr. 49.
3 ) Oppolzer, Prager Vierteljahrschrift, Bd. XXII, 1879, S. 103.
*) Barthelemy et Magnan, Indoxication parles vapeurs de charbon.
Annales d’Hygiene 1881, 2 Serie, Nr. 35.
5 ) Wagner, Ueber einige Erscheinungen im Bereiche des Centralnerven¬
systems u. s. w. Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. VI, H. 3, 1889, S. 313 bis 332.
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128
Dr. Leo Finkeistein.
gestellt. Von siebzehn von demselben Autor zusammengestellten
Fällen von Psychosen nach Selbsterhängungsversuchen zeigten
drei unzweifelhaft Zeichen der retrospectiven Amnesie, ln der
russischen Literatur ist ausserdem ein derartiger Fall noch von
Dr. J. A. Butakow 1 ) beschrieben. Freilich findet sich genannte
Erscheinung auch als Symptom bei Commotio cerebri, doch
muss bei unserem Patienten eine Commotio cerebri vollständig
ausgeschlossen werden.
Ich gehe nicht auf die Darstellung der pathologisch-ana¬
tomischen Veränderungen ein, welche in dem oben beschriebenen
Falle sich eingestellt haben könnten. Mögen dieselben in einer
sich schnell ausgleichenden oder zu degenerativer Atrophie
führenden Ernährungsstörung der nervösen Rindenelemente oder
in irgend welchen anderen Veränderungen bestehen, so sind
das sämmtlich wohl theoretisch interessante, aber selbst sogar
einer experimentellen Untersuchung schwer zugängliche Fragen. 2 )
Für uns ist vorläufig das Factum von Wichtigkeit, dass die
klinische Casuistik derartiger Geistesstörungen uns das Ver¬
giftungsbild nach Kohlenoxydeinathmung den Folgeerscheinungen
nach mechanischer Verlegung der Luftwege annähern lehrt und
auf diese Weise die physiologische Analyse der entsprechenden
Vergiftungserscheinungen bestätigt, welche ihrerzeit Nokrovski
und Traube ausgeführt haben.
*) Dr. J. A. Butakow, Wjestnik klin i sudebn. psichiatr. 1890, H. 2, S. 135
(russisch).
2 ) Dr. W. N. Chardin, Ueber Erkrankungen nach Kohlenoxydvergiftung.
Diss. Petersburg (russisch).
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Referate.
Emil Kräpelin. Psychologische Arbeiten. Erster Band,
2. u. 3. Heft. Leipzig. 1895. Verlag von Wilhelm Engel mann.
Das vorliegende Doppelheft bringt zunächst eine ausführliche
Arbeit von Gustav Aschaffenburg: Experimentelle Studien
über Associationen. Verf. gibt nach kurzer Schilderung der be¬
treffenden Methoden eine Eintheilung der Associationen überhaupt,
schildert die Ergebnisse der auf Grund dieser Eintheilung ange-
stellten Versuche, und zwar der sogenannten Normalversuche an Indi¬
viduen, welche den Einflüssen von Ermüdung, Ueberarbeitung, von
Thee, Kaffee, Alkohol und Nicotin entzogen waren. Als Methoden
sind namhaft gemacht jene des fortlaufenden Niederschreibens im
Anschlüsse an ein gegebenes Stichwort, wobei neben der Associa¬
tionsform auch auf Anzahl der innerhalb einer gewissen Zeit ange¬
reihten Worte Bedacht genommen wird; es schliessen sich daran
weiters Versuche ohne Zeitmessungen, wobei die betheiligten Per¬
sonen, denen 100 zweisilbige Worte laut zugerufen werden, sofort
das betreffende Wort niederschreiben; dann Versuche mit Zeit¬
messungen, wobei theils zweisilbige, theils einsilbige Beizworte in
Anwendung kommen.
Wir können hier nicht auf die Details der bezüglichen Ex¬
perimente eingeben. Die Besultate derselben sind wesentlich in
folgende Punkte zusammengefasst:
1. Die Beziehungen der Vorstellungen nach associätiver Ver¬
wandtschaft und associativer Uebung (innere und äussere Associa¬
tionen) erklären nicht die Bildung aller Associationen; eine Gruppe
lässt inhaltliche Beziehungen zum Beizworte nicht erkennen. 2. ln
einzelnen Fällen kann sich die Association an das Beizwort durch
Vermittelung eines nur unklar oder erst nachträglich bemerkten
Zwischengliedes anschliessen. 3. Die einzelnen Unterarten der Asso¬
ciationen lassen fliessende Uebergänge erkennen. 4, Die äusseren
Associationen überwiegen an Zahl meist gegenüber den inneren,
sie zeigen durchschnittlich auch kürzere Dauer. 5. Die Methode des
Jahrbücher f. Paychi&trie und Neurologie. XV. Bd. 0
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130
Referate.
fortlaufenden Niederscbreibens gibt Anhaltspunkte für die individuell
verschiedene Neigung zur Associirung nach Coexistenz. 6. Die mit
dieser Methode gewonnenen Eeihen pflegen nur selten durch
äussere oder innere Störungen unterbrochen zu werden. 7. Das
Vorkommen nicht sinnentsprechender Associationen in grösserer
Zahl lässt auf ungünstige Versuchsbedingungen schliessen; bei Vor¬
herrschen von Klangassociationen bestand fast immer ein Zustand
von Ueberarbeitung und gibt die grössere oder geringere Häufigkeit
dieser Associationsform wichtigen Aufschluss über den Gesammt-
zustand. 8. Zuweilen wurden die verschiedenen Reizworte in einer
Versuchsreihe mit dem gleichen Reactionswort beantwortet; die
Anzahl der wechselnden Worte lässt Schlüsse auf die geistige Erreg¬
barkeit zu. 9. Die Dauer des Associationsvorganges beruht wesentlich
auf persönlichen Eigenthümlichkeiten. 10. Die Neigung verschiedener
Individuen, in dieser oder jener grammatischen Sprechform zu
associiren, ist eine stehende Eigenschaft der einzelnen Personen.
11. Die mehr minder ausgedehnte Betheiligung der Einzelnen an
den gemeinsamen Associationen gibt einen Anhaltspunkt für die
Beurtheilung der geringeren oder grösseren Eigenartigkeit seiner
Gedankenverbindungen.
Einem weiteren, interessanten Thema: „Ueber den Ein¬
fluss von Arbeitspausen auf die geistige Leistungs¬
fähigkeit” ist die experimentelle Studie von Emil Amberg
gewidmet. Derselbe bediente sich hierbei der fortlaufenden Ar¬
beitsmethode, besonders des Addirens und Lesens. Die betref¬
fenden Versuche haben ergeben, dass Pausen von verschiedener
Länge nicht nur eine gradweise, sondern eine grundsätzlich ver¬
schiedene Einwirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit entfalten
und dass die Art und Ausgiebigkeit dieser Wirkung wesentlich
durch die Dauer und die Art der geleisteten Arbeit beeinflusst
werden.
Pausen von gleicher Grösse wirken bei lange fortgesetzter
Arbeit günstig, bei kurz dauernder Thätigkeit ungünstig; die
Wirkung der Pause hängt wesentlich ab von dem Zustande, in
welchem sich der Arbeitende in den verschiedenen Abschnitten
seiner Thätigkeit befindet; sie gestaltet sich um so günstiger, je
höher der Grad der Ermüdung ist, den wir durch Dauer und Art
der Arbeitsleistung erwarten dürfen. Die Versuche haben auch er¬
geben, dass unter gewissen Umständen die Pausen nicht nur
keinen Nutzen bringen, sondern im Gegentheile für die Gestaltung
der Arbeitsleistung geradezu schädlich sich erweisen, was zur An¬
nahme drängt, dass während der Arbeit unabhängig von der
Uebungswirkung Einflüsse sich entwickeln, die eine bedeutende
Steigerung der Leistungsfähigkeit bedingen, nach dem Aufhören
der Thätigkeit jedoch ungemein rasch wieder verschwinden. Nach
der Anschauung des Verf.’s handelt es sich hierbei um die wichtige
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Referate.
131
Rolle der „Anregung” im psychophysischen Mechanismus, die
er mit der Arbeitserleichterung einer einmal in Gang gesetzten
Maschine vergleicht. Verf. knüpft in seinen Deductionen noch an
die täglichen Erfahrungen von der nach Umständen sehr ver¬
schiedenen Wirkung der Arbeitsunterbrechung, die bald als Er¬
holung, bald als Störung und Beeinträchtigung der Leistungs¬
fähigkeit sich geltend machen kann.
Den Abschluss des Heftes bildet eine Abhandlung von August
Hoch und Emil Kräpelin: „Ueber die Wirkung der Thee-
bestandtheile auf körperliche und geistige Arbeit”. Diese
in ihren Details sehr lehrreiche Arbeit gipfelt in folgenden Schluss¬
sätzen: 1. In der Ergographencurve wird die Hubzahl mehr durch
den Zustand des Nervensystems, die Hubgrösse mehr durch den¬
jenigen des Muskels beeinflusst. 2. Die psychische Disposition, wie die
Uebung verändert namentlich die Hubzahl, die Muskelermüdung
und die Nahrungsaufnahme mehr die Hubgrösse. 3. Die Beziehungen
zwischen Hubzahl und Hubgrösse sind der Ausdruck persönlicher
Eigenthümlichkeiten. 4. Uebungsfähigkeit und Ermüdbarkeit stehen
in nahen Abhängigkeitsbeziehungen voneinander; sie sind wahr¬
scheinlich Ausfluss einer gemeinsamen Ursache, einer allgemeinen
Eigenschaft unseres Nervengewebes. 5. Die Anregung im Sinne
Amberg’s hat einen wesentlichen Antheil an der Gestaltung unserer
Tagesdisposition. 6. Die Schwankungen der Leistungsfähigkeit im
Laufe des Tages sind andere für den Muskel als für das cen¬
trale Nervensystem. 7. Das Versagen der Muskelleistung am Schlüsse
der Ermüdungscurve ist die Folge einer Reflexhemmung durch die
bei der Muskelarbeit gebildeten Zerfallsstoffe. 8. Das Coffein be¬
wirkt eine erhebliche Steigerung der Muskelarbeit, die mit einer
Zunahme der Hubgrösse einhergeht und auf eine unmittelbare
Beeinflussung des Muskelgewebes zu beziehen ist. 9. Der Ablauf
gewohnheitsmässiger Associationen wird durch das Coffein erleichtert.
10. Die Wirkung des Paraguaythees beruht wesentlich auf seinem
Coffeingehalt. 11. Die ätherischen Oele des Thees erzeugen eine
Erleichterung der assoeiativen Vorgänge und eine mässige Er¬
schwerung in der centralen Auslösung von Bewegungsantrieben.
Auf diesen Wirkungen beruht wahrscheinlich die Euphorie nach
Theegenuss. F.
L. v. Frankl-Hochwart. Der Meniere’sche Symptomencomplex.
Die Erkrankungen des inneren Ohres. In „Specielle Pathologie
und Therapie” herausgegeben von H. Nothnagel. XI, 2, HI,
Wien 1895. 8°. 122 Seiten.
Im vorliegenden Bande des Nothnagel’schen Handbuches
sind zwei voneinander vollständig getrennte Abschnitte enthalten.
Der erste Abschnitt, die Abhandlung über den Meniere’schen
Symptomencomplex, ist die umfassendste und eingehendste Arbeit,
ja überhaupt die erste wirkliche Monographie, die über diesen
9 *
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132
Referate.
schwierigen Gegenstand erschien. Der Verf. geht in der Termino¬
logie und der Darstellung des Stoffes vom rein klinischen Stand¬
punkte aus.
Als „Meniere’sche Symptome” wird das Zusammenvor¬
kommen von Schwerhörigkeit, Schwindel, Erbrechen und
Ohrensausen bezeichnet. Gleichbedeutend ist: „Vertigo ab aure
laesa, Vertigo auralis.” Auf Grund der klinischen Erfahrungen
werden nun die Fälle zusammengestellt, bei welchen sich jene Reihe
von Erscheinungen findet. So ergeben sich folgende empirische
Gruppen:
I. Plötzlicher Beginn bei bisher intactem Gehörorgan.
1. Die apoplectische Form Meniere (die classische Ma¬
nier e’sche Krankheit).
2. Die traumatische Form unmittelbar nach dem Unfälle
einsetzend.
II. Auftretende Erscheinungen bei erkranktem Gehörorgan.
1. Bei Mittelohrerkrankungen.
2. Bei Labyrinthaffectionen.
3. Bei Erkrankungen im äusseren Gehörorgane.
4. Bei Erkrankungen des Acusticus,
a) Isolirt bei Tabes,
ß ) als Theilerscheinungen von Gehirnerkrankungen (Tu¬
moren etc.).
III. Durch äussere Eingriffe erzeugt (Ohrausspritzung, Luft-
douche, Kopfgalvanisation u. s. w.).
IV. „Pseudo-Meniere’sche Anfälle”, anfallweises Auftreten von
Schwindel, Erbrechen und Ohrensausen bei intactem Ohre als Aus¬
druck bestehender Neurosen (Hysterie, Epilepsie, Migräne).
An der Hand der Literatur und zahlreicher eigener Beobach¬
tungen werden die einzelnen Krankheitsbilder eingehend geschildert
und die Symptomatologie eingehend besprochen.
Hierauf geht der Verf. auf die Pathogenese der Symptome
ein. Es werden einerseits genau und mit sorgfältiger Kritik die vor¬
liegenden Sectionsbefunde erörtert, andererseits die physiologischen
Thatsachen über die Function des inneren Ohres vorgeführt. Die
Darstellung zeigt mit zwingender Logik, dass wir noch nicht im
Stande sind, vollständig zu erklären, wie der Symptomencomplex
entsteht. Für die apoplectische Form erscheint die Annahme
Meniere’s von einer Erkrankung des Labyrinthes am wahrschein¬
lichsten, aber strenge beweisen lässt sie sich vorderhand noch
nicht. Es dürfte wohl eine Läsion der Schnecke und der Bogen¬
gänge nöthig sein, um das Bild hervorzurufen. Läsionen der Schnecke
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Referate.
133
machen das Ausfallssymptom der Taubheit, Läsionen der Bogen¬
gänge Schwindel und Augenmuskelstörungen, wohin das Ohren¬
sausen zu verlegen ist, dafür können nicht einmal Hypothesen vor¬
gebracht werden. Bei den chronischen Formen kann die Taub¬
heit alle möglichen Ursachen haben (Mittelobr, Schnecke, Nervus
acusticus). Bei einzelnen Sectionen erwiesen sich die Bogengänge
als erkrankt. Dort, wo sie frei sind, ist wohl die Meinung, dass es
sich um reflectorische Erregung der Bogengaugsnerven handelt, nicht
abzuweisen. Was die Localisation der „Pseudo-Menifer e’schen” An¬
fälle betrifft, lässt sich nur eine Hypothese aufstellen. Es drängt
sich die Ansicht auf, dass eine Neurose des Labyrinthes vorliege,
beweisen lässt sich die Sache natürlich nicht.
In sehr sorgfältiger Weise wird die Diagnose erörtert, na¬
mentlich nach den reichen Erfahrungen des Verfassers auch auf
die Unterscheidung von den ähnlichen („Pseudo-Menifere’schen”)
Zuständen bei Hysterie und Epilepsie Rücksicht genommen.
Prognose und Therapie werden dann kurz besprochen. Be¬
züglich der Anwendung des Chinins verhält sich der Verf. sehr
reservirt.
Wenn in einem Handbuche der gegenwärtige Stand des
Wissens auf einem Gebiete dargestellt werden soll, so ist es ebenso
wünschenswert!^ dass die Grenzen gegen das, was man heute
nicht weiss, möglichst scharf gezogen werden. Auf dieser Er¬
kenntnis beruht ja jeder Fortschritt und jeder Anreiz zu neuer
Beobachtung und Forschungsarbeit. Wenn man darauf hin das vor¬
liegende Buch betrachtet, so muss man sagen, dass es beiden Rück¬
sichten in ausgezeichneter Weise gerecht wird; der ersten durch
klare und übersichtliche Darstellung, der zweiten durch unerbittlich
scharfe Kritik, die keinen Widerspruch verschleiert und alle Theorien
bis auf ihre letzte Begründung prüft.
Der zweite Theil des Baches gibt eine kurze und prägnante
TJebersicbt der Krankheiten des schallempfindenden Apparates.
Ausführlich sind die für den Neurologen wichtigen Untersuchungs-
metboden und die allgemeine Symptomatologie besprochen, mehr
schematisch, aber in grösster Vollständigkeit, die Thatsachen zu¬
sammengestellt, welche die Hörstörungen bei den einzelnen Er¬
krankungen des Labyrinthes, des Acusticus und der Gentralorgane
betreffen. Interessantes und zum Theile Neues wird über Hör¬
störungen bei Neurosen, namentlich Hysterie, gebracht. Stg.
Die Geisteskranken in England.
Dem Verf. dieser Zeilen liegt der officielle 45. Rapport der
Irrencommissäre Englands — ein stattliches Buch von über 400
Druckseiten, überdies eine Reihe statistischer Tabellen enthaltend,
herausgegeben zur Information des Unterhauses — vor und dürfte
der Inhalt desselben auch unsere Fachkreise interessiren, da bei
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Google
134
Referate.
uns ein ähnlicher alljährlicher Bericht über alle Irrenanstalten des
Reiches nicht erscheint.
ln England wurden am 1. Januar 1895 94.081 Personen als
geisteskrank und idiotisch in den verschiedenen Anstalten des
Reiches registrirt, und zwar war dies die höchste bisher erreichte
Ziffer; sie übersteigt die des vorhergehenden Jahres noch um 2014.
Von diesen 94.081 psychisch nicht gesunden in Anstalten
untergebrachten Personen waren 8250 zahlende, 85.089 arme und
742 verbrecherische Irre (Tabelle I).
Wie gross in England die Zunahme der Geistesstörungen in
den letzten 36 Jahren war, geht aus folgenden Zahlen hervor:
Im Jahre 1859 gab es in England 36.732
„ „ 1869 „ * „ „ 53.177
* „ 1879 „ „ * „ 69.885
„ „ 1889 „ „ „ „ 84.340
und endlich „ „ 1895 „ „ „ „ 94.081 als „geistes¬
krank” gezählte Personen, es hat sich sohin in 36 Jahren die Zahl
der in England in Anstalten untergebrachten Geisteskranken fast ver¬
dreifacht, während die Bevölkerungszahl in derselben Zeit nur von
19 auf 30 Millionen gestiegen war, sich also kaum verdoppelt hatte.
Das Verhältniss der Aufnahmen in den verschiedenen An¬
stalten des Reiches, zur Zahl 10.000 gesunder Einwohner, stieg
von 4*71 1869 bis auf 5*88 im Jahre 1895 (Tabelle III).
Die Gesammtsumme aller Armen, Gesunden, betrug 1859
862.078, davon waren damals 31.782, d. i. 3*68 Procent geistes¬
krank. Im Jahre 1895 betrug die Zahl der gesunden Armen
827.759, davon waren 85.089, d. i. 10*28 Procent geistes¬
krank. Es drückt sich auch in dieser Tabelle (IV) die kolossale
Zunahme der psychischen Störungen sogar bei einer Abnahme der
Armen, 1859 waren 4*37 Procent der Gesammtbevölkerung als arm
gezählt, 1895 nur 2*72 Procent, deutlich aus. Das Verhältniss der
Todesfälle, welches in den Jahren 1859 bis 1868 10*31 Procent
im Mittel der Anstaltsbevölkerung betrug, besserte sich auf 9*55
Procent in der Dekade 1879 bis 1888 und betrug für die letzten
6 Jahre im Mittel 9*78 Procent (Tabelle VII u. VIII).
Unter den in den Tabellen XXIV und XXV angeführten Ur¬
sachen der in den letzten 5 Jahren vorgekommenen Erkrankungen ragte
vor allem die Heredidät mit 21*1 Procent bei den Männern, 25*4
Procent bei den Frauen hervor. Dieser nahe kommt die Trunk¬
sucht mit 20*8 Procent bei den Männern; alle anderen Ursachen,
die Engländer theilen sie in moralische und physische, ja sogar
die Fälle von unbekannten Ursachen, erreichen nicht annähernd
obigen Procentsatz.
Mr. W. J. Corbet, welcher in den Fortnightly Review
(März 1896) die jährlichen Berichte der Irrencommissäre kritisch
bespricht, constatirt auch die aus all diesen Berichten als Haupt-
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Referate.
135
Ursache hervorgehende Heredität und sagt am Schlüsse seiner
äusserst interessanten Arbeit: „Fünfzehntausend Kranke werden
jährlich aus den Irrenanstalten der drei Königreiche entlassen, die
meisten von ihnen als geheilt, Andere nicht so bezeichnet Sie gehen
hinaus in die Welt, viele von ihnen die Species zu verewigen und
eine geisteskranke Nachkommenschaft zu erzeugen.” In allen civi-
lisirten Ländern müssen, bei der sich beständig vermehrenden Zahl
der Aufnahmen, viele nicht immer vollständig Geheilte, auch
Geisteskranke aus den Anstalten entlassen werden; wie soll man
verhindern, dass sie sich fortpflanzen?
Die guten und schlechten Einrichtungen der 155 englischen
Anstalten, die in denselben im vergangenen Jahre vorgekommenen
14 Selbstmorde, die mehrfach vorgekommenen schweren Ver¬
letzungen von Anstaltsleitern durch Pfleglinge, den Tod eines Kranken,
der in der Beschränkung starb etc. etc., zu besprechen, würde viel
zu weit führen. Nicht unerwähnt kann aber schliesslich gelassen
werden, dass ni^r 50 Anstalten unter den 155 absolut keinen
mechanischen Zwang anwenden. „Die trockene Packung (Dry pack)
wird nur mehr in drei, die nasse Packung (wet pack) in 24 An¬
stalten verwendet, in den meisten übrigen Anstalten ist die An¬
wendung des Restraint eine sehr geringe und zwar werden durch¬
schnittlich noch gebraucht: Die Zwangsjacke, Handschuhe und
gelegentlich Gürtel und Armschnallen.” Wenn nun auch (Anhang C)
durch den Vorstand der Irrencommissäre im vorigen Jahre eine
Reihe ganz zweckmässiger Verordnungen für die einzuscbränkende
Anwendung des Restraint erlassen wurden, muss doch die Thatsache
uns seltsam berühren zu erfahren, dass in dem Lande, aus welchem
das Non-Restraint (und dasselbe galt jahrelang als Dogma in der
Irrenbehandlung Oesterreichs) vor ungefähr 30 Jahren bei uns ein¬
geführt wurde, heute noch das Restraint, wenn auch in sehr ge¬
milderter Form, in über hundert Anstalten angewendet wird.
Schlangenhausen.
P. J. Möbius. Neurologische Beiträge. 1. bis 4. Heft. Verlag
von Ambr. Abel (Arthur Meiner) in Leipzig.
In einer dankenswerten Zusammenstellung hat der um die
Neurologie wohlverdiente Autor seine vielfach verstreuten Arbeiten
gesammelt; sie gestattet einen vollen Einblick in seine Leistungen
und ist geeignet, das Verständniss des Autors dem lesenden Publi¬
cum wesentlich zu fördern. Verf. hat übrigens seiner Stellungnahme
gegenüber principiellen Fragen der wissenschaftlichen Forschung
auf neurologischem Gebiete mit aller Klarheit und Schärfe gekenn¬
zeichnet; er stellt sich durchaus auf klinischen Boden; er schätzt
auch die verdienstlichen Leistungen der auf anderen einschlägigen
Arbeitsgebieten massgebenden Autoren, ohne indes ihren ein Ver¬
ständniss klinischer Erscheinungen anstrebenden Deductionen, die
freilich vielfach hypothetischer Natur sind, schlechtweg zu folgen.
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136
Referate.
Mit unverkennbarer Originalität und unleugbarem kritischen Talent
ausgestattet, weiss Verf. seine einzelnen Abhandlungen nach Form
und Inhalt interessant auszugestalten und bringen die vier umfang¬
reichen Hefte eine ansehnliche Fülle von Einzelarbeiten und sehr
beachtenswerthem klinischen Detail. Neben schon bekannten Ab¬
handlungen und kritischen Erörterungen zumeist psychologischer Art
findet sich darin viel Neues und Wissenswertes; hervorgehoben
seien daraus die Bemerkungen über Neurasthenie, die ausser
theoretischen Auseinandersetzungen zur Klärung des Begriffes auch
mancherlei, auf reicher Erfahrung fussende praktische Winke ent¬
halten und ein alphabetisches Verzeichniss der einschlägigen Lite¬
ratur als Abschluss bieten; weiters die das ganze 3. Heft füllenden,
höchst instructiven Abhandlungen „zur Lehre von der Tabes”,
an deren Spitze das mit besonderer Sorgfalt und Hingebung be¬
arbeitete Capitel über den historischen Entwickelungsgang der
Aetiologie der Tabes, über die besonderen Beziehungen derselben
zur Syphilis gestellt ist, dem casuistische Beiträge über Tabes bei
Weibern und über einzelne seltenere Vorkommnisse im Symptomen-
complex der Tabes angereiht werden. — Auch das 4. Heft, das Ab¬
handlungen über verschiedene Formen der Neuritis und über
verschiedene Augenmuskelstörungen enthält, wird durch
seinen reichen Inhalt an belehrendem und klinisch eingehend ver¬
arbeitetem Materiale dem Fachmanne sehr willkommen sein, wie denn
überhaupt die ganze Sammlung von Möbius’ neurologischen Beiträgen
als eine ergiebige Fundgrube fein beobachteter und kritisch be¬
leuchteter klinischer Thatsachen von den Neurologen mit Freuden
begrtisst werden wird. F.
K. u. k. Hofbuchdruckerei Carl Fromme in Wien.
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Zwei Geschwülste der Brücke mul des verlängerten
Markes.
Von
Dr. Ernst Bischoff,
gewes. Assistent Ger Neuropsychiatriseheu Klinik in Graz.
Es wurde schon oft betont, dass wegen der Seltenheit von
Erkrankungen der Brücke und des verlängerten Markes jeder
uncomplicirte Fall einer Untersuchung unterzogen werden soll.
Der Umstand, dass Blutungen und Erweichungen zumeist so
rasch zum Tode führen, dass eine Sonderung der Herdsymptome
von den Fernwirkungen nicht durchgeführt werden kann, lenkt
die Aufmerksamkeit auf jene Erkrankungen, welche wegen
ihrer meist grösseren Ausdehnung zwar für die Prüfung ein¬
zelner Fragen ungünstige Verhältnisse bieten, wegen des
chronischen Verlaufes aber der klinischen Untersuchung und
Heraushebung der Localsymptome viel zugänglicher sind. Je
langsamer eine Geschwulst wächst, desto weniger Fernwirkungen
kann man von ihr erwarten. Die Gliome entsprechen dieser
Bedingung. Ja, ausser diesem Mangel einer schädigenden Be¬
einflussung benachbarter Gewebe findet mau auch innerhalb
der Geschwulst die Functionsfähigkeit der Nervensubstanz oft
lange erhalten, was für die Beurtheilung der Fälle ein er¬
schwerender Umstand ist. Wenn man aber dieser Thatsache
rechnungtragend die Untersuchung gewissenhaft durchführt,
gelangt man doch zu vielen sicheren und werthvollen Ergeb¬
nissen.
Die hier mitgetheilten Fälle sind:
I. Diffuses Gliom des Pons und der Medulla oblon-
gata, Syringomyelie des unteren Cervicalmarkes,
Augenmuskelstörungen, Kaumuskellähmung, gekreuzte
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 10
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138
Dr. Ernst Bisehoff.
Hemiplegie, Taubheit, SensibilitätsstöruDgen, Ataxie.
Intelligenzschwäche.
II. Sarkomatöse Geschwulst des Pons und der
Medulla oblongata. Conjugirte Blicklähmung nach
beiden Seiten, Facialislähmung und gekreuzte Ex¬
tremitätenparese, Hemianästhesie mit Einschluss des
Gesichtes, Ataxie der paretischen und anästhetischen
Extremitäten, Vagusaffection, Taubheit, Schwindel,
Romberg’sches Phänomen.
1. Neurat Heinrich, 35 Jahre, mosaisch, verheiratet,
Hausirer aus Ungarn, aufgenommen am 19. Juni 1888 (Journ.-
Nr. 12.271). Entlassen am 7. August.
Anamnese: Patient leidet schon seit zwölf Jahren an
schiessenden Schmerzen in den Beinen, in früheren Jahren von
der Inguinalgegend zum Kniegelenke ausstrahlend, später vom
Kreuzbein ausgehend. Die Schmerzen machten aber 8 bis 14 Tage
Pausen und waren erträglich; an kalten Tagen schlechter.
Im Sommer 1887 erkrankten die Kinder, worüber er in
Schreck und Erregung gerieth. Kurze Zeit darauf bemerkte er,
dass er am linken Auge schlechter sehe, als ob ein Faden
oder ein Haar darin läge, so dass er beständig daran wischen
musste. Damals empfand er mitunter Schwindel, besonders
wenn er nach links schaute. Im Winter 1887 ermüdete ihm
auffallend und rasch das linke Bein und wurde merklich
schwächer. Vor vier Monaten bemerkte die Umgebung, dass das
linke Gesicht viel schlaffer sei. Diese Erscheinungen nahmen
seither zu und er leidet schon seit vielen Wochen an Einge¬
nommenheit des Kopfes. Vor sechs Wochen ging auch das
rechte Bein schlechter.
Gleichzeitig litt er auch an Schmerzen und Spannung
vom Halse bis zum linken Schultergelenke. Kurz darauf be¬
merkte er auch ein Ungeschick in der rechten Hand und
ziehende Schmerzen zum rechten Schultergelenke hinauf. Seit
gleicher Zeit bringe er auch die Worte nicht so gut hervor,
das Sprechen gehe viel schwerer und er stosse mitunter mit
der Zunge an den Zähnen an, rechts mehr als links. Beim
Kauen werde er früher müde und er merke Schwierigkeit, die
Speisen aus dem Munde in den Schlund zu bringen. Das
Schlingen selbst gehe ungehindert.
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 139
Sofort nach seinem hierortigen Eintritte war er stark in
der Urinentleerung behindert, welches Symptom jedoch wieder
vorüberging.
Status praesens: Patient, gross, kräftig angelegt, von
mittlerem Ernährungszustände. Die Haltung schlaff, zitternd,
der Kopf nach rechts geneigt, Gesicht nach links gedreht.
Schädel vollkommen symmetrisch, rund. Die linke Gesichts¬
hälfte viel schlaffer, die linke Lidspalte weiter geöffnet, die
Falten der linken Gesichtshälfte sämmtlich verstrichen; das
gilt auch für die oberen Stirnfalten. Beim Versuche, die Augen
zu schliessen, bleibt ein beträchtliches Segment des linken
Bulbus unbedeckt. Beim Zähnezeigen wird fast nur der rechte
Mundwinkel gehoben.'
Es bestehen bei normaler Blickrichtung vibrirende Be¬
wegungen des Bulbus um die Sehnervenaxe; sie werden viel
deutlicher beim Blicke nach oben. Beim Blicke nach rechts er¬
folgen gleichsinnige horizontale Schwingungen der Bulbi; beim
Versuche, links zu blicken, tritt der linke Bulbus nicht über
die Mittellinie hinaus, er kann also nicht abducirt werden,
währenddem der Rectus internus der rechten Seite forcirt
den Bulbus nach innen dreht.
An der gerade vorgestreckten Zunge werden linkerseits
weder Schmerz- noch Tastempfindungen ausgelöst. Die vorge¬
nommenen Geschmacksproben constatiren, dass sowohl in den
vorderen Zungenpartien, als auch am Zungengrunde Geschmacks-
perceptionen beiderseits stattfinden. Linkerseits sind die Wahr¬
nehmungen nach Angabe des Patienten weniger intensiv
als rechts.
Der Augenspiegelbefund ist negativ, doch klagt Patient
über nebelhaftes und undeutliches Sehen besonders nach links
zu. Bei der Blickrichtung nach links treten lebhafte Schwindel¬
gefühle auf.
2. Aufnahme 21. Februar 1889.
23. Februar. Er wisse nicht, wann er das Spital verlassen
habe; erst sagt er, vor sechs bis acht Wochen sei der Kopf¬
schmerz heftig gewesen, jetzt sei der Kopf frei; nach einer
Weile theilt er mit, der Kopf sei immer eingenommen, er
10 *
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140
Dr. Ernst Biscboff.
schmerze überall und nirgends; er greift auch mit der linken
Hand daran. Er klagt über seine schlechte Sprache, wenn er
sprechen wolle, komme alles „von unten herauf’, seit sechs bis
sieben Wochen könne er nicht mehr gehen. Er sei zu Hause
im Anschlüsse an einen Traum durch mehrere Tage bewusstlos
gewesen, daher rühre die jetzige Verschlimmerung seines Zu¬
standes. Vor sechs Wochen sei die rechte Seite ganz plötzlich
schwach geworden. Es sei dabei gewesen, als würde glühender
Draht durch den rechten Arm und Bein gezogen.
Jetzt sei ihm, als ob ihm vor langer Zeit etwas auf den
Kopf gefallen wäre, oder darauf geschlagen worden sei, Schmerz
empfinde er nicht.
Patient nimmt meist die rechte Seitenlage ein, er klagt,
wenn er links liege, empfinde er Kopfschmerz und Schmerzen
in der linken Körperseite. Gesichtsfarbe blass, die Haut der
rechten Gesichtshälfte leicht gedunsen, was besonders am oberen
und unteren Lid deutlich.
Die linke Masseterengegend erscheint stark einge¬
sunken, die linke Lidspalte etwas weiter als die rechte. Bei
allen Bewegungen bleibt die linke Gesichtshälfte absolut
regungslos, nur wird die Lidspalte bei Aufforderung, die
Augen zu schliessen, etwas verkleinert; diese Starre besteht
auch beim Weinen und Lachen.
In der Ruhe erscheint der linke Bulbus etwas nach
innen abgelenkt; die linke Pupille ist etwas weiter als die
rechte, beide reagiren sehr gut auf Lichteinfall. An den Bulbi
bemerkt man ab und zu leichte Dreh- und Seitenbewegungen.
Beim Blicke nach links geht der linke Bulbus knapp bis zur
Mittellinie, nicht darüber hinaus. Der rechte innere Corneai¬
ran d erreicht den inneren Lidwinkel nicht völlig. Beim Blicke
nach rechts bleibt ebenfalls zwischen äusserem Lidwinkel und
Cornealrand etwas weisse Sklera sichtbar; der linke Internus
functionirt gut. Bei letzterer Bewegung steigert sich der
Nystagmus wesentlich. Beim Blicke nach oben und unten
keine Störung. Die Zunge weicht beim Hervorstrecken nach
links ab. Der Kranke klagt, schlecht kauen und schlucken zu
können; er verschlucke sich häufig. Vom linken Masseter
ist fast gar nichts zu fühlen. Nur am Unterkieferansatz ein
ganz dünner, schmaler Muskelbauch. Die rechten unteren
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 141
Schneidezähne stehen etwas vor den oberen; beim Oeffnen des
Mundes wird der Unterkiefer deutlich etwas nach links, beim
Schliessen desselben nach rechts verzogen.
Streichen der Haut mit einem Faden wird nicht em¬
pfunden: An der linken Stirnhälfte, am linken oberen, sowie
am unteren Lid, bis zum oberen Rande des Jochbogens, an der
linken Schläfe. Von da nach abwärts bis zur Höhe des Mund¬
winkels wird derselbe Reiz „wie ein ganz leiser Hauch” eben
wahrgenommen (nicht jedesmal). Vom Mundwinkel nach abwärts
ist die Perception noch deutlicher, doch immer noch schlechter
als rechterseits. Auch linke Cornea und Sklera sind unter¬
empfindlich. Schon leise Stiche werden auch links im ganzen
Gesichte wahrgenommen. Beim Stechen und Streichen der Zunge
gibt Patient constant an, rechts besser zu empfinden. Tem¬
peraturen: Kalt in der linken Gesichtshälfte schlecht empfunden.
Auf dem linken Ohre wird das Ticken der knapp ange¬
legten Uhr gar nicht gehört. Patient gibt an, das Gehör sei
mit dem Fortschritte der Krankheit immer schlechter geworden.
Geschmack: Salzig wird an der Zungenspitze beiderseits gut
empfunden. Geruch: nichts Abnormes.
Gaumensegel steht links deutlich tiefer, Uvula steht
nach rechts; Gaumen hebt sich gut. Sprache schleppend, die
Articulation öfters verschwommen.
Rechte obere und untere Extremität sind fast völlig
paralytisch, es kann nur ganz geringes Heben des Armes im
Schulter- und des Beines im Hüftgelenke bewerkstelligt werden.
Die Sensibilität erscheint nur an der rechten Hand ge¬
stört, wo Patient am Dorsum, an der Ulnarseite, leise Berührung
nicht, Stechen an der ganzen Hand anders wahrnimmt als sonst
am Körper. Es sei als steche man in eine todte Masse. Das
Bein scheint nichts Abnormes bezüglich Sensibilität zu bieten.
Lagevorstellung am linken Arm nicht wesentlich gestört. Die
Bewegungen des linken Armes sind unsicher, beim Versuch,
einen Gegenstand zu erfassen, greift Patient öfters vorbei, er¬
greift ihn erst nacheinigem ungeordneten Hin- und Herfahren.
Patellarreflexe beiderseits sehr lebhaft.
26. Februar. Somnolent.
27. Februar. Nach Angabe der Frau litt Patient bis zum
zwölften Jahre an Ohnmachtsanfällen. Im Jahre 1873 fiel er
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142
Dr. Ernst Bisehoff.
vom Stellwagen. Seit 1886 bemerkt die Frau, dass der Mund
beim Lachen schief sei. Im August 1887 sei Patient an einem
Tage zweimal wie ohnmächtig gewesen. Er begann plötzlich zu
stottern, klagte über Luftmangel, er musste sich auf den Boden
legen. Dann begann er zu schreien, ohne auf Fragen zu ant¬
worten. Der Zustand dauerte zehn Minuten. Er wusste danach
nicht, dass er geschrien, hatte Kopfschmerz, Ueblichkeit.
Seither sei die linke Hand schwächer gewesen, das
linke Bein habe am Boden geschleift.
Die rechtsseitige Schwäche habe sich seit seiner Entlassung
progressiv entwickelt. Der Verstand habe erst seit einem halben
Jahre abgenommen. Bis Mai 1888 ging er hausiren.
28. Februar. Negativer Augenspiegelbefund (Dr.
Dimmer).
8. März. Meist somnolent. Rechter Handrücken und rechter
Unterschenkel und Fuss empfinden leise Berührungen nicht.
Beiderseits im Gesichte Zucken, bei Beklopfen der Muskeln
jedoch links viel lebhafter.
Auszug aus dem Sectionsprotokolle: Neurat.f 12.März,
obducirt 13. März. Syringomyelia et glioma pontis; Peri-
carditis haemorrhagica recens, Bronchitis catarrhalis capill.,
Endocarditis recens valvul. bicuspid.
Aus dem Protokolle sind die nebensächlichen Dinge weg¬
gelassen. „Linke Pupille eng, rechte weit, der linke Masseter
sehr schlaff, dementsprechend die linke Wange eingefallen, der
rechte Masseter stark, über den knorpeligen Theilen der
sechsten und siebenten Rippe links eine flache und unregel¬
mässig begrenzte, handflächengrosse weissliche Narbe
in der Haut, aussen davon eine etwas kleinere weissliche
Narbe. — Bronchien bis in die feineren Verzweigungen mit
schleimig-eiterigem Secret gefüllt, im Herzbeutel ein Esslöffel
einer stark getrübten, blutig gefärbten Flüssigkeit, Pericard
injicirt und mit zahlreichen Hämorrhagien durchsetzt, an der
Vorderfläche des rechten Ventrikels eine zarte Fibrinmembran,
Bicuspidalis an ihrem Schlussrande mit einer Reihe sehr zarter
graurother Excrescenzen besetzt. Hofrath Meynert’s Gehirn¬
befund: Gehirn an der Oberfläche blutarm, rechts breitere
Furchen als links, ohne Abflachung der Windungen, in den
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
143
Kammern eine mässig vermehrte Flüssigkeitsmenge, die beiden
Hinterhörner verlängert, das rechte verwachsen, das linke eine
kleine endständige Wiedereröffnung tragend.
Pons namhaft verbreitert, hart anzufühlen, die
Convexität links hervortretender, die Härte über den
Brückenarm bis in das Kleinhirn verbreitert, in welchem
sie durch die weiche Rinde markwärts durchzufühlen ist. Die
linke Hälfte der Rautengrube breiter, im Ganzen nach hinten
gewölbter, die plastische Felderung ausgeglättet. Durchschnitte
durch den Pons zeigen seine Substanz als derbe weisse
Masse, welche die Zeichnung erkennen lässt. Im Durch¬
schnitte durch die linken Brückenarme und das Kleinhirn findet
sich das Marklager des Kleinhirns als derbe weisse Masse ge¬
schwellt, gegen welche die Marklager der Windungen nach
hinten mässig einsinken. Vorne enthält der Brückenarm eine
scharf begrenzte Substanz von dichtschleimiger Con-
sistenZ. Die linke Hälfte der Oblongata derb, geschwellt, die
Hervorragungen der Olive und des Strickkörpers unförmlich
vergrössert (Glioma pontis).
Rückenmarksbefund (Kolisko): Das Rückenmark in
seinem Halstheile ganz platt, welche Abplattung im Dorsaltheile
allmählich sich verliert, so dass das untere Brustmark und das
Lendenmark wieder die normale äussere Form zeigen. Die
zarten Häute allenthalben blutarm. Die Abplattung des Rücken¬
markes ist bedingt durch eine, die centrale Substanz betreffende,
ziemlich mächtige Höhlenbildung, welche Höhle als ein
(gefüllt gedacht) fast 1 Centimeter im Durchmesser haltender
Canal das Halsmark durchsetzt und sich in das Dorsalmark
enger werdend fortsetzt. Es nimmt die Höhle im Halsmark die
Gegend der Commissur der grauen Substanz ein und setzt
sich nur im Gebiete der linken hinteren Wurzel gegen die
Peripherie fort, im Dorsalmark dagegen liegt die Höhle grössten-
theils in der hinteren Wurzel. Auf den Querschnitten des
Rückenmarkes zeigt sich die Abgrenzung der Höhle als ein fast
1 Millimeter breiter Saum dichterer blassgrauer Substanz, der auf
der Durchschnittsfläche in Folge seiner Dichtigkeit aus dem übrigen
weichen, stark injicirten Gewebe des Rückenmarkes vorsteht.
Die Besichtigung des in Müller’scher Flüssigkeit gehärteten
Präparates ergibt Folgendes:
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144
1 >c. Knut liischoff.
Da die Geschwulst grösstentlieils gegen das gesunde Ge¬
webe nicht scharf abgegrenzt werden kann, sind ihre Form und
Ausdehnung nicht leicht zu bestimmen. Man findet die linke
Hälfte der Medulla oblongata und des Pons nach allen Seiten
gegenüber der Rechten vergrössert, ohne dass die Con-
figuration bedeutend verändert wäre. Insbesondere ist der Boden
des IV. Ventx-ikels nicht hervorgewölbt und die Raphe in diesem
nur wenig nach rechts verschoben. Dagegen ist die Vergrös-
serung auch in der Richtung der Axe des Hirnstammes
darin deutlich ausgesprochen, dass die Brücke links auch in
dieser Richtung breiter ist als rechts. Auch der mittlere Klein¬
hirnstiel ist links an der Vergrösserung betheiligt. Neben dieser
relativen Vergrösserung der linken Hälfte findet sich eine ab¬
solute des ganzen Präparates, indem auch die rechte Pons¬
hälfte die normalen Masse bedeutend übertrifft. Au der Stelle der
grössten Circumferenz, entsprechend der Ebene der Trigeminus¬
kerne beträgt die grösste Breite 55 Millimeter, davon ent¬
fallen auf die linke Seite 32, auf die rechte 23 Millimeter (nor¬
male Breite etwa 36 Millimeter), der ventrodorsale Durchmesser
entlang der Raphe misst 30 Millimeter (normal etwa 22 Milli¬
meter). Nach oben reicht die relative sowie die absolute Ver¬
grösserung bis in die caudalen Ebenen des Oculomotoriuskerues.
Oberhalb sind die Verhältnisse ganz normal. Das untere
Ende des Präparates bildet die Gegend der Pyramidenkreu¬
zung. Hier ist die linke Seite noch etwas grösser: 13 Milli¬
meter hoch (gegen 11 rechts), 7-5 Millimeter breit (gegen 65
rechts).
Die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchung
sind folgende:
Die einzelnen Nervenbündel und Zellgruppen liegen fast
überall an dem gebührenden Platze, wo sie nicht durch Ge¬
schwulstgewebe ganz ersetzt erscheinen. Häufig sind sie innig
mit Geschwulstzellen vermengt, durch diese auseinander gedrängt,
so dass sie ein grösseres Areale bedecken als normal. Dagegen
sieht man keine stärkeren Gestaltveränderungen, welche
auf Druck, Zerrung oder Verdrängung schliessen lassen. Dem¬
gemäss ist auch die rechte Hälfte des Präparates in der Höhe
des oberen Olivendrittels, wo die linke Hälfte schon sehr ver¬
grössert ist, normal gestaltet.
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 145
Von den caudalsten Schnitten angefangen bis in die Region
der Vierhttgel finden sich in den erkrankten Theilen runde,
ziemlich kleine Zellkerne, an denen sich bei der angewandten
Härtung und Celloidineinbettung an Alauncochenillepräparaten
eine Differenzirung nicht feststellen liess. Die Zellen liegen
ziemlich regelmässig vertheilt zwischen den sichtbaren nervösen
Gebilden. Auch an den Gelassen ist keine stärkere Anhäufung
vorhanden. Die gefärbten Kerne liegen, wie das an einzelnen
Zellen deutlich zu sehen ist, in einer anscheinend homogenen
feinkörnigen Masse. Bei starker Vergrösserung nimmt diese
Zwischensubstanz mehr die Form eines dichten Faserfilzes an-
Im Allgemeinen sind die Blutgefässe in normaler Zahl
ersichtlich, doch sind in der oberen Hälfte an einigen Stellen
die Gefässe vermehrt und erweitert.
Diese Zellinfiltration geht fast überall allmählich in die
normale Anordnung des Zwischengewebes über. An der Rand¬
faserung ist mit Ausnahme einer infiltrirten Stelle in der Ge¬
gend der Nuclei arcit'ormes keine geschwulstige Wucherung be¬
stehend.
Der makroskopischen Beschaffenheit entsprechend zeigen
schon die untersten mikroskopischen Schnitte eine beträchtliche
Grössenzunahme der linken Hälfte. Sie betreffen die Gegend
der Schleifenkreuzung (Fig. I 1 ). Hier findet sich schon eine In¬
filtration in der Gegend der linken Substantia gelatinosa, sowie
medial-ventral davon. Die Pyramidenbahn enthält beiderseits
weniger Nervenfasern, deren Querschnitte ungleich sind. Links
sind diese Verhältnisse viel stärker ausgesprochen, hier sind die
Fasern auch durch reichlicheres Zwischengewebe getrennt, so
dass der Querschnitt der Pyramidenbahn iy 2 mal grösser als
rechts und bei Markscheidenfärbung blasser ist. Die Bogen-
') In den Figuren sind, um Unklarheiten zu vermeiden, fast durchwegs nur
die Nervenfasern gezeichnet. Die nerveulose graue Substanz und das Geschwulst¬
gewebe sind weiss gelassen. Wo ein Zweifel entstehen könnte, ob eine Stelle
erkrankt oder gesund geblieben ist, wie am Boden des IV. Ventrikels und in
den Brückenkernen, ist der Umstand zur Klärung genügend, dass die erkrankten
Partien durchwegs vergrössert sind. Zur leichteren Orientirung sind einige
Bezeichnungen beigefügt. — Die Zeichnungen sind alle in eineinhalbfacher
natürlicher Grösse ausgeführt.
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146
Dr. Ernst Bischoff.
fasern, welche der Schleifenkreuzung angehören, treten links
besser hervor und die einzelnen Bündel sind rechts etwas
schmächtiger, doch ist der Unterschied sehr gering. Die Hinter¬
strangskerne, die spinale Quintuswurzel und Kleinhirnseiten¬
strangbahn weisen nur eine links weniger dichte Faseranord¬
nung auf, entsprechend der allgemeinen Vergrösserung dieser
Seite. Die Ganglienzellen und Wurzeln des Hypoglossus sind
intact, die Umgebung des Centralcanales erscheint normal.
In den Schnitten durch das untere Drittel der Oliven
hat sich die Infiltration mit den beschriebenen Zellen schon weit
ausgebreitet und occupirt die Substantia reticularis, reicht ven¬
tral bis an die Olive, medial bis zur Raphe, lateral zur spinalen
Fig. 1.
VHTR—■*'
Fig. 2.
Trigeminuswurzel und dorsal bis in die Hinterstrangskerne. Die
Kerne des X. und XII. Hirnnerven, sowie der Fasciculus soli-
tarius mit den angrenzenden Theilen der Substantia reticularis
sind frei, ebenso das hintere Längsbündel. Die Wurzelfasern
des XII. verlaufen durch Geschwulstgewebe. Die Pyramiden¬
bahnen verhalten sich, wie oben beschrieben, in der Oliven¬
zwischenschicht lässt sich zwischen links und rechts kein Unter¬
schied feststellen, die Oliven und deren Nebenkerne, die inneren
und äusseren Bogenfasern sind beiderseits von normalem Aus¬
sehen.
Die Geschwulst wächst nun oberhalb rasch nach aussen
und ventralwärts, so dass sie in mittlerer Olivenhöhe (Fig. 2)
schon bis an die lateralen und ventralen Grenzen der Medulla
oblongata gelangt. Innerhalb derselben sind nun auch die ner¬
vösen Bestandtheile merklich geschädigt. In Folge der Ver-
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
147
lagerung der vergrösserten Gebilde findet man hier links neben
Vagus-Glossopharyngeusvvurzelfasern schon die austretende hin¬
tere Acusticuswurzel und einen herabgedrängten Lappen des
Pons. Man findet hier links nur die Olive und ihren dorsalen
Markmantel, sowie die Olivenzwischenschicht ziemlich intact und
von dieser ein schmales wohlerhaltenes Band längs der Raphe
zu der ebenfalls von Infiltration freien Gegend des hinteren
Längsbündels. Vom Bodengrau ist die mediale Hälfte frei. Da¬
gegen ist die Pyramidenbahn, die ganze seitliche Haubengegend
inclusive „spinaler Acusticuswurzel”, die spinale Trigeminus-
w r urzel, das Respirationsbündel, das Corpus restiforme, der aus-
Strom.
C.rest
vm
Fig. 3.
tretende Acusticus und das angrenzende Kleinhirnmark infiltrirt,
auch in den Hilus der Olive dringt die Geschwulstbildung ein.
Die genannten Gebilde sind alle faserärmer und der Zer¬
fall des Markmantels ist in den längsgetroffenen Fasern der
Acusticuswurzeln, des Strickkörpers und der Pyramidenbahn
deutlich. Auch in dem nicht infiltrirten, hier schon sichtbaren
Abschnitte der Ponsfaserung sind reichlich Zerfallsproducte vor¬
handen. Die Bogenfasern vom Strickkörper durch die Olive
sind fast ganz verschwunden, die dorsaleren Bogenfasern sind
wie die quergetroffenen Fasern der Substantia reticularis grisea
blässer und th eil weise mit Markschollen vermengt. Während
etwas distal der Nucleus ambiguus und die austretenden Wurzel¬
fasern des Vagus noch intact waren, findet sich hier gerade
in der Umgebung der spinalen Quintuswurzel eine dichte Infil¬
tration. Die rechte Hälfte zeigt normale Verhältnisse.
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148
Dr. Ernst Bischoff.
Schnitte durch das obere Drittel der Oliven (Fig. 3)
unterscheiden sich von den vorherigen einerseits dadurch, dass
in den centralen Theilen der Geschwulst keine Nervenfasern
gefärbt sind, andererseits durch das erste Auftreten einer sicht¬
lichen Verdrängung von Nervenfasern durch die Geschwulst:
die aus der Raphe austretenden Fasern verlaufen links steil
nach aufwärts. Die äusseren drei Viertel der Olivenzwischen¬
schicht sind ins Gebiet der Geschwulst einbezogen, die Olive,
deren Ganglienzellen kleiner und undeutlicher gefärbt sind, ist
von einem breiten Gürtel umgeben, in dem keine Nervenfasern
erkennbar sind. Die dorsalen medialen Theile der Haube und
die ventralen Ponsfasern sind gut erhalten, die Pyramidenfasern
C.rest
vm
\T
Fig. 4.
sind spärlicher, nur im ventralen Theile noch ziemlich dicht.
Aeussere und innere Acusticuswurzel sind infiltrirt und degene-
rirt, der accessorische Acusticuskern ebenso, die Striae medul¬
läres sind degenerirt. Im Uebrigen die gleichen Verhältnisse
wie unterhalb. Der dorsale Theil der Raphe erscheint normal,
während ventral die Infiltration dieselbe etwas überschreitet.
Das hintere Längsbündel ist hier und bis in die Vierhügelregion
links an Weigert-Pal-Schnitten etwas blässer. Die rechte
Hälfte des Schnittes erscheint gegen die Norm etwas ver-
grössert und in ihren ventralen medialen Theilen reich an
Zwischengewebe. Der Faserschwund in der Pyramidenbahn
dieser Seite ist nicht bedeutender als in den distalen Ebenen.
In der Höhe der austretenden Abducensfasern (Fig 4) ist
die Begrenzung der Geschwulst nicht bedeutend verändert. Nur
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 149
hat sich im ventralen Theile des Ueberganges von Pons ins
Kleinhirn ein Geschwulstknoten gebildet, dessen Zellkerne sich
nicht färben und der ziemlich grosse Gefässe enthält. Daher
sind alle Theile des linken Acusticus gezwungen, durch die
Geschwulst zu verlaufen. Vom Corpus trapezoides sind einige
Bündel sichtbar, die sich bis in die Nähfe der Raphe verfolgen
lassen. Die mediale Wurzel (nervus vestibulär.) verläuft am
äusseren Rande des obengenannten Geschwulstknotens und ist
nicht bis zum hoch hinaufgedrängten Corpus restiforme zu ver¬
folgen. Im dorsalen (grosszeiligen) Kern ist Infiltration vor¬
handen, so dass die Nervenbündel stark auseinander gedrängt
und an Zahl herabgesetzt sind. Die austretenden Bündel des
Fig. 5.
Abducens sind aufs doppelte verbreitet und faserarm. Vom
Facialiskern befindet sich nur ein kaum erkennbarer Rest im
Geschwulstgewebe, ebenso von den Fasern seines Kernschenkels.
Von der oberen Olive und der centralen Haubenfaserung ist
nichts, vom Lemniscus nur ein kleines Feld neben der Raphe
erhalten geblieben. Die linke Pyramidenbahn ist in mehrere
faserarme Bündel zerfallen. Auch die Ponskerne sind links
grossentheils vom Geschwulstgewebe eingenommen. Von der
spinalen Quintuswurzel sind nur wenige zerstreute Fasern vor¬
handen. Rechts findet sich neben dem normalen Facialiskern,
zumeist aussen von demselben eine beträchtliche Vermehrung
und Erweiterung der Blutgefässe. Während links von den
Striae acusticae nur degenerirte Reste bestehen, sind sie rechts
als starker Strang bis zum Nucleus funic. teretis zu verfolgen.
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150
Dr. Ernst Bischoff.
Die Geschwulst zieht sich bald aus dem mittleren Klein¬
hirnarm zurück, so dass sie etwas proximal von dem ans¬
tretenden Facialis lateral begrenzt ist (Fig. 5). Doch ist bis
an die äussere Grenze des Präparates zwischen den Fasern
eine beträchtliche Zellinfiltration zu verfolgen; zugleich wächst
der Umfang des ganzen Schnittes, indem die Geschwulst die
linke Ponsfaserung mit Ausnahme eines schmalen oberflächlichen
Theiles durchsetzt und auseinander drängt und auch im Stratum
profundum bis über die ßaphe vordringt; endlich findet sich
eine geringere Infiltration auch in der rechten Hälfte, von der
nur die lateralen und dorsalen Partien frei bleiben. Hervor¬
zuheben ist, dass die dorsomedialen Theile der linken Substantia
reticularis und das Bodengrau kein Geschwulstgewebe enthalten.
Dieses Feld bleibt auch im ganzen Bereiche des Abducenskernes
frei. Die Ganglienzellen dieses Kernes sind von normalem Aus¬
sehen, ihre Kerne deutlich zu erkennen. Links sind im Bereiche des
Kernes etwas mehr Stützzellkerne gefärbt als rechts, derselbe hat
nicht die regelmässige kreisrunde, sondern eine quer ovale Gestalt.
Die von den Abducenskernen abgehenden Wurzelfasern
sind beiderseits normal, treten links aber bald in die Geschwulst
ein. Von den austretenden Wurzeln war links keine intact.
Rechts ist an ihnen nichts Abnormes zu erkennen. Der auf¬
steigende und der austretende Facialisschenkel ist links faser¬
arm. Die sich in der Raphe kreuzenden Fasern sind symmetrisch.
Auf ihrem Wege nach abwärts zur Austrittstelle liegt die linke
Facialiswurzel eine weite Strecke in der Geschwulst; ihre
wenigen Fasern sind hier stark auseinander gedrängt und de-
generirt. Vom Deiters’schen Kern sind links nur geringe Reste
erhalten, die aufsteigende Trigeminuswurzel, der grösste Theil
der Schleife und des Stratum profundum des Pons sind links
durch die Geschwulst fast ganz zerstört, in den lateralen Pons¬
kernen sieht man keine Ganglienzellen, die quergetroffenen
Bündel des Pons sind links erhalten, aber zum Theile enthalten
sie weniger dicht stehende Fasern, besonders die äusseren und
dorsaleren Bündel. Die rechte Hälfte ist wieder, abgesehen von
der allgemeinen Vergrösserung, bezüglich der Nervenfasern und
Kerne normal.
In der Ebene der Trigeminuskerne (Fig. 6) hat die
Geschwulst noch dieselbe Ausdehnung: Lateral bis zum mittleren
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Zwei Geschwülste der Brücke and des verlängerten Markes.
151
Kleinhirn stiel, so dass das ganze Bereich der Trigeminuskerne
und Wurzeln innerhalb ihrer Grenzen liegt, ventral sind noch
Theile der Brückenfaserung ergriffen, medial überschreitet die
Geschwulst zwischen den Bündeln des Stratum profundum etwas
die Raphe, dorsal bleibt wieder ein mediales Dreieck frei,
während lateral der Tumor auch den Locus coeruleus noch be¬
setzt hat. Von der Schleife sind nur zerstreute Bündel erhalten,
die Formatio reticularis enthält etwas mehr Nervenfasern. Der
motorische und der sensible Trigeminuskern konnte nicht
aufgefunden werden. Da das dichte Geschwulstgewebe auch im
Stratum complexum weit nach aussen reicht, ist der austretende
Trigeminus auch zerstört. Die absteigende Wurzel ist auch in-
Pig. 6.
filtrirt, ihre Fasern und die Ganglienzellen atrophirt. Die ge¬
kreuzte Quintuswurzel ist beiderseits zu sehen, links sind ihre
Fasern spärlicher und zerstreut.
Die Infiltration reicht rechts zwischen den Ponsbündeln
bis in das zweite Viertel, ohne dass hier ein Faserschwund
auftreten würde. Die Ganglienzellen der Haube sind links fast
ganz verschwunden, rechts weniger zahlreich als normal. Die
Brückenkerne sind links nur ventral und medial ganglieuzellen-
hältig. An den quergetroffenen Brückenbündeln hat sich nichts
geändert.
Von hier an verkleinert sich die Geschwulst nach aufwärts
rasch, die Zellwucherung ist nicht mehr so stark,-dass die ner¬
vösen Gebilde ganz erdrückt wären. Die Gegend der lateralen
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152
Dr. Ernst Bischoff.
Schleife ist noch am schwersten erkrankt. Die absteigende
Trigeminuswurzel wird links bald deutlicher, die Zellen des
Locus coeruleus liegen in einer langen Reihe auseinander gezerrt,
aber normal gestaltet, im Velum medulläre ist die Trochlearis-
kreuzung gut erhalten (Fig. 7), die Gegend der medialen und
lateralen Schleife ist infiltrirt, die Fasern darin sehr verringert,
die tiefen Schichten der Brückenbündel sind auch noch infiltrirt,
im Stratum complexum finden sich in den grauen Kernen noch
Zellwucherungen, die oberflächlichen Bündel sind normal. Die
linke Hälfte ist fast doppelt so breit als die rechte.
Das linke hintere Längsbündel enthält etwas weniger
Fasern, auch die Querschnitte der angrenzenden Substantia
Fig. 7.
reticularis sind spärlicher, obwohl hier nur wenig Zwischen-
gewebskerne sich befinden, in den Fasern der Raphe ist auch
hier keine Asymmetrie sichtbar. Der linke Bindearm ist
normal.
Der ganze Verlauf der Trochleariswurzel ist beiderseits
wohl erhalten, der Trochleariskern erscheint normal. Im
linken hinteren Vierhügel finden sich mehr Zellkerne als
rechts, das Nervenfasernetz ist weniger dicht, Ganglienzellen,
auch die blasigen der absteigenden Trigeminuswurzel beiderseits
gleich. Die laterale Schleife und ihre Einstrahlung in den
Vierhügel ist links faserärmer, es lassen sich in ihr einige De-
generationsproducte nachweisen. Ihre ventralsten Theile und
die ventrale Hälfte der medialen Schleife sind von den oberen
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
153
Enden der Geschwulst inflltrirt. Die Bindearme, ihre Kreuzung
und ihre in der Rapbe sich ventral wendenden Fasern normal.
Die blässere Färbung der Substantia reticularis links setzt
sich proximalwärts bis zum Verschwinden derselben in der vollen
Bindearmkreuzung fort (Fig. 8). Ventral von der Schleife ist
von links nach rechts noch über die Raphe eine Infiltration zu
verfolgen, die sich auch theilweise zwischen den Bündeln der
Brücke fortsetzt. Das Bündel der Fussschleife ist wegen der
ungünstigen Schnittführung und wegen des bei der Obduction
ausgeführten Einschnittes nicht mit Sicherheit zu bestimmen.
Die Faserung der Brücke und des beginnenden Pes pedunculi
sind normal.
Fig- 8.
In Höhe der oberen Zweihügel ist von der Geschwulst
nichts mehr vorhanden und nichts abnormes zu bemerken. Ins¬
besondere sind die Oculomotoriuswurzeln und -Kerne beiderseits
wohlgebildet, die rothen Kerne und ihre Umgebung sind gefäss-
reicher als gewöhnlich, sonst normal. In den Sehhügeln, in¬
neren Kapseln und Linsenkemen waren normale Verhältnisse,
mit Ausnahme einer in den grauen Substanzen auffallenden Ver¬
mehrung der kleinen Blutgefässe.
Das Rückenmark dieses Kranken war mir leider zur mikro¬
skopischen Untersuchung nicht zugänglich und ich habe von dem
Bestände der Syringomielie erst durch die Aushebung des Sec-
tionsprotokolles, welche mir im Institute Professor Weichsel-
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie« XV. Bd. \\
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154
Dr. Ernst Bischoff.
baum’s in liebenswürdigster Weise gestattet wurde, Kenntniss
erhalten.
Die Beschreibung des mikroskopischen Befundes musste in
diesem Falle ausführlicher gemacht werden, weil mit der ein¬
fachen Angabe der Grenzen der Geschwulst gar nichts gesagt
wäre. Es ist eine bisher nicht häufig beschriebene Geschwulst¬
form, ausgezeichnet durch die ganz diffuse Ausbreitung, durch
den Mangel von Reizerscheinungen in der Umgebung, durch
das zähe Fortbestehen der Nervenfasern und Zellen im Inneren
der Geschwulst und durch die geringe Gestaltveränderung des
Hirnstammes als Ganzes. Auch die kolossale Vergrösserung des
ganzen Präparates scheint eine Eigenthümlichkeit dieser Ge¬
schwülste zu sein. Aehnliche Fälle sind mitgetheilt von Schmidt-
Rimpier, 1 ) Bruns, 2 ) Ollivier,*) Simon, Gutmann, 4 ) Hun, 8 ) Kümmel 6 )
(1. Fall) und Jolly. 7 ) Aus der Vergleichung aller dieser Fälle
geht hervor, dass dieselben symptomatisch und anatomisch so
viele Differenzen zeigen, dass man dieselben nicht zu einer
Gruppe eng verwandter Erkrankungen vereinigen kann. Wenn
auch einige in ihrem histologischen Bau meinem Fall sehr ähn¬
lich sind, so sind in anderen wieder Erweichungen, Cystenbil¬
dungen u. dgl. beschrieben, und der Uebergang zu den sarko-
matösen Geschwülsten ist ein allmählicher. Eine gemeinsame
Eigenschaft dieser diffusen Gliome ist die sehr lange bestehende
Functionsfahigkeit der betroffenen Theile, wodurch das Auf¬
treten lebensgefährlicher Störungen erst bei grosser Ausdehnung
der Geschwulst bedingt ist.
Eine grosse Seltenheit ist auch die Combination eines
Glioms des Hirnstammes mit Syringomyelie. Ich konnte keinen
Fall finden, in dem die Symptome des Tumors so überwiegend
waren, dass die Syringomyelie am Lebenden gar nicht dia-
>) Areh. f. Augenh. XVIII.
2 ) Neurol. Centralbl. 1888.
9 I In Leyden, Klinik d. Rückenmarkskr. II, S. 105.
4 ) Boston med. and. surg. Journ. 1883.
s ) Med. News 1887.
") Zeitsch. f. Mediz. 1880.
7 ) Arcb. f. Psych. XXIV.
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 155
gnosticirt worden wäre. Raicliline') beschrieb einen Fall, in dem
diese Combination angenommen wurde und die Erscheinungen
von Seite der Brücke und des verlängerten Markes überwogen,
es ist aber nicht zur Obduction gekommen. Gowers 2 ) theilt zwei
Fälle mit, in denen unter anderem eine Geschwulst im Pons
und Syringomyelie bestand. In den Monographien über Syrin¬
gomyelie von Hoffmann 3 ) und Schlesinger 4 ) sind noch einige
Fälle berichtet. In der Regel hat aber die Erkrankung im Hirn¬
stamme, die nach Schlesinger unter 200 Fällen 65mal vorhanden
war, viel geringere Ausdehnung genommen. Es geht nicht an,
meinen Fall zu Gunsten der einen oder anderen Theorie über
die Pathologie der Syringomyelie auszunützen, weil eine histolo¬
gische Beschreibung des Rückenmarkes fehlt. Aus dem Sections-
protokoll geht jedoch hervor, dass das derbe Gewebe, welches
die grosse Geschwulst der Brücke bildete, dort nur fast 1 Milli¬
meter dick war, dass eine ausgedehntere Geschwulstbildung also
nicht vorlag. Es sind also in diesem einen Falle die beiden von
Hoffmann streng getrennten Formen, die Gliose und die Gliomatose
zugleich, wenn auch örtlich getrennt aufgetreten. Nach der Anam¬
nese dürfte, wie es Hoffmann beschrieb, die gliöse Erkrankung
des Rückenmarkes viel früher aufgetreten und langsamer ge¬
wachsen sein (Ohnmächten in der Jugend, Schmerzen in den
Beinen, Schwäche der linksseitigen Extremitäten) als der glio-
matöse der Brücke. Eine vielleicht ähnliche Unterscheidung der
Erkrankungsformen hat Reymond 5 ) durchgeführt, der allerdings
die beiden Formen (gliocelluläre und gliofibrilläre) in einem
Rückenmark mit Höhlenbildung vereinigt vorfand.
In dem zweiten Falle handelt es sich um eine etwa
dreissigjährige, verheiratete Frau Anna Sommer, bei welcher
ohne nachweisbare Ursache im October 1892 eine rechtsseitige
isolirte Abducensparese, einige Monate später auch Fac ialis-
parese derselben Seite auftrat. Gleichzeitig stellte sich heftiger
J ) Paris, 1892, refer. N. Centralbl. 1892, p. 709.
2 ) Hdb. d. Nervenkr. B. I., p. 573.
3 ) Deutsche Zeitsch. f. Nervenh. 1892.
4 ) Erschienen 1895.
5 ) Arch. d. Neurologie XXVI.
11 *
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156
Dr. Ernst Bischof.
Schwindel und nervöse Schwerhörigkeit rechts ein. Die
Sehnenreflexe an den unteren Extremitäten waren leicht gesteigert.
Im Juli 1893 wurde die Kranke in die Nervenklinik in
Graz aufgenommen. Sie klagte über zunehmende Schwäche der
linksseitigen Extremitäten, heftigen Schwindel, Doppeltsehen
und hochgradige Unsicherheit, so dass sie nicht geben konnte.
Patientin war kräftig und gut genährt, an den vegetativen
Organen ohne Abnormität. Der Schädel an den Jochbogen und
am Hinterhaupt percussionsempfindlich, in der linken Ge¬
sichtshälfte die Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit
deutlich herabgesetzt, eine ausgesprochene Parese beider
Recti externi und interni (der genau erhobene Befund fehlt),
normale Reaction der Pupillen und normale Sehschärfe, totale
Lähmung des rechten Facialis (Lagophthalmus und Conjunc¬
tivitis), normale Beweglichkeit der linken Gesichtshälfte, voll¬
ständige Taubheit rechts, Schwerhörigkeit links, beide cen¬
traler Natur (Befund aufgenommen von Professor Habermann),
keine Störung des Geruches und Geschmackes. Die Zunge wird
gerade vorgestreckt und ist frei beweglich. An den rechten
Extremitäten Motilität und Sensibilität normal, auch der Muskel¬
sinn. An der linken unteren Extremität ist der Patellar-
sehnenreflex lebhaft, kein Knie- und Fussclouus auslösbar, es
besteht leichte Parese, so dass Stehen auf dem linken Beine
unmöglich ist und deutliche Ataxie beim Kniefersenversuche.
An der linken oberen Extremität besteht allgemeine Parese
(Händedruck schwach), Ataxie und geringer Intentionstremor.
Die Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit ist an der ganzen
linken Körperhälfte deutlich herabgesetzt. Der Muskelsinn ist
nirgends grob gestört.
Puls bei horizontaler Lage 120, bei Aufsetzen 134 Schläge
in der Minute. Blasenstörung besteht nicht, Patientin schluckt gut,
die Sprache entsprechend durch die Facialisparalyse behindert.
Am 29. Juli ist Zunahme der Anästhesie und Analgesie
am linken Beine notirt; Patientin fühlt nur mehr starke Nadel¬
stiche, die sie schlecht localisirt, spürt Kneifen wie Streichen.
Am linken Arm besteht die Hypalgesie und Hypästhesie fort,
die Ataxie der linken Extremitäten hat zugenommen. Puls 150
pro Minute. Es bestehen jetzt heftige Kopfschmerzen und
Schwindel.
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Zwei Geschwülste der Briicke und des verlängerten Markes.
157
Am 2. August ist die Hypästhesie der linken Gesichtshälfte
nochmals constatirt, zugleich aber auch geringere Hypästhesie
der rechten Gesichtshälfte.’
Am 4. steigerte sich der Kopfschmerz, es trat Erbrechen
auf und am 6. starb die Patientin unter Erscheinungen der
Vaguslähmung (abwechselnde Dyspnoe und Asphyxie, Unmög¬
lichkeit zu sprechen, Behinderung des Hustens). Der Puls blieb
bis 4 Stunden vor dem Tode kräftig, 120 Schläge pro Minute.
Bei der Obduction fand sich eine Geschwulst im Pons
und den angrenzenden Theilen, hauptsächlich rechts. Der übrige
Befund am Gehirn und seinen Häuten war ein annähernd nor¬
maler, es bestand nirgends ein zweiter Geschwulstherd und keine
Meningitis; auch in den inneren Organen kein pathologischer
Befund. Da kein Sectionsprotokoll vorliegt, muss ich mich auf
vorstehende Mittheilung beschränken.
Das Präparat wurde in Müller’scher Flüssigkeit gehärtet,
nach Celloidineinbettung in Serienschnitte zerlegt und mit Carmin,
Alauncochenillen und nach Weigert-Pal dann abwechselnd gefärbt.
Die Geschwulst, welche mikroskopisch theilweise scharf
abgegrenzt ist, besteht aus Zellen von ziemlich gleicher Grösse
und kreisförmiger, ovaler oder unregelmässiger rundlicher Be¬
grenzung mit runden Kernen körniger Structur. Die Kerne haben
die Grösse der Gliakerne. Die Geschwulst ist fast überall ge-
fässreich. Nur am Boden des IV. Ventrikels fehlt auf weite
Strecken jedes Gefäss. Hier ist die Geschwulststructur ganz
gleichmässig und dürfte, als Gliawucherung aufzufassen sein,
während in den gefässreichen Partien regelmässig einzelne Knoten
oder Zellhaufen nebeneinander liegen, deren jeder im Centrum
ein Gefäss hat. Häufig ist nur die Intima erhalten, während die
äusseren Schichten der Gefässwand in Geschwulstgewebe ver¬
wandelt sind. Die Wucherung erscheint hier deutlich von der
Gefässwand auszugehen. Zwischen den einzelnen Zellhaufen ver¬
laufen häufig Nervenfasern, oder überhaupt faseriges Gewebe,
dessen Natur sich nicht feststellen lässt, da es sich nicht ge¬
färbt hat. Inmitten der Geschwulstzellen, besonders wo sie
regelmässig an geordnet sind, findet man oft Ganglienzellen (so
in der Substantia reticularis, im Trigeminuskern).
Die Geschwulst drängt überall das normale Gewebe bei¬
seite, die Wurzelfasern des rechten Facialis und des linken
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158
Dr. Ernst Bisehoff.
Abducens verlaufen im weiten Bogen, die Raphe ist, wo die
Geschwulst nur einseitig liegt, bogenförmig nach der anderen
Seite gedrängt, am Boden des IY. Ventrikels wölbt die Ge¬
schwulst sich weit vor. Häufig aber trägt die Geschwulst auch
Nervenfasern in ihrem Gewebe, diese sind dann auseinander
gedrängt und häufig degenerirt.
Es ist klar, dass die ßeurtheilung der einzelnen Faser¬
stränge durch dieses Verhalten der Geschwulst sehr erschwert
wird. Andererseits kann man voraussetzen, dass die Störungen,
welche die Nachbarschaft der Geschwulst erlitten hat, ziemlich
gering waren, weil nirgends eine reactive Veränderung an den
Rändern der Geschwulst sichtbar ist. Zu demselben Schlüsse
kommt man bei Vergleichung der klinischen mit den anatomi¬
schen Untersuchungsergebnissen.
Der Mittheilung des anatomischen Befundes muss noch
vorausgeschickt werden, dass in dem conservirten Präparat nicht
die ganze Geschwulst enthalten ist, dass aber die mit dem
rechten mittleren Kleinhirnstiel und am oberen Rande (vordere
Vierhügelgegend) entfernten Theile von sehr geringer Aus¬
dehnung waren und deshalb bei der Auslösung des Präparates
übersehen wurden.
Die Hauptergebnisse der mikroskopischen Unter¬
suchung sind:
Im obersten Halsmark lässt sich eine nennenswerthe
absteigende Degeneration nicht constatiren. Man findet an
Carminpräparaten überall scharfe Nervenfaserquerschnitte und
keine Gliawucherung. Nur als fraglich möchte ich eine leichte
Zunahme der Gliafasern im linken Seitenstrang notiren. Die
graue Substanz ist normal. Accessoriuskern und seine
Wurzeln auch.
In der Pyramidenkreuzung, den Hinterstrangskernen
und den anderen grauen Massen dieser Gegend nichts verändert.
Dagegen sind in der Schleifenkreuzung die zu den linken
Hinterstrangskernen ziehenden Fasern schmäler, die Bündel
etwas weniger dicht und bei Markscheidenfärbung deshalb
blässer. Bedeutend ist die Asymmetrie jedoch nicht. Die spinale
Trigeminuswurzel ist beiderseits gleich faserhältig. In den
Pyramiden ist hier schon eine beträchtliche Gliavermehrung
und besonders rechts auch Faserschwund vorhanden. Auf dieser
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Zwei Geschwülste der Brücke and des verlängerten Markes. 159
Seite sind an einzelnen Stellen die Fasern durch Markschollen
ersetzt. Um den Centralcanal findet sich eine Zellanhäufung,
die denselben stellenweise in zwei und drei getrennte Canäle theilt.
In der Ebene, wo die untere Olive schon angedeutet
ist, sieht man rechts lateral davon eine Anhäufung von Ge¬
schwulstzellen, das unterste Ende der Geschwulst. Oberhalb der
Eröffnung des Centralcanales (Fig. 9) ist dieses Gebilde
so angewachsen, dass es unmittelbar ventral von der spinalen
Quintuswurzel beginnt und die Olive umfassend bis zum
Pyramidenstrang reicht. Es erreicht lateral den Rand des Prä¬
parates und drängt medial alles zusammen. In der Geschwulst
verlaufen einzelne, grossentheils degenerirte Nervenfasern
zwischen den drusenartigen Geschwulsttheilen.
In der Raphe besteht hier eine Asymmetrie, indem die
Mehrzahl der Fasern dieselbe von links ventral nach rechts
Tumor
Fig- 9.
dorsal durchsetzen. Die Kerne des X. und XII. Nerven und
ihre Wurzelfasern sind intact, an allen anderen Theilen des
Schnittes nichts abnormes, nur der Seitenstrangrest und der
äussere Markmantel der Olive sind rechts durch die Geschwulst
zerstört und die Pyramiden in gleicher Weise verändert wie
unterhalb.
In mittlerer Olivenhöhe haben sich einzelne Geschwulst¬
knoten schon in den ventralen Bündeln der rechten spinalen
Quintuswurzel entwickelt und wuchert ein neuer Herd anscheinend
von der Fissura longitud. medullae zwischen den Pyramiden¬
bündeln in die Raphe und bildet links eine Kappe auf das
untere Blatt der Olive. Rechts sind einige kleinere Knoten im
dorsalen Theile der Pyramide. Auch im centralen Mark der
rechten Olive ist eine Geschwulstbildung sichtbar. Die obersten
Hypoglossusstränge sind rechts gezwungen, die Geschwulst zu
durchsetzen und sind degenerirt. Auch ein Bündel der rechten
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160
Dr. Ernst Bischoff.
Vaguswurzel ist in der Geschwulst degenerirt zu sehen. In der
Substantia reticularis, dem hinteren Längsbündel und dessen
ventraler Fortsetzung (Vorderstrangrest und dorsalen drei
Viertel der Olivenzwischenschicht) nichts abnormes. In der
linken aufsteigenden Glossopharyngeuswurzel liegt ein Gefäss-
convolut umgeben von einem Zellhaufen, das nur einem spär¬
lichen Nervennetz Raum übrig lässt. In den Strickkörpern nichts
abnormes.
Nach aufwärts breitet sich der Tumor rasch aus, occupirt
links die ganze ventrale und mediale Seite der unteren Olive,
drückt dabei die Pyramide platt und drängt die Olive nach
aussen und oben. Rechts dringt die Geschwulst von allen Seiten
in die Pyramidenbündel; sie reicht weit in die Raphe hinauf
und einige Knoten liegen im ventrolateralen Theile der rechten
Substantia reticularis. Die liuke Olive erscheint atrophirt, die
Kreuzung in der Raphe erhält sich noch, wie früher beschrieben,
die in derselben aufsteigenden Fasern sind spärlicher und
fehlen in der dorsalen Hälfte derselben. Die Fasern der linken
Schleife sind stark dorsal verschoben und theilweise zerstört.
Die rechte Pyramide ist mehr geschädigt als die linke.
In der Austrittsebene des Nervus cochleae (Fig. 10)
ist die Geschwulst rechts und links weit vorgedrungen. Rechts
hat sie nur einen etwa auf ein Viertel des normalen zusammen¬
gedrängten Theil des Pyramidenbündels, das obere Ende der
Olive, die Olivenzwischenschicht, ein dorsomediales Dreieck,
dann das Corpus restiforme und einen Theil der spinalen Trige¬
minuswurzel ziemlich frei gelassen.
Vom Strickkörper ziehen einige Bündel durch die Ge¬
schwulst zur Olive. Hier und in der Umgebung des Facialis-
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 161
kernes befinden sich wenige, meist degenerirte, quergetroffene
Nervenbündel. Dem Strickkörper sitzt ventral eine keilförmige
Geschwulstmasse auf, aus der der degenerirte Nervus cochleae
entspringt. Der Boden des Ventrikels ist vorgewölbt und von
Zellen gleichmässig infiltrirt, so dass auch die spinale Acusticus-
wurzel und die Kernschenkelfasern des Facialis auseinander
gedrängt sind. Der Facialiskern ist hier und weiter oben
erhalten.
Links liegt die Hauptmasse der Geschwulst dorsal von
der Pyramide, reicht bis in die Höhe der Trigeminuswurzel,
drängt einige längs- und quergetroffene Nervenbündel dorsal-
wärts und lässt die dorsaleren Theile frei. Daher sind Fasern,
welche die Raphe überschreiten, nur im dorsalsten Theile der¬
selben vorhanden. Sie verlaufen wieder fast ausschliesslich wie
oben beschrieben.
Der linke Facialiskern und sein intracerebraler Verlauf
sind intact, ebenso Acusticuswurzel, Strickkörper und spinale
Trigeminuswurzel. Rechts sind letztere zwei Gebilde etwas
faserärmer. An die rechte Seite legt sich ventral ein der Brücke
angehörender Streifen an, der ganz in Geschwulstgewebe um¬
gewandelt ist.
In der Ebene der Abducenskerne hat die Geschwulst
die rechte Seite des Hirnstammes nach oben und aussen
bedeutend ausgedehnt. Am Boden des IV. Ventrikels liegt
rechts und links in der ganzen Ausdehnung Geschwulst¬
gewebe. Links bildet es nur einen Streifen, unter dem dife auf¬
steigende Facialiswurzel, das hintere Längsbündel, derAbducens-
kern mit seinen Wurzelfasern und die Substantia reticularis
gut erhalten sind. Alles, was lateral vom erhaltenen Facialis¬
kern liegt, ist intact. Der grosse Geschwulstknoten im ventralen
Theil ist gleich geblieben. Die Striae acusticae verlieren sich
schon am lateralen Rande in der Geschwulst. Rechts durchsetzt
die Geschwulst auch die dorsalen Theile der Haube, so dass
die aufsteigende Facialiswurzel und der austretende Schenkel,
die Substantia reticularis und das hintere Längsbündel faser¬
ärmer sind. Im Abducenskern sieht man nur einige Ganglien¬
zellen und Nervenfasern. Die weniger erhaltenen Fasern der
Abducenswurzel liegen inmitten der Geschwulst und sind dege-
nerirt. Links werden sie weit nach aussen gedrängt und
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162
Dr. Ernst Bischof!.
treten endlich auch in die Geschwulst ein. Die Geschwulst hat
sich rechts etwas vergrössert, daher sind die oben beschriebenen
Zerstörungen der Nervenfasern noch ausgiebiger.
Das Corpus trapezoideum ist daher rechts und links
vollständig unterbrochen. Die ventrodorsalen Fasern fehlen in
der Raphe gänzlich, nur im dorsalsten Theile derselben steigen
Fasern von links nach rechts in derselben auf. Von den Fasern
der Brücke sind nur im Stratum superficiale einige Bündel
enthalten.
Etwas proximal (Fig. 11) werden auch beide hinteren
Längsbündel von Geschwulstknoten durchwachsen. Von
den dorsalen Acusticuskernen sind beiderseits die grosszelligen
gut erhalten, die mediale Acusticuswurzel verläuft rechts durch
Geschwulstmassen, ist aber bis zum grosszelligen Kern zu ver¬
folgen. Links ist ihre Eintrittsstelle nicht geschädigt. Im
Corpus restiforme sind rechts einige Geschwulstknoten. Die
hier links und rechts sichtbaren austretenden Abducensfasern
sind nach Weigert-Pal gefärbt nicht als krankhaft verändert
erkennbar. In der rechten spinalen Trigeminuswurzel ist be¬
trächtlicher Faserschwund vorhanden.
In den unteren Ebenen derTrigeminuskerne (Fig. 12)
ist der links befindliche grosse Geschwulstknoten nahezu ver¬
schwunden. Nur in einem dorsalen medialen Dreieck sitzen
einige kleinere Geschwulstmassen, die das hintere Längsbündel
und Umgebung grossentheils zerstört haben. Die Schleife ist,
mit Ausnahme der medialsten Bündel frei, enthält aber im
Ganzen weniger Fasern als normal. Rechts sind nur Reste
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
163
vom hinteren Längsbünde], einige quergetroffene Fasern der
Substantia reticularis und der Schleife nahe der Raphe, wenige
Fasern des Stratum complexum und einige oberflächliche Pons*
bündel mit den dazwischen liegenden Pyramidenbündeln erhalten.
Der sensible und motorische Trigeminuskern liegt in einem
gleichmässigen geschwulstigen Zellgewebe, die austretenden
Trigeminusfasern sind spärlich und zum Theile schlecht gefärbt.
Am meisten ist der Zellhaufen des Locus coeruleus geschädigt.
Es sind in den distaleren Schnitten nur wenige Zellen kennt¬
lich. In den proximalen Schnitten sind sie besser erhalten.
Am oberen Ende des Quintusgebietes nimmt die
Geschwulst links noch weniger Raum ein. Das hintere Längs¬
bündel und die gekreuzte Trigeminuswurzel liegen
Pig. 12.
innerhalb ihres Bereiches und sind sehr faserarm. Die Fasern
des gekreuzten Quintus scheinen links alle aus dem Locus
coeruleus zu entspringen, während sie rechts in der Nähe des
sensiblen Trigeminuskernes verschwinden und nur zum Theile
vom Locus coeruleus ausgehen. In den medialen Schleifenbündeln
sind links einige scharf durch die fehlende Markscheidenfärbung
hervorgehoben, welche in distaleren Ebenen noch von Geschwulst¬
knoten durchwachsen waren. Auch in der Substantia reticularis
finden sich solche blasse Bündel. Die Ponsfaserung, der Binde¬
arm und die cerebrale Trigeminuswurzel, sowie der Locus coeru¬
leus sind intact. Rechts sind nur die oberflächlichen Brücken¬
bündel und ein ventral an der Raphe liegender dreieckiger
Abschnitt nicht erkrankt. Das Stratum complexum wird von
der Geschwulst bis an den äusseren Rand des Präparates durch-
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164
Dr. Ernst Bischof!.
wachsen, so dass nur wenige zerstreute Bündel zwischen den
einzelnen Knoten übrig bleiben. Das Stratum profundum ist
etwas besser erhalten, besonders in den medialen Theilen. Von
der Schleife sind nur nahe der Raphe einige zerstreute Fasern
sichtbar, die Substantia reticularis ist ebenso schwer geschädigt,
das hintere Längsbündel und die gekreuzte Quintuswurzel sind
gleich links. Das Brach, conjunct. ist von der Geschwulst durch¬
wuchert, die Fasern der cerebralen Trigeminuswurzel sind aus¬
einander gedrängt, die Zellen des Locus coeruleus nur verein¬
zelt sichtbar. Die in der Raphe ventrodorsal verlaufenden Fasern
sind nur im dorsalsten Theile in der Geschwulst zerstreut, sonst
normal.
Fig. 13.
In der Höhe der Trochleariskreuzung (Fig. 13) findet
man eine beginnende Degeneration der linken medialen Schleife,
sonst links normale Verhältnisse. Auch ist das hintere Längs¬
bündel, der Locus coeruleus und die dorsale Hälfte des Binde¬
armes gut erhalten, sonst keine Aenderung. Die Trochlearis-
wurzel ist rechts erst in höheren Schnitten getroffen und deut¬
lich sichtbar.
In der Ebene der vollen Bindearmkreuzung (Fig. 14)
reicht der Tumor rechts nur mehr in der Region der Schleife
bis zur Raphe und drängt die Fasern des Bindearmes dorsal,
die der Brücke ventral. Lateral nimmt die Geschwulst den
ganzen Raum in Anspruch, so dass von der Schleife keine Spur
zu sehen ist und die Bindearmfasern sich aussen alle in der
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
165
Geschwulst verlieren. Die quergetroffenen Bündel der rechten
Brücke sind theilweise weniger faserhältig. In der linken
medialen und lateralen Schleife sind degenerirte Fasern ent¬
halten, ebenso in beiden hinteren Längsbündeln.
Das Präparat reicht nur bis in die Höhe der Oculomo-
toriuskerne. Diese und die Wurzelfasern sind, so weit sie
verfolgt werden können, normal. Die Geschwulst occupirt rechts
die laterale Hälfte des Vierhügels und reicht noch so weit herab,
dass die Schleife ganz zerstört ist. Die äusseren Grenzen fallen
nicht mehr in das Bereich des Schnittes.
j _
Die Aetiologie der nicht tuberculösen oder syphilitischen
Geschwülste des Hirnstammes ist bekanntlich wenig erkannt.
Fig. 14.
Nur vom Schädeltrauma weiss man, dass es Veranlassung zur
Bildung einer solchen Geschwulst geben kann. Ein für diese
Annahme sehr gut verwendbarer Fall, der wegen seiner ana¬
tomischen Aehnlichkeit mit meinem ersten Falle hier erwähnt
werden möge, ist der Fall I von Küjnmel, in dem nach einem
Trauma mit Bewusstlosigkeit ein dumpfes Gefühl im Kopfe
dauernd zurückblieb und nach neun Monaten eine Parese des
VI. und VII. Hirnnerven als erstes Symptom einer „diffusen
Hypertrophie des Pons” auftrat. Auch die Fälle Ollivier’s und
Brun’s sind nach einem Trauma entstanden. Meistens war dieses
nicht sehr schwer, die ersten Tumorsymptome traten erst nach
Monaten auf. In meinem ersten Falle ist ein Trauma vorge¬
kommen, aber 14 Jahre vor der manifesten Erkrankung. Wenn
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166
Dr. Ernst Bisehoff.
sich auch ein Zusammenhang nicht ausschliessen lässt, wird
man doch ein anderes veranlassendes Moment unbekannter Natur
für den Ausbruch der Gewebswucherung verantwortlich machen
müssen, für die das Trauma vielleicht vorbereitend gewirkt
hat. Dass Kopftraumen Einfluss auf die Entstehung von Ge¬
schwülsten der Brücke und des verlängerten Markes haben, hat
Goldberg') mit der Thatsache in Verbindung gebracht, dass
Männer zweimal häufiger daran erkranken als Frauen. Von
den Gliomen dieser Gegend waren unter zwölf Fällen dreimal
Traumen als ziemlich sicheres ätiologisches Moment verzeichnet,
alle bei männlichen Kranken. Auch für die Syringomyelie hat
man mit Recht oft ein Trauma verantwortlich gemacht, doch
ist für diese die Annahme einer congenitalen abnormen Keim¬
anlage noch mehr in den Vordergrund getreten. In meinem
Falle kann man sich wohl gar keine anschauliche Vorstellung
von dieser Keimabnormität machen; dagegen wird man eine
enge Verwandtschaft der Gliome mit einem Theile der Höhlen¬
bildungen des Rückenmarkes auch aus diesem Falle erschliessen
müssen.
Der Fall Neurat begann mit linksseitiger Abducens-
und Faciälisparese, allgemeiner Ermüdbarkeit, dazu gesellte sich
allmählich eine Lähmung der Muskulatur der rechten Extremi¬
täten, complicirte Augenmuskellähmungen und Taubheit links,
Lähmung und Atrophie der Kaumuskeln links, der linken
Zungenhälfte, Hyperästhesie der linken Gesichtshälfte und der
rechten oberen Extremität, Ataxie des linken Armes, Steigerung
beider Patellarreflexe und kurz vor dem Tode Hyperästhesie der
rechten unteren Extremität. Vorübergehend waren neuralgische
Schmerzen in den Armen und im rechten Bein, Parese der
linken Extremitäten, Kopfschmerz, Bewusstseinsverlust und Brech¬
reiz. In der letzten Zeit Abnahme der Intelligenz und Som¬
nolenz.
Die anatomische Untersuchung ergab Läsion der
ganzen linken Hälfte der Brücke und des verlängerten Markes,
von den Faserzügen waren am stärksten geschädigt die Pyra-
fnidenbahn, der mittlere Kleinhirnstiel, die Schleife, deren
medialster Antheil am wenigsten erkrankt war, die Faserung
') Inaug. Dias. Jena 1888.
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 167
der unteren und oberen Olive und die laterale Formatio reti¬
cularis, von den Kernanhäufungen die Oliven, die distalen und
lateralen Ponskerne, die Ganglienzellen der Substantia reticu¬
laris, vom Trigeminus war nur die cerebrale Wurzel erhalten,
der motorische und sensible Kern und die Wurzeln schwer ge¬
schädigt. Der Abducenskern ist ziemlich wohl erhalten, der
Facialiskern zerstört. Vom Acusticus ist der accessorische
(vordere, ventrale) Kern am meisten, die übrigen Kerne alle
mehr minder erkrankt, Corpus trapezoides und Striae medulläres
ebenfalls. Hier ist auch die bedeutende Schädigung der linken
lateralen Schleife und des linken hinteren Vierhügels zu er¬
wähnen. Vom IX. bis XII. Hirnnerven sind die Kerne gut er¬
halten, Nur die spinale Glossopharyngeuswurzel ist in ihren
proximalen Theilen erkrankt. Die austretenden Fasern aller
Hirnnerven vom fünften nach abwärts sind links mehr oder
weniger in ihrem Verlaufe erkrankt. Kerne und Wurzelfasern
des III. und IV. Hirnnerven erscheinen normal. Der dorsale
Theil der Raphe ist in der Region des Abducenskernes erkrankt,
ebenso das linke hintere Längsbündel; beide werden oberhalb
des Trigeminuskernes wieder normal.
Der zweite Fall ist durch rascheren Verlauf ausge¬
zeichnet. Beginn mit Abducensparese rechts, wozu sich rasch
Facialisparese und Taubheit derselben Seite gesellen. Ein
Monat vor dem Tode Parese der Recti externi und interni
beider Augen, rechtsseitige totale Lähmung des Facialis, rechts
vollständige Taubheit, links Schwerhörigkeit, Parese und Ataxie
der linken Extremitäten, Abstumpfung der Sensibilität an der
linken Gesichts- und Körperhälfte und Pulsbeschleunigung.
Anatomisch bestand Erkrankung beider Hälften der obersten
Medulla oblongata und der rechten Hälfte des Pons, sowie des
rechten hinteren Vierhügels. Die Pyramidenstränge und die
Oliven, sowie die medialen Schleifen sind beiderseits erkrankt,
der Strickkörper ist links nicht, rechts wenig geschädigt, der
mittlere und obere Kleinhirnstiel rechts zum grössten Theile
unterbrochen. Links ist das Corpus trapezoides unterbrochen,
vom Abducenskern proximal sind beide hinteren Längsbündel
bis gegen die Trigeminusregion schwer erkrankt, die Hauben¬
region der Brücke ist rechts von der Geschwulst durchwachsen,
so dass die innere und die äussere Schleife ganz zerstört sind.
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168
Dr. Ernst Bischoft.
Die Brückenkerne sind rechts theilweise erkrankt, der Seiten¬
strangrest hier schon in der Hypoglossusgegend zerstört. In
der Raphe besteht Asymmetrie der Kreuzung, im oberen ver¬
längerten Mark ist die Raphe grossentheils zerstört.
Der XII. Hirnnerv ist beiderseits ziemlich intact, ebenso
sein Kern. Der X. rechts in seinen oberen Wurzelästen dege-
nerirt, seine Kerne erhalten. Der oberste Theil der linken spinalen
Glossopharyngeuswurzel ist erkrankt, die austretenden Fasern
des IX. Hirnnerven sind rechts theilweise degenerirt.
Die beiden Acusticuswurzeln sind rechts degenerirt, der
accessorische Kern ganz zerstört, der dreieckige Acusticuskern
erkrankt, der grosszellige erhalten, die Faserung des rechten
Corpus trapezoides unterbrochen, die Striae medulläres ebenso.
Links sind die Acusticuskerne ziemlich erhalten, das Corpus
trapezoides aber unterbrochen, der Striae acusticae erkrankt. Die
laterale Schleife ist links vorhanden, rechts zerstört. Die oberen
Oliven sind beiderseits nicht sichtbar. Der Facialiskern ist beider¬
seits erhalten, die Wurzel des rechten Facialis fast vollständig
unterbrochen, die des linken gut erhalten. Der Abducenskern
ist rechts grossentheils zerstört, der linke ziemlich normal, die
Wurzelfhsern beiderseits grösstentheils unterbrochen. Die Tri¬
geminuskerne sind links normal, rechts in Geschwulstgewebe
eingebettet, die spinale Trigeminuswurzel ist rechts etwas er¬
krankt, die Wurzelfasern verlaufen rechts durch Geschwulst¬
gewebe. Kerne und Wurzeln der Trochleares und Oculomotorii
sind normal. Secundäre Degeneration ist in beiden Fällen nur
in wenigen Faserzügen und auf kurze Strecken verfolgbar.
Für die nun durchzuführende kritische Vergleichung der
klinischen mit den anatomischen Ergebnissen ist es
nothwendig festzustellen, dass in beiden Fällen an allen von
der Geschwulst nicht direct betroffenen Theilen keine Functions¬
störung aufgetreten ist, dass die Geschwülste nur innerhalb
ihres Bereiches dauernde Symptome gesetzt haben, und das
nur bei vorgeschrittener Schädigung der functionirenden Sub¬
stanz. Man wird also die einzelnen Ausfallserscheinungen mit
ausserhalb der Geschwulst liegenden und mit den nur wenig
beschädigten Gebilden nicht in Zusammenhang bringen können.
Dieser Satz wird durch die ersten im Folgenden besprochenen
Punkte bestätigt. Motorische Störungen im Bereiche der
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
169
Extremitäten waren im ersten Falle Paralyse der rechten Extre¬
mitäten mit Reflexsteigerung entsprechend der starken diffusen
Schädigung der linksseitigen Pyramidenbahn. Von den linken
Extremitäten ist keine Störung der Muskelkraft notirt. Die
anatomisch nachgewiesene Erkrankung der rechten Pyramiden¬
bahn hat nur Steigerung des Patellarreflexes verursacht. Wegen
Fehlens von Contracturen durfte eine ausgebildete absteigende
Degeneration nicht erwartet werden. Die lange vor dem Tode
vorübergehend aufgetretene linksseitige Extremitätenparese ist
wohl durch den Process im Rückenmark zu erklären, der sich
mehr auf der linken Seite ausgebreitet hatte.
In meinem zweiten Falle bestand nur Parese links, ent¬
sprechend der stärkeren Erkrankung der rechten Pyramidenbahn
und beiderseitige Reflexsteigerung ohne Spasmen und Contrac¬
turen in Uebereinstimmung mit dem anatomischen Befund.
Im Gebiete der motorischen Hirnnerven bestand im
ersten Falle Hypoglossuslähmung auf Seite der Geschwulst, im
zweiten Falle fehlte sie. Das stimmt mit dem anatomischen Be¬
fund insofern überein, als die Geschwulst im ersten Falle tiefer
herabreichte.
In beiden Fällen war der Facialis auf Seite der Ge¬
schwulst in allen Aesten gelähmt. Es ist hervorzuheben, dass
im ersten Falle, trotz Zerstörung des Facialiskernes, im Augen-
ast eine geringe Functionstüchtigkeit geblieben war, was für
die seit Mendel’s 1 ) Untersuchungen angenommene Versorgung
derselben vom Oculomotoriuskern sprechen kann. Allerdings sind
auch die gekreuzten Wurzelfasern erhalten, denen man einen
Einfluss auf den Orbicularis oculi zuschreiben kann. Die voll¬
ständige Lähmung des Facialis im zweiten Falle hat ihr anato¬
misches Substrat in der Zerstörung der Wurzelfasern.
Einseitige Lähmung der Kaumuskeln, die im ersten
Falle als Folge der Zerstörung des motorischen Trigeminuskernes
und seiner Wurzel bestand, ist ein seltenes Vorkommniss bei Tumor.
Delbanco 2 ) hat in seiner Zusammenstellung keinen Fall erwähnt.
In jüngster Zeit sind in den Fällen Bristowe’s 5 ) und Jolly’s
Kaumuskellähmungen beschrieben.
') Neurol. Centralbl. 1887.
2 ) Iuaug. Diss. 1891.
'•’) Brain 1891.
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd.
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170
Dr. Ernst Bisehoff
Im Falle Sommer bestand keine Störung der Kaumuskulatur.
Die Augenmuskellähmungen, welche schon seit mehr
als 40 Jahren ein wichtiges Capitel unter den Symptomen der
ßriickenerkrankungen sind, erscheinen auch in meinen Fällen
der genaueren Berücksichtigung werth, wenn auch die Kranken¬
geschichten nicht alle erwünschten Auskünfte geben.
Im Falle N e urat bestand anfangs isolirte Abducenslähmung
links und Nystagmus beim . Blicke nach rechts. Später wurde
wieder Nystagmus constatirt, Abducenslähmung links, unvoll¬
kommene Einwärtsbewegung des rechten Auges bei conjugirtem
Blick nach links, was gegen die frühere secundäre Ablenkung
nach innen sehr contrastirt und endlich Parese des rechten Ab-
ducens, sowie Nystagmus beim Blicke nach rechts.
Aus der Bemerkung in der Krankengeschichte des zweiten
Falles, Lähmung beider Recti externi und interni, kann map
den begründeten Schluss ziehen, dass eine doppelseitige
Blicklähmung bestanden habe, da sicher keine anderweitige
Augenmuskelstörung bestand und auch anatomisch die Kerne
und Wurzelfasern des Oculomotorius intact befunden wurden.
Die diagnostische Wichtigkeit der Lähmung der conjugirten
Augenbewegungen wurde schon 1856 in Frankreich betont. In
Deutschland hat zuerst Wernicke') den Satz aufgestellt, dass
die conjugirte Blicklähmung durch Zerstörung des Abducens-
kernes verursacht werde. Er konnte in der Literatur nur einen
einwandfreien Fall zur Unterstützung dieser These finden. 1878
hat Graux 2 ) fünf neue brauchbare Fälle mitgetheilt und an der
Hand derselben, sowie histologischer Untersuchungen und einer
Reihe von Thierexperimenten die Thesen aufgestellt, dass die
seitlichen conjugirten Augenbewegungen vom Abducenskern
aus innervirt werden, die Convergenzbewegungen aber vom
Oculomotoriuskern und dass ein Faserzug am Boden des IV. Ven¬
trikels die Verbindung des VI. mit dem gekreuzten III. Ner¬
venkerne herstelle (als bewiesen nur bei der Katze angenommen).
Kahler schloss sich dieser Annahme an, während Edinger 3 )
und Gudden 4 ) die Verbindung durch des hintere Längsbündel
*) Aroh. f. Psych., VII.
2 ) De la paralysie du moteur oculaire externe etc. Paris 1878.
3 ; Vorlesungen etc.
4 ) Ges. Abhandl.
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Zwei Geschwülste Ger Brücke und ries verlängerten Markes. 171
für nicht bewiesen hielten. 1891 hat Delbanco in seiner stati¬
stischen Arbeit über Ponstumoren 15 Fälle zusammengestellt,
die dieses Symptom zeigten, und dabei der Ansicht Hunnius 1 )
Erwähnung gethan, dass eine gemeinsame Bahn vom Grosshirn
herab für die Innervation der conjugirten Blickbewegungen be¬
stehe, so dass eine Blicklähmung auch durch Läsion des oberen
Neurons entstehen könne. Da sein Fall nur zehn Tage lebte,
hat er geringe Beweiskraft. Dagegen findet er unter 18 Fällen
einige, die beweisen, dass ein Centrum für die conjugirten Augen¬
bewegungen in nächster Nähe des Abducenskernes liege. Ein
Fall, den Delbanco citirt, 2 ) ist geeignet, neue Schwierigkeiten
zu bereiten: Ein erbsengrosser Tumor in der Medulla oblongata
bewirkte eonjugirte Blicklähmung. Quiocq nahm daher das Cen¬
trum unterhalb des Abducenskernes an. Dieselbe Annahme
machte Senator (cit. bei Jolly) gelegentlich eines Falles, wo die
Läsion vom spinalen Ende des Abducenskernes nach abwärts
reichte.
Auf Grund dieses Befundes und eines Falles von Siemer-
ling, 3 )der aber wegen anderweitiger Augenmuskelstörungen nicht
ganz einwandfrei erscheint, hat Jolly 4 ) die Hypothese vorge¬
bracht, dass vom gemeinsamen Centrum in der Vierhügelgegend
eine geschlossene Bahn bis unterhalb des Abducenskernes her¬
absteigen, umbiegen und den Abducenskern berührend wieder
aufwärts steigen könnte. Die letztere Hypothese ist geeignet,
für alle Fälle eine Erklärung zu geben, es bestehen aber doch
keine Beweise dafür, es sei denn, dass mau die Resultate einiger
Experimente Graux’ 5 ) zu Gunsten derselben auslegt. Graux hat
nämlich unmittelbar nach Verletzungen der dorsalen Theile der
Medulla oblongata einige Millimeter unterhalb des Abducens¬
kernes eine Deviation der Augen nach der verletzten Seite ge¬
funden. Da die Thiere (Hunde) immer kurz nach der Operation
starben, konnte das Symptom nicht weiter verfolgt werden. Man
könnte sich vorstellen, dass durch die plötzliche Durchtrennung
der von Jolly supponirten nervösen Schlinge eine vorübergehende
*) Zur Symptomatologie der Brückeuerkr. 1881.
2) Quiocq, Lyon med. 1881.
3 ) Arcb. f. Psych. XXII.
4 ) Arch. f. Psych. XXIV.
s; 1. c.
12 *
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172
Dr. Grast Bisohoff.
Reizung der Fasern und eventuell eingeschalteten Ganglienzellen
nnd dadurch die tonische Contraction der entsprechenden Mus¬
keln hervorgerufen werde. Weil aber Granx bei successiver Ver¬
letzung, die von obiger Stelle bis in den Abducenskern vordrang,
im Momente der Zerstörung des Abducenskernes ein Umschlagen
der Deviation auf die andere Seite beobachtete, ist man ge¬
zwungen, doch wieder in nächster Nähe des Abducenskernes
oder in diesem ein Centrum für die conjugirte Bewegung anzu¬
nehmen, denn sonst hätte der contralaterale Rectus internus in
seiner Contractur weiter verharren müssen.
In den letzten Jahren erfuhr das besprochene Capitel noch
eine Bereicherung durch zwei Fälle von Lähmung der
conjugirten Bewegungen nach beiden Seiten. Der eine
ist von Bristowe') mitgetheilt und dadurch interessant, dass
anfangs associirte Deviation der Augen nach links bestand. Die
Obduction, deren Ergebniss nur kurz mitgetheilt ist, ergab einen
walnussgrossen Tumor in der Brücke, der den Boden des IV. Ven¬
trikels etwas vordrängte. Der andere ist der Fall Kolisch’, 2 )
in dem sich Zerstörung des Abducenskernes rechts, Verdrängung
links und proximal bedeutende Schädigung beider hinteren Längs¬
bündel fand.
Mit der Annahme, dass in Verletzungen des Abducens¬
kernes die Ursache der Blicklähmung zu suchen sei, sind meine
Fälle leicht in Uebereinstimmung zu bringen.
Im ersten Falle war entsprechend der angedeuteten Blick¬
lähmung nach links der linke Abducenskern im Ganzen in ein
queres Oval verzerrt, etwas infiltrirt und von unten in geringer
Entfernung von Geschwulstmassen umgeben. Der rechte Ab¬
ducenskern dagegen war gesund, ebenso die hinteren Längs¬
bündel in ihrem proximalen Verlaufe nirgends in unmittelbarer
Berührung mit der Geschwulst. Das Symptom der Blickparese
war allerdings durch die Abducenswurzelerkrankung getrübt.
Im zweiten Falle bestand schwere Erkrankung beider Ab-
dncenswurzeln und des rechten Abducenskernes. Bald oberhalb
sind aber beide Längsbündel stark lädirt, so dass etwa dieselben
Verhältnisse bestehen wie im Falle Kolisch’. Immerhin ist die
Betrachtung sowohl des ersten, als auch des zweiten Falles und
') Brain 1891.
Wiener Klin. Woehensehr. 1893.
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
173
ihre Vergleichung von Interesse. Die Zerstörung beider hinterer
Längsbündel hatte im zweiten Falle genügt, die Einwärtswendung
beider Augen bei conjugirten Bewegungen unmöglich zu machen.
Durch das Zusammentreffen dieser Zerstörung der hinteren
Längsbündel mit Zerstörung des Abducenskernes der einen und
der Abducenswurzeln beider Seiten kam das Bild der doppel¬
seitigen Blicklähmung für Seitwärtsbewegungen zu Stande. Im
ersten Falle hatte dagegen die Erkrankung des linken Abducens¬
kernes nicht nur Lähmung des gleichseitigen Musculus rectus
externus, sondern auch Störungen in der Function des gekreuzten
Musculus rectus internus bei conjugirter Bewegung nach links
bewirkt
Nach den bisherigen Erfahrungen wird eine Entscheidung,
welche der oben angeführten Hypothese der Wahrheit entspricht,
auf dem Wege der klinischen und pathologisch-anatomischen
Beobachtung wohl nicht zu treffen sein. Eine genauere Kennt-
niss des anatomischen Aufbaues und der Functionsart müssten
da zu Hilfe kommen.
Die Convergenzbewegungen, welche nach ziemlich über¬
einstimmender Angabe bei conjugirter Blicklähmung nicht ge¬
stört ist und auch bei der doppelseitigen Blicklähmung Kolisch’
als erhalten angegeben ist, ist in meinen Krankengeschichten
nicht erwähnt. Wichtige Beiträge zu dem obigen Capitel können
auch durch genaue Beobachtungen über Abschwächung der In¬
nervation einer associirten Augenbewegung geliefert werden.
Nystagmus erscheint oft in Gesellschaft derselben und war auch
in meinem Falle I vorhanden. Ueber reflectorische Augenbewe¬
gungen geben meine Fälle keinen Aufschluss. Aus den mit-*
getheilten drei Fällen doppelseitiger Blicklähmung
geht hervor, dass eine Erkrankung der Abducens-
wurzel verbunden mit Erkrankung des proximalen
hinteren Längsbündels oder seiner Umgebung auch
ohne Kernläsion des Abducens das Symptom der Blick¬
lähmung erzeugt.
Störungen der Sensibilität bestanden in beiden Fällen.
Im Falle Neurat bestand alternirende Hypästhesie im Gesichte
links, verbunden mit Anästhesie der Cornea und der Znngen-
hälfte, und an den Extremitäten rechts in geringerem Grade.
Die Anästhesie im Gesichte ist die Folge der Kern- und Wurzel-
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174
I)r. Frust HiscliotT.
erkraukung des Trigeminus, die Hypästhesie der Extremitäten
ist durch die theilweise Läsion der linken Schleife in ihrem
ganzen Verlaufe durch die Brücke erklärt.
Im Falle Sommer bestand eine Hypästhesie und Hypalgesie
der ganzen linken Körperhälfte mit Einschluss des Gesichtes'.
Die totale Zerstörung der medialen Schleife auf der rechten
Seite, sowie der umgebenden Haubenbahnen, welche bis in die
Vierhügelgegend hinaufreicht, macht diesen Befund verständlich;
so wie die sensiblen Bahnen von den Extremitäten und vom
Rumpf sind auch die aus dem Gesichte kommenden Fasern erst
nach der Kreuzung in ihrem centripetalen Verlaufe unterbrochen.
Eine andere Erklärung, etwa durch Annahme einer Unterbrechung
während der Kreuzung, ist sehr unwahrscheinlich, weil dann in
der anderen Gesichtshälfte auch Störungen erwartet werden
müssten, deren die Raphe überschreitende Fasern einen viel
weiteren Weg durch die Geschwulst zurückzulegen haben. Sehr
ähnlich diesem Falle ist Fall 7 von Delbanco: 1 ) Anästhesie des
Gesichtes und der Extremitäten rechts, Facialisparalyse links,
motorische Lähmung der Extremitäten rechts. Complicirter und
in der Deutung anfechtbar ist Wernicke’s Fall: 2 ) Tonischer Krampf
im linken Masseter und Sensibilitätsabstumpfung im Gesichte
und am behaarten Kopfe rechts bis in den Nacken. Die Tuberkel
lag links unter dem Boden des Ventrikels, sein oberes Ende
hatte die gekreuzte Quintuswurzel unterbrochen, die in der
rechten Hälfte degenerirt war.
Diese Degeneration sollte die Ursache der Anästhesie
sein. Man kann aber heute der gekreuzten Wurzel eine so
wichtige Rolle in der sensiblen Leitung nicht zusprechen. Auch
hier könnte man eher eine Unterbrechung in der Haube nach
der Kreuzung der- sensiblen Wurzeln oder des proximalen
Neurons annehmen, die durch den in oberer Olivenhöhe viel
umfangreicheren Tumor verursacht wäre, wenn man nicht zur
Eventualität einer functionellen Lähmung seine Zuflucht nimmt,
die wegen der Ausdehnung der Anästhesie bis in den Nacken
immerhin möglich erscheint.
Entsprechend den Resultaten der neuesten Forschung war
im ersten Falle durch die Wurzelläsion des Trigeminus sowohl
') Finny, Dublin Journ. 1889.
2 ) Arfb. f. Psych. VII.
♦
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Zwei Geschwülste der Brücke nud des verlängerten Markes. 175
Anästhesie als Geschmacksstörung erzeugt worden, während
die Intactheit des Geschmackes im zweiten Falle auf centrale
Localisation der Trigeminasaffection hinweist.
Meine Fälle bieten also keinen Anhaltspunkt für die An.
nähme, dass die Zerstörung der gekreuzten Trigeminuswurzel
am Boden des IV. Ventrikels ein Symptom von Seite des moto¬
rischen oder sensiblen Trigeminus erzeugen würde. Dagegen
sprechen sie dafür, dass auch die Geschmacksfasern gemeinsam
mit dem Trigeminus ins Gehirn eintreten. Im Gegensätze zu der
Störung sowohl der Sensibilität als auch des Geschmackes im
ersten Falle bei Wurzelläsion, war durch die Zerstörung in der
gekreuzten Haube im zweiten Falle nur Störung der Sensibilität
im Gesichte entstanden, während die Kaumuskeln und der Ge¬
schmackssinn nicht gestört waren. Offenbar sind die sensiblen
centralen Trigeminusfasern an einer Stelle unterbrochen worden,
wo sie schon getrennt von den motorischen und den Geschmacks¬
fasern verlaufen.
Dieser Fall bietet endlich ein schönes Beispiel einer cen¬
tralen Störung des Quintus und beweist, dass auch bei Erkran¬
kungen in der Brücke gleichseitige Sensibilitätsstörungen in
Gesicht und Extremitäten auftreten können, ohne dass die Sen¬
sibilität im Gesichte auf der Seite der Läsion gestört ist.
Der auffallende Befund von Hautnarben auf der linken
Brust, der im Sectionsprotokolle des ersten Falles verzeichnet
ist, in Verbindung gebracht mit der bestehenden Syringomyelie,
legt die Annahme nahe, dass eine Thermoanästhesie daselbst
bestanden haben könne, welche durch die Erkrankung der
hinteren Wurzeleinstrahlung und der grauen Substanz hin¬
reichend erklärt wird, ebenso wie die Verengerung der linken
Pupille am natürlichsten durch Affection der linken Sym-
pathicusfasern daselbst erklärt werden kann.
Ataxie bestand in beiden Fällen. Wegen der vollständigen
Lähmung der rechten Extremitäten im ersten Falle muss die
Frage offen bleiben, ob sie ataktisch waren. Die anamnestische
Angabe von Ungeschicklichkeit der rechten Hand deutet darauf
hin, dass entsprechend der ausgedehnten Erkrankung der
linken Haube rechts Ataxie bestanden habe. Die leichte Ataxie
der linken Hand kann mit verschiedenen Veränderungen erklärt
werden. Am einfachsten erscheint es, die Höhlenbildung in der
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176
I)r. Ernst Bischoff.
linken hinteren Wurzelregion im Cervicalmark dafür verant¬
wortlich zu machen. Dabei muss aber auffallen, dass die Sensi¬
bilität dieser Extremität nicht als gestört angegeben ist. Gerade
bei Erkrankung der hinteren Wurzeln müsste man ein enges
Zusammengehen dieser zwei Symptome erwarten. Die von
Moeli und Marinesco') mit der Ataxie in Zusammenhang ge¬
brachte Stelle der Haube war rechts gesund; dagegen ist das
Kleinhirnmark, der Brückenarm und der Strickkörper links
stark erkrankt, welche mit der Regulirung der Bewegungen
der gleichen Körperseite in Beziehung stehen, wie das nach
den Versuchen von Luciani, Ferner und Turner, Rüssel u. s. w.
feststeht. Die von Marchi, Biedl und Pellizzi gefundenen, ab¬
steigend degenerirenden Kleinhirnbahnen waren in meinem
Falle gewiss auch erkrankt. Ich muss diese Frage wegen der
Complicirtheit der Verhältnisse unbeantwortet lassen, besonders
weil im zweiten Falle trotz Läsion des rechten oberen und
mittleren Kleinhirnstieles und eines Theiles der Kleinhirnseiten¬
strangbahn rechts keine Ataxie bestand.
Da man über die Entstehungsart der Ataxie noch sehr im
Unklaren ist, muss dieses Symptom, das hier, wie nur selten,
ohne Sensibilitätsstörung aufgetreten ist, hervorgehoben werden.
Hofstetter 2 ) hat in einem Falle ohne Sensibilitätsstörungen die
Ataxie als rein motorische Störung aufgefasst, als Folge einer
ruckartigen Contraction der einzelnen Muskeln. Es scheint
aber, dass die Ataxie immer mit diesen Contractionen einher¬
gehen muss, dass also kein Grund vorliegt, den Fall Hofstetter’s
besonders zu unterscheiden. Im Obductionsbefnnde erscheinen
dort auch die Haubenbahnen geschädigt.
Im Falle Sommer waren die linken Extremitäten deut¬
lich ataktisch. Man wird dieses Symptom wohl ohne Wider¬
spruch der ausgedehnten Schädigung der rechten Haube zu¬
schreiben können. Die von Moeli und Marinesco durchgeführte
Trennung der Localisation von sensiblen und ataktischen Sym¬
ptomen kann an meinen Fällen wegen der grossen Ausdehnung
der Geschwülste nicht geprüft werden.
In beiden Fällen war das Sehvermögen gut erhalten,
bestand keine Stauungspapille.
>) Aroh. f. Psych. XXIV.
2 ) Inaug. Disfi. Zürich.
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Zwei Geschwülste Her Hrüeke mul des verlängerten Markes.
177
Im ersten Falle bestand Taubheit links, entsprechend der
Acnsticuserkrankung. Die Erkrankung der linken lateralen
Schleife und des linken hinteren Vierhügels hätte auch eine
Abnahme der Hörfähigkeit am rechten Ohr erwarten lassen.
Genaue Angaben darüber fehlen, doch deutet die Angabe des
Kranken, dass sein Gehör immer schlechter geworden sei, an,
dass die Leitungsfähigkeit beider Acusticusbahnen gelitten habe.
Im zweiten Falle bestand Taubheit rechts, Schwerhörig¬
keit links, in Uebereinstimmung mit der Schwere der Erkrankung
der beiden Acusticuskerne. Es ist auffallend, dass die schwere
Erkrankung der rechten lateralen Schleife und des rechten
hinteren Vierhügels nur Schwerhörigkeit links .verursachte.
Doch ist, wie im ersten Falle, die Hörfahigkeit progressiv ge¬
schwunden und in den letzten Krankheitstagen nicht geprüft.
Jedenfalls sprechen auch diese Verhältnisse dafür, dass man in
derartigen Geschwülsten einem auch nur theilweise erhaltenen
Faserbündel noch Functionsfähigkeit zusprechen muss, wie das
an den Pyramiden, den Schleifen, den Trigeminuswurzeln in
einem oder dem anderen meiner Fälle zu constatiren ist. Ver¬
tigo ist im Falle Sommer sehr ausgesprochen und als seltenes
Vorkommniss bei Intactheit des Kleinhirns hervorzuheben. Die
Erkrankung des N. vestibularis, aber auch die bekannte
Neigung Tumorkranker zu Schwindel erklären dieses Symptom.
Das Romberg’sche Phänomen kann mit der Erkrankung des
rechten Bin^earmes erklärt werden. Die Neigung, nach der
linken Seite zu gehen und zu fallen, entspricht den neueren
Resultaten bei Exstirpation einer Kleinhirnhemisphäre, kann
aber in unserem Falle gegen die Erklärung dieses Symptomes
durch Rüssel 1) angeführt werden, dass nämlich die Abweichung
nach der gekreuzten Seite durch das Bestreben entstehe, die
der Läsion entsprechende Körperseite möglichst zu entlasten.
In meinem Falle bestand wegen der Parese links jedenfalls das
Bestreben, das linke Bein zu entlasten und doch Neigung, nach
links zu gehen.
An den anatomischen Befunden ist der fast völlige
Mangel des Nachweises secundärer Degenerationen her¬
vorzuheben. Dasselbe Resultat ist schon wiederholt mitgetheilt
1 ) Philosophical Transactions 1894.
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178
Dr. Ernst Bischoff.
worden, und die Erklärung dafür darin gesucht, dass auch in
den scheinbar ganz des Nervengewebes beraubten Theilen noch
Nervenfasern liegen dürften, die nicht nachweisbar sind, und
dass andere Faserzüge an den Rändern der Geschwulst zu-
sammengedrängt und nicht mehr richtig erkannt würden. Das
Fortbestehen von Nervenfasern in der Geschwulst konnte in
meinen beiden Fällen nachgewiesen werden, und es ist erwäh-
nenswerth, dass diese Fasern sich oft nach der Methode der
Markscheidenfärbung nicht gefärbt hatten und deshalb nur
bei genauer Besichtigung erkennbar waren. Es ist aber auch
zu betonen, dass geringe Grade und der Beginn secundärer
Degenerationen an solchen Präparaten schwer und oft gar nicht
erkannt werden, was man an Vergleichung mit Märchi-Färbung
schon oft gefunden hat. Wegen dieser Unsicherheit in der Be¬
urteilung und wegen der Unregelmässigkeit der Zustände, in
denen sich die einzelnen Faserzüge in meinen Fällen befanden,
habe ich auf eine Verfolgung und Ausnützung dieser Verhält¬
nisse zu Untersuchungen über den normalen Aufbau des
Organes verzichtet. Durch die in Geschwülsten auftretenden
Verschiebungen und Richtungsänderungen wird die Möglichkeit
grober Täuschungen sehr gesteigert. Die in der Arbeit Geb-
hard’s ') versuchte Erklärung der raschen Erholung des (schein¬
bar) ganz unterbrochenen Pyramidenstranges unterhalb der
Unterbrechung durch Zuzug neuer Fasern aus der Brücke steht
sowohl mit den Ergebnissen der anatomischen Forschungen in
Widerspruch, als auch mit meinem zweiten Falle, in dem die
Pyramidenfasern bis weit ins verlängerte Mark durch Geschwulst
rings umgeben und von der Brückenfaserung getrennt waren
und doch unterhalb der Geschwulst nur geringe Veränderungen
zeigten. Zudem bestand die Lähmung in Gebhard’s Fall nur
drei Monate, und aus den Ergebnissen vieler Beobachtungen
geht hervor, dass das Bild der anatomischen Veränderungen in
der Geschwulst viel hochgradigere Zerstörungen vermnthen lässt,
als sie vorhanden waren. Man kann also seinen Befund durch
die Annahmen erklären, dass erstens erhalten gewesene Fasern
nicht nachgewiesen werden und zweitens die Degeneration schon
weiter vorgeschritten war. als es den Anschein hatte. Man ist
') Inaug. Dias. Halle 1887.
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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes.
179
ja noch weit davon entfernt, eine functionsfähige Nervenfaser
von einer nicht leitungsfähigen immer unterscheiden zu können.
So kann ein Nervenbündel von ganz normalem Aussehen sein,
bei Weigert-Färbung keine abnormen Markscheidenbilder und bei
Carminfarbung normale Axencylinder zeigen, und dennoch nicht
mehr functionsfähig sein. Die Thatsache, dass man in den Ge¬
schwülsten oft von einer nervösen Bahn, die sicher noch func-
tionirt hat, fast keine Spur auffinden kann, und andererseits in
nächster Nähe des Herdes scheinbar wohlerhaltene Bahnen
sieht, die gewiss keinen Nervenstrom mehr geleitet haben,
zwingt zu dem Schlüsse, dass eine geringere Schädigung der
Function in den Präparaten viel deutlicher zum Ausdrucke
kommen kann als eine grössere, je nach der Stelle, wo die
Untersuchung ausgeführt wird.
Zum Schlüsse habe ich noch eine angenehme Pflicht zu
erfüllen, indem ich Herrn Professor Anton in Graz für die
Ueberlassung der Krankengeschichte und des Präparates des
aus der Meynert’schen Klinik stammenden ersten Falles meinen
besten Dank ausspreche.
Anmerkung: Aus Versehen ist im Text die Figur (i auf Seite 104 und
die Figur IS auf Seite 151 gesetzt worden. Die Abbildung auf Seite 1(54 bezieht
sieh auf den ersten, die Abbildung auf Seite 151 auf den zweiten Fall.
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(Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.)
Beitrag zur Kwintniss (los IMirium tremens.
Nach einem in der Sitzung des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien
vom 9. Juni 1896 gehaltenen Vortrage.
Von
Dr. Adolf Elzholz,
Assistent der Klinik.
Die Erörterungen, welche im Nachfolgenden sich mit dem
Delirium tremens beschäftigen, gründen sich im Wesentlichen
auf Befunde, welche durch dem psychiatrischen Forschungsgebiete
etwas ferner gelegene Methoden gewonnen wurden. Die An¬
regung zu den hier in Betracht kommenden Untersuchungen er¬
gab sich aus dem in der modernen Psychiatrie gewiss mit Recht
zur Geltung kommenden Bestreben, die Beziehungen zwischen
somatischen und psychischen Veränderungen, die Wechselwirkung
zwischen körperlichen und geistigen Abnormitäten an der Hand
neuer und anderen Disciplinen entlehnter Methoden zu untersuchen.
Dieser Gesichtspunkt, sowie der Umstand, dass die Häma¬
tologie, dieser Ableger der internen Medicin, auch auf vielen
anderen Gebieten medicinisclier Specialfacher in jüngster Zeit
das Bürgerrecht gewonnen, legten es mir nahe, die Blutbefunde
bei Psychosen mit den neueren Blutuntersuchungsmethoden zu
erheben.
Im Nachfolgenden werden hämatologische Befunde be¬
sprochen, die ich beim Delirium tremens, einer ohnehin von
markanten somatischen Erscheinungen begleiteten Psychose ge¬
wonnen habe. Ich werde mir erlauben, bei den bisher nur sehr
spärlich vorhandenen Beziehungen zwischen der Psychiatrie und
der Hämatologie mit einigen kurzen Bemerkungen das Ver-
ständniss der nachfolgenden Befunde vorzubereiten.
Die rotken Blutkörperchen als den durch die hier zu be¬
sprechende Krankheit wenig alterirten Bestandtheil des Blutes
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
181
lasse ich beiseite. Die folgenden Ausführungen beschäftigen
sich nur mit dem Verhalten der Leukocyten.
Für unsere Zwecke wird es genügen, drei Formen von
Leukocyten (wie sie auch dem normalen Blute zukommen) zu un¬
terscheiden. Nimmt man nach Ehrlich als Unterscheidungsprincip
das Fehlen oder Vorhandensein von Granulationen in dem Proto¬
plasma der Zellen an, so hätten wir zunächst Zellen mit und Zellen
ohne Granulationen auseinanderzuhalten. Die letzteren können wir
mit der generellen Bezeichnung der mononucleären Leukocyten
zusammenfassen. In den mit dem Ehrlich’schen Drei-Farben¬
gemisch gewonnenen Präparaten sind letztere durch einen bald
kleineren, bald grösseren intensiv bläulich grünen bis schwach
bläulich violetten Kern mit bald kaum sichtbarer, bald reich¬
licher Protoplasmaumhüllung gekennzeichnet, letztere ist frei von
färbbaren Körnelungen. Der Kern dieser Zellen ist bald rund,
bald oval oder zeigt Einkerbungen. Diese Zellen sind ver¬
schieden gross; sie sind kleiner, grösser und bis zweieinhalbmal
so gross wie ein rothes Blutkörperchen.
Die Zellen, deren Protoplasma Granulationen aufweist,
zerfallen je nachdem, ob letztere sich mit neutralen Farbstoffen
oder mit sauren tingiren, in neutrophile und acidophile Leukocyten.
In den mit dem Ehrlich’schen Triacidgemisch gefärbten
Präparaten präsentiren sich die neutrophilen Leukocyten als
bald grössere, bald kleinere, die Erytrocyten an Grösse jedoch
stets überragende Zellen, deren Kern vielgestaltig oder mehr¬
fach und deren Protoplasma von einer feinen, ungleichmässigen,
röthlich violetten Körnelung erfüllt ist, die acidophilen Zellen
unter dem geläufigeren Namen der eosinophilen bekannt als
Leukocyten von ähnlichen Charakteren, wie bei den vorge¬
nannten, nur sind hier die eingelagerten Granula viel grösser,
zumeist gleichmässiger und zeigen eine ziegelrothe Färbung.
Diese drei Leukocytenarten, namentlich ihre numerischen
Procentverhältnisse im Verlaufe des Delirium alcoholicum waren
das Object meiner Untersuchungen.
Im Beginn derselben bediente ich mich hierzu gleichzeitig der
Zählung im Ehrlich’schen Trockenpräparate und meiner 1 ) im
] ) Elzholz, Neue Methode zur Bestimmung der absoluten Zahlenwerthe der
einzelnen Leukocytenarten im Kubikmillimeter Blut. Wiener Klinische Wochen¬
schrift Nr. 82, 1894.
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Dr. Adolf Elzholz.
Mai 1894 in der Gesellschaft der Aerzte mitgetkeilten Methode
und dies, um absolut zuverlässige Resultate zu erzielen; als ich mich
aber überzeugte, dass die durch beide Methoden erhaltenen
Zahlen manchmal gar nicht, in einzelnen Fällen nur um wenige
Procente differirten, Procentzahlen, die bei den von mir gefun*
denen Werthen gar nicht in Betracht kamen, beschränkte ich
mich auf Zählungen mit meiner Methode* durch die ich gleich*
zeitig in die Lage versetzt war, die absoluten Zahlenwerthe der
einzelnen Leükocytenarten und deren Summen im Kubikmilli¬
meter Blut zu bestimmen.')
Indem ich nun zur Besprechung der Befunde übergehe,
möchte ich noch feststellen, in welcher Weise ich die gewonnenen
Zahlen der angeführten Leükocytenarten zu Schlüssen verwerthe.
Ich halte mir zunächst hierbei die Normalzahlen der einzelnen
Leükocytenarten vor Augen, was allerdings bei der Verschieden¬
heit der darauf bezüglichen Angaben der einzelnen Autoren
einige Schwierigkeiten hat. Um diesen möglichst einwandsfrei
zu begegnen, will ich die Procentzahlen von 66 bis 73 Procent
bei den polynucleären Neutrophilen, von 24 bis 32 Procent bei
den Mononucleären, einschliesslich der nicht granulirten Ueber-
gangsformen und von 1'5 bis 4-5 Procent bei den eosinophilen
Zellen als in der Gesundheitsbreite schwankend annehmen.
Wichtiger aber als dieser Gesichtspunkt des Vergleichens mit
normalen Zahlen ist unstreitig für die Verwerthung gewisser
Befunde als pathologischer Zeichen die Constatirung weitgehen¬
der Schwankungen in den Verhältnisszahlen der Leukocyten,
erstens bei einem und demselben Individuum, und zwar, wenn
diese Schritt für Schritt die sonstigen markanten Krankheits¬
phasen begleiten, und zweitens bei einer Reihe von Individuen,
die unter sonst gleichen Erscheinungen erkrankt sind und bei
denen diese Schwankungen eine bis zu einem gewissen Grade
gesetzmässige Richtung einhalten.
') Die seinerzeit gemachten Angaben, betreffend die Herstellung des Prä¬
parates nach meiner Methode, möchte ich heute in einem Punkte modificiren.
Es bezieht sich dies auf die Frage, wie lange man die Kammer stehen lassen
muss, bis alle Leukocytenformen genau differencirt sind; ich habe mich überzeugt,
dass es nöthig ist, die Leukocyten durch mehrere Stunden (vier bis fünf Stunden)
der Einwirkung des Farbengemisches auszusetzen, bis in allen neutrophilen
Leukocyten der violette Farbenton ihrer Körnungen manifest wird.
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Ans der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
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Die Resultate, zu denen ich gelangt bin, stützen sieh auf
16 von mir untersuchte Fälle von Delirium tremens; 1 ) bei ein¬
zelnen davon ist die Gestaltung der Zahlenverhältnisse ge¬
nannter Leukocytenformen durch Wochen verfolgt worden. Es
war in der Natur der mir gestellten Aufgabe begründet, dass
ich jene Fälle von Delirium in den Kreis meiner Untersuchungen
nicht einbezog, bei denen ein somatisches Leiden als provo-
catorisches Moment der Erkrankung vorlag; es würde ja dann
fraglich werden, ob die gewonnenen Resultate im Blutbilde der
Ausdruck der für die Psychose als ätiologisches Moment wirk¬
sam gewesenen somatischen Erkrankung sind, oder ein Abbild
der die Psychose begleitenden abnormen Vorgänge in den
Werkstätten der Blutbildung oder den blutführenden Organen
darzustellen haben.
Ich habe daher Fälle von Pneumonie, von Gelenksrheuma¬
tismus und sonstigen, durch unsere Untersuchungsmethoden
feststellbaren somatischen Erkrankungen, die von einem Delirium
complicirt waren, bis auf zwei Fälle in Ablauf begriffener
Pneumonie zu Controlzwecken, nicht berücksichtigt.
Eine ausführliche Mittheilung der Krankengeschichten und
eine sich daran anschliessende Citirung der Zahlen kann wohl
umgangen werden, nur im Allgemeinen sollen hier die Thatsachen
und die sich daraus ergebenden Schlüsse vorgeführt werden.
Die Details ergeben sich aus der beifolgenden Tabelle.
Zunächst wäre hier das Verhalten der Gesammtzahlen der
Leukocyten zu erwähnen. In sieben Fällen (T. Fall 1, 2, 3, 5,
6, 8, 11) fand sich eine Vermehrung der Leukocyten, und zwar
zusammenfallend mit der Höhe des Delirium, es sind dabei die
zwei Fälle (T. Fall 4 und 7) von Delirium bei nachweisbarer
Pneumonie nicht einbezogen; mit dem Abklingen des Delirium
nimmt die Zahl der Leukocyten ab, in zwei Fällen (Fall 1, 6),
wo die Zählungen an Tagen ausgeführt wurden, zwischen
welche sich der kritische Schlaf einschob, konnte ein sofortiges
extremes Sinken der Leukocytenzahl selbst bis unter die Norm
constatirt werden; in anderen Fällen (Fall 11) scheint die
niedrigste Zahl der Leukocyten erst allmählich erreicht zu
werden, worauf dann unter Schwankungen eine Aufwärts-
*} Siehe beigeschlossene Tabelle.
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Dr. Adolf Elzholz.
bewegung der Zahlen bis zu dem für das Individuum scheinbar
constanten Werth erfolgt. Die Leukocytosen sind hier nie be¬
sonders hochgradige, die Zahlen, die ich fand, schwankten
zwischen 8265 (Fall 3) und 14466 (Fall 6). Hierbei möchte ich
mir zu bemerken erlauben, dass die mit meiner Methode (durch
die es ermöglicht ist, den Gehalt an weissen Zellen in 9 /ioo
Kubikmillimeter nativen Blutes in einem Präparate zu bestim¬
men) 1 ) erhaltenen normalen Mittelwerthe der Leukocyten im
Kubikmillimeter Blut kleiner sind als die von anderen Au¬
toren angegebenen. Ich bin geneigt, Werthe von 6000 bis
7000 als normale, von 4500 bis 5000 als untere und 8000
als obere Grenzwerthe anzusehen. Diese Zahlen stehen am
nächsten den von Tumas 2 ) gefundenen. Schwerlich kann man
das Material, an dem ich arbeite, liiefür verantwortlich
machen, da ich auch bei kräftigen Wärtern und einigen an¬
deren gesunden Individuen keine höheren Werthe erhoben
habe. Nur in einem Falle (Fall 9), der in den erwähnten sieben
nicht enthalten ist, fand ich Leukocytose am vierten Tage nach
Beginn der Klärung, während am Tage meiner ersten Unter¬
suchung nur eine hohe Normalzahl zu constatiren war. Dass es
sich in all diesen Fällen um Leukocytenvermehrung handelte
und nicht um abnorm hohe, aber für die betreffenden Individuen
habituelle Werthe, ergab sich aus dem weiteren Verlaufe, der
ein mehr oder minder rasches Absinken der Leukocytenzahl
aufwies. Fragen wir uns nach den weiteren Eigenthümlichkeiten
der mit Leukocytenvermehrung einhergehenden Fälle, so wäre
hervorzuheben, dass es sich bei allen um schwerere Erscheinungs¬
formen des Delirium handelte.
Auf die Unterscheidung der Fälle in schwerere und
leichtere, auf die Kriterien, welche diese Unterscheidung zu
machen gestatten, werde ich noch etwas ausführlicher zurück¬
kommen.
Als zweite Besonderheit dieser Fälle ist das Verhalten
der Temperatur zu kennzeichnen. In vier (Fall 1, 2, 3, 6) von
den sieben Fällen bestanden während der Dauer des Delirium
') In der gewöhnliehen Zeiss’sehet) Kammer wird ‘/ioo Kubikmillimeter, nach
der Zappert’schen Methode in einem Präparate "/„*= 0009 Kubikmillimeter
nativen Blutes auf Leukocyten durchsucht.
-) Deutsches Archiv für klinische Medicin 1887, Bd. XU, S. 323.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
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Fieberbewegungen. In einem Falle stieg die Temperatur über
39 Grad, in den übrigen drei Fällen erreichte sie kaum 38 Grad
oder stieg etwas darüber. Ich glaube es nicht unterlassen zu
sollen, hier anzudeuten, dass unter den sieben Fällen von
Leukocytose ein fieberloser Fall (Fall 11) einen annähernd so
hohen Leukocytenwerth erreichte, wie ein anderer fiebernder
(Fall 1). Hingegen befand sich unter den ohne Leukocytose
verlaufenden Fällen kein einziger, der nachweisbar höher ge¬
fiebert hätte.
Nun wende ich mich der Besprechung der Verhältnisse
der verschiedenen Leukocytenarten auf der Höhe der Erkrankung
und während des Ablaufes derselben zu. Mit einer überraschen¬
den Gesetzmässigkeit wiederholen sich hier zunächst die Be¬
funde bei voll ausgebildetem Delirium in allen Fällen, bei denen
sich Gelegenheit bot, in diesem Stadium der Erkrankung das
Blut zu untersuchen. Ich fand ein auffallendes Ueberwiegen der
polynucleären, neutrophilen Leukocyten über die einkernigen.
Wir haben als Spielraum, innerhalb dessen die Werthe der
Polynucleären noch als normale gelten können, die Zahlen
66 bis 73 Procent angenommen; in den von mir untersuchten
Fällen ausgeprägten Deliriums betrugen 80 Procent das Mini¬
mum (Fall 11), 97-9 Procent das Maximum (Fall 5) der relativen
Werthe für die Neutrophilen, 18 Procent (Fall 11) das Maximum,
2-1 Procent (Fall 5) das Minimum für die der Mononucleären
bei einer für die Normalverhältnisse der letzteren festgesetzten
Amplitude von 24bis 32 Procent. Die Differenzen zwischen den von
mir erhaltenen Zahlen und den Normalzahlen sind so grosse, dass
man erstere zweifellos als pathologische bezeichnen, und bei
dem Umstande, als sie sich in der überwiegenden Zahl der
Fälle wiederholten, als dem Krankheitsbilde des Delirium alcohol.
zugehörig mit Recht ansehen kann. Eine kleine Einschränkung
muss allerdings das soeben Gesagte erfahren.
In zwei Fällen (Fall 13 und 15) waren diese Blutverän¬
derungen nicht so ausgeprägt; die Tendenz zu diesen Verän¬
derungen war jedoch nicht zu verkennen, es wurde in einem
Falle (Fall 15) die obere Grenze der Norm von 74 4 Procent
der Polynucleären und die unterste Grenze von 24*7 Procent
für die Mononucleären, in einem zweiten (Fall 12) 78-6 Procent
für die Polynucleären, 20-2 Procent für die Mononucleären
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 13
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Dr. Adolf Elzholz.
erreicht; doch bot es gerade ein besonderes und den auffälligen
Parallelismus zwischen psychischer Störung und den Blutver¬
änderungen beleuchtendes Interesse zu sehen, wie in diesen
beiden Fällen die Krankheitssymptome des Delirium nur ange¬
deutet waren. In beiden Fällen konnte der Rapport mit den
Kranken ohneweiters hergestellt werden; auf Fragen erfolgten
sofort prompte und concise Antworten, es bedurfte nicht inten¬
siverer Anregung ihrer Aufmerksamkeit, um von ihnen das Ge¬
wünschte zu erfahren, das Examen vollzog sich in gewöhnlichem
Conversationstone, die Hallucinationen, die, wenn die Kranken
sich überlassen waren, nicht fehlten, occupirten jedoch ihr Be¬
wusstsein in nur geringem Grade, so dass sie sich durch die
reellen Vorgänge leicht ablenken Hessen. Die geringere Inan¬
spruchnahme durch continuirliche Delirien documentirte sicli
ferner in dem Fehlen der bekannten beweglichen Geschäftigkeit,
in der relativen Sicherheit der Bewegungen, die Tremores
waren gering, es fehlten die Schweisse. So wusste der eine mit
den nahezu normalen Leukocytenwerthen, dass er sich im
Spitale befinde, er konnte das Datum richtig angeben und
machte sich über den Arzt lustig, dass es ihm gelungen,
ersterem den Glauben beizubringen, dass er ein Stück Brot für
eine Maus angesehen. Beide Fälle verliefen rasch und günstig.
Ich möchte mir noch zu bemerken erlauben, dass die Blutent¬
nahme in beiden Fällen des Nachts (um 9 Uhr) geschah, zu
einer Zeit, welche die Delirien begünstigt; auch war während
des Aufenthaltes beider Kranken in der Anstalt die Intensität
des Delirium nie stärker ausgeprägt als zur Zeit der Blutent¬
nahme.
Den Uebergang von den leichten zu den schwereren
Fällen und, wie dieser auch im Blutbefunde sich ausprägt, ist
folgender Fall zu illustriren geeignet (Fall 1); er betraf einen
Kranken, der bei seiner Ankunft fieberlos und trotz ausge¬
prägten Deliriums noch relativ klar war, namentlich mit schlag¬
fertiger Präcision anamnestische Angaben machte, die sich nach¬
träglich als durchaus correct erwiesen.
Bei der Ankunft dieses Kranken fand ich 79‘34 Procent
Polynucleäre und 19'27 Procent Mononucleäre, während die
Untersuchung am nächsten Tage, da er nach durchwachter
Nacht ein stärker getrübtes Bewusstsein, hochgradige Unruhe,
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
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profuse Schweisse, eine Temperatur von 38-2 Grad darbot und
es nicht möglich war, den Kranken auf die einfachsten Dinge
zu fixiren, 88 - 73 Procent Polynucleäre und 11 "27 Mononucleäre
feststellte.
Ein zweiter Fall (Fall 11), dessen Bewusstseinszustand
im Laufe eines Tages zwischen Vormittag und Abend eine ähn¬
liche Schwankung aufwies, sich aber durch den fieberlosen Ver¬
lauf von dem ersten unterschied, zeigte eine übrigens allen
übrigen Befunden zuwiderlaufende Tendenz, indem am Vormittag
bei einer Normalzahl von Leukocyten im Kubikmillimeter Blut
80 Procent Polynucleäre und 18 Procent Mononucleäre, Abends
auf der Höhe des Delirium bei einer Leukocytenzahl von 10133
64-3 Procent Polynucleäre und 34-6 Procent Mononucleäre, also
nahezu normale Verhältnisszahlen gefunden wurden; am darauf¬
folgenden Tage finden wir nach Eintritt des kritischen Schlafes
wiederum für das Delirium charakteristische Zahlen: 81*1 Procent
Polynucleäre, 17 3 Procent Mononucleäre. Ich glaubte diesen
Befund, der mit seinen nahezu normalen Verhältnisszahlen bei
einer bestehenden Leukocytose auf der Höhe des Delirium
unter allen Fällen eine Ausnahme bildet, der Vollständigkeit
halber hervorheben zu müssen und wäre versucht, auf diesen
den vielleicht trivialen Spruch anzuwenden, die Ausnahme be¬
stätigt die Regel.
Was geschieht nun im weiteren Verlaufe des Delirium?
Aus der darüber zusammengestellten Tabelle geht hervor,
dass innerhalb der ersten drei bis vier Tage ein Ueberwiegen
der Procentverhältnisse der Polynucleären zu Ungunsten der
Mononucleären zu constatiren ist, allerdings mit der Ver¬
schiebungstendenz der Zahlen nach der Richtung normaler Ver¬
hältnisse.
Das Eintreten des Schlafes, dieses oft kritischen Abschlusses
des Delirium, findet in den Zahlenverhältnissen dieser zwei
Leukocytenarten keinen stärker accentuirten Ausdruck. Am
dritten oder vierten Tage nach Ablauf des Delirium, d. i. nach
dem Momente, von welchem angefangen keine weiteren Hallu-
cinationen, keine neuen Delirien producirt werden, finden sich
auffallende Veränderungen des Blutbildes; es kommt zu einer
Umkehr der Verhältnisse, wie sie auf der Höhe des Delirium
vorherrschten; die Mononucleären erreichen sehr hohe, die
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Dr. Adolf Elzholz.
(von einem Falle, der in die erste Zeit meiner Untersuchungen
fiel, wurde die Temperatur nicht verzeichnet), zwei Fälle waren
fieberlos zur Zeit der Blutentnahme; von diesen sieben Fällen
wiesen fünf Fälle Vermehrung der Leukocyten auf, zwei Fälle
(Fall 14 und 16) boten ein normales numerisches Verhalten der
Leukocyten, es waren dies auch die zwei fieberlosen Fälle.
In diesen zwei Fällen fehlten eosinophile Zellen oder waren
in einer durch unsere Methoden der Blutzählung nicht nach¬
weisbaren Menge vorhanden, trotzdem weder Fieber noch Ver¬
mehrung der Leukocyten vorhanden waren, bekanntermassen
zwei Momente, welche auf die Eosinophilie des Blutes beein¬
trächtigend wirken.
Ein Fall (Fall 1), den ich schon bei Besprechung der
anderen Leukocytenformen erwähnte, war auch in Bezug auf das
Verhalten der eosinophilen Zellen bemerkens werth; am Tage der
Ankunft bot er Abends in lebhaft delirantem Zustande, aber mit
klarer Erinnerung für die Vergangenheit, bezüglich welcher er
detaillirte, prompte, vollständig correcte Angaben machte, bei
Fehlen von Fieber 1-39 Procent eosinophiler Zellen, am nächsten
Tage bei weiterem Ansteigen des Delirium fehlten die eosino¬
philen Zellen. —
Ich möchte aus einem weiter unten ersichtlichen Grunde
die schon früher nur angedeuteten psychischen Symptome
dieses Falles auf der Höhe des Delirium hier noch mit einigen
Worten näher ausführen. Während der Blutentnahme um 7 Uhr
Abends von Delirien ganz occupirt, hat Patient Gehörs-, Ge¬
sichts- und Tasthallucinationen, spricht und bewegt sich im
Sinne von Beschäftigungsdelirien, wobei sowohl sein früherer
Beruf als Volksschullehrer durch Tadel und Lob für seine
Schüler, als auch seine nachträgliche Beschäftigung als kleiner
Geschäftsmann durch Hantiren mit Nahrungsmitteln, durch Auf¬
räumen seines Geschäftslocales zur Geltung kommen; dabei ist
der Körper des Patienten von Schweiss bedeckt; es gelingt
nicht, seine Aufmerksamkeit für die einfachsten Fragen anzuregen,
die Antworten, die er gelegentlich ertheilt, knüpfen nicht an
den Inhalt der Frage an und sind nur Aeusserungen, die augen¬
scheinlich mit deliranten Erlebnissen in Beziehung stehen; die
wenigen anamnestischen Angaben, die auf eindringliches Fragen
erhältlich sind, sind falsch, nicht zutreffend. Während des Exa-
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Aus der psyehiatrisehen Klinik von Professor v. Wagner.
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mens muss Patient festgebalten werden, weil er in geschäftiger
Unruhe fortdrängt. Am ganzen Körper laufen zitternde Bewe¬
gungen ab, die Temperatur ist 38 2 Grad. —
Ich habe hier den Symptomencomplex skizzirt, um besonders
einen Umstand hervorzuheben, der gewisse Bewusstseinszustände
bei Delirium alcohol. betrifft, Bewusstseinszustände, die, so weit ich
mich über das Krankheitsbild dieser Erkrankung aus den ver¬
schiedenen Lehrbüchern informiren konnte, nirgends eine Wür¬
digung erfahren haben. Wie ich nun andeutete, konnte der
Patient am ersten Tage zu genauen Auskünften über seinen
äusseren Lebenslauf verhalten werden; er erzählte mit genauen
Zeitangaben, wann und wo er Schulen besucht, wie lange er
als Volksschullehrer wirkte, seit wann er seinen Lehrerberuf
aufgegeben, über sein Verhältniss zur ersten Frau u. s. w., und
es überraschte insbesondere die Präcision und Promptheit, das
Fehlen längeren Besinnens bei der zeitlichen und örtlichen Lo-
calisation auch minder wichtiger Erlebnisse; diese retrospective
Orientirung in Ort und Zeit erstreckte sich bis auf wenige Tage
vor Ausbruch seiner Erkrankung; in auffallendem Gegensätze
hierzu stand seine während der Untersuchung zu constatirende
Desorientirtheit in Bezug auf Ort und Zeit (letzterer war er
um viele Tage voraus), seine Personenverkennung; er versicherte
den ihn untersuchenden Arzt, dem er noch einige Momente zu¬
vor in tadellos klarer Weise über sein Vorleben berichtete, er
habe das Weib da nicht angerührt und deutete dabei auf den
vor ihm liegenden zusammengefalteten Kotzen; er nannte den
Namen des vermeintlichen Weibes, es war der seiner Concubine
u. s. w. Tags darauf war die vorhin erwähnte Fähigkeit, sich
retrospectiv zu orientiren, in der inzwischen angestiegenen Ver¬
worrenheit, in der Masse der Sinnestäuschungen ganz unter¬
gegangen, die anamnestischen Angaben, die nur spärlich zu
gewinnen sind, sind falsch, unzutreffend.
Diese zwei verschiedenen Helligkeitsgrade des Bewusst¬
seins, für die ich als Kriterium das Vorhandensein oder Fehlen
einer, nennen wir sie retrograden Orientirung aufstellen möchte,
waren bei dem hier geschilderten Falle an zwei aufeinander
folgenden Tagen zu constatiren, ein Verhalten, das mir noch bei
anderen Fällen von Delirium, die nicht Gegenstand einer Blut¬
untersuchung waren, auffiel. Im Laufe meiner Untersuchungen
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Dr. Adolf Elzholz.
fand, ich, dass in einzelnen Fällen der tiefere Grad der Bewusst¬
seinstrübung gar nicht erreicht wurde, in anderen Fällen bis
zum Eintritte des Schlafes die retrograde Orientirung bald in
höherem, bald in geringerem Masse gestört blieb. Es drängte
sich mir jedesmal bei diesen Beobachtungen die bildliche Vor¬
stellung auf, als würde in dem einen Falle das Bewusstsein aus
dem dunklen Raum der Gegenwart die wohlbeleuchteten
Fernen der Vergangenheit überblicken, ähnlich wie man aus
einem dunklen Zimmer auch schon durch eine kleine Fenster¬
lücke bei hellem Tage eine weite Landschaft überschauen kann;
in einem anderen Falle ist Vergangenheit und Gegenwart in
Dunkel gehüllt; es wäre dies das dunkle Zimmer bei hereinge¬
brochener Nacht. Dieser hier herangezogene Vergleich soll nur
bildlich die oben erwähnten Beobachtungen illustriren.
Ich hätte schliesslich den hier besprochenen zwei Formen
noch eine dritte, die leichteste Form des Delirium, gegenüber
zu stellen, in der zwei gleichfalls schon gestreifte Fälle (Fall 13
und 15) unter den untersuchten figuriren; es waren das zwei
Kranke, bei denen das Delirium nur angedeutet war, von denen
der eine zeitlich und örtlich vollständig orientirt und nur ver¬
einzelten Sinnestäuschungen ausgesetzt war, der andere mit
einiger Nachhilfe sich in Ort und Zeit zurecht fand und sich
von den Hallucinationen nur wenig stören liess; die retrograde
Orientirung war in beiden Fällen lückenlos.
Ich habe mir diese Excursion auf das Gebiet der Bewusst¬
seinszustände des Delirium zu machen erlaubt, weil ich in den
Veränderungen des Blutes, namentlich in dem Verhalten der
eosinophilen Zellen bei der in Rede stehenden Erkrankung einen
bis zu einem gewissen Grade gehenden Parallelismus zu den
erörterten drei Intensitätsgraden des Delirium gefunden zu
haben glaube.
In welcher Weise ich mir diesen Parallelismus zurecht¬
zulegen versuche, werde ich am Schlüsse dieser Besprechung
auszuführen haben, wo ich die Ansicht, die ich mir über das
Wesen und die Entstehung des Delirs gebildet habe, mitzutheilen
mir erlauben werde. Doch sei schon jetzt, um Missverständnissen
vorzubeugen, vorweggenommen, dass dieser Parallelismus zwi¬
schen gewissen Zuständen im Blute und den aufgestellten Be¬
wusstseinszuständen nicht im Sinne eines Causalnexus, nicht
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
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als Verhältnis von Ursache und Wirkung, sondern als coordi-
nirte Folgen eines Processes aufzufassen wäre.
Es sei mir gestattet, darauf hinzuweisen, dass die Ein¬
teilung des Alkoholdelirium nach ähnlichen Gesichtspunkten
mehrfach durchgeführt wurde. In der im Jahre 1872 erschie¬
nenen bekannten Monographie „Delirium tremens und Delirium
traumaticum”unterscheidetRose t ) vier Stadien des Delirium, „die
dem aufmerksamen Beobachter zugleich als vier verschiedene
Grade im Auftreten der Krankheit erscheinen”. Es sind dies
erstens das Stadium der Prodrome mit einzelnen Abstinenzerschei¬
nungen, mit ängstlichem Wesen, Appetitlosigkeit, zeitweiligem Er¬
brechen, zweitens das Stadium der vollen Entwickelung des Deli¬
rium, von der ersten schlaflosen Nacht an gerechnet mit der Sym-
ptomentrias, dem Zittern, der Schlaflosigkeit und den Delirien;
„die Delirien dieses Stadiums sind gewöhnlich einfache Sinnes¬
delirien unter der Form der Hallucination”. Das dritte Stadium,
meint dieser Autor, fehlt in der Mehrzahl der Fälle, da schon
früher die Krisis erfolgt. Es ist dies das Stadium der Agitation.
Das Wesentliche, was Rose über dieses aussagt, wäre Folgendes:
„Der Kranke ist nicht mehr im Stande, die Hallucinationen zu
verbergen, oder sich über diese zu unterhalten, wie dies früher
geschah, es überwältigen ihn immer mehr seine Bilder. Dann
lässt er sich nicht mehr in die äussere Welt zurückrufen und
wird unfähig, die Aufmerksamkeit längere Zeit zu fixiren. Heftig
angerufen, gibt er nur verkehrte Antworten.” Als viertes Stadium
beschreibt er tobsüchtige Erregungszustände oder mussitirende
Delirien mit ihrem häufigen Ausgang in Tod. Aus diesem kurzen
Excerpt der von Rose classisch geschilderten Krankheitsbilder
ist wohl zu ersehen, dass meine Fälle mit gut erhaltener retro¬
grader Orientirung sich seinen Fällen im zweiten Stadium, die mit
gestörter Orientirung für die Gegenwart und Vorleben sich in
seine Fälle im dritten Stadium ganz wohl einfügeu.
Ein anderer classischer Autor Magnan 2 ) theilt die alkoho¬
lischen Delirien in leichte und schwere ein; die schwere Form
der Delirien sind nach ihm durch hohes, bis zu 41 Grad an¬
steigendes und sich durch mehrere Tage bis 40 Grad oder
') Handbuch der aligem. und spec. Chirurgie. I. Bd., II. Abth., I. Heft,
2. Lieferung.
2 ) Psychiatrische Vorlesungen, VI. Heft, S. 32. Deutsch von Möbius.
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Dr. Adolf Elzholz.
41 Grad behauptendes Fieber, durch ausgedehntes Muskelzittern,
durch Paresen der Beine gekennzeichnet; diese Form gibt eine
sehr ernste Prognose. Magnan hebt ausdrücklich hervor, dass
es sich hierbei nicht um durch andere schwere Erkrankungen
von Brust, Bauchorganen, durch Knochenbrüche provocirte Fälle
von Delirien handle, sondern um eine unter hohem Fieber ein¬
hergehende Alkoholintoxication, ein Umstand, den ich hier mit
Rücksicht auf die weiterhin folgenden Ausführungen mit Nach¬
druck betonen möchte; zu der leichteren Form zählt Magnan
alle anderen Fälle, auch wenn sie nach einer raschen Erhebung
der Temperatur selbst bis 39 Grad oder gar 40 Grad in 24
oder 48 Stunden in der Defervescenz sich befinden. In Anleh¬
nung an diese Eintheilung wären sämmtliclie von mir unter¬
suchten Fälle bis vielleicht auf einen, der Temperaturen bis
39-2 Grad aufwies, der leichten Form nach Magnan zuzuzählen.
Auch Schüle 1 ) und v. Krafft-Ebing 2 ) seheD in excessiven
Temperatursteigerungen ein signum pessimi ominis und wollen
diese Fälle vom Delirium alcohol. ausgeschieden und dem Deli¬
rium acutum zugezählt wissen; nach v. Krafft-Ebing würde das ex-
cessive Fieber des primären, also durch complicirende Erkran¬
kungen vegetativer Organe nicht bedingten Delirium tremens
febrile auf Innervationsanomalien der wärmeregulirenden Centra,
ähnlich wie das Fieber schwerer Neurosen, zu beziehen sein.
Fälle letzterer Art, letal verlaufene Delirien hatte ich
nicht Gelegenheit auf ihren Blutbefund zu untersuchen; bei dem
einen Falle (Fall 3), dessen Temperatur bis 39 - 2 Grad an gestiegen
war, war die Gefahr eines letalen Ausganges sehr nahe, der
Kranke zeigte einen beschleunigten, sehr schwachen Puls, lag
erschöpft dahin und murmelte in mussitirenden Delirien vor
sich hin. Der Blutbefund war bei diesem analog all jenen
Fällen, die im psychischen Verhalten durch das Fehlen einer
retrograden Orientirung gekennzeichnet waren. Es erscheint
mir wichtig, anknüpfend an diesen Fall ein Moment hervorzu¬
heben. Man könnte unter Hinweis auf diesen und auf die
anderen Fälle mit Temperatursteigerung einerseits und auf die
mit Leukocytose einhergehenden andererseits mir entgegen-
’) Klinische Psychiatrie, 3. Auflage, S. 417.
2 ) Lehrbuch der Psychiatrie, 3. Auflage, S. 601.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
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halten, dass es eine bekannte Thatsache sei, dass hohes Fieber
überhaupt auf die Zahl der eosinophilen Zellen reducirend wirke
und dass Leukocytosen einen ähnlichen Einfluss üben, dass dem¬
nach die Krankheit als solche, das, was ihr Wesen ausmache,
die verschiedenen Intensitätsgrade der psychischen Erkrankung
mit Unrecht in Beziehung zu den mitgetheilten Blutbefunden,
zu dem Fehlen eosinophiler Zellen gebracht werde.
Darauf wäre zu erwidern, dass nur einer der mitgetheilten
Fälle eine höhere Temperatur aufwies, die anderen unter
38 Grad blieben oder nur einige Zehntel Grade darüber hatten,
während andererseits z. B. aus den Zappert’schen *) Tabellen zu
entnehmen ist, dass z. B. bei Erysipelas oder bei Gelenks¬
rheumatismus bei Temperaturen von 39 Grad und darüber
eosinophile Zellen allerdings in spärlicher Anzahl, aber doch
auch bis zu 1-52 Procent (ein Fall von Gelenksrheumatismus
mit Temperatur 39-2 Grad) gefunden wurden. Was andererseits
den Einfluss von Leukocytose auf die Eosinophilie betrifft, so
finden sich viel stärkere Leukocytosen als die von mir bei
Delirium erhobenen bei Vorhandensein eosinophiler Zellen ver¬
zeichnet. Ich will nur hier einige Beispiele anführen; in den
Rieder’schen 1 2 ) Tabellen ist ein Fall von Lues mit Anämie mit-
getheilt, der bei einer Zahl von 18.500 Leukocyten 1*7 Procent
Eosinophilie aufwies, ein Fall von Melanosarkom mit 28.500
Leukocyten und 02 Procent Eosinophilie, ein Fall von Carci¬
noma ventriculi mit 12.800 Leukocyten und 6 Procent Eosino¬
philie, ein Fall von Anaemia splenica mit 14.700 Leukocyten und
0 8 Procent Eosinophilie.
In den Zappert’schen 3 ) Tabellen ist eine ganze Reihe solcher
Fälle, selbst bei fieberhaften Affectionen, wie Gelenksrheumatis¬
mus, Scarlatina, bei letzterer ein Fall mit 16.720 Leukocyten und
5-31 Procent eosinophil zu finden.
Klein 4 ) gibt einen Fall von Nephritis p. scarlatinam mit
15.400 Leukocyten und 16-5 Procent Eosinophilier an. Es ist
1 ) Ueber das Vorkommen der eosinophilen Zellen im menschlichen Blute.
Zeitschrift für klinische Mediein, Bd. XXIII, Heft 3 u. 4, S. 61 u. 64.
2) L. c., S. 99.
3) L. c.
4 ) Die diagnostische Verwerthungder Leukocytose. Volkmann’s SammluDg
klinischer Vorträge Nr. 87.
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Dr. Adolf Elzholz.
schliesslich richtig, dass bei sehr starken Leukocytosen über¬
einstimmend von allen Seiten eine hochgradige Verminderung
oder vollständiges Fehlen der eosinophilen Zellen angegeben
werden; unter meinen Fällen betrug die extremste Zahl 14.666
Leukocyten.
Als ganz besonders in die Wagschale fallend für die
Annahme, dass in dem Wesen der hier in Frage stehenden Er¬
krankung selbst der Grund für das Fehlen der eosinophilen
Zellen zu suchen sei, glaube ich die schon vorhin angeführten
Fälle ansehen zu dürfen, bei denen trotz fieberlosen Verlaufes,
trotz Fehlens von Leukocytose keine eosinophilen Zellen ge¬
funden wurden.
In den nach Abzug der bisher erörterten sieben Fälle
verbleibenden restlichen wurden bei der jeweiligen Höhe des
Delirium (es wurde das erstemal gewöhnlich des Nachts,
oder, wie dies einmal geschah, nach kurz dauerndem ersten
Schlummer Blut entnommen) verschieden hohe Procentzahlen
eosinophiler Zellen constatirt. Diese Zahlen hielten sich in den
Grenzen von 0-2 bis 2 Procent.
Der Fall, der 2 Procent darbot (Fall 11), erfordert einige
erläuternde Worte. Es war ein Fall, bei dem diese relativ hohe
Procentzahl an eosinophilen Zellen bei einer Vormittag ge¬
machten Blutentnahme festgestellt wurde, zu einer Zeit, da er
für die Gegenwart desorientirt war, anamnestische Angaben
jedoch in prompter Weise zu machen vermochte. Bis Abend
steigerte sich das Delirium zu grosser motorischer Unruhe und
völliger Verwirrtheit, die retrograde Orientirung war getrübt.
Trotz dieses Verhaltens war 11 Procent eosinophiler Zellen zu
constatiren.
Es könnte dies vielleicht damit erklärt werden, dass
dieser Kranke 25 Tage nachher 9-9 Procent Eosinophilie, am
Tage seiner Entlassung 3 Procent Eosinophilie aufwies, dem¬
nach auch in gesunden Tagen einen hohen Normalwerth eosino¬
philer Zellen in seinem Blute beherbergte.
In Fällen, wo auf der Höhe des jeweiligen Delirium das
Blut eosinophile Zellen enthielt, waren die Kranken nur für die
Gegenwart desorientirt, die retrograde Orientirung war eine
prompte und correcte, die Kranken Hessen sich durch Fragen
aus ihren deliriösen Erlebnissen leicht herausreissen, standen
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
197
Rede und Antwort, schwitzten wenig und zeigten nur geringe
Grade motorischer Geschäftigkeit.
Dass der dem Delirium tremens zu Grunde liegende Pro-
cess und dessen Schwere zu dem Gehalte des Blutes an eosino¬
philen Zellen nahe Beziehungen unterhalte, lässt sich noch
weiter, wie mir scheint, in überzeugender Weise aus dem
weiteren Verlaufe der Delirien und den mit diesen Schritt
haltenden Veränderungen des Blutes deduciren. Zunächst zeigt
sich dies im Anschlüsse an den so sehr beim Delirium er¬
wünschten Schlaf, der ja seit jeher als kritischer Abschluss der
Krankheit gilt. Diese günstige Wendung findet in einer eclatanten
Erscheinung mit einer immer wiederkehrenden Gesetzmässigkeit
ihren hämatologischen Ausdruck; man kann mit gutem Rechte
die hierbei auftretende Veränderung im Blutbilde als Blutkrise
bezeichnen.
In allen Fällen, wo auf der Höhe des Delirium die eosino¬
philen Zellen fehlten, wurden diese nach dem Schlafe in
bald grösserer, bald geringerer Zahl angetroffen; von sechs
derartigen Fällen bot sich Gelegenheit, drei kurze Zeit nach
dem Erwachen zu untersuchen, in zwei von diesen drei Fällen
(Fall 6 und 12) untersuchte ich sofort nach dem Erwachen, da¬
von den einen nach einem leisen, initialen Schlummer *) von
kurzer Dauer; während nun bei letzterem 02 Procent eosino¬
phile Zellen constatirt wurden (es war dies übrigens ein zu¬
vor nicht untersuchter Fall), wurde bei ersterem nach ausgiebi¬
gem Schlafe 10 Procent dieser Zellart gefunden.
In einem dritten Falle (Fall 16) war nach einem 18stün-
digen Schlafe der negative Befund an eosinophilen Zellen einem
Procentverhältnisse von 3 - 5 Procent gewichen. Ein vierter
Fall bot an dem auf den Schlaf nachfolgenden Tage 0 5 Pro¬
cent (Fall 3), ein fünfter 0*6 Procent (Fall 14), schliesslich ein
sechster (Fall 1), der die erste Nacht seines Aufenthaltes in der
Anstalt vollständig schlaflos war, in der zweiten Nacht nur eine
Stunde schlief, hatte nach einer dritten schlafend zugebrachten
') Auf Grund einer supponirten Analogie mit den anderen Fällen wird
bei diesem Falle auf das Fehlen der Eosinophilen vor dem Schlafe nur ge¬
schlossen, wozu das fortschreitende Ansteigen der Zahl der Eosinophilen in der
Folgezeit wohl bis zu einem gewissen Grade berechtigt.
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198
Dr. Adolf Elzholz.
Nacht 3 9 Procent Eosinophile, nachdem er 3 Tage vorher keine
Eosinophilen aufzuweisen hatte. Das Auftauchen der Eosino¬
philen im Blute vollzog sich, wie aus den sofort nach dem
Schlafe erhobenen Befunden hervorzugehen scheint, noch während
des Schlafes, und man fand sie schon zu einer Zeit, wo die
Kranken noch unbesinnlich waren, wo sie zweifelnd und staunend
unter Nachhilfe des Arztes die deliriösen Erlebnisse an sich
voriiberziehen liessen, wo sie das meiste, oder alles, das ihnen
das Delirium vorgeführt, noch als reell und thatsächlich an¬
sahen, wo aber die Production neuer Hallucinationen, neuer
Delirien versiegt war. Aber nicht nur die Fälle, in denen das
Delirium die Eosinophilen nach dem Untersuchungsergebnisse
ganz unterdrückt hatte, sondern auch jene, in denen diese Zell¬
art auf der Höhe des Delirium noch anzutreffen war, zeigen
nach Einsetzen des Schlafes mit den soeben angegebenen gleich¬
sinnige Bewegungen der Zahlenwerthe für die in Rede stehende
Zellart; auch hier steigen die Werthe in den nachfolgenden
Tagen in durchgehends gesetzmässiger Weise. Den geringeren
Procentverhältnissen der Eosinophilen in den ersten Tagen
nach Eintritt des kritischen Schlafes folgen für die nächste
Zeit Zahlen mit steigender Tendenz, und zwar für beide Grade
des Delirium; das Maximum dieses Anstieges wird nach ver¬
schieden langer Zeit erreicht. In dem einen schon mehrfach er¬
wähnten Falle (Fall 11), bei dem trotz schwerer Bewusstseins¬
trübung die Eosinophilen mit 1*1 Procent bestimmt wurden,
fiel die Akme des Anstieges mit 9 9 Procent, wie ich schon er¬
wähnt habe, auf den 25. Tag; bei einem zweiten Falle (Fall 9),
den ich das erstemal nach einem kurz dauernden Schlummer
bei noch bestehender Personenverkennung und völliger Des-
orientirtheit untersuchte und bei dem zu dieser Zeit 029 Pro¬
cent Eosinophile gefunden wurden, wurde das imposante Pro-
centverhältniss von 16 2 Procent Eosinophile 30 Tage nachher
constatirt, in einem dritten Falle (Fall 3), bei dem auf der Höhe
des Delirium eosinophile Zellen fehlten, wurde die Zahl von
8 Procent nach 31 Tagen erreicht.
Aus den in der Zwischenzeit in Pausen von 2 bis 3 oder
mehreren Tagen unternommenen Untersuchungen ergab sich,
dass der Anstieg der Eosinophilen die weite Distanz zwischen
den Grenzwerthen allmählich, aber stetig und unter kleinen
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
199
Schwankungen bald nach aufwärts, bald nach abwärts zurück¬
legte. (Ob diese leichte Discontinuität im Ansteigen der Eosino¬
philen nur als eine scheinbare und durch die schliesslich jeder
Methode anhaftenden Mängel bedingte anzusehen sei, oder ob
sie ein getreues Abbild der sich im Blute unter Schwankungen
vollziehenden Vorgänge darstellt, möge dahingestellt bleiben.)
Es würde zu weit führen, wollte ich in jedem einzelnen Falle
die gesetzmässige Wiederkehr der soeben erörterten Verhältnisse
nachweisen; ich verweise diesbezüglich auf die Tabelle, deren
Zahlenzusammenstellung dies leicht ermöglichen dürfte. Dass
aber das Verhalten der eosinophilen Zellen im Verlaufe des
Delirium ein ganz auffallendes Abhängigkeitsverhältniss von
der Schwere des Processes, von dessen einzelnen Phasen er¬
kennen lässt, glaube ich nachgewiesen zu haben. Schliesslich
braucht dieses nicht Wunder zu nehmen. Haben ja die ein¬
gehenden Blutuntersuchungen der letzten Jahre bei den mannig¬
fachsten Krankheiten bei einzelnen derselben Befunde zu Tage
gefördert, deren Analogon die von uns gefundenen Verhältnisse
bei Delirium tremens abgeben.
Hinter die histogenestischen Beziehungen der eosinophilen
Zellen im Blute ist man bisher trotz vieler Bemühungen *) nicht
gekommen. Aber aus einer Reihe von Untersuchungen bei den
verschiedensten Infectionskrankheiten, bei malignen Geschwülsten
hat sich auf dem Wege der klinischen Beobachtung ergeben,
dass die eosinophilen Zellen ein gar empfindliches Reagens auf
die den Organismus bedrohenden Schädlichkeiten abgeben, dass
sie durch den Feind, den die Krankheit darstellt, im Blute sehr
leicht in die Flucht geschlagen werden, und bei lange und
intensiv unterhaltenen Feindseligkeiten seitens des Gegners
überhaupt verschwinden, bei Nachlass der Feindschaften nach
Eliminirung der Noxe aus dem Körper zuerst vereinzelt auf-
treten, dann aber auch schaarenweise herbeidrängen. Bei
manchen Krankheitsformen sind sie willkommene Verkünder
der überstandenen Krankheit, Bürgschaft beginnender Recon-
valescenz. So sehen wir sie nach Pneumonie 2 ) gewöhnlich am
') Ehrlich, Neusser, Müller.
-) Mandybur, Vorkommen und diagnostische Bedeutung der oxyphilen und
basophilen Leukocyten im Sputum. Wiener medicinische Wochenschrift Nr. 7—9,
1895.
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200
Dr. Adolf Elzholz.
zweiten Tage (nach Untersuchungen von Bieganski') undZappert) 1 2 * )
nach dem kritischen Temperaturabfalle erscheinen, bei Scarlatina *)
tauchen sie noch vor Ablauf des Fiebers auf, damit die nahe
Reconvalescenz anzeigend; sie stellen sich nach Ablauf des
Typhus, 4 ) nach Abschluss septischer Processe ein und fehlen
im Verlaufe dieser Krankheiten zumeist ganz oder finden sich
nur vereinzelt vor. Für die Sepsis ä ) gilt Canon die grössere
oder geringere Abnahme der Eosinophilen als Fingerzeig für
die im ersten Falle ungünstige, im zweiten Falle günstigere
Prognose. Auf der Höhe des Malariaanfalles räumen sie das
Feld, um während der fieberfreien Intervalle wieder zu er¬
scheinen, bei länger dauernden Fällen in relativ reichlichen
Mengen.
Es ist ferner bekannt, dass schwere anämische Zu¬
stände mit Verringerung der Zahl der Eosinophilen einhergehen
und dass das vorgeschrittene Siechthum mit malignen Ge¬
schwülsten (Carcinom) Behafteter sich hämatologisch in ähn¬
licher Weise äussert. ®) In der Mehrzahl der angeführten Pro¬
cesse sehen wir der Unterdrückung der eosinophilen Zellen
durch die dabei wirksame Schädlichkeit eine Zunahme ihrer
Zahl mit dem Abklingen der Krankheit folgen, wir sehen, dass
die Abnahme oder das Schwinden der eosinophilen Zellen ein
Zeichen körperlichen Verfalles ist, ihr neuerliches Erscheinen
oder ihre Steigerung bis und selbst über die Norm die ge¬
schäftige Thätigkeit der den Organismen zur Verfügung stehen¬
den Vis reparatrix naturae bedeutet.
Vom hämatologischen Standpunkte wären die zwei Fälle,
bei denen die eosinophilen Zellen während der Reconvalescenz
Procentzahlen wie 16 2 Procent und 9 9 Procent erreichten, für
1) Leukocytose bei der croupösen Pneumonie; Deutsches Archiv für
klinische Medicin XVIII.
2) L. c.
3 ) Koczetkow, Die morphologischen Blutveränderungen hei Scharlach, Dis¬
sertation, Petersburg 1891, citirt nach Klein, 1. c.
4 ) Zappert, 1. c.
5 ) Canon, Ueber eosinophile Zellen und Mastzellen Gesunder und
Kranker. Deutsche medicinische Wochenschrift 1892, Nr. 10.
6 ) Rieder, Zappert, Klein, 1. c.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
201
die Frage der vermutheten Entwickelung *) 2 ) der eosinophilen
Zellen aus den Polynucleären hervorzuheben.
In diesen Fällen konnte constatirt werden, dass, während der
Blutbefund dem zuvor erwähnten Höhepunkte in der Zahl der
Eosinophilen zustrebt, die Lymphocytenzahlen von einem Mo¬
mente an nur wenig ausgiebige Verschiebungen erleiden, während
die Procentverhältnisse der Polynucleären Schritt für Schritt vor
den in Zunahme begriffenen Procentzahlen der Eosinophilen
zurückweichen, in der Weise, dass die Summirung von Eosino¬
philen und Polynucleären an den einzelnen Tagen beiläufig
Zahlen entsprechen, wie sie auch de norma aus der Summirung
der Polynucleären und Eosinophilen sich ergeben.
So viel des Thatsächlichen wäre aus den Resultaten meiner
Blutuntersuchungen zu entnehmen. Es kann allerdings hierbei
die Frage aufgeworfen werden, woher ich die Gewissheit habe,
dass alles, was ich bisher ausgeführt, dem Delirium alcoholicum
als solchem, als einer Psychose zukomme, ob denn \doch nicht
hierbei für die weitgehenden Veränderungen des Blutbildes eine
im Hintergründe verborgene somatische Erkrankung, und zwar
eine von den bekannten Krankheiten verantwortlich zu machen
sei. So könnte zunächst die Thatsache von vorneherein ent¬
gegengehalten werden, dass somatische Erkrankungen allerlei Art
ein gar häufiges ätiologisches Moment für den Ausbruch des
Delirium bei Säufern abgeben.
Gegen die Eingangs von mir betonte und geübte Vorsicht,
Kranke mit nachweislichen somatischen Erkrankungen bis auf
zwei zu Controlzwecken untersuchte Fälle von Pneumonie in
mein Untersuchungsmateriale nicht einzubeziehen, könnte ein¬
gewendet werden, dass manche somatische Erkrankung sich der
Feststellung durch unsere Untersuchungsmethoden auch während
ihres ganzen Verlaufes leicht entziehen oder übersehen werden
könne.
Die Affectionen, die hier insbesondere in Betracht kämen,
wären centrale Pneumonien, infectiöse Bronchitiden und Influenza-
*) Ehrlich. Farbenamylytische Untersuchungen, 1891. Zur Histologie und
Klinik des Blutes.
2 ) Müller und Rieder, Deutsches Archiv für klinische Medicin, Bd. XLVIII
Heft 1 u. 2. Ueber Vorkommen und klinische Bedeutung der eosinophilen Zellen
im Blute.
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 14
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202
Dr. Adolf Elzhob.
fälle mit und ohne pneumonische Herde. Dieser Einwand könnte
durch den Hinweis auf die in mehreren Fällen vorhanden ge¬
wesenen Temperatursteigerungen, auf die mehrfach constatirte
Leukocytose und, was ich noch hier zur Vervollständigung
nachtragen möchte, auf in zwei fiebernden Fällen erhobene
bronchitische Geräusche an Gewicht gewinnen. Ueberdies
könnten die Blutbefunde selbst zu einer Kritik der von mir
gemachten Annahme, dass die vorhin mitgetheilten Verän¬
derungen in der numerischen Zusammensetzung der normalen
Leukocytenverhältnisse bei den von mir beschriebenen Fällen
nur dem Delirium angehören, verwerthet werden.
Es haben nämlich Kikodze *) und später Bieganski 2 ) durch
über die Dauer von croupösen Lungenentzündungen fortgesetzte
Blutuntersuchungen übereinstimmend feststellen können, dass
mit der nach dem Schüttelfrost bei Pneumonie auftretenden
Leukocytose die polynucleären Neutrophilen im Procentgehalte
beträchtlich in die Höhe gehen. Bieganski gibt ihre Zahl auf
80 oder 90 Procent an, die Zahl der Lymphocyten sinke auf
15, 10 oder 6 Procent, zu denen, um Vergleiche mit meinen
Befunden anstellen zu können, noch die unverändert bleibende
Zahl der grossen Lymphocyten im Betrage von 2 bis 3 Procent
hinzu zu addiren wären. Nach der Krise, nach dem Temperatur¬
abfall, manchmal schon während des Fiebers (wie dies aus den
Tabellen Bieganski’s hervorgeht) ändert sich das Blutbild ähn¬
lich wie bei unseren Kranken. Die Polynucleären sinken nach
den Angaben Bieganski’s auf 60, ja bis 44 Procent, dement¬
sprechend steigen die Procentzahlen der Mononucleären bis 40
oder 51 Procent (wenn kleine und grosse Lymphocyten summirt
werden). Bieganski spricht auch von dem Auftreten einer deut¬
lichen Eosinophilie nach der Krise, 2 bis 4 Procent betragend,
während er in allen Fällen vor der Krise diese Zellart (ebenso
wie andere Autoren) vollends vermisste.
Ein bis zu einem gewissen Grade ähnliches Verhalten
zeigt nach den Angaben Koczetkow’s 3 ) das Blutbild bei Scarla-
') Die pathologische Anatomie des Blutes bei der croupösen Pneumonie.
1890 (Russisch). Citirt nach Eiein.
2) L. c.
3 ; L. c.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
203
tina, nach einer Angabe Rieder’s') bei Diphtherie. Dass wir es
in unseren Fällen weder mit Diphtherie noch Scarlatina zu thun
hatten, bedarf keiner weiteren Erörterung.
Noch am schwierigsten würden sich für unsere Fälle,
nämlich die fiebernden, die Ausscheidung centraler Pneumonien
gestalten.
Auf alle diese möglichen Einwände wäre nun Folgendes
zu erwidern:
Unter den von mir untersuchten Fällen befanden sich
neben fiebernden während der ganzen Dauer des Delirium
fieberlos verlaufende Fälle. Weiterhin kann aus dem Verlaufe
der Blutveränderungen bei Delirium alcoholicum erschlossen
werden, dass es sich hier um einen anderen Process als um
eine etwaige centrale Pneumonie handle.
Das Fieber in den febrilen Fällen, die Veränderungen des
Blutbefundes, das ganze Krankheitsbild währt nur kurz, 2 bis
3 Tage, und was wichtig ist, es schliesst mit dem kritischen
Schlafe ab, ein Verhalten, wie es der Pneumonie gewiss nicht
zukommt. Durchgehends waren während der Krankheit Schweisse
vorhanden, bekanntlich ein Symptom, das der Pneumonie vor
der Krise ebenfalls nicht eigen ist. Eine weitere Differenz
zwischen beiden Krankheitsformen beruht auf dem verschiedenen
Verhalten der eosinophilen Zellen nach der die Pneumonie ab¬
schliessenden Krise einerseits und der das Delirium abschneiden¬
den andererseits. Aus den Tabellen Bieganski’s, sowie aus den
diesen Punkt erörternden Ausführungen Zappert’s ist zu ent¬
nehmen, dass bei der Pneumonie noch mehrere Stunden nach
der Krise die Eosinophilen geradeso vermisst werden wie
während ihres fieberhaften Verlaufes; die Zellen erscheinen erst,
wie beide übereinstimmend angeben, am zweiten Tage nach der
Krise und in der Mehrzahl der Fälle in vermehrter Menge; in
einem Falle weist Zappert darauf hin, dass am drittfolgenden
Tage nach vorausgegangener Vermehrung ein Abfall der Eosino¬
philen sich nachweisen liess. Zappert erwägt, allerdings mit
grosser Vorsicht, die Möglichkeit, ob es sich hier nicht um für
die Pneumonie charakteristische Verhältnisse handeln könnte.
Diese Möglichkeit gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch die
') L. c., S. 138.
14*
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204
Dr. Adolf Elzholz.
Angaben Bieganski’s, der die sich selbst gestellte Frage, „wie
schnell sich die Veränderungen des Blutes nach der Krisis bei
Pneumonie ausgleichen”, auf Grund seiner Beobachtungen dahin
beantwortet, dass er schon am dritten bis vierten Tage nach dem
Temperaturabfalle, selten später, das normale Procentverhältniss
der Leukocytenformen antraf.
Auch ich habe in zwei Fällen (Fall 4 und 7) von Pneu¬
monie, deren Infiltrationserscheinungen noch deutlich nachweis¬
bar waren und die unter dem Bilde eines Delirium in die
Anstalt kamen, dasselbe Verhalten nachweisen können. Der eine
davon zeigte schon nach 3 Tagen, der andere ebenfalls nur
wenige Tage nach durchgemachtem Delirium normale Verhält-
nisszahlen.
In welcher Weise vollzogen sich nun die Veränderungen
bei den Fällen von Delirium, die durch die hier geltende Krise,
den Schlaf, abgeschlossen erschienen? —
Ich verweise diesbezüglich auf das bereits Gesagte: Die
eosinophilen Zellen tauchen schon während des Schlafes wieder
im Blute auf, wie dies die oben erwähnten drei Fälle mir
überzeugend zu beweisen scheinen, die Schwankungen in den
Zahlenverhältnissen der einzelnen Leukocytenarten scheinen in
manchen Fällen selbst nach Monatsfrist noch nicht zur Ruhe
zu kommen, in anderen Fällen dauerten sie 10 und 4 Tage;
dabei zeigte sich, wo eine Tendenz zu excessiven Steigerungen
der eosinophilen Zellen bestand, dass die hohen Zahlen erst nach
mehreren Tagen und selbst Wochen erreicht werden. Diese
Differenzen zwischen den Blutbildern nach Ablauf einer Pneu¬
monie und den eines Delirium werden nun keinesfalls befremden,
wenn man sich darüber klar ist, dass das Delirium alcohol. eine
leicht auslösbare Episode bei der psychischen und körperlichen
Constitution eines durch chronische Durchseuchung mit Alkohol
depravirten Individuums darstellt, während die Pneumonie als
elementares Ereigniss anzusehen ist, das, so lange es wirksam
ist, den Organismus tief auf wühlt, das aber rasch mit seinen
Folgen verschwindet, wenn sich der kräftige Organismus damit
einmal abgefunden hat. Füge ich noch hinzu, dass ich in keinem
der darauf untersuchten, auch in keinem der fiebernden Fälle
eine für die Pneumonie charakteristische auffallendere Ver¬
minderung der Chloride nachweisen konnte, so wären damit
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Aua der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
205
die Argumente zusammengetragen, welche die zuvor auf¬
geworfenen Einwände zu entkräften geeignet sind.
Bei fieberhafter Bronchitis sind die normalen Verhältniss-
zahlen der Leukocytenarten nicht alterirt, wie dies einer Angabe
Bieganski’s ■) zu entnehmen ist. Die katarrhalische Influenza
führt selbst, wenn katarrhalische Pneumonien hinzutreten, zu
keiner Leukocytenvermehrung, wie aus einer besonderen, dieser
Erkrankung gewidmeten Arbeit Rieder’s 2 ) hervorgeht. Ueber
die Verhältnisszahlen der Leukocytenarten im Verlaufe pulmo¬
naler Influenzafälle konnte ich mich, so viel ich mich in der
Literatur umthat, nicht informiren; ich selbst kam nicht in die
Lage, Influenzafälle zu untersuchen. In einem Falle katarrha¬
lischer Pneumonie (Fall 17) bei einem degenerirten Potator,
der seit Monaten auf der Abtheilung als Abwascher beschäftigt
war, traten in den letzten drei Tagen vor dem Exitus trotz
hochgradiger Dyspnoe eine gewisse Euphorie und vereinzelte
Delirien auf, die seine Beschäftigung auf der Klinik zum Gegen¬
stände hatten, er wollte immer aufstehen und Kohlen tragen.
Doch waren diese Delirien nur angedeutet, und traten nur des
Abends auf, Hallucinationen waren nicht nachweisbar. Bei diesem
Kranken, bei dem an Influenzapneumonie gedacht wurde (es
wurden auf der Höhe des continuirlichen Fiebers bei einer Zahl
von 4300 Leukocyten 74 Procent Polynucleäre, 26 Procent Mono-
nucleäre constatirt — Eosinophile fehlten), ergab die Section
wohl katarrhalische Pneumonie, eine Influenzainfection war nicht
constatirbar; der Fall hat deshalb ein specielles Interesse, weil
er einen an katarrhalischer Pneumonie erkrankten Säufer vor¬
führt, der allerdings schon lange Zeit nicht getrunken hatte
und der bei Fehlen ausgesprochener Delirien nahezu normale
Verhältnisszahlen von Polynucleären und Mononucleären bei
Fehlen Eosinophiler aufwies. Letzteres war bei dem hohen con¬
tinuirlichen Fieber erklärlich.
Es ist hier der Platz, noch einer Untersuchung zu gedenken,
die ich unternommen, um mir darüber Klarheit zu verschaffen,
ob die Andauer der Verminderung oder des Fehlens der eosi-
>) L. c.
2 ) Ueber das numerische Verhalten der weissen Blutzellen bei Influenza,
croupöser und katarrhalischer Influenzapneumonie. Münchener Medicinische Wochen¬
schrift 1892, Nr. 29.
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206
Dr. Adolf Elzholz.
nophilen Zellen während der schlaflosen Zeit nnr einfach die
Folge der Schlaflosigkeit oder der Specifität der uns hier be¬
schäftigenden Erkrankung sei; bei einem kräftigen Wärter
(Fall 18) wurde das Blut am Abend vor Antritt der Nachtwache
untersucht und mit 5400 Leukocyten bei 70-3 Procent Poly-
nncleären, 25 4 Procent Mononucleären und 4 - 3 Procent Eosi¬
nophilen befunden. Nach durchwachter Nacht fanden sich 6077
Leukocyten bei 67 Procent Polynucleären, 28*4 Procent Mono-
cleären 4-6 Procent Eosinophile. Es ist daraus ersichtlich,
dass die Nachtwache den Blutbefund nur sehr wenig verändert
hat (jedenfalls nicht um vieles mehr, als den jeder Methode an¬
haftenden und zu erwartenden Fehlern entspricht); es sind auch
die Normal Verhältnisse in keiner Weise alterirt.
Nachdem ich nun für alle meine Fälle bis auf die zwei
Fälle von Pneumonie nachgewiesen zu haben glaube, dass nur
der das Delirium erzeugende Process und keine andere soma¬
tische Erkrankung für die typischen Blutveränderungen ver¬
antwortlich zu machen sei, möchte ich noch einige Worte dem
beim Delirium tremens auftretenden Fieber widmen. Ist es ja
gerade diese Erscheinung, welche zum grossen Theile die vor¬
ausgegangenen Betrachtungen zur Folge hatte. Ich habe schon
weiter oben die Angaben Magnan’s, ferner die damit überein¬
stimmenden Ausführungen v. Krafft-Ebing’s und Schüle’s ange¬
führt; aus dem Jahre 1891 liegt eine diesen Punkt neuerlich
behandelnde Arbeit eines dänischen Autors A. Fries l ) vor. Der¬
selbe fand unter 116 Patienten, die das Delirium überlebten, in
90 Procent Fieber.
Fries spricht die gesteigerte Gehirnthätigkeit im Delirium
als Ursache des Fiebers an; nach Schlaf wurde die Temperatur
fast in allen Fällen normal.
Er gelangt zu folgenden Schlüssen: „Das uncomplicirte
Delirium tremens verlaufe fast nie ganz fieberlos, die Temperatur¬
steigerung erreiche oft eine beträchtliche Höhe, die mit der In¬
tensität der Delirien in bestimmter Beziehung stehe, denn sie
komme und gehe mit ihnen.” Die Temperaturmessungen in
meinen Fällen wurden bei der grossen Inanspruchnahme des
bei dem grossen Krankenstände unserer Abtheilungen stark be-
•) Om Temperatorforhol dene ved Delirium tremens nach ßeferat D. Neurg.
C. B. Nr. 892, Nr. 15, S. 476.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
207
lasteten Wartepersonales nicht methodisch durchgeführt, doch
scheinen sie bis zu einem gewissen Grade den Ausführungen
Fries, Recht zu geben.
Es sind demnach auch die Temperatursteigerungen kein
Hinderniss für die wohl mit Recht den Anspruch auf den Werth
einer Thatsache erhebenden Annahme, dass sämmtliche in den
uncomplicirten Fällen von Delirium von mir erhobenen Blut¬
befunde einzig und allein dem Delirium alcohol. als solchem
zukommen, dass diese als charakteristisch für den dabei in Be¬
tracht kommenden Process gelten können.
Nachdem ich mich in dem Vorausgegangenen mit den dem
Delirium alcohol. in seinen Spielarten zukommenden Blutbefunden
beschäftigt habe, drängt sich die Frage auf, ob sich aus diesen
hier constatirten Thatsachen nicht Anhaltspunkte für ein
weiteres Eindringen in das Wesen des uns beschäftigenden
Krankheitsbildes, für ein die Blutbefunde berücksichtigendes
Verständniss desselben gewinnen Hessen. Es wird gut sein, hier¬
bei die MögHchkeiten, die in der Literatur schon erwogen wurden
und solche, die sich aus den hier mitgetheilten Blutbefunden
deduciren lassen, ins Auge zu fassen.
Als reine Alkoholintoxication als Ausdruck einer Impräg-
nirung des Organismus mit Alkohol, eine Ansicht, wie sie in der
Auffassung der charakteristischen Hallucinationen des Deliranteu
durch Meynert gegeben ist, kann das Delirium nicht gelten; ab¬
gesehen davon, dass anerkanntermassen die Abstinenz es häufig
ist, die den Boden für das Delirium vorbereitet, ist ja das
Krankheitsbild, das durch Uebergenuss von Alkohol erzeugt
wird, ein vom Delirium sehr abweichendes. Der Rausch bei der
alkohoHschen Degeneration noch nicht Verfallenen, der patholo¬
gische Rauschzustand beim chronischen Alkoholisten, der acute
Wahnsinn oder Amentia, die im Gefolge gehäufter Alkohol-
excesse auftritt, sind Krankheitszustände, die in psychischer und
somatischer Beziehung vom Delirium weit abseits liegen, die
nach beiden dieser Richtungen hin ihr eigenes Gepräge tragen.
Mit dieser klinischen Differenz stimmt auch vollständig das
überein, was wir in Bezug auf Einwirkung des Alkohols auf
das Verhalten der morphologischen Elemente im Blute wissen.
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208
Dr. Adolf Elzholz.
Es ist nämlich erwiesen, dass der ins Blut eingeführte Alkohol 1 )
die Leukocytenzahl unbeeinflusst lässt. Ob die Verhältnisszahlen
der Leukocytenarten im Rausche Verschiebungen von der Norm
erleiden, ist mir nicht bekannt. Es dürfte aber neben den an¬
gedeuteten klinischen Verschiedenheiten der hier zu Tage tre¬
tende Unterschied, dass sich beim Delirium alcohol. häufig Leu-
kocytosen und immer ein leukocytotischer Blutbefund im Sinne
Rieder’s (wofür das procentische Ueberwiegen der Polynucleären
bei normaler Leukocytenzahl massgebend ist) vorfindet, genügen,
um dem Alkohol als solchem die Bedeutung eines das Delirium
unmittelbar hervorrufenden Agens streitig zu machen.
Ein zweites Moment, das hier Berücksichtigung verdient,
ist das Verhalten der Herzthätigkeit, der Zustand des Blutkreis¬
laufapparates.
Der von den älteren Psychiatern vertretenen, auf aphori¬
stische Voraussetzungen gegründeten Ansicht, dass die orga¬
nischen Herzkrankheiten eine häufige Quelle für Psychosen ab¬
geben, wurde schon längst durch Witkowsky 2 ) der Boden ent¬
zogen. Diese Auffassung Witkowsky’s theilten später Griesinger,
Leidesdorf, Kirchhoff, Emminghaus, v. Krafft-Ebing, zuletzt eine
ausführliche Arbeit Reinhold’s. 2 ) Demgegenüber muss anderer¬
seits betont werden, dass ein so hervorragender Psychiater wie
Kraepelin 4 ) für das Zustandekommen von Psychosen Störungen
der Herzthätigkeit in Anspruch nimmt und dass er bei Be¬
sprechung der Fieberdelirien, der sich so häufig an infectiöse Er¬
krankungen anschliessenden Psychosen, auf die Möglichkeit
hin weist, dass, abgesehen von dem infectiösen Agens und der
schädigenden Einwirkung der hohen Temperaturen, im Beginne
der Krankheit active Hyperämie, im weiteren Verlaufe in Folge
geschwächter Herzthätigkeit passive Hyperämie des Gehirns das
psychische Krankheitsbild bedingen könne. Auch ist er geneigt,
für die Delirien der Säufer zum Theile Herzschwäche verant¬
wortlich zu machen. Ich glaubte auf diesen kleinen Excurs auf
ein die hier behandelte Frage nicht direct einbegreifendes Ge¬
biet umsoweniger verzichten zu können, als ja der deletäre
! ) Nach Untersuchungen von Meyer und Sieger, Schülern von Binz.
2 ) Witkowsky, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie XXXII, S. 347.
3 ) Reinhold, Münchener Medicinische Wochenschrift 1894, Nr. 16 ff.
4 ) Psychiatrie, fünfte Auflage 1896, S. 354 und S. 29.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
209
Einfluss des Alkohols auf das Herz und das Gefässsystem
geradezu herausfordert, die etwaige ätiologische Bedeutung ge¬
störter Herzthätigkeit für das Zustandekommen des Delirium
zu untersuchen.
Wir werden mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte einer
functionellen Störung der Herzthätigkeit oder auch einer durch
myocarditische oder fettige Degeneration des Herzparenchyms
bedingten Störung keine grössere ätiologische Wichtigkeit für
die Entstehung von Psychosen zuschreiben dürfen als den or¬
ganischen Herzfehlern, und werden in weiterer Consequenz
dieser Annahme auch die Antheilnahme der Functionsstörung
des Herzens beim Zustandekommen des Delirium alcohol. nicht
hoch veranschlagen können.
Dürften hier noch als Tertium comparationis die Blut¬
befunde herangezogen werden, so wäre auch hier darauf zu ver¬
weisen, dass, so weit Blutuntersuchungen bei Herzfehlern (in
bekannteren Arbeiten) vorliegen, Leukocytosen nicht vermerkt
sind; über die Verhältnisszahlen der Leukocytenarten bei Herz¬
fehlern stehen mir keine Daten zu Gebote.
Dass das Fieber, die Wärmestauung als solche, nicht für
die Auslösung des Delirium verantwortlich zu machen sei, ist
ohneweiters daraus zu ersehen, dass das Delirium nicht immer
mit Fieber einhergeht, dass in der Minderzahl der Fälle das
Fieber höhere Grade erreicht, und dass andererseits die exqui¬
siten Fieberdelirien eine verschiedene klinische Erscheinungs¬
weise aufweisen wie das Alkoholdelirium.
Versuchen wir nun der Reihenfolge nach den Angriffspunkt
unserer Ueberlegungen für das Auffinden der Materia peccans
bei dem Alkoholdelirium in das Blut selbst, in die weiter oben
besprochenen Blutbefunde zu verlegen. Ich habe schon mehrfach
betont, dass die Blutbefunde auf der Höhe des Delirium einen
exquisit leukocytotischen Charakter aufweisen, dass entweder
eine mehr oder minder hochgradige Leukocytose mit beträcht¬
lichem Ueberwiegen der polynucleären Leukocyten, oder wo die
Zahl der Leukocyten sich nicht als vermehrt erwies, diese Ver¬
schiebung der relativen Zahlenwerthe zu Gunsten der polynu¬
cleären Neutrophilen dennoch zu coustatiren war.
Was ist nun die Ursache dieses leukocytotischen Blut¬
befundes beim Delirium tremens?
Digitized by Google
210
Dr. Adolf Elzholz.
Da wird es wohl am Platze sein, sich überhaupt in der
Frage der Leukocytose, so weit diese studirt ist, umzuthun und
den Versuch zu machen, die bei Delirium alcohol. auftretende
Leukocytose unter eine der bekannten Leukocytosenformen zu
subsummiren.
Wir folgen hierbei der Eintheilung Rieder’s, des um das
Studium der Leukocytenfrage sehr verdienten Autors.
Zu den physiologischen Leukocytosen kann der hier in
Rede stehende Blutbefund nicht gerechnet werden. Diese sind
übrigens durch ein normales Procentverhältniss der Leukocyten-
formen gekennzeichnet; ebenso wenig findet sich ein Platz für
unsere Blutbefunde bei den hämorrhagischen, kachektischen,
hydrämischen, agonalen oder entzündlichen Leukocytosen. Was
letztere betrifft, so widerstrebt die gesammte Physiognomie der
hier in Rede stehenden Erkrankung der Auffassung derselben
als einer acuten, fieberhaften, auf Infection mit Mikroorganismen
beruhenden Krankheit. Auf letztere Weise entstandene Leuko¬
cytosen sind es aber, die als entzündliche figuriren. Das Re¬
sultat dieser Erwägungen ist, dass die Leukocytose des Delirium
in keine der genannten Gruppen hineinpasst. In neuerer Zeit
haben die von Goldscheider und Jacob 1 ) durchgeführten Unter¬
suchungen die zuerst von v. Limbeck ausgesprochene Ansicht be¬
kräftigt, dass die Leukocytosen auf einer im Bereiche der blut¬
bildenden Organe sich geltend machenden chemotaktischen
Wirkung Leukocyten anlockender Substanzen beruhen.
Es liegt nun nahe, sich die Frage vorzulegen, von welcher
Beschaffenheit die beim Delirium alcohol. zu supponirende chemo¬
taktische Substanz sein dürfte.
Bei der Charakteristik dieser zu supponirenden Substanz
vom klinischen Gesichtspunkte hätten wir uns vor Augen zu
halten, dass ihre Individualität sich weniger imposant im Blut¬
bilde (da die von mir constatirten Leukocytosen nur gering¬
gradige waren) als in der grossen Reihe der anderen klinischen
Symptome kundgibt; das ist so zu verstehen, dass die Wirkung
dieser Substanz wohl einen geringeren Ausläufer in die Blut¬
bahn und in die Blut bereitenden Organe sendet, als in das
Centralorgan des Bewusstseins, in den gesammten motorischen
*) Ueber die Variation der Leukocytosen, Zeitschrift för klinische Medicin,
Bd. XXV.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
211
Apparat, in die schweisssecernirenden Organe; sie setzt in der
Mehrzahl der Fälle einen Reizzustand in den Nieren und er¬
zeugt Albuminurie, sie beeinflusst die Herzthätigkeit und setzt
dessen normale Function herab, die Herztöne werden schwach,
der Puls frequent und klein, die Arterienspannung gering; es
findet eine Störung der Wärmeregulation statt, man beobachtet
Fieber; in den letal endigenden Fällen wird Hyperämie der
Gehirnhäute constatirt.
Durch all die hier angeführten Krankheitserscheinungen
erscheint die Wirkungsweise der hier supponirten Substanz
charakterisirt, und es frägt sich, ob wir uns nicht eine Vor¬
stellung über die Natur des hier supponirten Körpers zu bilden
versuchen könnten. Vielleicht kann uns hierbei der Befund der
Leukocytose leiten.
Wir werden uns zu erinnern haben, dass die Leukocytosen,
welche nach Einbringung von Culturen verschiedener Mikro¬
organismen in dem Körper auftreten, vorwiegend auf der Ein¬
wirkung von Proteinen (Büchner), also Eiweisskörpern beruhen,
dass ferner auch Pflanzencaseine, wie Glutencasein und Legumin,
demnach nicht specifische Eiweisskörper der Bakterien, auch
Leukocytose erzeugen können, allerdings nur solche geringeren
Grades. (Nach Büchner entstehen dieselben nicht auf einen
mechanischen, sondern auf einen chemischen Reiz hin.) Vor
zwei Jahren haben Goldscheider und Jakob durch Glycerin-
extracte gewisser thierischer Organe, wie der Milz, der Tymus-
drüse und des Knochenmarkes, nicht aber bei Anwendung an¬
derer Organextracte, wie Nieren-, Leber- und Schilddrüsen-
extract bei Thieren Leukocytose erzielen können.
Aus den soeben angeführten Thatsachen ist zu ersehen,
dass verschiedene Eiweisskörper, auch solche, die in Thier¬
organen enthalten sind, unter gewissen Bedingungen die Eigen¬
schaft chemotaktischer Substanzen erlangen.
Für unsere Frage wäre nun folgender Vorgang anzu¬
nehmen. Der lange fortgesetzte Genuss des Alkohols erzeuge
im Körper des chronischen Alkoholisten eine Substanz, deren
specifisehen Charakter man eben durch die Einwirkung des
Alkohols auf Substanzen des Organismus, vielleicht Eiweiss¬
körper sich zu Stande gekommen denken könnte. Es wäre
dies etwas ähnliches wie die Entstehung von Antitoxinen bei
Digitized by
Google
212
Dr. Adolf Elzholz.
Einführung von Bakterien und deren Toxinen in den Or¬
ganismus.
Die Eigenart in der Wirksamkeit dieser supponirten Sul-
stanz könnte allerdings auf die Alkoholcomponente bezogen
werden, ähnlich wie man sich die Mannigfaltigkeit der Schutz¬
körper nicht von einer Mannigfaltigkeit der thierischen Sub¬
stanz, sondern von der Verschiedenheit der Bakterien und
deren Toxine abhängig denkt.
N ur wäre hier ein gewisser Gegensatz bezüglich der Einwir¬
kung auf den Organismus zwischen den Bakterientoxinen und dem
Alkohol zu construiren. Durch die Einführung von Bakterien in
den Organismus entsteht, wenn die Infectiou überstanden wird,
ein für das Thier wohlthätiger Körper, der ihm Schutzkraft
gegen einen neuerlichen Anprall der betreffenden Bakterien und
deren Toxine verleiht; beim Alkohol würde sich im Körper erst
das Toxin bilden und das Antitoxin wäre der vom chronischen
Alkoholisten stets neuerlich begehrte Alkohol.
Die weiter oben schon betonte Aehnlichkeit zwischen den
Blutbefunden bei Pneumonie und Delirium tremens legt ferner
den Gedanken nahe, dass bei chronischen Alkoholisten unter dem
Einflüsse des chronischen Alkoholmissbrauches eine den Toxinen
der Pneumoniekokken ähnliche Substanz entsteht. Die Aehnlich¬
keit der Befunde beruht, um zu recapituliren, darauf, dass bei
beiden genannten Krankheiten während ihres Verlaufes sich
Leukocytose vorfindet, die Polynucleären ein beträchtliches
Uebergewicht über die Mononucleären besitzen, die Eosinophilen
vermindert sind oder ganz fehlen. Beiden ist ferner nach der
Krise ein Auftreten der eosinophilen Zellen in vermehrter
Menge und eine Umkehr der Zahlenverhältnisse der anderen
Leukocytenarten gemeinsam. Dass bei an Pneumonie erkrankten
Trinkern so leicht ein Delirium ausbricht, wäre vielleicht auf
die Summirung zweier ähnlicher Schädlichkeiten bei einem und
demselben Kranken zurückzuführen.
Schliesslich sei noch mit einigen Worten auf das benach¬
barte Gebiet des Morphinismus hingewiesen.
Marme *) stellte aus Lunge und Leber von Hunden, denen
er einige Zeit Morphium subcutan injicirte, einen Körper dar,
’) Naeh Erlenmayer: Die Morphiumsueht, 3. Auflage, 1837, S. 94.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
213
der Reactionen wie das Oxy dimorphin gab. Nach Injection
dieser Substanz bei Hunden traten Erscheinungen auf, die
Marme mit dem Symptomencomplex der Morphiumabstinenz
identificirte. Injicirte er diesen Hunden Morphium, dann schwan¬
den diese Abstinenzerscheinungen. Er stellte auf Grund dieser
Versuche die Hypothese auf, dass die Abstinenzsymptome nicht
die Folge einer Morphiumentziehung, sondern die Symptome
einer Oxydimorphinvergiftung seien. Das Morphium sei das
Gegengift des Oxydimorphins. Diese Hypothese blieb nicht un¬
angefochten, doch meint Erlenmayer trotz der erhobenen Ein¬
wände, dass „diese Angelegenheit noch wiederholter genauer
Prüfung bedarf’.
Aus der Symptomatologie des chronischen Alkoholismus
könnten der Tremor und vielleicht anch der Vomitus matutinus
zur Stütze für unsere Annahme herangezogen werden. Der
Tremor schwindet, oder wird geringer nach Genuss von Alkohol,
der Vomitus matutinus wird durch letzteren bekämpft; es
erscheint von vorneherein unwahrscheinlich, dass dasselbe
Agens, welches. Tremor und Vomitus erzeugt, auch diese zu
beseitigen im Stande wäre.
Nimmt man aber die Giftwirkung einer im Körper entstan¬
denen Substanz an, für welche der Alkohol das Gegengift ist,
dann wird dieses Verhalten verständlich.
Aus all diesen Ausführungen scheint es mir nicht ganz
unberechtigt, folgendes Resume zu ziehen: 1 )
Durch den chronischen Alkoholmissbrauch wird im Körper
des Alkoholisten eine giftige Substanz erzeugt, die lange Zeit
in ihrer Wirkungsweise durch das Gegengift, den Alkohol, be¬
kämpft wird. Vielleicht bildet dieses Gift das Verhängniss des
Alkoholikers, sich nicht mehr von dem Genüsse des Gegen¬
giftes trotz bester Vorsätze fernhalten zu können.
Hat sich dieses supponirte Gift in grösserer Menge nach
lange fortgesetztem Missbrauch angesammelt, so erschöpft sich
*) Dem Julihefte (1896) des Neurologischen Centralblattes entnehme ich,
dass Kraepelin eine ähnliche Auffassung des Delirium vertritt, indem er in
einem Vorträge: Ueber Delirium tremensartige Zustände bei Paralysis sagt: „Aus
diesen Gründen haben wir es hier (Delirium tremens) wahrscheinlich mit Stoff¬
wechselgiften zu thun, deren Entstehung bei den tiefgreifenden allgemeinen Er¬
nährungsstörungen, welche der Alkoholismus erzeugt, nicht wunderbar wäre.
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214
Dr. Adolf Elzholz.
sehr rasch die Wirkung des Gegengiftes, es treten Abstinenz¬
erscheinungen auf, Tremor, Vomitus matutinus, Schweisse,
Angstgefühle u. s. f. Kommt es weiter durch äussere Umstände
zu länger dauernder Abstinenz oder wirken verschiedene den
Organismus in seiner Widerstandskraft erheblich herabsetzende
Schädlichkeiten ein (Pneumonie, allerlei Infectionskrankheiten
u. s. w.), so entfaltet sich die Wirkung des supponirteu Giftes
bis zur Höhe des Delirium, innerhalb dessen auch noch ver¬
schiedene Intensitätsgrade zu unterscheiden sind, vielleicht je
nach der Menge des gebildeten Giftes. In manchen Fällen
kommt es nur zu vereinzelten Reizerscheinungen im Gebiete
der Sinnesorgane, das Bewusstsein ist nur wenig getrübt, im
Blute und den blutbildenden Organen kommt die Wirkung der
supponirten Substanz noch nicht recht zur Geltung (Fall 13
und 15). Steigt das Delirium an, tritt Desorientirtheit in Bezug
auf die Gegenwart bei erhaltener retrograder Orientirung, bei
Häufung von Sinnestäuschungen ein, so zeigt sich die suppo-
nirte Giftwirkung auch im Blutbefunde.
Die Zahl der eosinophilen Leukocyten ist verringert, es
tritt eine Vermehrung der polynucleären, neutrophilen Leuko¬
cyten zu Ungunsten der Einkernigen ohne Vermehrung der
absoluten Leukocytenzahl im Kubikmillimeter Blut auf.
Erreicht das Delirium höhere Grade, was auf die An¬
sammlung noch grösserer Giftmengen im Körper zu beziehen
wäre, dann ergibt sich bei tiefer Verworrenheit, grosser
motorischer Unruhe, profusen Schweissen, geschwächter Herz-
thätigkeit, Eiweissgehalt des Urins, Fieberleukocytose, Fehlen
der Eosinophilen, starke Vermehrung der Polynucleären bei
Zurücktreten der Mononucleären.
Nach dem Eintritte des Schlafes findet eine Rückbildung
all dieser Erscheinungen bis zur Norm im Laufe einer län¬
geren oder kürzeren Zeit statt.
Die Annahme, dass das Delirium eine Vergiftung durch
eine im Körper unter Mitwirkung des Alkohols gebildete Sub¬
stanz sei, kann natürlich nur einen hypothetischen Werth be¬
sitzen, so lange eine solche Substanz nicht chemisch darge¬
stellt wird.
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
Tabelle. 1 )
215
Name
Datum
Leukocyten im
Kubikmillim.
Blut
Polynucl.
in Proeent.
Lymph.
in Procent.
Eosin.
in Procent.
1 .
Spielvogel
15. Novemb.
1895.
6400
7934
19-27
1-35
16. Novemb.
11444
8873
11-27
17. Novemb.
_
_
18. Novemb.
5600
55-6
*3111
40-5
2266
3-9
222
21. Novemb.
6500
65-5
325
20
4. Decemb.
—
58-2
400
1-8
2.
Wichmann
9. Novemb.
1895
9400
87-8
12-2
—
13. Novemb.
4033
60-3
38-5
1-2
22. Novemb.
4077
68-6
2800
29-5
1200
1-9
77
1. Decemb.
6472
82-7
5355
15-7
1017
1-6
100
A n m < * r k u n g
Temp. 37-1°. Bronchialkatarrh. Bei der
Aufnahme relativ klar. Tremores deut¬
lich. Abends Höhe des Delirs, sieht
Frau, Pferde, für die Vergangenheit
klare Erinnerung.
Temp. Nachmittags 38*2°. Blutentnahme
7 Uhr Abends; sehr lebhaft hallu-
cinirend, Gehörs-, Gesichts-, Tasthalluc.
Beschäftigungsdelirien, profus schwi¬
tzend, desorientirt, ist zu keinen
Antworten zu verhalten, macht falsche
anamnestische Angaben, so weit diese er¬
hältlich. Die Aeusserungen entsprechen
augenscheinlich deliranten Vorgängen.
Temp. 37 , 9° Früh. In der Nacht nur
eine Stunde geschlafen.
Fieberlos. Blutentnahme 7 Uhr Abends.
Gestern die Nacht geschlafen, Früh noch
an der Realität der Delirien festhaltend,
Abends bezüglich derselben schwankend,
gibt correcte Auskünfte.
Früh Blutentnahme, krankheitseinsichtig.
Temp. 37*8° Abends Blutentnahme, wirft
im Bett alles durcheinander, sucht her •
um, verkennt den Arzt, es sei ein Be¬
kannter, Beschäftigungsdelirien.
Fieberlos. Delir abgelaufen, corrigirt die
Ideen des Delirium.
Klar, einsichtig.
* Die Zahlen unterhalb der Procentzahlen bedeuten die absoluten Zahlen-
werthe der Leukocytenarten im Kubikmillimeter Blut.
*) Verdauungsleukocytose in allen Fällen ausgeschlossen.
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216
Dr. Adolf Elzholz.
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Name
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Anmerkung
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£.s
3
— Ä , 1
1 a — 1
3.
Sikorowsky
12. Aug.
1895
im Delirium
schlaflos
13. Aug.
8265
86-7
7166
13 3
1099!
15. Aug.
_
57*9
41*6
0*5
27. Aug.
-
—
—
1*3 i
12. Sept.
5000
8%
444
4.
Kotzian
2. Jan. 1896
81'2
18-8
—
3. Jan.
—
_
—
6. Jan.
6194
71-2
4411
27*2
1683
1*6
100
8. Jan.
5049
749
3788
24
1211
1*1
50
13. Jan.
4211
71-3
3000
264
1111
2-3
100
Fieber: Temp. 39-2°, schlechter Puls.
Abends 38*2°. Blutentnahme Mittags.
Hochgradige Unruhe, »Schweisse.
Total verwirrt.
Fieberlos. Blutentnahme am 15. Vorm.
Vom 14. auf den 15. Schlaf auf Paral-
dehyd.
Polynucl. + Lymph. = 98'7.
Polynucl. + Lymph. = 92*0%.
Pneumonie. Bei der Ankunft am 30. Dec.
Temp. 37'1", 37*7°, 37'5°. 31. Lee. Temp.
3b-5°, 38*6°. 1. Jan. Temp. 37*8°, 38*7°.
2. Jan. Temp. 37*3°, 371°, 37'4“. Heute
lieberlos. Abends lebhaft delirant, sah
Feuer, hörte blasen, hatte Beschäftigungs¬
delirien, rechtsseitige Pneumonie noch
nachweisbar.
Temp. 37-2°, 37*8°. 4. Jan. Temp.37*6 n ,
37'3°, 37'2", 36-8°, die Nacht geschlafen.
5. Jan. Temp. 36*6°, 36*9°, 37*5°, 37'2 U .
Rechts hinten Infiltration des Unter¬
lappens noch nachweisbar Dämpfung
und klingendes Rasseln, kein broneh.
Atlimen.
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Aus der pbychiatrisohen Klinik von Professor v. Wagner.
217
Naine
Datum
Leukocyten im
Kubikinillim.
Blut.
Polynucl.
in Procent.
Lymph.
in Procent.
a;
o
. ©
r- —
x M " 1
© _
W ■=
1
A n m e r k u n g
5.
Rupp
1. März 1895
Delirium bei
einem
Paralytiker
15600
97*9
2*1
6.
Paehl
26. Jan.
1896
1
l
1
i
14466
95*4
13737
46
729
26. Jan. Abends Blutentnahme. Hat
gestern nicht geschlafen. Vormittags
noch leidlich orientirt. Abends hoch¬
gradig unruhig, ist im Wirthshause, sucht
Schlüssel, will Holz spalten, sieht Thiere,
ist nur mühsam auf die Anamnese zu-
rückzuführen, Schweisse. 27. Jan Früh
Temp. 37 9°. Abends 38 4°. Vom 26. auf
den 27. Jan. noch schlaflos.
i
28. Jan.
4677
64-1
aooo
34-9
1633
1*0
44
Heute fieberlos Hat gestern die Nacht
geschlafen, hat heute Krankheitseinsicht,
diese jedoch noch schwankend. Blut¬
entnahme heute sofort nach dem Er¬
wachen.
30. Jan.
3954
700
2766
28-4
1122
16
66
13. Febr.
5631
739
4188
232
1277
2-9
166
7.
Hutzier
14. Jan.
1896
10344
73*6
7600
25 5
2633
09
111
Fieberlos Abgelaufenes Delirium im
Abklingen einer Pneumonie R. H.
Dämpfung. Knisterrasseln.
8.
Nowak
26. Jan.
1895
9288
7897
7334
2009
1866
^ 094
88
-
Nach durchwachter Nacht bei gut er¬
haltener Orientirung in der Vergangen¬
heit, Dcsorientirrheit in der Gegenwart;
ohne Krankheitseinsicht.
9.
Höberle
31. Octob.
1895
7888
8704
12-67
019
Seit drei Tagen in der Anstalt, gestern
Temp. 38*6°. Heute Vorm. 37-6°. Heute
um 3 Uhr Nachmittag Blutentnahme
(Katarrh über den Lungen), hat heute
etwas geschlafen, noch ganz desorientirt
(Personenverkennung), momentan keine
Delirien, macht genaue anamnestische
Angaben.
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd.
i:>
Digitized by
Google
218
Dr. Adolf Elzholz.
Name
Datum
§ . c c
C •— cj <x
© TZ O CJ . O
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5i-s 1 9^
s-- o = =
^ ©•= | j.= |
Eosin.
in Procent.
7. Novemb.
11711 72-1 27 1
0-8
30. Novemb.
5900 53-2 30-6
16 2
10.
Wegscheider
— — —
0-4
17. März
1895
20. März
72153 82-94 13 37
3 69
11.
Prexel
5700 80 180
2%
28. Sept.
4567 1022
111
28. Sept.
10133 64-3 34-6
1*1
K.F. 6511 3510
110
29. Sept.
6366 81-1 17-3
1-6
5178 1100
88
2. Octob.
3500 66 35 5
4*5
2000 1255
155
8. Octob.
7333 57 3 35 4
7-3
10. Octob.
8755 62 5 319
56
12. Octob.
6666 67-2 28*1
4-7
23. Octob.
6733 58 4 31*7
9-9
1. Novemb.
5910 48 2 48-8
3-0
12.
Karner
5310 85-9 13-4
02
19. Jan.
4566 733
11
1896
20. Jan.
|-
Anmerkung
Früh. Blutentnahme. Seit vier Tagen
klar, erinnert sich an die durchgemachten
Delirien, krankheitseinsichtig.
Drei Tage nach abgelaufenem Delirium.
Polyn + Lymph = 99*6 Procent.
Blutentnahme Vormittags, deeorientirt,
aber zu richtigen anamnestischen An¬
gaben zu verhalten.
Blutentnahme Abends. Fieberlos. Leb¬
haft delirirend, hallueinirt, grosse motor.
Unruhe, schwitzend,lässt sich nicht durch
Fragen fixiren, gibt falsche Auskünfte.
Geschlafen; nicht mehr im Delirium,
noch nicht krankheitseinsichtig.
Klar.
Volle Krankheitseinsiclit.
Blutentnahme 10 Uhr Früh, fieberlos;
ist nach einem kurz dauernden leisen
Schlummer, keine neuerliche Production
von Delirien, schwankend in der Auf¬
fassung seines Zustandes. Nachts zuvor
lebhaft halluc. Blutentnahme wurde
gestern nicht gemacht.
| Hat die ganze Nacht vom 19. auf den
120. geschlafen, fieberlos am 20. und 21.
t
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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.
219
Name
Datum
Leukocyten im
Kubikmillim.
Blut
Polynucl.
in Procent.
Ly mph.
in Procent.
Eosin.
in Procent.
22. Jan.
3689
533
45*7
0-9
1966
1690
33
29. Jan.
5350
58*9
39*2
1*9
3150
2100
100
6. Febr.
4954
709
27-8
1*3
3511
1377
66
13.
Nowacek
5280
78-6
20-2
1*2
27. Novemb.
4150
1066
66
2. Decemb.
5582
83*5
14*7
1*8
4666
816
100
11. Decemb.
6222
79*1
181
2-8
4922
1122
177
14.
Pryborsky
5200
84*7
153
--
19. October
4400
800
20. October
6888
726
26*8
0*6
5000
1844
44
21. October
5200
530
45*6
1-4
Vormittag
2756
2371
73
21. October
_
_
66
Nachmittag
22. October
_
_
_
89
Vormittag
24. October
4464
61*2
37-3
1-5
2732
1666
66
25. October
5777
58-9
40-3
0*8
3400
2332
45
29. October
4644
64*6
330
2*4
3000
1532
112
A n m e r k u n g
Klar, krankheitseinsichtig.
Temp. 37'5°, besonnen, jedoch desorien-
tirt, verkennt den Arzt, keine Beschäf¬
tigungsdelirien, genaue anamnestische
Angaben, massige Unruhe, vorige Nacht
nicht geschlafen.
28. Nov. Delirium abgeschlossen.
Fieberlos. Den zweiten Tag in der An¬
stalt schlaflos, occupirt von Delirien.
Nach zweitägigem schlaflosen Deli¬
rium heute Früh kurze Zeit geschlafen,
um 11V 2 Uhr Blutentnahme. Hat die
Delirien vergessen, ruhiger, schwitzt
nicht mehr.
Hat die Nacht gut geschlafen.
15*
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220
Dr. Adolf Elzholz.
Name
Datum
J Leukocyten im
Kubikmillim.
| Blut
Polynucl.
in Procent.
Lyrnpli.
in Procent.
Eosin.
in Procent.
Anmerkung
2. Novemb.
7266
79-9
189
1*2
5800
1377
89
6. Novemb.
5511
774
21*3
1*3
4267
1178
66
11. Novemb.
6020
725
26-4
11
4366
1588
66
23. Novemb.
6266
74*7
23*2
2*1
.
I
4683
1450
138
i
24. Novemb.
6588
71*5
26*3
22
4711
1733
144
1
26. Novemb.
668
30*9
23
i
15.
Horzinek
4599
744
24-7
0*9
Orientirt in der Gegenwart wie in der |
10. Jan.
3422
1133
44
Vergangenheit. Delirium nur angedeutet, 1
1896
hat Gesichts- und Gehörtäuschungen,
die er über Befragen in Abrede stellt. |
24. Jan.
3598
80*3
15*4
4*3
Dauernd klar, ruhig, stellt durchgemachtes
2888
555
155
Delirium in Abrede.
16.
Sustruznik
4500
86-6
13 4
—
Fieberlos. Hochgradig von Delirien
19. Jan.
occupirt, nur ungenaue Anamnese er-
1896
hältlich.
21. Jan.
5065
60
36*5
3*5
Klar, krankheitseinsichtig, nachdem Pat.
8044
1844
177
von gestern Mittag bis heute Früh ge-
schlafen.
29. Jan.
6844
709
27
21
4855
1844
144
17.
Seiler
4300
74
26
—
Continuirliches Fieber. Katarrhalische
Pneumonie (keine Influenza), am vierten
Tag der Erkrankung untersucht.
18.
Goldsehmidt
5100
70*3
25-4
4*3
Kräftiger Wärter, vor durchwachter Nacht
28. Decemb.
3800
1300
300
Abends Blutentnahme.
29. Decemb.
6077
67
28*4
4*6
Nach durchwachter Nacht
i
l
1
1
früh Blutentnahme.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehlmgolblutung.
Von
Ernst BischofT,
gewes. klin. Assistent, derzeit in Wien.
Es gelingt nur langsam, die anatomischen und functioneilen
Verhältnisse des Sehhügels und seiner Umgebung zu klären.
Die Schwierigkeiten, welche hier zu überwinden sind, sind in
verschiedener Beziehung ausserordentlich gross. Wir können
aber nicht hoffen, einen klaren Einblick in die Gesetze zu er- 4
langen, nach welchen das Centralnervensystem aufgebaut ist
und arbeitet, wenn nicht alle seine Theile in gleichmässiger
Weise erforscht werden. Gerade eine bessere Kenntniss der hier
besprochenen Gebiete dürfte für die Erfassung der einheitlichen
Organisation des Gehirns nothwendig sein. Ich halte deshalb
jeden Beitrag zum Studium der mannigfachen hier in Betracht
kommenden Fragen für nützlich und übergebe die Resultate
meiner Untersuchung der Oeffentlichkeit, wenn sie auch nicht
im Stande sind, früher aufgestellten oder neuen Hypothesen
naturwissenschaftlich beweiskräftige Grundlagen zu schaffen.
Apoplektischer Insult in früher Jugend, an¬
schliessend daran Hemiplegia dextra mit Contracturen,
Athetose, Atrophie der rechten Gesichts- und Körper¬
seite, Sensibilitätsstörungen und Epilepsie. Tod im
31. Lebensjahre im Stat. epilept. Herd im linken Seh¬
hügel, dessen dorsale Hälfte in eine Höhle verwandelt
ist. Secundäre Veränderungen im Corpus mamillare,
im rothen Kern und gekreuzten Bindearm, in der
Schleife, in den Hinterstrangskernen der rechten Seite
und in der linken Pyramide.
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222
Dr. Ernst Bisehoff.
Ueber die Kranke wurden mir folgende Mittheilungen zur
Verfügung gestellt: 1 ) Germer Marie, Metzgerstochter, war bis
zum Alter von 2V 2 Jahren gesund; über hereditäre Verhältnisse
liegen keine genauen Angaben vor. Seit obiger Zeit leidet die
Kranke an Convulsionen. Der erste Anfall sei ganz plötzlich
gekommen; Patientin sei damals umgesunken und lange Zeit
bewusstlos gewesen. Damals war angeblich die eine Kopfseite
und die Finger der rechten Hand blau gewesen. Seit dieser Er¬
krankung, die mit dem Durchbruche von gleichzeitig neun Zähnen
gekommen sei und vom Arzte als Hirnhautentzündung bezeichnet
wurde, sei das Kind rechts gelähmt gewesen. Hand und Fuss
seien dann allmählich von Contractur befallen worden. Die
Kranke hatte oft, mit Intervallen von höchstens zehn Tagen,
Krampfanfälle, die nicht näher beschrieben wurden. Sie habe
später ein wenig schreiben und arbeiten gelernt, natürlich mit
der linken Hand.
Im Alter von 26 Jahren wurde sie im Jahre 1889 in die
Anstalt aufgenommen. Hier wurden starke Contracturen in
• den Spitzen der rechtsseitigen Extremitäten beobachtet;
die Hand befand sich in Supination und Beugestellung, der Fuss
in Spitzfussstellung. Im Schulter-, Ellbogen- und Hüftgelenk
waren active Bewegungen ausführbar. Der rechte Mund¬
winkel war nach aussen verzogen, die rechte Nasolabialfalte
tiefer. In der rechten Hand bestanden starke typisch athe-
totische Bewegungen, die Fingergelenke daselbst in der
charakteristischen Weise verändert, so dass bei der Athetose
deutliche Hyperextension vorkam. An der rechten Hand war
die Berührungs- und Schmerzempfindung beträchtlich ab¬
gestumpft.
Die Sehnenreflexe an den gelähmten Extremitäten' ge¬
steigert. Die ganze rechte Körperseite mit Einschluss des Ge¬
sichtes ist im Wachsthum zurückgeblieben. Gesichts- und
Gehörssinn boten keine abnormen Befunde dar.
Patientin litt an häufigen epileptischen Convulsionen,
wobei beide Körperseiten ergriffen waren. Eine Störung der
Ausdrucksbewegungen wurde nicht vermerkt und war jeden-
■) Diese und das Präparat verdanke ich Herrn Dr. Schweighofer,
Leiter der Irren- und Siechenanstalt Salzburg, dem ich hiermit meinen herz¬
lichen Dank ausspreche.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
223
falls nicht deutlich. Psychisch war die Kranke nur leicht
schwachsinnig, sie konnte lesen und schreiben; dagegen war sie
im Allgemeinen moros und zänkisch. Der Tod erfolgte im Jahre
1894 im Status epilepticus.
Die Obduction ergab mit Ausnahme der gleich zu be¬
schreibenden flerderkrankung keine besondere Veränderung im
Gehirn. Insbesondere erschienen beide Hemisphären sym¬
metrisch, die Hirnhäute nicht erkrankt.
Nach Härtung in Müller’scher Flüssigkeit wurde das
Gehirn zerlegt, wobei sich eine Höhle im dorsalen Theile
des linken Sehhügels zeigte. Die dorsale Wand derselben,
überall sehr dünn und ziemlich derb, wurde beim Zerlegen des
Gehirns zum Theile entfernt. Nach Celloidineinbettung des
Präparates, welches proximal nicht ganz die Frontalebene der
vorderen Commissur, und distal die Ebene der fast vollendeten
Pyramidenkreuzung erreichte, zerlegte ich dasselbe in eine fort¬
laufende Serie von Frontalschnitten, von welchen etwa jeder
zweite mit Ammoniakcarmin, nach Weigert-Pal und theilweise
mit Alaunhämatoxylineosin gefärbt und conservirt wurde. Durch
die Zerlegung ging ein etwa 3 Millimeter dickes Stück in der
oberen Kernregion des Oculomotorius verloren.
Die Cyste, in deren nächster Umgebung zahlreich ange¬
sammeltes Blutpigment sich findet, nimmt die ganze freiliegende
dorsale Fläche des Thalamus opticus ein. Die ganze Partie ist
nach allen Kichtungen zusammengeschrumpft, so dass ausser
der Verringerung der Höhe und Breite in jedem Präparate auch
der Sehhügel links proximal schon erschöpft erscheint, wo der
rechte es noch nicht ist, und distal das linke Corpus geniculatum
internum früher als das rechte in der Schnittfläche erscheint.
Der laterale Ansatzpunkt der dorsalen Cystenwand liegt etwas
medial von der Stria cornea, der mediale jedenfalls überall
ventral von der Lage der Taenia thalami. Hier ist eine Ver¬
wachsung mit dem rechten Sehhügel ventral von seiner Taenia
vorhanden, die fast durch die ganze Länge der Cyste statt¬
gefunden hat. Dadurch ist der rechte Sehhügel, besonders vorne
bedeutend nach links verzogen. Die Commissura mollis geht
distal in diese Verwachsungs brücke über, so dass ventral davon
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224
Dr. Ernst Bischoff.
eine Absackung des dritten Ventrikels sich befindet, die nach
rückwärts in den Aquaeductus Sylvii direct übergeht.
Die ventrale Wand der Cyste wird von einer lateralwärts
ansteigenden concaven Fläche gebildet. Es ist der Sehhügel
also hauptsächlich in seinen dorsalen Theilen zerstört. Der
ganze linke Sehhügel ist auf weniger als ein Fünftel seiner
normalen Ausdehnung beschränkt.
Die Cysten wand besteht überall aus feinfaserigem Ge¬
webe, das als dichtes Gliagewebe beschrieben werden muss.
Gliakerne sind in derselben mit Ausnahme einer schmalen
inneren Schicht sehr zahlreich vorhanden. Die Höhle ist nirgends
mit Epithel ausgekleidet.
Die Beurtheilung der einzelnen im Sehhügel unter¬
schiedenen Regionen war theilweise mit Schwierigkeiten ver¬
bunden, da alle Theile in ihrer Ausdehnung und ihrer gegen¬
seitigen Lage verändert sind. Ich benütze zur Beschreibung
derselben die von v. Monakow eingeführte Eintheilung und
seine Nomenclatur.
Vom Tuberculum anterius ist nirgends eine Spur er¬
halten; auch von seiner Kapsel fehlt jeder Rest (Fig. 1).
Der laterale Kern, der im normalen Präparate durch
seine Lage zwischen Gitterschicht und Lam. med. int. leicht
abgegrenzt werden kann, ist im vorliegenden Falle hochgradig
verkümmert; in den vorderen Ebenen finden sich einige
Gruppen ziemlich grosser, sternförmiger Ganglienzellen mit
zumeist wohl erhaltenen Zellkernen und Fortsätzen in lockerem
Nervenfasernetz. Wegen ihres Baues und ihrer gleichmässigen
zerstreuten Anordnung sind sie zum lateralen Kern zu rechnen,
obwohl die innere Marklamelle kaum durch einige von innen
schräg nach aussen aufsteigende Fasern angedeutet ist. Diese
Zellgruppe wird nach rückwärts in den Ebenen der Commissura
mollis kleiner, und ist etwa im 35. Schnitt verschwunden. Hier
findet man nur vereinzelte kleinere Ganglienzellen nahe der
inneren Kapsel. Von den grossen Zellen des lateralen Kernes
sind etwas weiter rückwärts nahe der Cystenkapsel einige
inmitten der Blutpigmentanhäufungen zu sehen. Sie sind verkalkt.
Weiter rückwärts ist vom lateralen Kern gar nichts erhalten.
Die aus der Gitterschicht einstrahlenden Radiärfasern sind
nirgends nachweisbar und an Stelle derselben sieht man nur
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
225
spärliche Faserbündel aus der inneren Kapsel abbiegen und
parallel dieser ventralwärts laufen (Fig. 2).
Der mediale Kern ist in den vorderen Theilen auf eine
kleine Zellgruppe im medialen Felde nahe an der Verwachsungs¬
stelle beschränkt. Die Zellen des centralen Höhlengran sind
zahlreich und von normalem Aussehen.
Erst etwas vor dem Corpus subthalamicum gewinnt das
mediale Feld an Ausdehnung und erscheint durch die dichte
Anordnung der rundlichen Zellen und das zarte Zwischen ge webe
als Rest der Kerngruppe Med. a. Diese Zellgruppe breitet sich
Fig. 1. Vorderster Selihttgelabsehnitt. Rechte Seite nur zum Theile ausgeführt.
C.f. = Columna fornicis. Li. Sehl. = Linsenkernschlinge.
distal immer mehr aus, so dass sie vor den Ebenen des rothen
Kernes mehr als die Hälfte der normalen Ausdehnung hat. Von
hier bis zum hinteren Ende dieses Kernes ist derselbe überall
gut ausgeprägt und gewinnt noch etwas an relativer Ausdeh¬
nung. Weder in den Zellen, noch an der Zwischensubstanz sind
krankhafte Veränderungen merkbar. Ueber den normalerweise
der Lam. medull. int. eingelagerten Nebenkern Med. b. ist ein
Urtheil schwer zu fällen, weil jene nirgends deutlich zu er¬
kennen ist. Es befinden sich in den Ebenen, wo der Rest des
linken Corpus mamillare in seinem distalen Ende getroffen is:,
lateral und etwas ventral von Med. a. in den ziemlich dicht
schräg nach aussen oben verlaufenden Fasern, denen einzelne
quer durchschnittene Bündel beigesellt sind, eine Anzahl mittel-
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226
Ür. Ernst BUchoff.
grosser und kleinerer, spindelförmiger und runder Ganglien¬
zellen, die ich als Repräsentanten des Kernes Med. b. ansehe.
Die Gruppe liegt in Sichelform dem medialen Hauptkern an¬
geschmiegt und geht nach hinten in ein scharf begrenztes
sichelförmiges Feld über, das ventral deutlich von quer ver¬
laufenden Nervenfasern begrenzt ist und in seinem lateralen
Theile mehrere Bündelquerschnitte enthält. Die Zwischensubstanz
ist dicht und daher das Feld mit Carmin dunkel gefärbt. Dieses
sich scharf abhebende Feld ist wohl das Centre mddian von
Lu 3 t s. (Fig. 3.) Es lässt sich nach hinten bis zu dem verloren
gegangenen Stück, also bis in die untersten Ebenen des C. Luys
Fig. 2. Ebene der Commiseora mollis.
verfolgen. Die Zellen sind darin etwas kleiner als im Kern
Med. a. und stärker gefärbt, die Form des Kernes Med. b. etwas
flach und nach aussen gedrückt, so dass man geneigt sein
könnte, ihn für den Nucl. ventr. b. zu halten. An einigen Prä¬
paraten kann man sich aber überzeugen, dass die letztere
Zellgruppe vollständig getrennt mehr lateral und ventral sich
befindet.
Vom ventralen Kern treten vorne die ersten Zellen
etwas vor dem Corpus mamillare auf. Am lateralen Rande des
Thalamus sind wenige spindelförmige Zellen zerstreut, und in
den ventralsten Partien der lateralen Thalamusabtheilung liegt
eine Gruppe zumeist sehr kleiner, pigmentirter Zellen zwischen
zahlreichen feinen Neivenfasern, die quer und längs getroffen
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhflgelblutung.
227
siud. Diese kleinen Zellen sind zumeist unregelmässig geformt,
lassen keine Fortsätze erkennen und scheinen atrophirt. Diese
ventro-laterale Gruppe, die bis in die hinteren Ebenen ununter¬
brochen verfolgt werden kann, muss als Nucleus ventr. a.
und ventr. ant. angesprochen werden. Grosse charakteristische
Elemente finden sich hier ebenso wenig wie im lateralen Kern.
Zwischen diesem ventralen und dem Kern des Centre median
liegt eine Gruppe von intensiv gefärbten, mit langen Fortsätzen
versehenen Sternzellen,, die in der Höhe des C. mamillare auf¬
taucht und nach rückwärts bis in die oberen Ebenen des rothen
Clm/s Jt.K
Fig. 3. Ebene des Corpus mamillare.
Kernes reicht. Diese Zellen sind die grössten des ganzen Seh¬
hügels, freilich nicht so gross wie die normalen grösseren
Zellen, liegen ziemlich zerstreut in ziemlich nervenreichem Ge¬
webe und sind zu einer quer ovalen, nirgends deutlich ab¬
gegrenzten Gruppe vereinigt. Das rückwärtige Ende dieses
Kernes ist deutlicher durch zwei schräg nach aussen oben
verlaufende Faserzüge gegen die als Ventr. a. und Med. b. be-
zeichneten Gebiete abgegrenzt und zeigt mehr Annäherung an
die Sichelform des schalenförmigen Körpers. Das Gewebe der
Grundsubstanz ist hier weniger dicht als im Kern Vent. a. Man
kann diese Zellanhäufung mit ziemlicher Sicherheit als N. ventr. b.
bezeichnen (Fig. 4).
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228
Dr. Ernst Bisehoff.
Der hintere Kern, sowie der Vent. c. ist ebenso wie die
hintersten Abschnitte des Vent. a. gut erhalten. Dagegen ist
das Pulvinar ziemlich vollständig zerstört.
Ueber das Verhalten der Sehhügelfasern ergibt die
Untersuchung vor allem, dass die Fasern der Gitterschicht
gänzlich fehlen, mit Ausnahme des ventralen hinteren Ab¬
schnittes. Am medialen Rande der inneren Kapsel verlaufen
wenige dünne Fasern, die Reste der Lam. med. ext. Die übrigen
Binnenfasern des Sehhügels zeigen so complicirte Anordnung,
dass ihre Beschreibung nicht möglich ist. Es muss daher auf
Fig. 4. Ebene des vordersten Theiles des rothen Kernes.
die Abbildungen verwiesen werden. Im Allgemeinen ist hervor¬
zuheben, dass in den dorsalen Theilen ein ziemlich dichtes
Fasernetz vorhanden ist, während ventral die Faserordnung
grossentheils der normalen entspricht. .
Die beiden Abtheilungen der Linsenkernschlinge sind
sehr gut entwickelt, ebenso das als H 2 und x bezeichnete Feld.
Dagegen konnte ich vom Vicq d’Azyr’schen Bündel nichts
nachweisen; die Fornixsäule ist durch wenige Fasern, welche
in einem rundlichen Narbenstrange verlaufen, vertreten.
Das Corpus mamillare ist auf ein Viertel des normalen
zusammengeschrumpft und enthält auch in diesem Raume wenige
kleine und nur einzelne grössere Ganglienzellen. Nur im late-
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
229
ralen Abschnitte ist eine grössere Zahl kleiner Zellen angehäuft.
Das frontale Mark des rothen Kernes, sowie die Hauben¬
strahlung sind auf einen viel kleineren Raum beschränkt als
rechts, die L. med. int. links nirgends deutlich.
Die Taenia thalami ist links nicht vorhanden; in der
Meynert’schen Commissur sind links und rechts gleich ein¬
strahlende Fasern vertreten.
Die innere Kapsel ist links schmäler als rechts (etwa
um ein Drittel). Ebenso der Hirnschenkelfuss. Doch sind die
Fasern überall dicht gestellt und gleichmässig gefärbt. In der
Zona incerta und Substantia innominata besteht keine ent¬
fallende Abnormität
Die Zellen und die Kapsel des Corpus Luys sind gleich
denen der rechten Seite, die Grösse dieses Körpers erscheint
annähernd normal. Im Linsenkern nichts abnormes.
Das Corpus gen. ext. ist von normaler Grösse und Be¬
schaffenheit, ebenso das Corp. gen. int. und sein Stiel (Fig. 5).
Der rothe Kern ist links in sehr charakteristischer Weise
verändert. Oben wurde schon bemerkt, dass sein frontales und
laterales Mark verkleinert und faserärmer ist. Der linke rothe
Kern ist im Gauzen (etwa um ein Drittel) kleiner als der rechte.
Die Ursache dieser Verkleinerung ist offenbar der Schwund
der sagittalen Nervenfaserbündel, welche in den vorderen
Ebenen gar nicht vorhanden sind und auch weiter rückwärts
nirgends gleich zahlreich sind wie rechts. Doch nimmt die Zahl
derselben nach rückwärts constant zu, so dass am distalen Ende
des Kernes ein ziemlich faserreiches Gewebe sich findet. Im
vorderen Theile sieht man nur ein etwas rareficirtes Nerven¬
fasernetz. Die Ganglienzellen sind von normaler Beschaffenheit,
jedoch enger aneinander gerückt und die Grundsubstanz scheint
etwas dichter.
Das mediale Mark des linken rothen Kernes ist viel
schmäler und seine Fasern im Allgemeinen dünner als rechts.
Im ventralen Mark und den beiden Haubenkreuzungen
besteht kein bedeutender Unterschied zu Ungunsten der linken
Seite.
Das aus dem rothen Kern distal austretende Markfeld (der
weisse Kern) ist links etwa halb so gross als rechts, und seine
Fasern sind dünner. Der daraus gekreuzt hervorgehende Binde-
Digitized by
Google
230
Dr. Ernst Bischoff.
arm lässt dieselbe Verkleinerung bis zu seinem Eintritte ins
Kleinhirn verfolgen. Das Meynert’sche Bündel ist links etwa
halb so gross als rechts. Hinteres Längsbündel und die lateral
davon befindliche Subst. reticular. verhalten sich normal.
Die Schleife ist links durch ihren ganzen Verlauf auf ein
kleineres Feld beschränkt. Der Unterschied der links und
rechts von derselben bedeckten Fläche ist in der Vierhügel-
gegend kein bedeutender. Dagegen zeigen sich an Carmin-
schnitten bei stärkerer Vergrösserung beträchtliche Differenzen.
Links sieht man fast keine einzige quergeschnittene
Fig. 5. Ebene der proximalen Oculomotoriuskerne.
Nervenfaser zwischen den schräg aufsteigenden Bündeln, wie
sie normalerweise zahlreich vorhanden sindf(Fig. 6).
Dem entsprechend ist auch dieses Feld mit freiem Auge
betrachtet, röthlich gefärbt, während es rechts fast weiss
erscheint. Je mehr die Schnitte sich vom Sehhügel entfernen,
desto mehr Faserquerschnitte tauchen im Schleifenfelde auf.
Trotz genauer Durchsuchung der Präparate konnte ich ein ver¬
schiedenes Verhalten der einzelnen Theile der Schleife nicht
constatiren. Nur die sogenannte obere Schleife erscheint an
Gesammtausdehnung sehr reducirt. Fasern mit starker Mark¬
scheide sind in der Gegend des rothen Kernes überhaupt nicht
im Gebiete der Schleife vorhanden. In der Gegend der hinteren
Digitized by Google
Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
231
Vierhügel, wo sie schon fast ausschliesslich quergeschnittene
Nervenfasern enthält, sieht man links die ganze Schleife mit
Ausnahme der unteren Vierhügelschleife auf die halbe Aus¬
dehnung der rechten reducirt. Innerhalb ihres Bereiches finden
sich hauptsächlich feine Fasern. Die laterale Hälfte der Haupt¬
schleife scheint stärker verändert als die mediale. Die feinfase¬
rigen Bündel der Fussschleife sind nach ihrem Anschlüsse an
die Schleifenschicht links und rechts ein Stück nach abwärts
zu verfolgen, mischen sich aber bald unter die übrigen Bündel.
Die sogenannten lateralen pontinen Bündel Schlesinger’s
fass. Schläfe
Fig. 6.
(Bechterew’s accessorische Schleife) sind ebenfalls beiderseits
als ziemlich mächtige, allmählich vom Fusse zur Schleife über¬
gehende Bündel zu verfolgen. Die medial der Schleife einge¬
lagerten, sowie die lateral dorsal davon empfindlichen grauen
Massen sind normal. Im weiteren absteigenden Verlaufe ist die
linke Schleifenbahn gleichmässig um mindestens ein Drittel
kleiner als die rechte, die Fasern sind in allen Theilen
derselben dünner. Die Olivenzwischenschicht ist links etwas
mehr wie halb so breit als rechts (Fig. 7).
Schon in dem unteren Abschnitte der unteren Oliven ist
eine Verschiedenheit in der Zahl und Dicke der ventralen
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232
Dr. Ernst Bisehoff.
Bogenfasern zu Gunsten der linken Seite vorhanden. Daran
nehmen auch einige das dorsale Olivenblatt durchbrechende
Fasern theil. Von hier nach abwärts lässt sich continuirlich
eine bessere Entwickelung der Bogenfasern der linken Seite
verfolgen, und zwar ist der Unterschied wohl ein ziemlich
gleichmässiger; er tritt aber in Olivenhöhe deutlicher hervor,
weil die Bogenfasern hier länger sind und zerstreut liegen
(Fig. 8).
Die beiden Hinterstrangskerne sind rechts bedeutend
geschrumpft. Sie dürften kaum die Hälfte der Ausdehnung
dieser Kerne der linken Seite haben. Normal ist nur die soge-
O. rest.
RVa
W
JfäcLW.
Oben? Olive
Fig. 7.
nannte laterale Abtheilung des Burdach’schen Kernes, die
übrigen Theile sind geschrumpft. Im Goll’schen Kern scheint
die Veränderung höheren Grades zu sein, wenigstens sind hier
in manchen Schnitten gar keine Ganglienzellen sichtbar.
Zwischen den verschiedenen Regionen dieses Kernes besteht in
dieser Beziehung kein Unterschied. Die erhaltenen Nervenzellen
sind durchwegs klein, oft sehr schmächtig oder unregelmässig
begrenzt, der Kern ist in der dunkel gefärbten, homogen er¬
scheinenden Substanz des Zellkörpers fast nie kenntlich. Nahe
der Einstrahlungszone der Kreuzungsfasern finden sich im rechten
Goll’schen Kerne einige ziemlich gut erhaltene spindelförmige
Ganglienzellen. Endlich sind in beiden Goll’schen Kernen einige
grosse, blasige, blass gefärbte Zellen vorhanden. Das Faser-
Digitized by U^ooQle
Cerebrale Kinderlähmung nach Sebhügelblutung. 233
netz des rechten Goll’schen Kernes ist nicht deutlich rareficirt.
(Fig. 12.)
Im medialen Burdach’schen Kerne scheint die Zahl
der Ganglienzellen nicht so bedeutend vermindert zu sein. Die
Atrophie der Zellen ist hier aber auch eine ganz allgemeine.
Viele dieser Zellen sind nicht viel grösser als die Gliakerne.
Auch hier ist ein beträchtlicher Schwund des Nervennetzes
nicht eingetreten. Die Grundsubstanz und die Gliakerne sind
in beiden Kernen links und rechts ganz gleich. Die Nerven¬
fasern, welche sich aus der Schleifenkreuzung in die Hinter-
Pig- 8.
strangskerne auflösen, sind rechts weniger dicht und oft feiner.
In den Hintersträngen, so weit sie nach abwärts zu verfolgen
waren, fiel keine Abnormität in die Augen.
Die übrigen Gebilde der Haube erscheinen absolut
normal und beiderseits gleich ausgebildet. Hervorzuheben ist,
dass die centrale Haubenbahn keine Atrophie erkennen liess,
dass die grauen Massen der Formatio reticularis ganz symme¬
trisch angeordnet waren, ebenso die Kerne und Markmassen
beider Vierhügel, die motorischen Trigeminuswurzeln, sämmtliche
Hirnnervenkerne und Wurzeln. Nur der sensible Trige¬
minuskern der rechten Seite kann nicht mit Bestimmtheit als
gesund erklärt werden. Seine Ausdehnung scheint ein wenig
Jalirbflcher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 16
Digitized by Google
234
Dr. Ernst Bisehoff.
kleiner und seine an Zahl wohl dem linken gleichen Ganglien¬
zellen sind im Allgemeinen etwas kleiner. Die Unterschiede
sind aber so gering, dass ich dieselben für weitere Schluss¬
bildungen nicht verwerthen möchte. Auch ist die spinale Quintus-
wurzel und ihre Substantia gelatinosa beiderseits ganz normal.
Mit Ausnahme der gleich zu besprechenden Pyramidenbahn sind
auch alle übrigen Gebilde nach abwärts normal. Die Brücken¬
kerne sind in allen Theilen der Brücke gleichmässig entwickelt
und die Brückenarme von gleicher Mächtigkeit.
Die Substantia nigra ist nicht pathologisch verändert.
Im Verlaufe des Hirnschenkelfusses bis zur Brücke besteht
links rechts
Fig. 12. Goll’scher Kern.
die geringe Verkleinerung derselben auf der linken Seite fort.
Sie dürfte höchstens ein Viertel des Gesammtvolumens betragen.
Die Fasern stehen überall dicht. Weil sehr wenige Fasern quer¬
geschnitten sind, kann man nicht beurtheilen, ob dieselben
ganz gleichen Calibers sind wie die der rechten Seite. Die
Fasern der lateralen pontinen Bündel sind von gleicher Stärke.
Innerhalb der Brücke bleiben die Verhältnisse dieselben. In der
Medulla oblongata ist der Volumunterschied der Pyramiden
grösser. Die linke ist wohl um ein Drittel kleiner. Ihre Fasern
sind aber gleich gross und ebenso angeordnet wie rechts. Die
Pyramidenkerne sind normal, ebenso die Fibrae arcuatae ext.
In der Pyramidenkreuzung findet ein Ueberwiegen der von
rechts nach links verlaufenden Kreuzung statt.
Digitized by Google
Cerebrale Kinderlähmung naeh Sehhügelblutung.
235
Die anatomischen Untersuchungsresultate in ihren
wichtigsten Zügen sind folgende: Vom linken Sehhügel im
engeren Sinne sind alle Bestandtheile mehr oder weniger
erkrankt. Das Tuberculum anterius ist völlig zerstört, vom
lateralen Kern sind geringfügige Reste erhalten, der mediale
Kern ist in beiden Abtheilungen bedeutend verkleinert, der
Nucleus ventral, a. und b. etwa in demselben Masse geschrumpft,
der Nucleus ventral, c. und der hintere Kern ziemlich wohl er¬
halten, das Pulvinar zerstört.
Die radiären Fasern der Gitterschicht müssen zum grössten
Theile degenerirt und zur Resorption gekommen sein, ebenso
das Vicq d’Azyr’sche Bündel, die beiden Lam. medull. sind nicht
deutlich und ihre Fasermassen jedenfalls reducirt, ebenso die
Haubenstrahlung. Die Taenia thalami ist zerstört, die Fornix-
säule fast verschwunden, das Corpus mamillare geschrumpft
und degenerirt. Dagegen ist die Linsenkernschlinge sammt dem
Felde H 2 , das Corpus subthalamicum, die Zona incerta und das
gesammte Höhlengrau sehr gut erhalten, ebenso die Meynert’sche
Commissur. Ausserhalb dieser Region erscheint alles normal
mit Ausnahme:
1. Der Schleifenbahn, welche cöntinuirliche Volumsvermin¬
derung und theilweisen Faserausfall, sowie Verkleinerung des
durchschnittlichen^ Faserquerschnittes zeigt; diese Veränderungen
sind durch die Schleifenkreuzung bis in die rechtsseitigen
Hinterstrangskerne zu verfolgen, deren Zellen theils geschrumpft,
theils resorbirt sind;
2. der Sagittalbündel des linken rothen Kernes, welche
zum grossen Theile fehlen; dieser Faserausfall ist in den ge¬
kreuzten Bindearm zu verfolgen, an dem hauptsächlich Volums-
verminderung besteht;
3. der inneren Capsel und des Hirnschenkelfusses, sowie
deren Fortsetzung in der Pyramide links, welche eine Volums¬
verminderung aufweisen ohne andere Structurveränderungen.
In den Haubenfascikeln konnte keine Asymmetrie nach¬
gewiesen werden.
Der Hirnmantel, der makroskopisch ein normales Aussehen
hatte, konnte mikroskopisch nicht untersucht werden.
16 *
Digitized by Google
236
Dr. Ernst Bisehoff.
Der Krankheitsprocess hat den Thalamus opticus zum Theile
zerstört, zum Theile sind die nervöseD Gebilde in der Kapsel der
Cyste zugrunde gegangen.
Der erhaltene Rest des Sehhügels (im engeren Sinne,
also mit Ausschluss der beiden Kniehöcker) bietet in seinem
grössten Theile vom Normalen abweichende Verhältnisse dar.
Die medialen und ventralen Kerne (ausgenommen der hinteren)
sind in ihren Dimensionen mehr minder reducirt, sie enthalten
viel weniger und fast durchaus kleinere Ganglienzellen als die
entsprechenden Kerne der rechten Seite, und ihr Nervenfasernetz
ist zum Theile deutlich geschwunden. Ich möchte diese Verände¬
rungen nicht als mechanische Wirkung der benachbarten Cyste
allein ansehen, da sie nicht überall gleich ausgesprochen sind.
Der Nucleus medialis a. ist relativ viel besser erhalten als die
übrigen (Med. b., ventr. ant., a. und b.). Ich glaube deshalb, dass
an dem stärkeren Erkranktsein der letzteren auch eine innigere
Beziehung ihrer Nervenfasern mit den zerstörten Gebieten mit¬
schuldig ist. Mein Befund weist also darauf hin, dass der
nucleus med. a. nicht in so enger anatomischer Ver¬
bindung mit dem lateralen Kern steht, als die oben ge¬
nannten Kerne, die schlechter erhalten sind. Ebenso
muss ich aus der Intactheit der distalen Theile des lateralen
und ventralen Kernes schliessen, dass sie von den zerstörten
Theilen anatomisch unabhängig sind. In habe in der Beschrei¬
bung der Präparate vermieden, eine Unterscheidung zwischen
degenerativen und atrophischen Veränderungen zu machen, da
die Gefahr einer Täuschung in dieser Beziehung sehr gross ist,
wenn der acute Krankheitsprocess schon so viele Jahre ver¬
gangen ist, wie das in meinem Falle war. Auch werden von ver¬
schiedenen Seiten die Begriffe der Degeneration und Atrophie
nicht in übereinstimmender Weise angewendet, so dass ihre Be¬
nützung leicht zu Missverständnissen führen könnte. Endlich
sind unsere Kenntnisse über die Gesetze, nach denen die retro¬
grade Degeneration und die Atrophie verläuft, noch zu gering,
so dass man in diesem Gebiete leicht zu Fehlschlüssen und zu
einer künstlichen schematischen Auffassung verleitet wird, die
dem wahren Sachverhalte nicht entspricht. Doch halte ich es
fast für selbstverständlich, dass eine Nervenbahn oder Ganglien¬
zellengruppe umsomehr leiden muss, je intimer ihre Beziehung
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
237
zu dem primär zerstörten Gebiete ist. Von diesem Gesichts¬
punkte aus hoffe ich die anatomischen Verhältnisse meines Falles
kritisch beurtheilen zu können, ohne Fehlschlüsse daraus zu
ziehen.
Total verschwunden sind die Radiärfasern des
Thalamus mit Ausnahme der hinteren ventralen Bündel. Dieser
Befund steht in Einklang mit den Untersuchungsergebnissen
v. Monakow’s, welcher bei Hirnrindenläsionen, die hauptsäch¬
lich in den Parietalwindungen localisirt waren, diese • Fasern
secundär zugrunde gegangen fand. Aus den hochgradigen Ver¬
änderungen der zugehörigen Ganglienzellen der lateralen und
ventralen Sehhügelkerne in diesen Fällen hat v. Monakow ge¬
schlossen, dass in ihnen der Ursprung der Radiärfasern zu
suchen sei, welche also ein centripetal zur Rinde leitendes
System darstellen. Mein Fall hat ergeben, dass bei Zerstörung
dieser Thalamuskerne die Radiärfasern spurlos verschwinden, und
beweist mithin die Richtigkeit der obigen Annahme neuerlich.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Vicq d’Azyr-
schen Bündel; dasselbe verbindet das Corpus mamillare mit
dem vorderen Sehhügelkern. v. Monakow fand bei Necrose des
Uncus und des Ammonshornes constant (degenerativen) Schwund
der Fornixsäule und der interstitiellen Faserung des Corpus
mamillare, sowie Veränderungen an den Ganglienzellen des
letzteren und an dem Vicq d’Azyr’sehen Bündel. Das Corpus
mamillare war in ganz gleicher Weise erkrankt wie das Corpus
geniculat. ext. nach Läsion des N. opticus und das Corpus
genic. int. nach Durchschneidung der unteren Schleife. Daraus
ergab sich der Schluss, dass die Fornixsäule nicht im Corpus
mamillare, sondern in seiner Rindenzone, der Ammonshorngegend,
ihren Ursprung nimmt. In meinem Falle war die Erkrankung
des Corpus mamillare eine viel hochgradigere und principiell
von der oben geschilderten Erkrankungsform verschieden.
Während nach Läsion der Rindenzone hauptsächlich
das interstitielle Fasernetz zugrunde ging und die
Ganglienzellen fast in normaler Zahl erhalten blieben
und nur in Form und Grösse verändert waren, sind nach
Läsion des vorderen Sehhügelkernes die Ganglien¬
zellen des Corpus mamillare ziemlich vollständig zu¬
grunde gegangen, und das Vicq d’Azyr’sche Bündel ist
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238
Dr. Emst Bisehoff.
vollständig verschwunden. Aber auch die Fornixsäule
ist bis auf geringe Reste resorbirt. Da ich nicht im Stande
war, diese durch ihren weiteren Verlauf zu verfolgen, kann ich
nicht entscheiden, ob die Ursache ihres Schwundes nur in der
Erkrankung des Corpus mamillare zu suchen ist, oder ob nicht
eine Druckwirkung der Cyste im Sehhügel auf den langen
Verlauf des Fornix zur starken Schädigung desselben beigetragen
hat. Aus diesem Grunde kann ich auch nicht entscheiden, ob
die hochgradige Erkrankung des Corpus mamillare allein auf
die primäre Zerstörung des vorderen Sehhügelkernes zurück¬
zuführen ist, oder ob diese erst in Verbindung mit der Schädi¬
gung des Fornix im Stande war, das Corpus mamillare zu voll¬
ständigem secundären Schwund zu bringen. Aus dem Befunde
lässt sich nur schliessen, dass die Ganglienzellen des
Corpus mamillare zu ihrer Existenz die Verbindung
mit dem vorderen Thalamuskern durch das Vicq d’Azyr-
sche Bündel nothwendig brauchen, eventuell könnte auch
der vordere Thalamusstiel, der in meinem Falle auch ver¬
schwunden war, hier eine Rolle spielen. Während also nach
Schwund der Fornixsäule die interstitiellen Veränderungen des
Corpus mamillare im Vordergründe stehen und die Ganglienzellen
derselben nur leicht erkranken, geht nach Schwund des Vicq
d’Azyr’schen Bündels und bei Erkrankung der Fornixsäule das
Corpus mamillare in allen seinen Theilen zugrunde. Es besteht
offenbar keine Faserverbindung dieses Körpers nach einer an¬
deren, in meinem Falle nicht zerstörten Region des Gehirns.
Dass das Corpus mamillare nicht etwa primär durch Druck zu¬
grunde gegangen ist, geht daraus hervor, dass die Ganglien¬
zellen des Höhlengaues in seiner nächsten Umgebung und seiner
lateralen Zellgruppe nicht geschwunden sind.
Mit Ausnahme der bisher genannten Theile (Radiärfasern,
C. mamillare mit seinen Faserverbindungen und vorderer
Thalamusstiel) ist in den primär verschont gebliebenen Gebieten
nirgends ein vollständiges Zugrundegehen einzelner Zell- und
Fasergruppen zu constatiren.
In den erhaltenen Kernen des Sehhügels ist es, wie oben
beschrieben, zum grossen Theile zu hochgradigen Veränderungen
gekommen. Daran betheiligen sich die Kniehöcker und die ven¬
tralen distalen Kerngruppen nicht. Diesen Umstand, dass be-
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhiigelblutung.
239
trächtliche Theile des Sehhügels erhalten blieben, will ich
nochmals hervorheben, weil dadurch erklärt wird, warum die
secundären Veränderungen in den Bahnen, die den Sehhügel
mit den distalen Hirntheilen verbinden, fast überall nur theil-
weise platzgegriffen haben.
Die Haubenstrahlung ist auf ein kleineres Feld be¬
schränkt als rechts, und die Fasernetze innerhalb der Sehhügel¬
kerne sind zum grossen Theile stark rareficirt. Die Verbindung
dieser Theile mit den geschädigten Sehhügelkernen ist sicher¬
gestellt und ihre Erkrankung war daher zu erwarten.
Pie Faserbündel des Feldes H 2 und der Linsen¬
kernschlinge sammt der Kapsel des Corpus subthalamicum
(Die schräg geschnittenen Fasern gehören dem hinteren Vierhügelarm an.)
sind wohl erhalten geblieben. Es ist bekannt, dass sie grossen-
theils eine Verbindung der Haube mit dem Linsenkern dar¬
stellen. Aus meinem Falle geht hervor, dass sie von den zer¬
störten Sehhügelabschnitten unabhängig sind. Auch der Luys’sche
Körper selbst lässt keine Veränderung bis auf geringe wahr¬
scheinliche Volumsreduction erkennen; seine Zellen und Fasern
entsprechen in Grösse und Anordnung ganz denen der gesunden
Seite. Dasselbe kann man von der Zona incerta und von der
Substantia nigra aussagen. Erkennbare Veränderungen sind in
diesen Theilen nicht nachweisbar; sie sind also mit den dorsalen
Sehhügelabschnitten auch nicht in gegenseitiger Abhängigkeit.
Die secundäre Veränderung der Schleifenbahn war
eine sehr ausgesprochene. Einen deutlichen Faserausfall konnte
ich nur in der oberen Schleife nachweisen, während für den
Haupttheil die Frage offen bleiben muss, ob der Mangel an quer-
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240
Dr. Ernst Bischoff.
geschnittenen Nervenfasern durch Faserschwund (Fig. 9) oder
durch eine zufällige schrägere Stellung der Fasern erklärt
werden muss. Letzteres erscheint mir höchstens für einen Theil
der Fasern geltend. Denn schon die Grösse der Einbusse an
Volumen des ganzen Schleifenfeldes war beträchtlicher, als es
nach einfacher Atrophie bei Hirnrindenzerstörung der Fall ist.
Da ein Theil der Rindenschleife jedenfalls ziemlich intact war
(zahlreiche, ziemlich starke Fasern in der Olivenzwischenschicht),
so kann ein Verlust an Volumen, der mehr als ein Drittel des
Gesammtvolumens beträgt, nur auf Rechnung theilweiser Faser¬
resorption gestellt werden. Die grössere Anzahl feiner Fasern
in der Schleife innerhalb der Brücke (Fig. 10) lässt darauf
schliessen, dass in einem Theile der Fasern auch nur Verschmä¬
lerung eingetreten ist. Da in meinem Falle die Schleife hoch¬
gradiger erkrankt war, als nach Rindenläsionen zu geschehen
links rechts
Fig. 10. Hauptschleife.
pflegt, muss ich annehmen, dass ein beträchtlicher Theil
der „Rindenschleife” mit den hier zerstörten Sehhügel¬
kernen direct oder indirect in Verbindung steht.
Ob Schleifeofasern ohne Unterbrechung im Sehhügel zur
Hirnrinde aufsteigen, lässt sich durch meinen Fall nicht ent¬
scheiden. Ein Ursprung solcher Fasern in den Hinterstrangs¬
kernen könnte aber nur in geringem Ausmasse zugestanden
werden, da diese auf der gekreuzten Seite ganz allgemein
erkrankt erscheinen.
Einen Uebergang erkrankter Schleifenfasern in die ver¬
schiedenen Kerne der Haube, respective eine Veränderung in
diesen, konnte ich nicht feststellen. Das Bündel vom Fuss zur
Schleife war entsprechend der geringen Volumsreduction des
Hirnschenkelfusses links und rechts in gleicher Weise ausge¬
bildet. Für eine theilweise Anlagerung von neuen Schleifenfasern
grossen Calibers innerhalb der Brücke spricht das Auftauchen
solcher Fasern in tieferen Schnittebenen. Den hauptsächlichsten
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
241
Zuwachs an dicken Fasern dürften die Bündel der accessorischen
Schleife Bechterew’s liefern, welche in den distalen Theilen
des Hirnschenkelfusses sich von diesem lostrennen und der
Schleifenschicht angliedern. Aber auch in Bezug auf feinere
Fasern muss ein öfteres Ein- und Austreteu solcher in verschie¬
denen Ebenen angenommen werden, wenn man die in gewissen
Abschnitten rasch wechselnde Zusammensetzung dieser Bahn
in Betracht zieht.
Auf Grund meines Falles war eine Trennung der Haupt¬
schleife in verschiedene constante Bündel nicht möglich. Die
gesund gebliebenen Fasern erscheinen überall gleichmässig ver¬
theilt. Eine geschlossene Degeneration vom Sehhügel nach
J^Yaserrv
JTZette JlCZeTte
links rechts
Fig. 11. Rother Kern.
abwärts hätte wohl nicht durch Resorption und Verschiebung
so vollständig zum Verschwinden gebracht werden können. Ich
nehme daher an, dass die in den zerstörten Theilen des Seh¬
hügels endigenden Schleifenfasern unter andere Bestandtheile
derselben gemischt, nach abwärts laufen.
Die Veränderung im rothen Kern war, wie oben
bemerkt, auf die Sagittalfasern derselben beschränkt. Diese
waren aber in sehr hohem Grade geschwunden, so dass in den
proximalen Ebenen fast nichts davon übrig geblieben war. Alle
diese Fasern dürfen daher mit dem Herd im Sehhügel in
directen Zusammenhang gebracht werden, mit anderen Worten,
die Sehhügelregion erscheint nach diesem Befunde als der
eine Endpunkt für diese ziemlich grosse Anzahl von Fasern.
Da der Bindearm ziemlich ausschliesslich cerebralwärts leitet
und im rothen Kern keine Zelldegeneration aufgetreten ist, muss
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242
Dr. Ernst Bischoff.
man annehmen, dass die Fasern, welche hier degenerirt waren,
direct aus dem Kleinhirn, wo sie ihre Ursprungszellen besitzen,
in den gekreuzten Sehhügel verlaufen, dabei den rothen Kern
passiren, ohne eine Unterbrechung zu erleiden. Der
Faserschwund liess sich dem entsprechend durch den ganzen
Verlauf dieser Bahn in gleichmässiger Weise verfolgen. Dagegen
konnte ich an den Ganglienzellen des rothen Kernes eine
degenerative oder atrophische Veränderung nicht nachweisen.
Eine Verbindung dieser Zellen mit den zerstörten Seh¬
hügelgebieten scheint also nicht zu bestehen. Es sei
noch hervorgehoben, dass in distaleren Ebenen sagittale Faser¬
bündel wieder auftauchten, und dass das markhaltige Fasernetz
im ganzen rothen Kern gut ausgebildet ist, was mit der Intact-
heit der Ganglienzellen in Einklang steht.
Die Volumsreduction, welche die innere Kapsel erlitten
hatte, ist zum Theile jedenfalls durch den Ausfall der Fasern
der Gitterschicht entstanden. Ausserdem besteht die Volums¬
reduction aber im Hirnschenkelfuss und in der Pyramidenbahn
noch fort, da sie in der Medulla oblongata relativ etwas be¬
deutender erscheint als im Hirnschenkelfuss, glaube ich annehmen
zu können, dass der Grund derselben hauptsächlich in mangel¬
hafter Ausbildung der Pyramidenfasern zu suchen ist.
Darauf deutet auch der Umstand hin, dass die grauen
Massen der Brücke beiderseits ganz gleich und normal sind,
und dass auch der rechte mittlere Kleinhirnstiel durchaus nicht
erkrankt ist. Auch die Gangliengeflechte der Haube sind hier
ganz normal geblieben. Da alle diese Theile bei primären
Rindenläsionen und secundärer Degeneration des Hirnschenkel-
fusses in den bisher beobachteten Fällen von infantiler Er¬
krankung deutlich verändert waren, kann man aus ihrer Intact-
heit in meinem Falle schliessen, dass auch die zugehörenden
Fasern des Fusses und der inneren Kapsel nicht bedeutend
erkrankt waren.
Auf dieses auffallende Verhalten, dass von den Fasern¬
zügen, welche in der inneren Kapsel am Thalamus vorbei¬
streichen, nur die Fasern der Pyramidenbahn in ihrem weiteren
Verlaufe eine erkennbare Schädigung aufweisen, werde ich unten
noch einmal zurückkommen. Doch glaube ich schon jetzt die
sich daraus ergebende Schlussfolgerung aussprechen zu sollen,
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
243
dass nämlich dieses Verhalten gegen die Annahme spricht,
dass die Pyramidenfasern in ihrem Verlaufe durch die innere
Kapsel durch Fernwirkung von Seite des primären Krankheits¬
herdes im Sehhügel geschädigt wären* denn in diesem Falle
hätten die übrigen Fasern, welche aus der Hirnrinde durch die
innere Kapsel und den Hirnschenkelfuss zur Brücke verlaufen,
ebenso gelitten.
Auch der Umstand, dass innerhalb der Pyramidenbahn
nirgends eine Spur von degenerativen Veränderungen zu sehen
ist, spricht dafür, dass die Schädigung derselben in irgend einer
indirecten Weise entstanden ist. In den Fällen nämlich, wo die
Pyramidenbahn durch Zerstörung der motorischen Rindenfelder
oder durch Unterbrechung an einer Stelle ihres absteigenden
Verlaufes erkrankt ist, kommt es zu einer Degeneration, die
auch nach vielen Jahren noch einen deutlichen Fasermangel im
distalen Verlaufe zur Folge hat. Auch wenn die Unterbrechung
in frühester Kindheit stattgefunden hat, sind die Pyramiden
nicht nur kleiner, sondern auch in diesem kleineren Felde faser¬
ärmer; an Stelle der ausgefallenen Fasern tritt gewuchertes
Gliagewebe. In meinem Falle ist aber ausser der Verkleinerung
der Pyramide gar kein Unterschied gegenüber der gesunden
Seite vorhanden, die linke Pyramide erscheint bei starker Ver-
grösserung in Grösse und Anordnung ihrer Fasern durchaus
nicht von der rechten verschieden. Das beschriebene anatomische
Bild ebenso wie die vollständig hemiplegischen Erscheinungen
weisen jedenfalls darauf hin, dass die Pyramidenbahn als
Ganzes in gleichmässiger Weise in ihrer Entwickelung
und Function durch die Zerstörung im Sehhügel ge¬
litten haben dürfte.
Endlich möchte ich hervorheben, dass die geringe Er¬
krankung der linken Pyramide die hochgradige rechts¬
seitige Hemiplegie nicht genügend erklärt. Da die Er¬
krankung in so früher Jugend entstanden ist, wäre sehr wohl
die Gelegenheit für ein vicariirendes Eintreten der rechten
Hemisphäre vorhanden gewesen. Ich finde auch zur Erklärung
dieses Verhaltens keinen anderen Ausweg als den Factor, der
meinen Fall von den gewöhnlichen Hemiplegien unterscheidet,
nämlich, dass dort die Function des zerstörten Sehhügels aus¬
gefallen ist.
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244
Dr. Ernst Bischoff.
Die Erkrankung der hier besprochenen Patientin muss als
cerebrale Kinderlähmung bezeichnet werden. Während des
Lebens war wohl gar kein Anhaltspunkt dafür vorhanden, dass
der Erkrankungsherd nicht wie gewöhnlich in der Hemisphären¬
rinde oder in ihrem Mark, sondern im Sehhügel sich befand.
Die Symptome sind solche, wie sie bei Herden in
den motorischen Rindenfeldern, die etwa auf die hin¬
teren Parietalwindungen übergreifen, vorausgesetzt
werden können.
Von den bei Sehhügelherden öfter erwähnten Symptomen
waren nur die Athetose und die Sensibilitätsstörungen
(abgesehen von den Lähmungserscheinungen) in diesem Falle
vertreten. Freilich ist einer Reihe anderer Symptome die
Existenzbedingung durch den Mangel der freien Beweglichkeit
genommen. Chorea, Zwangshaltungen, Ataxie sind bei Hemiplegie
mit Contracturen unmöglich, eine stärkere mimische Lähmung
ist bei Facialislähmung ebenso wenig denkbar.
Die Athetose kommt zwar sehr häufig bei Sehhügelherden
zur Beobachtung, sie kann jedoch hier auch fehlen und anderer¬
seits bei Rindenläsionen angetroffen werden.
Die Sensibilitätsstörungen sind zwar häufig bei Seh¬
hügelerkrankungen, man hat sich bisher darüber aber noch
nicht geeinigt, ob sie direct darauf bezogen werden können.
Es würde mir sehr schwer fallen, für meinen Fall
eine andere als eine directe Entstehung durch die
Sehhügelerkrankung anzunehmen. Eine Fernwirkung auf
das hintere Drittel des hinteren Kapselschenkels ist auf Grund
der anatomischen Untersuchung auszuschliessen. Da die Bahnen
und Centren der Haube mit Ausnahme der secundär veränderten
Theile gesund waren, bleibt zur Erklärung der Sensibilitäts¬
störung nur die Annahme, dass der Zerfall des grösseren
Theiles des linken Sehhügels genügte, um die Empfindung an
der Hand (sonst ist sie nicht geprüft) herabzusetzen.
Die epileptischen Anfälle scheinen die Eigentümlich¬
keit gehabt zu haben, dass auch die gelähmten Glieder daran
betheiligt waren. Wenn man in Betracht zieht, dass die Pyra¬
midenbahn der linken Seite eine grosse Anzahl leistungsfähiger
Fasern enthielt, kann die Erklärung dafür keine Schwierig¬
keiten machen. Leider ist nicht bekannt, ob die Anfälle in einer
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
245
Körperhälfte oder in einem Gliede zuerst oder in allen Theilen
gleichzeitig auftraten.
Bevor ich zur Besprechung der bestandenen Hemiplegie
übergehe, welche wegen der sich ergebenden Schwierigkeiten
etwas ausgedehnter werden musste, will ich noch erwähnen,
dass das allgemeine Zurückbleiben im Körperwachsthum
auch für Sehhügelerkrankungen nicht pathognomisch ist. Be¬
kanntlich bleibt bei einer grossen Anzahl cerebraler Kinder¬
lähmungen der gelähmte Theil im Wachsthum zurück. Dass
andererseits trophische Störungen bei Sehhügelerkran¬
kungen oft Vorkommen, bestätigt und stützt meine An¬
schauung, dass man auch für dieses Symptom so wie für
alle anderen mit der Annahme directer oder indirecter
Folgen der Herderkrankung auskommt. Ich füge noch
hinzu, dass in letzterer Zeit gerade über trophische und vege¬
tative Functionen des Sehhügels von Eisenlohr 1 ) u. A., sowie
von Bechterew 2 ) geschrieben wurde. Ein weiteres Eingehen
auf dieses Gebiet ist hier aber nicht am Platze.
Die in Folge von Sehhügelerkrankungen aufgetretenen
motorischen Lähmungserscheinungen sind in den neueren
Arbeiten von Nothnagel, 3 ) Wernicke, 4 ) Oppenheim 5 ) als
Fernwirkungen auf die innere Kapsel aufgefasst worden.
Wernicke zieht sogar die Thatsache, dass bei Blutungen in den
Sehhügel oft ohne apoplektischen Insult eine Hemiplegie als
hervorstechendes Anfangssymptom beobachtet wurde, zur Stütze
seiner Theorie über die Entstehungsart des apoplektischen In¬
sultes und der Hemiplegie durch Fern Wirkung herbei: Für den
Insult sei die Höhe des traumatischen Momentes allein mass¬
gebend, während die Hemiplegie ausserdem noch in einer ge¬
wissen Abhängigkeit von der Localität der Blutung steht, indem
sie um so leichter zu Stande kommt, um so ausgeprägter und
hartnäckiger ist, je weiter abwärts von der Binde aus gerechnet
die Blutung sitzt. Die Fälle von Thalamusblutung mit Hemi¬
plegie sind aber die einzige Stütze für den zweiten Theil
4 ) D. Zeitschr. f. Nervenh. I. u. III.
2 ) Neurol. Centralbl. 1894, S. 584 etc.
3 ) Diagnostik der Gehirnkrankheiten.
4 ) Gehimkrankheiten II.
5 ) Geschwülste des Gehirns.
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246
Dr. Ernst Bischoff.
dieser Theorie. Die wenigen Fälle von Streifenhügel- und
Linsenkernblutungen oder Erweichungen ohne Betheiligung der
inneren Kapsel, die veröffentlicht worden sind, können nicht
mehr zur Unterstützung obiger Theorie verwendet werden. Von
Wernicke selbst sind zwei Fälle von Blutung in die äussere
Kapsel und ins Putamen mitgetheilt, welche nur acht-, respective
zwölftägige Parese der Motilität und Sensibilität zur Folge
hatten, sowie ein Fall von je einer Erweichung im Linsenkern
und im Streifenhügel, die bis an den Rand der inneren Kapsel
reichten und doch nur eine nach acht Tagen verschwundene
Hemiplegie verursachten.
Eine andere hier verwerthbare Beobachtung ist von Jour-
niac 1 ) mitgetheilt: Ein 70jähriger Greis litt an Melancholie und
Zwangsgedanken; somatisch fand sich nur eine (wohl physiolo¬
gische) Pupillen Verengerung, während die Motilität und Sen¬
sibilität normal war. Die Obduction ergab einen mandelgrossen
hämorrhagischen Herd im linken Linsenkern, der beide
äusseren Glieder desselben fast vollständig zerstört hatte.
Bramwein) beobachtete einen Fall, der ohne Lähmungen ver¬
lief; es bestand ein Krebs, der den ganzen linken Linsenkern
zerstört hatte. Endlich kann hier der allerdings weniger ver¬
werthbare Fall von Anton 3 ) angereiht werden, in dem beider¬
seitige Narben im Putamen bestanden und vom neunten Lebens¬
monate an bis zum Tode heftige Chorea, aber keine Lähmung
bestand. Aus diesen Fällen geht also hervor, dass dauernde
Hemiplegie bei Linsenkern- und Streifenhügelläsionen, die
nicht die innere Kapsel mit zerstört hatten, bisher, soweit ich
die Literatur übersehe, nicht beobachtet wurden; auch wenn
die innere Kapsel dicht an den Herd grenzte, bestand keine
Lähmung. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Seh¬
hügel. Die Einwirkung der acut entstehenden Sehhügelerkran¬
kungen — die langsam wachsenden diffusen Geschwülste müssen
hier ausgeschlossen werden, da sie ja hier wie auch in anderen
Hirntheilen die Function der ergriffenen Gebiete oft lange un¬
gestört lassen können — auf die Motilität ist eine fast regel-
9 Annal. med. psych. 1891.
2 ) Brain 1888.
3 ; Ref. Neurol. Centralbl. 1898, S. 668.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
247
mässige. Je nach der Ausdehnung und dem Sitze des Herdes
sind die Erscheinungen verschieden. Ein grösserer Herd ver¬
ursacht aber immer Motilitätsstörungen. Es ist jedenfalls
nothwendig, vorübergehende von dauernden Läh¬
mungen zu unterscheiden. Dass eine ausgedehnte Blutung
in den Sehhügel durch Druck auf die innere Kapsel die moto¬
rischen Bahnen in ihrer Function stören kann, steht natürlicli
ausser Frage. Die Lähmung muss dann aber gleichzeitig mit
dem Insult eintreten. Wenn die reactiven Entzündungserschei¬
nungen bis ins Bereich der Pjramidenbahnen reichen, wird eine
so durch Fern Wirkung entstandene Hemiplegie stabil werden;
wenn das nicht der Fall ist, sollte man annehmen, dass sie
wieder zurückgeht. Es sind aber eine Reihe von Sehhügel¬
blutungen mit dauernden Lähmungen bekannt, bei welchen
die Pyramidenbahnen überall durch gesundes Gewebe von dem
Herde getrennt waren. (Pitres, Römy, Chouppe, Raymond,
Hughlings Jackson. 1 ) Das contrastirt auffallend mit der
geringen Empfindlichkeit der inneren Kapsel gegenüber benach¬
barten Herden in anderen Hirntheilen. Weiters ist der in diesen
Fällen offenbar innige Zusammenhang der Lähmungserschei¬
nungen mit anderen Störungen der Motilität auffallend. Bekannt¬
lich treten bei Sehhügelherden häufig Athetose, choreiforme, oft
sehr heftige Krämpfe, zwangsartige Bewegungen oder eine auf¬
fallende Schwerfälligkeit derselben oder vollständige Bewegungs¬
losigkeit auf. Daran ist noch die einigemale bemerkte Lähmung
der mimischen Bewegungen zu fügen. Diese sind alle von oben¬
genannten Forschern in directe Abhängigkeit von der Sehhügel¬
erkrankung gebracht worden. Im Falle von Pitres war die
Parese von eigenthümlicher Art, indem eine eigenartige Schwer¬
fälligkeit der Bewegungen bestand. Im ersten Falle von Go wer s
(citirt bei Nothnagel) ging die Hemiparese in starke Bewegungs¬
unstetigkeit über; im zweiten Falle von Gowers bestand neben
dauernder Hemiplegie stärkere Lähmung der Mimik. Veissiere
theilte einen Fall angeblich ohne Parese mit, notirt aber, dass
ein Bein geschleift wurde. Im Arm und nach einem zweiten
Anfalle auch im Bein bestand Chorea. Am auffallendsten ist der
Zusammenhang bei Raymond (erster Fall). Nach vorüber-
J ) Alle citirt bei Nothnagel und Wernicke.
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248
Dr. Ernst Bischoff.
gehendem Insult trat Erbrechen auf, dann rechtsseitiger Kopf¬
schmerz und Sausen, dann Parese im linken Facialis und im
linken Bein, während der linke Arm choreatische Bewegungen
zeigte.
Im Laufe der nächsten Wochen nahm die Lähmung zu und
wurde zur completen Hemiplegie, während die automatischen
Bewegungen aufhörten. Die Blutung sass in der inneren hinteren
Abtheilung des rechten Sehhügels.
Im zweiten Falle von Raymond bestand rechtsseitige
Hemiplegie nach dem apoplektischen Anfalle, die unvollständig
zurückging, dann trat Chorea der ganzen rechten Körperseite
auf, der Arm stand in Flexionscontractur, während der Hände¬
druck kräftig war. Ein gewisser Zusammenhang der ver¬
schiedenen Motilitätsstörungen erscheint in diesen Fällen wahr¬
scheinlich.
Eisenlohr 1 ) beschreibt folgenden Fall: Ein achtjähriges
Mädchen erkrankt einige Monate nach Scharlach an Schwäche
der linken Extremitäten, besonders in den distalen Theilen,
Schwerbeweglichkeit der Finger, leichter Gangstörung. Es be¬
stand Erschlaffung in der Musculatur der ergriffenen Theile,
Parese und leichte Incoordination der Hand- und Finger¬
bewegungen, Neigung des linken Fusses, nach unten und innen
zu fallen (Parese im Peroneusgebiete). Keine Spur von Con-
tractur. Die Daumenmusculatur war in ihrer faradischen Erreg¬
barkeit herabgesetzt. Nach Pneumonie kam bleibende Parese im.
linken Facialis dazu; der Tod erfolgte an acuter tuberculöser
Meningitis nach zwei Jahren. Es bestand eine Cyste von der
Grösse einer Kirsche im hinteren basalen Theile des rechten
Thalamus, an die Faserung der inneren Kapsel grenzend.
Derselbe Autor 2 ) fand bei beiderseitiger Zerstörung des
hinteren Drittels der Sehhügel mit Zerstörung im hinteren
Schenkel der inneren Kapsel Parese der unteren Extremitäten,
Kehlkopflähmung und excessive Mimik. Die beiden letzteren
Symptome sind auf den Sehhügel zu beziehen, da ja die moto¬
rischen Bahnen der oberen Extremitäten frei geblieben, die noch
weiter vorne liegenden Theile der motorischen Bahnen, welche
*) D. Zeitschr. f. Nervenh. in.
2 ) D. Zeitsehr. f. Nervenh. I.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
249
die Fasern für die motorischen Hirnnerven enthalten, von der
Erweichungsstelle aber noch weiter entfernt waren.
Anton 1 ) beobachtete einen Patienten mit homonymer
Hemianopsie, Sensibilitätsstörungen und Bewegungslosigkeit der
linken Körperhälfte, die wie ein Anhängsel an der rechten
Körperhälfte hing. Eine Erweichung hatte den ganzen Cunens,
die hinteren zwei Drittel des Thalamus sammt Corp. gen. int.
und ext. ergriffen. Die motorischen Bahnen blieben intact.
So weit ich die Literatur übersehen konnte, ist kein Fall
von ausgedehnter Sehhügelzerstörung bekannt, in dem keine
Lähmungserscheinungen bestanden, während irgend eine Moti¬
litätsstörung auch bei kleinen Herden fast regelmässig vorhan¬
den war.
Dagegen habe ich oben eine Reihe von Erkrankungen des
Linsenkernes und des Streifenhügels aufgezählt, wo keine Läh¬
mung bestand, obwohl der Herd bis nahe an den motorischen
Theil der inneren Kapsel reichte. Die Annahme, dass die Er¬
krankungen in der Tiefe der Hemisphäre deshalb häufiger Läh¬
mungen bewirken als die nahe der Rinde gelegenen, weil in
ersterem Falle die in der inneren Kapsel zusammengedrängten
motorischen Bahnen leichter durch Fernwirkung betroffen
würden, während ein Herd in der Rinde oder nahe derselben
nur dann die motorischen Centren oder ihre centrifugalen Bahnen
schädigen könne, wenn er von grösserer Ausdehnung 'und nahe
der motorischen Hirnregion localisirt sei, genügt zur Aufklärung
dieser Differenz nicht. Mit Hilfe dieser rein mechanischen
Auffassung lässt sich nicht erklären, warum die Moti¬
lität einer Körperhälfte so oft leidet, wenn im Seh¬
hügel ein Krankheitsherd besteht, der von der inneren
Kapsel durch einen makroskopisch sichtbaren Saum
primär nicht erkrankten Gewebes geschieden ist, wäh¬
rend eine Zerstörung im Linsenkern oder Streifenhügel, auch
wenn sie bis hart an die innere Kapsel reicht, ohne dauernde
Motilitätsstörung bleiben kann.
Diese Betrachtung führt zu der Annahme, dass die Er¬
krankungen des Sehhügels an und für sich geeignet sein können,
Störung in der Motilität zu verursachen. Schon Nothnagel
*) a. a. 0.
Jahrbücher f. Pnychiatrie und Neurologie* XV. Bd.
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250
Dr. Ernst Bischoff.
liat das in Bezug auf die motorischen Reizerscheinungen für
wahrscheinlich gehalten. Die in einigen der oben citirten Fälle
beobachtete Bewegungslosigkeit, das Ausbleiben von selbst¬
ständigen Willkürbewegungen nach Sehhügelerkrankung bieten
aber schon einen Hinweis darauf, dass es nicht unbegründet
sein dürfte, auch für die Lähmungszustände unter Umständen
einen directen Zusammenhang mit der Thalamuserkrankung in
Erwägung zu ziehen. Da sich der Erklärung dieser Lähmungs¬
erscheinungen durch indirecte Schädigung der Pyramidenbahn
in Folge von Fernwirkung, wie ich gezeigt habe, einige
Schwierigkeiten entgegenstellen, halte ich es für nothwendig,
diesen Punkt genauer zu betrachten.
In den meisten bekannten Fällen von Sehhügelerkrankung
handelt es sich um Erwachsene. An der Hand dieser Beobach¬
tungen kann man sowohl eine choreiforme Unruhe, Muskel¬
zuckungen u. s. w. als Reizungssymptome, als auch das Fehlen
von selbstständigen Bewegungen als „Lähmungssymptome”, welche
beide häufig dauernd bestanden, von der Sehhügelerkrankung
direct abhängig ansehen. Dagegen sind dauernde Hemiplegien
wohl nur vorhanden, wenn die Pyramidenbahn in der inneren
Kapsel auch direct in Mitleidenschaft gezogen ist. Es ist natür¬
lich, dass gerade die Fälle ausgedehnter Sehhügelerkrankung,
wo der Einfluss des Thalamus auf die Motilität sich am besten
prüfen Hesse, wegen der zumeist gleichzeitigen Erkrankung der
inneren Kapsel für diese Frage unbrauchbar werden. Ich muss
mich daher damit begnügen, darauf hinzuweisen, dass bei Er¬
wachsenen die Erkrankung des Thalamus als Herdsymptom im
Stande sein dürfte, sowohl motorische Reizerscheinungen, als auch
eine Art Lähmung hervorzurufen, die der weiter unten noch
erwähnten, von Bruns beschriebenen Seelenlähmung sehr ähn¬
lich ist.
Mein Fall unterscheidet sich von den oben genannten
dadurch, dass die Blutung in früher Jugend aufgetreten war
und dass, obwohl die Erkrankung auf den Sehhügel streng
begrenzt blieb, eine dauernde Hemiplegie mit Contracturen
bestand. Auf Grund des oben geschilderten anatomischen Be¬
fundes bin ich zur Ansicht gekommen, dass eine dauernde
Schädigung der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel durch
Fernwirkung wahrscheinlich nicht bestand. Da mir die Hemi-
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
251
Sphäre nicht zur Untersuchung vorlag, bin ich nicht im Stande,
die Pyramidenbahn anatomisch bis zur Rinde zu verfolgen. Eine
Untersuchung nach dieser Seite hätte wohl sicheren Aufschluss
darüber geben können, ob eine anatomische Grundlage für die
Hemiplegie innerhalb der Pyramidenbahn selbst vorlag, oder ob
diese in secundärer Weise atrophirt war. Man könnte nämlich
wohl daran denken, dass die Degeneration fast der ganzen
Radiärfasern des Thalamus auf die Ganglienzellen bestimmter
Rindenbezirke schädigend eingewirkt hätte; in meinem Falle
hätte sich also eine Atrophie in der motorischen Rindenregion
und im ganzen centralen motorischen Neuron finden müssen.
Diese Untersuchung hat nicht stattfinden können. Ich glaube
aber trotzdem nicht versäumen zu sollen, eine naheliegende Er¬
klärungsweise für das Zustandekommen der Hemiplegie hier
kurz vorzubringen, durch welche man in den Stand gesetzt
wird, die Schwierigkeiten zu beheben, welche sich bei dem
Versuche ergeben haben, die Lähmung durch Fernwirkung zu
erklären.
Meynert 1 ) hat auf Grund klinischer Beobachtungen, welche
ähnliche Verhältnisse boten, wie einige der von mir citirten
Fälle, nämlich Bewegungslosigkeit, Zwangsstellungen, Parese
einer Körperhälfte, dem Sehhügel die Aufgabe zugewiesen, der
Rinde die Bewegungsgefühle zu überliefern; wenn diese Leitung
unterbrochen ist, kann die nöthige Controle der ausgeführten
Bewegungen nicht stattfinden, sie werden unsicher und da die
äusseren Reize, welche auf die betreffenden Extremitäten aus¬
geübt werden, nicht oder in veränderter Weise an die Rinde
herantreten, auch seltener. Bekanntlich werden die ersten Willkür¬
bewegungen alle in reflectorischer Weise angeregt, indem ein
Sinnesreiz ohne Dazwischentreten der Associationsbildung
ziemlich direct zu einer zweckmässigen Bewegung führt. Erst
später gewinnt die Associationsbildung einen grösseren Spielraum,
so dass endlich im Erwachsenen bei weitem die grössere Zahl
aller Bewegungen nicht direct durch sensorielle Reize, sondern
durch eine Reihe von Associationen ausgelöst wird.
Beim kleinen Kinde wird unter dieser Voraussetzung bei
Unterbrechung der sensorischen Bahnen auch die ausschliess-
Wiener psych. Centralblatt 1873, 2.
17*
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252
Dr. Ernst Bischoff.
Jiche Ursache der Willkürbewegungen, nämlich das Einwirken
von Sinnesreizen auf die Hirnrinde wegfallen. Ist die Annahme
richtig, dass ein grosser Theil der Sinnesreize den Sehhügel
passiren muss, um zur ßinde zu kommen, so kann man auch
voraussetzen, dass bei Zerstörung des Sehhügels ein grosser
Theil der Sinnesreize nicht auf die Rinde wirken kann, und dass
deshalb die Auslösung einer Bewegung seltener oder gar nicht
erfolgt. Ist die Unterbrechung eine dauernde, werden die
Körperempfindungen der einen Seite der Gehirnrinde gar nicht
zugeführt, so kann sich auch die Bewegungslosigkeit stabilisiren,
da der zur Erlernung der complicirten Bewegungen nothwendige
Kreis geöffnet ist, die versuchten Bewegungen nicht gefühlt
werden. Das Kind könnte dann den Gebrauch der affi-
cirten Körpertheile nicht erlernen.
Der Erwachsene kann den Mangel der Bewegungsgefühle
und anderer Sinnesreize leicht durch die Verstandesthätigkeit
ausgleichen. Er wird sich der Bewegungslosigkeit bewusst und
wird sich anstrengen, sich wie früher zu bewegen, die geübten
Bewegungen werden durch die noch functionirenden Sinnes¬
organe geprüft, so dass ein dauernder Bewegungsmangel nicht
entstehen kann. Nur wenn sowohl ein grosser Theil der Sinn es -
bahnen und der Associationsbahnen durch eine ausgebreitete Er¬
krankung der Hemisphäre von den motorischen Centren getrennt
sind, wird es auch dem Erwachsenen nicht gelingen, den will¬
kürlichen Gebrauch seiner Glieder wieder zu erlangen. In diesem
Falle kann es also, wenn meine Voraussetzung richtig ist,
auch beim Erwachsenen zu ausgeprägten Lähmungserscheinungen
kommen, ohne dass die Pyramidenbahn primär erkrankt ist. Für
diesen Fall lässt sich eine Beobachtung von Bruns verwerthen,
welcher bei einer Erweichung, die die motorische Rinde von
der Sinnesbahn trennte, die motorischen Centren und Bahnen
aber intact liess, eine Art Lähmung, die er als Seelenlähmung
bezeichnet, beobachtete. Ich citire diesen Fall weiter unten aus¬
führlicher. Bei theilweiser Zerstörung der Sinnesbahnen im
Gehirn kann man nur einen theilweisen Ausfall motorischer
Impulse erwarten, indem nur jene fehlen werden, welche im ge¬
sunden Individuum durch periphere Reize angeregt werden, die
in dem speciellen Falle nicht zur motorischen Rinde geleitet
werden können.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
253
Für den Fall, dass im kleinen Kinde die Einwirkung der
für die Erlernung der Willkürbewegungen nothwendigsten sen¬
siblen Reize fortfallt, habe ich angenommen, dass Willkür¬
bewegungen dann überhaupt nicht mehr zu Stande kommen
können. Ob dadurch schon das spätere Eintreten einer Con-
tractur in den afflcirten Gliedern erklärt werden kann, lässt
sich nicht entscheiden, da die Ursachen der Contractur noch zu
wenig erkannt sind. Doch scheinen sich die Contracturen bei
so frühzeitiger Erkrankung sehr leicht zu entwickeln, wie eine
Beobachtung v. Monakow's 1 ) erhärtet, wo auch geringe ana¬
tomische Schädigung der Pyramidenbahn mit hochgradiger Con¬
tractur verbunden war.
Ausser meiner Beobachtung von Hemiplegie nach Sehhügel¬
herd kann ich nur einen Fall infantiler Sehhügelerkrankung mit¬
theilen. Er ist von Drouin veröffentlicht und bei Nothnagel
citirt. Auch hier bestand infantile Hemiplegie mit
Zurückbleiben der gelähmten Glieder im Wachsthum. Die Kranke
starb in hohem Alter und es fand sich eine Blutung im Seh¬
hügel, die über seine Grenzen nicht hinausging.
Dieser Fall steht demnach mit meiner Annahme nicht in
Widerspruch, ist aber auch nicht geeignet, derselben eine sichere
Grundlage zu geben, weil er nicht genau anatomisch untersucht
ist. Eine andere hierhergehörige Beobachtung konnte ich nicht
ausfindig machen.
Wenn ich also für meinen speeiellen Fall, für die Erfor¬
schung der vermutheten Functionsstörung der motorischen Rinde
in Folge von Thalamuserkrankung kein genügendes Material
zur Verfügung habe, kann ich doch zur Klärung der Frage im
Allgemeinen, ob motorische und sensible Centren und
Bahnen sich gegenseitig beeinflussen, aus der Literatur
einige Thatsachen zusammenstellen, wodurch meine Annahme
an Wahrscheinlichkeit einigermassen gewinnen dürfte.
Vorerst muss ich hier erwähnen, dass der Zusammenhang
der motorischen Rindenbezirke mit dem Sehhügel dadurch be¬
wiesen ist, dass bei Zerstörung der ersteren im Sehhügel aus¬
geprägte secundäre Veränderungen auftreten, die am genauesten
von v. Monakow beschrieben wurden. Aus diesem anatomischen
') Archiv f. Psychiatrie, ßd. XXVTI. Beobachtung II.
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254
Dr. Ernst Bischof!'.
Zusammenhänge lässt sich gewiss auf eine wichtige functionelle
Verknüpfung beider Hirntheile ein Schluss ziehen. Doch konnte
in den Fällen von Rindenzerstörung eine Störung der Function
des Sehhügels klinisch nicht zum Ausdrucke kommen, weil ja
die Hauptmasse der Sehhügelfasern in centripetaler Richtung
leiten; an der Peripherie, welche allein der klinischen Unter¬
suchung zugänglich ist, konnte daher kein Ausfallssymptom be¬
stehen, welches nicht schon durch den primären Krankheitsherd
in der Rinde entstanden war.
Ich muss daher andere Theile des Nervensystems in
Betracht ziehen, an welchen ein etwa bestehender Zusammen¬
hang in der von mir vermutheten Weise leichter naehgewiesen
werden kann.
Eine Beeinflussung der centrifugalen, motorischen
Bahnen von Seite subcorticaler Centren wurde bis in die
letzte Zeit beim Menschen nicht beschrieben. Ich glaube, bevor
ich auf die klinischen Erfahrungen zu sprechen komme, mit
Recht als Analogie meiner oben vertretenen Hypothese ein
physiologisches Experiment heranziehen zu können. Wie Exner 1 )
nachgewiesen hat, tritt nach Durchschneidung des Nervus
laryngeus superior beim Pferde, wo er ein rein sensibler
Nerv ist, Lähmung undAtrophie der Kehlkopfmuskulatur
auf der Seite der Durchschneidung ein. Exner erklärt diese
Thatsache dadurch, dass er für gewisse intendirte Bewegungs¬
impulse die Nothwendigkeit einer fortgesetzten Regulirung
durch subcorticale sensible Reize annimmt. Fallen diese
weg, so werden die Bewegungen ungeschickt oder fallen ganz
aus. Ausserdem fehle in diesem Falle auch die Beeinflussung
der subcorticalen Centren durch die den Sinneseindrücken zu¬
gewendete Aufmerksamkeit. Der bewusste Bewegungsimpuls
vermag diese beiden Schäden nicht zu ersetzen. Exner nennt
diese Form der sensiblen Regulirung Intentionsregulirung
und alle Bewegungen, für welche jene eigenthümliche Form der
Sensomobilität gilt, instinctive Bewegungen. Diese In¬
tentionsregulirung ist in obigem Falle als subcorticale, bei compli-
cirteren Bewegungen (Gehen auf einer schmalen Leiste z. B.)
aber als cortical aufzufassen.
>) Pflüger s Archiv XLVIII.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung
255
Das ist also eiu Fall, in dem Zerstörung der sensiblen
Leitung Muskellähmung und Atrophie in demselben Gebiet
bewirkt. Zwischen den Verhältnissen, wie sie beim Thiere be¬
stehen und denen beim kleinen Kinde kann eine gewisse Aehn-
lichkeit angenommen werden, insoferne als bei beiden eine klare
Vorstellung über die Ausfallserscheinungen nicht gebildet wird
und daher eine bewusste Correction nicht stattfindet. In einer
gewissen Analogie mit dieser experimentellen Erfahrung steht
die oben erwähnte erste Beobachtung von Eisenlohr (Muskel¬
atrophie nach Thalamusherd).
Ein ganz analoges Resultat haben Untersuchungen über
die Willkürbewegungen der Extremitäten ergeben, welche von
Mott und Sherrington 1 ) an Affen ausgeführt wurden. Die
Durchschneidung sämmtlicher hinterer Wurzeln für eine Extre¬
mität bewirkte dauerndes und vollständiges Fehlen der Willkür¬
bewegungen in dieser Extremität. Die Störungen der Motilität
waren hier sehr ähnlich den nach Exstirpation des Extremi¬
tätencentrums der Rinde auftretenden Lähmungserscheinungen
nur hochgradiger. Die Autoren sind zu dem Schlüsse gekommen,
dass durch den vollständigen Verlust der Sensibilität die
Willenskraft zur Ausführung gewollter Bewegungen in dem be¬
troffenen Gebiet verloren gehe. Endlich gehören die Experimente
v. Bechterew’s 2 ) hierher, der an Meerschweinchen, Ratten
und Kaninchen durch Zerstörung der hinteren Zweihügel neben
der Taubheit auch Stimmlosigkeit entstehen sah.
Erst nach Skizzirung dieser Arbeit wurden mir einige
klinische Beobachtungen bekannt, welche hier auch Erwäh¬
nung finden mögen. Sie beziehen sich auf Störungen im
Facialis nach der Krause’schen Trigeminusoperation und nach
Lähmungen des Trigeminus. Krause®) hat nach seiner Opera¬
tion Parese im gleichseitigen Facialis und Ataxie der mimischen
Bewegungen daselbst beobachtet. Hirschl 4 ) hat in einem Falle
rheumatischer Trigeminuslähmung, der in fast vollständige Hei¬
lung ausging, Störungen in der Mimik derselben Gesichtshälfte
9 Communications made to the Koyal Society, 1895 March 7.
2 ) Neurolog. Centralbl. 1895, S. 706.
3 ) Münchener med. Wochenschrift 1895.
4 ) Wiener klinische Wochenschrift 1896, S. 849.
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256
Dr. Ernst Bisehoff.
beobachtet. Diese Gesichtshälfte hatte ein maskenartiges Aus-
sehen und blieb bei mimischen Bewegungen zurück. Willkür¬
bewegungen waren etwas verlangsamt. In dieser Arbeit sind
einige ähnliche Beobachtungen von Eomberg, Hasse, Erb
und James Eoy erwähnt, welche von Filehne 1 ) citirt sind.
Letzterer hat beim Kaninchen nach intracranieller Trigeminus-
durchschneidung ausser dem Ausfälle der reflectorischen Ohr-
bewegungen auch das Fehlen derselben sowohl bei Aenderungen
der Temperatur, welche von dem Ohre der gesunden Seite
regelmässig durch eine bestimmte Bewegung beantwortet wer¬
den, als bei dem gewöhnlichen mimischen Spiel beobachtet.
Diese Erfahrung wurde von Exner nachgeprüft und bestätigt.
Ueber eventuelle anatomische Veränderungen im Facialis oder
der Gesichtsmuskulatur ist in diesen Fällen nichts notirt, wäh¬
rend nach Durchschneidung des sensiblen Kehlkopfnerven beim
Pferde die Larynxmuskulatur degenerirt gefunden wurde. Es
muss endlich noch hervorgehoben werden, dass Exner diese Er¬
scheinungen mit der bekannten Thatsache in Parallele setzt,
dass bei ausgedehnter Anästhesie nach Augenschluss Unbeweg¬
lichkeit eintritt.
Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass bei vorüber¬
gehenden Trigeminuslähmungen für die Zeit des Bestandes
derselben die Facialisinnervation mehr minder gestört ist, und
nach Eesection des Trigeminus Lähmungserscheinungen
im Facialis bestehen.
Auch in diesen Fällen kommt es also zu Lähmungs¬
erscheinungen, ohne dass das motorische System primär erkrankt
ist, nachdem die Verbindung der sensiblen Endorgane der be¬
treffenden Körpergegend zum Centralorgan aufgehoben ist.
Für die principielle Frage, ob das Verhalten der Motilität
nur von der Intactheit oder Läsion der motorischen Centren
und Bahnen oder auch von der Verbindung der motorischen
Centren mit anderen Hirntheilen abhängt, ist auch die folgende
Beobachtung von Wichtigkeit: Nach Erweichung der hinteren
Theile der ersten und zweiten Schläfenwindung und des Gyrus
angularis, sowie des hintersten Theiles der inneren Kapsel und
des Markes des Gyrus supramarginalis beobachtete Bruns 2 )
*) Arch. f. Anat. u. Physiologie, Phys. Abth. 1886, S. 432.
2 ) Festschrift der Provinzialirrenanstal Nietleben 1895
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügclblutnng.
257
abgesehen von aphasischen Erscheinungen rechtsseitige Anal¬
gesie und Bewegungslosigkeit der rechten Hand. Der Kranke
gebrauchte die Hand zu Willkürbewegungen gar nicht, wenn er
nicht durch Kunstgriffe dazu veranlasst wurde. Dagegen waren
die Reflexbewegungen nicht gestört. Auf Grund dieses Befundes
schliesst Bruns, dass die Zerstörung der sensorischen
Centren und subcorticalen Bahnen derselben, sowie
die Unzulänglichkeit der von diesen zu den motorischen
Centren verlaufenden Associationsfasern die Ursache
dieser als Seelenlähmung bezeichneten Störung sei.
Aus diesen experimentellen und klinischen Beobachtungen
lässt sich der Satz ableiten, dass Störungen der Willkür¬
bewegungen nicht nur bei Erkrankung der motorischen
Bahnen, sondern auch dann eintreten können, wenn
diese intact sind. Alle diese Beobachtungen weisen
darauf hin, dass die Unterbrechung sensibler Bahnen
oder die Unterbrechung zwischen Sinnescentren und
motorischen Centren an diesen Motilitätsstörungen
schuld seien.
Wenn es gestattet ist, diese Erfahrungen auf die bei Seh¬
hügelerkrankungen bestehenden Verhältnisse zu übertragen, so
resultirt daraus etwa folgende Hypothese: Es ist wahrscheinlich,
dass ein grosser Theil der bei Sehhügelerkrankungen beobach¬
teten Störungen der Motilität nicht durch Fernwirkung auf die
innere Kapsel, sondern durch die Erkrankung gewisser Seh¬
hügelabschnitte selbst hervorgerufen ist. Da es feststeht, dass
der Sehhügel mit dem motorischen Rindenfeld in ausgiebiger
Weise verbunden ist, hat die Annahme am meisten für sich,
dass die gestörte oder unterbrochene Einwirkung der dem Seh¬
hügel entspringenden Impulse auf die Hirnrinde die Ursache
dieser Motilitätsstörung ist. Eine in früher Jugend erworbene
Sehhügelerkrankung ist vielleicht im Stande, auf die Function
der motorischen Rinde in höherem Grade störend einzuwirken,
da hier die motorischen Impulse fast ausschliesslich durch sen¬
sible Reize, welche zum grössten Theile wohl den Thalamus
passiren müssen, ausgelöst werden; bei Zerstörung des Thalamus
fehlt diese Anregung zu Bewegungen, während die selbststän¬
digen, nur auf dem Wege der Associationsbahnen ausgelösten
Bewegungen im kleinen Kinde nur in geringem Masse vor-
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258
Dr. Ernst Bischoff.
kommen. Hier können demnach die Lähmungserscheinungen
hochgradiger werden als im Erwachsenen, der immer wieder
willkürlich versuchen wird, die Bewegungsstörung zu corrigiren.
Ich würde viel zu weit gehen, wenn ich auf Grund meiner
Beobachtung und des gesammelten Materiales die obige Annahme
für irgendwie fest begründet erklären wollte. Dazu fehlt vor
allem eine genaue Untersuchung der Hemisphäre. Wenn auch
die makroskopische Betrachtung den Mangel jeder Veränderung
ergeben hat, wodurch es ausgeschlossen erscheint, dass irgend
eine complicirende Erkrankung in der Hirnrinde oder im Mark¬
lager als Ursache der Hemiplegie bestanden hätte, so fehlt mir
doch der positive Nachweis der von mir vermutheten Degene¬
ration der Radiärfasern des Thalamus bis zur Hirnrinde und
der atrophischen Veränderung der motorischen Ganglien¬
zellen.
Ich möchte nur auf die Möglichkeit eines derartigen Sach¬
verhaltes hinweisen.
Die Kenntnisse über den Zusammenhang des Sehhügels
mit der Hirnrinde sind durch v. Monakow sehr erweitert
worden. Er hat nachgewiesen, dass einzelne Thalamustheile mit
ganz bestimmten Rindenbezirken Zusammenhängen. Es wird
daher hier noch zu prüfen sein, ob die Localisation des
Herdes in meinem Falle eine derartige war, dass eine
secundäre Schädigung der motorischen Rindencentren
erwartet werden kann. Bei Zerstörung der motorischen
Rindenfelder hat v. Monakow hauptsächlich schwere Verände¬
rungen secundärer Art im lateralen Sehhügelkerne gefunden;
aber auch im ventralen Kern waren deutliche Veränderungen
vorhanden, während der vordere, der mediale, der hintere Kern
und das Pulvinar durch Zerstörung der motorischen Rinde nicht
beeinflusst waren. Daraus geht hervor, dass mit der moto¬
rischen Rinde der laterale und der ventrale Thalamuskern
in Verbindung stehen. Nach der Annahme v. Monakow’s ist
diese Bahn eine centripetale, d. h. ihre Ursprungszellen liegen
im Sehhügel, ihre Endausbreitung in der motorischen Hirnrinde.
Ich habe mir vorgestellt, dass nach Zerstörung eines Thalamus¬
kernes die Function des damit verbundenen Rindenbezirkes
durch das Ausbleiben der normalerweise vom Thalamus kommen¬
den nervösen Ströme gestört werden könne.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhiigelblutung.
259
Man muss also in erster Linie Störungen der Motilität
nach Herden im lateralen und ventralen Kern antreffen, wenn
sich meine Annahme mit den anatomischen Verhältnissen decken
soll. Aus den ungenauen Angaben über die älteren Beobach¬
tungen, wonach bei den mehr vorne gelegenen Herden Läh¬
mungen ausgesprochener sind, geht hervor, dass der laterale
Kern, der vorne ein grosses Gebiet einnimmt, in den Fällen mit
Lähmungen in hervorragender Weise betheiligt war. Die
neueren Fälle von Eisenlohr und Anton weisen darauf hin,
dass auch bei Zerstörung der hinteren Abtheilung des Seh¬
hügels Störungen der Beweglichkeit Vorkommen, welche mehr
Verwandtschaft mit Lähmungs- als mit Reizungssymptomen
haben (Unbeweglichkeit). Da der laterale und ventrale Kern
auch in die hintere Abtheilung reichen, widersprechen diese
Beobachtungen meiner Annahme auch dann nicht, wenn man
von der Wirkung dieser Herde auf die nächste Umgebung,
d. i. die vorderen Theile, absieht. Die beiden Fälle von Kinder¬
lähmung, derDrouin’s und meiner, erfüllen vollkommen
die verlangten Bedingungen. In ersterem Falle war der
ganze Sehhügel ergriffen; in meinem Falle war gerade der
laterale Kern am meisten reducirt, fast ganz verschwunden.
Es ist schliesslich hervorzuheben, dass alle herbeigezogenen
Momente nicht genügen, der oben formulirten Hypothese eine
sichere Grundlage zu geben. Es könnten andere, unerforschte
Ursachen für die Lähmungen bestehen und die Uebereinstimmung
der Lage des Herdes mit den bekannten Faserverbindungen
zwischen Rinde und Sehhügel könnte eine zufällige sein.
Auch in Bezug auf die übrigen Kerngebiete des Seh¬
hügels kann man ohne Zwang eine Parallele zu den von
v. Monakow beschriebenen Faserverbindungen des Sehhügels
mit der Rinde ziehen.
Der mediale Kern, welcher mit dem Frontalhirn ver¬
knüpft ist, war am besten erhalten. Die Intelligenz, auf
deren Entwickelung die Ausbildung des Frontalhirns von
grossem Einflüsse ist, war bei unserer Kranken über¬
raschend gut entwickelt. Wenn man die zahllosen epilep¬
tischen Anfälle, welche von frühester Kindheit an bestanden,
und die Hilflosigkeit der Kranken in Betracht zieht, erscheint
die von derselben erworbene Fähigkeit, zu lesen, mit der linken
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260
Dr. Ernst Biselioff.
Hand za schreiben und Handarbeiten auszuführen, als Zeugniss
ziemlich bedeutender vorhandener Intelligenzkräfte. Das Frontal¬
hirn hat also unter den Folgen des Thalamusherdes wahrschein¬
lich nicht gelitten. Die Möglichkeit einer vicariirenden
Thätigkeit der rechten Hemisphäre muss allerdings zugestanden
werden, wenn auch das Ausbleiben derselben bezüglich der
Motilität dies unwahrscheinlich macht.
Der Geruchsinn wurde nicht geprüft, die Degeneration
des Corpus mamillare und der Schwund der Fornixsäule kann
somit in dieser Beziehung nicht ausgenützt werden.
Dass das Gehör und das Gesicht normal waren, steht
in Einklang mit der Intactheit der beiden Kniehöcker und der
Vierhügel. Die ziemlich ausgiebige Zerstörung des Pulvinar
hat in den constatirten Symptomen keinen Ausdruck gefunden.
Die Zerstörung bestimmter Sehhügelabschnitte
hat also Ausfallserscheinungen von Seite derjenigen
Rindenzone zur Folge gehabt, von der eine starke
Faserverbindung gerade mit jenen Sehhügelabschnitten
nachgewiesen ist, während von Seite der Rindenzonen,
welche mit erhaltenen Sehhügeltheilen verbunden sind,
keine Symptome bestanden.
Es ist schliesslich nothwendig, die Schwierigkeiten hervor¬
zuheben, welche sich der Prüfung meines Erklärungsversuches
entgegenstellen. Die Unklarkeit, welche noch über die ana¬
tomischen und functionellen Verhältnisse des Sehhügels herrscht,
ist die Ursache dieser Schwierigkeiten. Ich glaube durch den
Versuch, die anatomischen und functionellen Beziehungen des
Sehhügels zur Hirnrinde zur Erklärung eines Symptomenbildes
heranzuziehen, die Anregung zu einer bisher vernachlässigten
Forschungsart gegeben zu haben, welche bei ausgedehnterer
Verwendung wohl positive Ergebnisse zur Folge haben dürfte*
Die Hauptergebnisse dieser Arbeit sind:
1. Eine infantile Erkrankung im Sehhügel kann unter den
Symptomen einer cerebralen Kinderlähmung verlaufen.
2. Zur Entstehung dauernder Lähmungserscheinungen nach
einer solchen Erkrankung ist vielleicht keine locale Schädigung
der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel nothwendig.
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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung.
261
3. Die mit den einzelnen Sehhögelkernen durch Projections-
fasern eng verknüpften Zonen der Hirnrinde scheinen auch in
engem functioneilen Zusammenhang mit denselben zu stehen.
4. Daraus lässt sich folgern, dass eine Zerstörung des
lateralen und ventralen Sehhügelkernes die Function der zuge¬
hörigen Rinde des Parietallappens und der Centralwindungen
stören kann, wodurch eine Reihe von motorischen Reizungs¬
und Lähmungssymptomen bei Sehhügelerkrankung erklärt werden
kann.
5. Nach Zerstörung des vorderen und des lateralen Seh-
hügelkernes degenerirt beim Menschen secundär:
a) Das Yicq d’Azyr’sche Bündel mit den Ganglienzellen
des Corpus mamillare.
b) Ein grosser Theil der Sagittalfasern des rothen Kernes
und ein Theil der Bindearmfasern, während die Ganglienzellen
des rothen Kernes intact bleiben.
c) ZumTheile auch die Hauptschleife mit den Hinterstrangs¬
kernen der anderen Seite.
d) Die Radiärfaserung der Gitterschicht.
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
Von
Dr. P. Ranschburg
em. st. Assistent an der psychiatrischen Klinik Prof. Laufenauer s zu Budapest.
I. Bewusstsein und Ich-Bewusstsein.
Acceptiren wir das Princip der Causalität, so müssen alle
Vorgänge der materiellen und geistigen Welt, ob wir die
letztere auch an materielle Vorgänge gebunden betrachten oder
nicht, ihre Erklärung haben, es muss eine Lösung für alle dies¬
bezüglichen Fragen existiren, da doch die Fragen nichts an¬
deres als die stilistische Umschreibung der Suche nach den
nothwendigerweise existirenden Ursachen der vorhandenen Vor¬
gänge sind.
So fest nun dieses steht, so wenig steht es irgendwo ge¬
schrieben, dass es uns bestimmt sei, diese Erklärung des Vor¬
handenen auch finden zu können.
Ebenso wenig kann es aber demgemäss einen Vorgang in
der Natur geben, dessen Erklärung eo ipso Sache der Unmög¬
lichkeit wäre.
Es gibt also kein Gebiet der Natur und keinen Vorgang
in derselben, welche sich nicht als Gegenstand der Forschung
darbieten würden, keine wissenschaftliche Frage, welche die
Unmöglichkeit ihrer Erklärung, die Nutzlosigkeit der Forschung
in sich tragen würde, es gibt kein „Noli me tangere” vor der
wissenschaftlichen Forschung.
Als eine Frage von höchstem Interesse und wichtigster
Bedeutung steht in der endlosen Reihe der offenen Fragen der
forschenden Psychologie das Problem des Bewusstseins.
„Wir müssen und werden die Lösung finden!” betheuem
die Einen.
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 263
„Ihr werdet sie nie finden. Sie liegt ausser Eurem Bereiche!”
rufen die Anderen.
„Suchen wir dieselbe!” soll unsere Devise sein, und dieser
Abschnitt unserer Arbeit sei ein Versuch, so manches Werth¬
volle, was schon von Anderen gefunden wurde, zu sichten und
zu ordnen, vor allem aber die Beziehungen zwischen dem Be¬
wusstsein der Persönlichkeit und dem Bewusstsein an und für
sich, falls ein solches existirt, möglichst ins Reine zu bringen.
Es besteht nämlich eine herzliche Unordnung in dieser
Frage. Beobachtungen und Versuche liegen uns massenhaft vor,
doch besteht keinerlei Einheitlichkeit in der Aufarbeitung und
Verwerthung derselben, und so bleibt das ganze, werthvolle
Material eigentlich ohne Nutzen. Es geschehen zwar Versuche
zur Sammlung und Sichtung desselben, doch sind dieselben
tlieils einseitig psychologisch bearbeitet theils, wagen sie sich
zu weit, indem sie die noch nicht stabilen psychologischen
Erfahrungen auf noch weniger sichere anatomisch-histologische
Grundlage stützen wollen. *
Der Psychologe Ribot, einer der emsigsten Forscher in
dieser Richtung, gibt in seinen pathologisch-psychologischen
Studien über die Persönlichkeit 1 ) eine ausführliche Schilderung
des Ich-Bewusstseins, und obzwar er sich in dieser Hinsicht nicht
genügend deutlich ausspricht, beschreibt er doch das Bewusstsein
als einen Vorgang, welcher nur der Persönlichkeit eigen ist,
während die übrigen Nervenprocesse ohne den begleitenden
Vorgang des Bewusstseins verlaufen. In seiner Einleitung
skizzirt er das Verhäitniss des Bewussten zum Unbewussten
und schreibt nur dem ersteren die Eigenschaft zu, die psycho¬
logischen Vorgänge im Gehirn einregistriren zu können, während
er der unbewussten Hirnarbeit diese Einregistrirung, die Grund¬
lage des Gedächtnisses nicht zuspricht. Es. wären also nach
dieser Auffassung nur die persönlich bewussten Vorgänge in
das Gehirn eingeprägt, während die persönlich nicht bewussten
eigentlich ohne nachweisbare oder wieder hervorrufbare Spuren
verlaufen müssten.
Dessoir ist einer anderen Auffassung. „Bewusstsein” —
schreibt er in seiner Studie über das „Doppel-Ich” — „muss im
*) Die Persönlichkeit. Th. Ribot, übers, von Pabst. Berlin 1891, S. 13
und 16.
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264
Dr. P. Ransehburg.
weitesten, absoluten Sinn als Kennzeichen aller seelischen
Vorgänge verstanden werden; das meist ausschliesslich so
genannte Bewusstsein unterscheidet sich wesentlich durch vor¬
herrschende Synthesenbildung von den übrigen Seelenprocessen.
Diesen übrigen Seelenprocessen darf nicht eine bloss physio¬
logische Bedeutung beigelegt werden, weil ein solches Verfahren
der Gesammtauffassung des Parallelismus widerspricht, das
Gesetz der psychischen Causalität und Continuität verletzt,
eine Beihe sicherer Thatsachen nicht erklärt. Dessoir')
kennt weiters vier Eigenschaften, welche wir den psychischen
Elementen als ursprüngliche zuzuerkennen haben, weil ihre
Ableitung auseinander oder aus einer allgemeineren Eigenschaft
bis jetzt nicht gelungen ist: Bewusstsein, Irritabilität (Empfin¬
dung, Bewegung), Gedächtniss und Vermögen einheitlichen Zu¬
sammenschlusses (synthetisches Vermögen, Kant), welch letzteres
die Grundlage der Persönlichkeit ist. 2 ) Er nimmt nun an, dass
es in jedem normalen Individuum eine herrschende Synthese der
psychologischen* Elemente gebe (Oberbewusstsein), ausserdem
aber fortwährend Elemente einträten, welche nicht in diese
Synthese zu treten im Stande sind. Das normale Verhältniss der
herrschenden Synthese (Oberbewusstsein) zu den anderen (ver-
muthlich ungekannterweise synthetisch zusammenhängenden)
Elementen (Unterbewusstsein) 3 ) besteht im Parallelismus oder
in Zusammenarbeit. Die Eigenschaft der Elemente, die dieselben
zur Synthese des Ichs befähigt, beruht aber nach Dessoir auch
auf anderen Vorgängen, und zwar hat „eine Anzahl bewusster
innerer Vorgänge gewissermassen eine besondere Färbung, die
auf accessorische Begleitvorgänge zurückgeführt werden muss.
Wodurch ein sogenannter selbstbewusster Act sich von dem
bloss bewussten unterscheidet, ist neben einer Intensitätserhöhung
vornehmlich das Hinzutreten interpretativer Empfindungen
zu der Hauptempfindung: Sie stellen eine unsichtbare, aber
feste Kette zwischen den Hauptvorgängen her und verleihen
ihnen dadurch das Merkmal der Zusammengehörigkeit unter sich
und zu einem Ich-Mittelpunkt. So bleibt die persönliche Syn¬
these stets in Abhängigkeit von der Summe der nicht zum
4 ) Dessoir, Das Doppel-Ich. Leipzig 1896, S. 54.
2 ) Op. eit., S. 76.
3 ) Op. eit., S. 55.
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
265
Selbstbewusstsein zusammengefassten Bewusstseinsinhalte”.')
Was Dessoir unter diesen interpretativen Empfindungen versteht,
gibt er uns nicht zu erkennen. Und doch wäre dies um so
nöthiger gewesen, als Dessoir sich bemössigt sieht, den Begriff
der Persönlichkeit vom Begriffe des Selbstbewusstseins scharf
loszulösen. „Selbstbewusstsein kann nur besagen wollen, dass
gewisse, durch eine besondere Tonfärbung charakterisirte Em¬
pfindungen sammt ihren Erzeugnissen (Vorstellungen, Gefühlen,
Trieben) sich gewöhnlich zu einer Einheit zusammenschliessen,
einer Einheit, die allenfalls philosophisch mit „Selbst” oder „Ich”
bezeichnet werden kann.” 2 )
„Der so bedingte seelische Zusammenhang (die Persönlich¬
keit nämlich) ist gänzlich von der Seelenfahigkeit verschieden,
irgend welche Inhalte zur Einheit zusammenzufassen.
Trotzdem besteht in Wirklichkeit eine unaufhörliche
Wechselwirkung zwischen ihnen beiden, und das ist die Veran¬
lassung gewesen, Selbstbewusstsein und Persönlichkeit gleich
zu setzen. Wenn nämlich eine Reihe von Zuständlichkeiten
synthetisirt ist, so wird die neu enstandene Einheit naturgemäss
auf den stets bereiten Complex der erst körperlichen, dann auch
seelischen Persönlichkeit bezogen.” 8 )
Deutlich ausgedrückt kann dass nur heissen, dass das syn¬
thetische Vermögen nicht absolut von der Synthese der Persön¬
lichkeit abhängig sei; es können auch Synthesen ohne Anschluss
an die Persönlichkeit zu Stande kommen, doch kommt dieser
Anschluss unter normalen Umständen meist zu Stande.
Da nun Dessoir nicht angibt, ob auch die Persönlichkeit
aus durch besondere Tonfärbung charakterisirten psychologischen
Elementen zu Stande kommt, ob alle psychologischen Elemente
eine gewisse Tonfärbung haben, ob dieselbe gleich oder ver¬
schieden ist, so hat er ein unbekanntes Element mehr gewaltsam
in seine Theorie gesetzt, mit dem er nichts anzufangen weiss,
als dass er es zur Losreissung des Selbstbewusstseins von der
Persönlichkeit gebrauchte, um dieselben dann sofort wieder
zusammenzuleimen.
') Op. cit., S. 75.
2 ) Op. oit., S. 77.
3 ) Op. cit., S. 78 und 79.
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 18
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266
Dr. P. Bauschburg.
Herzen 1 ) macht keinen Unterschied zwischen Ich-,
Selbstbewusstsein oder Persönlichkeit. Er fasst das Selbst¬
bewusstsein „als einen besonderen Fall des Bewusstseins im
Allgemeinen” auf, welches also denselben Gesetzen wie das
letztere unterliegt. Das neugeborene Kind hat kein Selbst¬
bewusstsein, nur ein Bewusstsein im Allgemeinen. Auch beim
Erwachsenen können heftige physische oder moralische Ein¬
drücke sich so sehr aller empfindenden Elemente bemächtigen,
dass andere Eindrücke, welche zu jeder anderen Zeit unsere
Aufmerksamkeit erregt hätten, unbemerkt vorübergehen, d. h.
es gibt im normalen geistigen Leben Zustände des Bewusst¬
seins ohne Selbstbewusstsein. Ueberhaupt sei die Idee des Ichs
gar kein so constantes Element des Bewusstseins, als man zu
glauben geneigt ist; da sie aber jeden Augenblick von der
intercentralen Reflexthätigkeit, d. h. der Ideenverbindung hervor¬
gerufen wird, und die einander folgenden Gedanken beherrscht,
da es fast unvermeidlich ist, dass ein leichter Anklang an das
Gesammtbild jeden Theil desselben begleitet, so ist es natür¬
lich, dass das Gesammtbild im Geiste derjenigen vorherrschend
ist, welche nicht daran gewöhnt sind, sich genau zu be¬
obachten, und dass hierdurch die Illusion einer Continuität
erzeugt wird, die nicht vorhanden ist. Herzen nimmt Aen-
derungen des Ich in Folge von physiologischen, toxikologischen
und pathologischen Bedingungen an, unter welch letztere er
die Erscheinung der doppelten oder mehrfachen Persönlichkeit
rechnet.
P. Janet’s Theorie und Ansichten über das Ich-Bewusst-
sein haben wir im ersten Theile unserer Arbeit 2 ) dargestellt.
Untersuchen wir dieselben näher, so finden wir, dass er sich nur
mit der Erklärung des Ich-Bewusstseins eingehend befasst, während
er sich von einem Eingehen auf die Erklärung des Bewusstseins
oder des Verhältnisses dieses letzteren zum Ich-Bewusstsein
fern hält, und uns dadurch über seine eigentliche Auffassung
der psychischen Vorgänge im Dunkeln lässt. Denselben Vorwurf
9 Herzen, Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig 1889,
Abschn.VI, S. 131.
2 ) Neue Beiträge zur Psychologie des hysterischen Geisteszustandes, von
Dr. P. Ranschburg und Dr. L. Hajos. Verlag Deuticke, Wien und Leipzig.
Unter Druck befindlich.
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
267
macht ihm auch Landmann in seinem Essay über „Die Mehrheit
geistiger Persönlichkeiten in einem Individuum”:') „Werden die
Erklärungen, welche Janet über die psychischen Thätigkeiten
im Allgemeinen und über die der Katalepsie im Besonderen gibt,
einer genaueren Prüfung unterworfen, so wird man ihnen den
Vorwurf einer ungenügenden Klarheit nicht ersparen können.
Es scheint zwar, als ob Janet unter Bewusstsein die Verbin¬
dung von Gefühlen und Bildern mit der Idee des Ichs
verstanden wissen will.” Und thatsächlich, da Janet sich
bei der Analyse der Bewusstseinszustände über ein „Be¬
wusstsein” nicht äussert und nur von einem „persönlichen
Bewusstsein” spricht, da er also die nicht persönlich bewussten
Vorgänge als unbewusst, später als unterbewusst erklärt,
scheint er das Bewusstsein mit dem Ichbewusstsein zu iden-
tificiren.
Auch Exner in seinem „Entwurf zu einer physiologischen
Erklärung der psychischen Erscheinungen” 2 ) scheint auf dem¬
selben Standpunkte zu stehen. Eigentlich geräth derselbe in den¬
selben Fehler, dem Janet verfallen ist. Er beginnt mit der Ana¬
lyse des Bewusstseins, unterscheidet dasselbe sodann vom Selbst¬
bewusstsein, um es dann wieder mit demselben zu identificiren.
Wir wollen die interessanten Ausführungen Exner’s, welche trotz
ihrer diesbezüglichen Inconsequenz, in ihrer Analyse der Bewusst¬
seinsvorgänge von höchster Feinheit und treffender Anschaulichkeit
sind, im Auszuge wiedergeben. „Indem eine Wahrnehmung oder
Vorstellung sich associativ mit gewissen anderen Vorstellungen
verbindet, die im Gedächtnisse ruhen, sagen wir, sie trete ins
Bewusstsein oder wurde vom Bewusstsein erfasst. Diese Gruppe
anderer Vorstellungen bilden das Bewusstsein. Es wird desto
mehr den Namen Selbstbewusstsein verdienen, je enger
die erweckten Vorstellungen mit den Erfahrungen des Indi¬
viduums verknüpft und je mehr sie den Stempel des Selbst¬
erlebten tragen.” Demnach wäre das Bewusstsein die Asso¬
ciation einer Vorstellung oder Wahrnehmung mit einer Gruppe
von Vorstellungen. „Je mehr diese Vorstellungen den Charakter
des Selbsterlebten tragen, d. h. je innigere Theile der Persön-
1) Stuttgart 1894, S. 40.
2 ) Verl. Deutieke, Leipzig und Wien, 1894, S. 274 bis 279.
18*
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268
Dr. P. ßansehburg.
lichkeit sie bilden, desto mehr wird das Bewusste zum Selbst¬
bewussten.”
Nun fragen wir, was wird mit den Wahrnehmungen,
wenn sie sich nicht mit der genannten Gruppe von Vorstel¬
lungen, welche Exner Bewusstsein nennt und welche mit dem
Vorstellungscomplexe der Persönlichkeit identisch sind, ver¬
bindet? Sind dann jene Wahrnehmungen unbewusst, oder können
wir den betreffenden psychischen Zustand gar als Bewusstlosig¬
keit kennzeichnen?
Denn dass auch dieser eben erwähnte Fall vorkommt,
das gibt Exner selber zu, und führt sogar gleich in den nächsten
Zeilen ein Beispiel an, welches höchst zutreffend ist. „Aus
meiner Kindheit erinnere ich mich” — fährt Exner fort — „dass
mir bei Vertiefung in die Lectüre eines Romanes oder einer
Reisebeschreibung, in der ich irgendwie unterbrochen wurde,
die Frage durch den Kopf fuhr, wer von den Personen, die
mich beschäftigten, eigentlich ich sei, bis mich ein Blick auf
meine Umgebung lehrte, dass ich ganz ausserhalb dieser Vor¬
kommnisse stehe, und dass ich der Knabe Sigm. Exner sei. Es
ist das natürlich kein vereinzelnter Fall, und die Ausdrücke,
die man von impressionablen Individuen gebraucht, „er habe
sich vergessen”, „er sei ausser sich”, „er habe sich in der
Lectüre verloren” sind sehr treffende. Von diesem Zustande
wird kaum jemand sagen wollen, dass er ein bewusst¬
loser war; er bestand darin, dass lebhafte Vorstellungen
mit den ihnen verbundenen Associationen in durch keine
anderweitigen Vorstellungsreihen unterbrochenen
raschen Fluss aufeinander folgten, und was die Haupt¬
sache ist, an keiner derselben directere Associationen
mit Selbsterlebtem enthalten waren.” Hier deutet also
Exner auf einen bestehenden Unterschied zwischen Bewusstsein
und Selbstbewusstsein, welch letzteres gänzlich ausser Action
sein kann, ohne dass dies auf Rechnung des Bewusstseins ge¬
schehen würde. (Dieses Beispiel zeigt auch deutlich, wie sehr
Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein voneinander verschieden
sind. Die ganze Aufmerksamkeit des Knaben Exner — in un¬
seren Worten seine ganze associative Energie — war durch
die Lectüre gefesselt, ohne dass seine Persönlichkeit sich an
diesem psychischen Acte betheiligt hätte.)
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
269
Doch scheint Exner zwei Seiten weiter schon anderer
Meinung zu sein. „Wenn ein Erregungscomplex in meiner
Gehirnrinde eine gewisse Ausbreitung erreicht — und dadurch
jene Bahnen mit in Erregung einbezogen hat, welche bei selbst
erlebten Ereignissen in bedeutende Erregung gerathen waren,
welche durch die alltäglichen Wahrnehmungen meiner Ange¬
hörigen, meiner Beschäftigung, meiner Andenken an vergangene
Jahre in Thätigkeit gerathen und deshalb fast immer gebahnt
sind, kurz welche der Vorstellung des Ich angehören; wenn
durch die Mannigfaltigkeit der erregten Fasern auch die Er¬
regung selbst im intercellulären Tetanus an Intensität zunimmt,
somit dieser Erregungscomplex die schon oft erwähnte Eigen-
thümlichkeit angenommen hat, schwächere Erregungen zu
hemmen, dann sage ich, die Vorstellung ist im Bewusst¬
sein.”
Hier identificirt Exner wieder das Bewusstsein mit dem
Selbstbewusstsein. Ich citire ausführlich, weil die gegebene Auf¬
fassung Exner’s vom Ich-ßewusstsein, abgesehen von der zwar
schwerwiegenden Inconsequenz, gänzlich unserer Auffassung der
Persönlichkeit entspricht.
Welches ist nun unserer Auffassung nach das Verhältniss
zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein?
Für selbstbewusst erachten wir diejenigen psychischen
Vorgänge, welche mit dem subjectiven Gefühle der activen Per¬
sönlichkeit einhergehen, und zwar sind das diejenigen primären
Vorstellungen und Wahrnehmungen, welche mit dem eben be¬
stehenden Vorstellungsconiplexe der eigenen Persönlichkeit, d. i.
mit dem „Ich” associirt werden. Woraus dieser Vorstellungs-
complex des „Ich” sich zusammenstellt, brauchen wir nicht
weiter auseinanderzusetzen. Die verschiedensten Psychologen
wie Wundt, Janet, ßibot, Ziehen, Herzen, Meynert, Dessoir,
Landmann, Exner variiren nur unwesentlich in der Auffassung
der Bestandteile und der Entstehung dieses Vorstellungs-
complexes, und ich will nur noch die einstimmig hervorgehobene
Eigenschaft des Ichs, dass es fast immer im Lichte, im Vorder¬
gründe des Bewusstseins steht, betonen.
Beim eben zur Welt gekommenen Kinde können wir selbst¬
verständlich von einem „Ich” als Vorstellungsconiplexe nicht
reden, und noch lange Zeit hindurch wird die Persönlichkeit im
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270
Dr. P. Kanschburg.
Bewusstseinsleben des Kindes gar keine, oder eine nur unter¬
geordnete Holle spielen. Sind doch die meisten Wahrnehmungen
und Gefühle, sowie die entstehenden Vorstellungen noch neu,
können nur primär sein, und sich nicht an schon bestehende
Vorstellungen anknüpfen. Und trotzdem wird es wohl niemandem
einfallen zu behaupten, das Kind sei, so lange seine Persönlich¬
keit in Bildung begriffen ist, ohne Bewusstsein. Jedenfalls ist
dieses Bewusstsein nur ein primäres, vertritt aber so lange
ganz oder theilweise die Stelle des Selbstbewusstseins, bis sich
durch die Abgrenzung der inneren Projection des empfindenden
Körpers von der wahrgenommenen Aussenwelt das primäre
Ich und langsam, langsam durch Anschluss von Vorstellungen
der biologischen und socialen Erfahrungen des Individuums das
ewig wechselnde secundäre Ich herausgebildet hat.
Während nun im ersten Zustande die (das Bewusstsein
bildende) associative Energie von den primären psychischen
Vorgängen in Anspruch genommen ist, wird mit der Zeit der
Heranbildung der Persönlichkeit diese Energie immer mehr zur
Beleuchtung dieses für das Individuum höchstwichtigen Vor-
stellungscomplexes in Beschlag gelegt, wodurch für die neu
eintretenden psychischen Elemente nur eine gewisse Reserve¬
potenz zur Verfügung steht, mittelst welcher dieselben ebenfalls
mit dem Ich-Complexe in Verbindung gebracht werden.
Mit der sich vervollkommnenden Entwickelung also nimmt
das Ich-Bewusstsein immer mehr an Bedeutung zu, während
das unpersönliche Bewusstsein nunmehr nur eine scheinbar
untergeordnete Rolle spielt. Dass dasselbe aber auch im normalen
Geistesleben einen Wirkungskreis hat, haben wir eben aus dem
durch Exner angeführten Beispiele gesehen; ähnliche Fälle
werden wohl jedem denkenden Individuum öfters vorgekommen
sein. So oft wir uns in eine Lectüre vertiefen, so oft wir in
Gedanken an Lösung eines Problems versunken sind, wird der
Zusammenhang des eben im Bewusstsein befindlichen Vor-
stellungscomplexes mit dem Ich-Bewusstsein ein immer spär¬
licherer, sehr oft löst sich auch derselbe vollkommen. Die für ge¬
wöhnlich durch das Ich-Bewusstsein in Beschlag genommene
associative Energie wurde nach und nach durch einen günstig
eonstellirten Vorstellungscomplex an sich gerissen; eventuell
bleibt dasselbe gänzlich „unbeleuchtet”, das Gefühl des Selbst-
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
271
bewusstseins, der Persönlichkeit, schwindet gänzlich, das primäre
Bewusstsein hat die führende Bolle übernommen. Lassen wir
auf die „vertiefte” Person schwache Sinnesreize ein wirken, so
gelangen dieselben jetzt überhaupt nicht zum Ich-Bewusstsein,
sie bleiben auch persönlich unbewusst, das Individuum bemerkt
dieselben nicht. Wirkt ein stärkerer Sinnesreiz ein, so kann
derselbe (einen Theil der associativen Energie an sich reissen
und) ins Selbstbewusstsein eintreten, worauf dasselbe mehr
minder schnell wieder die Oberherrschaft erlangen kann. Die
ganze, vorhin persönlich unbewusste Ideengruppe kann sich
nun mit dem Vorstellungscomplexe der Persönlichkeit vereinigen,
wo sie dann persönlich bewusst wird und in dem Ich natürlich
eine mindere Intensität besitzt, als vorher im Zustande der Los¬
lösung von demselben. Tritt aber dieser erweckende Sinnesreiz
mit solcher Intensität ins Ich-Bewusstsein, dass er nun der
Führer einer ganz neuen Vorstellungskette wird, und die ganze
zur Verfügung stehende associative Energie für dieselbe in
Anspruch nimmt, so kann der Fall eintreten, dass die persön¬
lich unbewusste Ideengruppe sich mit dem Ich-Bewusstsein nur
unvollkommen, oder auch gar nicht zu vereinigen vermag, die¬
selbe also persönlich nur lückenhaft oder überhaupt nicht be¬
wusst wird, demnach nur eine unvollständige oder auch keine
persönlich bewusste Erinnerung an dieselbe bestehen kann.
Dies wird der Fall sein, wenn das Bewusstsein eines tief-
erregten Individuums unter die Herrschaft einer mit über¬
mässig intensiven Gefühlstönen auftretenden Vorstellung gelangt.
Dieser Gefühlston kann der Erfahrung gemäss sowohl derjenige
der Lust, als auch der Unlust sein. Unter dem präpotenten
Eindrücke derselben kann das Individuum sich zu Worten oder
Handlungen hinreissen lassen, die es nachträglich als nicht von
seinem Ich herrührend bezeichnen wird, es kann unter dem
Banne des plötzlichen Zornes oder des auflodernden Hasses
morden, und die Details seiner That werden ihm unbekannt,
oft unglaublich erscheinen. Es kann während dieses Zeitraumes
berührt, geschlagen, oft gefährlich verwundet werden, ohne diese
Empfindungen zur Kenntniss zu nehmen, erst nachher werden
dieselben bemerkt und es besteht keine Erinnerung des em¬
pfundenen Schmerzes. Die transitorische Tobsucht ist ein Beispiel
der gänzlichen Loslösung einer Associationskette von dem Be-
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272
Dr. P. ßanscbburg.
wusstsein der Persönlichkeit. Der Kranke vollbringt gewöhnlich
im Zusammenhänge mit einer heftigen Aufregung Handlungen,
welche zwar gänzlich widersinnig erscheinen, dennoch aber
deutliche Anzeichen des Bewusstseins an sich tragen. Erinnerung
besteht an den ganzen Vorfall überhaupt keine.
Wie wir sehen, können also nicht nur einzelne Vorstel¬
lungen von der Persönlichkeit losgelöst bestehen, sondern ganze
Vorstellungsreihen können verlaufen, ohne mit derselben in Ver¬
bindung gelangt zu sein, ohne also eine dem Ich bewusste Er¬
innerung hinterlassen zu haben. Diese Vorstellungsreihen können
aber wieder in das Bewusstsein treten, so oft sich der mit
dem Vorigen identische Geisteszustand einstellt, dass nämlich
das primäre Bewusstsein vom Ich-Bewusstsein sich loslöst und
nur das erstere in Action tritt. Durch günstige Associationen
kann dann die ganze persönlich unbewusste Vorstellungsreihe
wieder als mehr minder lebhafte Erinnerung ins psychische
Leben ein treten.
So scheint im Traumbewusstsein die dem Wachbewusst¬
sein eigene feste Verbindung der das Ich-Bewusstsein bildenden
Vorstellungen und Vorstellungsgruppen sich zu lockern, einzelne
Theile des Ich-Bewusstseins übernehmen die führende Rolle,
wobei die übrigen Partien in Dunkel gehüllt sind und ihre
Controleurrolle derart einbüssen. So können dann Einzeltheile
unseres Ich das ganze Ich Vortäuschen, wir werden im Traum
wieder zu Kindern, überleben wiederholt die Tollheiten des
Jugendalters, die Plagen der Matura, der Rigorosen, wir treffen
mit den Idealen unserer Jugendjahre zusammen etc. etc. Die
dem Traumbewusstsein zur Verfügung stehende geringe asso-
ciative Energie kann sich aber — wie es scheint — auch
gänzlich von der ursprünglichen Persönlichkeit loslösen und
unserem Ich fremde Vorstellungen können jetzt zur Persönlich¬
keit werden; wir werden Helden, Könige, aber auch Bettler,
Mörder, Abenteurer, ja wir können sogar mit unserer ursprüng¬
lichen Persönlichkeit Zusammentreffen. Ausser den Organempfin¬
dungen, die uns auch im Traume zugehen, spielen auch leb¬
haftere, von der Aussenwelt eintretende Reize eine führende
Rolle in der Beeinflussung des Auftretens der Vorstellungen
im Schlafbewusstsein. Ein Doctor Juris erzählte mir jüngst als
merkwürdige Erscheinung, er sei gegen Morgen wie im Halb-
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
273
schlafe gelegen und hatte unbestimmte Träume. Unter anderen
kam es ihm vor, als würde eine Person in seinem Bette liegen.
Immer deutlicher begann die Vorstellung des Bauches der be¬
treffenden Person in den Vordergrund zu treten, ja er sah sogar
vier, fünf bis sechs Bäuche nebeneinander liegen. Dann hatte er
das lebhafte Gefühl, als wenn die im Bette liegende Person
Bauchkrämpfe hätte, worauf er endlich mit dem Gefühle des
Alpdrückens langsam erwachte und nur nach und nach zur Be¬
sinnung kam und bewusst wurde, dass er selber die betreffende
Person sei, welche heftige Bauchkrämpfe hätte.
Ich selber hatte dieser Nächte den Traum, als hörte ich
jemanden husten. Ich erinnere mich nur, dass mich diese Huster
im meinem Traume ärgerlich störten, immer heftiger und lauter
wurden, bis sich auch eine eigentümliche Art unpersönlicher
Schmerzempfindung dazu gesellte und ich endlich durch einen
heftigen Hustenanfall zu mir kam, merkend, dass ich die hustende
Person sei. Während des allmählichen Erwachens scheint sich
die Persönlichkeit mit den Bewusstseinsvorgängen wieder zu
vereinigen, daher mag die etwas undeutliche, aber dennoch
existirende Erinnerung an diese Vorgänge herstammen.
Auf dieselbe Art lässt sich die Beschreibung erklären,
die Herzen von dem Vorgänge in seinem Bewusstsein während
des allmählichen Erwachens aus tiefen Ohnmächten, an denen er
litt, gibt. 1 )
„Träume sind Schäume,” sagt das Sprichwort, und noch
heute oder gerade heute gehört eigentlich eine Art Verwegen¬
heit dazu, sich mit denselben zu beschäftigen und aus dem In¬
halte derselben wissenschaftliche Ergebnisse schöpfen zu wollen.
Und wenn mich gerade das bunte Gaukelspiel derselben derart
zur Beschäftigung einladet, dass ich es unternehme, noch einen
Traum zum Gegenstände unserer Betrachtung zu machen, so
ist es nicht der Hang für das Mystische, für das Unklare,
sondern die Bestrebung, diejenigen Zustände unseres geistigen
Apparates, welche an der Grenze zwischen den normalen
Wachfunctionen und den pathologischen Erscheinungen des¬
selben liegen, welche uns Allen aus eigener Erfahrung bekannt
! ) Herzen, Grundlinien einer allgemeinen Psychophysiologie, Leipzig 1889,
S. 113.
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274
Dr. P. Bansehburg.
und unserer weiteren Beobachtung zugänglich sind, zur Klar¬
legung der psychologischen Geisteszustände möglichst auszu¬
beuten.
Eine mir bekannte Dame erzählte mir dieser Tage — ich
arbeitete eben an diesen Zeilen — eine kleine Begebenheit, die
ihr während des Sommers passirte, und welcher ich naturgemäss
mehr Beachtung schenkte als sie selbst. Sie war zu ihrer
Schwester aufs Land gekommen, und obwohl sie sich genau er¬
innerte, ihre Aquarellfarbenchatouille mitgebracht zu haben,
war sie durchaus nicht im Stande, dieselbe unter ihren ausge¬
packten Sachen zu finden. In der Meinung, die Chatouille
vielleicht im Koffer gelassen zu haben — sie erinnerte sich
präcis, wohin sie dieselbe verpackt hatte — suchte sie im
selben nach, fand jedoch nichts, so dass sie sich im Gedanken
ergeben musste, die Chatouille trotz allem zu Hause vergessen
zu haben. Die zweite Nacht hernach träumte es ihr, sie wäre
soeben von der Bahn bei ihrer Schwester angekommen und be¬
ginne ihren Koffer auszupacken. Sie räumte ihre Kleider in den
Kasten, nahm die Farbenchatouille heraus und legte dieselbe
in ein Fach des Schreibtisches ihres Schwagers etc. etc. In der
Früh fiel ihr der nächtliche Traum ein, und voll Ungläubigkeit,
mehr aus Spass öffnete sie das Fach des Schreibtisches, dessen
sie sich früher im Wachbewusstsein durchaus nicht erinnern
konnte, von welchem sie eigentlich keine bewusste Kenntniss
hatte, und fand zu ihrem grossen Erstaunen die Chatouille
daselbst.
Sie hatte dieselbe demnach in einem Zustande der Zer¬
streutheit weggelegt, doch zeigt der Ort des Verlegens, dass
sie es zielbewusst that, während der Umstand, dass sie von
diesem Acte auch jetzt, nachträglich nicht die geringste Er¬
innerung in sich wachrufen konnte, beweist, dass es nicht einfache
Vergesslichkeit, kein temporäres Verwischen des Erinnerungsein¬
druckes des Actes war, sondern der ganze zielbewusst voll¬
zogene Act ist dem Selbstbewusstsein und der Erinnerung
gänzlich entfallen. Und trotzdem muss der Vorstellungscomplex
des vollzogenen Actes im Bewusstsein vorhanden gewesen
sein, da die Erinnerung im Zustande des Traumschlafes ins
Leben erwachte und Erinnerungsspuren für den Wachzustand
hinterliess.
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Stadien über das normale und hysterische Bewusstsein.
275
Höchst wahrscheinlich war das Ich-Bewusstsein während
derselben Zeit von einem anderen Ideengang oder von anders¬
artigen Wahrnehmungen derart in Anspruch genommen, dass
sich der übrigens bewusste Act nicht auch ins Selbstbewusst¬
sein zu erheben vermochte. Im Traume nun gerieth diese Vor¬
stellungsgruppe in Folge mehr minder zufälliger Associationen
in das Spiel der bewussten Association, kam aber diesmal mit
der Persönlichkeit während des sofort nachher erfolgenden Er¬
wachens in Verbindung und gelangte auf diese Weise ins wache
Ich-Bewusstsein.')
Nehmen wir nun den Fall an, eine Vorstellung oder Vor¬
stellungsgruppe mit ausserordentlich lebhaften Gefühlstönen
trete in das Bewusstsein und beanspruche für sich den grösseren
Theil der associativen Energie. Die Persönlichkeit beginne in
Folge dessen ihre führende Bolle einzubüssen und endlich auch
gänzlich in das Dunkel der Unbewusstheit gehüllt zu sein, so
dass nun die neueingetretene Vorstellungsgruppe den Charakter
einer neuen Persönlichkeit annimmt. Es wird sich nun eine Art
Wettkampf zwischen den beiden Persönlichkeiten entspinnen,
in welchem bald die eine, bald die andere als Siegerin hervor¬
tritt. Auf diese Art würde ich mir die Verdoppelung oder
Vermehrfachung der Persönlichkeit erklären, auf diese Art die
unverständlich erscheinenden, dennoch aber meist den Charakter
des Bewussten an sich tragenden Delirien der hysterischen
') Dieser Fall ruft mir einen ähnlichen ins Gedächtnis, den mir seiner¬
zeit Herr Privatdocent Dr. Schaffer mittheilte. Eine seiner Patientinnen,
Fräulein B., die an temporären hysterischen Irreseinszuständen litt, und die
Schaffer mittelst Hypnose behandelte, theilte ihm eines Tages mit, sie habe
den Brillanten aus ihrem Ringe beim Händewaschen verloren, was sie nach dem
Waschen bemerkte, und könne denselben nicht finden. Während der darauf¬
folgenden Hypnose fiel es Schaffer ein, die Erinnerung des Mädchens auf diesen
Vorfall zu lenken, und das Ergebniss war, dass B. sich erinnerte, während des
Händewaschens gehört zu haben, wie ein kleiner Gegenstand zu Boden fiel und
unter den Waschtisch rollte; sie wäre aber mit anderen Gedanken beschäftigt
gewesen und hätte nicht hingeraerkt. Dehypnotisirt war ihre Aufmerksamkeit
im Wachbewusstsein nicht wieder auf die Details des Vorganges zu lenken, und
erst auf directe Anfrage, ob sie sich nicht erinnere, dass der Brillant unter den
Waschtisch gerollt wäre, war eine ganz dunkle Erinnerung daran in ihr zu
wecken. Wie ihre Mutter beim nächsten Besuch bestätigte, wurde der Stein
thatsächlich unter dem Waschtische gefunden.
\
/
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276 Dr. P. Ranschburg.
Attaquen den Somnambulismus und die Perioden des hysterischen
Irreseins auslegen.
Von den hypnotischen Zuständen scheint nur das somnam¬
bule Stadium eine Loslösung der Persönlichkeit vom Bewusst¬
sein mit sich zu führen, ohne dass damit auch die Analyse des
somnambulen Stadiums gegeben wäre. Dasselbe kann aber eben¬
falls den Charakter einer Persönlichkeit annehmen und mit
einer continuirlichen Erinnerung versehen sein.
Die unter dem Namen „Automatismus” beschriebenen
Zustände endlich betrachte ich nicht als das Ergebniss
gleichzeitiger Function mehrfacher Persönlichkeiten in einem
Individuum, auch nicht als Function subcorticaler Organe
während gleichzeitiger Function der Hirnrinde — dieselben
tragen doch meist deutliche und untrügliche Zeichen des
Bewusstseins, nämlich Erinnerung, an sich — sondern fasse
dieselben einfach als Functionen des unpersönlichen Bewusst¬
seins auf.
Versuchen wir nun, wie unsere Erfahrungen betreffs der
„unbewussten Empfindungen” mit unserer Auffassung des per¬
sönlichen Bewusstseins in Einklang stehen?
Können wir empirisch den Beweis führen, dass elementare
Empfindungen und Vorstellungen in uns entstehen, unser Ich
aber von denselben keine Kenntniss besitzt? Dass die Anästhesie
thatsächlich eine Loslösung des Bewusstseins vom Ich-Bewusst-
sein ist?
Eigentlich ist der Beweis schon durch die Versuche
Janet’s 1 ) geführt, durch welche es bewiesen ist, dass anä¬
sthetische Körpertheile ohne persönlich bewusste Kenntniss des
betreffenden Individuums Bewegungen complicirtester Art aus¬
führen, dass persönlich unbewusste Empfindungen sich mit sugge-
rirten Hallucinationen, also Vorstellungen associiren, endlich
auch dem Individuum persönlich unbewusste Erinnerungen
hinterlassen, welche in gewissen veränderten Zuständen des
Bewusstseins (Hypnose) erweckbar sind. Dass Janet die vom
Ich-Bewusstsein unabhängigen psychologischen Vorgänge als
„unbewusst” oder „unterbewusst” bezeichnet, ändert nichts an
l ) Janet, Geisteszustand der Hysterischen. Uebers. Dr. Kahane. Verl.
Deutioke, Leipzig u. Wien 1894. \
\
r.
\
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
277
dem Meritum der Sache, ist mehr eine Frage der Termi¬
nologie.
Auch wir haben zum Beweise der Existenz von persönlich
unbewussten Empfindungen zahlreiche Versuche angestellt,
welche die Ergebnisse von Janet’s Forschungen bestätigen.
Wir bedienten uns hierzu hauptsächlich der Methode der asso- 1
ciirten Bewegungen, vorzüglich aber der associirten Vorstellungen
(Hallucinationen).
In den Fällen Janet’s mag die Trennung der Empfindungen
vom Ich-Bewusstsein nur eine oberflächliche gewesen sein, da
bei Anwendung der Methode der associirten Suggestionen, durch
das persönliche Bewusstwerden dieser letzteren auch die Ele¬
mentarempfindung ins Ich-Bewusstsein eintrat, die Anästhesie
auf kurze Zeit verschwand.
Dasselbe fanden wir in fast allen Fällen der noch nicht
entwickelten Hysterie.
In mehreren Fällen entwickelter Hysterie jedoch fand sich
eine viel schärfere Abtrennung der Elementarempfindungen von
dem Selbstbewusstsein.
Bei diesen nämlich — besonders ausgeprägt aber in einem
Falle der chronischen Retinalanästhesie — traten bei Anwen¬
dung von associirten Suggestionen die letzteren ins persönliche
Bewusstsein, ohne dass zugleich auch die entsprechende Ele¬
mentarempfindung persönlich bewusst geworden wäre. Die
directe Verbindung zwischen Elementarempfindung und Ich-
Bewusstsein war in diesem Falle auf keinerlei Art, weder
durch directe noch durch indirecte Wach- oder hypnotische
Suggestion herstellbar, das Individuum hatte von den Empfin¬
dungen, die ihm durch das anästhetische Auge zugeleitet
wurden, nicht die geringste Idee, und doch waren dieselben in
seinem Bewusstsein vorhanden, wie durch das persönliche Be¬
wusstwerden der associirten Vorstellungen bewiesen werden
konnte.
Es lässt sich aus diesen Erfahrungen feststellen:
1. Zur Existenz der sogenannten Sensibilität ist es
nothwendig, dass die (ins primäre Bewusstsein eingetre¬
tenen) elementaren Empfindungen, beziehungsweise Vorstel¬
lungen durch das Ich erfasst, dem Ich-Bewusstsein einverleibt
werden.
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278
Dr. P. Banschburg.
2. Die functionellen (hysterischen) Störungen der Sensi¬
bilität haben ihre nächste Ursache in der Abgetrenntheit der
geistigen Vorgänge vom Ich-Bewusstsein.
Während die zweite Folgerung eine directe logische Conse-
quenz der ersten ist, lässt sich diese erstere ausser den ange-
stellten Experimenten, auch durch biologische und klinische Er¬
fahrung befestigen.
Wir thaten schon des Zustandes Erwähnung, wo bei hoch¬
gradiger Vertieftheit in ein Problem oder Thema das persön¬
liche Bewusstsein mehr minder, eventuell auch gänzlich in den
Hintergrund tritt und nur das primäre Bewusstsein in Function
ist. In diesem Falle ist die Sensibilität des Individuums mehr
minder, eventuell auch gänzlich aufgehoben, nur starke Reize
können den Weg zum persönlichen Bewusstsein finden, in diesem
Augenblicke schwindet aber schon die Vertieftheit und die Per¬
sönlichkeit steht wieder im Vordergründe.
Dieselbe Abnahme der Sensibilität finden wir in Zuständen
der hochgradigen Erregtheit, des Zornes, der Niedergeschlagen¬
heit, der Freude, des Entsetzens, der Begeisterung, der Ver¬
zücktheit, lauter Zustände, bei deren intensivem Vorherrschen
die Persönlichkeit zusammenschrumpft.
Im Schlafe, wo das Bewusstsein überhaupt eingeengt
ist und -die Persönlichkeit nur in Bruchstücken hie und da
aufleuchtet, ist auch die Sensibilität verschwunden, oder
functionirt nur hie und da im Sinne dieser Splitter der Persön¬
lichkeit.
Bei Ausbildung mehrfacher Persönlichkeiten in einem Indi¬
viduum endlich ist es beobachtet worden, dass jeder Persönlich¬
keit eine bestimmte Form von Sensibilität entsprach, die Anä¬
sthesie wechselte je nach der functionirenden Persönlichkeit, jede
derselben behielt aber ihre eigene Form continuirlich bei. So will
ich nur einen von Bourru und Burot beobachteten und beschrie¬
benen charakteristischen Fall erwähnen, wo sich in einem Indi¬
viduum sechs miteinander mehr minder Zusammenhängende Per¬
sönlichkeiten unterscheiden Hessen, von denen eine jede durch
eine derselben eigenthümliche Anästhesie und Bewegungs¬
lähmungen gekennzeichnet war. Ribot erzählt von einem in der
Schlacht bei Austerlitz verwundeten Soldaten, der in Geistes¬
störung verfiel, in Folge deren er behauptete, in der Schlacht
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
279
gestorben zu sein und von sich als vom „gestorbenen alten
Lambert” sprach. Es bestand bei ihm vollkommene Hautunem¬
pfindlichkeit, 1 ) welche zweifellos mit seinen autonihilistischen
Ideen im engen Zusammenhänge stand.
Suchen wir daher die functioneilen Anästhesien vom Stand¬
punkte der Frage des Bewusstseins zu beurtheilen, so können
wir sie nur als Folge der Abspaltung von Bestandtheilgruppen
des Ich, also der Verengerung des Selbstbewusstseins auffassen.
Gewisse Theilsysteme der Persönlichkeit können also — wie es
scheint — auf kürzere oder längere Dauer die der übrigen
Persönlichkeit eigene ständige Activität verlieren, welcher
Zustand sich nach aussenhin als Anästhesie, als scheinbare Un¬
erregbarkeit peripherer Sinnesorgane äussert.
*
* *
So hätten wir nun einen kurzen Ueberblick über die ver¬
schiedenen Geisteszustände, welche geeignet sind, uns einen
Einblick in das Verhältniss des Selbstbewusstseins zum unper¬
sönlichen Bewusstsein zu verschaffen. Wie wir gesehen, ist es
eher eine Begriffsverwirrung in Folge unconsequenten Gebrauches
einer noch ungeklärten Nomenclatur, als ein wesentlicher
Meinungsunterschied, welcher die Differenzen in der Auffassung,
Beschreibung und Eintheilung bei den verschiedenen Autoren
zur Folge hat, obwohl zweifelsohne einige auch in dem Wesen
ihrer Auffassung wesentlich voneinander divergiren.
Wollen wir nur die Essenz unseres Ideenganges kurz zu¬
sammenfassen, so können wir unsere Auffassung über das Ver¬
hältniss des Bewusstseins zum Ich-Bewusstsein in folgenden
Sätzen formuliren:
1. Eine jede psychologische Function ist von dem
Vorgänge des Bewusstseins begleitet. Das Bewusstsein
ist weder Dirigent, noch Zuschauer der geistigen Functionen,
es ist ein integrirender Factor derselben, welcher allen Ele¬
menten, die an der Bildung geistiger Vorgänge thatkräftig
wirken, eigen sein muss. Es ist ein Product dieser Elemente,
■) Ribot, Op. eit. S. 36 nach Michea, Annales med.-psychologiques 1856,
S. 249.
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280
Dr. P. Ranschburg.
dessen Wesen wir vorderhand nicht weiter zu analysiren im
Stande sind, welches wir als „geistig” zu bezeichnen gewohnt
sind. Da es erwiesenermassen mit den materiellen Vorgängen
dieser Elemente in causalem Zusammenhänge steht (Vernichtung
derselben vernichtet das Bewusstsein, toxikologische und patho¬
logische Veränderungen derselben verändern auch das Bewusst¬
sein), so kann es als Product der Energie der Hirnelemente
aufgefasst werden, welche Energie sich ausserdem in der Ver¬
bindung der Bewusstseinselemente bethätigt (Association). Die
Summe dieser Energie nennen wir die associative Energie,
deren Wesen wir im folgenden Abschnitte näher zu beleuchten
gedenken.
2. Das Selbstbewusstsein oder Ich-Bewusstsein ist
eine höhere Entwickelungsform des Bewusstseins,
welche in dem wachen Geistesleben des entwickelten
normalen Menschen die vorherrschende Rolle spielt,
indem sie die meisten Bewusstseinsvorgänge begleitet.
Doch führt auch das Ich-Bewusstsein nicht die Rolle eines
Dirigenten, sondern dasselbe ist gleichsam der Erläuterer
der Bewusstseinsvorgänge, welche sich mit ihm in Ver¬
bindung setzen müssen, um einen für das Individuum
verwerthbaren Inhalt zu bekommen.
3. Das „primäre Ich” oder „Selbst” ist die innereProjection
des Körpers im Bewusstsein. Das secundäre Ich ist die Synthese
der biologischen und socialen Erfahrungen und der intellectuellen
Consequenzen derselheo.
Da es mit dem primären Ich sich vereinigt, sich gleichsam
an dasselbe ansetzt, bildet es die „Persönlichkeit”, welche das
gesammte Ich vorstellt. Das „Ich-Bewusstsein”, „Selbst¬
bewusstsein” oder „persönliche Bewusstsein” ist derjenige Theil
des Ichs oder der Persönlichkeit, welcher zu einer gewissen Zeit
in Function ist, kann daher vom Begriffe der Persönlichkeit nicht
losgetrennt werden. Das Bewusstsein im Allgemeinen würde ich
vorschlagen, „primäres oder unpersönliches Bewusstsein”
im Gegensätze zum „persönlichen, Ich- oder Selbst¬
bewusstsein” zu nennen.
4. Es können auch im Geistesleben des entwickelten
Menschen intellectuelle Vorgänge ohne Anschluss an das Ich,
also persönlich unbewusst, verlaufen, wobei diese Vorgänge auch
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Studien Uber das normale und hysterische Bewusstsein.
281
Gedächtnissspuren hinterlassen können, welche durch günstige
Association sich an die Persönlichkeit anschliessen, oft aber für
dieselbe unbewusst verbleiben und sich eventuell zu neuen Per¬
sönlichkeiten verbinden. Eine pathologische äussere Erscheinungs¬
form einer constanteren systematischen Loslösung gewisser Par¬
tien der Persönlichkeit vom unpersönlichen Bewusstsein bilden
die functionellen Anästhesien.
II. Die Natur und die Entstehung der hysterischen Anästhesien.
Das hysterische Bewusstsein,
Wir haben die Anästhesien als eine Erscheinungsform des
eingeengten persönlichen Bewusstseinsfeldes der Hysterischen
kennen gelernt und haben im Principe angenommen, dass
diese Einengung eine Folge der verminderten associativen
Energie sei.
Es bleibt uns nur noch übrig zu untersuchen, wie diese
Ergebnisse mit den durch Janet festgestellten Grundeigen¬
schaften der hysterischen Empfindungslähmungen, mit der Ver¬
änderlichkeit und dem widerspruchsvollen Verhalten derselben
übereinstimmen und die Bedingungen zu prüfen, welche für
das Entstehen der Anästhesien geeignet und unerlässlich
sind.
Und so wenden wir uns wieder Janet zu, der zur Lösung
dieses Problemes eine Theorie aufzustellen versuchte, eine
Theorie, welche für den ersten Blick gefällig und annehmenswerth
erscheint, welche aber schon vor uns die Kritik Anderer heraus¬
forderte, uns aber, wenigstens in der Form, wie sie aufgestellt
wurde, überhaupt nicht annehmbar dünkt.
„Die Anästhesie — sagt Janet — ist ein hochentwickelter
Zustand psychischer Ablenkung (Zerstreutheit) und macht die
Befallenen unfähig, gewisse Empfindungen dem Ich-Bewusstsein
einzuverleiben.Der hysterische Kranke kann in Folge
seines eingeengten Bewusstseinsfeldes gleichzeitig nur wenige
Elementarempfindungen in sich aufnehmen. Nothgedrungen
bewahrt er sich diese geringe Aufnahmsfähigkeit für jene Em¬
pfindungen auf, die ihm unentbehrlich erscheinen, nämlich für
Gesichts- und Gehörsempfindungen. Er muss in Folge dessen
das Bewusstsein des Gesehenen und Gehörten empfinden und
Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 19
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282
Dr. P. Ranschburg.
unterlässt es, die Tast- und Muskelempfindungen, die ihm unent¬
behrlich erscheinen, aufzunehmen. Im Beginne hätte er sich viel¬
leicht noch diesen zuwenden und sie ins Bewusstseinsfeld auf¬
nehmen können, wenigstens für den ersten Augenblick. Da aber
die Gelegenheit dazu sich nicht darbietet, so wird diese psycho¬
logische Unart langsam angenommen. Nichts ist dauernder und
widerstandsfähiger als derartige psychische Angewöhnungen
und eine Menge von Krankheiten besteht in nichts anderem als
in psychologischen Tics. Eines Tages wird nun der Kranke —
so kann man ihn nun thatsächlich nennen — vom Arzte unter¬
sucht, dieser kneift ihn in seinen linken Arm und fragt ihn, ob
er es fühlt, und zu seiner eigenen Ueberraschung bemerkt der
Patient, dass ihm die bewusste Empfindung mangelt, und dass
er, wenn ich so sagen darf, die allzu lange unbeobachtet gelassenen
Empfindungen nicht mehr in sein Ich-Bewusstsein aufnehmen
kann — er ist anästhetisch geworden.”
Wir können also diese Theorie P. Janet’s füglich kurzer¬
weise die „Zerstreutheitstheorie” nennen, und wollen uns nun
möglichst auf Grundlage unserer eigenen Untersuchungen
kritisch mit derselben befassen und ihre Richtigkeit und logische
Berechtigung einer eingehenden Prüfung unterwerfen.
Gibt es thatsächlich eine hysterische Zerstreutheit? Ist
diese eine Folge des bei Hysterischen pathognomisch ein¬
geengten Bewusstseinsfeldes? Ist dieses letztere Ursache oder
Wirkung? Lässt es sich annehmen, dass eine hochgradige Zer¬
streutheit zur Gewohnheit wird und daraus eine Anästhesie ent¬
stehen kann? Diese und derartige Fragen drängen sich uns
nach dem Studium der Forschungen Janet’s und noch mehr
nach unseren eigenen Untersuchungen unabweisbar auf.
Vorerst die hysterischeZerstreutheit. Ja, es ist zweifel¬
los, dass sie existirt. Doch müssen wir erst mit den Begriffen,
deren wir uns bedienen, ins Reine kommen, und da muss ich
denn bemerken, dass wir den Ausdruck „Zerstreutheit” für den
Geisteszustand, welchen Janet unter diesem Namen beschreibt,
nicht als gänzlich bezeichnend betrachten können. Was bedeutet
im sprachwortlichen Sinne zerstreut?
Was verstehen wir gemeinhin unter diesem Ausdrucke?
Wohl nur den Zustand der zersplitterten, zerstreuten Auf¬
merksamkeit. Zahllose Male hören wir die Klage der Zerstreut-
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
283
heit seitens unserer eigentlich neurasthenischen Patienten. Wollen
wir einen befragen, was er darunter versteht, so wird er seine
Klage derart detailliren, dass seine Aufmerksamkeit seinem
Willen nicht mehr gehorcht, dass er dieselbe nicht zu concen-
triren vermag. Er hat den besten Willen, sich mit einem Gegen¬
stände zu befassen, aber ein jeder Eindruck der Aussenwelt, ein
jeder in seiner Association auftauchende Gedanke entreisst seine
Aufmerksamkeit ihrem ursprünglichen Gegenstände, ohne dass
etwas Bestimmtes, das seine Aufmerksamkeit festbindet, in
seinem Denken sich vorfinden würde.
Eigentlich ist der Zustand, welchen Janet unter dem Namen
Zerstreutheit beschrieb und analysirt, von dem eben beschrie¬
benen gänzlich verschieden. Hier ist die Aufmerksamkeit nicht
zerplittert, zerstreut, neu auftauchende innere oder äussere Ein¬
drücke entreissen dieselbe nicht immer von neuem ihrem vor¬
herigen Gegenstände. Im Gegentheile, gerade wie Janet es so
richtig analysirt, neue Eindrücke vermögen hier nicht über
die Schwelle des wachen Bewusstseins zu gelangen, denn die
vorhandene Aufmerksamkeitsenergie ist von individuell, social
oder biologisch wichtigen Vorstellungen und Empfindungen
vollauf in Anspruch genommen. Hier ist die Aufmerksamkeit
nicht zerstreut, sondern gebunden, das Individuum ist nicht
im Zustande der Zerstreutheit, sondern der Vertieftheit.
Die wirkliche Zerstreutheit finden wir mehr bei eigentlich
neurasthenischen Individuen, in wahrhaft verzerrter Maske bei
Paralytikern. Auch bei hysterischen Individuen lässt sich dieselbe
oft genug constatiren. Treten wir aber dem Seelenleben der
Letzteren näher, begnügen wir uns nicht mit der blossen Kennt¬
nisnahme ihrer Klage über Zerstreutheit, so wird es sich meist
zeigen, dass hier nicht der Zustand der ungenügenden Concen-
trirbarkeit der Aufmerksamkeit, sondern derjenige einer durch
gewisse tiefere, innere Seelenvorgänge, oder sagen wir durch
theils persönlich bewusste, theils unbewusste, latente Vorstel¬
lungen gebundener Aufmerksamkeit vorliegt.
Die hysterische Zerstreutheit ist sozusagen systematisch.
Nur gewisse, mit intensiven Gefühlstönen auftretende Elementar¬
empfindungen vermögen die Aufmerksamkeit der Hysterischen
zu fesseln, während sonstige Eindrücke unbewusst bleiben und
wirken.
19*
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Dr. P. Ranschburg.
Beispiele dieser aus gebundener Aufmerksamkeit herrühren-
den transitorischen Anästhesie der verschiedenen Sinnesorgane
vermögen wir wann immer an uns selbst zu beobachten. Z. B.
ich habe einen Brief wichtigen Inhaltes erhalten, welcher meine
Gedanken lebhaft beschäftigt. Ich gehe auf und ab, denke nach,
gleichzeitig herrscht in mir eine gewisse halbbewusste Spannung,
da ich weiss, dass es bald Zeit sein wird, auf der Kranken-
abtheilung Visit zu halten. Diese latente Vorstellung einer Pflicht
veranlasst mich, die Uhr aus der Tasche zu ziehen und anzu¬
schauen, worauf ich sie dann wieder mechanisch zurückstecke.
In diesem Momente erhebt sich der vollzogene Act über die
Schwelle des Vollbewusstseins, es fällt mir nachträglich auf, dass
ich die Uhr eingesteckt habe. Nun denke ich nach, welche Zeit
die Uhr gezeigt habe, und ich habe keine Idee davon, obwohl
ich mich erinnere, dieselbe einige Momente hindurch angeschaut
zu haben, auch die Tonempfindung des Zuklappens kommt mir
noch nachträglich klar ins Gedächtniss. Mit einem Worte, es
war für einige Momente eine wahrhaftige Amaurose vorhanden.
Wie oft geschieht es, dass wir mit anderen Gedanken
lebhaft beschäftigt nach dem Schlüsselbunde herumsuchen,
während derselbe an unserem Finger hängt, was wieder ein
Beispiel der transitorischen cutanen Anästhesie ist.
So viel ist also Thatsache, dass es auch im normalen Be¬
wusstsein Zustände gibt, wo die Aufmerksamkeitsenergie durch
intensive Empfindungen, respective Vorstellungen in Anspruch
genommen, andere Eindrücke äusseren oder inneren Ursprunges
vernachlässigt, wodurch transitorische Anästhesien der verschie¬
denen Sinnescentren entstehen können. Ob wir diesen Zustand
Vertiefung oder Zerstreutheit nennen, bleibt für das Endresultat
irrelevant. Und so wollen wir, trotzdem wir uns bemüssigt
sahen, den Unterschied zwischen den beiden Zuständen der
Association ins Klare zu bringen, uns nicht dem Vorwurfe der
Wortspintelei aussetzen, und werden auch weiterhin den Aus¬
druck Janet’s: hysterische Zerstreutheit, beibehalten mit
dem Vorbehalte, darunter immer einer Absperrung des Bewusst¬
seinsfeldes in Folge der gefesselten Associationsenergie zu
verstehen.
Wir gebrauchten nun schon einigemale den Ausdruck
Associationsenergie. Wir verstehen darunter jene Energie,
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Studien über das normale nnd hysterische Bewusstsein.
285
welche einem gewissen Theile der Association den Charakter
des Bewussten verleiht. Obwohl rein theoretisch, ist dieselbe
dennoch unbedingt vorhanden, da eine Action ohne treibende
Energie nicht zu Stande kommt. Wir müssen es nun als fest¬
stehend betrachten, dass diese Energie, d. h. die Kraft, welche
der zu einer gewissen Zeiteinheit fungirenden Asso-
Fig. 1. Vertheilung der Anästhesie bei Julie Z.
Die dichtgetüpfelten Partien sind anästhetisch, die schütter punktirten
hypästhetisch.
ciation den Charakter des Bewussten verleiht, bei ver¬
schiedenen Individuen in verschiedener Quantität vorhanden ist.
Wir können uns keine Kraft ohne Materie denken, und so ist
es denn natürlich, dass auch diese Energie an einen Stoff ge¬
bunden ist, und zwar an die Bestandtheile des Centralnerven-
systemes. Einestheils gibt es nun kein Hirn, welches dem
äusseren und inneren Baue nach einem anderen vollkommen
identisch wäre, andererseits ändert sich die chemische Zusammen-
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286
Dr. P, Ranschburg.
Setzung eines und desselben Hirnorganes in Folge der Ab¬
nützung, überhaupt in Folge seines fortwährend variirenden
Stoffwechsels. Daraus folgt, dass einestheils die Functionsenergie
des Gehirns der verschiedenen Individuen eine verschiedene ist,
dass zweitens diese Energie bei einem und demselben Indivi¬
duum in ihrer Quantität fortwährenden Variationen ausgesetzt
ist. Mathematisch ausgedrückt ist die Aufmerksamkeitsenergie
Pig. 2. Vertheilung der Anästhesie bei Therese N.
des einen Individuums (des A), zu einer gewissen Zeit x, die¬
jenige eines anderen Individuums (B) y, die eines dritten (C) z.
Der Inhalt der durch diese Energie versehenen Association, d. h.
das Bewusstseinsfeld des ersten sei X, des zweiten Y, des
dritten Z. Jedoch auch bei A ist die associative Energie
nur zu einer gewissen Zeit gleich x, ein anderesmal ist
dieselbe x -f-1, wieder ein anderesmal ZHr Zeit eines ungün¬
stigeren Stoffwechsels x — 1. Unter günstigeren Verhältnissen
kann daher das Bewusstseinsfeld, welches im Durchschnitt X ist,
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
287
zuX + 1, X + 2, X -}- 3.X + n sich erweitern,
wo X + n die weitmöglichste Grenze bezeichnet; dagegen kann
das Bewusstseinsfeld unter ungünstigen Verhältnissen zu X — 1,
X — 2, X — 3.X — n sich verengern, welch
letzte Zahl die Grenze des möglichst engsten Bewusstseinsfeldes
bezeichnet, welche natürlich mit der gänzlichen Unbewusstheit
Eig. 3. VertheiluDg der Anästhesie bei Therese N. (Eine Woche später.)
zusammenfiele. Bei welcher Grenze die Verengerung des Be¬
wusstseinsfeldes noch normal ist und wo sie anfangt patho¬
logisch zu werden, lässt sich bei einer sich so fein abstufenden
Wellenlinie nicht haarscharf bestimmen, und ebenso glaube ich
lässt sich keine sogenannte Zerstreutheit als absolut pathologisch
kennzeichnen, da wir erstens überhaupt kein Normalmass für
das Bewusstseinsfeld besitzen, da weiter dasjenige, was bei
dem einen nur im pathologischen Zustande vorkommt, bei einem
anderen das Normale vertritt und umgekehrt.
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288
Dr. P. Ransehburg.
Im Allgemeinen lässt es sich aber leicht vorstellen, dass
in Folge ungünstiger Verhältnisse die associative Energie ab¬
genommen habe, in Folge dessen eine andauernde Verengerung
des Bewusstseinsfeldes eingetreten ist. Es erscheint dabei nur
plausibel, das von den Beizen, welche in die Sinnescentren und
von hier in die Associationscentren gedrungen sind, nur die
biologisch wichtigsten — welche die abgestimmtesten Bahnen
haben — und die mit intensiven Gefühlstönen versehenen —
welche die Bahnen am mächtigsten abzustimmen im Stande
sind — in den beleuchtenden Strom der Associationsenergie
gelangen, daher bewusst werden, während die übrigen peri¬
pheren Beize im Gentrum zwar zu Elementarempfindungen
werden, sich auch mit Vorstellungen verbinden, auch zu moto¬
rischen Besultaten führen können, ohne in das beleuchtete
Wachbewusstsein getreten zu sein, ohne die Aufmerksamkeit auf
sich gelenkt zu haben.
Es können daher — auch nach dieser theoretischen Auf¬
fassung — Anästhesien in Folge verengerten Bewusstseinsfeldes
entstehen, jedoch erscheint es unzweifelhaft, dass immer die Ver¬
minderung der freien associativen Energie, in Folge dessen die
Verengerung des Bewusstseinsfeldes, das verursachende Moment,
die Hyp- oder Anästhesie hingegen Wirkung derselben ist
Die Frage ist nun, ob sich auch das Entstehen der hyste¬
rischen Anästhesien aus einer chronischen Verengerung des
Bewusstseinsfeldes, aus einer Angewöhnung des Vernachlässigens
der Elementarempfindungen erklären lasse. Wir haben gesehen,
dass Janet ausschliesslich diese Art der Entstehung kennt, und
haben seine Beweisführung im experimentellen Theile unserer
Arbeit 1 ) mit Beispielen versehen skizzirt.
Gegen diese Annahme einer Erklärung der Anästhesien
durch chronische Zerstreutheit äussert schon Dutil, der sich
im Uebrigen der Theorie Janet’s, als der verhältnissmässig
besten, anschliesst, seine Bedenken. 2 )
Wir wollen die unserigen, die theilweise mit den seinigen
übereinstimmen, mit unserer Motivirung anführen:
1. Janet erkannte als Grundcharakter der hysterischen
Anästhesien die Veränderlichkeit und das Widerspruchs-
0 Dr. P. Ranschburg u. Dr. L. Hajos. Op. cit. I. Theil.
2 ) Datil, Hysterie, Traite de Medecine. Paris 1894. Pag. 1345.
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Stadien Aber das normale und hysterische Bewusstsein.
289
volle Verhalten derselben. Unsere eigenen Erfahrungen
stimmen in dieser Hinsicht vollkommen mit den seinigen überein.
Doch sehen wir zwar in diesen Grundeigenschaften Beweise der
nicht peripherischen, sondern centralen, der nicht organischen,
sondern functioneilen Natur der Anästhesien, aber gerade als
Beweise für die Entstehung der letzteren aus Angewöhnung
können wir dieselben durchaus nicht gelten lassen. Gerade im
Gegentheile. Es widerspricht durchaus jeder Logik, dass
ein Individuum, welches in Folge seines verengerten Bewusst¬
seinsfeldes genöthigt war, lange Zeit hindurch seine links¬
seitigen Tastempfindungen zu vernachlässigen und in Folge
dessen mit der Zeit eine linksseitige Hemianästhesie
erwarb, auf einmal nach einer Attaque, oder auch während des
Verlaufes einer Untersuchung plötzlich linksseitig empfin¬
dungsfähig und rechtsseitig anästhetisch werde. Und wir
haben doch diese Eigenschaft sowohl durch Janet betonen als
auch vor unseren Augen in zahlreichen Fällen sich bethätigen
gesehen. Diese Veränderlichkeit, dieses paradoxe Verhalten
verträgt sich mit dem Sinne der Angewöhnungstheorie auf keinerlei
Weise und kann mit derselben durch keinerlei Hin- oder Her¬
deutelei in Einklang gebracht werden. (Vergl. Abbildung 2 u. 3.)
2. Es widerspricht der Theorie der angewöhnten Zerstreut¬
heit auch die Natur der Vertheilung der Anästhesien. Es
ist nur plausibel, dass ein Individuum mit verengertem Bewusst¬
seinsfelde seine geringe Perceptionsfähigkeit für diejenigen
Elementarempfindungen reservire, welche seinem Organismus aus
biologischen und physiologischen oder anderen Rücksichten
wichtig sind. Oder auf physische Grundlage übertragen, dass
bei verminderter Energie dieselbe nur mehr die abgestimmten
freien Bahnen leicht durchlaufen kann. Die Erscheinung,
dass die Anästhesien meist linksseitig sind, dass wichtige
Organe von der Anästhesie meist verschont werden, dass z. B.
hysterische Amaurose nicht doppelseitig bestehen bleibt etc.,
steht mit dieser Auffassung in voller Uebereinstimmung. Und
wären es nur sehr vereinzelte Fälle, wo die Anästhesie ein
anderes Verhalten zeigt, so würde dies die Regel noch nicht
zum Falle bringen. Jedoch wir sehen, dass Anästhesien mit ge¬
kreuzter Vertheilung auf beide Körperhälften keineswegs zu den
Ausnahmen gehören. (Vgl. Abbildung 1,2 u. 3.) Wir finden massen-
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290
Dr. P. Ranschburg.
haft Fälle der Art, wo z. B. die rechte Gesichtshälfte, der linke Ober¬
arm, eine Manchette um das rechte und linke Handgelenk, ein Gürtel
um die Brust und beide Unterschenkel anästhetisch sind. Solche
variirte Vertheilung der Anästhesie findet sich in den verschie¬
densten, überraschendsten, wir müssen sagen in den sinn¬
losesten Abwechslungen. Diese Art der Vertheilung wieder¬
spricht durchaus der Auffassung, dass diese Anästhesien durch
eine physiologisch oder biologisch zielbewusste Vernachlässigung
der Elementarempfindungen entstanden wären.
3. Gegen die Annahme des Ursprunges der Anästhesien
aus einer nothgedrungenen psychischen Unart, wie Janet die
angewöhnte Vernachlässigung der Elementarempfindungen be¬
zeichnet, spricht ferner der Umstand, dass die Anästhesien nicht
immer unbewusst entstehen und verbleiben, sondern sie ent¬
wickeln sich manchmal langsam und allmählich unter ständiger
Controle der Kranken, die das anwachsende Uebel oft mit
grosser Sorge genau beobachten, und auch den Arzt auf das¬
selbe aufmerksam machen. Uns kamen sowohl innerhalb, als
ausserhalb der Klinik mehrere Fälle zur Beobachtung, wo wir
auf dieses Entstehen der Anästhesie durch die Klagen der
Kranken aufmerksam gemacht, den Vorgang beobachten konnten.
Die Kranken klagen meist über ein Gefühl der Schwere, der
Mattigkeit, der zeitweiligen Vertaubung eines oder mehrerer Glied¬
massen, meist der totalen linken Körperhälfte, während die objective
Untersuchung zu dieser Zeit höchstens eine geringe Hypästhesie
nachzuweisen im Stande ist. Später hören wir öfters die Klage
über ein holziges, schwammiges Gefühl (wie bei Tabeskranken),
nicht selten auch klagt die Kranke, sie fühle zeitweilig ihre
eine Seite überhaupt nicht, oder aber sie fühle gewisse Körper¬
teile an sich hängen, als wenn dieselben nicht ihr gehörten.
Wir müssen sogar bemerken, dass wir, seit wir auf diese Art
der Entstehung der Anästhesien aufmerksam geworden sind, in
fast allen Fällen, wo wir derartige Klagen seitens der Kranken
vernahmen, eine mehr minder intensive Hypästhesie, meistens der
linken Körperhälfte vorfanden. Wenn die Kranken mit ihrer
vertaubten Hand einen Gegenstand anpacken, so haben sie zwar
das Gefühl der Berührung, aber als wenn nicht sie selber es
wären, die die Berührung fühlten, als wäre es ein anderer
Jemand. Zu dieser Zeit lässt sich meist eine constante Hyp-
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
291
ästhesie und zu gewissen Zeitpunkten eine Anästhesie nach-
weisen, letztere bei Kranken mit Anfällen meist vor und nach
den Attaken, während sie nach einiger Zeit wieder ver¬
schwindet. Eines Tages ist dann die Anästhesie völlig ent¬
wickelt und schwindet nur zeitweilig unter Einwirkung der
verschiedenartigen Einflüsse, die wir (anderen Ortes) des
weiteren behandelten.
4. Endlich lässt sich mit der Zerstreutheitsauffassung die
eben von Janet angeführte und auch durch uns oft bestätigt
gefundene Thatsache, dass bei intacter Tastempfindung voll¬
ständige Analgesie, oder bei Anästhesie gleichzeitig Hyperal-
gesie vorhanden ist, nicht in Uebereinstimmung bringen.
*
* *
Wie wir also ersehen haben, lässt es sich wohl vorstellen,
dass die Eingeengtheit des Bewusstseinsfeldes Zerstreutheit zur
Folge habe; dass aber Zerstreutheit und Einengung des Be¬
wusstseins identisch wären, und dass die Anästhesien eine Folge
der chronischen Zerstreutheit bildeten, können wir nicht an¬
nehmen.
Welche sind also die Umstände, welche die Erscheinungs¬
form der hysterischen Anästhesien bedingen?
Wir haben angenommen, das Wesen derselben bestehe in
der Einschränkung des persönlichen Bewusstseinsfeldes, die
wieder ein Folgezustand der verminderten associativen Energie
wäre.
Janet hält diese Einengung für eine originäre, primäre,
Breuer und Freud 1 ) für eine secundäre, für eine Folge der ge¬
steigerten Spaltbarkeit des Bewusstseins.
Gegen die Behauptung Janet’s lassen sich keine haltbaren
Einwände erheben und Breuer beweist nur wenig, wenn er
anführt, „dass man unter den Hysterischen die geistig klarsten,
willensstärksten, charaktervollsten und kritischesten Menschen
finden kann”. Denn alle diese Eigenschaften stehen mit der
Einschränkung des Bewusstseinsfeldes nicht im Widerspruche.
Die associative Energie ändert sich eben bei den Hysterischen
nicht in der Qualität, nur in der Quantität..
’) Stadien über Hysterie. Denticke’s Verl. Leipzig u. Wien. 1895. S. 201.
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292
Dr. P. Ranseliburg.
Wenn wir also die Möglichkeit der Ableitung der psychi¬
schen Stigmata aus einer originären Schwäche, aus der pri¬
mären Einschränkung des Bewusstseinsfeldes als eine acceptable
erachten, so müssen wir dennoch bemerken, dass es in den
meisten Fällen nachweisbar ist, wie die Einengung des Be¬
wusstseins eine Folge der pathologischen Gespaltenheit des¬
selben bildet, dass nämlich die associative Energie nicht absolut
vermindert ist, sondern von der Persönlichkeit unabhängige
Vorstellungscomplexe einen bedeutenden Theil der Energie an
sich gebunden halten, und in Folge dessen die dem Ich-Bewusst-
sein zur Verfügung stehende associative Energie eine nur
relativ verminderte ist, welche sich in Defecten des persön¬
lichen Bewusstseins (Anästhesien, Amnesien etc.) offenbart.
Wir können also den Satz folgendermassen formuliren:
Die hysterischen Anästhesien sind Folgezustände
der absolut oder relativ verminderten associativen
Energie. Die Verminderung derselben gibt sich haupt¬
sächlich in der Einengung des Ich-Bewusstseins kund.
Jetzt bleibt uns noch die grosse Frage zu beantworten,
wie sich die eigenthümliche Localisation der Anästhesien er¬
klären lasse?
Es scheint uns, es wäre auch hier eine nutzlose Anstren¬
gung, alle Erscheinungsformen derselben mit Hilfe einer ein¬
heitlichen Grundformel erklären zu wollen. Wenn wir auch die
Theorie Janet’s, dass die Anästhesien eine Folge von chronischer
Angewöhnung der nothgedrungen vernachlässigten unwesent¬
lichen Elementarempfindungen wären, in der ursprünglichen
Fassung verwerfen mussten, so dürfen wir doch dasjenige aus
seiner Theorie, was unbedingt wahr erscheint, nicht vernach¬
lässigen. Dass nämlich im Allgemeinen die linksseitigen An¬
ästhesien vorherrschen, ist unleugbar, ebenso wie kein Zweifel
vorhanden ist, dass die linksseitigen Tastempfindungen unseres
Körpers für unser Ich biologisch minder wichtig sind als die
rechtsseitigen. Es ist also einleuchtend, dass ein Zusammenhang
dieser zwei Thatsachen bei der Vertheilung der Anästhesien
eine Rolle spielt.
Wir können uns dieselbe nach den allgemeinen Regeln
der Association ganz wohl vergegenwärtigen. Je öfters eine
Bahn in Gebrauch kommt, desto mehr ist dieselbe für die
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
293
Association abgestimmt, es ist also nur selbstverständlich, dass
die ohnehin geschwächte associative Energie des Ichcomplexes
hauptsächlich und in erster Linie diejenigen Associations¬
bahnen beleuchten wird, die für dieselbe leichter zugänglich
sind, d. h. diejenigen, welche die Elementarempfindungen der
rechten Körperhälfte mit dem Vorstellungscomplexe der Persön¬
lichkeit verbinden, während die schwerer zugänglichen Verbin¬
dungsbahnen der linken Körperhälfte oder gewisser Theile der¬
selben im Dunklen bleiben, d. h. die ihr entsprechenden Ele¬
mentarempfindungen nicht ins persönliche Bewusstsein ge¬
langen.
Trifft nun ein intensiver Reiz die anästhetische linke
Körperhälfte, so kann die entstehende Elementarempfindung in
Folge ihrer günstigen Constellation die Unabgestimmtheit der
entsprechenden Bahnen bezwingen und eine gewisse Summe
associativer Energie an sich reissen, wodurch eine temporäre
Empfindungsfähigkeit der vorhin anästhetischen Partie eintritt.
Derart lässt sich die Veränderlichkeit und der wieder¬
spruchsvolle Charakter der Anästhesien ohne Zwang erklärlich
machen.
Die Eingeübtheit der associativen Bahnen, welche
mit der biologischen Wichtigkeit derselben parallel läuft, wäre
also ein Factor, welcher auf die Localisation der Anästhesien
unbedingt einen Einfluss ausübt.
Doch lassen sich mittelst derselben die auf beide Körper¬
hälften regelmässig oder unregelmässig vertheilten Anästhesien,
sowie auch die sensoriellen halbseitigen Anästhesien nicht mehr
erklären. Wenigstens dünkt es uns nicht wahrscheinlich, dass
die Elementarempfindungen des linken Auges, des linken Ohres,
oder der linken Zungenhälfte und Nasenschleimhaut biologisch
weniger wichtig für uns wären als die durch die rechtsseitigen
entsprechenden Sinnesorgane vermittelten Empfindungen.
Hier müssen wir nach anderen Ursachen forschen, deren
eine wir in den anatomischen, beziehungsweise histologischen
Verhältnissen der Perceptionscentren vermuthen. Die äusserst.
häufig vorhandene geometrische Regelmässigkeit der Anästhesien
welche sich meist auch in den scheinbaren Unregelmässigkeiten
erkennen lässt, die Erscheinungen des Transfert, wenn
wir dieselben aucli als Suggestion auffassen, weisen unabweis-
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294
Dr. P. Ransehburg.
lieh auf eine gewisse topographische Segmentation der centralen
empflndungs- und vorstellungsbildenden Felder hin. Durch die
Annahme eines Functionsausfalles (Hemmung oder Lähmung)
solcher Segmente aus der Association liesse sich dann die geo¬
metrische Figuration der Anästhesien unserem Verständnisse
näher bringen.
Hat auch schon in den jüngsten Tagen ein Forscher wie
Flechsig die Entdeckung der verschiedenen centralen Sinnes¬
felder verkündet, 1 ) so hielten wir es entschieden für verfrüht,
uns in eine topographische Localisationstheorie der functionellen
Anästhesie ernstlich einzulassen. Ich wollte nur andeuten, dass
es mir gewagt erscheint, die periphere Vertheilung derselben
rein aus Zweckmässigkeitsrücksichten oder aus dem Stand¬
punkte des ideogenen Ursprunges, welch letzteren wir sofort
erörtern werden, erklären zu wollen.
Die Frage der Ideogenese der Anästhesien darf nicht mit
der Frage betreffs des Einflusses der Vorstellungen auf
die Vertheilung der hysterischen Anästhesien verwechselt
werden.
Wir haben es nicht für ausgeschlossen erachtet, dass ge¬
wisse hysterische Empfindungslähmungen in Folge einer absoluten
Verminderung der associativen Energie entstehen können. Bei
diesen Formen, falls dieselben rein nachgewiesen würden, liesse
sich der ideogene Ursprung ausschliessen. Diese absolute Vermin¬
derung der associativen Energie als Krankheitsursache liesse
sich entweder als Folge originärer Degeneration oder aber
toxikologischer und pathologischer Einflüsse erklären. Doch sind
solche Formen der Hysterie selten rein nachweisbar. Meist
finden wir auf dieser Grundlage, welche als prädisponirendes
Moment wirkt, eine weitere Verminderung der associativen
Energie (in ihrer Erscheinung als verengertes Bewusstseinsfeld
nachweisbar) in Folge ideogenen Ursprunges sich als krankheits¬
verursachendes Motiv hinzugesellen. Eine Vorstellung, welche in
Begleitung ausserordentlich lebhafter Gefühlstöne ins Bewusstsein
tritt, beansprucht für sich einen bedeutenden Theil der Energie,
bindet dieselbe constant an sich und verursacht in Folge dessen
die Verengerung des persönlich bewussten Bewusstseinsfeldes,
') Flechsig, Gehirn u. Seele, Leipzig 1896. Vgl. S. 21 n. 65.
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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein.
295
welche sich in den psychischen Stigmata kundgeben wird.
Dieser ideogene Ursprung ist fast in allen Fällen nachzuweisen,
und so ist Möbius keinesfalls weit von der Wahrheit entfernt,
wenn er annimmt, dass alle hysterischen Erscheinungen —
dieselben sind ja überwiegend psychischer Art — von Vorstel¬
lungen bedingt sind.
Etwas anderes ist dagegen der Einfluss der Vorstellungen
auf die Vertheilung der Anästhesien. Dieselbe ist in der über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle nicht nachweisbar, doch beweisen
mehrere beschriebene Fälle, dass auch dieser Fall, obzwar ver-
hältnissmässig selten, vorkommt. Ausser den Fällen, die Gilles
de la Tourettes erwähnt, will ich noch den Fall des B . . .
anführen, der unter die Beobachtung meines Freundes Herrn
Dr. Hajos kam, und bei welchem sich die eigenthümliche un¬
regelmässige Vertheilung der Anästhesien aus den nach der
Freud’schen Methode gewonnenen Details seiner hysterogenen
Ideen mehr minder in all ihren Einzelheiten erklären liess.
Wir können also nach all diesem die Lehre der hysterischen
Anästhesien in folgenden Sätzen zusammenfassen:
1. Diehysterischen Anästhesien sindFolgezustände
der Einengung des Ich-Bewusstseins, welche sich in
Folge absoluter oder relativer Verminderung der asso-
ciativen Energie einstellt.
2. Die periphere Vertheilung dieser Anästhesien
wird theils durch biologische Zweckmässigkeitshin¬
sichten (die ihre physische Grundlage in der erhöhten Ab-
gestimmtheit der gebrauchteren Bahnen besitzen), theils durch
uns noch unbekannte anatomisch histologische Structur
der höheren Sinnescentren, theils durch persönlich
mehr minder unbewusste Vorstellungen, oder durch
Combinationen dieser drei Factoren beeinflusst.
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Ueber hysterische Amnesien.
(Vorläufige Mittheilung.)
Von
Dr. L. Hajos,
Assistent an der psychiatr. neurol. Univ. Klinik Prof. Laufenauer’s in Budapest.
Die Amnesien nehmen in der Reihe der hysterischen Stigmen
keinen besonderen Platz ein. Diese, sowie jene sind bloss
Symptome des krankhaften Seelenzustandes, welcher das Funda¬
ment der Hysterie bildet.
Kurz zusammengefasst besteht der Seelenzustand des
Hysterischen in Folgendem: Hysterische Individuen verfügen
über eine kleinere Associationsenergie als Normale. Daraus
folgt, dass die Schwankung der Weite des Bewusstseins in
scheinbar grösseren Wellenlängen vor sich geht. Das enge Be¬
wusstsein erzeugt Geneigtheit zur Perception bloss solcher
Reize, welche lebhafte Gemüthsfarbungen hervorbringen. Der
Umstand, dass dieses „affective Ich” die Oberhand erlangt, ist mit
der weiteren Verengung des Bewusstseins verbunden, oder wir
können sagen, dass die engen Bewusstseinszustände die Bedin¬
gungen zur weiteren Verengung in sich tragen.
Diese Verengungen des Bewusstseins sind die Grund¬
bedingung und das Charakteristicum all jener Zustände der
Hysterischen, welche zur Entstehung der Amnesien den frucht¬
baren Boden liefern und welche ich in einem als amnesiogene
Geisteszustände zu bezeichnen mich berechtigt fühlte. Zu
denselben gehören die Hypnose, die Hypnoide, die intraparoxys¬
malen Geisteszustände, manche Intoxicationszustände, ferner
der physiologische Schlaf mit der ihm vorangehenden Schlaf¬
trunkenheit.
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Ueber hysterische Amnesien.
297
Dieser neue Gesichtspunkt, der die amnesiogene Phase
als das wichtigste ätiologische Moment der hysterischen Amnesien
darstellt, führte mich zur Annahme einer theoretischen Auffassung
über das Wesen der hysterischen Amnesien. Meine Theorie wird
in einem unter Druck befindlichen Essay in ausführlicher Dar¬
stellung erscheinen. Hier beschränke ich mich, deren wichtigere
Eesultate kurz zusammenzufassen.
1. In seiner Studie über das normale und hysterische Be¬
wusstsein hebt Dr. P. Ranschburg hervor, dass das Wesen des
hysterischen Geisteszustandes in der Verengerung des Bewusst¬
seins in Folge der Verminderung der associativen Energie zu
suchen sei. Meine Forschungen über die hysterischen Amnesien
erwiesen, dass es gewisse periodische Zustände des hysterischen
Normal-Geisteszustandes gibt, welche durch eine specifisch
starke Einengung des schon an und für sich eingeengten, sagen
wir normalen hysterischen Bewusstseins charakterisirt sind.
Dieses ist das von mir sogenannte „affective Bewusstsein”, wo
nur für das „Ich” in besonders egoistischer Beziehung stehende
Elementarempfindungen und Begriffe mit der Persönlichkeit
in Verbindung gelangen und auf diese Weise ein noch mehr
eingeengtes „affectives Ich” entsteht.
2. Das Vorherrschen dieses „affectiven Bewusstseins” ist
dasjenige, was ich als wichtiges Charakteristicum der amnesio-
genen Zustände fand.
3. Jede Amnesie ist die Folge einer vorher abgelaufenen
amnesiogenen Phase. Das während des amnesiogenen Zustandes
ausschliesslich Rolle spielende „affective Ich” tritt nämlich mit
dem normal-hysterischen Bewusstsein in gar keine oder nur in
eine mehr minder lockere Verbindung, in Folge dessen bezüglich
der Ereignisse der amnesiogenen Phase eine vollkommene Am¬
nesie, oder eine mehr minder fehlerhafte Erinnerung zurück¬
bleibt.
Betrachten wir nun die einzelnen Phasen und Formen der
Amnesien mit Rücksicht auf unsere eben angeführten theore¬
tischen Resultate.
Das Entstehen der Amnesien.
In der amnesiogenen Phase wird das Bewusstsein allmählich
enger, bis endlich nur noch die mit stärkeren Affecten einher-
Jahrbücher f. P*yehiatri<« und Neurologie- XV. Bd 20
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298
Dr. L. Hajos.
gehenden Reize zur Geltung kommen. Die Stimmungen nehmen
so sehr überhand, dass jeder disponible Tbeil der associativen
Energie verbraucht wird. In diesem Zustande gehen für das
herrschende Bewusstsein des Individuums viele Reize, welche
zum Erwecken von Stimmungen ungeeignet sind — ist doch ein
überwiegender Theil der Reize indifferent — verloren. Selbstver¬
ständlich werden bezüglich dieser indifferenten Reize Amnesien
vorhanden sein.
Um zu verstehen, dass wir nicht nur bezüglich ein¬
zelner Reize, sondern auch bezüglich der meisten Ereignisse
eines krankhaft verengerten Bewusstseinszustandes Amnesien
vorfinden, müssen zwei Umstände in Betracht gezogen werden.
Erstens wissen wir, dass die meisten Reize nicht die Eignung
zum Hervorbringen starker Affecte besitzen, und dass die Ge¬
schehnisse aus einer Reihe solcher, meist indifferenter Reize be¬
stehen. Zweitens haben wir gesehen, wie einzelne, noch zur
Geltung kommende Reize Associationen erwecken können, deren
Inhalt nebensächlich ist, indem die intensiven, präpotenten
Affecte die Oberhand behalten. Affecte haben die Neigung, Er¬
innerungsbilder, die mit derselben Färbung einherzugehen
pflegen, zu erwecken, wodurch es geschehen kann, dass eine
Erinnerung so plastisch hervortritt, dass dieselbe die eigentliche
äussere Ursache des Affectes ganz verdrängt. Wir sahen dies
bei Helene K., welche wegen eines Wortwechsels erregt, ihre üble
Laune bewahrt, betreffs des Ursprunges derselben aber sich im
Irrthum befindet. Dieses Loslösen von den äusseren Reizen
bleibt nicht isolirt; alsbald tritt eine fremde Association auf, und
die ursprüngliche Stimmung kommt im Rahmen einer fremden
Association zur Geltung. So sucht sich Helene ihre Aufregung
mit einer eingebildeten Vernachlässigung zu erklären. Unter
solchen Umständen können die in fremden Boden übertragenen
Associationen nicht das Erinnerungsbild des ursprünglichen
Reizes, sondern im besten Falle nur falsche Erinnerungsbilder
zurücklassen. Dass in diesem Falle die Erinnerungsfälschung
der Autosuggestion gleich ist, ist natürlich.
So finden wir Amnesien hysterischer Individuen für die
Zeit amnesiogener Zustände, denn sie haben die damals ein¬
wirkenden Reize entweder gar nicht gefühlt oder falsch
gedeutet.
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Ueber hysterische Amnesien.
299
Eine andere Ursprungsquelle der Amnesien liegt in der
Verschiedenheit der Ausgangspunkte der Associationen während
des amnesiogenen und normalen Geisteszustandes. Während des
amnesiogenen Zustandes fasst das Individuum alles von der
subjectivsten Seite auf, ob nämlich das wahrgenommene Gefühl
für dasselbe angenehm oder unangenehm sei? Ganz anders ge¬
stalten sich die Dinge, sobald der amnesiogene Zustand auf¬
gehört hat.
Der Verstand übernimmt sein Regime und die Gescheh¬
nisse der Aussenwelt werden auf Grund ganz anderer, im
früheren Zustande indifferenter Zeichen wichtig, durch welche
primäre Associationen ganz anderer Natur hervorgerufen, die
übertrieben subjectiven egoistischen Beziehungen hingegen nach
Möglichkeit in den Hintergrund gedrängt werden.
Nachdem die Erinnerung ebenfalls nur eine durch äusseren
Reiz in Bewegung gesetzte Association ist — wird es für
natürlich erscheinen, dass zwischen den auf verschiedenem Wege
zu Stande gekommenen Associationen — die erste Station der
ersten ist das enge „affective Ich”, die der zweiten das weit
umfassende „persönliche Bewusstsein” — die Verbindung gering
sein wird.
Die schüttere associative Verbindung ist ferner auch auf
jene Thatsache zurückzuführen, dass die im schärfsten Lichte
dastehenden Associationen des verengten Bewusstseins ohne
Uebergang, d. h. ohne stufenweise Perspective plötzlich zu jenen
Associationen übergehen, welche im Halbdunkel bleiben. Ein
Grund der scharfen Abgrenzung besteht darin, dass die im
vollen Lichte befindlichen Associationen wegen ihrer affec¬
tiven Färbung einen grossen Theil der Associationsenergie ver¬
brauchen, weshalb für den übrigen Inhalt des Bewusstseins nur
sehr wenig zurückbleibt.
Dieser scharfen Abgrenzung zufolge besitzen die im con-
centrirten Lichte befindlichen und im Dunklen gebliebenen Asso¬
ciationen nur wenig associative Verbindung.
Dieses Schwinden des associativen Bandes konnten wir bei He¬
lene K. gut beobachten. Als mit der Abenddämmerung ihre hypnoiden
Zustände auftraten, trennte sich gleichzeitig ihr „Ich” immer
schärfer von der Aussenwelt. Wenn mit dem lawinenartigen Zu¬
nehmen ihrer Aflfecte auch diese Grenzlinie schärfer wurde,
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300
Dr. L. Hajos.
haben wir gesehen, dass nun schon sehr wenige Reize der
Aussenwelt eine solche Association hervorzubringen vermochten,
welche den entstandenen Riss für einen Moment überbrückte.
Aber auch jene Associationen, welche ein solches momentanes
Band herstellten, laufen in ihrem weiteren Verlaufe, nun schon
auf die Illusionsgruppe des stark beleuchteten „affectiven Ich”
beschränkt, ohne jede Controle ab, und das Individuum, welches
aus dem Inhalte seiner derzeitigen Associationen auf den äusseren
Grund derselben folgert, verfällt in Irrthum.
Solche Associationen, welche im Halbdunkel des Bewusst*
seins bleiben, unterscheiden sich weder der Form, noch dem
Inhalte nach von jenen, welche in concentrirtem Lichte ablaufen,
nur die Verschiedenheit ihres Ursprunges trennt sie voneinander.
Nachdem während des amnesiogenen Zustandes der im vollen
Lichte sich befindliche Theil des Bewusstseins oft von alten
Reminiscenzen, welche wegen der krankhaften Suggestibilität
dieser Zustände leicht die Form retroactiver Hallucinationen
annehmen, eingenommen wird, wird es leicht verständlich sein,
dass diese Associationen von dem abgetrennten und im Halb¬
dunkel befindlichen Bewusstsein keiner Kritik unterzogen werden.
Die schüttere Verbindung und der Mangel gegenseitiger Kritik
hat zur Folge, dass die im verschiedenen Lichte befind¬
lichen Theile des Bewusstseins zu autonomer Organisation
geneigt werden, was wieder zur Verdoppelung der Individualität
führt. Es wird also leicht begreiflich sein, dass die um
irgend eine fixe Idee autonomisch geordneten, jedoch im Dunklen
gebliebenen Associationen mit dem Ende des amnesiogenen Zu¬
standes der Erinnerung entfallen, und auf diese Art entstehen
die systematischen Amnesien.
Diese Erklärung ist aber nur auf solche systematische
Amnesien anwendbar, welche sich ganz innerhalb der Zeitdauer
ein und desselben amnesiogenen Zustandes befinden. Theilweise
von einem anderen Gesichtspunkte müssen diejenigen syste¬
matischen Amnesien betrachtet werden, bei welchen einzelne
Wurzeln des verlorenen Erinnerungsbildes in die Vergangenheit
zurückgreifen, welche also gleichzeitig auch retrograde Amnesien
sind. Als Beispiel kann auf die systematische Amnesie der Fanny
L. hingewiesen werden, welche sich auch auf frühere Erinne¬
rungen an ihren Bräutigam erstreckte, obwohl sie diesen früher
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Ueber hysterische Amnesien.
301
kannte, als der amnesiogene krankhafte psychische Zustand bei
ihr auftrat, der jede Erinnerung an ihre Verlobung ver¬
nichtete. Derartige Amnesien sind leichter zu erklären, wenn
wir die Erinnerungsstörungen normaler Individuen betrachten.
Eben aus diesem Grunde trägt die physiologische Erinnerung,
sowie die Abwesenheit derselben, nämlich die Amnesie den Cha¬
rakter des Systematischen an sich. Eines der ersten und wich¬
tigsten Gesetze der Association ist, dass die gleichzeitig auf¬
getretenen Vorstellungen sich miteinander associiren. Diese
Contemporaneität bezieht sich naturgemäss nicht nur auf die
in einem Momente aufgetretenen Vorstellungen, sondern auch
die inneren Projectionsbilder der im stufenmässigen Nacheinander
der Zeit miteinander verschlungenen Ereignisse und Objecte
associiren sich miteinander, so entstehen gemäss ihrer mehr
minder engen Zusammengehörigkeit mehr minder fest zu¬
sammenhängende associative Systeme. Der Ausfall eines Gliedes
dieser Systemkette kann den Ausfall der ganzen Kette zur
Folge haben. Die physiologische Vergesslichkeit hat gewöhn¬
lich den Typus der retrograd systematischen Amnesien an sich.
Wenn wir einen fertig geschriebenen Brief auf die Post zu
tragen vergessen, erinnern wir uns auch an das Schreiben des¬
selben nicht, ebenso auch nicht an die Angelegenheit, wegen
welcher der Brief geschrieben werden musste. Beobachten wir
nun den psychischen Vorgang, wenn es uns einfällt, den Brief
ms Briefkästchen zu werfen, so nehmen wir wahr, dass uns
gewöhnlich erst die dem Briefschreiben zu Grunde liegende
Angelegenheit, bald die Thatsache des Briefschreibens, endlich,
dass wir den Brief bei uns haben, rasch hintereinander in den
Sinn kommt.
Es wird nun einleuchtend sein, dass auch eine hinsicht¬
lich ihrer Entstehung auf früher zurückgreifende Associa¬
tionsgruppe in solchem Masse abgestimmt sein kann, dass der
Verlust eines Theiles den Verlust des Ganzen involvirt. Diese
Auffassung ist um so eher annehmbar, als wir sehen können,
dass den Gegenstand systematischer Amnesien in erster Reihe
solche Ereignisse bilden, welche für den Kranken von Wichtig¬
keit sind, und so ist anzunehmen, dass der Kranke sich mit
diesen viel beschäftigte und die einzelnen Associationselemente
sehr gut zusammen einübte. Dies bemerken wir z. B. bei
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302
Dr. L. Hajös.
Helene K. bezüglich des Ursprunges ihrer systematischen Amne¬
sie, bei Fanny L. bezüglich ihrer Verlobung: beide sind für
die betreffenden Individuen Geschehnisse von eminenter
Wichtigkeit.
Die Geneigtheit der zusammengehörenden Vorstellungs¬
gruppen zu gemeinsamer Function und zu gemeinsamem Ver¬
klingen kann auch als die Einwirkungder Suggestibilität auf die
Erinnerung bezeichnet werden. Die Suggestibilität besteht eben
in dem voraus bestimmten Verlaufe gewisser Associationen,
welche nur durch Abstimmung entstehen kann. Aber die Sug¬
gestibilität übt oft einen viel sichtbareren Einfluss auf die Gestal¬
tung der Amnesien als in den früheren Beispielen; in diesem Falle
können wir von Amnesien, deren Ursprung auf einer Wahn¬
idee basirt, sprechen. Frau Ladislaus T. schmückt das Grab
ihres ersten Mannes und fallt nach einem hysterischen Krampf
in eine längere Verwirrtheit. In diesem Zustande hallucinirte
sie oft mit ihrem verstorbenen Gatten, und dies führte sie auf
die irrige Idee, dass ihr erster Mann noch am Leben sei. Ohne
dass sich ihre Amnesien auch auf andere Ergebnisse erstreckt
hätten, konnte sie sich von diesem Zeitpunkte angefangen an
nichts erinnern, was auf ihre zweite Verheiratung Bezug hatte.
Sie erzählt alle Details ihrer Reise nach Budapest, beschreibt
sämmtliche Reisegefährten, mit Ausnahme ihres Mannes, der auf
der ganzen Reise ihr gegenüber gesessen war. Hinter dieser
Amnesie steckte jene, mit der Kraft einer fixen Idee versehene
Autosuggestion, dass ihr erster Gatte noch am Leben sei, weshalb
sie nicht die Frau eines Anderen sein könne.
Spielt auch bei retrograden Amnesien die Suggestion eine
solche offene oder versteckte Rolle, wir müssen behaupten, dass
einzelne abgestimmte Associationen im grossen Associations¬
mechanismus sich sequestriren und ohne Rücksicht auf den un¬
gleichzeitigen Ursprung ihrer Bestandtheile sich als elementare
Association verhalten können. Es wird verständlich sein,
dass ein solcher Associationssequester, besonders wenn er im
affectiven Leben des Individuums eine grosse Rolle spielt, nur
durch zum Hervorbringen von Affecten geeignete äussere Reize
in die Association einbezogen werden kann, während indiffe¬
rente Reize des hysterisch normalen Seelenzustandes mit dem¬
selben nicht in Continuität treten.
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Ueber hysterische Amnesien.
303
Eine einfachere Form der systematischen Amnesien erhalten
wir, wenn diese bloss den Hof irgend welcher localisirter Am¬
nesie bilden. So zeigt z. B. Helene K. localisirte Amnesien be¬
züglich ihres mehrmaligen Aufenthaltes in der Heilanstalt, aber
diese Amnesien erstrecken sich in systematischer Form gleich¬
zeitig auch auf ihre Erkrankungen, welche ihre Internirung
nothwendig machten, ebenso auf die Entlassungen, wenn ihr
Zustand sich besserte. Dasselbe Yerhältniss sehen wir öfters
bei Hysterien traumatischen Ursprunges, wenn die Amnesie sich
auch auf die Vorbegebenheiten der Katastrophe erstreckt, z. B.
auf die ganze Reise vor einem Zusammenstosse. Diese mit den
localisirten Amnesien sich verbindenden supplementär-systemati¬
schen Amnesien verrathen am sichtbarsten ihren suggestiven
Ursprung; es scheint ihnen die Rolle zuzukommen, dass die
localisirte Amnesie von ihrem Besitzer unbemerkt bleibe.
Diese supplementär systematischen Amnesien bilden den
Uebergang zu den retrograden Amnesien, wo sämmtliche Er¬
innerungsbilder eines vergangenen Zeitabschnittes verloren
gehen. Die einfachste Form der retrograden Amnesien ist jene,
wo der Beginn der localisirten Amnesie verwischt wird. Solche
Amnesien sind nur dem Scheine nach rückbezüglich. Zumeist
erscheint die Amnesie aus dem Grunde als eine retrograde, da der
amnesiogene Zustand, welcher die Entstehung derselben ermög¬
lichte, sich langsam ausbildete, und weil deren Anfang auf viel
früher zurückgreift, als wir uns vorstellen würden. Bernheim 1 )
hat nachgewiesen, dass seine im künstlichen Somnambulismus
sich befindlichen Patienten auch für einen grösseren oder kleineren
Zeitabschnitt vor dem Einschläfern Amnesie zeigen. Dessen
macht er aber keine Erwähnung, ob er seine Experimente nicht
an Kranken anstellte, welche auch sonst oft in künstlicher oder
spontaner Hypnose waren, denn es ist fraglich, in was für einem
psychischen Zustande die zum Experiment gebrauchten Individuen
vor dem Einschläfern waren. Ich selbst habe auch oft die Be¬
obachtung gemacht, dass z. B. Julie Z., als sie ahnte, dass sie
hypnotisirt werde, bereits vor dem Einschläfern sämmtliche
Symptome der Hypnose zeigte. Bertha R. wurde an der Klinik als
*) Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psycho¬
therapie. Hebers, v. Freud. 1892.
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304
Dr. L. Hajos.
ambulante Kranke hypnotisch behandelt: Wenn diese Kranke auf
die Klinik ging, fühlte sie schon beim Austritte aus dem Haus-
thore starke Schläfrigkeit, und wenn ich sie nach der Behand¬
lung dehypnotisirte, konnte sie sich weder an ihren Weg auf
die Klinik, noch daran erinnern, dass sie oft eine Stunde im
Wartezimmer warten musste.
Das successive Eintreten des hypnoxden Zustandes kann
oft retrograde systematische Amnesien resultiren. Die geistigen
Functionen erscheinen noch im Allgemeinen normal, aber mit
starken Affecten verbundene Geschehnisse können schon jetzt
solche, bloss auf das „affective Ich” beschränkte Associationen
hervorbringen, welche später bei vollkommener Ausbildung des
hypno'iden Zustandes zur Norm gehören.- So können sich schon
Associationen, welche durch einzelne Geschehnisse aus der Zeit
vor Eintritt der vollkommenen Amnesie hervorgerufen wurden,
späteren Amnesien anschliessen: einer Zeit daher, für deren
gleichgiltigere Geschehnisse die Erinnerung noch vollkommen
besteht. Auf solche Weise können systematische Amnesien auf-
treten, deren Quelle einerseits das successive eintretende Hyp-
noid, andererseits die mit diesem Zustande zusammen in den
Vordergrund tretende Suggestibilität sind. Fanny L. erzählt, nach¬
dem ihre localisirte Amnesie vorüber war, dass selbst der Streit
mit ihrem Bräutigam schon Ausfluss ihres krankhaften Zustandes
war; sie hatte gerade die Menstruation, heftige Kopfschmerzen;
da kamen ihr eigenthümliche Gedanken in den Sinn, sie wolle
Künstlerin werden, es wäre besser zu sterben. Mit Wahrschein¬
lichkeit kann behauptet werden, dass schon damals eine Ver¬
engung des Bewusstseins bei ihr auftrat, welche dann die Am¬
nesie zur Folge hatte.
Wir sehen also, dass die eine Quelle der retrograden Am¬
nesie die successive eintretende Verengung des Bewusstseins
ist, wo dann der Ausgangspunkt der Amnesien verwischt wird;
eine zweite Quelle besteht darin, dass die Erinnerungsfälschung,
welche die Lücken der Erinnerung ausfüllt, auf suggestivem Wege
sich auch auf die Vergangenheit erstreckt. Jene Beobachtungen,
wo das hysterische Individuum ganze erfundene Romane in seine
Lebensgeschichte einsetzt, sind immer besonders zu beurtheilen,
ob, abgesehen davon, dass diese selbstbewusst erdichtet werden:
die Erinnerungsfälschung, welche die Vernachlässigung ihr wider-
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Ueber hysterische Amnesien.
305
sprechender Erinnerungsbilder auf suggestivem Wege verursacht,
oder die Amnesie, deren Lücken mit den Lügengeweben von
Romanen ausgefüllt werden, die primäre ist? Helene K. bezeich-
nete in ihrem componirten Zustande ihre eigene Mutter immer
als Stiefmutter, ihre Geschwister nicht als wirkliche und zeigt
vollkommene Amnesie bezüglich aller Geschehnisse, welche dieser
ganzen Erdichtung widersprechen. Alle diese Amnesien wurzeln
in jener primären Erinnerungsfälschung, laut welcher sie nach
Scheidung ihrer Eltern sich zwei Jahre im Hause ihres Vaters
aufhielt, wo sie eine Frau kennen lernte, welche sie als eigene
Mutter betrachtete und von deren Tod sie Kenntniss zu haben
glaubt. In der Hypnose corrigirt sie ihre Erinnerungsfälschung
und sie erinnert sich an Dinge, welche zweifellos beweisen,
dass ihre Mutter die eigene Mutter sei, im wachen Zustande
aber behauptet sie, man bezeichne ihr die Stiefmutter bloss aus
Schonung als ihre eigene und sie könne sich an nichts erinnern,
was die Echtheit ihrer Mutter beweisen würde.
Das Verhalten der Amnesien während des normalen
Geisteszustandes der Hysterischen.
Wir haben gesehen, dass die scheinbar verlorenen Er¬
innerungsbilder die Fähigkeit besitzen, auch weiter auf die
Associationen einzuwirken. Die Erklärung dieses Umstandes ist
darin zu suchen, dass die den Inhalt der Amnesien bildenden
Erinnerungsbilder ausserhalb, des vollen Lichtes des Bewusst¬
seins gerathen sind, aber irgend welcher loser Zusammen¬
hang, welchen einzelne Associationen benützen können, dennoch
aufrecht erhalten bleiben kann. Nachdem aber eine isolirte Asso¬
ciation nicht die Fähigkeit besitzt, das gespaltene Bewusstsein
in organischen Zusammenhang zu bringen, wenn auch hie und
da eine im Dunklen gebliebene Association später auftaucht,
kann diese der ganzen Amnesie kein Ende machen. Einen solchen
associativen Zusammenhang benützte Fanny L.’s Association,
als sie ihren Ring suchte; nachdem aber jeder weitere Zu¬
sammenhang fehlte, wusste sie auch nicht, was für einen
Ring.
Eine zweite Quelle der activen Einwirkung von verloren
erscheinenden Erinnerungsbildern ist in den Associations¬
wegen der zwei Bewusstseinszustände zu suchen. Die
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306
Dr. L. Hajos.
Vorstellungsgruppe des „affectiven Ich” bildet im normalen Be¬
wusstseinszustande auch einen Bestandteil des breiten persön¬
lichen Bewusstseins, wenn dieses auch in den Hintergrund
gedrängt wird. Einzelne Reize aber — besonders zur Weckung
von Stimmungen geeignete — können auch im normalen Zu¬
stande auf demselben Wege elementare Associationen hervor-
rufen; so wird die Continuität irgend welchem Ergebnisse des
vergangenen Amnesiogens gegenüber auf einen Moment her¬
gestellt, und nachdem ein Bestandtheil der Amnesie verschwunden
ist, übt dasselbe seine Wirkung auf die Associationen aus. Wenn
eine solche momentane Wirkung sich auf eine längere Zeit¬
periode erstreckt, so kann auch die Amnesie aufhören.
Das Aufhören der Amnesien.
Im Vorhergehenden haben wir schon gesehen, dass, wenn
ein Reiz sich auf dieselben Associationswege verirrt wie im
amnesiogenen Zustande, die Amnesie auch verschwinden kann-
Zumeist hört die Amnesie während derselben psychischen Zu¬
stände auf, als sie entstand, d. h. während der amnesiogenen
Zustände. Der Grund davon ist, dass in diesem Falle die Reize
der Aussenwelt ähnliche primär elementare Associationen hervor-
rufen wie im früheren amnesiogenen Zustande; die Continuität
der Reize ist eine vollkommene, die Reize sind zum Hervor¬
bringen derselben Associationen ebenso das erstemal wie das
zweitemal geeignet. Der Unterschied besteht nur darin, dass,
während auf die erste Einwirkung des Reizes eine gegebene
Association in Bewegung gesetzt wird, bei der zweiten durch
denselben Reiz dieselbe Association wiederholt wird, was
wir derart zum Ausdrucke bringen, dass eine Association der
Vergangenheit im Gedächtnisse aufgetaucht sei.
Die Morphologie der Amnesien.
Die localisirten und systematischen Amnesien in Einklang
zu bringen, haben wir schon mit unserer früheren Theorie ver¬
sucht. An dieser Stelle wollen wir nur auf allgemeine Amnesien
eingehen. Das Auftreten derselben hängt nicht von dem psychi¬
schen Zustande ab, in welchem die Erinnerungsbilder entstanden
— dies ist bloss eine Störung der Reproduction der Erinnerungs¬
bilder. Die Beobachtung der Anna E., welche auf ihre Kinder-
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Ueber hysterische Amnesien.
307
zeit spontan sich nicht erinnern konnte, während an sie ge¬
richtete Fragen ihre Erinnerungsbilder immer hervorzurufen
vermochten, scheint den Beweis zu liefern, dass in solchen
Fällen manchmal die Trägheit zu denken und sich zu erinnern,
als functioneller Stupor die Basis der Amnesie bilden kann.
Diese könnte man als abulische Amnesien bezeichnen. Janet’s
Behauptung, dass Amnesien, welche auf Anomalien von Erinne-
rungsreproductionen basiren, gewöhnlich allgemeine sind, scheint
auch für meine Auffassung zu zeugen. Nachdem wir aber auch
localisirte Abulien zu sehen Gelegenheit haben — eben jetzt
befindet sich auf unserer Klinik eine locale Sprachabulie unter Beob¬
achtung — ist es leicht verständlich, dass die Erinnerungsabulie
sich nicht unbedingt auf sämmtliche Erinnerungsbilder erstrecken
muss. Jene seltenen, allgemeinen Fälle, welche von Charcot 1 )
und Weir Mitchell 2 ) mitgetheilt werden, verrathen in jeder
Beziehung ihre hysterische Natur und erscheinen als eine auf
die ganze Lebensdauer zurückgreifende retrograde Amnesie. Dass
dies laut unserer Theorie nur mit suggestivem Mechanismus
denkbar ist, versteht sich von selbst.
Schlüsse.
Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Amnesien
die äusseren Symptome desselben krankhaften Seelenzustandes
sind, aus welchen die Hysterie im Ganzen besteht. Bei Unter¬
suchung von Amnesien ist nicht deren Bestand, sondern das
Entstehen und Aufhören derselben von Wichtigkeit; nachdem
aber diese auf einzelne vergängliche Ebbezustände der ohnehin
schon krankhaft beschränkten associativen Function fallen,
respective deren Resultate sind, müssen die Amnesien zu den
episodischen Symptomen der Hysterie gezählt werden. Die be¬
stehende Amnesie ist also bloss eine vorhandene Spur einer
amnesiogenen Periode. Die Zustände, welche wir in unseren
Ausführungen als amnesiogene bezeichneten, sind von der Regel
bedingt, dass das enge Bewusstsein die Bedingungen zu hoch¬
gradiger weiterer Verengung in sich birgt. Als Grundmotiv
finden wir die verminderte Associationsfähigkeit (enges Bewusst-
1 ) Charcot, Ueber einen Fall von retroanterograder Amnesie, wahrschein-»
lieh hysterischen Ursprunges. Revue de medec. 1892.
2 ) Weir Mitchell, Mary Reynolds, a case of double consciousnesS,
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308
Dr. L. Hajos.
sein), welche die Quelle sämmtlicher hysterischer Stigmen ist,
weshalb sie auch Stigma der Stigmen genannt zu werden
verdient.
Zur Erklärung der verminderten Associationsfähigkeit
nehmen wir an, dass die Degeneration des Centralnervensystems.
welche den organischen Grund der Hysterie bildet, sich in der
geringeren Arbeitsfähigkeit des Gehirns offenbart. Die associative
Arbeitsfähigkeit des Gehirns haben wir associative Energie
genannt.
Nachdem sämmtliche Stigmen einer gemeinsamen Quelle
entspringen, hat jedes den Stempel seines Ursprunges an sich,
darum finden wir keine rein krystallisirten Stigmen, sie sind
immer gemischt Nach den Triebfedern der Amnesien forschend,
begegnen wir auf Schritt und Tritt folgenden noch nicht ganz ge¬
klärten Ausdrücken: „Spaltung des Bewusstseins”, „Suggesti-
bilität”, „unbewusste und bewusste Lüge”; bei der Analyse
hysterischer Symptome dürfen wir diesen Begriffen nicht abge¬
neigt sein, eben diese verrathen den psychischen Kern der
Hysterie, die Erkrankung der Persönlichkeit. Der Rolle
wegen, welche ihnen bei sämmtlichen hysterischen Stigmen
zukommt, sind sie alle veränderlicher und widerspruchsvoller
Natur.
In der Function des hysterischen Nervensystems finden
wir kein Element, welches bei der Function des normalen
Gehirns nicht zu finden wäre; organische Unterbrechungen
der Leitung kommen nicht vor, nur die Associationen vollziehen
sich mit verminderter Kraft und mit anderer Eintheilung.
Ich schliesse meine Studie mit einem Gleichniss. Stellen
wir uns eine grosse Maschinenhalle eines Industrieetablisse¬
ments vor, in welcher die verschiedensten Maschinen durch eine
centrale Dampfmaschine und mittelst vieler Transmissionen in
Bewegung erhalten werden. Das Zusammenwirken sämmtlicher
Maschinen ermöglicht die Herstellung eines Gewerbeartikels;
jeder einzelnen Maschine kommt eine specielle Phase der Her¬
stellung zu.
Ohne dass auch nur eine Maschine verdorben wäre, ist
jetzt die Spannkraft des Dampfvorrathes im centralen Kessel
gesunken. Auf einmal muss die Arbeitsordnung geändert werden;
viele der Transmissionen werden abgespannt, es arbeiten nur
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Ueber hysterische Amnesien.
309
einige Maschinen mehr. Die Herstellung des Artikels aber
geschieht weiter, nur mit dem Unterschiede, dass derselbe nicht
mehr polirt, gereinigt und verpackt wird; die Maschinen, welche
dies besorgten, wurden ausgeschaltet.
Der psychische Apparat functionirt bei hysterischen Indi¬
viduen nur mit geringerer Arbeitskraft, trotzdem sind die ein¬
zelnen Functionen ganz fehlerfrei.
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(Aus dem Laboratorium der Landes-Irrenanstalt Feldhof bei Graz.)
Befund von Oompression und Tuberkel im Rückenmark.
Eine casuistische Mittheilung von
Dr. J. v. Scarpatetti,
ordinirender Arzt in Feldhof.
Die Marchi’sche Methode der Untersuchung des Central¬
nervensystems fördert gegenwärtig zahlreiche neue Befunde be¬
sonders über auf- und absteigende Degeneration im Rückenmark
zu Tage. Ja, es steht zu erwarten, dass manche der jetzt noch
feststehenden Ansichten über Verlauf und Degeneration bestimmter
Bahnen auf Grund der Untersuchungen mit diesem feinen Reagens
noch bedeutende Aenderungen erfahren werden.
Mit dem Fortschreiten der feineren Untersuchungsmethoden
werden die unzähligen Verbindungen eines zerstörten Bezirkes
immer mehr als Gesammtschädigung des Centralnervensystems,
erkannt. Störungen der grauen Substanz ohne gleichzeitige Be¬
theiligung der weissen gibt es nicht und umgekehrt. Erkran¬
kungen des Gehirns rufen degenerative Veränderungen im
Rückenmarke hervor, und die aufsteigende Degeneration aus
dem Rückenmarke lässt sich ins Gehirn und Kleinhirn hinein
verfolgen.
Wir ziehen den einzelnen Bahnen im Rückenmarke
immer deutlichere Grenzen, und finden gleichzeitig, dass die
Areale der absteigend entartenden Bahnen aufsteigend degene-
rirende in sich führen und umgekehrt. Andererseits gibt es im
Centralnervensysteme Nervenfasern, welche mit mehreren Zell¬
gebieten präformirte Verbindungen haben. Un<f hierdurch dürften
dieselben bildlich gesprochen auch durch verschiedene Umschal¬
tungen mit den peripheren Organen in variable Verbindung
gesetzt werden können.
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Aus dem Laboratorium der Landes-Jrrenanstalt Feldhof.
311
Zum Studium der Rückenmarksleitungsbahnen durch Ver¬
folgung der Degeneration schien mir folgender Fall geeignet. 1 )
Krankengeschichte.
J. M., öOjähriger Finanzbeamter, stammt von gesunden
Eltern, lernte in der Schule gut, spricht deutsch und slovenisch.
Im Jahre 1866 zum Militär abgestellt, diente er in verschie¬
denen Provinzen beim Militär, der Polizei, der Gendarmerie
und Finanz als Beamter. In dieser letzten Dienstesverwendung
begann man „ihm aufsässig zu werden und ihn dienstlich zu
verfolgen”. Hierüber gibt ein Stoss Beschwerde-, Rechtferti-
gungs- und Bittschriften, die in der Krankengeschichte nieder¬
gelegt sind, und welche sämmtlich mit der vielen Paranoikern
eigenthümlichen exacten Schreibweise verfasst sind, hier weiter
nicht interessirenden Aufschluss.
Der Kranke wurde am 14. November 1893 in Feldhof auf¬
genommen.
Die psychische Erkrankung bestand in einem breit ausge¬
arbeiteten Wahnsystem von Verfolgungen, Vergiftungsversuchen,
Attentaten gegen seine Person, hypochondrischen Sensationen und
daraus hervorgehendem Queruliren. Somatisch fand sich bei der
Aufnahme ausser Ungleichheit der Pupillen und träger Reaction
der engeren linken Pupille kein abnormaler Befund.
Am 28. December des folgenden Jahres erkrankte M. an
einer rechtsseitigen Pleuritis. Diese führte Patient auf Ver¬
kühlung zurück, der er bei der Kohleneinlagerung im nassen,
kalten October 1894 ausgesetzt war. Schon damals habe er
Stechen und „Rheumatismus” in den Beinen verspürt. Im Ver¬
laufe des Sommers wurde der Gang des Patienten immer steif¬
beiniger, langsamer und unbehilflicher, und seit Neujahr 1896
verliess Patient das Krankenzimmer nicht mehr. Die Schmerzen
wurden immer unerträglicher, und die Beine wollten dem Willen
des Besitzers nicht mehr gehorchen: „Es ist, als wie wenn ich
rings um die Hüften und um der Mitte herum im Fleisch pure
Glasplitter drinnen hätte, so dass ich oft vor Schmerzen nicht
athmen kann,” schreibt er in einer Beschwerdeschrift.
') Zwei weitere Fälle von Compressionsmyelitis stehen derzeit in Bear¬
beitung.
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312
Dr. J. t. Scarpatetti.
Am 23. April d. J. hatte ich das erstemal Gelegenheit,
den Kranken za sehen und notirte mir folgenden Befund:
Patient klagt über Schmerzen, Ziehen, Reissen und Taubsein,
besonders in den Beinen, bis hinauf in die Höhe des Brust¬
beines. Das Leiden sei ganz allmählich von unten nach oben
gestiegen. Unter den schon oben beschriebenen Schmerzen sei
die Gebrauchsverminderung der Beine immer hochgradiger ge¬
worden, so dass er seit drei Wochen überhaupt nicht mehr
gehen könne und zu Bette bleiben müsse.
Der Kranke konnte sich nur sehr schwer verständlich
machen. Mitten im Satze konnte er oft ein Wort nicht finden
und schaute dann resignirt fragend auf den examinirenden Arzt;
er fand viele Worte nicht mehr. Die Bezeichnung der Gegen¬
stände geschah mangelhaft und falsch, die einzelnen Buchstaben
eines gedruckten Wortes erkennt er, doch ist er nicht im
Stande, dieselben zu einem Worte zusammenzufassen und das
Wort auszusprechen. Dieser letzte Zustand dauerte seit zwei
Tagen. Er komme sich ganz verändert vor, er könne nicht
mehr sprechen.
Zur Aufnahme einer genaueren Anamnese nahm Patient
sichtlich ermüdet und über sein Unvermögen bestürzt, Papier
und Bleistift zur Hand, um zu antworten. Das Schreiben ging
noch leidlich, doch konnte er seine eigene Schrift nicht laut
lesen; aber er wusste, was er aufgeschrieben hatte.
Aus diesem Examen ging noch hervor, dass der Kranke
ausser Schmerzen noch Kältegefühle, Steifigkeit und Ameisen¬
laufen zu den Zehen hinunter und wieder herauf verspüre. Er
müsse jetzt auf allen Vieren zum Leibstuhl kriechen. Krämpfe
fehlten stets. Seit zwei Wochen besteht Stuhlverstopfung, seit
fünf Tagen Ohrensausen, Ziehen und Reissen auch im Kopf und
den Armen. Lues wird negirt, Gonorrhoe zugegeben.
Körperlicher Befund:
Grosser, schlecht genährter, hektisch aussehender Mann.
Der Schädel von ziemlich normaler Configuration, ist nirgends
percussionsempfindlich. Die rechte Pupille weiter als die linke.
Letztere scheint heute auf Lichteinfall nicht zu reagiren. Sehkraft
mit + 2'0 auf beiden Augen nicht herabgesetzt. Am rechten Ohr
besteht deutliche Herabsetzung des Gehörvermögens. Die Zunge
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ßefuod von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
313
tritt gerade hervor und zittert stark fibrillär. Die Schluck¬
bewegungen sind frei. Facialis und Trigeminus sind nicht
gestört. Pleuritis adhaesiva dextra.
Die Extremitäten sind nach Angabe des Patienten sämmtlich
mägerer geworden. Die oberen bieten eine geringe Ataxie. Ihre
grobe Kraft scheint nicht wesentlich herabgesetzt und beider¬
seits gleich. Die Sensibilität der Arme nicht gestört. Die Wirbel¬
säule wird im ganzen unteren Antheile besonders im mittleren
Brusttheile auf Druck als schmerzhaft bezeichnet. Deformation
der Wirbelsäule kann nicht gefunden werden. Die Austritts¬
punkte der Ischiadici sind druckempfindlich, doch leitet sich der
Schmerz nicht bis zur Peripherie fort. Am Abdomen bestehen
subjectiv Gefühle von Geschwollensein. Die Lymphdrüsen in
inguine sind etwas geschwellt. Die unteren Extremitäten sind
deutlich abgemagert, doch beiderseits von gleichem Umfange.
Das linke Bein kann nur etwa 1 Decimeter gehoben werden,
das rechte gar nicht. Im umgekehrten Verhältnisse zur Ge¬
brauchsfähigkeit standen die Kniesehnenreflexe. Links fehlte
dieser Reflex vollständig. Dagegen trat jedesmal beim Beklopfen
der linken Patellarsehne eine deutliche Contraction im rechten
Sartorius und den Beugern auf, zweifelsohne durch Ueber-
springen des Reflexes aufs rechte Bein erklärbar. Wurde da¬
gegen der rechte Kniesehnenreflex geprüft, so erwies er sich
als annähernd normal, aber sicher nicht gesteigert. Auch schien
keine Verlangsamung in der Auslösung des Reflexes zu be¬
stehen. Die Patellarreflexe waren unbeständig, bald stärker, bald
schwächer auslösbar. Fussclonus bestand nicht.
Die Sensibilitätsstörung konnte rechts deutlicher als
links bezeichnet werden. Doch wurden auch hier einige ganz
richtige Angaben gemacht. Die Temperatur der Beine erschien
beiderseits gleich, etwas niedrig. Die Muskulatur zeigte etwas
erhöhten Tonus; beim Beklopfen entstand ein deutlicher Muskel¬
bauch. Fibrilläre Zuckungen waren nicht sichtbar.
Wenn ein Bein im unteren Antheile des Oberschenkels
in die Höhe gehoben und dort unterstützt wurde, war
Patient im Stande, den Unterschenkel für kurze Zeit auszu¬
strecken.
Während des Examens trat Singultus auf, der eine Stunde
andauerte. Erbrechen wurde nie beobachtet. Patient, der seit
Jahrbüclitr f. Pnychiatric und Neurologie. XV. Bd. Ol
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314
Dr. J. v. Scsrpatetti.
drei Wochen an leichterer Harnverhaltung litt, wurde seit
vier Tagen katheterisirt.
M. delirirte dann durch mehrere Tage, bald sprach er voll¬
ständig unzusammenhängend, bald konnte er gar kein Wort
hervorbringen und deutete nur.
In der Nacht vom 26. auf 27. April 1896 wurde der Kranke
von der Nachtwache angetroffen, wie er in vollständig ver¬
wirrtem Zustande am Waschtisch ein Lavoir zu Boden warf.
Wie er die Strecke bis zum Waschtisch zurücklegte, konnte
nicht in Erfahrung gebracht werden. Thatsächlich konnte Patient
mit Unterstützung des Wärters in ganz kleinen Schritten in
unerwarteter Weise ins Bett zurückgeführt werden.
In den letzten drei Tagen lag M. grösstentheils in Agonie.
Nur für Momente schien er etwas klarer und machte Versuche
zu sprechen, wobei er aber nur unartikulirte Laute hervor¬
brachte.
Am 3. Mai 1896 trat Exitus letalis ein.
Obduction am 5. Mai 1896 (29 Stunden nach dem Tode).
(Herr Ordinarius Dr. Raab.)
Aus dem Obductionsprotokolle sei im Besonderen hervor¬
gehoben: Das Schädeldach dünnwandig, leicht, regelmässig
gebaut, 173:144 Millimeter. Die Dura gespannt, sonst normal.
Die Meningen im Allgemeinen zart, blutreich, leicht abziehbar.
In der Sylvi'sehen Furche, über den Inselwindungen und den
angrenzenden Partien des linken Gehirns erscheint die Meninx
verdickt, getrübt und von zahlreichen Knötchen durchsetzt. Die
Gehirnrinde röthlich grau, glatt, weich, die Windungen regelmässig
angeordnet, breit; die Marksubstanz weich, von zahlreichen
confluirenden Blutpunkten durchsetzt. Die Ventrikel weit, mit
einer trüben Flüssigkeit gefüllt. Das Ependym verdickt und
granulirt. In den grossen Ganglien und dem Kleinhirn nichts
Besonderes. Bei Eröffnung des Wirbelcanales findet sich im
Körper des achten Brustwirbels eine von rauhen Rändern um¬
gebene Oeffnung, aus der dicker gelber Eiter quillt. Entsprechend
dieser Oeffnung im Wirbelkörper findet sich hinter der Dura
mater des Rückenmarkes ein Eiterherd, der das Rückenmark
von aussen und von vorn nach hinten umspült. Durch diesen
Eiterherd, der nur wenige Gramm betragen haben mochte, zog
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
315
ein wenige Millimeter dicker Strang paraduralen Fettes, der bei
der mikroskopischen Untersuchung als mit bindegewebigen
Strängen reichlich durchsetzt angetroffen wurde. Von den
übrigen Sectionsbefunden sei hier nur mehr die beiderseitige
Pleuritis mit Schwartenbildung und Lungentuberculose er¬
wähnt.
Die Section hat demnach ausser der tuberculösen Menin¬
gitis der linken Fossa Sylvii einen tuberculösen Process im
achten Brustwirbel ergeben, der wohl wahrscheinlich zugleich mit
der tuberculösen Pleuritis entstanden ist, weil der Kranke seit
damals sich im Rücken krank fühlte. Der Zeitpunkt, wann der
Erguss in die Rückenmarkshöhle auftrat, konnte mit Genauig¬
keit nicht festgestellt werden, da die Schmerzen und die übrigen
subjectiven Symptome ganz allmählich begonnen hatten. Die
motorische Aphasie wurde durch den Befund der mit starker
Verdickung einhergehenden tuberculösen Meningitis an der linken
Fossa Sylvii hinreichend erklärt. Für die Paranoia und die be
stehende Pupillenungleichheit hat die Obduction keinen Auf¬
schluss ergeben.
Mikroskopische Bearbeitung.
Das Rückenmark wurde in Müller'sehe Flüssigkeit gelegt
und nach 16 Tagen mit der Untersuchung desselben nach Marchi
begonnen. Die nähere Betrachtung desselben lehrte, dass die
Dura an der äusseren Fläche, welche der Eiterung aus dem
Knochen entsprach, leichte entzündliche Veränderungen zeigte.
Besonders an dieser Stelle war ein feines bindegewebiges Netz
ausgespannt, in welchem der fettige Strang eingebettet und
vielfach verwickelt war. Die zarten Rückenmarkshäute erwiesen
sich nur wenig verdickt und von relativ grosskalibrigen Ge¬
wissen durchzogen, welche hie und da geschlängelt aussahen.
Die Lymphscheiden schienen etwas erweitert.
Das Rückenmark selbst erschien äusserlich von normaler
Configuration ohne Einschnürung oder Erweichung und von
durchwegs gleicher Consistenz.
Wir begannen die mikroskopische Untersuchung von oben
nach unten. Der oberste Schnitt betraf die Höhe des zweiten
Cervicalnervens. Hier fand sich die in Tafel Nr. V abgebildete
aufsteigende Degeneration, welche nun nach abwärts verfolgt
21 *
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316
Dr. J. v. Scarpatetti.
wurde. Es waren degenerirt die beiden Goll’sfchen Stränge und
die beiden Kleinliirnseitenstrangbahnen.
Im Areal der Go wer s'sehen Bahn waren wenige schwarze
Punkte erkennbar, welche ohne Demarcationslinie sich an die
Entartung in den Eieinhirnseitenstrangsbahnen anschloss. Gegen
das untere Ende des Brustmarkes begannen auch im Areal der
kurzen Bahnen, welche der grauen Substanz grösstentheils an¬
gelagert sind, schwarze Punkte aufzutreten,undauf Schnitten, welche
der Höhe des siebenten und achten Brustnerven entsprechen, wurde
in den kurzen Bahnen ein ziemlich scharf gegen die Umgebung
abgrenzbares schwarzes Feld sichtbar, welches auf Tafel V,
Nr. 5, ungefähr wiedergegeben ist. Dieses Feld grenzt nach
rückwärts an das Areal des betreffenden Pyramidenseitenstranges
nach aussen an die Kleinhirnseitenstrangsbahn und geht in diese
über, nach vorne an ein Areal, das noch kürzeren Bahnen an¬
gehört, welche in dieser Höhe bereits wieder ausgetreten sind.
Allmählich tritt am ganzen Querschnitt mit Marchi-Färbung
nachweisbarer Zerfall auf. Dazu gesellen sich Fasern, deren
Markscheiden zum Theile sehr stark gequollen sind und alle
möglichen Formen am Querschnitt annehmen, während der
Axencylinder oft nicht kennbar verändert erscheint.
Die graue Substanz hebt sich weiter herunter nicht mehr
so scharf von der Umgebung ab, wohl wegen der zahlreichen,
feinsten schwarzen Pünktchen, die sich in ihr eingelagert haben.
Doch lassen sich die Contouren noch immerhin deutlich erkennen.
Die zahlreichen, durch diese Stelle geführten Längsschnitte, um
den Faserverlauf in der grauen Substanz zu studiren, haben
mir keinen eindeutigen Befund ergeben.
In der Gegend des achten bis zehnten Brustnerven
erscheinen die meisten schwarzen Schollen am Querschnitte.
Präparate aus dieser Höhe zeigen mit Marchi-Färbung besonders
in den Hinter- und Pyramidenseitensträngen unregelmässig ge¬
stellte, von oben nach unten rasch sich verändernde, inselförmig
angehäufte Zerfallsproducte, und oft wie ein Keil gegen die
graue Substanz vorspringende, schwarz punktirte Felder. Die
graue Substanz zwar weniger scharf als weiter oben gezeichnet,
ist noch immer nach allen Seiten hin deutlich abgrenzbar und
von fast normaler Configuration. Nur das Areal der Clarke-*
sehen Säulen erscheint merklich vergrössert und mit stärkeren
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
317
schwarzen Pünktchen durchsetzt. Die Zahl der Ganglienzellen
scheint an manchen Stellen sehr reducirt, so dass an manchen
Schnitten gar keine anzutreffen ist. An anderen nahegelegenen
Schnitten ist ihre Zahl ungefähr normal. Die Ganglienzellen er¬
scheinen mit verschiedenen Färbemethoden, welche nach Chrom¬
härtung möglich sind, grösstentheils atrophisch, zum Theile so
stark, dass nur mehr die charakteristischen Pigmentanhäufungen
Kunde von ihrer früheren Existenz geben.
Der Zellleib ist verkleinert, Kerne sind nur selten und
undeutlich nachweisbar, Fortsätze sind meist nicht auffindbar.
In den Clarke’schen Säulen ist die Masse der schwarzen
Punkte eine abnorm starke; hierdurch hebt sich dieses Zell¬
gebiet noch besonders in der grauen Substanz deutlich ab. Be¬
sonders um diese herum finden sich wie Marksteine herum¬
gelagert, zahlreiche starkwandige Gefässe. Durch die Contour-
vergrösserung der Clarke’schen Säulen, welche wie Wulste in
die Hinterstänge hineinragen, erhalten diese eine fast abge¬
spitzte Configuration. Auf einigen Schnitten reicht der erwei¬
terte von oben nach unten zusammengepresste Centralcanal bis
zu den Clarke’schen Säulen heran. Hierdurch wird das Bild
der Syringomyelie nachgeahmt. Das Epithel der bald längsspalt¬
förmig, bald röhrenförmig, bald querspaltförmig aussehenden
Röhre ist an einzelnen Präparaten sehr schön zu sehen, an an¬
deren nicht. Unter den von Stephan Dimitroff 1 ) in seinem
Aufsatze über Syringomyelie zusammengestellten Fällen findet
sich nur ein einziger Fall, wo die Rückenmarkshöhle bald mit,
bald ohne Epithel ausgekleidet war wie Nr. 17 (II). Die nähere
Betrachtung der Präparate ergab, dass da, wo stärkerer Druck
stattgefunden hatte, kein Epithel anzutreffen war.
Einen weiteren pathologischen Befund, der besonders
deutlich an Längsschnitten hervortrat, boten die erweiterten
Lymphräume besonders um die Gefässe herum. Auch die ein¬
zelnen Nervenfasern schienen oft unter sich selbst gelockert
und auseinander gedrängt.
Die in der Höhe des siebenten und achten Dorsalnerven-
paares eintretenden und austretenden Nerven erwiesen sich
grösstentheils degenerirt. Auf Marchi-Präparaten erschienen
*) Archiv für Psychiatrie, XXVIII. Band, 2- Heft.
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318
Dr. J. v. Scarpatetti.
schwarze Schollen unter ihnen und auf Pal-Schnitten fehlten die
sich blaufärbenden Markscheiden in auffallender Weise.
Weniger stark als in den Nerven liessen Hämatoxylin-
farbungen die mit Marchi so deutlich nachweisbare Entartung
am Querschnitte des Rückenmarkes erkennen. Ja, so geringgradig
war die Entartung des einzelnen Fasersystems am Querschnitte
z. B. mit Pal-Färbung zu erkennen, dass ein ungenauer Beob¬
achter sie hätte übersehen können. Weiter nach unten begann
die Zahl der schwarzen Punkte in den kurzen Bahnbezirken
sich wieder zu vermindern, während die beiderseitige absteigende
Pyramidenbahn sich immer mehr herausdifferenzirte, bis zum
völligen Schwinden der Degenerationsproducte in den übrigen
Theilen.
Nur in den Hintersträngen verschwindet nicht ganz ein
Bild der Entartung, welches der nach oben aufgetretenen fast
gar nicht gleich sieht. Es finden sich auf Schnitten durch den
elften und zwölften Brust- und ersten Lendennerven über beide
Fasergruppen der Goll’schen und Burdach’schen Stränge
zerstreut kleine, etwas voneinander abstehende schwarzp
Punkte, welche sich in keinerlei Weise zu einem System ab¬
grenzen lassen. Die Erklärung dieser ungewöhnlichen Degene¬
ration ergibt sich auf Schnitten durch den zweiten und dritten
Lendennerven. Hier hat sich im linken Vorderhorn ein Tuberkel
breit gemacht, der von oben nach unten etwas in die Länge
gezogen, das linke Vorderhorn in dieser Ausdehnung fast ganz
zerstört, die linke Hälfte des Rückenmarkes und die an der
Peripherie gelegenen Fasern so an die Umgebung und indirect
an die knöcherne Rückenmarkshülle anpresst, dass auf Pal-
Schnitten eine fast weisse Randzone überbleibt. Sofort in die
Augen springt die starke Volumsbeeinträchtigung auch der
rechten Rückenmarkshälfte am Querschnitte. Hier erscheinen die
an der Peripherie gelegenen Fasersysteme in Folge des Druckes
durch den Tumor entartet, die mehr medial gelegenen aber so
gegen die graue Substanz verschoben, dass diese fast unkennt¬
lich wird, und nur durch die im Uebrigen nicht kennbar ver¬
änderten Ganglienzellen angedeutet wird. Der Tuberkel, dessen
Grösse im Querschnitte beiläufig auf der Zeichnung Nr. 8 ange¬
deutet ist, erweist sich im Inneren verkäst, er ist am Rande
von vielen, zum Theile stark infiltrirten Gefässen durchzogen
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
319
and lässt durch die starke Bindegewebseinlagerung nur ein
langsames Wachsen errathen. Die schönste Färbung dieser
Schnitte erhielt ich mit der Färbung von Vassale, die ganz
ausgezeichnete Bilder lieferte, wenn man sie nur wenig modifi-
cirte. 1 )
Interessant gestalten sich die Ganglienzellen in der Gegend
des Tuberkels. Manche Ganglienzellen schienen, trotzdem die
neugebildeten Massen sie schon vollständig eingeschlossen
hatten, noch sehr wenig verändert. Ja an einer ganz in der
Neubildung nahe an verkästen Partien liegenden Vorderhornzelle
konnte noch deutlich ein Fortsatz und das Vorhandensein des
Kernes nachgewiesen werden; an einer anderen der Kern ohne
Fortsätze, ein Beweis, wie widerstandsfähig Ganglienzellen
gegen tumorösen Druck und andere Einflüsse und Schädi¬
gungen sind. Die hintere Commissur, sowie die vordere blieb
noch erhalten, doch griff ein Arm der Neubildung bereits gegen
die linke Seite vor.
Am stärksten haben die Fasersysteme der Hinterstränge
durch den Druck des Tuberkels gelitten. Dieselben sind nicht
nur am Rande, sondern in ihrer ganzen Ausdehnung stark
atrophisch und degenerirt. Dieser Befund ist insofern interessant,
als die am stärksten dem tumorösen Druck ausgesetzten Vorder¬
stränge fast gar keine degenerativen Veränderungen zeigen, ein
neuer Beweis dafür, dass bei Druckzunahme im Wirbelcanale
zuerst die Hinterstränge der Entartung anheimfallen.
*) Nicht allzu lange in Müll er’scher Flüssigkeit gelegene, in Alkohol
nachgehärtete, eventuell noch in 5procentige Formollösung gelegte Stückchen
werden in Celloidin geschnitten und die Schnitte in frisch bereitete lprocentigo
Hämatoxylinlösung für 3 bis 5 Minuten gebracht; hierauf für ebenso lange
in concentrirte neutrale Kupferacetatlösung, dann einen Moment ausgewaschen,
in auf ein Drittel verdünnte Weigert’sche Differenzirungsflüssigkeit gebracht
und nachher noch in fast concentrirte Lithionlösung gelegt. Durch letztere
Procedur werden die wie Weigert-Schnitte aussehenden Tinctionen noch so
verändert, dass die Markscheiden dunkelblau, die Kerne und Blutkörperchen
schwarz, die ^wisehensubstanz grau, röthlieh oder weiss, die Ganglienzellen durch¬
scheinend gelb und die Kerne derselben schwarz erscheinen. Besonders zum
Studium der Gefässvertheilung an der Gehirnrinde empfiehlt sich die Methode,
da der schwarze Gefässinhalt sofort auffällt. Eine andere der Pal’sehen an
Färbung ganz ähnliche Methode, die leicht, rasch und bequem gelingt, ist die
Osmium-Pyrogallusmethode von Heller. Sie gibt scharfe Bilder, ohne Degene¬
rationen irgendwie besonders zu markiren.
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320
Dr. J. v. Scarpatetti.
Die unter dem Tumor geführten Schnitte bestätigen die
schon vorher gemachten Annahmen. Die Veränderungen an den
Nerven der kurzen Bahnen verschwanden nach einigen Segmenten
ziemlich rasch, und die schwarzen Schollen der Pyramiden¬
seitenstrangsbahnen blieben in unveränderter Stärke an ihrer
Stelle. Dagegen erschien von hier ab eine neue Bahn im Quer¬
schnitte der Hinterstränge nach abwärts degenerirt, welche
rechts und links gleich stark, anfänglich am hinteren Rande
der Goll’schen Stränge, dann gegen die Ecke am hinteren
Septum hinzog, dann abwärts sich gegen dasselbe hinauf aus¬
dehnte, und auf den letzten Schnitten durch das Sacralmark
durch wenige grosse schwarze Punkte am hintersten Ende des
Markes leicht kenntlich wurde.
In den degenerirten Partien der kurzen Bahnen fiel die
unverhältnissmässig grössere Zahl schwarzer Schollen der
rechten Seite im Verhältnisse zur linken auf. Dieselben rühren
zweifelsohne von der stärkeren Druckwirkung und Zerstörung
mehrerer Fasern auf der Seite des Tuberkels her, und gibt
dieser Befund einen Beweis für die noch immer angezweifelte
Genauigkeit der Marchi-Färbung.
Kritische Besprechung des Falles.
Die in der Höhe des achten Brustwirbels aufgetretene
Läsion des Rückenmarkes, welche mit Marchi-Färbung einen
den ganzen Querschnitt diffus einnehmenden Degenerationsprocess
darstellt, von dem aus nach oben und unten secundäre Degene¬
rationen abgingen, wurde von pathologisch-anatomischer Seite als
nicht durch die Compressionswirkung des Eiters entstanden
bezeichnet. 1 ) Freier in die Rückenmarkshöhle eintretender Eiter
sei nicht im Stande, eine Compression auszuüben. Für die Com-
pressionsmyelitis fehlten die entzündlichen Veränderungen oder zum
mindesten die Entartung aller Theile des Querschnittes, Zugrunde¬
gehen und Formveränderung der grauen Substanz u. s. w.
Der oben beschriebene Process sei vielmehr als Giftwirkung
oder als Fernwirkung von Seite des Tuberkels zurück¬
zuführen.
') Herr Professor Pommer war so liebenswürdig, die vorliegende Beob¬
achtung mit mir zu discutiren.
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
321
Ich selbst halte den in der Höhe des achten Brustwirbels
aufgetretenen Process als durch den Druck des dicken gelben
Eiters und eventuell der verdickten Häute und die entzündliche
Exudation der gesammten Umgebung auf den Rückenmarks¬
querschnitt hervorgerufen. Ob hierbei eine theilweise Verlegung
und Verschluss der einzelnen Gefässe zu Stande kam, und hierdurch
die degenerativen Veränderungen auftraten, wie dies Hoche
für seinen diesbezüglich ganz ähnlichen ersten Fall annimmt,
vermag ich nicht zu beurtheilen. Ich glaube, dass einerseits
directe geringgradige Druckwirkung, andererseits die hierdurch
hervorgerufene Gefässverlegung die Ursache dieser fast nur mit
Marchi-Färbung nachweisbaren Veränderungen im Nerven¬
systeme ist. Für die directe Druckeinwirkung sprechen die
Markscheidenquellungen, für die Gefässverlegungen die insel¬
förmige Anordnung der einzelnen dichteren Schollen, die oft den
Charakter der Keilform annahmen. Für die Annahme der Druck¬
wirkung spricht weiter der Umstand, dass die Compressionserschei-
nungen mit Marchi-Färbung am ganzen Querschnitt nur an der der
Eiterumspülung correspondirenden Stelle und Ausdehnung nach¬
weisbar waren. Weiterhin der in anderen Fällen bei ganz kurz
dauernder Compression durch Wirbeldislocation gefundene
gleiche Querschnittsbefund (Hoche’s zweiter Fall).
Die beschriebenen Erscheinungen allein auf Giftwirkung
zurückzuführen, halte ich für zu theoretisch, wenngleich Gift¬
wirkungen wohl eine Mitursache für das Auftreten der degene¬
rativen Veränderungen sein dürften. Die Annahme, dass die
Querschnittsläsion als Fernwirkung durch den Tuberkel zu be¬
trachten sei, ist aus dem Grunde unwahrscheinlich, weil die
Querschnittsläsion in keinem sichtbaren Zusammenhänge mit
der Neubildung steht, und im Gegentheile eine absteigende De¬
generation dazwischen geschoben sich findet. Sie steht aus
dem Grunde vielmehr in Zusammenhang mit dem Drucke des
Eiters.
Insoferne der Tuberkel den vollständigen Verschluss des
Centralcanales bewirkt hat und hierdurch nach oben eine
Stauung im Centralcanale, dürfte wohl die Annahme einer in-
directen, von innen her den Druck von aussen begünstigenden
(centroperiphären) Druckes Wirkung nicht von der Hand zu
weisen sein. Dieser durch Stauung von unten her entstandene
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322
Dr. J. v. Searpatetti.
Druck gibt uns zugleich die Aufklärung für den anfänglich
unerklärlich scheinenden Befund am Centralcanale, insoferne
er in der Ausdehnung der Compressionserscheinungen unregel¬
mässig erweitert war.
Demnach scheint für das Auftreten der Druckerscheinungen
im Rückenmark für unseren Fall die Eiterung in den Rücken¬
markscanal verantwortlich zu sein, wobei die Fernwirkung und
Giftwirkung durch den Tuberkel wohl als begünstigende Mo¬
mente mitgewirkt haben werden.
So verhältnissmässig leichte, den ganzen Querschnitt diffus
durchsetzende, mit Hämatoxylinfärbung gar nicht oder kaum
nachweisbare Veränderungen im Rückenmark dürften wahr¬
scheinlich bestehen in Fällen von acut auftretender Lähmung
der Extremitäten, bei rapid auftretenden Compressionen, welche
durch Extensivverbände bald wieder behoben werden können.
Von diesen geringgradigen Störungen schreibt Hirt 1 ) in seinem
Lehrbuch der Nervenkrankheiten wörtlich: „Der anatomische
Process, der hier in Betracht kommt, kann ein kaum
nachweisbarer sein, selbst wenn im Leben die schwersten
Lähmungserscheinungen bestanden haben. Dies findet sich
namentlich bei Drucklähmungen des Rückenmarkes, wie sie
durch Wirbelerkrankungen bedingt werden.”
Bahnen.
Seit der Anwendung des Marchi’schen Reagens zum Studium
der auf- und absteigenden Bahnen hat sich in der Literatur über
Compressionsmyelitis und der Druckatrophien eine eigene Gruppe
der Literatur herausgebildet, welche in Hoche 2 ) und Egger 3 )
genau verzeichnet und besprochen ist, und deshalb hier nur durch
Aufzählung der Autoren näher hervorgehoben werden soll. Die
herabsteigende Degeneration der hinteren Stränge haben
') Ludwig Hirt .Pathologie und Therapie der Nervenkrankheiten, H. Theil.
Urban und Schwarzenberg 1891.
2 ) A. Hoche, Ueber secundäre Degeneration, speeiell des Gowers'schen
Bündels nebst Bemerkungen über das Verhalten der Reflexe bei Compression des
Rückenmarkes. Archiv für Psychiatrie, XXVII. Band, 2. Heft.
Ueber totale Compression des obereu Dorsalmarkes. Archiv für Psychiatrie,
XXVII. Band, 1. Heft.
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
323
Schultze, 1 ) v. Flechsig, 2 ) Eisenlohr, 3 ) Kröger, 4 ) Daxen-
berger, 5 ) Barbacci, 6 ) Gombault und Philippe 7 ) genauer
studirt; die Druckwirkungen der Compression vonRosenbach und
Schtscherbak, 8 ) Kahler und Kraus. Nach ihnen entsteht
die Compression hauptsächlich in der Stauung der Cerebro¬
spinalflüssigkeit. Die hohe Bedeutung dieser Stauung für das
Zustandekommen der Compression muss auch für unseren Fall
noch nachträglich besonders hervorgehoben werden.
Unser Fall eignet sich nicht besonders zum Studium der
Rückenmarksbahnen; doch sei das Ergebniss kurz repetirt.
Nach oben degenerirten:
1. Die Burdach’schen Stränge durch circa drei Seg¬
mente.
2. Die G oll'scheu Stränge ihrer ganzen Ausdehnung nach,
so weit das Rückenmark conservirt wurde, und in der bekannten
Weise.
3. Die Kleinhirnseitenstrangsbahn unverändert bis ans
Ende des Rückenmarkes.
4. Die Gowers’sche Bahn bis in die obersten Antheile des
Halsmarkes. Hier fand sich die Anzahl der zerstreuten schwarzen
Punkte entschieden vermindert. Dieser Befund ist demnach dem
Schaffer’schen 9 ) gleichlautend.
9 Schultze, Beitrag zur Lehre von der secundären Degeneration iin
Rückenmarke des Menschen, nebst Bemerkungen über die Anatomie der Tabes.
Archiv für Psychiatrie, XIV. Band, 14. Aufsatz.
2 ) P. Flechsig, Die Leituugsbahnen im Gehirn und Rückenmark bei
Wilhelm Engelmann, Leipzig 1876.
„ 3 ) C. Eisenlohr, Meningitis spinalis chronica der Cauda equina mit
secundärer Rückenmarksdegeneratiou, wahrscheinlich syph. Ursprunges. Neuro¬
logisches Centralblatt 1888, Nr. 4.
4 ) A. Kröger, Beiträge zur Pathologie des Rückenmarkes, Inaugural-
Dissertation (Klinik Professor Schultze, Dorpat 1888).
5 ) Daxenberger, Compression des Rückenmarkes. Deutsche Zeitschrift
für Nervenheilkunde, XIV. Band, 1893, 136 Seiten.
6 ) Barbacci, Los sperimentale giornale medico; anno quarantacinque
(Memorie originale), 1891.
7 ) Archive de medicine experimentale et d’anatomie pathol. 1894.
8 ) Rosenbach und Schtscherbak, Experimentelle Untersuchungen
über die sogenannte Myelitis ex compressione. Congress russischer Aerzte in
St. Petersburg 1889.
9 ) Schaffer, Beitrag zur Histologie der secund. Deg. Zugleich ein
Beitrag zur Rückenmarksanatomie. Arch. f. mikr. Anatomie, XL11I. Baud.
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324
Dr. J. v. Searpatetti.
Die zahlreichen in dieser Höhe geführten Längsschnitte
Hessen jedoch kein Abbiegen der degenerirten Nervenfasern
gegen die graue Substanz hin erkennen, wie dies Ho che ver-
muthete. Deutliche kettenförmige Anordnung der schwarzen
Punkte war nur im Bereiche der hinteren Commissur kenntlich,
welche Degeneration auch einen anderen Zusammenhang haben
kann. Nur einmal konnte eine degenerirte Faser bis ins Seiten¬
horn beobachtet werden; dagegen fand sich Anlagerung der
schwarz punktirten Striche an die graue Substanz des Hinter¬
holmes sehr häufig, ja liess sich sogar bis in dieselbe hinein ver¬
folgen. Demnach scheinen die Gowers’schen Stränge zu den
Kleinhirnseitenstrangsbahnen in ähnlichem Verhältnisse zu.stehen,
wie die Burdach’schen zu den Groll’schen Strängen. 1 )
5. Eine oben näher beschriebene Bahn vor den Pyramiden¬
seitenstrangsbahnen durch circa drei Segmente, welche Ho che
mit „Fasern in den Seitensträngen keinem benannten Systeme
angehörend” bezeichnet. Die Zeichnung D 6 und D 5 entspricht
genau bezüglich dieser Bahn unserer Nr. 5.
Nach abwärts degenerirten vom Tuberkel aus:
1. Die Pyramidenseitenstrangsbahn bis ins unterste Sacral-
mark, rechts etwas stärker als links.
2. Die oben genauer beschriebene Bahn, vom Tuberkel
abwärts bis ans Ende des Rückenmarkes.
3. Kurze Bahnen an der Peripherie des Rückenmarkes
vom Tuberkel aus; auf der Seite des Tuberkels stärker als auf
der anderen; durch wenige Segmente.
Zwischen Compressionsstelle und Tuberkel nach ab- und
aufwärts:
1. Die absteigende Pyramidenbahn.
2. Die Groll’schen und Burdach’schen Stränge durch
auf- und absteigende lange und kurze Bahnen.
3. Kurze Bahnen in den Vorder- und Seitensträngen.
Die Schultze’sche Commabahn lässt sich unter der tuber-
culösen Neubildung herunter nicht mehr auffinden; demnach
erscheint dieser Fall für die Beantwortung der Frage, ob die
*) Die Schnittriohtung dieser Längsschnitte ist in der Zeichnung Nr. 1
(a—b) angegeben.
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
325
Schultze’sche Bahn mit der Hoche’schen Bahn identisch ist
und nur eine Fortsetzung derselben darstellt, nicht tauglich.
Wenn im Vorausgehenden von den Degenerationen der
Bahnen die Rede ist, so ist dieser Ausdruck insoferne nicht
ganz richtig, als eine vollständige Zerstörung der betreffenden
Bahn nach meinen Befunden nicht stattgefunden hat. Es finden
sich nämlich hei genauerem Zusehen zwischen den schwarzen
Punkten auf Querschnitten noch immer recht viele normal er¬
scheinende, wenn auch verhältnissmässig kleine Nervenfaser¬
durchschnitte; und auf Längsschnitten gelingt es, manche Nerven¬
fasern durch mehrere Gesichtsfelder zu verfolgen, ohne in ihnen
auch nur einen schwarzen Punkt aufzufinden, auch an Schnitten,
die gerade durch die stärkste Ansammlung von schwarzen
Punkten am Querschnitte geführt sind. Eine Ausnahme hiervon
machte nur die aufsteigende Degeneration in den Goll’schen
Strängen, die so bedeutend war, dass der ventrale Rand
der Degeneration fast gar keine normale Nervenfaser er¬
kennen liess.
Vielleicht gibt uns dieser Befund eine Erklärung für die
in der Nacht des 26. April im deliranten Zustande unternommene
Wanderung zum Lavoir und Waschkasten. Da diese Wanderung
sicher constatirt ist bei einem Patienten, der activ die Beine
nicht bewegen konnte, und bei dem die Section eine so hoch¬
gradige Degeneration in den Pyramidenbahnen aufdeckte, so
mag dieser Vorfall als ein neues Beispiel für die noch uner¬
klärlichen Zustände des Uebergewichtes der Gehirnleistungen
in Ausnahmszuständen im Verhältnisse zu den gewöhnlichen
Willensleistungen hier angeführt werden. Ein Zustand ausser¬
ordentlicher Reizung der Gehirnoberfläche mag in diesem Falle
im Stande gewesen sein, die wenigen nicht degenerirten Fasern
in den Pyramiden zu solcher Kraftleistung anzuspannen.
Die klinischen Symptome sind mit dem pathologisch ana¬
tomischen Befunde in Einklang zu bringen: Das Bestehen eines
von der Erkrankung im Gehirn direct unabhängigen und schon
mehr als ein Jahr bestehenden Rückenmarksaffection wurde
besonders durch die Schmerzhaftigkeit bei Druck auf die unteren
Wirbel, durch die Paraplegie und durch die für die Höhe der
Läsion passenden anderen Symptome zur Gewissheit. Dagegen
war uns die Verschiedenheit und das Doppelte der Erkrankung
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326
Dr. J. v. Searpatetti.
entgangen. Nach Herter, 1 )'der 25 Fälle von Tuberkelbildung
im Rückenmark zusammenstellte, war das älteste Individuum
43 Jahre alt. Eiu Fall sei symptomlos verlaufen; sonst be¬
standen meist einseitige Schmerzen und Lähmungserscheinungen,
bald darauf Betheiligung der anderen Seite durch Uebergriff
auf dieselbe. Schnell traten Lähmungen mit intercurrenten,
spastischen Erscheinungen und mit Anästhesien und Hyper¬
ästhesien auf, die mehr auf Lähmungs- als Reizungserschei¬
nungen zu beziehen sind. Nach Hayem ist der Sitz der
Tuberkel vorwiegend im Lendenmark. In der Mehrzahl der
Fälle besteht wegen der kurzen Dauer keine Degeneration.
Dieses Gesetz fand Herter nicht begründet, dagegen con-
statirt auch er die solitäre Tuberkelbildung als Regel für das
Auftreten der Tuberculose im Rückenmarke.
Nachträglich müssen wohl die subjectiven Symptome von
Geschwollensein, die Kältegefühle, die Par- und Anästhesien
auf den Tuberkel bezogen werden. Da die Schmerzen und Par-
ästhesien ursprünglich bis zur Lendengegend und erst all¬
mählich bis zur Brustbeinhöhe hinaufsteigen, muss die tuber-
culöse Erkrankung zeitlich vor die compressiven Erscheinungen
gestellt werden.
Interessant gestalteten sich die Reflexe. Dieselben fehlten
in vielen Fällen von Compressionsmyelitis, die in letzterer Zeit
publicirt wurden, oder waren herabgesetzt. In anderen Fällen
waren sie gesteigert bis fast zum Exitus. Unzweifelhaftes Fehlen
haben Bastian 2 ) und Bruns 3 ) in Fällen von Compressions¬
myelitis, die über dem Reflexbogen localisirt war, constatirt,
und Hoche 4 ) vermuthet, dass es sich um die vollständige oder
unvollständige Querschnittsläsion handelt in Fällen, wo der
Patellarreflex fehlt oder nicht. Nach dieser Richtung hin ist die
J ) A contribution to the pathologie of solitary tubercle of the spinal cord.
Journal of nervous and mental disease. XV, 1890. Referat des Neurolog. Central¬
blattes.
2 ) On the symptomato logie of total transverse lesions of spinal cord with
reference to the condition of the various reflexes. Medical Chirurgieal Transactions
1890 (Referat).
3 ) Ueber einen Fall totaler traumatischer Zerstörung des Rückenmarkes an
der Grenze zwischen Hals und Dorsalmark. Archiv f. Psychiatrie XXV, Nr. 29.
4 ) L. c.
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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark.
327
vorliegende Beobachtung nicht brauchbar, da einerseits der
Tuberkel das rechte Vorderhorn einnahm, andererseits eine
solche Compression zu Stande kam, dass der Fall nicht mehr
rein erscheint.
Links, entsprechend der Lage des Tumors, fehlte der Pa¬
tellarreflex, und beim Beklopfen der linken Quadricepssehne
sprang der Reiz auf die rechte Seite über, um hier einen etwas
herabgesetzten Patellarreflex auszulösen. Beim Beklopfen der
rechter Sehne wurde ein etwas herabgesetzter Patellarreflex
ausgelöst. Dieser Befund musste schon intra vitam den Ge¬
danken an eine Leitungsunterbrechung im Bereiche des linken
Kniesehnenreflexbogens nahelegen, mit der Vermuthung auf Er¬
haltensein der Commissuren zur Weiterleitung des Reizes auf
die rechte Seite. Dieses übrigens wiederholt beobachtete Ueber-
springen eines Anreizes auf die andere Seite erinnert nur in
viel einfacherer Weise auf einen Fall tumoröser Substitution
des Vierhügels und des linken Thalamus opticus, der auf der
Klinik Professor An ton’s in Innsbruck zur Beobachtung kam
und von mir veröffentlicht wurde. 1 ) Damals fand sich gesteigerte
reflectorische Erregbarkeit in der rechten Körperhälfte, herab¬
gesetzte in der linken, und Ueberspringen eines Reizes von
links nach rechts. Die willkürlichen Bewegungen waren leidlich
erhalten. Pathologisch-anatomischer Befand: Tumor des linken
Thalamus opticus (die Vierhügel kamen nicht in Betracht) und
der senilen Atrophie ähnliche Entartung der Gehirnrinde, die
aber die willkürlichen Bewegungen wesentlich nicht beein¬
trächtigt hatte.
Der diesmalige objective Befund ergab: Fehlen des Reflexes
und der reflectorischen Erregbarkeit links mit Ueberspringen der
Reize nach der rechten Seite bei theilweiser Unvermögenheit, will¬
kürlich die Beine zu bewegen. Dieser Befund ist demnach
sowohl in klinischer wie in pathologisch-anatomischer Hinsicht
dem damaligen sehr ähnlich und nur viel vereinfachter. Durch
ihn erhält die von Anton 2 ) mitgetheilte Ansicht, dass die
Thalami optici Centren für die Coordination und ein Regulativ
0 Ein Fall von Sarkom der Vierhügel und des linken Thalamus opticus.
Jahrbücher f. Psychiatrie 1895, 1. u. 2. Heft.
2 ) Ueber Betheiligung der grossen basalen Ganglien bei Bewegungs¬
störungen. Wiener Klin. Wochenschrift 1893.
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328
Dr. J. v. Scarpatetti.
für die Bewegungsanreize seien, eine Stütze und die damals
schon ausgesprochene Vermuthung, dass einfachere Verhältnisse
auch in anderen speciell niederen Ganglien, z. B. in den Vorder¬
hörnern der grauen Substanz bestehen, wird durch den vor¬
liegenden Fall geradezu bewiesen.
Als Substrat für die Möglichkeit des Ueberspringens des
Reflexes nach der anderen Seite fand sich, wie oben angedeutet,
auch auf Schnitten durch die grösste Ausdehnung des Tuberkels
das Erhaltensein der Commissuren.
Auffallend und mit dem pathologisch-anatomischen Befund
der Zerstörung eines Vorderhornes nicht im Einklänge stand
der relativ gute Ernährungszustand des linken Beines, das dem
rechten auch an Umfang nicht nachstand. Es ist auffallend,
dass Herter 1 ) bei Aufzählung seiner 25 Fälle hierüber keine
Angabe macht.
Zum Schlüsse sei noch ein negatives Ergebniss mitgetheilt.
Es wurden Nachforschungen auf zahlreichen Längs-, Quer- und
Schiefschnitten nach dem von Ciaglinsky 2 ) beim Hunde und
dem Meerschweinchen nach Rückenmarksabschnürung entartet
gefundenen System markhaltiger Nervenfasern, welche die
Sensibilität zu leiten hätten, angestellt, doch ohne jeden Erfolg.
Es fanden sich speciell um den Rückenmarkscanal herum
nirgends Zeichen der Entartung. Es lässt sich aus einer „vor¬
läufigen Publication” noch kein Schluss ziehen und kein Urtheil
fällen, weil speciell weder Längsschnitte noch starke Vergrösse-
rungen, noch Schnitte aus dem Rückenmark unterhalb der Ab¬
schnürung besprochen sind.
Ich erlaube mir anzuführen, dass bei der durch den
Tuberkel zu Stande gekommenen Abschnürung des Central-
canales Bilder an und um diesen aufgetreten sind, die manche
Aehnlichkeit mit den von Ciaglinsky mitgetheilten haben und
sicher nur mit der Rundzellenanhäufung um den Centralcanal
im Zusammenhänge stehen. Die Marchi’sche Tinction färbt
einzelne wenige, in denselben vorkommende Bestandtheile schwarz
oder braun, und so wird, wo diese Rundzellenanhäufung eine
bestimmte Form annimmt, hinter dem Centralcanale eine ähn-
[ ) L. C.
2 ) Lange sensible Bahnen in der grauen Substanz des Rückenmarkes und
ihre experimentelle Degeneration. Neurol. Centralbl. Nr. 17, 1896.
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Aus dem Laboratorium der Landes-Trrenanstalt Peldhof.
329
liclie Figur entworfen, wie sie Ciaglinsky angibt. Freilich
muss zugegeben werden, dass die Zeit für die Auffindung der
Zerfallsproducte, die Ciaglinsky postulirt, in unserem Falle
längst vorüber war, und daher die Auffindung schon aus diesem
Grunde von vornherein unmöglich war.
Zum Schlüsse sei noch dem Herrn Director Dr. Sterz
für die Ueberlassung des Materiales und für die Gründung
eines pathologisch anatomischen Laboratoriums in Feldhof und
Herrn Professor Anton für die mehrfache Anregung und
Unterstützung dieser Arbeit der innigste Dank ausgesprochen.
Jlihrbttcher f. Psychiatrie und Neurologie- XV. Bd.
22
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Aus dem klinischen Ambulatorium für Nervenkranke des Herrn Hofrathes
v. Krafft-Ebing im k. k. allgemeinen Krankenhause in Wien.
Uel>or asthenische Ophthalmoplegie.
(Ein Beitrag zur Kenntniss der asthenischen Lähmungen.)
Von
Dr. J. P. Karplus,
Assistent an Hofrath v. Krafft-Ebing’s psychiatrischer Klinik.
Den Ausgangspunkt dieses Aufsatzes bildeten unsere Beob¬
achtungen an einer Patientin mit Ophtlialmoplegia exterior
bilateralis, die seit zwei Jahren im klinischen Ambulatorium
für Nervenkranke des Herrn Hofrathes v. Krafft-Ebing in
Behandlung steht. Aus der Krankengeschichte ergibt sich ohne-
weiters, dass sich der Fall unter die bekannten und wohl
charakterisirten Formen der Ophthalmoplegie nicht einreihen
lässt. Hingegen finden wir gerade jene Eigenthümlichkeiten, die
dem Falle ein eigenartiges Gepräge verleihen, auch bei einer
Gruppe von „bulbären” Erkrankungen, auf die zuerst Erb ’)
aufmerksam gemacht hat, bei der „Bulbärparalyse ohne
anatomischen Befund” (Oppenheim) 2 ) oder „asthenischen
Bulbärparalyse” (Strümpell). 3 )
Mit voller Sicherheit können wir sagen, dass diese asthe¬
nische Bulbärparalyse der Duchenne’schen progressiven Bulbär¬
paralyse und ällen anderen seither bekannt gewordenen Formen
der Bulbärlähmung als etwas anderes, als eine Krankheit sui
generis gegenüber gestellt werden muss. Ich glaube zeigen zu
können, dass unser Fall genau in der gleichen Weise der chroni-
9 Erb, Ueber einen neuen, wahrscheinlich bulbären Symptomcomplex. Arch.
f. Psych., Bd. IX, S. 336 ff. 1879.
2 ; Oppenheim, Ueber einen Fall von chron progr. Bulbärparalyse ohne
anatom. Befund. Virch. Arch., Bd. CVIII; XXVI, 1887.
3 ) Strümpell, Ueber die asthenische Bulbärparalyse. Deutsche Zeitschr. f.
Nervenheilk. VIII, 1 u. 2, 1896.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
331
sehen progressiven Ophthalmoplegie und allen anderen Formen
der „oberen Bulbärparalyse” als asthenische Ophthalmo¬
plegie gegenüber zu stellen ist. Es lassen sich weiters in der
Literatur über geheilte und über recidivirende Augenmuskel¬
lähmungen einzelne Fälle finden, die mit Sicherheit, beziehungs¬
weise mit mehr weniger grosser Wahrscheinlichkeit von den
anderen Formen der Ophthalmoplegie abzutrennen und mit
unserem zu einer Gruppe zu vereinigen sind. Von einzelnen
Autoren ist bereits bezüglich des einen und des anderen dieser
Fälle darauf hingewiesen worden, dass sie möglicherweise mit
der asthenischen Bulbärparalyse verwandt wären. Ob die Gruppe
der „asthenischen Ophthalmoplegie” klinische Selbstständigkeit
verdient neben der „asthenischen Bulbärparalyse”, oder ob es
bei weiter fortschreitender Erkenntniss sich als zweckmässig
erweisen wird, die beiden Krankheitsformen in eine zusammen¬
zufassen, ist von untergeordneter Bedeutung; uns kam es vor
allem darauf an, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es nicht
nur einen „bulbären” Process gibt, der die zu besprechenden
Eigenthümlichkeiten zeigt, sondern dass im Bereiche der Augen¬
muskelnerven und mit Verschonung des bulbären Ge¬
bietes dieselbe Krankheits form auftreten kann.
Krankengeschichte.
Katharina Sch., 24 Jahre alt, verheiratet, Industrielehrerin
aus St., kam am 9. December 1894 in Herrn Hofrath v. Krafft-
Ebing’s klinisches Ambulatorium für Nervenkranke.
Der Vater der Patientin, Josef R., ist ein 46jähriger ge¬
sunder, robuster Bauer, der erst seit den letzten 10 Jahren etwas
stärkerer Potator geworden ist. Die Mutter, Anna R., ist eine
45jährige gesunde Bäuerin. Von acht Kindern dieses Ehepaares
leben fünf; einmal hat die Frau abortirt:
1. Katharina, unsere Patientin; 2. Abortus mit zwei Knaben
im 5. Graviditätsmonate; 3. Johann, starb im 6. Jahre (Trauma,
Gehirnerschütterung); 4. Josef, starb im 7. Monate unter Fraisen,
war lungenkrank; 5. Anna, 17 Jahre alt, seit einigen Monaten
an Chlorose leidend, sonst gesund; 6. Franz, 13 Jahre alt, hatte
im Alter von 2 Jahren nach einem Sturze, der von Bewusst¬
losigkeit gefolgt war, Fraisen. Vom 7. bis zum 11. Lebensjahre
litt er an nächtlichen epileptiformen Convulsionen, stand im
22 *
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332
Dr. J. P. Karplus.
klinischen Ambulatorium des Herrn Hofrathes v. Krafft-Ebing
in Behandlung, bekam Brom, hat seit 2 Jahren keine Anfälle
mehr; 7. Adele, 11 Jahre alt, gesund; 8. Josef, soll einen Herz¬
fehler gehabt haben, starb 4 Jahre alt, im Mai 1894, als seine
Schwester Katharina im Wochenbette lag; 9. Minna, 2 Jahre
alt, gesund.
Die Eltern und sämmtliche lebende Geschwister der Patientin
wurden von uns untersucht und examiDirt, und wir achteten
besonders darauf, ob bei denselben irgendwelche Störungen im
Gebiete der Augen- und bulbären Nerven subjectiv oder ob-
jectiv vorhanden seien oder waren ; das Resultat war nach dieser
Richtung hin ein vollkommen negatives.
Unsere Patientin hat im 16. Lebensjahre einen Typhus
durchgemacht, soll sonst nie fieberhaft erkrankt, nie bettlägerig
gewesen sein. Menses seit dem 13. Lebensjahre, unregelmässig
Patientin war von jeher zart, doch nicht gerade schwächlich,
konnte zu häuslichen Arbeiten verwendet werden, z. B. zum
Zimmerreiben.
Als das Kind 5 Jahre alt war, bemerkte die Mutter eines
Tages, dass das rechte Oberlid etwas stärker herabhänge.
An den folgenden Tagen nahm die Ptosis zu, und die Mutter
wendete sich nun an Professor Arlt, welcher, wie sich die
Mutter bestimmt erinnert, damals constatirte, dass sich auch
die Augäpfel nicht recht bewegten. Die Mutter liess nun
das Kind auch auf der Klinik Jäger untersuchen. Pro¬
fessor Jäger examinirte die Mutter nach einer Störung, welche
die Frucht intrauterin getroffen haben könne, sowie nach einer
acuten Erkrankung, welche etwa den Augensymptomen vorher¬
gegangen sei. Schon damals konnte die Mutter weder das eine,
noch das andere zugeben.
Auf den Rath Professor Jäger’s wurde Patientin bei
Docent Dr. Fieber einen Monat lang elektrisirt. 1 ) Während des
Elektrisirens sank auch das linke Oberlid herab, und es bestand
nun eine sehr starke beiderseitige Ptosis. Die Lidspalten sollen
höchstens 3 Millimeter weit gewesen sein; das Kind konnte
D Leider sind die Protokolle der Klinik Professor Jäger’s und des Herrn
Dr. Fieber aus jener Zeit trotz aller Mühe, die wir uns gaben, nicht mehr
aufzufinden gewesen.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
333
allein herumgehen. Nach etwa einem Jahre giDg die Ptosis auf
beiden Augen ganz allmählich, wie sie gekommen war, wieder
zurück.
Seit jener Zeit hat die Mutter bemerkt, dass das Kind,
wenn es Abends ungewöhnlich lang aufblieb, kleine Augen
bekam. Es trat dann rechts deutlichere, links eben merkliche
Ptosis auf.
Ausser dieser geringen Ptosis, die nur, wenn das Kind
über seine Zeit aufgeblieben war, beobachtet werden konnte,
traten aber seit jenem ersten Anfalle starker beiderseitiger
Ptosis von einjähriger Dauer (vom fünften bis zum sechsten
Lebensjahre) fast jährlich, manchmal auch zweimal im Jahre,
Perioden starker Ptosis auf, welche nun aber jedesmal nur
mehrere Wochen anhielten. Alle diese Anfälle glichen einander
und dem ersten Anfalle auch darin, dass die Ptosis jedesmal
ganz allmählich auftrat und wieder verschwand, ohne dass
dabei irgend welche anderen Symptome beobachtet worden
wären. Dabei hatte die Mutter sehr häufig Gelegenheit zu beob¬
achten, dass die Ptosis, wenn das Kind die Augen anstrengte,
stärker wurde. Auch war immer die Ptosis Früh am geringsten,
steigerte sich dann bis zu einem gewissen Grade und blieb
nun constant, oder zeigte auch Abends wieder eine deutliche
Verstärkung. Dabei erreichte die Ptosis häufig wieder jenen
hohen Grad wie im ersten Anfalle, welcher auch Morgens Re¬
missionen, Abends Exacerbationen gezeigt hatte.
Als Patientin menstruirt war, sollen die Menses auf eine
eben bestehende Ptosis insofern von Einfluss gewesen sein, als
prämenstrual eine Verschlechterung, menstrual eine Erleichte¬
rung eintrat.
Ausser der Entstellung, welche die Ptosis der Kranken
jeweils verursacht, hat sie keine Klagen über ihre Augen. Auf
Befragen erzählt sie, dass sie von jeher an der Luft leicht
Thränenträufeln bekomme, dass ihr beim Waschen leicht Seife
in die Augen komme; sie sehe gut, habe nie Schmerzen in den
Augen gehabt, nie Schwindel. Auf eindringliches Befragen
erfahrt man, dass schon seit vielen Jahren hie und da ganz
vorübergehend, und ohne dass Patientin dadurch wesentlich be¬
lästigt worden wäre, Doppelbilder aufgetreten seien. So musste
Patientin, als sie 12 Jahre alt war, eines Tages in der Schule
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334
Dr. J. P. Karplus.
laut vorlesen; eine Zeit lang ging das ganz anstandslos, doch auf
einmal stockte sie, war ausser Stande weiter zu lesen, weil sie
alles doppelt sah, nicht verschwommen, sondern deutlich doppelt.
In den ptosisfreien Zeiten fiel Patientin ihrer Umgebung
durch ihre grossen schönen Augen, sowie durch ihren starren
Blick auf, und sie zeigt zum Beweise, dass die Ptosis thatsäch-
lich immer wieder ganz zurückging, eine Reihe von Photo¬
graphien aus verschiedenen Lebensaltern (8., 12., 14., 18. und
20. Jahr), an denen keine Spur von Ptosis zu sehen ist.
Wie fast alljährlich, trat auch im September 1893 wieder
ganz allmählich starke beiderseitige Ptosis aüf, bestand vier
Wochen lang und ging dann, wie bei allen früheren Anfällen,
allmählich vollkommen zurück.
Ende Mai 1894 erste Entbindung nach normaler Gravidität
(das Kind der Patientin, im Sommer 1896 von uns untersucht,
ist gesund). Beim Partus sehr starker Blutverlust. Einige Tage
danach heftige Erregung über den plötzlichen Tod des im
selben Hause wohnenden Bruders. Patientin erholte sich nur
sehr langsam, war sehr müde, abgespannt, hatte oft einge¬
nommenen Kopf. Aus Angst vor neuerlicher Gravidität seither
Coitus interruptus.
Im September 1894 stellte sich die Ptosis wieder ein. 1 )
Patientin wurde dadurch durchaus nicht beunruhigt, an diese
Störung war sie schon gewöhnt, sie hatte sich damit abgefunden.
Die Ptosis erwies sich aber diesmal hartnäckiger als sonst, und
Anfangs November 1894 traten Störungen im Bereiche der
oberen und unteren Extremitäten hinzu. Patientin bekam
Stechen, Kriebeln, Gefühllosigkeit in den Händen, die Arme und
Beine waren Früh, wenn Patientin erwachte, steif und schwach;
andererseits ermüdeten dieselben auch ungemein rasch. So erzählt
Patientin, dass sie eines Tages im November ihr kleines Kind
fast fallen gelassen hätte, da sie von einer plötzlichen Schwäche
des Armes überfallen wurde, während sie dasselbe eben herum¬
trug. Beim Stricken konnte sie nach der dritten Masche nicht
weiter arbeiten. Beim Gehen musste sie nach wenigen Schritten
') Dass die Ptosisanfälle im Jahre 1893 and 1894 beidemale im Sep¬
tember cintraten, wird von der Patientin als Zufall bezeichnet, da in früheren
Jahren die Anfälle in den verschiedensten Jahreszeiten begonnen hätten.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
335
stehen bleiben und sich aasruhen, konnte überhaupt nicht rasch
gehen. Die Parästhesien und die zunehmende Schwäche der
Arme veranlassten Patientin, am 9. December 1894 das klinische
Ambulatorium für Nervenkrankheiten des Herrn Hofrathes
v. Krafft-Ebing aufzusuchen; über ihre Augen hatte sie
keine Klagen.
Status praesens vom 9. December 1894, 10 Uhr Vor¬
mittags:
Patientin etwas unter mittelgross, gracil gebaut, von mitt¬
lerem Ernährungszustände, leicht anämisch. Keine Drüsen¬
schwellungen, keine Haut- und Schleimhautnarben, keine Spuren
überstandener Rhachitis. Sensorium frei, keine Kopfschmerzen,
keine Schmerzen beim Beklopfen des Schädels. Die physikalische
Untersuchung der Brust- und Bauchorgane ergibt normale Ver¬
hältnisse, im Urin kein Eiweiss, kein Zucker.
Beiderseits besteht eine Ptosis mittleren Grades, die Ober¬
lider hängen bis zum oberen Rande der mittelweiten Pupille
herab; das Gesicht der Patientin erhält dadurch einen müden,
schläfrigen Ausdruck.
Bei passiver Hebung der Oberlider bemerkt man eine ganz
leichte Prominenz der Bulbi, rechts etwas deutlicher als links.
Die Augen sind geradeaus gerichtet, Gesichtslinien parallel.
Bei der Untersuchung der Bulbusbewegungen ergibt sich
beiderseits totale Lähmung der den Bulbus bewegenden Muskeln.
Das Resultat bleibt dasselbe, ob man nun jedes Auge für sich
oder beide Augen zusammen untersucht. Vollkommen aufgehoben
ist die Fähigkeit, nach aufwärts, nach rechts, nach links zusehen, zu
convergiren. Bei energischem Versuche, nach abwärts zu sehen,
erfolgt eine sehr geringe, doch deutliche Senkung der Bulbi.
Beim Versuche, nach unten aussen zu sehen, schien anfangs
beiderseits eine Andeutung von Raddrehung (Trochlearis) vor¬
handen zu sein, doch liess sich dieselbe bei weiteren Versuchen
nicht mehr constatiren.
Die Pupillen sind mittelweit, gleich, reagiren prompt auf
Licht und Accommodation.
Emmetropie, normale Accommodationsbreite, Visus beider¬
seits = */«• Spiegelbefund normal.
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336
Dr. J. P. Karplus.
Stirnrunzeln ist rechts wie links nur andeutungsweise
möglich, ein merkliches Geringerwerden der Ptosis findet dabei
nicht statt.
Der Lidschluss gelingt nicht. Bei leichtem Lidschluss¬
versuch bleibt die Lidspalte beiderseits auf 2 Millimeter offen;
bei maximaler Anstrengung rechts 2 Millimeter, links 1 Milli¬
meter. Eine abnorme Kürze der Lider besteht nicht. Auch die
Unterlider werden nur mangelhaft gehoben. Diese unvoll¬
kommenen Lidbewegungen werden mit minimaler Kraft ausgeführt.
Im Bereiche des unteren Facialis bestehen vollkommen
normale Verhältnisse.
Die elektrische Untersuchung ergibt in allen Aesten des
Facialis normale Verhältnisse.
Mit Ausnahme der beschriebenen Störungen an den Augen¬
muskeln und am oberen Facialis verhalten sich die Gehirnnerven
vollkommen normal. Insbesondere besteht nicht die Spur einer
bulbären Störung. Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt
keinen Tremor, keine fibrillären Zuckungen, keine Atrophie,
wird gut seitwärts bewegt. Kiefer- und Gaumenbewegungen
Sprechen, Kauen und Schlingen vollkommen normal; ebenso im
Bereiche des Gesichtes die Sensibilität, die Reflexe normal.
An den oberen Extremitäten Musculatur ziemlich schwach
entwickelt, keine Atrophie, keine fibrillären Zuckungen. Es
besteht grosse motorische Schwäche, distalwärts zunehmend,
jedoch sind sämmtliche Bewegungen, wenn auch langsam und
mit sehr geringer Kraft, in vollem Umfange ausführbar. Sensi¬
bilität normal. Tiefe Reflexe eben angedeutet (Bicepsreflex vom
Vorderarm aus). Elektrische Untersuchung ergibt normale Ver¬
hältnisse.
Die objective Untersuchung der unteren Extremitäten
ergibt vollkommen normales Verhalten. Die motorische Kraft der
mässig entwickelten Muskulatur entsprechend. Sensibilität normal;
P. S. R. lebhaft.
Im Uebrigen liess sich an Patientin nichts Abnormes nach-
weisen; keine Zeichen von Hysterie.
Patientin war nicht zu bewegen, sich ins Spital aufnehmen
zu lassen, und so waren wir auf ambulatorische Beobachtung
der Patientin, die einige Stunden von Wien entfernt wohnt und
uns häufig aufsuchte, angewiesen.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 337
Wir empfählen der Patientin Rahe, gaben ihr Arsen-Eisen¬
tropfen.
Am 16. December 1894 Ophthalmoplegia exterior, Parese
des Stirn- und Augenfacialis unverändert. Schwäche der Extremi¬
täten im Rückgänge.
Auf neuerliches dringendes Befragen nach bulbären Stö¬
rungen erzählte die Patientin, es sei in der letzten Woche
während des Mittagessens einmal vorgekommen, dass sie müde
geworden sei, wie wenn die Kraft der Kiefer sie verlassen würde,
sie habe ein Spannungsgefühl im Munde gehabt, eine Schwere
der Zunge empfunden, sie habe aufhören müssen zu essen; der
ganze Zustand habe nur einige Secunden gedauert, dann habe sie
weiter essen können. Objectiv liess sich im Bereiche der Bulbär-
nerven weder Parese, noch Ermüdbarkeit nachweisen.
Wir heben schon hier hervor, dass Patientin am 16. De¬
cember 1894 bestimmt erklärte, jene momentane Kauschwäche
sei in der vergangenen Woche zum ersten- und einzigenmale
vorgekommen, sowie dass wir während einer nun zweijährigen
Beobachtungszeit niemals die geringste bulbäre Störung objectiv
nachweisen konnten; auch hat Patientin niemals mehr überder¬
gleichen berichten können, obwohl sie auf unser Ersuchen darauf
besonders aufmerksam war.
23. December 1894. Patientin berichtet, dass sie häufig,
wenn sie zu gehen anfange, in den Beinen steif und müde sei,
was sich bei längerem Gehen verliere, sonst gehe es mit der
Schwäche besser.
Parese des Stirn- und Augenfacialis unverändert; Ophthal¬
moplegia exterior unverändert.
6. Januar 1895. Die Parästhesien an den oberen Extremi¬
täten haben ganz aufgehört. Patientin ermüdet nicht mehr so
leicht; auch objectiv lässt sich der Rückgang der Parese der
Arme constatiren. Sonst objectiv Status idem.
Am 15. Januar 1895 wurde die Kranke von uns im Verein
für Psychiatrie und Neurologie in Wien vorgestellt. 1 ) Wir
konnten damals die Ophthalmoplegia exterior (vollkommene Un¬
beweglichkeit beider Bulbi bis auf eine Spur von Senkung), die
') Wiener Klin. Wochenschrift 1895, 27.
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338 Dr. J. P. Karplus.
Unfähigkeit, die Lider zu schliessen, die Stirn zu runzeln,
demonstriren.
Wir wiesen damals darauf hin, dass das Ungewöhnliche des Falles in der
fast periodisch schwankenden Ptosis, sowie in der Mitbetheiligung des oberen
Facialis gelegen sei. Letztere schien uns mit Rücksicht auf die anzunehmende
nucleare Natur des Falles und im Hinblicke auf die bekannten Befunde Mendel’s
an Thieren bemerkenswerth. Wir konnten damals den Fall mit der „Bulbärparalyse
ohne anatomischen Befund” (Oppenheim) umsoweniger in Parallele setzen, als
nicht nur der Beginn, der Verlauf und die Localisation in unserem Falle von
jener Gruppe abwich, sondern auch die charakteristische rapide Erschöpfbarkeit
der Muskeln zu jener Zeit von der vollkommenen Lähmung verdeckt war, und
vor allem deshalb nicht, weil uns eine nur unvollkommene und theilweise un¬
richtige Anamnese zur Verfügung gestanden hatte. So hatte z. B. Patientin be¬
stimmt erklärt, sie habe nie doppelt gesehen, und erst später, als es uns gelang,
die Doppelbilder experimentell hervorzurufen, erinnerte sie sich, schon früher
Diplopie gehabt zu haben, und im Herbste 1896 erzählte sie uns die in der
Anamnese erwähnte, charakteristische Scene aus ihrem 12. Lebensjahre. Ferner
hatte sie, so lange eine Schwäche der Extremitäten bestand, immer den Gegensatz
zwischen Ptosis und Extremitäten hervorgehoben. Die Ptosis sei Abends am
stärksten, die Arme und Beine aber seien gerade in der Früh steif und schwach.
Die Angaben über Erdmüdbarkeit der Extremitäten (s. o.) wurden erst nach¬
träglich hinzugefügt. Dann hatte die Patientin anfangs fest behauptet, dass in den
Zeiten zwischen den einzelnen Ptosisanfällen niemals eine Spur von Ptosis vor¬
handen gewesen sei, und nachträglich wurde diese Angabe von der Mutter dahin
richtig gestellt, dass immer, wenn die Kranke über ihre Zeit aufblieb, leichte
Ptosis eintrat.
3. März 1895. Patientin ist mit ihrem Zustande zufriedener;
die oberen Extremitäten würden bei längerem Arbeiten noch
schwach. Mit den Augen gehe es viel besser, nach dem Schlafe
sei die Ptosis ganz verschwunden, nach einiger Zeit trete wieder
ein geringer Grad auf; wenn sie ruhig ihre Handarbeit mache,
so schade das den Augen nicht, wenn sie dieselben aber an¬
strenge, werde die Ptosis stärker.
Beim Anblicke der Patientin fällt sofort auf, dass die Ptosis
beiderseits zurückgegangen ist; die Oberlider reichen bis zur
Mitte zwischen oberem Pupillarrand und Cornearand. Während
der Untersuchung der Augen wird Patientin müde, die Ptosis
wird stärker. Nachdem Patientin sich einige Minuten mit ge¬
schlossenen Augen ausgeruht hat, ist der Grad der Ptosis wieder
derselbe wie bei Beginn der Untersuchung.
Patientin vermag willkürlich die Lider bis zur vollen Weite
der Lidspalte zu heben.
Die Stirn wird beiderseits ausgiebig gerunzelt.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
339
Der Lidschluss gelingt vollkommen, jedoch nur mit sehr
geringer Kraft, und Patientin vermag passiver Oeffnung der ge¬
schlossenen Lider nur einen kaum merkbaren Widerstand ent¬
gegen zu setzen.
Unbeweglichkeit der Bulbi unverändert: Seitenbewegungen,
Aufwärtsbewegung, Convergenz vollkommen aufgehoben, Spur
von Beweglichkeit nach unten erhalten. Pupillen gleich, mittel*
weit, prompt reagirend.
Am 18. April 1895 erkrankte Patientin unter Schüttelfrost,
hohem Fieber, heftigen Kopfschmerzen. Das Fieber hielt mehrere
Tage an, Magenschmerzen, Erbrechen, Diarrhöen, Schnupfen
stellten sich ein. Der behandelnde Arzt diagnosticirte Influenza.
Nach acht Tagen versuchte Patientin das Bett zu verlassen,
fühlte sich aber ungemein schwach, bekam häutig Schwindel¬
anfälle, litt dauernd an Kopfschmerzen und Erbrechen, an Appetit¬
mangel und Schlaflosigkeit. Auf Einladung ihres Gatten fuhr
ich am 27. April 1895 zur Patientin nach St. Ich fand sie in
einem halbverdunkelten Zimmer, in welchem sie die ganze Zeit
über verweilt hatte, im Bette liegend, in zusammengesunkener
Rückenlage, über heftige drückende Kopfschmerzen, über Ein¬
genommensein des ganzen Kopfes, über grosse Mattigkeit klagend.
Ausser vollkommener Undurchgängigkeit der Nase für Luft
(Rhinitis) und Druckempfindlichkeit beider Nervi Supraorbitales
am Orbitalrande fand ich keine neu aufgetretene locale Störung.
Patientin war ungemein erschöpft, war ausser Stande, aufrecht
zu sitzen.
Die Ptosis war links verschwunden, rechts ganz leicht
angedeutet. Die Stirn wurde ziemlich gut gerunzelt, die
Lider wurden beiderseits, jedoch mit geringer Kraft ge¬
schlossen.
Die auffallendste Veränderung war an den Bulbi vor sich
gegangen: Beide Bulbi waren beweglich. Patientin'vermochte
ausgiebige Seitenbewegungen beiderseits auszuführen. Bei der
Abduction blieb rechts wie links zwischen äusserem Cornearand
und Canthus externus ein Spatium von etwa 3 Millimetern. Ein¬
wärtsbewegung beiderseits ausgiebig, innerer Cornearand fast
bis zum unteren Thränenpunkt. Beiderseits ausgiebige Aufwärts¬
bewegung, jedoch nicht im normalen Umfange. Die Senkung an¬
scheinend nicht eingeschränkt.
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340
Dr. J. P. Karplus.
Am 30. Juni 1895 suchte uns Patientin wieder auf und er¬
zählte, dass sie wenige Tage nach der letzten Consultation das
Bett habe verlassen können, die Ptosis sei am rechten Auge
vorübergehend wiedergekehrt, auch jetzt bemerke sie gegen
Abend noch ein leichtes Hängen des rechten Oberlides. Hie und
da sei der Kopf etwas eingenommen, sonst sei sie ganz gesund,
sei mit ihrem Zustande sehr zufrieden; insbesondere seien die
Arme so gelenkig und kräftig, wie nur jemals.
War Patientin früher durch ihre Ptosis aufgefallen, so flel
sie nun im Gegentheile durch die grossen, weitgeöffneten Augen
auf. Bei genauem Zusehen schien es uns, als würde immerhin
das rechte Oberlid um V 2 bis 1 Millimeter tiefer stehen als das
linke, doch blieb auch rechts zwischen unterem Rande des Ober¬
lides und Cornea beim Geradeaussehen der Patientin noch ein
2 Millimeter breiter Sklerastreifen sichtbar.
Bulbi zeigen leichten Exophthalmus wie früher, normale
Stellung. Die Beweglichkeit nach allen Richtungen vorhanden,
jedoch eingeschränkt. Nach aussen: Zwischen äusserem Cornea¬
rand und Lidwinkel 3 bis 4 Millimeter. Nach innen: Beweglich¬
keit am wenigsten eingeschränkt, innerer Cornearand beiderseits
bis zum Thränenpunkt. Am stärksten ist die Aufwärtsbewegung
eingeschränkt, beide Bulbi können kaum etwas über die Hori¬
zontale gehoben werden. Viel ausgiebiger, jedoch auch deutlich
eingeschränkt, ist die Senkung. Die Bewegungen sind an beiden
Augen im gleichen Ausmasse möglich, das Resultat dasselbe bei
Einzelprüfung wie bei Untersuchung beider Augen zugleich.
Die Convergenz gelingt bis auf 10 Centimeter, bei noch stärkerer
Annäherung des Objectes weicht bald das rechte, bald das linke
Auge nach aussen ab und es treten Doppelbilder auf. Die Aus¬
wärtsbewegung der Bulbi ist nach fünf- bis sechsmaligem Ver¬
suche deutlich noch beträchtlicher eingeschränkt als anfangs.
Pupillen gleich, mittelweit, prompt reagirend; keine Accom-
modationsstörung.
Lidschluss gelingt vollkommen unter Erzittern der Oberlider.
Beim Versuche, die Lider möglichst fest zu schliessen, Runzelung
der Lidhaut und der Haut nach aussen vom äusseren Lidwinkel.
Der Widerstand bei passiver Oeffnung der Lider nur gering.
Der untere Facialis und die übrigen Hirnnerven bieten
vollkommen normalen Befund wie früher.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 341
Der Händedruck ist sehr kräftig, bleibt auch bei wieder¬
holten Versuchen kräftig, die tiefen Reflexe an den oberen
Extremitäten sind deutlich hervorzurufen.
Am 11. Februar 1896 hatte ich Gelegenheit, im Vereine für
Psychiatrie und Neurologie für Wien über den bisherigen Ver¬
lauf der Krankheit zu berichten und ich habe damals vorge¬
schlagen, diesen und ähnliche Fälle, die sich in der Literatur
würden auffinden lassen und die insbesondere bei einmal darauf
gerichteter Aufmerksamkeit wohl nicht vereinzelt bleiben würden,
im Anschlüsse an StrümpeH’s „asthenische Bulbärparalyse” als
„asthenische Ophthalmoplegie” zu bezeichnen. (Wiener
klin. Wochenschrift 1896, 10.)
Erst am 14. Juni 1896 stellte sich Patientin wieder vor.
Sie fühlt sich im Grossen und Ganzen gesund. Störungen im
Bereiche der bulbären Nerven sind, wie schon oben hervor¬
gehoben, nie wieder aufgetreten. Wenn sie sich aufrege, bekomme
sie leicht stechende Kopfschmerzen, auch Schmerzen in den
Händen; ebenso bekomme sie manchmal Schmerzen in den
Händen, wenn sie dieselben stärker anstrenge. Bei längerem
Arbeiten werden die Hände matt. Die Ptosis sei für gewöhnlich
geschwunden, nur wenn sie über ihre Zeit aufbleibe, trete rechts
leichte Ptosis ein. Einmal sei sie gelegentlich einer Soiree die
halbe Nacht aufgeblieben, da sei sehr starke Ptosis beiderseits
aufgetreten, welche jedoch des Morgens nach ausgiebigem Schlafe
wieder verschwunden war. Auch hat Patientin bemerkt, dass
jetzt vor Eintritt der Menses immer rechts leichte Ptosis eintrete.
Beim Blicke geradeaus, links zwischen Lidrand und Cornea ein
1 bis 2 Millimeter breiter Sklerastreifen, rechts hängt das Ober¬
lid bis zum oberen Cornearande herab. Diese geringe Ptosis kann
auch willkürlich nicht ausgeglichen werden. Lidschluss voll¬
kommen möglich, doch kraftlos.
Bulbusbewegungen eingeschränkt. Beim Blicke geradeaus
Parallelstellung der Bulbi; bei Seitenbewegungen kommt es zu
Schielstellung, und es treten Doppelbilder auf. Die Bewegung
nach aussen ist rechts viel mehr eingeschränkt als links. Einwärts¬
bewegung beiderseits ausgiebig. Hebung gering, Senkung fast
im normalen Ausmass.
Nach mehreren Abductionsversuchen stellt sich das linke
Auge ebenso weit wie anfangs nach aussen ein (Cornearand 2 bis
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Dr. J. P. Karplus.
3 Millimeter vom Canthus), während das rechte Auge, das anfangs
auf eine Entfernung von 4 Millimeter zwischen Cornearand und
Canthus abducirt werden konnte, nun eine vollkommene Unfähig¬
keit der Auswärtswendung zeigt; nach mehreren Minuten der
Ruhe vermag Patientin wieder zu abduciren wie anfangs. Herr
Dr. Wintersteiner, Assistent der Klinik Schnabel, hatte auf
mein Ersuchen die Güte, diesen Ermüdungsversuch nachzuprüfen
und kam zu demselben Resultate wie ich.
Pupillen gleich, prompt reagirend. Auch bei öOmal unmittel¬
bar hintereinander wiederholtem Einfallenlassen von grellem
Lichte bleibt die Reaction ebenso prompt und ausgiebig wie
beim ersten Lichteinfall.
Am 21. Juni 1896 hatte ich Gelegenheit, Patientin in St.
in ausgeruhtem und in ermüdetem Zustande zu untersuchen.
Auf meine Bitte hatte Patientin von 12 Uhr Mittags bis
2 Uhr Nachmittags mit geschlossenen Augen in einem verfinster¬
ten Zimmer gelegen; einzuschlafen hatte sie vergeblich versucht.
Status um 2 Uhr Nachmittags: Ptosis rechts eben ange¬
deutet; beim Blicke geradeaus, links 1V 2 Millimeter zwischen
oberem Lide und oberem Cornearande, rechts schleift das Augen¬
lid am oberen Cornearande. Bulbusbewegungen: Das rechte
Auge kann so weit abducirt werden, dass zwischen Cornea und
Canthus 2 Millimeter Sklera sichtbar bleiben; links beim selben
Versuch l / 2 Millimeter. Nun liess ich Patientin rasch hinterein¬
ander rechts zehnmal abduciren, dabei nahm die Excursion immer
mehr ab, und schliesslich konnte Patientin das rechte Auge nur
kaum merklich über die Mittelstellung nach aussen bringen.
Links traten beim selben Versuche schliesslich nystactische
Zuckungen auf und blieben zwischen Cornearand und Lidwinkel
l'/j bis 2 Millimeter. Nach 5 Minuten der Ruhe Abductions-
fähigkeit wie vor dem Versuche. Aufwärtssehen beiderseits mög¬
lich, links deutlich, rechts stark eingeschränkt. Abwärtssehen
beiderseits in normalem Ausmasse. Einwärtsbewegung: Cornea
beiderseits zum Thränenpunkt. Pupillen gleich, mittel weit, prompt
reagirend.
Stirnrunzeln schwach, Lidschluss vollkommen, kraftlos.
Den Nachmittag dieses Tages brachte Patientin mit Be¬
sichtigung einer landwirthschaftlichen Ausstellung, mit Tanz und
Unterhaltung in anregender Gesellschaft zu. Sie sah ab und zu
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
343
doppelt, besonders wenn sie nach rechts sehen wollte und den
Kopf nicht nach rechts wendete.
Status um 8 Uhr Abends: Ptosis links deutlich, rechts stärker
als um 2 Uhr. Linkes Oberlid reicht zum oberen Rande der
Cornea, rechts bis zur Mitte zwischen oberem Cornea- und oberem
Pupillarrande. Während der Untersuchung des rechten Auges
sinkt das rechte Oberlid noch mehr herab, so dass nach zehn¬
maligem Auswärts- und Einwärtssehen das Oberlid die halbe
Pupille bedeckt. Nach aussen bewegt sich das rechte Auge schon
beim ersten Versuche kaum über die Mittelstellung, nach innen
fast bis zum Thränenpunkt, nach mehreren Versuchen (diese
hatten um 2 Uhr keinen Einfluss auf die Adduction) unter
nystactischen Zuckungen etwas weniger weit nach innen. Links
aussen beim ersten Versuche 2 bis 3 Millimeter zwischen Lid¬
winkel und Cornearand, innen zum Thränenpunkt. Aufwärts¬
bewegung rechts unmöglich, links spurweise. Abwärtsbewegung
beiderseits ausgiebig, dabei scheint das linke Auge etwas zurück¬
zubleiben. (Dabei keine Doppelbilder.)
Stirnrunzeln und Lidschluss gelingt nicht schlechter als um
2 Uhr.
18. October 1896. Patientin fühlt sich gesund. Wenn sie
längere Zeit lese, geschehe es hie und da, dass sie doppelt sehe,
dann fahre sie sich mit der Hand über die Augen und es sei
wieder gut. Die Ptosis sei seit zwei Monaten ganz geschwunden,
auch wenn sie über ihre Zeit aufbleibe, trete keine Spur von
Ptosis auf.
Es besteht keine Spur von Ptosis, tritt auch bei der folgen¬
den Prüfung der Augenbewegungen nicht auf. Die Stirn wird
ausgiebig gerunzelt, Lidschluss vollkommen, sehr kräftig, auch
bei 40maliger Wiederholung lässt die Kraft des Lidschlusses
nicht nach.
Blinzeln nicht seltener als normal; Conjunctiva normal.
Kein deutlicher Exophthalmus. Parallelstellung der Bulbi. Starke
Einschränkung der Bewegungen nach aussen und nach oben.
Rechts aussen 2 bis 3 Millimeter zwischen Cornea und Canthus,
links V« Millimeter. Aufwärtsbewegung am stärksten einge¬
schränkt, rechts mehr wie links. Nach innen beiderseits Corneal-
rand bis zum Thränenpunkt. Senkung kaum eingeschränkt. Erst
nach öOmaliger forcirter Ab- und Adduction Zunahme der Be-
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Dr. J. P. Karplus.
wegungseinschränkung deutlich, rechts aussen 4 bis 5 Millimeter,
links aussen 1 Millimeter vom Canthus. Rechts innen unver¬
ändert, links innen Cornea 7, Millimeter vom Thränenpunkt.
Pupillen gleich, prompt reagirend.
Die oberen und unteren Extremitäten zeigen vollkommen
normales Verhalten, lebhafte tiefe Reflexe.
Der Inhalt vorstehender Krankengeschichte ist kurz zu¬
sammengefasst folgender: Bei einer jetzt 24jährigen Frau aus
gesunder Familie trat, als sie 5 Jahre alt war, ohne erkennbare
äussere Veranlassung eines Tages eine geringgradige rechts¬
seitige Ptosis auf, die in den nächsten Tagen an Intensität zu¬
nahm, und zu welcher sich im Laufe der nächsten Wochen auch
linksseitige Ptosis gesellte. Eine Untersuchung der Augen ergab,
dass sich auch „die Augäpfel nicht recht bewegten”. Nach einem
Jahre ging die beiderseitige Ptosis allmählich, wie sie gekommen
war, wieder zurück. Seither treten alljährlich mahrwöchentliche
Perioden starker beiderseitiger Ptosis auf. In den ptosisfreien
Zeiten werden die Augen des Abends bei Aufbleiben über die
gewohnte Zeit klein (Geringe Ptosis). Während der Zeiten der
starken Ptosis früh Remissionen, Abends Exacerbationen. Hie
und da Doppelbilder. Beim Waschen kam seit jeher leicht Seife
ins Auge. Im September 1894 trat wieder Ptosis auf, die dies¬
mal monatelang persistirte. Zu derselben gesellten sich im No¬
vember 1894 Parästhesien, Schwäche und auffallende Ermüd¬
barkeit der oberen Extremitäten, Ermüdbarkeit der unteren
Extremitäten.
Am 9. December 1894 constatirten wir Paralyse der
den Bulbus bewegenden Muskeln, Ptosis mittleren
Grades beiderseits, Parese des Stirn- und Augen-
facialis beiderseits. Innere Augenmuskeln normal, unterer
Facialis normal. An den oberen Extremitäten grosse
motorische Schwäche, distalwärts zunehmend. Im Uebrigen
negativer Befund.
Im Laufe des Decembers 1894 trat einmal während des
Essens eine auffallende Ermüdung beim Kauen ein. Etwas Aehn-
liches war vorher nicht vorgekommen und wurde auch in den
beiden folgenden Jahren nicht wieder beobachtet. Objectiv liess
sich nie die geringste bulbäre Störung nachweisen.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
345
Während des Decembers 1894 und des Januars 1895
ging die Parese der Extremitäten allmählich zurück und kehrte
nicht mehr wieder.
März 1895: Ptosis, Parese des Stirn und Augenfacialis im
Rückgang.
April 1895: Wiederkehr der Beweglichkeit der Bulbi,
Bewegungen jedoch nicht im vollen Umfange möglich. Fast voll¬
kommener Rückgang der Ptosis.
Von nun an liess sich besonders deutlich bei Prüfung der
Abduction nachweisen, dass in Muskeln, die anscheinend nur
wenig paretisch waren, eine rapide Erschöpfbarkeit bestand.
Die Ptosis kehrte nur Abends, und in stärkerem Grade nur bei
ungewöhnlich langem Auf bleiben wieder. Die Beweglichkeit der
Bulbi wurde auch im folgenden Jahre keine vollkommene, ins¬
besondere die Insufücienz der Heber war stets deutlich.
Im Juni 1896 ergab eine Prüfung der Augen im ausge¬
ruhten und im ermüdeten Zustande — 2 Uhr Nachmittags und
8 Uhr Abends — eine beträchtliche Zunahme der Läh¬
mungen durch Ermüdung. Die geringe Parese der Abductoren
im ausgeruhten Zustande konnte durch zehnmal hintereinander
wiederholten Abductionsversuch in vollkommene Paralyse über¬
führt werden, welche nach fünf Minuten der Ruhe wieder der
leichten Parese wich, Abends dauernd Paralyse der Abductoren.
Ebenso liess sich Zunahme der Parese an den anderen äusseren
Augenmuskeln, auch im Levator sehr deutlich nachweisen.
Im Herbste 1896 verlor sich die Ptosis vollkommen, kehrte
auch bei Ermüdung am Abend, sowie bei forcirten Augenbewe¬
gungen nicht wieder. Eine sehr deutliche Parese der Heber, eine
erkennbare der Auswärtswender blieb bestehen. Die Erschöpf¬
barkeit liess sich, wenn auch in geringerem Grade, noch nach¬
weisen.
Das Krankheitsbild in unserem Falle wird, wie ein Blick
auf die Krankengeschichte lehrt, durchaus beherrscht von der
chronischen Ophthalmoplegia exterior bilateralis. Dass
hier keine angeborene Augenmuskellähmung, kein angeborener
Beweglichkeitsdefect des Auges vorliegt,') ist ohne weiters klar.
*) Die hierhergehörigen Fälle wurden in einer sehr sorgfältigen Arbeit
von Kunn (Die angeborenen Beweglichkeitsdefecte der Augen. Beiträge zur
Augenheilkunde XIX, 1895) zusammengestellt und kritisch besprochen.
Jahrbücher f. Psychiatrie. XV. Bd. 23
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346
Dr. J. P. Karplus.
Ebenso, dass der Fall mit den acuten Ophthalmoplegien nichts
gemein hat. Von den bekannten und wohl charakterisirten
Formen der chronischen Ophthalmoplegie ist er jedoch gleichfalls
wesentlich verschieden. Die chronische Ophthalmoplegie ist in
der Mehrzahl der Fälle Theilerscheinung oder Vorläufer eines
grösseren Ganzen, eine Symptomengruppe im Rahmen der Tabes,
progressiven Paralyse, multiplen Sklerose u. s. w. In einer ge¬
ringeren Zahl von Fällen besteht die Ophthalmoplegie selbst¬
ständig viele Jahre hindurch. Auch von diesen Formen ist der
vorliegende Fall wesentlich verschieden, vor allem durch die
Heilbarkeit, die Recidiven, die Erschöpfbarkeit, die episodische
Betheiligung der Extremitäten. Andererseits werden wir zu be¬
weisen suchen, dass es doch eine Anzahl Fälle gibt, die von den
anderen Formen der Ophthalmoplegie abgetrennt und mit unserem
Falle zusammen in einer eigenen Gruppe vereinigt werden müssen.
Um unseren Fall richtig zu würdigen, müssen wir, wie
schon eingangs erwähnt, darauf hinweisen, dass gerade jene
Eigenthümlichkeiten, welche demselben den anderen Formen
der Ophthalmoplegie gegenüber ein so eigenartiges Gepräge ver¬
leihen, sich bei einer Gruppe von bulbären Erkrankungen
wiederfinden, auf die zuerst Erb 1 ) aufmerksam gemacht hat und
über welche aus den letzten Jahren eine grosse Reihe von Publi-
cationen vorliegen (Oppenheim, 2 ) Wilks, 3 ) Eisenlohr, 4 )
Senator, 5 ) Hoppe, 6 ) Remak, 7 ) Bernhardt, 8 ) Goldflam, 6 )
J ) Erb, 1. c.
2 ) Oppenheim, 1. c. und Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin 1894.
3 ) Wilks, Guy’s hospitals reports, Vol. XXII, cit. nach Oppenheim.
4 ) Eisen loh r, Ein Fall von Ophthalmoplegia externa progressiva und finaler
Bulbärparalyse mit negativem Sectionsbefund. Neurol. Centralbl. 1887, 15 u. 16.
5 ) Senator, Ein Fall von Bulbärlähmung ohne anatomischen Befund.
Neurol. Centralbl. 1892, 6.
6 ) Hoppe, Ein Beitrag zur Kenntniss der Bulbärparalyse. Berliner klin.
Wochenschr. 1892, 14.
7 ) Remak, Zur Pathologie der Bulbärparalyse. Arch. f. Psych., Bd. XXIII, 1892.
8 ) Bernhardt, Zur Lehre von den nuclearen Augenmuskellähmungen und
ihren Complicationen. Berliner klin. Wochenschr. 1890, 43.
9 ) Goldflam, Ein Fall von Polioencephalitis superior, inferior und Polio¬
myelitis anterior nach Influenza mit tödtlichem Ausgange, ein anderer aus unbe¬
kannter Ursache mit Uebergang in Genesung. Neurol. Centralbl. 1891, 7. —
Ueber einen scheinbar heilbaren bulbärparalytischen Symptomcomplex mit Be¬
theiligung der Extremitäten. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. IV, 1893.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
347
Jolly, 1 ) v. Sölder, 2 ) Shaw, 8 ) Pineies, 4 ) Mayer, 5 ) Kali¬
scher, 6 ) Strümpell, 7 ; Fajersztajn, 8 ) Murri, 9 ) Kojewni-
koff, 10 ) Silbermark.) 11 )
Soll diese Arbeit nicht eine ungebührliche Ausdehnung ge¬
winnen, so müssen wir auf eine ausführliche Beschreibung dieses
Krankheitsbildes, der asthenischen Bulbärparalyse (Strümpell),
verzichten und können näher nur auf die hier in Betracht
kommenden Punkte eingehen.
In allerjüngster Zeit hat Strümpell 12 ) folgende Beschrei¬
bung der Krankheit gegeben: „Die Symptome des Leidens be¬
stehen in Ptosis, Parese der Gesichtsmuskeln, Kau¬
störung, Schlingstörung und Sprachstörung. Bei genauerer
Betrachtung zeigt sich, dass diese Symptome nur zum Theile
gleichmässig andauernd sind, zum grösseren Theile dagegen auf
einer ungemein raschen Ermüdbarkeit und Erschöpfung der
betreffenden Muskeln beruhen. Ein derartiger Kranker kann
z. B. einige Sätze ganz deutlich sprechen; bei anhaltendem
Sprechen wird die Sprache aber immer undeutlicher, unarti-
! ) Jolly, Ueber Myasthenia gravis pseudoparalytica. Berliner Klin. Wochen¬
schrift 1895, 1. S. auch Berliner klin. Wochenschrift 1891, 26.
2 ) v. Sölder, Sitzungsber. der k. k. Gesellschaft d. Aerzte in Wien. Wiener
klin. Wochenschr. 1894, 21.
3 ) Shaw, Brain 1890, Bd. XLIX, p. 96, cit. nach Goldflam.
4 ) Pineies, Zur Kenntniss des „bulbären Symptomeneomplexes” (Typus
Erb-Goldflam). Jahrb. f. Psych. Bd. XIII, 1895.
5 ) Mayer, Sitzungsber. d. Vereines f. Psych. u. Neurol. in Wien. Wiener
klin. Wochenschr. 1894, 9.
G ) K a 1 i 8 c h e r, Ein Fall von subacuter nuclearer Ophthalmoplegie und Extre¬
mitätenlähmung mit Obductionsbefund. (Polio-Mesencephalo-Myelitis subacuta.)
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. VI, 1895. — Ueber Poliencephalomyelitis und
Muskelermüdbarkeit (Myasthenia). Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. XXXI, 1896.
7 ) Strümpell, 1. c.
8 ) Fajersztajn, Zur Casuistik und Symptomatologie der asthenischen
Paralyse. Neurol. Centralbl. 1896, 18 und 19.
9 ) Murri, Eshallo de Policlinico, Vol. II, M. Fascie, 9, 1895, cit. nach
Strümpell und Kalischer.
10 ) Kojewnikoff, Zwei Fälle von asthenischer Bulbärparalyse. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. IX., 1896.
u ) Silbermark, Wiener klin. Rundschau 1896, 45 und 46.
12 ) Strümpell, Lehrbuch der Pathologie und Therapie der inneren Krank¬
heiten, HI, 10. Aufl. 1896.
23*
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Dr. J. P. Karplus.
culirter und schliesslich geht sie in ein unverständliches Lallen
über. Dasselbe zeigt sich beim Kauen und Schlucken: Die ersten
Bissen werden ganz normal gekaut und geschluckt; schon nach
wenigen Minuten aber ist die weitere Nahrungsaufnahme völlig
unmöglich geworden. Neben diesen zunächst am meisten auf¬
fallenden „bulbären” Erscheinungen zeigen sich aber ganz ähn¬
liche Symptome auch an den Muskeln der Extremitäten. Auch
hier meist dieselbe rasche Ermüdbarkeit bis zum vollständigen
Versagen der Function.”
Dieselbe rasche Ermüdbarkeit und Erschöpfung, das¬
selbe Fehlen von Ausdauer finden wir in unserem Falle.
Damit hängen zusammen der Wechsel der Erscheinungen,
die Remissionen des Morgens, die Exacerbationen des
Abends, die von allen Beschreibern der asthenischen Bulbär-
paralyse hervorgehoben werden, und die in unserem Falle von
asthenischer Ophthalmoplegie so deutlich hervortreten. Hier wie
dort haben wir chronischen Verlauf über viele Jahre, monate-
und jahrelange Remissionen, scheinbare und vielleicht wirk¬
liche Heilungen. Weitere gemeinsame Züge sind das Fehlen
von objectiven sensiblen und sensorischen Störungen, von
cerebralen Allgemeinerscheinungen, die Betheiligung
der Extremitäten. Parese und Erschöpfbarkeit des oberen
Facialis, in unserem Falle so auffallend, ist häufig im Rahmen
der asthenischen Bulbärparalyse. Ptosis ist ein fast regel¬
mässiger Befund, und zwar eine Ptosis, die sich ganz in der¬
selben Weise verhält wie in unserem Falle. Die inneren Augen¬
muskeln waren in allen Fällen vollkommen intact.
Auch die Lähmung der den Bulbus bewegenden
Muskeln ist dem Symptomenbilde der asthenischen Bul¬
bärparalyse nicht vollkommen fremd.
Vollkommen frei waren die Bulbusbewegungen in
Fällen von Erb, Oppenheim, Jolly, Goldflam, Senator,
Remak, Shaw, Pineies, Fayersztajn, Mayer, Silber-
raark.
Geringe Störungen der äusseren Augenmuskeln
(Bulbusbeweger), wie anamnestische Angaben von Doppelbildern,
vorübergehende leichte Paresen einzelner Augenmuskeln sind
angegeben in Fällen von Wilks, Hoppe, Bernhardt, Strüm¬
pell, Pineies, Kalischer, Kojewnikoff.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
349
Hier wollen wir noch einmal darauf hinweisen, dass objectiv
bulbäre Störungen in unserem Falle nie nachzuweisen waren,
und dass Patientin nur ein einzigesmal eine Kaustörung be¬
merkte, dass die diesbezügliche Angabe aber so präcise gemacht
wurde, dass sie immerhin verwerthet werden kann. Sie weist
auf eine ganz leichte vorübergehende Betheiligung bulbärer Ge¬
biete hin, und kann etwa verglichen werden mit der häufigen
Angabe der an asthenischer Bulbärparalyse Leidenden, dass
sie im Beginne oder Verlaufe ihres Leidens vorübergehend
doppelt gesehen hätten.
Von besonderem Interesse sind jene Fälle, in denen im
Symptomenbild der asthenischen Lähmung neben der
Bulbärparalyse eine mehr oder weniger vollständige
Ophthalmoplegie bestand; denn sie sind besonders geeignet,
unsere Behauptung, dass unser Fall seinem Wesen nach ver¬
wandt sei mit den Fällen von asthenischer Bulbärparalyse, zu
unterstützen.
Derartige Fälle wurden von Erb, Eisenlohr und Gold-
flam beobachtet und wir geben sie hier im Auszuge unter
Hervorhebung der Augensymptome wieder.
Fall von Krb.
(Arch. f. Psyeh. IX, 1879.)
30jähriges Bauernmädchen, vor neun Wochen mit leichten Zuckungen im
Gesicht, Doppeltsehen erkrankt. Dann Schwere der Augenlider, später Kau¬
beschwerden, Kopfweh, Schwindel. In den letzten Wochen Herzklopfen, Oppres-
sionsgefühl, Glioderschwäche. 17. Oetober 1870: Zwinkern der Augen, hie und da
Zuckungen um den Mund. Die Augen „stets halb geschlossen, indem das
obere Augenlid fast unbeweglich darüber herunterhängt; dasselbe
wird nur mit Mühe so weit gehoben, dass die Pupillen Sichtbar¬
werden. Die Fixation mit den Augen ist gleich Null, indem alle
Augenbewegungen nur höchst mangelhaft von Statten gehen, gleich¬
sam als bewegten sich die Augen in einem widerstandleistenden
Medium. Doppeltsehen lässt sich hierbei nicht constatiren. Die
Pupillen sind von mittlerer Weite, reagiren gut’’. Schwäche der Kau¬
muskeln, Trägheit und Steifigkeit der Gesichtsmuskeln. Im November Ver¬
schlechterung, Schluckbeschwerden, Müdigkeit des Kopfes, der Nackenmusculatur.
Im December Besserung. 23. Januar 1871: „Die Augenlider können jetzt sehr
gut gehoben werden, nur hie und da Gefühl von etwas Schwere der¬
selben. Die Augenbewegungen geschehen leicht und frei; Doppelt¬
sehen tritt fast nie mehr auf. (Auch bei uer Untersuchung nicht.)”
Kauen besser, Müdigkeit im Nacken. Weiter schwankender Verlauf. 4. Juli 1871:
„Die oberen Augenlider hängen mehr als früher. Doppeltsehen fast
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350
Dr. J. P. Karplus.
in allen Blickrichtungen. Pupillen normal reagirend.” Kau- und Sprach-
beschwerden, Schwäche und Müdigkeit der Glieder, Herzklopfen. Bald darauf
Entlassung der Patientin. Monatelanges Wohlbefinden. 24. März 1872: Plötzlich
Nachts Exitus letalis, nachdem seit 14 Tagen wieder Beschwerden bestanden
hatten, 1 x j 2 Jahre nach Beginn der Krankheit. Keine Section
Fall von Eisenlohr.
(Neurol. Centralbl. 1887, 15 und 16.)
18jähriges, nervös nicht belastetes Mädchen, leidet seit der Kindheit an
Migräneanfällen. An einen solchen hat sich nach Angabe der Mutter das erste
Auftreten der Ptosis angeschlossen. Vor zwei Jahren (1884) plötzlich Doppelt¬
sehen, das nach drei Wochen zurückging, im Sommer 1885 temporär wieder¬
kehrte. Dann Ptosis, bald rechts, bald links stärker, häufigem und starkem Wechsel
unterworfen. Juli 1886 nach starkem Migräneanfall Schwäche beider Hände.
August 1886 Schwäche der Beine, Kurzathmigkeit, Schluckbeschwerden. Er¬
schwerung der Sprache, Schwäche der Kaumuskeln, der Halsmuskeln. Alle Er¬
scheinungen wechseln in ihrer Stärke während eines Tages öfter. 16. August
1886: Zart, blassgelbe Hautfarbe. „Zunächst fiel in die Augen eine doppel¬
seitige, unvollständige, links etwas stärker ausgeprägte Ptosis. Mit
Mühe wurden die Augen auf circa :i / 4 Centimeter geöffnet, aber die
Action der Levat. palpebr. liess sofort nach, so dass Patientin, um
geradeaus zu blicken, den Kopf etwas zurücklegen musste. Pupillen
gleich. Die Reaction auf Licht prompt und ausgiebig. Aecommodation
normal. Beide Bulbi stehen ziemlich starr, der linke etwas nach
aussen abweichend; beim Verfolgen eines Objectes nach rechts oder
links folgen beide Augen nur sehr wenig; beim Fixiren eines Ob¬
jectes in der Mittellinie Divergenz der Augenaxen. Keine Diplopie.
Die Beweglichkeit der Augen nach allen Richtungen ziemlich
gleichmässig eingeschränkt. Aber auch der Schluss der Lider, ob¬
schon vollständig, mit geringer Kraft beiderseits.” Beide Faciales
paretiseh. Gaumensegel hebt sich wenig. Schluckbeschwerden, Verschlucken.
Regurgitiren durch die Nase. Kopfbewegungen mit geringer Kraft. Athembewe-
gungen etwas beeinträchtigt, Husten nur schwach. Parese an oberen und unteren
Extremitäten. Sensibilität normal. Im weiteren Verlaufe Schlucken Morgens besser
als Abends. Erschwerung der Zungenbewegungen, Ansammlung von Speichel und
Schleim, Schwierigkeit zu expectoriren. Am 18. August 1886: Abends Hitze¬
gefühl, Herzklopfen, Puls 140, frequente Respiration, Unfähigkeit, Schleim aus
Rachen und Hals zu entfernen. 21. August 1886: Früh nach dem Waschen Re¬
spirationsschwäche, Cyanose, oberflächliche frequente Athmung, hauptsächlich
durch die Auxiliärmuskeln. Zwerchfell fast ganz paralytisch. Exitus letalis. Krank¬
heitsdauer zwei Jahre. Die genaue mikroskopische Untersuchung ergab ein nega¬
tives Resultat. Die Wurzeln des Vagus und Hypoglossus makroskopisch auffallend
dünn, nicht verfärbt. Im Facialis, Vagus, Accessorius, Hypoglossus mikroskopisch
zahlreiche schmale Fasern, keine Spur von körniger oder fettiger Degeneration.
„Die frischen capillären Hämorrhagien, die pralle Füllung der Gefässe in der
Medulla oblongata sind sicher als kurz vor dem Tode entstanden zu betrachten.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
351
Fall von Goldflam.
(Neurol. Centralbl. 1891, 7.)
30jährige Frau. August 1886 unter Hinterkopfschmerzen, Ptosis, Diplopie
erkrankt; im September Ohnmachtsanfall, im November Schwäche der Arme.
Februar 1887 undeutliche Sprache, namentlich in den Nachmittagsstunden,
Schluckbeschwerden, Regurgitation durch die Nase, Schwäche der Beine, bett¬
lägerig. Ende März bessere Beweglichkeit des linken Armes, Dyspnoeanfälle.
21. April 1887 oberflächliche Respiration, Diaphragmaparese, Schwäche der
Extremitäten, des Rumpfes, der Kopfbewegungen, Sehnenreflexe erloschen oder
sehr schwach, Zungenparese, Kau- und Sehluckbeschwerden, Gaumensegelparese,
Husten schwach, Stimme nasal, leise. „Die rechte Lidspalte ist kleiner,
eigentliche Ptose aber nicht vorhanden. Die Lider können nicht
vollständig geschlossen werden; es bleibt eine Spalte, rechts
grösser als links. Der rechte Bulbus nimmt die Mittelstellung ein,
der linke mehr nach innen. Die associirten Bewegungen sind sehr
beschränkt, am wenigsten nach rechts, nach links bleibt der rechte
Bulbus in der Mitte, der linke überschreitet nur wenig die Mittel¬
linie, nach oben und unten macht der linke Bulbus nur kleine Oseil-
lationen, der rechte ganz minimale. Die Bewegungen jedes Bulbus
für sich sind selbstverständlich auch sehr beschränkt, für den
rechten noch mehr als für den linken. Der rechte macht die grösste
Excursion nach rechts, in allen anderen Richtungen nur minimale,
der linke hat die grösste Beweglichkeit nach innen, kleinere in
anderen Richtungen. Die Pupillen sind gleich, reagiren auf Licht
und Accommodation. Palpebralreflex erhalten. Gesichtssinn gut, bei
Fernsehen soll Diplopie auftreten, aber diese Angabe ist schwan¬
kend.” Elektrische Erregbarkeit, namentlich in den kleinen Handmuskeln herab¬
gesetzt. Täglich Dyspnoeanfälle. Temperatursteigerungen bis über 39 Grad. Bald tritt
Besserung ein. Im September 1887, ein Jahr nach Beginn der Erkrankung, war
Patientin ganz gesund; sie blieb bis December 1890 ganz gesund. Die Schwan¬
kungen in der Intensität der Symptome betrafen beinahe alle Erscheinungen,
sogar die Kniereflexe. Früh Morgens war der Zustand am besten, er war schlechter
Mittags, am schlechtesten Abends.
Hier wollen wir einen Fall beifügen, der schon von
Kalis eher erwähnt wird.
Fall von Raymond. J )
Ein 25jähriges Mädchen erkrankte am 8. Januar 1890 nach Erkältung
mit Parese des linken unteren Facialis. Am 25. Januar trat dazu linksseitige
Ptosis, in den nächsten Tagen an Intensität zunehmend, dann rechtsseitige Ptosis
geringeren Grades. Die Ptosis zeigte Intermissionen, verschwand manchmal für
eine Viertelstunde ganz, trat dann, wenn Patientin einen Gegenstand fixirte,
wieder hervor, war den ganzen Nachmittag stärker als Vormittags. 7. Februar:
!) Raymond, Un cas d’ophthalmoplegie nucleaire exterieure. Gaz. d. hop.
1890, 126.
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352
Dr. J. P. Karplus.
Diplopie. Am 10. Februar: Kau beschwer den, Ermüdung beim Kauen, Kiefer¬
bewegungen erschwert. Grosse Erschwerung der Zungenbewegungen. Schluck¬
schwierigkeit. Ermüdung und Schlechterwerden der Sprache während des Sprechens.
Pupillen normal. Fundus normal. Beiderseits Unfähigkeit nach aussen
und nach aufwärts zu sehen, eine gewisse Schwierigkeit beim Ein¬
wärtssehen. Keine Doppelbilder. Keine Sensibilitätsstörungen, Reflexe
normal. Klage über rasche Ermüdbarkeit, über Unfähigkeit lange zu gehen. Vom
26. Februar an Besserung. 15. April: Vollkommene Heilung.
Eine sichere Deutung dieses Palles ist nicht möglich. Das
Schwanken der Symptome, die Ermüdbarkeit, die vollkommene
Heilung, legen die Annahme nahe, dass der Fall zur Gruppe
der asthenischen Lähmungen gehöre. Derselbe könnte dann den
drei zuletzt angeführten Fällen an die Seite gestellt werden.
Erwähnen wollen wir noch, dass die Ophthalmoplegie in diesem
Falle, wie in unserem Falle, am meisten die Abduction und
Hebung, am wenigsten die Senkung betraf. 1 )
Durch die bisherigen Ausführungen glauben wir nachge¬
wiesen zu haben, dass unser Fall seinem Wesen nach den Fällen
von asthenischer Bulbärparalyse gleicht. Neben der Bulbär-
paralyse nach dem Typus Erb-Goldflam, bei der in ein¬
zelnen Fällen die im Vordergründe stehenden bulbären
Symptome von Augenmuskelparesen eingeleitet werden
oder begleitet sind, gibt es eine Ophthalmoplegie nach
dem Typus Erb-Goldflam, bei der selbst bei Jahrzehnte
langem Verlaufe das Krankheitsbild durchaus von der
Ophthalmoplegie beherrscht wird und bulbäreStörungen
fehlen.
Besonders bemerkenswerth ist nun, dass unser Fall nicht
vereinzelt in der Literatur dasteht, sondern eine weitgehende
Uebereinstimmung darbietet mit einer Beobachtung von Ca-
muset 2 ) aus dem Jahre 1876, welche den Autoren über asthe¬
nische Bulbärparalyse, so weit ich sehe, nur aus dem nicht
ganz zulänglichen Referat von Mauthner bekannt war. Wir
*) Die Deutung einiger anderer theils von Kalischer, theils von Marina
(Ueber multiple Augenmuskellähmungen u. s. w. 1896) angeführter Fälle ist noch
unsicherer.
-) Camuset, Paresie musculaire des yeux, symptomatique d’une affeetioa
nerveuse centrale mal definie. (Observation lue ä la Societe de medecine de Paris,
dans sa seance du 13 mai 1876.) L'union medicale 1876, No. 67.
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Ueber' asthenische Ophthalmoplegie.
353
wollen diesen Fall, der leider von Camuset nur kurz beschrieben
ist, seiner Wichtigkeit wegen hier wörtlich wieder geben.
Fall von Camuset.
M. C. capitaine en retraite, äg£ de 55 ans, trapu, robuste, blond, de
temperament sanguin, sans antecedents pathologiques hereditaires ou
personnels, legerement dyspeptique, mais doue en somme d’une bonne sante,
vient me eonsulter en mars dernier pour les phenomenes que voiei:
Pfcosis inegal et tr&s-marque des deux paupieres superieures. — Diplopie
dans tous les sens, excepte quand le malade regarde devant lui ä une distance
de plusieurs metres. — Pas de mydriase. — Pas de troubles visuels monoculaires.
— Rien a l’ophthalmoscope.
Je constate une paralysie ou plutöt une paitesie incompl&te de tous les
museles moteurs des yeux. Dans les eflforts pour regarder lateralement, les cornees
se deplacent de 1 ou 2 millimbtres ä peine.
Cet etat s’est manifeste insensiblement ä partir du mois de novembre 1875,
et n’a fait que s’aecroitre depuis quatre mois, en presentant des remissions
incomptetes et irtegulieres.
Voiei ce que le capitaine C . . me raconte:
.En 1842, etant äge de 20 ans, il a eu une diplopie dans tous les sens
qui a dure un mois ou deux. Ce phenombne a disparu sans traitement.
En 1847, meme Symptome. Les paupieres superieures sont un peu tombees
vers la fin de Tattaque, qui a dure un an, et a gueri sans traitement, eomme la
precedente.
En 1855, ayant passe plusieurs mois en Afrique, ä la Tafna, occupe a
surveiller des ehargements pour l’armee de Crimee, il a eprouve une attaque de
meme nature, commen<?ant par la diplopie, mais se compliquant, au bout de deux
mois, d’une grande faiblesse des bras et des jambes. Il n’y a jamais eu perte de
mouvement ou diminution de sensibilite, mais seulement une fatigue excessive,
l’empechant d’accomplir un mouvement tout entier. Les mains restaient demi-
fermees; la marehe etait impossible. En meme temps s’est manifestee une tres-
forte disphagie qui a dure pendant un mois, et qui cessait momentanement le
matin, vers dix heures. Le capitaine C . . a ete envoye alors ä l’höpital de Lyon,
puis a celui de Montpellier; ä ce moment, la chute des paupibres (ptosis) ätait
compläte. Le traitement a consiste en revulsifs sur la colonne vertebrale, bromure
de potassium, hydrotherapie. Le traitement ne parait pas avoir eu une grande
influence sur la marehe de la maladie; on l’a cessä, et, au bout de quelques
mois, le malade s’est completement retabli.
En 1866, etant en garnison ä Lisieux, meme serie de symptömes, pour
lesquels le capitaine est envoye de nouveau ä i’hopital de Montpellier, ou il est
traite par l’hydrotherapie.
Jusqu’en 1865, etourdissements frequents. En 1874, chute subite, sans perte
de connaissance, en faisant un mouvement pour retourner la tete. Enfin en 1875
(novembre) debut des phenomenes pour lesquels je suis consulte.”
Je prescris du sulfate de quinine (10 centigrammes parjour); des frictions
stimulantes autour des orbites et surlanuque; un exercice corporel gymnastique
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354
Dr. J. P. Karplus.
allant jusqu'ä la sudation; uu regirne sobre (le malade, du reste, n'a jamais
fait dexces alcooliques, meine en Afrique).
Au bout de quelques jours, la dispepsie disparait; le malade se sent plus
fort, plus alerte. Le ptosis de paupieres est moins marquä, mais la parösie mus-
culaire des yeux n'a pas varie. Pour fixer un objet situ6 lateralement, M. C . .
doit faire mouvoir toute la tete.
Apres un mois de traitement, M. C . . vient m’accuser Fapparition des
faiblesse* musculaires qui ont dejä Signale ses premieres attaques, et qui döbutent
aujourd’hui par une impuissance des flechisseurs des doigts et par une paresse
extreme des jambes. II peut cependant marcher, et en outre de sa promenade
quotidienne sur la place, il fait hors de la ville 4 ou 5 kilometres, mais non
sans de grands efforts de volonte. Les yeux fermes, il a la plus grande peine a
se tenir debout sur uu pied.
Les faeultes intellectuelles sont toujours rest6es intactes.
En somme le capitaine C . . li est que peu inquiet sur l’issue d’une atta-
que dont il fixe lui-meme la duree probable a sept ou huit mois encore. Mais
il voudrait conjurer ses progres qui Font, par deux fois, reduit ä ne pouvoir
marcher et ä se servir difficilement de ses mains. Il m'ecrit aujourd’hui „avee
toutes les peines du monde” dit-il; l’ecriture n’est cependant ni tremblee ni
embrouillee.
A quelle cause pouvons-nous attribuer cette singuli^re succession de
phenomfcnes? J’inclinerais a admettre un processus congestif au niveau de la
protubßrance, a Forigine des nerfs moteurs oculaires.”
Es handelt sich also um einen 55jährigen Mann, der seit
35 Jahren an Anfällen leidet, die im 20., 25., 33., 44. und
55. Lebensjahre aufgetreten sind. Der 1. Anfalle bot nur Doppelt¬
sehen, dauerte einen Monat. Der 2. Anfall von einjähriger Dauer:
Doppeltsehen, dann Ptosis. Der 3. und 4. Anfall dauerten viele
Monate, begannen ebenfalls mit Doppeltsehen und Ptosis, com-
plicirten sich mit ausserordentlicher Schwäche und Müdigkeit
der Extremitäten, mit Schluckbeschwerden. Im 5. Anfalle werden
nach viermonatlicher Dauer Ptosis, Doppelbilder, hochgradige
Augenmuskelparesen constatirt, nach einem weiteren Monat trat
hochgradige Schwäche der Arme und Beine hinzu. Besonders
hervorhebenswerth ist auch die von Mauthner nicht beachtete
Angabe über „fatigue excessive .. sowie die Entwickelung
des einzelnen Anfalles unter Remissionen.
Im Fall Camuset haben wir wie in unserem Falle eine
chronische bilaterale Ophthalmoplegie, Heilbarkeit,
zahlreiche Recidiven, jahrzehntelange Dauer, episo¬
dische Betheiligung des bulbären Gebietes und der
Extremitäten, Ermüdbarkeit, ungestörte Sensibilität.
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
355
Für den Fall Camuset möchte ich auf Grund unserer Aus¬
einandersetzungen mit derselben Sicherheit wie für unseren
Fall die Sonderstellung den anderen Formen der Ophthalmo¬
plegie gegenüber in Anspruch nehmen, ihn ebenfalls als asthe¬
nische Ophthalmoplegie bezeichnen.
Weniger sicher ist die Bedeutung einiger Fälle, die wir
nun noch anführen wollen.
Zunächst käme in Betracht ein Fall von Mauthner: 1 )
„In Betreff der Anamnese bei dem 5jährigen L. weiss dessen Pflegemutter
nur anzugeben, dass der Knabe vor 2 Jahren über eine Treppe hinabfiel, und
dass er vor B Monaten eine Lungenentzündung durehgemacht hat. Seit dieser
Zeit (seit 3 Monaten) bemerke man auch das Schielen. Es fällt die hochgradige
Ptosis beiderseits auf. Die faltenlosen Oberlider werden durch die Frontales
etwas gehoben (Stirn in horizontale Falten gelegt und Augenbrauen stark in die
Höhe gezogen). Bei der Fixation der Augenbrauen vermag der Knabe das rechte
Auge gar nicht, das linke nur wenig zu öffnen; die Frontaliswirkung jedoch
bringt es zuwege, dass ein Theil der Pupille jederseits frei wird. "Rechts ist
die Beweglichkeit nach innen wie nach oben vollständig aufgehoben; beim Blicke
nach unten tritt die reine Troehleariswirkung sehr schön hervor, während die
Beweglichkeit des in der Ruhestellung divergirenden Auges in lateraler Richtung
(nach aussen) keine Störung zeigt. Es besteht also totale Oculomotoriuslähmung,
Sphincter pupillae und Aecommodation sind jedoch vollständig intact.
Dasselbe normale Verhalten in Betreff der Iris und der Aecommodation
offenbart auch das linke Auge. Beide Pupillen sind eher eng als weit, von
gleichem Durchmesser, reagiren prompt nach jeder Richtung. Die Unversehrtheit
der Aecommodation wurde bei jedem Auge dadurch constatirt, dass demselben in
sehr grosser Nähe eine dunkle Metallplatte, in der ein sehr feines Loch sich
befand, im reflectirten Lichte vorgehalten ward. Nur bei vollkommener Accom-
modation ist es möglich, diesen feinen Lochpunkt zu sehen. Der Knabe sah ihn
und zeigte richtig mit dem Finger nach demselben.
Was die äusseren Muskeln des linken Auges anlangt, so liess sich, abge¬
sehen von der Ptosis, eine eigenthümliehe Schwierigkeit in den Be¬
wegungen des Auges nachweisen. In dem einen Momente geht das Auge
ziemlich gut nach innen, im nächsten jedoch nur zögernd, ruckweise und wenig
ausgiebig. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Bewegungen nach oben wie
nach unten, die stets im verticalen Meridiane erfolgten; auch der Abducens
führte nur zögernd das Auge nach aussen.
Das Kind gibt an, dass es anfänglich doppelt gesehen, jetzt aber keine
Doppelbilder mehr habe.
Von den übrigen Gehirnnerven bot nur der linke Facialis eine leichte
Parese dar. Sie wurde ersichtlich, wenn der Knabe den Mund zum Lachen ver¬
zog. Sonst wurde beim Patienten nichts Krankhaftes bemerkt. Kein Kopfschmerz,
J ) Mauthner, Die ursächlichen Momente der Augenmuskellähmungen.
Wiesbaden 1886.
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356
Dr. J. P. Karplus.
weder spontan, noch beiin Anschlägen oder Schütteln des Schädels, weder Moti-
litäts- noch Sensibilitätsstörung, keine Störung der Intelligenz.
Die Diagnose lautete: Ophthalmoplegia nuclearis, die sich seit 3 Monaten
allmählich entwickelt. Die Prognose wurde, so weit sie das Leben und den allge¬
meinen Gesundheitszustand betrifft, nicht ungünstig, dagegen in Betreff des
Augenmuskelleidens ungünstig gestellt. Ich gab wenig Hoffnung auf Besserung
des Zustandes, machte es im Gegentheile wahrscheinlich, dass die Lähmungen an
beiden Augen fortschreiten würden.
Desto mehr war ich überrascht, als ich 2 Monate später zum Zwecke der
Demonstration einer nuclearen Lähmung den kleinen Kranken citirte und statt
einer vollständig ausgebildeten Ophthalmoplegie — eine vollständige Resti¬
tutio in integrum an beiden Augen vorfand. ,,
Mautliner selbst meint, es handle sieh hier vielleicht nicht
um eine dauernde Heilung, sondern um eine erste Attaque eines
Krankheitsprocesses, der vielleicht dem Falle von Camuset an
die Seite gestellt werden könne. Mauthner kam zu dieser Ver-
muthung, weil ihm eine dauernde Heilung einer chronischen,
nicht syphilitischen Ophthalmoplegie nicht gut annehmbar er¬
schien. Für uns erhält die Annahme, dass der Fall mit dem
von Camuset verwandt sein könne, und so wie dieser zur asthe¬
nischen Ophthalmoplegie gehöre, eine weitere Stütze in der
von Mauthner besonders hervorgehobenen, aber in ihrer Be¬
deutung nicht gewürdigten Angabe über „eine eigenthümliche
Schwierigkeit in den Bewegungen des Auges”. In dem einen
Moment gehen die Augenbewegungen ziemlich gut von Statten,
im nächsten jedoch nur zögernd, ruckweise und wenig ausgiebig.
Ferner erwähnen wir einen Fall von Kunn: 1 )
Ein 25jähriger Mann aus gesunder Familie erkrankt im Oetober 1895 mit
Diplopie. Im November vorübergehend Strabismus. Dann Ptosis links, später
rechts. Morgens Remissionen. 27. December 1895: Beiderseits unvollständige
Ptosis, Parese der äusseren Augenmuskeln. 30. December 1895: Grosse Varia¬
bilität der Erscheinungen. Paresen des Morgens geringer. Auch während der
Untersuchung Zunahme der Paresen. Weiter schwankender Verlauf. „Immer aber
zeigt sich deutlich der Einfluss der Ermüdung der Augenmuskeln auf ihre
Leistungsfähigkeit.” Am 31. Januar 1896 vorübergehend Parese des Stirnfacialis.
Kunn denkt an progressiven Kernschwund oder an asthe¬
nische Bulbärparalyse. Mir scheint letztere Annahme wahr¬
scheinlicher.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Fälle, die mög¬
licherweise zur asthenischen Ophthalmoplegie zu rechnen wären,
') Kunn, Demonstration im Vereine f. Psych. u. Neurol. in Wien. Wiener
klin. Wochenschr. 1896, 10.
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lieber asthenische Ophthalmoplegie.
357
hier nicht vollständig auf gezählt werden können. Schon in den
zuletzt angeführten Fällen war die Deutung unsicher. Sie würde
immer unsicherer, wollten wir noch weitere Fälle anführen, schon
darum, weil auf die hier in Betracht kommenden Punkte, ins¬
besondere die Erschöpfbarkeit von früheren Autoren wohl nicht
entsprechend geachtet wurde. Andererseits hebt schon Mauthner
hervor, dass gerade die Nuclearlähmuug, ehe sie vollständig gewor¬
den ist, sich dadurch auszeichne, „dass die Beweglichkeitsstörung
durch energischen Willensimpuls momentan behoben werden
kann, dass die Bewegung wie in einem behindernden Medium
vor sich geht, dass die Symptome Abends stärker hervortreten
können als am Morgen”. Wir müssen auch betonen, dass selbst
die abnorme Erschöpfbarkeit, eine so wichtige und charakte¬
ristische Erscheinung sie ist, doch wieder nicht ausschliess¬
lich der asthenischen Bulbärparalyse und asthenischen
Ophthalmoplegie zukommt.
Von Wichtigkeit ist hier insbesondere ein Fall von Ka¬
lischer: 1 )
„Bei einem 64jährigen, bisher gesunden Manne tritt ohne bestimmtes
ätiologisches Moment (vielleicht Gram, Ueberanstrengung, Tabakmissbrauch) erst
rechts eine Ptosis mit vorübergehender Diplopie auf und kurz darauf auch links.
In wenigen Tagen waren alle äusseren Augenmuskeln paretisch, respective para¬
lytisch, während die inneren anfangs frei, später auch vorübergehend paretisch
wurden. Dabei fehlten alle Allgemeinerscheinungen, wie Fieber, Kopfschmerz,
Neuritis optica, Erbrechen, Schwindel, Benommenheit u. s. w., und die anderen
Hirnnerven waren frei bis auf eine Schwäche im rechten unteren Facialis. Fast
gleichzeitig, vielleicht 2 bis 8 Wochen später, trat eine schlaffe symmetrische
Parese, respective Lähmung erst der unteren und dann der oberen Extremitäten
auf; später wurden auch die Rumpfmuskeln betroffen. Die Extensoren waren
mehr gelähmt als die Flexoren, die Endglieder der Extremitäten vielleicht ein
wenig mehr als die proximalen Theile. Dabei bestand ein Verlust der Sehnen-
reflexe ohne Ataxie, noch Veränderung des Lagegefühles. Die faradische Erreg¬
barkeit der Muskeln und Nerven war herabgesetzt, respective aufgehoben; an¬
scheinend lag keine Entartungsreaction vor; fibrilläre Zuckungen traten nicht
auf, und es fehlte eine sichtbare Atrophie der gelähmten Muskeln im Verlaufe
der Krankheit (circa 4 1 / 2 Monate). Die Spbincteren blieben unversehrt, und nie
konnten irgend welche Sensibilitätsstörungen objectiv nachgewiesen werden,
obwohl eine geringe Druckempfindlichkeit der cerebralen und spinalen Nerven-
stämme in ihrem peripheren Verlaufe und zeitweilige leichte Parästhesien in den
Händen auftraten. Nach anfänglich progressivem Verlaufe blieb die Lähmung
stationär und zeigte Remissionen in ihrem allgemeinen Verlaufe. Abgesehen von
9 Kalischer 1. c.
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358
Dr. J. P. Karplus.
diesen trat stets nach Ruhe und besonders Morgens eine vorübergehende Besserung
der Lähmungen ein, der jedoch eine schnelle Erschöpfbarkeit und Ermüdung
folgte. 4V2 Monate nach dem Beginne des Leidens trat der Tod ziemlich plötz¬
lich, anscheinend an einer Respirationslähmung ein, ohne dass andere Erschei¬
nungen als die genannten vorher auf eine Betheiligung der Medulla oblongata
hingewiesen hatten. Die Sprache, das Schlucken u. s. w, sowie die psychischen
Functionen waren unbetheiligt geblieben.” Bei der mikroskopischen Untersuchung
fand sich Poliencephalomyelitis subacuta. Gefässdilatationen, Hämorrhagien und
degenerativ atrophische Zustände der Ganglienzellen des centralen Höhlengrau.
Kalischer vereinigt seinen Fall und mehrere andere von
den Autoren nicht hierher gerechnete, welche ebenfalls mehr
minder ausgesprochene Ermüdbarkeit zeigten, mit den ange¬
führten Fällen von asthenischer Bulbärparalyse zu einer Gruppe,
die er als Poliencephalomyelitis bezeichnet und von der er
folgendes Krankheitsbild entwirft:
„Sie erhält ein charakteristisches Bild durch den subacuten oder chroni¬
schen Verlauf über Jahre und Jahrzehnte bei subacutem, acutem oder schleichen¬
dem Beginne; die scheinbaren Heilungen, respective Remissionen für Monate
und Jahre; die täglichen Schwankungen im Verlaufe; das Symptom der Erschöpf¬
barkeit und Ermüdbarkeit der Muskeln; die Betheiligung der Augenmuskeln und
Extremitäten bei vorwiegend bulbären, unregelmässig localisirten Lähmungen;
das Ausbleiben oder späte und geringe Auftreten der Muskelatrophie; das Fehlen
sensibler und sensorischer Störungen, sowie von cerebralen Allgemeinerscheinungen:
die Heilbarkeit; den häufigen plötzlichen letalen Ausgang; den nicht selten nega¬
tiven mikroskopischen Befund u. s. w. Diese und andere, wenn auch nicht in
jedem einzelnen Falle vorhandenen Erscheinungen geben dem Krankheitsbilde
ein eigenes Gepräge. Dasselbe wird sehr variiren, je nachdem die Augenmuskeln
oder die Kau-, Sprach-, Sehluckmuskeln oder die Extremitäten- und Rumpf¬
muskulatur zuerst oder vorwiegend im ganzen Verlaufe betroffen sind, und so wird
das Bild einer nuclearen Ophthalmoplegie, einer Bulbärparalyse oder einer
spinalen Muskelatrophie, respective Poliomyelitis vorgetäuscht werden. Ferner
wird das Krankheitsbild durch das Vorhandensein oder Fehlen, wie durch den
Grad der Muskelermüdbarkeit und Erschöpfbarkeit erheblich beeinflusst werden.
Die letztere kann völlig in den Vordergrund treten und das Krankheitsbild be¬
herrschen, wie in den zwei Fällen Jolly’s, oder sie wird durch die constant
andauernde Parese und Schwäche oder durch eine chronische fortschreitende
Lähmung verdeckt.”
Den mehrfachen negativen Sectionsbefunden (Wilks, Oppenheim, Eisenlohr,
Jolly, Senator, Hoppe, Shaw, Strümpell) gegenüber meint Kalischer, auch trotz
bemerkenswerther anderer Differenzen, die Zusammengehörigkeit seines Falles
mit der asthenischen Bulbärparalyse doch aufrecht erhalten zu sollen. Er sieht
seinen Befund, sowie die von Mayer gefundenen Degenerationen intermedullärer
Wurzelfasern als secundär, als accidentell an, die eigentliche Krankheitsursache
liege in der gleichzeitigen Schädigung der Ganglienzellen des centralen Höhlengrau.
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lieber asthenische Ophthalmoplegie.
359
Die Auffassung von Kalischer ist mehrfach auf Widerspruch ge-
tossen (Jolly, Fajersztajn); Strümpell erklärt rundweg, im Falle
Kalischer’s liege „ein ganz anderer Process” vor als bei der astheni¬
schen Bulbärparalyse. (Verschwinden der Partellarreflexe, Verschwinden der
elektrischen Erregbarkeit in zahlreichen Muskeln und Nerven, die degenerativen
Veränderungen an den Ganglienzellen werden von Strümpell als die wichtigsten
Unterscheidungsmerkmale hervorgehoben.)
Jedenfalls geht aus dem Kalischer’schen Befunde her7or, dass abnorme
Erschöpfbarkeit und negativer Sectionsbefund nicht nothwendig miteinander
verbunden sind; allerdings gibt Kaliseher selbst zu, dass sein Befund das
Symptom nicht erklärt.
Wie weit seine Anschauungen sonst berechtigt sind, können erst weitere
genaue klinische Beobachtungen und vor allem genaue anatomische Untersuchungen
entscheiden.
Würden sich die von uns oben als asthenische Ophthalmo¬
plegie angeführten Fälle — insbesondere unser Fall und Fall
Camuset — von den anderen Formen der Ophthalmoplegien nur
durch das Symptom der abnormen Erschöpfbarkeit unterscheiden,
so könnte die Berechtigung, ihnen aus diesem Grunde eine Sonder¬
stellung unter den Ophthalmoplegien zu geben, nach dem
Mitgetheilten vielleicht* angezweifelt werden. Allein, dass
auch andere Gründe zur Aufstellung dieser besonderen Gruppe
unter den Ophthalmoplegien drängen, geht einerseits aus der
oben zusammengestellten Fülle von Symptomen hervor, die
unsere Fälle von anderen Ophthalmoplegien unterscheiden und
der asthenischen Bulbärparalyse an die Seite stellen, anderer¬
seits — und das ist wohl ein schlagender Beweis — sah
sich Mauthner, 1 ) der die Bedeutung der Ermüdung in dem
Falle Camuset übersah, trotzdem genöthigt, dem Falle wegen
der Heilung der chronischen Ophthalmoplegie und den immer
wiederkehrenden ßecidiven eine Sonderstellung unter den Oph¬
thalmoplegien einzuräumen, und die Autoren über asthenische
Bulbärparalyse, die von der Ermüdung im Falle Camuset
nichts wussten, wiesen doch mehrfach auf Beziehungen dieses
Falles zu ihren Fällen hin.
Nach all dem Gesagten halten wir uns zur Aufstellung
des Begriffes der „asthenischen Ophthalmoplegie'’ für
berechtigt.
l ) Mauthner, Die ursächlichen Momente der Allgenmuskellähmungen.
Wiesbaden 1886.
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360
Dr. J. P. Karplus.
Die ausführlichen theoretischen Auseinandersetzungen der Autoren, ins¬
besondere von Jolly, Murri, Strümpell, Kalischer über Myasthenie und
über das Wesen der asthenischen Bulbärparalyse können unverändert auch für
die asthenische Ophthalmoplegie, die ja dem Wesen nach dieselbe Krankheit
darstellt, Anwendung finden. Wir haben nach dieser Richtung den Ausführungen
der genannten Autoren nicht viel hinzuzufügen und verweisen bezüglich der
vielen Einzelheiten unserer Fälle, die wir hier nicht noch einmal durchsprechen
wollen, auf die Krankengeschichten. Erwähnen wollen wir, dass monate- und
jahrelange Remissionen, jahrelanger Verlauf, wie in unseren Fällen auch bei der
asthenischen Bulbärparalyse wiederholt beobachtet wurden, jedoch niemals eine
20jährige oder gar 35jährige Krankheitsdauer. Auffallend könnte auch er¬
scheinen, dass in dem eingangs beschriebenen Falle die Krankheit im 5. Lebens¬
jahre begann, während unter den zahlreichen Fällen asthenischer Bulbärparalyse
der früheste Krankeitsbeginn in das 12., der häufigste um das 20. Jahr fiel und
in manchen Fällen die Krankheit erst um das 30. Jahr begann. Strümpell
bemerkt, dass das Auftreten in der Jugend nicht genug constant sei, um für die
Annahme einer endogenen Natur verwerthet werden zu können. Wir möchten
da hervorheben, dass unsere Patientin, als sie wegen Schwäche und Müdigkeit
der Extremitäten in das Spital kam, nicht im entferntesten daran dachte, die seit
vielen Jahren auftretenden Ptosisperioden damit in Zusammenhang zu bringen.
Tn einzelnen Fällen könnte der schwere Anfall asthenischer Läh¬
mung, von dem die Autoren in den Krankengeschichten berichten,
vielleicht doch nicht die erste Manifestzftion des Leidens gewesen
sein; wenn etwa ein früherer leichter Anfall nur durch Ermüdbarkeit der
Extremitäten sich bemerkbar machte, denkt der Patient, falls dann ein schwerer
Anfall mit Ptosis, Diplopie, schweren bulbären Störungen debutirt, nicht an
einen Zusammenhang, hat vielleicht den früheren Anfall vergessen, und auch
für den Arzt ist es schwerer, eine Ermüdbarkeit der Extremitäten nachträglich
als eigenartiges und für die Beurtheilung der gesammten Krankheit wichtiges
Phänomen zu erkennen, als eine Ermüdbarkeit des Levator palpebrarum. Viel¬
leicht haben auch die ätiologisch öfter angeführten acuten Krankheiten nur die
Bedeutung von agents provocateurs. Der von uns mit Wahrscheinlichkeit zur
asthenischen Ophthalmoplegie gerechnete Fall Mauthners betraf auch ein
öjähriges Kind. In der Familiengeschichte unserer Kranken, der wir mit be¬
sonderer Sorgfalt nachgegangen sind, haben wir ein unterstützendes Moment für
die Annahme einer endogenen Natur der Krankheit vergebens gesucht. Die
Prognose quoad vitam könnte man bei der asthenischen Ophthalmoplegie viel¬
leicht etwas günstiger stellen als bei der asthenischen Bulbärparalyse, doch muss
man auch bei ersterer jederzeit auf die Möglichkeit des Hereinbrechens schwerer
bulbärer Störungen gefasst sein.
Von einer Reihe von Autoren über asthenische Bulbär¬
paralyse ist auf die periodische Oculomotoriuslähmung
hingewiesen und eine Aehnlichkeit im Wesen der beiden Krank¬
heiten theils als wahrscheinlich, theils als unwahrscheinlich hin¬
gestellt worden. Auch wir Avollen diesen Punkt kurz erwähnen,
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Ueber asthenische Ophthalmoplegie.
361
einerseits weil die asthenische Ophthalmoplegie der periodischen
Oculomotoriuslähmung ja noch um einen Schritt näher stünde
als die asthenische Bulbärparalyse, andererseits weil in den
letzten Jahren auf der Klinik des Herrn Hofrathes v. Krafft-
Ebing eine Anzahl zum Theile bereits publicirter Fälle von
periodischer Oculomotoriuslähmung zur Beobachtung kamen. ’)
Auch war das Periodische, das Auftreten in einzelnen Attaquen,
im Falle Camuset und in unserem Falle ausserordentlich deut¬
lich hervortretend.
Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass alle von
den Autoren zur periodischen Oculomotoriuslähmung gerechneten
Fälle ein und dieselbe Krankheit darstellen. Periodische
Oculomotoriuslähmung ist ein klinisches Symptomen-
bild. In den beiden Fällen, die zur Autopsie kamen (Thomsen-
Richter 1 ) und Karplus,) 2 ) wurden an der Hirnbasis unmittelbar an
der Dura Oculomotoriustumoren gefunden, und es kann mit
Sicherheit angenommen werden, dass in diesen beiden Fällen
die periodische Oculomotoriuslähmung Symptom des basalen
Tumors war; hier war die den einzelnen Anfall einleitende
Migräne zweifellos als symptomatische Migräne anzusehen. Es
ist sehr wahrscheinlich, dass der grösste Theil der Fälle von
periodischer Oculomotoriuslähmung ebenfalls grob anatomischen
basalen Läsionen seine Entstehung verdankt. Die Möglichkeit,
dass in manchen Fällen ein nuclearer Process der Krankheit zu
Grunde liegt (Möbius), 3 ) muss zugegeben werden. Auch könnten
einzelne Fälle im Sinne Charcot’s 4 ) als Migraine ophthalmo-
plegique aufzufassen sein, in denen der Krankheit keine grobe
anatomische Läsion zu Grunde liegen würde. Dass jene Fälle,
in denen die periodische Oculomotoriuslähmung Symptom einer
palpablen anatomischen Kern- oder Basisläsion ist, von unserer
Krankheit verschieden sind, bedarf keines weiteren Beweises.
Allein auch in Hinsicht auf jene hypothetischen Fälle periodischer
Oculomotoriuslähmung ohne grob anatomische Grundlage, die
möglicherweise zu der genuinen Migräne gehören, möchten wir.
<) Richter, Arch. f. Psych. 1886 (Thomsen-Oharitö-Annalen 1885).
2 ) Karplus, Wiener klin. Woehenschr. 1895, 50 bis 52.
3 ) Möbius, Berliner klin. Woehenschr. 1884, 38.
4 ) Charcot, Progres inöd. 1890, XII, 31, 32.
Jahrbücher f. Pnychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 24
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362
Dr. J. P. Karplus.
mit Rücksicht auf die klinische Erscheinungsweise der
beiden Krankheiten, annehmen, dass ein wesentlicher Unter¬
schied zwischen ihnen und der asthenischen Bulbärparalyse
besteht.
Ueber den von einzelnen Autoren, wie uns scheint mit Unrecht, als eine
Art Uebergangsfall angesehenen Fall Duboys (Dufour, Annales d’oculistique
1890, Obs. 82, p. 124, können wir kein sicheres Urtheil abgeben, da uns nur das
hierzu ungenügende Referat Dufour’s zu Gebote stand.
Zum Schlüsse erfülle ich eine angenehme Pflicht, indem
ich meinem hochverehrten Lehrer und Chef Herrn Hofrath
v. Krafft-Ebing für die Unterstützung bei dieser Arbeit auch
an dieser Stelle meinen wärmsten Dank ausdrücke.
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Referate.
Ueber den Querulantenwahnsinn, seine nosologische Stellung
und seine forensische Bedeutung. Eine Abhandlung für Aerzte
und Juristen. Von Dr. Eduard Hitzig. Verlag von F. C. W
Vogel, 1895.
Verfasser knüpft in dieser Schrift an die bisher von den
verschiedenen Autoren geltend gemachten Ansichten über diese
Krankheitsform und insbesondere ihre Beziehungen zu den Zuständen
geistiger Schwäche an, macht auf die vorhandenen Meinungsver¬
schiedenheiten aufmerksam und gedenkt hierbei auch ganz besonders
der neuestens vielfach und immer wieder laut werdenden Bufe nach
Reform des Irrenwesens, kurz jener Bewegung, deren Ausgangs¬
punkt und wesentlicher Inhalt im besonderen Masse die verrückten
Querulanten bilden. An der Hand mehrfacher eigener Beobachtungen
bringt Verfasser kritische Erörterungen über das Wesen und die
nosologische Stellung der querulirenden Verrücktheit, und gipfeln
seine Erwägungen in folgenden Sätzen:
1. Die chronische primäre Verrücktheit (Paranoia) ist nach
ihrer Entwickelung, ihrem Wesen und ihrer Bedeutung für die
psychische Persönlichkeit eine durchaus eigenartige Krankheit, die
sich von den typischen Formen jeder anderen Geistesstörung in
der schärfsten Weise absetzt.
2. Insbesondere sind die typischen Formen der Geistesstörung
aus Zwangsvorstellungen, des hallucinatorischen Irreseins, der Manie
und Melancholie in jeder dieser Beziehungen auf das Bestimmteste
von ihr zu trennen.
3. Dagegen unterscheidet sich der sogenannte Querulanten¬
wahn nach jeder dieser drei Bichtungen grundsätzlich nicht von
der Paranoia.
24*
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364
Keferate.
4. Quantitative Verschiedenheiten zwischen den einzelnen
Fällen des Leidens finden sich auch bei den anderen Formen der
chronischen Verrücktheit und berechtigen schon deshalb nicht zur
Abtrennung einzelner Fälle der querulirenden Verrücktheit von der
Gesammtgruppe. Am wenigsten kann aus solchen Fällen die Be¬
rechtigung zur Wiedererweckung der obsoleten Lehre von den
Monomanien entnommen werden. Vielmehr ist die querulirende
wie die chronische Verrücktheit im Allgemeinen stets als ein Leiden
der gesammten psychischen Persönlichkeit aufzufassen, auch wenn
im Einzelfalle nur intellectuelle Störungen und nur solche be¬
schränkten Umfanges diagnosticirt sein sollten.
5. Der primären chronischen Verrücktheit, wenn auch nicht
nach ihrer Entwickelung, so doch nach ihrem Wesen und nach
ihrer Bedeutung für die psychische Persönlichkeit äquivalent, kann
sich eine secundäre chronische Verrücktheit aus einer Anzahl von
acuten Psychosen entwickeln.
6. Die Bezeichnung der letzteren als acute Paranoia ist so
lange und insoweit unberechtigt, als der Nachweis der gleichen
degenerativen Tendenz für sämmtliche dahin gerechnete Formen
nicht beigebracht werden kann. Bis jetzt ist dies unmöglich.
7. Die Mischformen und Uebergangsformen dürfen, so wichtig
sie auch in praktisciier Beziehung sind, für den theoretischen Zweck
der Classification nur mit grosser Vorsicht benützt werden.
Verfasser verbreitet sich des Weiteren über die Geistes¬
schwäche der Verrückten unter Beschränkung des Begriffes Demenz
auf unheilbare Zustände geistigen Defectes, welcher sich vorwiegend,
aber nicht ausschliesslich auf dem Gebiete der Verstandesthätigkeit
äussert; er bekämpft dabei die Ansichten jener Autoren, besonders
Ziehen’s, welche den Bestand eines Intelligenzdefectes bei der
Paranoia in Abrede stellen; auch wendet er sich gegen die Be¬
zeichnung der Störung als einer functionellen und erklärt, dass der
die Correctur der Wahnvorstellungen behindernde psychische
Schwächezustand mit grösster Wahrscheinlichkeit auf feinere ana¬
tomische Veränderungen des Gehirns zurückzuführen sei.
In forensischer Hinsicht spricht Verfasser die Ansicht aus,
es seien je nach dem im Einzelfalle verschiedenen Grade der
Geistesstörung, insbesondere der psychischen Schwäche, die im
Interesse des Kranken, wie dritter Personen zu treffenden Mass¬
nahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu bemessen. Die Frei¬
sprechung im Strafprocesse, sowie die Entmündigung rechtfertigen
sich nur dann, wenn die geistige Störung einen solchen Grad er¬
reicht hat, dass durch sie die Fähigkeit, normal zu überlegen,
wesentlich beeinträchtigt wird, beziehungsweise wenn durch sie
die eigenen Interessen der Kranken oder die Rechte Dritter bedroht
werden. Die sachgemässe Feststellung der Beurtheilung all dieser
Umstände kann einerseits nur durch wirklich sachverständige Aerzte,
andererseits nur durch Richter, welche eine gewisse psychiatrische
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Referate.
365
Vorbildung, Schulung in der Beurtheilung psychiatrisch forensischer
Fälle und Welterfahrung besitzen, mit Erfolg vorgenommen werden.
Es sind sehr wichtige Fragen nicht nur rein theoretischer
Natur, sondern, wie aus obigen Andeutungen zu ersehen, auch sehr
beachtenswerte Ratschläge für die gerichtsärztliche Praxis, welche
das vorliegende Buch ausführlich behandelt. Wenn sich auch gegen
einzelne der ausgesprochenen Sätze gerechte Bedenken und
mancherlei Einwände erheben lassen, so ist nicht zu verkennen,
dass diese Abhandlung durch ihre weit ausgreifenden Beziehungen
zur psychiatrischen Gesammtdisciplin, durch ihre Anknüpfung an
die lebhaft empfundenen Bedürfnisse der Praxis, durch mehrfache
neue Gesichtspunkte den Anforderungen modernen Fortschrittes
entgegenkommt, Impulse zu neuen Forschungen wecken und auch
beitragen wird, in dem gegen psychiatrische Fachkreise immer
wieder von neuem angefachten Kampfe der gerechten Sache zum
Siege zu verhelfen. F.
Einführung in die Psychiatrie mit specieller Berücksichtigung
der Differentialdiagnose der einzelnen Geisteskrankheiten. Von
Dr. Th. Becker. Leipzig 1896. Verlag von Georg Thieme.
Preis M. 1.60.
In diesem, 101 Seiten fassenden Büchlein bringt Verfasser einen
kurzen Abriss der wichtigsten Kenntnisse aus dem Gebiete der
Psychiatrie in knapper, dabei verständlicher Form. Er beabsichtigt
damit lediglich eine leichtere Einführung des Anfängers in den
Gegenstand selbst zu vermitteln und beschränkt sich, um eine klare
Orientirung zu ermöglichen, auf eine gedrängte Skizzirung der
typischen Psychosen. Dieser Zweck dürfte denn auch nach der
ganzen Anlage des Büchleins, das auch auf neuere Gesichtspunkte
Bedacht nimmt, erreicht werden. F.
Die Alkoholfrage und ihre Bedeutung für Volkswohl und Volks¬
gesundheit. Eine social-medicinische Studie für Aerzte und
gebildete Laien. Von Dr. August Smith. Tübingen 1895.
0 s i a n d e r'sehe Verlagsbuchhandlung.
Seit der 1886 durch Forel inaugurirten Abstinenzbewegung
hat es nicht an Bemühungen gefehlt, durch Wort und Schrift, nicht
minder durch consequentes Beispiel jene Bewegung auch in Fluss
zu bringen. Obige Studie des um die Alkoholfrage wohlverdienten
Autors bezweckt, durch sachgemässe Darstellung des einschlägigen
Materiales auch weitere Kreise hiefür zu interessiren und von der
Nothwendigkeit der Abstinenzbewegung zu überzeugen. In einer
diesem Zwecke durchaus angepassten Form legt Smith unter Zuhilfe¬
nahme statistischer Daten auseinander, welch wichtige volkswirt¬
schaftliche Interessen hierbei in Frage kommen, welch enorme
Schäden durch den Alkoholconsum dem allgemeinen Wohlstände
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366
Eeferate.
durch Rückgang der Vermögensverhältnisse, durch Charakterdepra-
vation, geistigen Niedergang, durch die mit ihm wachsende Crimi-
nalität etc. zugefügt werden. Verfasser bespricht klar und verständ¬
lich die Art der Alkoholwirkung, insbesondere die Beeinflussung*
psychischer Vorgänge durch den Alkohol, wobei er auch die Resul¬
tate der Experimente Kräpelin’s heranzieht; er unterzieht die be-
kapnten ätiologischen Verhältnisse des Alkoholgenusses einer ebenso
zutreffenden wie scharfen Kritik und knüpft daran eine kurze
Betrachtung des Alkoholismus als Krankheit; er unterscheidet
zwischen den rein conventioneilen Trinkern, bei denen es vorwiegend,
wenn auch oft langsam, zu körperlichem Verfall und Organdegeneration
kommt, und den eigentlichen sogenannten Alkoholisten, bei denen
die Charakterdepravation im Vordergründe des Krankheitsbildes
steht.
Bei vielen der conventioneilen Trinker kommt es, und zwar
stets auf Grund endogener Veranlagung zu den Symptomen der
Alkoholintoleranz, als deren Hauptsymptom die Trunksucht anzu¬
sehen ist. Der endogene Charakter der Alkoholintoleranz tritt sehr
klar bei Epileptikern zu Tage und gehören fast alle Formen von
Alkoholismus bei Individuen zwischen 17 bis 25 Jahren zu den
epileptoiden; Verfasser bemerkt nebenbei, dass all diese Formen
auch ohne Alkoholgenuss durch intensive Gemüthsbewegungen —
Eifersucht, gekränktes Selbstgefühl — exacerbiren und zu Anfällen
führen können, in denen die Kranken die Herrschaft über sich
selbst völlig verlieren und in schwere Wuthausbrüche gerathen
können; er weist auch auf die forensische Wichtigkeit dieses Capitels
wegen der in alkoholischen Dämmerzuständen unterlaufenden Ge¬
meingefährlichkeit hin, desgleichen auf die Beziehungen zwischen
Alkoholgenuss und neuropsychopathischer Anlage überhaupt. Als rein
alkohologen, reiht Verfasser das Delirium tremens dem hallucina-
torischen Wahnsinn an, als deren Ausgang frühzeitiger Schwachsinn
sich ergibt.
Als secundären Alkoholismus zieht Smith in Betracht neben
dem epileptogenen Alkoholismus (der echten Dipsomanie) den die
Imbecilität begleitenden Alkoholismus, ferner den Alkoholismus bei
periodischen und circulären Psychosen, besonders auch bei Paralyse;
er erwähnt auch des möglichen Zusammenhanges des Alkoholismus
mit Neurasthenie und Hysterie.
Nachdem Verfasser auch die pathologische Anatomie des
Alkoholismus in den wichtigsten Zügen gestreift, bringt er eine
sehr interessante Abhandlung über Mortalität und Morbidität unter
Berufung auf statistische Belege.
Besonders eingehende Würdigung erfährt die Behandlung der
bestehenden Alkoholvergiftung vom ärztlichen und juristischen Stand¬
punkte, sowie die Prophylaxis der Trunksucht. Diese kennzeichnet
Smith lediglich als Symptom eines latenten Zustandes, das aus¬
schliesslich durch die geringste Alkoholzufuhr wachgerufen wird;
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Referate.
367
er betont auch die Nothwendigkeit der Behandlung Trunksüchtiger'
in Anstalten, weist auf die Bedenken hin, welche gegen die Heran¬
ziehung der Nerven-, beziehungsweise Irrenheilanstalten zu diesem
Zwecke sprechen und plaidirt im Sinne Forel’s für die Errichtung
von Trinkerasylen, verlangt aber freiwilligen Eintritt der Kranken.
Nach seinen Erfahrungen sind die Alkoholiker vom Momente der
Alkoholentziehung Beconvalescenten, die bereits in 1 bis 2 Wochen
einsichtig geworden sind, und lässt sich in all jenen Fällen, wo
dies nicht eintritt, schliessen, dass der Betreffende gar nicht reiner
Alkoholiker war, sondern der Alkoholismus nur eine Theilersehei-
nung oder Consequenz eines abnormen Geisteszustandes bei ihm
ist; solche Fälle müssten als ungenügend für die Behandlung in
einem Asyl wieder entfernt werden.
Eine Entmündigung des Patienten sollte erst dann eintreten,
wenn eventuell wiederholte Aufenthalte genügend langer Dauer
daselbst resultatlos geblieben sind; für die circa 70 Procent heil¬
barer sogenannter Trunksüchtiger wäre eine solche auf der blossen
Constatirung der Trunksucht fussende Massnahme nur von Uebel.
Gesetzliche Bestimmungen, betreffend die Versorgung von Gewohn¬
heitstrinkern, erscheinen zur gedeihlichen Lösung all dieser Fragen
unerlässlich. Was die Beurtheilung von in der Trunkenheit verübter
Delicte anlangt, so erscheint der Nachweis von Wichtigkeit, ob es
sich um ein rein unter Alkoholwirkung impulsiv begangenes Affect-
verbrechen gehandelt hat, oder ob der Betreffende sich in Absicht
eines Verbrechens Muth angetrunken; Smith verweist auf die seiner¬
zeit von Forel diesbezüglich aufgestellten Gesichtspunkte.
Mit aller Energie spricht sich Verfasser für die absolute
Alkoholabstinenz als die einzig wirksame Methode aus, den vielfachen
und unberechenbaren Schäden dieser fortschreitenden Volksver-
seuchung zu begegnen und perhorrescirt solche gesetzliche Be¬
stimmungen, welche nur halbe Massregeln bedeuten und nicht auf
die definitive Beseitigung des Alkohols als Genussmittel abzielen.
F.
Ueber Reform der Irrenpflege. Von Dr. Friedrich Scholz.
Leipzig 1896. Verlag von G. H. Mayer.
Anknüpfend an die 1895 erschienene Broschüre des Professor
v. Kirchenheim und des Rechtsanwaltes Reinartz „Zur Reform des
Irrenrechtes”, deren Thesen Verfasser einer ebenso kurzen wie
zutreffenden Kritik unterzieht, bringt derselbe jene Momente zur
Erörterung, die thatsächlich geeignet erscheinen, berechtigten Grund
zu Klagen zu geben.
Während er in Strafsachen den Nachweis der Geisteskrankheit
zur Zeit der That für genügend erachtet, weist er auf die Unzu¬
länglichkeit dieses Nachweises für Zwecke der Entmündigung hin,
da hier jedesmal der specielle Nachweis erbracht werden muss,
dass und inwiefern gerade durch die Krankheit und ihren Grad
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368
Referate.
der Begutachtete seine Angelegenheiten selbst wahrzunehmen ausser
Stande ist. Als besonderen Uebelstand kennzeichnet er auch die
nicht selten zu Tage tretende Neigung, einzelne Abweichungen vom
Normaltypus ohneweiters als etwas Pathologisches, in verbreche¬
rischen Anlagen unwiderstehliche Triebe, moral insanhy zu er¬
blicken, und warnt er insbesondere vor allzu grosser Sorglosigkeit
gegenüber den Angaben der Angehörigen in solchen Fällen.
Auf möglichste Erleichterung und Beschleunigung des Auf¬
nahmeverfahrens bei genauer Beachtung der betreffenden Bestim¬
mungen, andererseits auf Vermeidung unnöthiger Verzögerung der
Entlassung, Wahl des richtigen Zeitpunktes desselben, Berücksichti¬
gung der Wünsche von ihres Selbstbestimmungsrechtes nicht völlig
beraubten Kranken legt Verfasser Werth und er regt auch an, zur
Unterbringung von zahlreichen Kranken der öffentlichen Anstalten,
die ebenso gut anderwärts leben könnten, die sogenannten freien
Verpflegungsformen anzustreben. Die bisher geübte staatliche Auf¬
sicht sollte nach Scholz am besten durch freigewählte Vertrauens¬
männer — aus Laienkreisen — ersetzt werden, da hiermit Ver¬
ständnis und Interesse für das Irrenwesen auch im Publicum er¬
weckt würden.
Bezüglich bestimmter Reformvorschläge bemerkt Scholz, es
wäre vor allem die Schaffung einer entsprechenden staatlichen
Centralstelle für das Irrenwesen nothwendig, weiterhin Verbesserung
der Stellung der Anstaltsärzte, Entlastung zu grosser Anstalten
durch Decentralisation, Einrichtung von Irrencolonien, bessere Aus¬
bildung der Aerzte in der Psychiatrie. Für geisteskranke Verbrecher
wünscht Scholz die Unterbringung in eigenen Adnexen der Straf¬
anstalten oder in grösseren Centralanstalten. Die Irrenanstalten, die
nach Scholz besser Asyle genannt werden sollten, hätten ferner
den Charakter des Gefängnissartigen abzustreifen, sollten Kranken¬
häusern ähnlich und möglichst im Pavillonstile gebaut und mit
behaglichen Räumen versehen werden, und der Isolirzellen voll¬
ständig entrathen, was durch ausgiebige Anwendung der Bett¬
behandlung mit Wachtabtheilungen am besten angebahnt würde.
Dass auch die Wärterfrage besondere Würdigung erfährt, ist
selbstverständlich; Hebung des Pflegepersonales stellen nebst Ab¬
schaffung der Tobzelle die wichtigsten Desiderien dar, denen Ver¬
fasser noch grössere Freiheit in der Zulassung von Kranken¬
besuchen, sowie Abschaffung uniformirter Krankenkleidung anreiht.
Hinsichtlich der Unterweisung des Wartepersonales in Pflege
und Umgang mit den Kranken möge hier speciell auf die in zweiter
Auflage bei Heinsius Nachfolger in Bremen erschienenen „Vorträge
über Irrenpflege” desselben Verfassers aufmerksam gemacht
werden, die eine sehr brauchbare Anleitung unter Zugrundelegung
der nöthigsten theoretischen Vorbemerkungen geben, wobei aller¬
dings ein entsprechender, in Kreisen des Pflegepersonales nicht
überall vorhandener Bildungsgrad vorausgesetzt wird.
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Referate.
369
Obzwar einzelne der im Vorhergehenden nur skizzenhaft
berührten Auseinandersetzungen des Verfassers nicht einwandfrei
sind, wird jeder unbefangene Leser billigerweise zugeben müssen,
dass Scholz in der That manche Mängel rückhaltlos besprochen
hat, die dem Irrenwesen derzeit noch anhaften, und dass er nicht
mit Unrecht die Aufmerksamkeit der betheiligten Kreise auf ver¬
einzelte wunde Punkte gelenkt hat, deren Remedur im Interesse
der guten Sache, die Verfasser allein im Auge hat, nur dringend
gewünscht werden kann. F:
Seitenstrangerscheinungen bei acuten Psychosen. Von Dr. K.
Bonhoeffer. Aus Wernicke: Psychiatrische Abhandlungen,
2. Heft. Breslau 1896. Schletter’sche Buchhandlung. 1 M.
An der Hand mehrerer klinisch beobachteter, vom Verdachte
einer etwaigen Paralyse freier Fälle macht Verfasser aufmerksam
auf das gelegentliche Vorkommen eines eigenthümlichen spastischen
Symptomencomplexes mit den wesentlichen Merkmalen der Pyra-
midenseitenstrangaffection im Verlaufsbilde acuter Psychosen. Das
acute Auftreten dieser Symptome, die auffallenden Schwankungen
in ihrer Intensität, vorübergehend selbst subnormale Beschaffenheit,
schliesslich völliges Schwinden der Spasmen neben intensiver Re¬
flexsteigerung geben jenem Oomplexe ein besonderes Gepräge, da
die Spasmen mit der bei acuten Psychosen häufig zu beobachtenden
Negativität nichts zu thun haben. Mehrfache Erwägungen legen den
Schluss nahe, dass die sogenannten Seitenstrangsymptome nicht
einfache Folgen absteigender Pyramidendegeneration sind und dass
bezüglich des Muskeltonus im Sinne der Bastian’schen Theorie Be¬
ziehungen zwischen Kleinhirn und Rinde der Centralwindung be¬
stehen. — In den betreffenden Fällen handelte es sich meist um
schwere, mit Angst, Hallucinationen, hypochondrischen Elementen
einhergehende Depressionszustände weiblicher Individuen in Kli¬
makterium, im Verlaufe deren während der Zeit der schwersten
Acuität des Krankheitsprocesses im Anschlüsse an den rapiden Ab¬
fall des Körpergewichtes die spastischen Symptome auftraten. Regel¬
mässig konnte Verfasser in den betreffenden Fällen einen dem
alkoholistischen ähnlichen Tremor, sowie eigenartige mimische
Pseudospontanbewegungen in der Gesichtsmuskulatur, besonders im
Mundgebiete, als wahrscheinlichen Ausdruck psychomotorischer Reiz¬
vorgänge constatiren, welche Symptome mit Rücksicht auf den
Verlauf jener Fälle infauste Begleiterscheinungen schwerer, zu
psychischem Defect führender acuter Psychosen darstellen.
F.
Periodische Depressionszustände und ihre Pathogenesis auf
dem Boden der harnsauren Diathese. Von Prof. C. Lange
in Kopenhagen. Autorisirte deutsche Ausgabe von Dr. Hans
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370
Referate.
Kurella. Hamburg und Leipzig 1896. Verlag von Leopold
Voss. Preis 1 M.
Auf Grund vieljähriger Erfahrung gelangt Verfasser dazu, aus
dem Kähmen der Neurasthenie, beziehungsweise Cerebrasthenie
periodisch auftretende Zustände von Depression als ganz eigenartige
Processe auszuscheiden. Es handelt sich dabei um Kranke, die
während ihres Leidens über Müdigkeit und Schlaffheit, über das
Gefühl einer Last klagen, die sich elend und unglücklich, zu jeder
Beschäftigung unaufgelegt fühlen, Mangel an Lebensmuth, an Inter¬
esse und Theilnahme erkennen lassen, dabei der Motivlosigkeit ihres
Unglücksgefühles vollbewusst sind, ebenso auch der Grundlosigkeit
ihrer häufigen unbestimmten Angst. Daneben zeigen sie selten eine
Neigung, ihr Gemüthsleiden einzugestehen, sie klagen mehr über
Kopfschmerzen, Schwindel, Rückenschmerzen, erscheinen häufig ab¬
gemagert, zu Schweissparoxysmen geneigt, schlafen schlecht, haben
geringen Appetit, oft Obstipation. Nie entwickelt sich die Depres¬
sion zu eigentlicher Melancholie und beschränkt sie sich lediglich
auf die Stimmungsanomalie, bezüglich deren Unmotivirtheit durch
äussere Verhältnisse die Kranken stets im Klaren sind.
Es gehört nun zu den charakteristischen Merkmalen dieses
Zustandes, dass er sich in Perioden von allerdings verschiedener
Dauer, wenige Wochen bis mehrere Monate, mit meist etwas
längeren Intervallen wiederholt, wobei — abgesehen von den ge¬
wöhnlichen Abendremissionen — ein mehr wellenförmiger Verlauf des
Depressionsanfalles sich constatiren lässt; der Beginn des Leidens
fällt meist zwischen das 25. bis 35. Jahr, wohl auch darunter.
In ätiologischer Hinsicht verweist Lange auf die hervor¬
ragende Bedeutung der erblichen Disposition, wobei allerdings auch
Gelegenheitsursachen mit von Einfluss sein können; was indes für
die Pathogenese besonders wichtig erscheint, liegt in der Erfahrungs¬
tatsache, dass bei diesen Kranken durchwegs, sowohl während
als auch ausserhalb der Anfälle eine Neigung zur Ausscheidung
eines an Uraten und Harnsäure sehr reichen Urins angetroffen wird.
Die Thatsache der Erblichkeit der harnsauren Diathese einerseits,
der periodischen Depression andererseits neben theoretischen Er¬
wägungen lassen Lange annehmen, dass in all diesen Fällen zu¬
nächst die Diathese das Grundleiden darstelle, dessen Folgen je
nach der Localisation bald als Depression, bald als Gicht, respec-
tive Concrementbildung in Erscheinung treten kann. Durch ent¬
sprechende Bekämpfung der Diathese sei, wenn auch keine Heilung,
so doch weitgehende Besserung möglich; Brompräparate und
Opium seien als direct nachtheilig zu verwerfen. F.
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Referate.
371
Betrachtungen über die Jungfrau von Orleans vom Stand¬
punkte der Irrenheilkunde. Von Dr. William Hirsch (New-
York). Berlin W. 35, 1895. Verlag von Oskar Coblentz.
Preis 75 Pf.
In diesem interessanten Schriftchen unterzieht Verfasser an
der Hand anerkannter historischer Quellen die Persönlichkeit der
Johanna d’Arc vom psychiatrischen Standpunkte einer eindringlichen
Kritik; anschliessend an die Anschauungen einzelner französischer
Psychiater, welche auf die Thatsache der Sinnestäuschungen Jo¬
hannas hin dieselbe für geisteskrank erklärt haben, hebt er die
wichtigen Unterschiede hervor, welche aus den von anderen Autoren
— Hagen, Hecker — herangezogenen Vergleich der Sinnes¬
täuschungen Johannas mit denen hervorragender Männer gerade
zu Gunsten der Annahme einer Geisteskrankheit sich ergeben. Er
kennzeichnet dieselbe als einen typischen Fall von religiösem
Grössenwahn, schildert, wie Johanna schon in frühester Jugend
durch Hang zu Einsamkeit und religiösen Uebungen ganz abweichend
sich entwickelte, wie zu den daraus hervorgegangenen religiösen
Wahnideen mit Hereinbrechen der Pubertät die hallucinatorischen
Elemente sich gesellten; er verweist auch noch auf ihren Hang zu
männlichen Gewohnheiten, auf ihre Vorliebe für Männerkleider
bei anscheinendem Mangel sexueller Triebe.
Wenn nichtsdestoweniger ein neunzehnjähriges Bauernmädchen,
das weder lesen noch schreiben konnte, im Stande war, auf die
Geschicke zweier Völker entscheidenden Einfluss zu üben, so muss
nach Ansicht des Verfassers die Ursache für diese historisch aller¬
dings ganz einzig dastehende Thatsache nicht in einer wunderbaren,
mystischen, übernatürlichen Erscheinung, sondern vielmehr in der
geistigen Versunkenheit jener Zeit, im Aberglauben und religiösen
Fanatismus des Mittelalters gesucht werden. F.
Ueber tabische Gelenkserkrankungen. Von Dr. Konrad Bü-
dinger. Aus der II. chirurgischen Klinik. Prof. Gussenbauer
in Wien. Wien 1896. Br au mü 11 er.
In dieser sehr interessanten Broschüre gibt Verfasser auf Grund
gewonnener Literaturstudien und auf Gruud eingehender klinischer
und anatomischer Untersuchungen eine Uebersicht über die ob¬
erwähnte Frage und kommt zu folgenden Schlüssen: Die tabischen
Gelenkserkrankungen sind in Bezug auf die Entstehung in der
weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle analog mit der Arthritis
deformans, diese ist aber eine Folge der Tabes; die traumatischen
Formen sind ebenfalls durch den Grundprocess, erst in zweiter
Linie durch dessen Folgen beeinflusst. Bei der Tabes sind poly-
articuläre und schwache Gelenkserkrankungen sehr häufig, die
Arthropathia tabica entwickelte sich unter bestimmten Bedingungen
aus dieser Arthritis tabica. Der Beginn der Krankheit ist ein lang-
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Referate.
samer, die acut auftretenden Oedeme sind meist Coincidentien, die
weder die directe Ursache, noch die Folge der Gelenksaffectionen
darstellen. Die benigne Form der tabischen Arthropathie ist über¬
haupt keine Krankheit der Gelenke sui generis, sondern nur eine
Begleiterscheinung der Oedeme. Die abnorme Knochenbrüchigkeit
kommt viel seltener als es scheint zur Geltung, und zwar ebenso
gut bei atrophischen wie bei normalen und sogar hypertrophischen
Knochen. F. H.
Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Er¬
richtung von Nervenheilstätten. Von Möbius. Berlin 1896.
Verlag von S. Karger. Preis 0.5 M.
Es ist ein zweifellos sehr zeitgemässes Thema, welches Verfasser
zum Gegenstände einer kleinen, aber inhaltreichen Abhandlung ge¬
macht hat. In einer auch dem Laien zugänglichen Art werden darin
die therapeutischen Grundsätze für eine erfolgreiche Behandlung
der Neurasthenie dargelegt; Verfasser würdigt die verschiedenen
auf „Ruhe und Seelenfrieden” abzielenden Heilfactoren, den Ein¬
fluss von Religion, Kunst und Wissenschaften, der persönlichen
Umgebung, die psychische Einwirkung des Arztes im Wege von
Wach- oder Schlafsuggestion nach Bedeutung und Werth, um
schliesslich als die Hauptsache in der Therapie die zweckmässig
geleitete Thätigkeit in überzeugender Weise hinzustellen.
Die Nothwendigkeit und Nützlichkeit der Nervenheilanstalten
anerkennend, weist er zunächst darauf hin, dass die bestehenden
Anstalten vor allem nicht dem allgemeinen Bedürfnisse entsprechen,
dass für zahllose Minderbemittelte und Arme überhaupt keine der¬
artigen Anstalten existiren und plaidirt er für die Errichtung neuer
Anstalten auf neuer Grundlage, wobei die Errichtung entweder
durch Staat oder Gemeinde, oder durch öffentliche Mildthätigkeit,
oder durch die verschiedenen Genossenschaften geschehen könnte.
Durch wohlwollende Unternehmer, die für eine gemessene
Zeit auf die Zinsen Verzicht leisten und auch später mit einem
geringen Zinsbeträge und langsamer Tilgung der Schuld sich zu¬
frieden geben würden, bis die Anstalt sich selbst erhalten könnte,
Hesse sich jener Zweck allmählich erreichen. Als anderen Ausweg
schlägt Verfasser vor, dass schon bestehende Vereinigungen sich in
ihrem eigenen Interesse der Sache annehmen, sei es dadurch, dass
grössere Genossenschaften durch Beiträge der Mitglieder die
nöthigen Mittel dazu aufbringen, oder dass alle Verbände sich
betheiligen und nach Massgabe ihrer Antheilscheine am Benützungs-
rechte der Anstalt participiren. Speciell für die Behandlung von
Unfall-Nervenkranken wäre nach Verfasser es sehr wünschenswerth,
w T enn die Genossenschaften durch Abgabe ihrer Kranken an die
aus freier Theilnahme zu errichtenden Anstalten dieselben unter¬
stützen würden. In allgemeinen Umrissen kennzeichnet Verfasser diese
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Referate.
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Heilstätten als solche, die nach dem Muster landwirtschaftlicher
Irrenanstalten einzurichten wären, zu Garten- und Handwerker¬
arbeiten und ähnlicher Beschäftigung ausreichend Gelegenheit geben,
gesunde und ruhige Lage aufweisen müssten; er denkt sich eine
Reihe einstöckiger, zum Theile durch Gänge verbundener Gebäude
von einfacher, doch solider und bequemer Einrichtung, mit den
nöthigen Gesellschaftsräumen, wohl auch mit einer Krankenstation
versehen. Hinsichtlich der Verpflegung hält Verfasser neben ein¬
facher Kost vollen Ausschluss geistiger Getränke für eine der wichtig¬
sten Bedingungen; auch sollte je eine Anstalt nur für ein Geschlecht
bestimmt sein.
Zweifelsohne berührt Verfasser in dieser Schrift einen wunden
Punkt in der Behandlung Nervenkranker; jedem auch nur einiger-
massen beschäftigten Nervenärzte wird die vom Verfasser rückhaltlos
geschilderte Lücke, der Mangel an Nervenheilstätten gerade für
Minderbemittelte sich fühlbar gemacht haben; das weitgehende
Interesse und die besondere Bedeutung der vom Verfasser gegebenen
Anregung lässt es dringend wünschenswerth erscheinen, dass seine
der Hauptsache nach zutreffenden Vorschläge auch allenthalben Ver¬
breitung und verdiente Würdigung erfahren. F.
Nervöse Anlage und Neurasthenie. Von Dr. Otto Dornblüth
Leipzig. H. Hartung u. Sohn. I. Theil der Klinik der Neu¬
rosen für den praktischen Arzt. Preis 2.50 M.
In kuapper Anlage, doch dem praktischen Zwecke durchaus
angepasst, bringt das vorliegende kleine Buch eine sehr brauchbare
Darstellung des Wissenswerthen aus dem weiteren Gebiete der
Neurasthenie. Verfasser beschäftigt sich im I. Theile zunächst mit
den Symptomen der nervösen Anlage und deren Verlaufsverhält¬
nissen, weiterhin mit dem W’esen und den Ursachen, sowie endlich
mit der Frage der Verhütung und Behandlung der nervösen Anlage.
Im n. Abschuitte wird die Neurasthenie als solche nach analogen
Gesichtspunkten abgehandelt. Bei aller Kürze, deren Verfasser in
der Darstellung des Gegenstandes sich befleissigt, kann ihm das
Zeugniss nicht versagt werden, dass er klar und erschöpfend die
einschlägigen Materien behandelt, wobei das Capitel der Therapie
durch eingehende Berücksichtigung sämmtlicher Heilfactoren ganz
besonders hervorzuheben ist. Das sehr handliche, mit Inhaltsver-
zeichniss und Register versehene Buch wird zweifellos von dem
praktischen Arzte gern benützt werden. F.
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XII. Internationaler Medicinischer Gongress Moskau.
7. (19.) bis 15. (27.) August 1897.
Sectiou für Neuropathologie und Psychiatrie.
Programm-Themata:
Für Neuropathologie:
1. Pathologie der Nervenzelle (feinere Structur und deren
pathologische Veränderung).
2. Pathologische Anatomie und Pathogenese der Syringomyelie.
3. Pathogenese und Behandlung der Tabes dorsualis.
Für Psychiatrie:
1. Semiologie der Zwangsvorstellungen.
2. Die Pathogenese der progressiven Paralyse der Irren und
die Abgrenzung dieser Krankheit von verwandten psychischen Er¬
krankungen.
3. Hypnotismus und Suggestion in ihrer Anwendung bei
Geisteskrankheiten und in ihrer Beziehung zur gerichtlichen Medicin.
Es soll auch die Frage über die Chirurgie des Gehirns und
Bückenmarks in einer vereinigten Sitzung mit der chirurgischen
Section discutirt werden. Das Cornite der Section sorgt dafür, dass
ein oder zwei einleitende Vorträge über jede der Programmfragen
von competenten Gelehrten abgehalten werden.
Mittheilungen über von den Referenten selbst ausgewählte
andere Gegenstände aus dem Gebiete der Neuropathologie oder
Psychiatrie sind nicht ausgeschlossen.
Das Cornite, an dessen Spitze die Professoren A. Kojewnikow,
S. Korssakow und W. Both stehen, ersucht die Theilnehmer um
baldigste Mittheilung der Titel ihrer Vorträee, da laut § 16 des
Reglements des XH. Internationalen Mediciük hen Congresses alle
die Thätigkeit desselben betreffenden Vorscnläge im Organisations-
comite des Congresses spätestens bis zum 13. Januar 1897 mitge-
theilt sein müssen.
Adresse: Moskau, Nervenklinik.
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Vnrlarj von Franz TJenticke in YVitmijiiri Leipzig.
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ahrbüchtr für Psychiatrie XV. lith-Anstv.TIiiamwarthXien.
Verlag von FranzDeuticke inWiemmd Leipzig.
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Jahrbücher für Psychiatrie XV. Lith.Anst.v.
Verlag von Franz Deuticke iii YViemnid Leipzig.
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Jahrbücher für Psychiatrie XV.
TeiOag von Franz Detrücke inAYienuiifl Leipzig.
lithAnst .v.TluB arawai
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SCARPATETTI,Compression und Tuberkel im Rückenmark.
Taf.V.
ff CerricaL'Nerv.
V. Cerrica I -ffenr.
ff.Do rsal -Nerv. JI-VEDorsalrXerv-.
5 .
TR-JM. Dorsal rfferv:
VM-]X.Dorsal~Ner\',
9- SacraL - Mark,
müderes ZeruLen-Jffarh muteres ZenderfJfarfc.
Jahrbücher für Psychiatrie XV. liti.AnstylluBaiiiwarth^WieTi.
Verlag von PranzDeirticke inWTemmd Leipzig.
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