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Full text of "Jahrbücher Für Psychiatrie Und Neurolo 1897 15"

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JAHRBUCSEEIl: 

)) für*** * * * - 



PSYCHIATRIE 

und 


NEUROLOGIE. 


HERAUSGEGEBEN 

vom 

Vereine für Psychiatrie und Neurologie 

in Wien. 


REDIGIRT 


Dr. J. Fritscb. 

Professor in Wien. 

Dr. A. Pick, 

Professor in Prajf. 


Dr. v. Kraflt-Ebing, Dr. H. Otateiner. 

Professor in Wien. Professor in Wien. 

Dr. J. Wagner v. Jauregg, 

Professor in Wien. 


Unter Verantwortung von 

Dr. J. Fritsch 


FÜNFZEHNTER BAND. 


LEIPZIG UNI> WIEN. 
FRANZ D E U T I 0 K E. 
1897 . . 


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PV* Die Heiren Mitglieder erhalten von ihren Artikeln 50 Separat - 
AbdHiclce unberechnet , eine grössere Anzahl auf Wunsch gegen Erstattung der 
Herstellungskosten. 

Beiträge für das nächste Heft werden bis Ende März an Herrn 
Prof. Th\ J. Fritsch in Wien, I. Habsburgergasse 1, erbeten . 


Yerlaga-Nr. 504. 


Alle Rechte Vorbehalten. 


Ü. a. k. Hol'buchUruckerei Carl Fromme ln Wien. 


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14 0 0 6 


Inhalt. 


Seite 

Starlinger, Dr. Josef, Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde 

Mit Tafel I-IV. 1 

Calmann, Dr. Adolf, Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit.... 48 

Berze, Dr. Josef, Ueber moralische Defectzustände.62 

Finhelstein, Dr. Leo, Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung 116 

Referate.129 

Bischof!, Dr. Ernst, Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten 

Markes.187 

Elzholz, Dr. Adolf, Beitrag zur Kenntnis des Delirium tremens.180 

Bischoff, Dr. Ernst, Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung . . 221 
Ranschburg, Dr. P., Studien über das normale und hysterische Bewusstsein 262 

Hajös, Dr. L., Ueber hysterische Amnesien.296 

Scarpatetti, Dr. J. v., Befund von Compression und Tuberkel im Rücken¬ 
mark. Mit Tafel V.310 

Karplus, Dr. J. P., Ueber asthenische Ophthalmoplegie . 330 

Referat©.363 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 

(Aus der psychiatrischen Klinik des Herrn Prof. v. Wagner in Wien.) 

Von 

Dr. Josef Starlinger, ehern. I. Assistent. 

Ich habe in Nr. 9 des Neurologischen Centralblattes vom 
Jahre 1895 in einer vorläufigen Mittheilung die Ergebnisse der 
Durchschneidung beider Pyramiden bei drei Hunden kurz ge¬ 
schildert. Diese Versuche wurden seither fortgesetzt, und ich 
bin nun in der Lage, die Resultate von sechs solchen Fällen 
zu berichten, welche klinisch genau beobachtet und mikroskopisch 
untersucht werden konnten. 

Bevor ich auf dieselben jedoch näher eingehe, dürfte es 
nicht unpassend erscheinen, einen kurzen Rückblick über die 
Entwickelung der Lehre von den Pyramidenbahnen voraus¬ 
zuschicken. 

Zum erstenmale finden die Pyramiden nach Bur dach bei 
Eustach (1552 zu Rom) in seinen erst lange nach seinem Tode 
bekannt gewordenen Abbildungen Erwähnung, zu gleicher Zeit, 
als die Sehhügel, Streifenhügel und Brücke Namen und Ab¬ 
bildung erhalten. Willis (1664 Lehrer zu Oxford) nannte sie 
zuerst „Pyramides oder corpora pyramidalia”. Namen, die in den 
folgenden Jahrhunderten verschiedene Autoren durch andere' zu 
ersetzen versucht haben, die sich aber dann bald als die haupt¬ 
sächlichsten und gebräuchlichsten einbürgerten. 

Die Kreuzung 1 ) der Pyramiden wurde fast gleichzeitig von 
Dominico Mistichelli (1709 zu Rom) und Frangois Petit 
(1710 zu Namur) entdeckt. Den Beweis ihrer Existenz lieferte 
erst Petit. Diese Thatsache fand aber Widerspruch bis in die 
Mitte unseres Jahrhunderts, trotzdem, dass Gail (im Beginne 

*) Nach dem früheren Autor. 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd ^ 


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Dr. Josef Starlinger. 


dieses Jahrhunderts) und insbesondere Bur dach sie wiederholt 
und überzeugend beschrieben haben. 

Schon Bosenthal (1815) entdeckte ein näheres Verhältnis, 
indem er zeigte, dass die Kreuzung nur eine partielle sei. 

Ganz besonders genau und überraschend nahe unseren 
heutigen Auffassungen beschreibt die Pyramidenbahnen der 
geniale Burdach (1826). Derselbe fasst seine diesbezügliche 
Kenntniss dahin zusammen: „Der Pyramidenstrang besteht theils 
aus Fasern, welche im vorderen Einschnitte des Rückenmarkes 
vor dem grauen Kernstrange desselben heraufsteigen, theils aus 
Kreuzungsfasern der Seitenstränge.” Nach ihm bildet er, nach¬ 
dem er durch Brücke und Hirnschenkel passirt ist, die Grund¬ 
lage des Streifenhügels. Auch über die Function des Pyramiden¬ 
stranges hat dieser Forscher schon eine ziemlich richtige An¬ 
sicht. Nach seiner Meinung bilden die Pyramiden die Leitungs¬ 
bahnen für die Impulse zur Muskelbewegung, nur glaubt er irrig, 
dass sie auch die Empfindung vermitteln. 

Merkwürdig überraschend klingen bei diesen vorgeschrittenen 
Kenntnissen die Anschauungen des berühmten Stilling in seinem 
Werke „Ueber die Medulla oblongata. Erlangen 1843”. Daselbst 
sagt er: „Bei frischen Präparaten sieht man mit blossen Augen 
den Ursprung der Pyramidenfasern von der vorderen grauen 
Commissur. Eine Kreuzung der Pyramidenfasern ist nirgends wahr¬ 
zunehmen, eine wirkliche Kreuzung findet in der That nicht 
statt. Keine Faser des weissen vorderen Stranges oder der 
Pyramiden der rechten Seitenhälfte geht nach der linken und 
umgekehrt.” 

Ueber die Function schreibt er in dem gleichen Werke, 
Seite 61: 

„Während über die Function der bis jetzt gekannten 
Theile der Oblongata irgend eine Idee zur Aufstellung einer 
Vermuthung leitend war, fehlt dagegen jedes Factum, um über 
die Function der weissen Pyramiden ins Klare zu kommen,” 
und bemerkt in einer Fussnote: „Vielleicht ergeben vergleichend 
anatomische Untersuchungen manches Interessante.” 

Stilling negirt somit direct die Angaben Burdach’s, 
die er kannte. Und nur aus dem Einflüsse Stilling’s ist es 
zu erklären, wie die Burdach’schen Lehren wieder vergessen 
werden konnten, so dass Türck in seinen Arbeiten über 


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Die Durehschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


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secnndäre Erkrankungen einzelner Rückenmarkstränge und 
ihre Fortsetzung zum Gehirn') sie wieder förmlich ent¬ 
decken musste. 

Von Türck rührt die Benennung „Pyramidenseitenstrang¬ 
bahn” und ihre anatomische Auffassung in dem heutigen Sinne 
her. Durch Versuche am Kaninchen machte er wahrscheinlich, 
dass in den Pyramidenseitensträngen vom Grosshirn ausgehende 
motorische Impulse nach abwärts laufen. Von der Pyramiden¬ 
vorderstrangbahn sagt er, dass sie höher endet als der Pyramiden¬ 
seitenstrang. Trotz dieser klaren Darlegung Türck’s und seiner 
Belege durch die Pathologie blieb diese Thatsache nicht wider¬ 
spruchlos und Schiff 2 ) stellt sich wieder ganz auf den Stand¬ 
punkt Stilling’s, indem er sagt: „So steht von physiologischer 
Seite durchaus nichts der Ansicht von Stilling entgegen, dass 
die Pyramiden erst im verlängerten Marke entstehende und die 
aufsteigenden Rückenmarksstränge zum Theile bedeckende, 
zum Theile auseinander drängende Bildungen seien; sie wären 
dann analog dem Corp. restif. auf der Hinterseite”; und weiters: 
„Da wir die Functionen der Pyramiden noch nicht kennen, so 
ist die vielfache Ansicht zu verwerfen, dass die Pyramiden¬ 
kreuzung die gekreuzte Wirkung der Hirntheile auf irgend 
eine Weise erklären könne.” 

Nichtsdestoweniger verschafften sich die Burdach und 
Türck’sehen Anschauungen immer mehr Geltung und wurden 
endgiltig durch die Entdeckungen des motorischen Rinden¬ 
centrums von Fritsch und Hietzig und insbesondere durch die 
überzeugenden Untersuchungen Flechsig’s 3 ) als die allein 
richtigen dargethan und ergänzt zu unserer heutigen Auffassung. 
Flechsig’s Arbeiten auf diesem Gebiete waren anatomisch 
erschöpfend und abschliessend, so dass über diesen Punkt wohl 
kaum besonderes Neues mehr veröffentlicht worden ist. Es ist 
wohl unnöthig, speciell seine Resultate anzuführen, es ist im 
Grossen und Ganzen dasjenige über die Pyramidenbahnen, was 
heute Gemeingut Aller ist. 


') Aprilheft 1851 und Juniheft 1853, Berichte der k. k. Akademie der 
Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Classe. 
s ) Lehrbuch für Physiologie 1858—1859. 

3 ) Leitungsbahnen im Gehirn und Bückenmark. Leipzig 1876. 

1 * 


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Dr. Josef Starlinger. 


Uns mögen diese kurzen historischen Umrisse — ich habe 
gewissermassen nur die Epochen hervorgehoben — wieder 
recht anschaulich vor Augen führen, wie viel Arbeit und Kritik 
erforderlich war, um den anscheinend so einfachen Verlauf dieses 
Faserzuges endlich zu sichern. 

Freilich wenig ermuthigend für die Zukunft, wo noch so 
vieles und gewiss noch Complicirteres zu lösen ist. 

Das im Allgemeinen. Für das Specielle dieser Arbeit möge 
vorerst darauf hinzuweisen erlaubt sein, dass die nachfolgenden 
Versuche experimenteller Art sind und zu Studienzwecken unter¬ 
nommen wurden. Experimentelle Durchschneidungen der Pyra¬ 
miden wurden bisher in ein wandsfreier Weise noch nie aus¬ 
geführt. 

Die secundäre Degeneration dieser Bahn wurde bisher 
nur insofern Gegenstand einer Erörterung, als sie nach Gross¬ 
hirnläsionen in Mitleidenschaft gezogen worden ist, oder 
insofern, als sie bei Rückenmarksläsionen in Verbindung mit 
dem Seitenstrange Berücksichtigung finden mussten. Verfasser 
machte es sich zur Aufgabe, die Pyramidenstränge an einer 
leicht zu isolirenden Stelle in der Gegend der Medulla oblon- 
gata zu unterbrechen, einerseits um die sich anschliessende 
secundäre Degeneration zu studiren, andererseits um die Aus¬ 
fallserscheinungen beobachten zu können. 

Die Idee, die Function der Pyramidenbahn durch Läsion in 
der Höhe der Medulla oblongata zu isoliren, ist, wie ich aus 
nachträglichem Literaturstudium mich überzeugen konnte, nicht 
mehr neu. 

Schiff 1 ) berichtet hierüber Folgendes: „Nach vielen frucht¬ 
losen Bemühungen ist es mir endlich gelungen, eine Methode 
ausfindig zu machen, die vordersten Bündel des verlängerten 
Markes, die Pyramiden in glücklichen Fällen isolirt zu durch- 
schneiden. Magendie bemühte sich schon, diese Operation aus¬ 
zuführen. Er durchbohrte zu diesem Behufe die graue Substanz 
des IV. Ventrikels von hinten her, um bis zu den Pyramiden 
zu gelangen (vgl. seine Vorlesungen 1838). Diese Methode 
und ihre Resultate sind zu verwerfen, da wir jetzt die grösste 
Wichtigkeit der grauen Substanz für die Bewegungsleitung 


*) Lehrbuch der Physiologie. 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


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kennen und der Erfolg des Versuches der nicht unbeträchtlichen 
Zerstörung der letzteren mit Recht zugeschrieben werden kann.” 

„Später hat man die Pyramiden nie isolirt, sondern höchstens 
in Verbindung mit den Seiten- und Hülsensträngen (und allem 
Anscheine nach einem grossen Theile der seitlichen grauen 
Substanz) durchschnitten. Um die Pyramiden im Niveau des 
Calamus (also gerade bei ihrer Kreuzung) zu trennen, lege ich 
die Atlanto occipital membran, ohne sie ganz zu durchschneiden, 
so weit bloss, dass das verlängerte Mark deutlich durch sie hin¬ 
durchschimmert. Indem ich dann die obersten Wirbel des tief 
ätherisirten Thieres mit den Fingern der einen Hand genau 
fixire, führe ich von der Seite her in passender Höhe eine Nadel 
durch die Muskeln und die Seitentheile des Atlas, so dass sie 
in dem Wirbelcanale zum Vorschein kommt, und leite sie nun 
durch den genau horizontal gehaltenen Canal quer durch, so 
dass sie oberhalb der Pyramiden das Mark durchbohren, diese 
abtrennen und beim Zurückgehen, wenn ich das Heft schief 
nach oben bewege, diese durchschneiden muss. Ein glücklicher 
Erfolg ist, wie die Section der Thiere lehrt, in Summa in einem 
Zehntel der Versuche vorhanden, und die Sache gelang mir 
besonders bei jungen Kaninchen. Man kann auch, wie ich es 
einigemale gethan, die Pyramiden höher durchschneiden, indem 
man von vorne am Halse eindringt, Larynx Oesophagus und 
Vagüs und die grossen Gefässe zur Seite schiebt und zwischen 
Atlas und Schädelbasis eingeht. Die Operation wird durch die 
grossen Venen sehr erschwert.” 

„Einzelne glückliche Erfolge haben nun erwiesen, dass es 
möglich ist, eine oder beide Pyramiden abzutrennen, ohne dass 
die Bewegungen des Thieres dadurch mehr geändert werden, 
als sie schon vorher in Folge der Durchschneidung der Nacken¬ 
muskeln sich zeigten, dass diese Operation weder eine vorüber¬ 
gehende noch bleibende bemerkliche Lähmung nothwendig nach 
sich zieht, und dass wir also nicht berechtigt sind, die Pyramiden 
mit den physiologischen Eigenschaften des Vorderseitenstranges, 
so weit uns diese bis jetzt bekannt sind, auszustatten.” 

Nach Schiff ist diese Frage in ähnlicher Art experimentell 
nicht mehr in Angriff genommen worden. Inwieweit die Schiff- 
schen Versuche als beweisend anzusehen sind, erhellt wohl aus 
der Art ihrer Anstellung von selbst. 


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Dr. Josef Starlinger. 


Es fehlt nämlich der stricte Nachweis, dass er wirklich 
die Pyramiden gänzlich durchschnitten hat. 

Schiff suchte denselben aus der Section allein zu erbringen. 

Das ist aber kein einwandsfreier Beweis, wie jedem klar 
sein muss, der solche Versuche einmal angestellt hat. Die 
Gewebe, um die es sich da handelt, sind so leicht zerreisslich, 
dass man nur die Ränder einer Durchtrennungswunde etwas 
auseinander zu ziehen braucht, um möglicherweise sofort ein 
tieferes Einreissen des Spaltes herbeizuführen. Ohne Ausein¬ 
anderziehen der Ränder kann man sich aber gar nicht über¬ 
zeugen, wie tief die Verletzung in die Medulla oblongata ein¬ 
gedrungen ist. 

Man kann aber die Ausdehnung der Läsion genau über¬ 
haupt nur auf Querschnitten mittelst des Mikroskopes abgrenzen, 
und zwar muss man, um die grösste Ausdehnung der Läsion 
festzustellen, Serienschnitte anlegen. Von einer mikroskopischen 
Untersuchung ist aber bei Schiff keine Rede. 

Ich komme nun zu meinen eigenen Versuchen. Dieselben 
wurden, wie schon früher erwähnt, einerseits unternommen, 
um die secundäre Degeneration zu studiren, andererseits um 
den Ausfall der Functionen zu beachten. 

Hinsichtlich der Operationsmethode erlaube ich mir das in 
meiner vorläufigen Mittheilung') bereits Gesagte nochmals zu 
wiederholen. 

Auf denersten Blick schien die Zugänglichkeit der Pyramiden 
wegen der Tiefe ihrer Lage wenig verheissend, zumal die Be¬ 
trachtung der anatomischen Verhältnisse der Pyramidenbahnen 
es gerathen erscheinen liess, die Pyramiden möglichst hoch, 
womöglich gleich unter dem Corpus trapezoideum zu durchtrennen, 
da hier die Pyramiden deutlich an der Medulla hervorspringen, 
bald aber sich wegen der Kreuzung wieder in die Tiefe senken. 
Nun liegt beim Hunde diese Pyramidenpartie etwa auf dem 
mittleren Drittel des Clivus (Ossis basilaris) und dieser Theil 
schien schwer erreichbar und wurde dadurch die Ausführung 
ziemlich gewagt. 

Die weitere Ueberlegung ergab, dass der Weg von vorne 
her zu dem Clivus der aussichtsvollere sei. 

') Neurologisches Centralblatt 1895, Nr. 9. 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 7 

Dementsprechend wurde die Haut am Halse in der Median¬ 
linie (circa 4 bis 5 Centimeter oberhalb und ebenso viel unter¬ 
halb des Kehlkopfes) durchtrennt und meist stumpf zwischen 
Kehlkopf und Oesophagus einerseits und den lateral von ihnen 
liegenden Gebilden sammt Vagus und Carotis andererseits in 
die Tiefe präparirt bis auf die tiefen Halsmuskeln, dabei die 
etwa hindernden Nerven und Gefässe theils unterbunden, theils 
durchschnitten. Diese so getrennten Theile wurden nun mit 
Haken auseinander gehalten und das tiefe Operationsfeld frei¬ 
gelegt. Nun fühlte ich nach dem Tubercul. ant. atlantis, das 
leicht auffindbar ist; von diesem aus wurden mit einem kleinen 
Raspatorium rechts und links die inserirenden Muskeln (Muse, 
obliqua colli ant. sup. beim Menschen!) abgeschoben, von den 
Haken auch diese tiefen Halsmuskeln mitgefasst und abgezogen, 
wodurch, die Membran, obt. ant. in ihrer ganzen Ausdehnung 
freigelegt wurde. Bei den ersten Versuchen spaltete ich die 
Membran und suchte das Foramen occipitale nach obenhin mit 
einer Kneipzange zu erweitern, um so hoch genug an unseren 
Punkt zu gelangen. 

Dabei erfolgte aber fast stets eine nahezu unstillbare 
Blutung, die das Operationsfeld mit Gerinnseln erfüllte, den 
Ueberblick erschwerte und so die exacte Ausführung der 
Pyramidendurchschneidung selbst unmöglich machte. Ich wandte 
mich, um diese Schwierigkeiten zu überwinden, um Rath an 
Herrn Prof. Hochstetter und erfuhr von ihm, dass beim 
Hunde genau entlang des vorderen Randes des Foramen occi¬ 
pitale ein Sinus venosus verläuft, der nothwendig durchtrennt 
werden muss, wenn man nach durchschnittener Membrana 
atlanto-occip. anterior die Oeffnung durch Abkneipen der 
untersten Partien des Os basilare erweitern will. 

Ich modificirte das Verfahren, schob auch vom Os basilare 
die Muskelansätze (des M. rect. capit. ant. maj. et min. beim 
Menschen) ab, setzte über dem Os basilare eine Trepankrone 
von 7 bis 8 Millimeter Durchmesser an, und zwar so, dass der 
hintere Rand der Trepankrone 1 bis 2 Millimeter von dem 
freien Rande des Os basilare entfernt blieb und mithin der Sinus 
venosus verschont wurde, und perforirte hier. Ohne nennens- 
werthe Blutung kam ich so auf die Medulla. In der Trepna- 
öffnung waren in der Mitte die dünne Art. basilaris und rechts 


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Dr. Josef Starlinger. 


und links davon die halbrunden Pyramiden sichtbar, die mit 
einem Messerchen leicht und sicher dnrchtrennt werden 
konnten. Schluss der Wunde durch fortlaufende Hautnaht. Jodo- 
formcollodium. 

Ergänzend muss ich noch hierzu anführen, dass bei den 
letzten Versuchen die Durchtrennung der Pyramiden nicht 
einzeln mit dem Messer geschah, sondern dieselben zusammen 
mit einem nach Art der Dechamps’schen Nadeln geformten 
Instrumentchen umstochen und durch Anziehen durchrissen 
wurden. Bei dieser Modification konnten einerseits die Pyramiden¬ 
stränge oberflächlicher und doch sicherer in toto gefasst, anderer¬ 
seits die Art. basilaris nicht so leicht verletzt werden. 

In dieser Art wurden neun Hunde operirt, von denen sechs 
am Leben blieben. Die Thiere waren zumeist von mittlerer 
Grösse, circa 30 bis 40 Centimeter hoch, eine Art Rattler, und 
fast alle ausgewachsene Exemplare. Diese Rasse scheint die 
geeignetste zu sein, weil sie lange Schädel hat und das Os 
basilare so geräumig ist. dass ein Trepan von 7 bis 8 Milli¬ 
meter Durchmesser Platz findet. Der Umstand ist wichtig, weil 
man sonst bei zu grosser Schmalheit des Os basilare leicht mit 
dem Foramen jugulare und den dasselbe passirenden Nerven 
und Gefässen in Conflict geräth. Namentlich ist es der Vagus, 
der unliebsame Störungen für Herz und Lunge erzeugt, was 
selbst den unmittelbaren Tod des Thieres zur unerwünschten 
Folge haben und denselben auch nach der Operation noch nach 
sich ziehen kann. 

Drei Hunde gingen in den ersten Tagen zugrunde. Im All¬ 
gemeinen ist jedoch die Technik unserer Operationsmethode eine 
ziemlich sichere, wenngleich sie einige Gewandtheit erfordert. 

Zur Narkose schien uns Chloroformäther am besten zu 
sein, und zwar ganz allein, ohne etwa vorausgehende Morphium- 
injection. 

Nach der Operation kamen die Thiere einerseits in Folge 
der Wundheilung, andererseits in Folge der mapgelhaften 
Nahrungsaufnahme immer ziemlich herunter. Aber schon nach 
ein bis zwei Wochen fingen sie an, sich schnell wieder zu 
erholen. 

Zur histologischen Untersuchung meiner Fälle bediente ich 
mich der bekannten Methode nach Marchi und Algheri. 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


9 


Die Idee, dass nur immer von neuen Methoden ein Vor¬ 
wärtsdringen in der Kenntniss des Baues der nervösen Central¬ 
organe zu erwarten steht, ist ziemlich allgemein nnd findet 
Avohl auch in der Geschichte eine gewisse Bestätigung. Ich 
will dieser Anschauung keineswegs entgegentreten, sondern 
kenne die Wichtigkeit jeder neuen Methode vollinhaltlich an, 
dass sie Wahrheiten neu bestätigt, Errata corrigirt und neue 
Auffassungen zu gewinnen vermag. Nur alles Heil möchte ich 
nicht bloss von neuen Methoden erwarten, zumal jede bald ihre 
natürlichen Grenzen findet, sondern dazu auffordern, recht 
fleissig die schon bestehenden ansznnützen. Die Methode nach 
Marchi und Algheri ist wohl eine der vortrefflichsten dieser 
Art, und wie mir scheint, noch viel zu wenig gewürdigt und 
ausgenötzt. Sie ist schier grenzenlos beim Thierexperimente 
und sie ist ausgiebig selbst bei der Pathologie des Menschen. 
Beim Thierexperimente hängt sie von der Operationstechnik 
ab und die gewinnt immer neue Felder, und in der Nerven- 
pathologie des Menschen ist sie für alle Läsionen von ein paar 
Wochen bis zu mehreren Monaten verwerthbar. Ich will hier 
gleich dasjenige Verfahren kurz anführen, das ich bei meinen 
Untersuchungen einzuhalten pflegte. 

Das zu untersuchende Präparat wurde in der Regel für 
10 bis 20 Tage, nachdem es dem Körper entnommen war, in 
Müller’sche Flüssigkeit gelegt. 

In der Regel wird in dieser Zeit ein gewisser Grad von 
Härtung erzeugt, der es ermöglicht, die Stücke in circa 1 bis 
2 Millimeter dicke Scheibchen zu zerlegen, ohne dass man 
Gefahr läuft, dass sie in der rasch härtenden Osmiumsäure noch 
wesentliche Gestaltsveränderungen erleiden. Es ist dies wichtig 
für die Serienbehandlung, weil sich die Stückchen sonst leicht 
werfen und nicht mehr genau aneinander fügen lassen. Die 
so hergestellten Scheibchen kommen für sieben bis acht Tage 
in die Marc hi-Flüssigkeit (ein Theil Osmium, zwei Theile 
Müller’sche Flüssigkeit) und werden sodann im rinnenden 
Wasser gut ausgewaschen. Hierauf erfolgt Abtrocknung mit 
Fliesspapier und Einlegen in eine sirupdicke Celloidinlösung 
für ein bis zwei Tage. Ehe nun das Celloidin erstarrt ist, 
werden die Scheibchen herausgenommen und in ihrer natürlichen 
Aufeinanderfolge wieder mit Celloidin aneinander gekittet. 


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Dt. Josef Starlioger. 


Auf diese Weise stellte ich immer wieder Hinterhirn und 
Nachhirn bis zum zweiten bis dritten Cervicalnerven in natürlicher 
Form her und verfertigte dann mit einem Reichert’schen 
Tauchmikrotom eine lückenlose Serie. 

Ich ging dabei so vor, dass ich oft 20 bis 30 Schnitte, je 
nach Grösse derselben, selbstverständlich in den höheren 
Gegenden weniger, oft nur vier, der Reihe nach auf einen 
Objectträger auflegte, abtrocknete, mit einer dünnen Celloidin- 
lösung zur Fixirung darüber strich und in einen Rähmchen¬ 
apparat spannte, wodurch die Reihenfolge garantirt blieb. 

Dieser Apparat *) besteht aus einem Rechteck aus circa 
2 Millimeter dickem Aluminiumdraht. An den langen Seiten 
dieses Rechteckes sind eine Reihe von verschieblichen Rähmchen 
angebracht. Nur das erste ist fix mit dem Rechtecke verbunden 
und mit einem Handgriffe versehen. 

Zwischen je zwei solche Rähmchen werden nun die Object¬ 
träger eingefügt. So wurden sie gemeinsam weiter behandelt, 
entwässert, aufgehellt und schliesslich wurde Objectträger um 
Objectträger herabgenommen, abgetrocknet, mit Canadabalsam 
überschüttet und zum Trocknen hingestellt. Nach dem Trocknen 
wurden sie signirt. Auf diese Weise war es möglich, eine wirk¬ 
liche lückenlose Serienschnittreihe herzustellen. 

Ich halte gerade für Marchi eine lückenlose Serie für ein 
unumgänglich nothwendiges Postulat, und deshalb wollte ich 
durch die ausführlichere Darlegung meines Verfahrens den 
Beweis erbringen, dass ich wirklich auch diese Bedingung 
erfüllt habe. 

Zur Forderung der unbedingten Nothwendigkeit der Her¬ 
stellung einer wirklich lückenlosen Serie zumal für die Gegend 
der Medulla bin ich durch die Erfahrung gedrängt worden. 
Erstens ist es unmöglich, schon durch den oberflächlichen An¬ 
blick beim Schneiden diejenigen Schnitte auszuwählen, die 
gerade wichtig werden, und thut man es einmal, dann wird man 
beim Studium sicher peinlich überrascht werden, dass gerade 
diejenigen Partien fehlen, wo Uebergänge und Ergänzungen zu 
suchen wären. Aber das ist es nicht allein. Ich konnte mich bei 


0 Eingehend beschrieben und abgebildet im Jahresberichte der Wiener 
Irrenanstalt 1894. 


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Die DarchschneiduDg beider Pyramiden beim Hunde. 11 

der mikroskopischen Durchmusterung der Präparate wiederholt 
von einem Vorkommnisse überzeugen, das man nur in der 
lückenlosen Serie nicht übersehen kann und das für die Deutung 
von auffälliger Degeneration überaus wichtig ist. Ich habe 
nämlich sehr häufig winzige, nur auf wenige Schritte sich 
erstreckende Herde gefunden, die dem Ausbreitungsgebiete 
irgend eines kleinen Gefässchens zu entsprechen schienen. Solche 
Fälle fanden sich isolirt z. B. in einem der hinteren Längs¬ 
bündel, also ziemlich entfernt von der beabsichtigten Verletzung 
ausgehend, von den kleinen Gefässen oder auch seitlich im 
Haubenfelde ebenfalls auf das Gebiet kleiner Gefässe beschränkt. 
Es genügt also nicht bloss einige Schnitte von der Läsionsstelle 
anzufertigen und jede Degeneration auf die Läsion selbst zu 
beziehen, man muss alle Schnitte haben, um die thatsächliche 
Läsion übersehen und würdigen zu können. 

Dieses Vorkommniss erscheint übrigens auch einiges 
klinisches Interesse zu haben. Es ist nämlich in der Kranken¬ 
geschichte einzelner dieser operirten Thiere auffällig, dass sie 
wenige Tage post operationem einen schwerkranken Eindruck 
machten, trotzdem der äussere Wundverlauf völlig glatt sich 
abzuwickeln schien und auch die Section keine erheblich stärkere 
Läsion aufzuweisen vermochte als bei anderen. Gerade da 
fanden sich aber nun bei den mikroskopischen Untersuchungen 
derartige Herde oder auffällige, nachträgliche, entzündliche Ver¬ 
breiterungen der ursprünglichen Verletzung. 

Aus dieser Thatsache resultirt gleichzeitig, welchen Werth 
alle diesbezüglichen Experimente haben, wenn nicht eine lücken¬ 
lose Serie angelegt worden ist, und das ist eben der Grund, 
weshalb ich ausführlicher bei diesem Umstande verweilte. 

Bisher wurden folgende sechs Fälle untersucht: 

Fall I. Ausgewachsenes, mittelgrosses Thier. Sehr mnnter 
und lebhaft, aber ohne besondere Dressur. 

Operirt am 18. December 1894. Pyramiden mit dem Messer 
einzeln durchschnitten. 

Gleich nach der Operation, als das Thier noch halb narko- 
tisirt war, ergab die Prüfung der Sehnenreflexe an den Hinter¬ 
füssen gleiche, anscheinend nicht gesteigerte Beaction. 

Nach dem Erwachen sofort spontane Gehversuche, die zu¬ 
nehmend erfolgreicher sich gestalteten, und eine halbe Stunde 


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Dt. Josef Starlinger. 


nach der Operation lief der Hand bereits im Laboratorium um¬ 
her, wobei allerdings die Hinterbeine gegenüber den vorderen 
eine gewisse Unsicherheit zu zeigen schienen, insofern nämlich, 
als der Hintertheil des Thieres bald mehr nach rechts, bald 
mehr nach links hinneigte. Doch vermochte er schon kleine 
Hindernisse (z. B. Tischfussleiste) ohne zu fallen zu überschreiten. 

Nach 2 7* Stunden war der Gang schon völlig sicher. Nur 
überkreuzten sich öfters die Vorderbeine und kippte der rechte 
Fuss manchmal um, so dass er den Fussrücken auf den Boden 
aufsetzte. 

19. December. Am Morgen Erbrechen, sonst jedoch ganz 
munter, springt dem Verfasser entgegen und läuft dann mit 
über die Stiegen vom zweiten Stock ins Parterre hinab, etwas 
langsamer, als gesunde Hunde zu thun pflegen und mit einer 
Art Vorsicht, aber ohne jede andere auffälligere Störung. 

21. December. Mangelhafte Nahrungsaufnahme in Folge des 
durch die Wunde erschwerten Schluckactes. Wundhöhle aus¬ 
gedehnt. Punction erzielt einen trüben, blutigen, nicht übel¬ 
riechenden dicklichen Inhalt; derselbe wird entleert und ein 
Compressionsverband angelegt. 

25. December. Liegt meist. Ist schwer zum Aufstehen zu 
bewegen, läuft aber dann ganz gut umher. 

4. Januar. Wunde verheilt, der Kopf wird hoch getragen, 
das Thier bewegt sich mit der alten Lebhaftigkeit, hat sich 
körperlich rasch und ganz erholt, nur gelingt es noch schwer, 
auf Tische und Sessel auf Commando zu springen. Er steigt 
mit den Vorderpfoten hinauf, vermag sich aber nur schwer 
ganz hinaufzuschwingen. 

Am 16. Januar ist auch dieses nicht mehr zu sehen. Der 
Hund springt auf Tische und Bänke und wieder herab, ohne 
zu straucheln. Nur beim ruhigen Gehen in der Ebene streift er 
manchmal mit den Krallen des rechten Vorderfusses am Boden, 
auch entlastet er gerne das linke Hinterbein. 

17. Januar. Getödtet mit Chloroform. 

Bei der Section starke Verwachsungen im Bereiche des 
Trepanloches, sowohl mit dem Knochen als auch mit der Narbe 
an der Medulla. Die Lostrennung der Medulla sammt der Dura 
vom Os basilare gestaltete sich daher ziemlich schwierig, so dass 
die operirte Stelle (Narbe) etwas eingerissen wurde. Makro- 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 13 

skopisch schienen die Pyramiden in der Ausdehnung der Oliven 
vollständig unterbrochen, was auch ein Querschnitt in dieser 
Höhe zu bestätigen schien. Das Präparat wurde in Müller'sehe 
Flüssigkeit gelegt und nach 10 Tagen nach Marchi unter¬ 
sucht. 

In der Ebene der Läsion (siehe Tafel I) finden sich mikro¬ 
skopisch folgende Befunde: 

Die Pyramiden sind vollständig zerstört und durch ein 
Narbengewebe ersetzt. Letzteres greift sogar noch über das 
Pyramidenfeld hinaus in die rechte Olive über und ersetzt einen 
grossen Theil derselben. Nach rückwärts schliesst die Narbe 
beiläufig in einer Linie ab, welche man vom Hilus der einen 
Olive zum anderen sich gezogen denkt. Diese ebengenannte 
Zerstörung ist die Folge der operativ erzeugten Läsion. Als 
secundär durch nachträgliche Entzündung oder Erweichung 
entstanden ist ein schmaler, lichter (narbiger) Streifen in der 
Regio motor. dextr. anzusehen, welcher den gleichseitigen Hypo- 
glossuswurzeln entlang von vorne nach hinten bis zum Grau 
des IV. Ventrikels reicht und auch noch den Hypoglossuskern 
und das hintere linksseitige Längsbündel tangirt. Auch in 
der Raphe ist ein feiner Narbenstrang nach hinten zu sehen. 
Alle diese secundären Herde zeigen sich in etwa 18 bis 
27 Schnitten. 

Der Rand aller der directen und indirecten Läsionen lässt 
eine mehr weniger dichte Anhäufung schwarzer Schollen 
erkennen, was besonders um das Pyramidenfeld intensiv hervor¬ 
tritt, während im durch Narbengewebe ersetzten Pyramiden¬ 
felde nur ganz vereinzelt schwarze Pünktchen angetroffen 
werden. Von intacten Pyramidenfasern ist nirgends etwas 
zu sehen. 

Degenerirt sind weiters in diesen Höhen zahlreiche Fibrae 
arcuat. ext. und int. und Fasern der Raphe. Die degenerirten 
inneren Bogenfasern lassen sich deutlich bis in die Hinterstrangs¬ 
kerne, die äusseren in das Corp. restif. verfolgen, wo ihre 
Degeneration aufwärts bis zum Kleinhirn sich nachweislich fort¬ 
setzt. Ueber die Herkunft dieser Fasern lässt sich aus unseren 
Präparaten keine feste Gewissheit erlangen, es besteht aber 
auch kein Anhaltspunkt, der den herkömmlichen Anschauungen 
über sie widerspräche. 


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14 


Dr. Josef Starlinger. 


Interessant ist weiters für diese Schnitte aus der Läsions¬ 
stelle ein Befund, der fast in allen Fällen zu constatiren war. 1 ) 
Es biegen nämlich von der Raphe (?) aus der Gegend der 
hinteren Längsbündel nach Art von Geissein vereinzelte dege- 
nerirte Fasern in das Haubenfeld hinein nach vorne. Derartige 
Degenerationen scheinen mit der Raphe selbst nichts zu thun 
zu haben, denn sie finden sich auch dort, wo dieselbe sicher 
unverletzt ist, wie ich aus anderen Präparaten entnehmen kann, 
wo nur das Haubenfeld verletzt worden ist. Es hat eher den 
Anschein, als ob diese Fasern von Zellen in der Regio reticul. 
grisea selbst abstammen, gegen das hintere Längsbündel hin¬ 
ziehen, in die Raphe einbiegen, in derselben mit ähnlichen 
Fasern der anderen Hälfte sich kreuzen und das contralaterale 
Haubenfeld aufsuchen. Es wären das also reine Commissurfasem 
und ein Analogon für ähnliche Fasern in der vorderen Commissur 
des Rückenmarkes. 

Schliesslich ist aus demselben Schnitte (Tafel I) noch zu 
ersehen, dass auch das Respirationsbündel (gemeinsame Glosso- 
pharyngeo-Vaguswurzel) in toto degenerirt ist. Es rührt dies 
daher, dass der Vagus bei der Operation gequetscht worden ist. 

Endlich muss noch eines Vorkommens von kleinen, nur aus 
wenigen Fasern bestehenden, degenerirten Bündeln Erwähnung 
gethan werden, welche sich fast in allen Fällen vorfinden. 
Dieselben finden sich in der Höhe der Läsion im Centralgrau 
des vierten Ventrikels ganz unabhängig von der gesetzten Läsion 
und lassen sich als scharfumschriebenes Bündel nach abwärts 
bis zur Decusation constant und deutlich verfolgen. Nach auf¬ 
wärts treten sie immer mehr an die Oberfläche des vierten Ven¬ 
trikels heran, drängen sich mehr nach aussen, bis sie plötzlich 
verschwinden. Ich werde später noch auf sie zurückkommen. 

Das sind die Veränderungen und Befunde aus den Schnitten 
der Narbe. Knapp unter derselben, wo die Pyramiden bereits 
wieder ihre normale Configuration erlangt haben, zeigen die 
Pyramidenfelder sich dicht mit Schollen durchsäet, wodurch die 
Querschnitte der Pyramiden sich scharf und ziemlich geradlinig 
von der Olivenzwischenschicht scheiden, aber auch von dem 
lateralen, dem peripheren Felde am rechtsseitigen Olivenpol, 

') Siehe hierzu Fig. 6. (Fall II.) 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


15 


das weit spärlichere Degeneration zeigt, gleichfalls deutlich sich 
abheben. 

Degeneration zeigt weiters, wenn auch spärlich, die Oliven¬ 
zwischenschicht und die rechte Regio motoria, einschliesslich 
hinteres Längsbündel. 

Auf der linken Seite ist am gleichnamigen motorischen Felde 
die Degeneration bloss angedeutet. Von den längsgetroffenen 
Fasern zeigen die einzelnen Fibr. arcuat. internae in ihrer ganzen 
Ausdehnung und r.-l. die bekannten Rosenkranzzeichnungen. 



Pig. 1. Pyramidenkreuzung, Fall I. 


In der Höhe der Pyramidenkreuzung ist zunächst auffällig 
die büschelförmige Art der Kreuzung; die kleinen büschelförmigen 
Schief- und Querschnitte (r.-l.) liegen discret nebeneinander und 
vermischen sich erst weiter unten. Die Kreuzung ist eine totale. 
Ich habe nirgends Anhaltspunkte gewinnen können, dass ein¬ 
zelne Fasern ungekreuzt in derselben Seite verbleiben. 

So deutlich und markant die absteigende Degeneration der 
Pyramiden erscheint, so wenig sicher lässt sich eine solche 
(wenigstens nach unseren Präparaten) für die Schleife erweisen. 


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Dr. Josef Starlinger. 


Ich will damit nicht das auch für die Schleife wiederholt be¬ 
hauptete Vorkommniss einer absteigenden Degeneration in Ab¬ 
rede stellen, sondern nur damit sagen, dass bei meinen Schnitten 
trotz der ausgedehnten Zerstörung der Schleifenschicht für die 
absteigende Degeneration kein deutlicher Beweis resultirte. De- 
generirte Bogenfasern zu den Hinterstrangskernen fanden sich 
allerdings in der ganzen Ausdehnung derselben. Damit ist aber 
noch nicht bewiesen, dass dieselben der Schleife angehören 
müssen. Die Schleifenfelder selbst, wie sie bei der ansteigenden 
Degeneration der Schleife nach Zerstörung der Hinterstrangs¬ 
kerne sich schön und deutlich markiren, bleiben jedoch so 
ziemlich schollenfrei, trotz der ausgedehnten Zerstörung der 
Schleife. Das bleibt immerhin auffällig und lässt die Ver- 
muthung nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass diese absteigend 
degenerirenden Bogenfasern nicht mit den sonstigen Schleifen¬ 
fasern identisch sind, sondern aus tieferliegenden Gebilden 
(Olive?) vielleicht ihren Ursprung nehmen. 

Ich habe früher einzelner degenerirter Bündel gedacht und 
zu ihrer weiteren Erkenntniss auf später verwiesen. In diesen 
Höhen (Decusation) erscheint nun ein Befund erwähnenswerth, 
der mit diesen Bündeln einigen Zusammenhang vermuthen lässt. 
Es finden sich nämlich da, wo sich eben der Centralcanal schliesst 
und die hintere Commissur sich zu formiren beginnt, in der 
hinteren Commissur Degenerationsbündel, die von einer Seite 
zur anderen laufen. Sie sind nicht häufig, auch nicht in vielen 
Schnitten zu sehen, aber sie finden sich mehr weniger in allen 
Fällen und immer bündelweise, ähnlich den Pyramidenbündeln 
bei der Kreuzung. 

Ob nun dieselben den Pyramidenbahnen zuzuzählen sind, 
lässt sich nicht erweisen. Wahrscheinlich mag das einigermassen 
erscheinen, wenn man den Weg, den diese Bündel nothwendiger- 
weise machen, in Betracht zieht. Sie müssen aus Fasern 
stammen, die durch die directe oder indirecte Beschädigung 
unterbrochen worden sind. Sie müssen abwärts bis zur Kreuzung 
laufen, dort umbiegen und isolirt nach hinten und aufwärts 
gehen. 

Die Degeneration in der ßegio motoria der Medulla lässt 
sich deutlich nach abwärts in die Yorderstränge verfolgen, und 
zwar mit demselben Intensitätsunterschiede, rechts stärker als 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


17 


links, aber beiderseits an dem vorderen Medianspalt dichter und 
sich auf den Yorderstrang beschränkend. 

Im oberen Cervicalmark zerstreuen sich diese Vorderstrangs- 
scbollen und breiten sich auch auf den Seitenstrang aus, halten 
sich jedoch mehr an der Peripherie und so, dass das Feld des 
anterolateralen Bündels, sowie die Kleinhirnseitenstrangbahn 
vollkommen frei bleibt. 

Die Pyramidenseitenstrangbahn markirt sich scharf und 
deutlich und r.=l. im Centrum dichter, nach aussen allmählich 



abklingend, schon ziemlich diffus vermischt. Im Hinterhorn finden 
sich auch noch bündelförmige, degenerirte Felder, die sich weiter 
abwärts immer mehr an seinen hinteren inneren Rand hindrängen, 
schliesslich an die Lissauer’sche Randzone gelangen. Weiter waren 
sie aber nicht mehr verfolgbar. Niemals fand ich an den hinteren 
Wurzeln Degeneration. 

Im oberen Brustmark rückt das Schollenfeld des Pyramiden¬ 
seitenstranges weiter nach hinten, rundet sich mehr und ist auf¬ 
fällig schwächer. 

Die Degeneration im Vorderseitenstrange wird gleichfalls 
schwächer, rückt im Seitenstrange noch weiter nach rückwärts 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 2 


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18 


Dr. Josef Starlinger. 


und gestaltet sich mehr mantelförmig. Der Unterschied in der 
Stärke besteht aber noch in demselben Masse fort. 




Weiter nach abwärts lichten sich die Degenerationen immer 
mehr, so dass in der Lendenanschwellung im Pyramidenseiten¬ 
strange die Schollen schon fast vollkommen fehlen, während im 


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Die Durchschneidong beider Pyramiden beim Hunde. 19 

Vorderseitenstrange dieselben sich noch ganz deutlich zeigen und 
selbst noch im caudalen Theile vereinzelt anzutreffen sind. 

Fall II. Ausgewachsenes Thier von derselben Gattung. 

Operation am 28. Januar in Chloroformäthernarkose. Art 
und Verlauf der Operation wie im vorhergehenden Falle. Nur 
ermuntert sich dieser Hund später als der erste und läuft noch 
nach mehreren Stunden etwas taumelnd herum. 

29. Januar. Bewegungen sehr lebhaft, springt auf Schemel 
und Sessel; hierbei passirt es einigemale, dass er rücklings um¬ 
fällt. 

3. Februar. Läuft dauernd flott herum, trotz der grösseren 
Halswunde und der deutlichen Abmagerung. 

11. Februar. Naht an der ganzen Halswunde aufgerissen. 
Die grosse granulirende Wundfläche wird mit Jodoform ver¬ 
bunden. ' 

14. Februar. Wunde bedeutend verkleinert. Beweglichkeit 
uneingeschränkt, läuft auch mit drei Füssen, wenn man einen 
unterbindet, ganz gut herum. 

18. Februar. Im Benehmen von nichtoperirten Thieren kaum 
unterscheidbar. 

Scherzt und balgt sich mit den anderen Hunden, wobei er 
seinen Gegner mit den Vorderpfoten umklammert und wieder¬ 
holt auf den Hinterfüssen ganz allein steht. In den Reflexen 
keine Besonderheit. Sensibilität und Coordination ungestört. 
Motorische Kraft nachweislich nicht besonders geschwächt. Heute 
getödtet. Narbe zwischen Corp. trapezoid und unteren Oliven. Die 
nach Marchi behandelten Schnitte zeigen an der Läsionsstelle 
(Fig. 5) nachfolgenden Befund. 

Direct zerstört ist die linke Pyramide und die rechte bis 
auf eine kleine laterale Partie, ferner fast die ganze Oliven¬ 
zwischenschicht nebst einem Theile in der rechten centralen 
Haubenbahn. 

In einigen Schnitten höher ist ausserdem die rechte Regio 
motoria secundär von einem länglichen Entzündungsherde, der 
Raphe in ihrer ganzen Ausdehnung parallel laufend (in circa 
24 Schnitten) durchsetzt, und sind auch kleine Herde in der 
linken Haubenbahn ersichtlich. 

In Fig. 5 sind demnach wieder fast dieselben Degenerationen 
zu sehen wie in Tafel I, nur mit dem Unterschiede, dass hier 

2 * 


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Dr. Josef Starlinger. 



Fig. 5. Läsionsstelle, Fall II (Photogramm). 



Fig. 6. Knapp oberhalb der eigentlichen Läsionstelle, Fall II, mit sehr deutlich 
ausgeprägten geisselförmigen Degenerationen. 


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Die Durchschneidtuig beider Pyramiden beim Hunde. 


21 


beiderseits die peripheren Olivenfelder frei sind, dafür aber 
rechts und links im Haubenfelde Degeneration auftritt. Sehr 
deutlich sind auch hier wieder die schon beim ersten Falle her- 



Fig. 7. Pyramidenkreuzuug, Fall II. 



Fig. 8. Cervicalmark, Fall II. 


vorgehobenen geisselförmigen Degenerationen zu sehen. Knapp 
unter der Verletzung zeigen beide Pyraraidenfelder eine gleich- 
massige diffuse Degeneration, nur ist bei der rechten am äusseren 
Winkel der Pyramide eine geringere Anhäufung von Schollen 
vorhanden. 


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Dr. Josef Starlioger. 


Die Läsionen in der Haubenbahn erzeugen absteigende 
Degeneration, und zwar conform der Intensität der Läsionen 
rechts stärker als links. Dieselbe Differenz besteht auch be¬ 
züglich der Regio motoria. 

Analoge Verhältnisse zeigen auch die Schnitte aus der 
Ereuzungsgegend. Hier confluiren die absteigenden Degene¬ 
rationen des motorischen und sensiblen Haubenfeldes und nehmen 
den Vorderstrang und einen Theil des Seitenstranges ein. Dabei 
hat es den Anschein, als ob sich die Fasern des motorischen 
Feldes meist an dem Vorder- und die des sensiblen Degene¬ 
rationsfeldes meist an dem Seitenstrange halten. Von den 
Pyramidenbündeln scheinen sich die medialen zuerst zur Kreuzung 
anzuschicken und die lateralen den Schluss zu bilden. Dort, wo 
bei der linken Pyramide noch ein deutlich ungekreuztes De¬ 
generationsfeld vorhanden ist, sind rechts schon fast alle De¬ 
generationszeichen verschwunden. Indessen ist aber immerhin 
noch ein Theil vom Pyramidenfelde vorhanden, das jedoch 
von Degenerationen vollkommen frei ist. Es ist dies jene 
äussere nicht verletzte Partie, die gleich anfangs hervorgehoben 
worden ist. 

Im Cervicalmark persistiren dieselben Degenerationen wie 
im Fall I, auch mit demselben Intensitätsunterschiede, wie er 
bei Fall II ab und zu hervortritt. Der linke Pyramidenseiten¬ 
strang ist schon bedeutend gelichtet. Leider wurden weiter ab¬ 
wärts keine Schnitte mehr angelegt. 

Fall HI. Mittelgrosser Hund, ausgewachsenes Thier. 

5. Februar 1895. Operirt Mittags. Läuft schon am Nach¬ 
mittage ganz gut über die Stiegen hinab. 

12. Februar. Am rechten Auge ein Ulcus com. Wundheilung 
glatt. In Benehmen und Beweglichkeit ohne jede Besonderheit. 
Sehr munter und lebhaften Wesens. Im Uebrigen gleich den 
früheren Fällen. 

4. März getödtet. 

Die Section ergab in Olivenhöhe eine kleine Narbe an den Py¬ 
ramiden. 

Die histologische Untersuchung ergab nur eine theil- 
weise Durchtrennung beider Pyramiden. Gleichwohl führe ich 
auch diesen Fall etwas weiter aus, weil er dessenungeachtet 
eine gewisse Bedeutung hat. 


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Di« Dnrchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


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Vor allem ist zu erwähnen, dass die Läsionen nicht in eine 
Schnittebene fallen. (Tafel II.) 



Pig. 9. Unterhalb der Läsion, Pall III. 



Fig. 10. Cervicalmark, Pall HI. 


Auf der einen Seite (links) (Fig. 2, Tafel III) trifft die stich- 
förmige Verletzung das äussere Drittel der Pyramide oberhalb 
den Oliven und reicht in das Schleifenfeld hinein. 


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Dr. Josef Starlinger. 


Auf der anderen Seite (Fig. 1, Tafel III) ist die Pyramide 
bis auf eine schmale mediale Zunge zerstört und nimmt einen 
Theil der gleichseitigen Olive (diese Verletzung liegt tiefer) noch 
mit. Die Olivenzwischenschicht ist hier nur geringgradig und nur 
auf der einen Seite lädirt. 

Degenerirt sind in diesen Ebenen ausser den quer getroffenen 
Fasern längs getroffene Fasern in der Olivenzwischenschicht 
und Fibr. arcuat. ext., letztere aber von der Unterbrechungsstelle 
bloss lateralwärts gegen das Corp. restif. hin, nie gegen die 
Medianlinie hin. 



Fig. 11. Haisauschwellung, Fall HI. 


An Schnitten unter der Läsion sieht man die rechte Pyramide 
bis auf eine mediale schmale Zunge degenerirt, die linke dagegen 
weist nur in der äusseren Hälfte spärliche Schollen auf. 

In den seitlichen und hinteren Feldern um die Oliven 
finden sich gleichfalls hier deutliche Degenerationen, die den 
cerebralwärts gelegenen, höheren Läsionen entsprechen. 

Das motorische Feld der Regio reticular. blieb in diesem 
Falle ziemlich intact. 

In der Höhe der Kreuzung der Pyramiden rücken die 
Degenerationen um die Olive gegen den vorderen Vorderstrang 
vor, während die hinteren Partien des Vorderstranges frei bleiben. 




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Die Dnrchschneidung beider Pyramiden beim Hnnde. 


25 


Diese Vorderstrangsdegenerationen erschöpfen sich ziemlich 
bald. Unter der Halsanschwellung sind sie kanm mehr nach¬ 
weisbar. Im Pyramidenseitenstrang setzt sich die Degene¬ 
ration mit derselben Differenz nach abwärts fort. Im linken 
Pyramidenstrange ziemlich dicht, im rechten schon sehr schütter. 
Aach in der Form des Degenerationsfeldes zeigt sich ein 
Unterschied. Im rechten Pyramidenseitenstrange erschöpft sich 
die Degeneration weit früher als im linken. 

Fall IV. Ausgewachsener Hund von mittlerer Grösse. 

5. März. Operirt. 

15 Minuten nach Schluss der Wunde ging der Hund schon 
herum. Freilich noch langsam und unter Schwanken des Hinter¬ 
körpers, aber er bewegte alle vier Füsse gleichmässig. Nach 
circa zwei Stunden Bewegung schon völlig unauffällig, nur hält 
er gern beim Stehen das linke Hinterbein angezogen, auch 
hebt er beim Gehen dieses Bein meist höher als nöthig erscheint. 
Mit den Vorderpfoten streift er gern am Boden. In den fol¬ 
genden Tagen krankte das Thier. Aeusserlich lässt sich hiefür 
nichts auffinden. Das Gehen ist sichtlich erschwert, schleudernd, 
das Thier zeigt eine gewisse Benommenheit, überkreuzt häufig 
die Vorderbeine und entlastet das hintere linke. Die Sensibilität 
scheint nachweislich nicht gestört. 

14. März. Wunde per primam verheilt. 

21. März. Zustand vorgeschritten gebessert. Der Hund 
läuft flott und munter herum, springt, ohne auszugleiten, von 
ganz ansehnlichen Höhen herab, reicht auf Geheiss die Pfoten. 

25. März. Unterbindet man diesem Thiere eine hintere 
Extremität, so vermag es sich anfangs mit dem einen Fuss nicht 
recht aufrecht zu halten, sondern fällt um. Erst später erhält 
er sich auch in dieser Form aufrecht und geht herum. 

5. April. Getödtet. 

Als nach zehn Tagen Härtung in Müll er'scher Flüssigkeit 
die Medulla von ihren Häuten abgeschält wurde, präsentirte sich 
die Läsion wie eine frisch gesetzte Verwundung mit scharfen 
Bändern ohne alle Beaction. Sie sass ziemlich hoch, fast in 
Höhe des Corp. trapez. 

Fig. 4 (Tafel II) zeigt, dass auf der linken Seite die 
Pyramiden vollständig, auf der rechten bis auf ein kleines 
mediales Zäpfchen durchtrennt sind. Verletzt ist gleichzeitig 


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Dr. Josef Starlinger. 


auch beiderseits die dahinter liegende Schleife. Von Degeneration 
ist ah diesem Schnitte ausser einer bandförmigen Schollen¬ 
anhäufung um die Läsion und Fibr. arcuat. im Schleifengebiete 
nicht viel mehr zu sehen. Die Fibr. arcuat. ext. sind in der 
Höhe weniger zahlreich, daher ihre Degeneration nur angedeutet. 

An Präparaten gleich unter der Verletzung sieht man das 
linke Pyramidenfeld gleichmässig und in toto von schwarzen 
Pünktchen durchsetzt und das rechte bis auf ein kleines mediales 
Dreieckchen davon erfüllt, aber eines ist auffällig. Während in 
allen früheren Fällen so nahe unter der Verletzung jedesmal 
die Degeneration sehr intensiv sich darstellte, ist hier zwar 
auch die Durchsetzung mit schwarzen Pünktchen ganz gleich¬ 
mässig, aber weitaus spärlicher und feiner gekörnt, als bei dieser 
ausgiebigen Läsion zu vermuthen wäre. 

Eine Erklärung für diesen Befund ist nicht leicht einwands¬ 
frei zu liefern. 

Das Thier lebte nach der Operation gerade so lange als 
die übrigen. Es ist schwer anzunehmen, dass der Fortschritt 
in der Degeneration demnach in diesem Falle ein so auffällig 
anderer gewesen sein soll. Im Ausklingen kann der Degenerations- 
process gewiss noch nicht gewesen sein, da dann an den Pyra¬ 
midensträngen eine atrophische Verschmälerung hätte bemerkt 
werden müssen, wenn das Mark entsprechend den zahlreich durch¬ 
trennten Pyramidenfasern schon gänzlich resorbirt worden wäre. 

Zudem lassen andere Färbungen (z. B. nach Pal) an Schnitten 
aus fast derselben Höhe fast gar keinen Ausfall vonFasern erkennen. 

Will man eine mangelhafte Imprägnirung annehmen, so 
stösst sich dieses an der Thatsache, dass andere Faserzüge 
desselben Schnittes (der Haube z. B.) wohl ausgeprägte Dege¬ 
nerationsbilder bieten. Und ich habe bei meinen Versuchen nie 
gesehen, dass nach circa einem Monat die einzelnen Faserzüge 
sich so verschieden verhalten würden. Ist ein Faserzug von 
seinem Ernährungscentrum getrennt, so bietet er noch einen 
Monat dasselbe intensive Bild von Degeneration, ob nun eine 
solche nach auf- oder abwärts zu erfolgen pflegt. 

Wie immer man diese Erscheinung finden mag, eine be¬ 
friedigende Erklärung wird sie kaum schaffen. Diese geringe 
Degeneration gleich unmittelbar unter der sehr ausgiebigen 
Degeneration wird immer auffällig bleiben. 


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Die Dnrchscimeidung beider Pyramiden beim Hnnde. 


27 


Ich will einstweilen auf dieses Vorkommniss bei meinen 
Versuchen nur hinweisen. 




Die Pyramidendegeneration wird weiter . abwärts schnell 
geringer und erschöpft sich im Brustmarke. Die Degeneration 
um die Oliven herum setzt sich im Vorderstrange des Röcken- 


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Dr. Josef Starlinger. 


markes fort, reicht tiefer als die Pyramidendegeneration, aber 
im Lendenmarke ist auch davon nichts sicheres nachweislich. 
Deutlich treten in den Schnitten am distalen Pole der Oliven 
Degenerationen der Fibrae arcuat. int. auf, die bis in die Hinter¬ 
strangskerne sich verfolgen lassen. Sie müssen also absteigend 
degeneriren, da die Läsion weit höher sitzt, das scheint auf dem 
ersten Blick für eine absteigende Schleifendegeneration zu 
sprechen, aber aus Präparaten, wo die Hinterstrangskerne 
zerstört worden sind, sieht man ebenfalls die aufsteigende 
Degeneration nicht bloss auf Olivenzwischenschicht und Schleife 
beschränkt, sondern auch die unmittelbar den Oliven hinten 
benachbarten Felder von schwarzen Pünktchen durchsäet. Es 



lässt sich somit hieraus nicht sicher entnehmen, ob diese degene- 
rirten Fibr. arcuat. int. bei den Pyramidenverletzungen der 
Schleife zuzuzählen sind oder nicht. 

Fall V. Kleiner, junger Hund, ob schon ausgewachsen, 
erscheint fraglich. 

13. April. Operirt im Beisein der Herren Prof. Anton 
(Graz) und Mayer (Innsbruck). Die Durchtrennung geschah 
hier mit den schon eingangs beschriebenen kleinen Dechamps. 

Nach zwei Stunden auch hier schon völlig anstandsloses 
Herumlaufen. 

26. April. Glatte Wundheilung. Das Thier von sehr munterem, 
lebhaftem Wesen, vermag auch ganz allein auf den Hinter¬ 
beinen zu gehen. 

28. April. Springt ziemlich hoch, wenn man ihm etwas Be- 
gehrenswerthes vorhält. Trollt sich herum wie nichtoperirte Thiere. 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


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30. April. Getödtet. 

Vordem aber noch in massiger Narkose Trepanirung in 
der Gegend des rechten Gyrus sigmoideus und elektrische 
Beizung dieser Gehirnpartie. Prompte Zuckungen im contra¬ 
lateralen Gebiete des Facialis, den vorderen und hinteren 
Extremitäten. 

Schliesslich konnte bei kräftiger Beizung ein epileptischer 
Anfall ausgelöst werden. 

Die Section ergab eine Verletzung oberhalb der grossen 
Oliven. 

Fig. 2 (Tafel IV) zeigt ein Präparat mitten durch die Läsion. 



In demselben erscheinen beide Pyramiden bis auf ganz kleine 
seitliche Dreiecke, ferner die nach hinten anschliessende Schleife 
zerstört und finden sich ausserdem in der linken Begio motoria 
mehrere entzündliche Herde. Um alle diese Herde zieht sich 
ein Band von Degenerationsschollen. Von längsgetroffenen Fasern 
zeigen Degenerationen zahlreiche Fibr. arcuat. int., Fasern in 
der Baphe und Geisselfasern vom hinteren Längsbündel aus 
(r.=l.). Unter der Narbe sieht man spärliche schwarze Pünktchen 
in beiden Pyramidenfeldern, und zwar in den medianen Antheilen 
stärker als in den lateralen und im linken motorischen Hauben¬ 
felde. Auch im rechten ist eine Spur zu sehen. Frei ist die 
Olivenzwischenschicht, Schleife, Fibr. arcuat. int. 


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30 


Dr. Josef Starlinger. 


Die Pyramidendegeneration reicht etwa bis zum oberen Brust¬ 
mark, erschöpft sich zu gleicher Zeit rechts und links. Die Degenera¬ 
tion des motorischen Feldes geht in den Vorderstrang über, reicht 



Fig. 17. Oberes Brastmark, Fall Y. Fig. 18. Unteres Brnstmark, Fall V- 

nach abwärts auch auf den Seitenstrang hinüber und verschwindet 
erst im Lendenmarke. 

Fall VI. Ausgewachsener Hund, mittelgrosses Thier. 

2. Juli. Operirt. Pyramiden mit der kleinen Dechamps’schen 
Nadel durchrissen. Unmittelbar nach der Operation ganz un¬ 
empfindlich. Das Thier rollt auf die linke Seite. 




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Die Durchsclmeidung beider Pyramiden beim Hunde. 


31 


3. Juli. Bei Gehversuchen häufiges Ueberkugeln nach links. 
Alle Bewegungen sehr ungeschickt, überkreuzt die Vorderbeine, 
und zwar öfters links über rechts als umgekehrt. Beim Gehen 
Aufsetzen des Pfotenrückens. Die Reflexe sind erhalten. Der 
Hund liegt meist ruhig dahin. Stehen nur mit seitlich gespreizten 
Füssen möglich. 

4. Juli. Gang ä travers. Kopf nach links gehalten. Linke 
vordere Extremität zeigt Bewegungsstörungen, wird übermässig 
beim Gehen nach vorne geschleudert. Rollungen um die Längs- 
axe nach links nur selten mehr. Bei Kneipen keine Abwehr¬ 
bewegungen. 

5. Juli. Rollt sich nicht mehr. Ueberkreuzen der Beine 
seltener. Empfindlichkeit besser. 

6. Juli. Läuft gut, aber ä travers. 

7. Juli. Streift noch mit den Krallen am Boden. Sensibilität 
links besser. 

8. Juli. Beim Herabsteigen über Stufen Ueberkugeln. 

13. Juli. Beim Treppensteigen noch immer ungeschickt. 

2. August. Getödtet. Zuvor folgender Befund: 

Linkes vorderes Bein schwächer. 

Beim Laufen häufiges Ueberkreuzen der Beine. Laufen nicht 
gewöhnlich, mehr ein Hüpfen. Stiegensteigen erschwert, unsicher, 
greift oft daneben, und hat er endlich mit beiden Vorderfüssen 
eine Stufe erstiegen, hüpft er mit beiden Hinterfüssen zugleich 
nach. 

Die Section ergab eine ausgiebige Narbe in Olivenhöhe. 

Fig. 1 (Tafel IV) zeigt einen Schnitt durch dieselbe. Danach sind 
die Pyramiden beiderseits vollständig zerstört. Ausserdem aber ist 
durch nachträgliche entzündliche Veränderung die Olivenzwischen¬ 
schicht, die motorische Haubenbahn einschliesslich des rechten 
hinteren Längsbündels gleichfalls zum grössten Theile in den Zer- 
störungsprocess einbezogen worden. 

Um alle diese genannten Partien zieht sich eine bandförmige 
Schollenanhäufung. Da linkerseits auch die Olive stark tangirt 
ist, ist auch ihr laterales Feld dicht mit schwarzen Pünktchen 
durchsetzt. 

Die Fibrae arcuat. ext. und Fibrae arcuat. int. zeigen deutliche 
Degenerationen, und zwar von letzteren sowohl die Anteriores, 
als auch die Posteriores. Man kann ihren Verlauf von der Raphe 


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32 


Dr. Josef Starlinger. 


weg genau bis zu den Hinterstrangskernen und zur Substant. 
gelat. Rolandi hin ersehen. 

Auch unterhalb der Verletzung ändert sich nicht viel an 
diesen Degenerationsbildern. Ganz besonders deutlich treten die 
Fibrae arcuat. ext. hervor, und sie lassen sich sehr schön durch 
die Pyramiden hindurch zur Raphe hin verfolgen, wo sie dann 
seitlich abbiegen. Ueber ihren weiteren Verlauf lässt sich aus 
unseren Präparaten kein sicherer Anhalt gewinnen, weil sie 
sich mit den Fibrae arcuat. int. so verwirren, dass sie einzeln 
nicht mehr zu verfolgen sind. Doch steht der Ansicht nichts im 
Wege, dass diese Fasern aus den Hinterstrangskernen kommen, 
zum anderseitigen Corp. restif. und weiterhin zum Kleinhirn 
gehen, also eine gekreuzte Verbindung von den Hinterstrangs¬ 
kernen zum Kleinhirn darstellen. 

In der Höhe der Decussation treten im Allgemeinen wieder 
in denselben Feldern Degenerationen auf wie in den früheren 
Fällen. Die Büschel der Pyramiden sind dicht mit schwarzen 
Pünktchen durchsäet, die Vorderstränge zeigen deutliche Schollen- 
anhäufung und in der ganzen Ausdehnung der Hinterstrangs¬ 
kerne finden sich zahlreiche degenerirte Fibrae arcuat. int. 

Die Pyramidendegeneration setzt sich im Cervicalmarke 
intensiv fort und die Degenerationen in den Vordersträngen be¬ 
schränken sich meist auf die peripherischen Partien. 

Aber auch in die Seitenstränge strahlen diese Degenerationen 
schon hinüber, wie ein Kometenschweif sich verbreiternd. 

In der Halsanschwellung runden sich die degenerirten Py¬ 
ramidenseitenstränge und drängen sich die Degenerationen im 
Vorderseitenstrange noch mehr gegen die Peripherie. Ein Ver- 
hältniss, das sich im ganzen Brustmarke nicht viel ändert, nur 
dass zusehends die Degenerationen besonders im Pyramiden¬ 
seitenstrange abnehmen. 

Im Lendenmarke unterscheiden sich die hinteren Abschnitte 
der Seitenstränge in nichts mehr von den Feldern, die nie De¬ 
generation darboten, z. B. Hinterstränge. 

Von absteigend degenerirten Pyramidenfasern ist also hier 
nichts mehr zu sehen. 

Dagegen sind in den Vorderseitensträngen in den peripheren 
Partien noch immer deutlich die bekannten Schollen nach¬ 
weislich. 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


33 



Fig. 19. Halsanschwellung, Fall VI. 



Fig. 20. Brustmark, Fall VI. 



Fig. 21. Lendenanschwellung, Fall VI. 

Jahrbücher f. Psychiatrie and Neurologie. XV. Bd. 3 


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34 


Dr. Josef Starlinger. 


Ich will zur besseren Uebersicht die bezüglich der Py¬ 
ramidenbahnen gefundenen Thatsachen in dem folgenden Schema 
kurz zusammenfassen. 


Fälle 

Ort der Läsion 

Zerstörung der 
Pyramiden¬ 
stränge 

Ausfalls¬ 

erscheinung 

Ausdehnung der 
Degeneration 

I 

— 

in Olivenhöhe 

rechts voll¬ 
ständig, links 
vollständig 

streift mit den 
Krallen, sonst 
ohne gröbere 
Auffälligkeit 

bis zur Lende 

II 

oberes Drittel der 
Oliven und ober 
denselben 

rechts voll¬ 
ständig, links 
zum Theile 

in nichts auffällig 

links schon im 
Halsmark stark 
gelichtet, rechts 
noch deutlich 

III 

in Olivenhöhe 

rechtszumTheile, 
links zum Theile 

dto. 

erschöpft sich 
unter dem Hals¬ 
mark 

IV 

in der Höhe des 
Corpus trapez. 

rechtszumTheile, 
links vollständig 

| Schwanken des 
Hintertheiles, 
wenn Fuss unter¬ 
bunden 

links bis Hals¬ 
mark, rechts bis 
oberes Brustmark 

Y 

oberhalb der 
Oliven 

rechts fast völlig, 
links fast voll¬ 
ständig 

in nichts auffällig 

oberes Brustmark 

i 

VI 

in Olivenhöhe 

rechts voll¬ 
ständig, links 
vollständig 

ataktisch 

bis zur Lende | 

i 


Ich habe gleich eingangs und bei der histologischen Unter¬ 
suchung neuerdings mir darauf hinzuweisen erlaubt, dass ich 
glaube, dass das Degenerationsbild, wie es die Marchi-Methode 
liefert, ein ziemlich verlässlicher Ausdruck ist für die geringere 
oder grössere Menge der degenerirten Fasern. Die vorstehende 
Tabelle liefert einen neuerlichen Beweis hiefür. Der Fall II 
und IV zeigt genau den Läsionen entsprechende Differenzen in 
der Imprägnirung. Derjenige Pyramidenstrang, der eine voll¬ 
ständigere Unterbrechung erfahren hat, weist auch in seinem 
Verlaufe eine intensiv und extensiv stärkere Degeneration auf. 


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Die Darchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


35 


Die absteigende Degeneration der total durch trennten Py¬ 
ramiden brachte auch die Form ihres Querschnittes recht scharf 
und deutlich zum Ausdrucke. Im Allgemeinen ist dieselbe in der 
Medulla oblongata streng abgegrenzt. Von drei Seiten durch die 
Form der Medulla bestimmt, erscheint sie nach hinten in einem 
mehr weniger flachen Bogen ziemlich scharf von den dahinter¬ 
liegenden Gebilden gesondert. Ich habe nie ersehen, dass ver¬ 
sprengte Bündel existiren, oder dass das Pyramidenfeld etwa 
zapfenförmig an der Baphe nach rückwärts ausladet. 

In denjenigen Fällen, wo nur eine theilweise Zerstörung 
stattfand, war ferner ersichtlich, dass die einzelnen Bündel unter 
sich keine besondere Verflechtung oder Verlagerung eingehen, 
sondern bis zur Kreuzung in derselben Lage verharren, Die 
lateralen bleiben lateral, und die medialen medial. Nur verbreitert 
sich nach unten hin das ursprüngliche Degenerationsfeld etwas, 
indem die Schollen gegen die Peripherie mehr auseinänder- 
weichen. Und in dem Sinne scheint allerdings eine gewisse Ver¬ 
flechtung stattzufinden. Aber es kommt nie so weit, dass etwa 
die medialen zu den lateralen, oder die lateralen zu medialen 
Bündeln werden. Auch bei der Kreuzung scheint stets der 
Typus eingehalten zu werden, dass immer die medialen Partien 
sich zuerst kreuzen. 

Ich habe schon früher erwähnt, dass die Kreuzung sich 
büschelförmig vollzieht. Nicht selten sieht man so ein Bündel 
das ganze breite Grau durchsetzen und sich gleich ziemlich 
weit in den Seitenstrang hineinbegeben, während die meisten 
vorerst im Grau verweilen und erst allmählich von den nach¬ 
rückenden zur Seite gedrängt werden. Diese Büschel bleiben 
anfangs unvermengt nebeneinander liegen, bilden im Allgemeinen 
eine Dreiecksform und ganz allmählich rücken sie dicht zu¬ 
sammen und vermengen sich miteinander. 

Im Halsmarke liegen die Schollen des Seitenstranges in völlig 
kreisrunder Form derart beisammen, dass das Centrum deutlich 
dichter besäet erscheint und die Schollen gegen die Peripherie hin 
immer weiter auseinander rücken. Diese Rarificirung wird caudal- 
wärts immer stärker. Besonders rasch vollzieht sie sich in der Hals¬ 
anschwellung, so dass oberflächlich geschätzt, für das Brustmark 
kaum die Hälfte erübrigt. Im langen Brustmarke erschöpft sie sich 
dann langsam ganz, so dass in meinen Fällen in keinem Falle im 

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Dr. Josef Starlinger. 


Lendenmarke von Degeneration etwas zu ersehen war. In den 
grauen Columnen des Bückenmarkes sah ich nie Degenerations¬ 
fäden. 

Eine Verschmälerung des grauen Vorderhornes oder eine 
Veränderung in den Vorderhornzellen, so weit Carminpräparate 
Schlüsse gestatten, kann ich gleichfalls nicht namhaft machen. 

Hier mag auch bemerkt werden, dass, obwohl makroskopisch 
schon in den in Müll er'scher Flüssigkeit liegenden Stücken die 
Degeneration der Pyramidenbahnen an dem weisslichen Stiche 
specifischen Ausdruck fand, äusserlich niemals eine atrophische 
Verkleinerung weder an den Pyramiden noch weiter abwärts 
zu constatiren war. Die rundlichen Formen der Pyramiden 
traten an den Präparaten der operirten Thiere gerade so scharf 
hervor wie bei nicht operirten Thieren. Dieser Involutions- 
process scheint also eine längere Zeit nöthig zu haben als ein 
Monat der Lebensdauer, die wir unseren Versuchsthieren 
gönnten. Nicht uninteressant ist an der vorliegenden Versuchs¬ 
weise die Art und Weise der secundären Zerstörungen. 

Dieselben zeigen alle eine Tendenz, für die Gebiete nach 
rückwärts von der Läsion, in Sonderheit der Eapbe entlang 
sich auszubreiten. Es hängt dies offenbar mit der Gefässaus- 
breitung zusammen. Es ist dies um so auffälliger, als hierdurch 
oft von der ursprünglichen Läsion ganz entlegene Gebiete 
tangirt werden können. So finden sich nicht selten Herde im 
hinteren Längsbündel und selbst im Grau des vierten Ventrikels. 
Dieser Befund überrascht umsomehr, da die Pyramiden ein 
ganz entgegengesetztes Verhalten darbieten. Bei denselben 
scheint niemals die ursprüngliche Läsion secundär eine Er¬ 
weiterung erfahren zu haben. An den Fällen, wo nur eine 
partielle Läsion erzeugt wurde, schliesst die Narbe auch mit der 
Degeneration völlig unvermittelt ab und selbst kleine Stränge 
haben da ihre Vitalität bewahrt und gingen im Wundverlaufe 
nicht unter. 

Bei dem Studium über die absteigenden Pyramidenfasem 
drängt sich unwillkürlich auch die Frage auf, was wird aus 
den Pyramidenfasern, wo enden sie, welche Verbindungen 
gehen sie ein? Darüber gibt die Degenerationsmethode keinen 
Aufschluss. Auch nicht eine Vermuthung lässt sich irgendwie 
stützen. Die Collateralen markiren sich niemals. Auch sah ich 


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Oie Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


37 


niemals vom degenerirten Seitenstrange einzelne Fäden irgend 
wohin ausbiegen. Bei den lückenlosen Serien, bei einzelnen 
Fällen durch das ganze Cerricalmark hätte dieses kaum ent¬ 
gehen können. Hält man dabei sich vor Augen, wie die Fibrae 
arcuat. auch einzeln so scharf hervortreten und bis zum Flecht¬ 
werk der Gangliencentren schön sich verfolgen lassen, so muss 
das einigermassen auffallen. Einfach blind wird die Faser nicht 
enden und mit einem Schlage wird auch das degenerirende 
Mark an der einzelnen Faser nicht aufhören. 

Vielleicht erschöpfen die Collateralen die Nervenfaser all¬ 
mählich und geht auch damit eine Verdünnung des Markes Hand 
in Hand. Die ungleiche Stärke der Nervenfasern, wie sie sich am 
Querschnitte im Carminpräparate darbieten, würde dieser 
Ansicht einige Wahrscheinlichkeit verleihen. 

Ich habe beim Fall I auf scharf umschriebene degenerirte 
Bündel hingewiesen, die aufwärts degeneriren. 

Aehnliche aberrante Bündel mit Degenerationen finden sich 
in dem oberen Cervicalmark auch absteigend. Man meint, so 
ein Bündel, das Schnitt für Schnitt sich so deutlich hervorhebt, 
wird einem nicht entgehen können. Allmählich aber werden die 
schwarzen Scheibchen immer weniger, sie sind dann leicht 
zählbar, etwa vier bis fünf. Nacheinander verschwinden auch 
die, schliesslich bleibt nur mehr die Hülse des Bündels übrig, 
aber nirgends und niemals war es möglich, ein degenerirtes 
Fädchen daran abbiegen zu sehen. 

Das ist nur möglich, wenn die Faser ihr Mark verliert, 
d. h. aufhört, eine selbstständige Nervenfaser zu sein. 

Eine andere Erklärung ist kaum zulässig, denn man sieht 
andererseits, wie das degenerirte glossopharyngeo Vagusbündel 
ein schönes Beispiel hiefür liefert, dass sich bei Serienschnitten 
jedes schwarze Pünktchen als austretender Degenerationsfaden 
verfolgen lässt. 

Bezüglich der übrigen Degenerationen möchte ich nur 
erwähnen, dass das hintere Längsbündel sich keineswegs caudal 
mit den Hirnnerven erschöpft, sondern sicher über die Hals¬ 
anschwellung noch hinunterreicht. Hierzu lehren die Präparate 
noch weiter, dass sich die Fasern des hinteren Längsbündels 
vorwiegend in den der vorderen Commissur dicht anliegenden 
Partien des Vorderstranges halten. Das hintere Längsbündel dege- 


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38 


Dr. Josef Starlinger. 


nerirt vorwiegend nach abwärts, aber auch nach aufwärts, Dasselbe 
gilt im Grossen und Ganzen von den Fasern des mittleren motori¬ 
schen Feldes, der Vorderstrangtheile der Formotio retical. Flech¬ 
sig’s. Nur reichen diese weiter hinunter, breiten sich abwärts 
immer mehr aus und ihre Degenerationen sind noch in der Cauda 
deutlich zu sehen. Nach aufwärts degenerirt nur der geringere 
Theil davon und der nähert sich immer mehr dem Felde des 
hinteren Längsbündels, bis er schliesslich ganz in dasselbe 
übergeht und sich allmählich erschöpft. 

Die Degeneration der Schleife konnte ich überall bis weit 
in den Thalamus hinein deutlich verfolgen. 

Näheres hierüber in einer späteren Arbeit und in Zusam¬ 
menhang mit anderen Experimenten. 

An der früheren Uebersichtstabelle ist kenntlich, dass 
die Pyramiden in allen möglichen Combinationen lädirt sind. 
Es sind beide Pyramidenbahnen vollständig, es ist nur die 
eine vollständig, die andere nur theilweise und es sind endlich 
beide nur theilweise unterbrochen. Vergleicht man hiermit die 
Ausfallserscheinungen, so ist man füglich erstaunt, dass dieselben 
keine relativen Differenzen aufweisen. 

Alle Hunde fangen bald nach der Operation, oft schon nach 
einer halben Stunde zu gehen an. Nur der letzte Fall macht 
hiervon eine begreifliche Ausnahme wegen des secundären 
Uebergreifens der Läsion fast auf das gesammte mittlere 
Haubenfeld. 

Alle Hunde erreichen nach Ablauf der Wundheilung ihr 
fast uneingeschränktes Bewegungsvermögen. Nur der letzte 
wieder zeigte dauernde Störungen. 

Sie springen auf Commando auf Sessel und Tische und 
wieder herunter, ohne auszugleiten oder hinzufallen. Sie ver¬ 
fahren dabei mit einer sichtlichen Ueberlegung, benützen als 
Zwischenstufe Sessel oder Schemel, benützen aber andererseits 
keines von beiden, wenn sie schnell einem begehrten Gegen¬ 
stände nachjagen wollen. Schon bald nach der Operation voll¬ 
führen sie schwierigere Gangarten, wie Stiegensteigen, zeigen 
dabei vollkommen zweckmässige, ja geradezu vorsichtige 
Bewegungen der Extremitäten. Gerade dieses Stufensteigen 
macht so den Eindruck des Ueberlegten, Gewollten und unter¬ 
scheidet sich recht augenfällig vom Gange in der Ebene, der 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


39 


ganz automatisch sich vollzieht. Bei diesem trägt er den 
Kopf in der Höhe, vielleicht schnappend nach einem Lecker¬ 
bissen, wenn man ihm eben einen solchen vorhält, während er 
beim Stufensteigen späht und abwägt, voll Aufmerksamkeit für 
die schwierige Passage. Im Zimmer sucht und balgt er sich 
herum, umgreift seinen Gegner mit beiden Vorderfüssen und 
macht gegen denselben ganz handliche Abwehrbewegungen. 
Eine motorische Schwäche tritt im Allgemeinen dabei wenig 
hervor. Der operirte Hund hält sich auf drei Beinen aufrecht, 
wenn ihm eines unterbunden wird, gleichviel welches. Die 
Schnellkraft der Hinterfüsse scheint nicht wesentlich beeinflusst, 
wenigstens nicht mehr einige Zeit nach der Operation, Rigidität 
oder Steifheit bei passiven Bewegungen, so weit bei Thieren dies 
überhaupt objectiv prüfbar ist, ebenso eine Veränderung in den 
Sehnenreflexen trat niemals auf. Mit einem Worte, die Unter¬ 
brechung der Pyramidenleitung kann beim Hunde ohne alle 
gröbere Ausfallserscheinungen geschehen. Leider waren die 
operirten Thiere ohne alle Dressur. Nur einer konnte die Pfote 
reichen und dieser behielt dieselbe Fertigkeit auch nach der 
Operation. An den operirten Thieren wurde keine Dressur mehr 
versucht. In der ersten Zeit war eine solche wegen des Wund- 
heilungsprocesses unthunlich und für die Folge war die Zeit 
zu kurz, von einer solchen Erfolg zu erwarten; zu befürchten 
stand, dass mit dem Hinausschieben der Tödtung die Präparate 
für die Marchi-Untersuchung an Werth verlieren könnten. 
Ausserdem war es wünschenswert!^ des Vergleiches wegen für 
alle Hunde dieselbe Lebensdauer von circa einem Monat zur 
Basis zu haben. 

Was für Aufschlüsse über die Function der Pyramiden 
beim Hunde geben nun meine Durchschneidungsversuche? Es 
kann nur das eine gesagt werden, dass man nach dem Resultate 
der Versuche nicht angeben kann, welches die Function der 
Pyramiden ist; denn es wurden bei den operirten Thieren keine 
Ausfallserscheinungen beobachtet, die man auf das Fehlen der 
Pyramidenfunction hätte beziehen können. Von besonderem 
Interesse ist der Umstand, dass in einigen Fällen die Thiere 
wieder sehr rasch ihre volle Beweglichkeit erreichten; und wenn 
das in anderen Fällen nicht ebenso rasch der Fall war, so 
berechtigt das gegenüber den ersten Fällen umsoweniger zu 


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Dr. Josef Starlinger. 


dem Schlüsse, dass diese anfänglichen Bewegungsstörungen auf 
Rechnung der Pyramidendurchschneidung zu setzen wären, als 
ja meist noch mehr oder weniger ausgedehnte secundäre Läsionen 
in der Medulla oblongata vorhanden waren. 

Man kann also mit Bestimmtheit sagen, dass die motorische 
Innervation für die Locomotion (Gehen, Laufen, Stiegensteigen, 
Springen, sich auf die Hinterbeine erheben), sowie für das 
Haschen nach Nahrung, das Ergreifen mit den Vorderpfoten 
u. dgl., beim Hunde nicht durch die Pyramiden allein geht. 

Man kann ferner auch mit Rücksicht auf das Ergebniss 
des Versuches V sagen, dass die Innervation jener Bewegungen 
und Krämpfe, welche durch elektrische Reizung der Hirnrinde 
hervorgerufen werden, nicht ausschliesslich durch die Pyra¬ 
miden geht. 

Auffallend ist noch ein Umstand: das Fehlen der spastischen 
Erscheinungen nach Durchschneidung der Pyramiden. Bei 
keinem meiner Hunde wurde etwas ähnliches wie Contractur 
oder Steifigkeit in den Extremitäten beobachtet; bei keinem 
auch fand sich eine Steigerung der Sehnenreflexe. 

Es war das oben angeführte Resultat der Versuche, wie 
ich schon in meiner vorläufigen Mittheilung dargelegt habe, bis 
zu einem gewissen Grade a priori zu erwarten. Goltz hat schon 
gezeigt, dass ein Hund, dem man die motorische Zone der 
Hirnrinde beiderseits exstirpirt hat, ja dass ein Hund, dem man 
den allergrössten Theil der Hirnrinde entfernt hat, noch ein 
beträchtliches Mass von motorischen Leistungen aufbringt. 

Es ist aber immerhin noch ein bedeutender Unterschied 
zwischen einem Hunde mit durchschnittenen Pyramiden und 
einem Hunde mit Exstirpation beider motorischen Zonen. Die 
Bewegungsstörungen des ersteren sind geringer nach Intensität 
und Dauer. Was ersteres anbelangt, zeigt ja ein Hund mit 
Exstirpation beider, motorischen Zonen anfangs Lähmungs¬ 
erscheinungen, die beim Hunde mit durchschnittenen Pyramiden 
von Anfang an fehlen, da derselbe ja in manchen Fällen sofort 
nach der Operation herumzugehen und Treppen zu steigen im 
Stande ist. Aus dieser Differenz im motorischen Verhalten des 
pyramidenlosen und des rindenlosen Hundes ergibt sich, dass 
beim Hunde von der Hirnrinde noch eine zweite motorische 
Bahn ausgehen muss, welche nicht durch die Pyramiden führt. 


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Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde. 


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Zu demselben Postulate gelangt man auch bei Berücksichtigung 
der Reizversuche; wenn die elektrische Reizung der Hirnrinde 
nach Durchschneidung der Pyramiden noch einen motorischen 
Effect hat, dann muss in der Medulla oblongata ausser den 
Pyramiden noch eine zweite motorische Bahn vorhanden sein, 
welche direct oder indirect in der Hirnrinde entspringt. Ueber 
Verlauf und Verbindungen dieser Bahn wissen wir allerdings 
noch nichts. 

Es ist wohl klar, dass man sich hüten muss, diese Resultate 
des Thierexperimentes ohneweiters auf den Menschen zu über¬ 
tragen. Dass die Pyramiden beim Menschen eine viel wichtigere 
Rolle spielen als beim Hunde, dafür spricht schon ihre viel 
mächtigere Entwickelung. 

Es wäre wichtig, das Experiment am Affen zu wiederholen, 
der ja im Bau und, wie die Exstirpationsversuche an der Hirn¬ 
rinde gezeigt haben, auch in der Function des Gehirnes dem 
Menschen näher steht als der Hund. Ich hatte bis jetzt keine 
Gelegenheit, die Durchschneidung der Pyramiden beim Affen 
vorzunehmen, und nach einem Vorversuche, den ich unternommen 
habe, scheint es wohl, dass diese Operation beim Affen viel 
grössere, vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten 
dürfte. 

Jedenfalls müssen aber diese Versuche dazu auffordern, die 
Grundlagen der herrschenden Lehre über die Function der Py¬ 
ramiden beim Menschen einer erneuerten Prüfung zu unterziehen. 

Es werden dabei nur solche Fälle in Betracht gezogen 
werden können, in denen auf die Pyramiden der Oblongata be¬ 
schränkte Erkrankungen vorliegen. Denn ich habe nachgewiesen, 
dass eine zweite corticomusculäre Bahn (die wir uns wahr¬ 
scheinlich als eine indirecte denken müssen) existirt; über 
den Verlauf dieser Bahn und die Beziehungen derselben zur 
Pyramidenbahn wissen wir jedoch nichts. Es wird also bei 
Herden in der Oblongata, die nicht bloss auf die Pyramiden be¬ 
schränkt sind, immer das Bedenken geltend zu machen sein, 
dass die beobachteten Ausfallserscheinungen ganz oder theil- 
weise auf Rechnung einer Leitungsstörung in der zweiten 
corticomusculären Bahn zu setzen seien. 

Derselbe Einwand wird auch zu machen sein in Fällen, 
wo die Pyramidenbahn an einer anderen Stelle ihres Verlaufes 


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Dr. Joset Starlinger. 


eine Läsion erlitten bat, umsomehr, als die Pyramidenbahn an 
anderen Stellen gar nicht scharf von anderen Faserzügen ge¬ 
trennt ist. 

Zum Schlüsse gereicht es mir zur angenehmen Pflicht, Herrn 
Professor v. Wagner, meinem ehemaligen Chef, für seine warme 
Förderung und Unterstützung meinen aufrichtigen und ergebenen 
Dank auszudrücken. 


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Zur Kenntuiss der Rayuaud'schen Krankheit. 

(Aus der III. medicinischen Universitätsklinik [Prof. v. Schrötter] in Wien.) 

Von 

Dr. Adolf Calmann aus Hamburg, 

Hospitanten der Klinik. 

Als Raynaud seine grundlegende Arbeit über das Krank¬ 
heitsbild veröffentlichte, das in seiner Gesammtheit seitdem nach 
ihm benannt wird, sprach er seine Ansicht dahin aus, dass diese 
Erscheinungen nur auf eine Erkrankung des Nervensystems 
zurückzuführen seien, und zwar glaubte er, den Sitz derselben 
in das Rückenmark verlegen zu dürfen. Schon damals hatte er 
Gelegenheit, von den bisher beobachteten Fällen des von ihm 
charakterisirten Symptomencomplexes eine Anzahl auszuschalten, 
die sich an irgend eine constitutioneile Krankheit, gewöhnlich 
eine Affection der Nieren oder des Circulationsapparates, ange¬ 
schlossen hatten. Um so seltsamer ist es, dass noch in der 
allerneuesten Zeit Erkrankungen als Raynaud’sche Fälle ver¬ 
öffentlicht werden, die auf die Läsion irgend eines nicht nervösen 
Organes zurückzuführen sind. Sehen wir jedoch hiervon ab, so 
sind fast alle neueren Autoren sich darüber einig, die Raynaud- 
sche Krankheit als eine nervöse Erkrankung an und für sich 
oder als Symptom derselben aufzutässen. 

Nur sind im Laufe der Zeit die Grenzen für eine Locali- 
sation der Krankheitsursache weiter gesteckt worden, indem 
man den peripherischen Nerven in der Aetiologie der Raynaud- 
schen Affection eine Rolle zuertheilte und andererseits von 
einer anatomischen Ursache des Leidens absah und dasselbe 
als eine rein functioneile Erkrankung, als eine Neurose, aufgefasst 


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44 


Dr. Adolf Calmann. 


wissen wollte. Zuerst Mounstein, 4 ) nach ihm Pitres und 
Vaillard 2 ) fanden in drei Fällen im Ganzen, die durch Ob- 
duction klargestellt worden waren, eine schwere degenerative 
Neuritis in den erkrankten Organen; in dem einen Falle der 
letztgenannten Autoren fand sich jedoch noch ausser derselben 
eine leichte diffuse Sklerose in der Dorsal- und Lumbalgegend 
des Bückenmarkes. Eine Ergänzung zu diesen Befunden bietet 
die Beobachtung Aff leck’s, 3 ) der an dem amputirten Fusse 
einer an symmetrischer Gangrän erkrankten Person eine fast 
völlige Zerstörung des N. plantaris durch Neuritis feststellen 
konnte. Die Auffassung dieser vier Autoren, dass die Läsion 
der Nerven den Eaynaud’schen Symptomcomplex hervorrufen 
könne, begegnete bald einem entschiedenen Widerspruche. 

Dehio, 4 ) der ebenfalls Gelegenheit hatte, an dem amputirten 
Unterschenkel einer an symmetrischer Gangrän erkrankten 
Frau degenerative Veränderungen der Nerven zu studiren, 
trat mit Nachdruck dafür ein, diese Schädigung der Nerven 
als eine Folge der Gangrän und der mit ihr einhergehenden 
Ernährungsstörungen des Organes aufzufassen. Da er nunmehr 
eine Ursache der Erkrankung in seinem Falle nicht nachweisen 
konnte, schliesst er sich der Gruppe derjenigen an, die in der 
Baynaud’schen Krankheit ein Leiden rein neurotischen 
Ursprunges sehen. 

Diejenigen, welche nun für alle Baynaud’schen Fälle ein 
immaterielles Leiden nervöser Natur annehmen, schiessen doch 
wohl über das Ziel hinaus. Einer derartig einseitigen Anschauung 
stehen eine nicht unbeträchtliche Zahl von Beobachtungen 
gegenüber, die als Ursache der localen Asphyxie und ihrer 
Folgezustände einen anatomisch ausgebildeten Krankheitsprocess 
in vivo oder durch Obduction nachwiesen. Mit noch viel 
grösserem Gewichte spricht dagegen ferner der Umstand, dass 
in sämmtlichen bisher zur Obduction gelangten Fällen, so weit 
ich aus meiner Umschau in der Literatur schliessen darf, nicht 
ein einzigesmal eine organische Erkrankung des Nervensystems 

Ueber spontane Gangrän und Infarcte. Inauguraldissertation. Strass¬ 
burg 1884. 

2 ) Archiv de Physiologie 1885, Serie III, ßd. V. 

3 ) British, Medical Journal December 8. 1888. 

4 ) Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 1898. 


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Zur Kenntnis der Raynaud’schen Krankheit. 


45 


ausgeschlossen werden konnte. Zn den oben berichteten drei 
Fällen, von denen allerdings zwei nach der Auffassung Dehio’s 
und derjenigen, welche diese theilen, für diese Frage nicht in 
Betracht kommen, sind noch folgende hinzuzufügen. 

Als vierter der Fall Hochenegg’s,') dessen Ursache 
Syringomyelie war. Den fünften verdanken wir Fagge, 2 ) der 
als Ursache einer symmetrischen Gangrän bei einer 26 jährigen 
Dame einen Mediastinaltumor fand, welcher vor der Wirbelsäule 
den ersten Dorsalnerven und den Stamm des Splanchnicus um¬ 
wachsen hatte. Hierzu kommt als sechster der Fall von Tabes 
dorsualis, verbunden mit acuter Neuritis beider Peronei, bei dem 
Kornfeld 3 ) einen ausgesprochenen Eaynaud’schen Symptomen- 
complex beobachtet hatte. — Als siebenter Fall gehört hierher 
die Beobachtung von Hubertus Bervoets: 4 ) Eine Potatrix 
mit Dementia und Erscheinungen von Erweichung in der linken 
Gehirnhemisphäre erkrankt an symmetrischer Gangrän der Zehen. 
Die Autopsie ergibt Erweichung in der linken Grosshirnhemi¬ 
sphäre und ausgebreitete Arteriitis, Apicitis, Entartung des 
Nervus tibialis posticus und des Nervus collateralis der grossen 
Zehen beiderseits. Arteriitis der A. A. fibrales posticae. 

Allerdings könnte in diesem Falle die Arteriosklerose 
einerseits die Herderkrankungen im Grosshirn, andererseits die 
symmetrische Gangrän mit secundär entstehender Neuritis 
erzeugt haben; aber Bervoets selbst wies durch Thierexperi¬ 
mente nach, dass eine Zerstörung der Nerven eine Erkrankung 
der Arterienwände im Gefolge habe, die dann nach seiner An¬ 
sicht die unmittelbare Ursache der symmetrischen Gangrän 
würde. Danach könnten wir in seinem Falle die Degeneration 
der Nerven als Grundursache der Raynaud’schen Symptome 
anerkennen und seine Zugehörigkeit zu dieser Zusammenstellung 
zugeben. 

Mit grosser Vorsicht wäre der Fall von Warfvinge 5 ) zu 
verwerthen, bei dem der Krankheitsverlauf und Obductions- 


0 Wiener Medicinische Jahrbücher 1885, S. 569. 

*) Siehe Thiersch, Ein Fall von symmetrischer Gangrän der Extremitäten. 
Münchener Med. Wochenschrift 1895, S. 1120. 

3 ) Wiener Medicinische Presse 1892, Nr. 50, 51. 

4 ) Siehe ßeferat in Neurologischen Centralblatt 1895, Nr. 10. 

5 ) Siehe ßeferat, Schmidt’s Jahrbücher 1890, Nr. 228, S. 118. 


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46 


Dr. Adolf Calmaun. 


befund für eine schwere Infectionskrankheit, complicirt durch 
locale Asphyxie, sprach, in dem sich ferner nur makroskopische 
Veränderungen der Nervencentra ergaben, die die mikroskopische 
Untersuchung nicht bestätigte. 

Ganz auszuschliessen ist dagegen die Beobachtung 
Thiersch’s, der in einem Falle von symmetrischer Gangrän 
eine Arteriosklerose bei der Section fand, dieselbe als Ursache 
der vasomotorischen Störungen anerkannte, diese aber dennoch 
als ßaynaud’sche Krankheit bezeichnet. 

So sehr diese Leichenbefunde, wie gesagt, zu Gunsten der 
Annahme einer anatomisch nachweisbaren Ursache der sym 
metrischen Gangrän sprechen, müssen wir doch ebenfalls die 
Auffassung derselben als einer reinen Neurose gelten lassen. 
Wir müssten sonst die verhältnissmässig grosse Zahl von 
Beobachtungen an Lebenden unberücksichtigt lassen, in denen 
die genaueste Untersuchung sämmtlicher Organe mit allen 
Hilfsmitteln unserer modernen Diagnostik den Nachweis einer 
organischen Veränderung nicht erbringen konnte; und anzu¬ 
nehmen, dass in allen diesen Fällen eine bestehende anatomische 
Läsion irgend eines Organes nicht erkannt worden sei, hiesse 
doch an dem Werthe unserer Diagnostik verzweifeln! 

Um aber diese Frage, die zum grössten Theile noch rein 
theoretischen Erwägungen unterworfen ist, auf das Niveau un¬ 
anfechtbarer Thatsachen zu bringen und durch diese eine 
definitive Lösung derselben zu erzielen, stehen uns zwei gleich¬ 
zeitig zu verfolgende Wege offen: das Thierexperiment und die 
Statistik. 

Das erste hätte die Aufgabe, nachzuweisen, dass durch 
Verletzung der peripherischen Nerven oder des Centralnerven¬ 
systems der Eaynaud’sche Symptomencomplex erzeugt werden 
könne. In dieser Richtung war, wie ich oben bereits angedeutet 
habe, der Versuch von Bervoets 2 ) von Erfolg: die Durch¬ 
schneidung des Ischiadicus bewirkte eine bedeutende Veränderung 
in den Arterien, Verdickung der Arterien Wandung auf* Kosten 
des Lumens, Atrophie der peripherisch gelegenen Muskelzellen, 


*) Münchener Med. Wochenschrift, 26. November 1895, cf. 7. 

2 l L. c. Ich musste mich wegen Unkenntniss des Holländischen mit den 
Notizen des Referates begnügen. 


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Zar Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit. 


47 


Vermehrung der central gelegenen Muskelzellen der Media bis 
zum Durchbruche durch die Membrana elastica, wodurch auch 
ein Aneurysma entstehen kann. An den betreffenden Extremitäten 
hatte sich eine Gangrän entwickelt, für dießervoets als unmittelbare 
Ursache die Erkrankung der Arterien verantwortlich macht. — 
Auf diese Weise wäre jedoch nur der Nachweis zu erbringen, 
dass die Raynaud’sche Krankheit der Folgezustand einer 
organischen Erkrankung des Nervenapparates sei; als reine 
functionelle Neurose kann sie dadurch weder erkannt noch aus¬ 
geschlossen werden. Hier hätte nun die Statistik einzugreifen, 
die durch eine möglichst grosse Zahl gründlicher und kritischer 
Beobachtungen, womöglich ergänzt durch Obductionsbefunde, 
eine entscheidende Aufklärung verschaffen könnte. Ergibt diese 
immer wieder eine organische Erkrankung des Nervensystems 
als Grundlage der symmetrischen Gangrän, so müssten wir 
schliesslich davon absehen, sie als eine Neurose zu betrachten, 
während umgekehrt ein einziger negativer Sectionsbefund 
genügen würde, um ein- für allemal die Möglichkeit einer im¬ 
materiellen Grundlage der Raynaud’schen Krankheit festzu¬ 
stellen. 

Von diesem Gesichtspunkte aus erlaube ich mir eine Reihe 
von einschlägigen Fällen, darunter einen mit Obductionsbefund, 
zu veröffentlichen; ich halte mich umsomehr für berechtigt 
dazu, als sämmtliche Fälle durch eine Reihe von höchst selten 
beobachteten Symptomen und Complicationen ausgezeichnet sind. 

Fall I.') Compression des Rückenmarkes im Lendentheile durch 
einen Tumor. Raynaud’sche Krankheit, Erythromelalgie. 

Jacob F., 24jähriger Taglöhner, aufgenommen in die III. medicinische Klinik 
im August 1893, hat seit einem Jahre Kreuzschmerzen, Schmerzen und Schwäche in 
den Beinen. Seit drei Monaten bestehen Sensibilitätsstörungen objectiver Natur in den 
Beinen. Die vasomotorischen Störungen hat der Kranke erst vor einigen Monaten be¬ 
merkt. Die Untersuchung ergibt Folgendes: Blasen- und Mastdarmstörungen mit 
unwillkürlichem Abgang von Urin und Stuhl. Lähmung und hochgradige Atrophie 
der Extensoren der unteren Extremitäten. Keine Oontracturen. Sensibilitätsstörungen, 
und zwar Abnahme der Sensibilität an beiden unteren Extremitäten, von der 
Peripherie gegen das Gentrum zu an Intensität abnehmend. Oberhalb des 

■) Dieser Fall wird von Herrn Docenten Dr. Schlesinger wegen besonders 
-interessanter Erscheinungen ausführlich bearbeitet werden. Aus seiner Kranken¬ 
geschichte sind daher nur die Daten angeführt, die für diese Arbeit von 
• Werth sind. 


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48 


Dr. Adolf Calmann. 


Kniegelenkes keine Sensibilitätsstörungen. Die Sensibilitätsstörungeil sind für 
alle Qualitäten gleich. Patellarreflexe erloschen. 

Während des ganzen Spitalaufenthaltes traten fortwährend vasomotorische 
Phänomene auf. Einmal waren beide Füsse stark geschwollen, ohne dass im 
Harn Eiweiss oder Formelemente nachweisbar gewesen wären, oder dass sonst 
Erscheinungen von Herzschwäche aufgetreten wären. Dieses Oedem war sehr 
transitorisch, blieb manchmal nur durch einige Stunden, um plötzlich wieder 
zu verschwinden, trat dann wiederum auf, um längere oder kürzere Zeit zu 
persistiren. 

Abwechselnd mit diesen Phänomenen trat noch der Symptomencomplex der 
Raynaud’schen Affection, und zwar nur an den unteren Extremitäten auf, an den 
oberen Extremitäten wurden nicht ein einzigesmal derartige Erscheinungen 
beobachtet. Zuerst trat Erblassen der Füsse, insbesondere der Zehen auf, dann 
folgte eine äusserst intensive Blaufärbung der Füsse. Die letzteren Attaquen 
wiederholten sich zwei« bis dreimal in der Woche und dauerten immer durch 
mehrere Stunden an. Bis zum 7. Februar waren dies die einzigen Erscheinungen; 
an diesem Tage trat nach einer derartigen Attaque beiderseits vollkommen 
symmetrisch am Fussrücken ein über Gulden grosser gangränärer Fleck an der 
Haut auf. In den nächsten Tagen wiederholte sich der Anfall, und es trat 
wiederum symmetrische Gangrän auf, welche sich besonders an der Endphalange 
der grossen Zehe und an der kleinen Zehe localisirte. (Bettdruck konnte nicht 
die Ursache dieser Erscheinungen sein, da die Bettdecke auf Reifen lag.) 

Ausser diesen Störungen bestand noch in den ersten Monaten des Spitalauf¬ 
enthaltes der typische Symptomencomplex der Erythromelalgie. 

Der Kranke ging schliesslich an Pneumonie zugrunde. In der letzten 
Zeit hatte sich eine Cystitis entwickelt, erst im Verlaufe der letzten 14 Tage hatte 
sieh Eiweiss und Oylinder im Harn gezeigt, wovon früher trotz häufiger Unter¬ 
suchung nichts nachgewiesen werden konnte. 

Obductionsbefund: Tumor ausgehend von den Nervenwurzeln des 
III. und IV. Lumbalnerven, welcher zu einer hochgradigen Compression des 
Rückenmarkes geführt hatte. Der Tumor war 7*5 Centimeter lang, 15 Centimeter 
dick. Die von Herrn Docenten Dr. Schlesinger vorgenommene histologische 
Untersuchung ergab ein kleinzelliges Sarkom. Die Untersuchung der peri¬ 
pherischen Nerven ergab eine mässige Degeneration, entsprechend der Schwere 
der Rückenmarksveränderung. Die Gefässe waren durchgängig, die Wände bei 
der histologischen Untersuchung nur unwesentlich verändert. 

Fall II. Compression des Lendenmarkes und der Cauda equinea; 
Raynaud’sche Krankheit. Rosa K., 18 Jahre alt, Schulkind. (In Beobachtung 
Sommer 1893.) Keine Nervenkrankheiten in der Familie. Pat. hat in den letzten 
Jahren keine Infectionskrankheiten, speciell keine Diphtherie durchgemacht. 

Seit zwei Jahren hat Pat. Urinbeschwerden, der Urin geht häufig von 
selbst ab. Seit eineinhalb Jahren treten Parästhesien in beiden Beinen auf, 
sowie Gürtelgefühl. Seit derselben Zeit klagt sie über Schmerzen in den Füssen, 
ferner über Schwäche am rechten Fusse. In den letzten Wochen vor ihrer Vor¬ 
stellung in der III. medicinischen Klinik in Wien stellten sich starke vaso¬ 
motorische Störungen an den Füssen ein, seit acht Tagen Schmerzen im Knie. 


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Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit. 


49 


Status praesens: Pupillen reagiren gut, beiderseits gleichweit, kein Doppelt¬ 
sehen. Cornealreflexe prompt, Augenhintergrund normal. 

Im Gesicht keine Sensibilitätsstörungen, für alle Qualitäten geprüft. Das¬ 
selbe ist an den oberen Extremitäten der Fall, an diesen die grobe Kraft unge- 
sehwächt; Muskulatur nicht atrophisch. Im unteren Brustsegment der Wirbel¬ 
säule eine bogenförmige Kyphose; starke Lordose der Lendenwirbelsäule (bei 
wiederholter Untersuchung ergeben sich keine Zeichen von Tuberculose). Die 
Wirbelsäule auf Druck und plötzliche Belastung nicht empfindlich. Leichte 
Berührung am Oberschenkel nicht erkannt, Nadelstiche werden meistens gefühlt. 
Temperatureindrücke besonders links schlecht empfunden. Am Unterschenkel 
Hypalgesie vom Knie nach abwärts, stärker an der Aussen- als an der Innenseite. 

An den Füssen starke Hyperästhesie; selbst tiefe Einstiche werden gar nicht 
empfunden. An den Fusssohlen der Kitzelreflex rechts und links ganz erloschen; 
selbst überall dort, wo Berührung vom Kniegelenk abwärts empfunden wird, ist 
die Schmerzempfindung stark herabgesetzt. An beiden Unterschenkeln, besonders 
an der Aussenseite grosse Temperaturunterschiede nur manchmal erkannt. Füsse 
völlig thermoanästhetisch. Passive Bewegungen der Zehen rechts nicht erkannt. 
Dieselben Störungen bestehen in beiden Sprunggelenken, im Kniegelenke und 
auch im Hüftgelenke. 

In einem Dreieck, dessen Basis oberhalb der Analöffnung liegt, das rechts 
und links an der Innenseite des Oberschenkels bis zur Mitte nach abwärts geht, 
ist das Gefühl für Schmerz und Temperaturempfindung erloschen. Analreflexe 
sind nicht vorhanden. 

Active Streckung in den Kniegelenken gut ausführbar; nach deren Beugung 
ist jedoch die Kraft im rechten Bein herabgesetzt. Im Sprunggelenke werden 
Bewegungen mit genügender Kraft ausgeführt. 

Der Gang ist höchst unsicher, die Beine werden nach aussen geschleudert, 
bei raschem Umdrehen starkes Schwanken. 

Romberg’sches Phänomen ausserordentlich deutlich. Patellarreflexe erloschen. 

In den atrophischen Muskeln erhebliche Herabsetzung der faradischen 
und galvanischen Erregbarkeit, jedoch sind alle Muskeln sowohl direct als auch 
vom Nerven aus erregbar. Durchwegs prävalirt die Kathodenschliessung. Die 
Zuckungen erfolgen blitzartig, keine E. R. 

Die vasomotorischen Störungen begannen an den Füssen, die unter allen 
möglichen Bedingungen blau wurden. Während der Beobachtung der Patientin 
zeigten sie sich folgendermassen: 

An den Beinen, und zwar an den Füssen am stärksten ausgesprochen, war 
bald eine auffallende Schwellung mit Oedem des Fussrückens, bald eine auf¬ 
fallend livide Färbung ohne Oedem zu beobachten. Diese Verfärbung und das 
Oedem wurden niemals gleichzeitig beobachtet. Die livide Verfärbung, welche 
manchmal ein ganz dunkelblaues Colorit zeigte, trat immer erst nach einem 
Stadium auf, in welchem beide Füsse auffallend weiss waren. Dieser Zustand 
hielt in der Regel durch einige Minuten, selten länger als eine Viertelstunde 
an, und dann trat erst die Blaufärbung ein, welche durch Stunden persistirte. 
Dann war durch längere Zeit, manchmal Tage lang, kein Anfall zu constatiren. 
In dieser Weise verblieben die vasomotorischen Störungen in stetem Wechsel 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 4 


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50 


Dr. Adolf Calmann. 


mit normalem Verhalten der Haut während einer mehrmonatliehen Behandlungs¬ 
dauer. Sie waren stets unabhängig von der Temperatur, da die locale Asphyxie 
sowohl in der Kälte als auch im warmen Zimmer auftrat. 

Allmählich wurde das Gehen immer schwieriger, die Blasenstörungen traten 
immer mehr in den Vordergrund, die livide Verfärbung der Beine blieb stationär; 
zu einer Gangränbildung kam es nie. Ebenso fehlte jede Andeutung von Ery- 
thromelalgie. Während der ganzen Beobachtungsdauer wurde im Urin niemals 
Eiweiss oder Cylinder oder Zucker gefunden. — Die Diagnose wurde auf Com* 
pression des Lendenmarkes undderCauda equinea mit zeitweiligen 
Erscheinungen des Raynaud’schen Symptomencomplexes gestellt. 

Der weiteren Beobachtung entzog sich die Patientin. Einige Monate darauf 
konnte laut einem Schreiben des behandelnden Arztes nunmehr ein ausgesprochener 
Gibbus der Lendenwirbelsäule festgestellt werden. 

In diesen beiden, in ihren klinischen Erscheinungen ganz 
congruenten Fällen ergab schon die Untersuchung in vivo das 
interessante Resultat, dass die Erscheinungen der symmetrischen 
localen Asphyxie und Gangrän durch eine schwere Schädigung 
des Rückenmarkes hervorgerufen- waren, der Sitz des Krankheits¬ 
herdes konnte genau bestimmt werden, die Natur desselben 
ergab sich in dem Falle II aus der Verkrümmung der Wirbel¬ 
säule, im Falle I brachte die Autopsie Aufklärung über diese. 
Die Veränderungen der Nerven im Falle I könnten diejenigen 
als Stütze ihrer Ansicht in Anspruch nehmen, die in einer 
Neuritis die Ursache der Raynaud’schen Erscheinung suchen. 
Sicherlich ist in diesem Falle die Degeneration der Nerven 
nicht als Folge der vasomotorischen Störungen anzusehen, viel¬ 
mehr sind sie als Begleiterscheinung der schweren Läsion des 
Rückenmarkes aufzulässen. Ob sie aber direct die symmetrischen 
Störungen hervorriefen und gleichsam die Vermittlerrolle für 
das Rückenmark übernahmen, wird doch sehr fraglich, wenn 
man die Geringfügigkeit der Nerven Veränderung, auf die die 
Krankengeschichte ausdrücklich hinweist, in Betracht zieht. In 
solchen Fällen scheint noch immer die ursprüngliche Raynaud- 
sche Lehre zu Recht zu bestehen, die eine vom Rückenmarke 
ausgelöste krankhafte Contraction der kleinen, vollkommen 
durchgängigen Gefässe annimmt. 

Hervorheben möchte ich noch, dass in beiden Fällen die 
vasomotorischen Störungen anfallsweise auftraten und die 
verschiedenen von Raynaud gekennzeichneten Stadien der 
Synkope, Asphyxie und Gangrän darboten; diese Phänomene 
haben also nichts gemein mit den durch völlige Gefasslähmung 


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Zar Kenntniss der Raynand’schen Krankheit. 


51 


hervorgerufenen stationären Circulationsstörungen, die man 
bei schweren Rückenmarksläsionen beobachten kann. 

Die folgenden vier Beobachtungen lassen sich in eine Gruppe 
zusammenfassen, da sie in ihren wesentlichen Symptomen über¬ 
einstimmen und auch vom ätiologischen Standpunkte aus, viel¬ 
leicht abgesehen von Fall VI, sich nicht voneinander trennen 
lassen. 

Fall III. Marcus B., 26 Jahre alt, Apotheker aus Charkow, stellt sich im 
August in der III. medicinischen Klinik vor. Betreffs der hereditären Verhältnisse 
wäre zu erwähnen, dass eine Grossmutter des Patienten dieselbe Krankheit gehabt 
haben soll. Seit sieben oder acht Jahren hat Patient Anfälle von Raynaud’scher 
Krankheit, die sich anfangs nur im Winter, später aber auch im Sommer zeigte. 
Er hat seitdem fortwährend Kältegefühl in den Händen, so dass er auch im 
Sommer Winterhandsehuhe trägt. Im Laufe der letzten Jahre haben sich jedes¬ 
mal sehr schmerzhafte und stark secernirende Panaritien an die Anfälle localer 
Asphyxie angeschlossen, so dass er in Folge der fortwährenden Entzündungs- 
processe an den Fingern seit nahezu zwei Jahren arbeitsunfähig ist. Die 
Panaritien traten genau symmetrisch auf; wenn z. B. eines am linken Zeigefinger 
begann, zeigte sich in ein bis zwei Tagen am rechten Zeigefinger ebenfalls ein 
solches. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine auffallende, unten näher zu 
beschreibende Gestaltveränderung der Hände. 

Lues war weder anamnestisch nachweisbar, noch konnte die genaue Unter¬ 
suchung an der Klinik des Herrn Prof. Kaposi Anhaltspunkte für eine solche 
feststellen. Potus wird*negirt. In der Gegend des Kranken sollen nie Ergotin- 
vergiftungen vorgekommen sein. Auch sein Beruf gab ihm keine Gelegenheit, 
sich in der entsprechenden Weise zu schädigen. 

Die genaueste, mehrmals wiederholte Untersuchung des Patienten ergibt 
vollständig normale Verhältnisse, sowohl in Bezug auf den Respirations- als 
auch auf den Circulationstractus. Keine Erscheinungen des Nervensystems. 

Die Hände haben beide an den zwei Endgliedern der Finger eine auf¬ 
fallend glatte Haut. Die Fingerfalten sind vollständig verstrichen; die Haut 
macht den Eindruck, als ob sie für die Finger zu kurz sei; an anderen Stellen 
der Finger und an den Händen ausserordentlich zart und dünn, lässt sie sich 
nirgends in Falten abheben. 

An sämmtlichen Fingerkuppen sind beiderseits eine Menge kleiner, unregel¬ 
mässig gestalteter Narben von alten Panaritien. Die Finger sind von eigentüm¬ 
licher Gestalt, gegen die Spitze zu auffallend verschmälert, das Nagelglied ist 
wie abgenagt, die Nägel sind äusserst kurz, rissig, sich blätternd, nach den 
Seiten abgebogen, Vogelkrallen ähnlich. An den Fingerkuppen sind mehrfache 
tiefgreifende Defecte sichtbar (nach Panaritien). An der Haut der Hohlhand ist 
nichts Auffallendes zu bemerken. Lässt man den Kranken die Hände in kaltes 
Wasser tauchen, so tritt sofort ein sehr starker Anfall von localer Asphyxie ein. 

Unter Kriebeln und Ameisenlaufen werden beide Hände schneeweiss (Syn¬ 
kope); wänrend dessen ist die Haut vollständig gefühllos, auch tiefe Nadelein- 

etiche rufen keine Schmerzempfindung, keine Blutung hervor. Kurze Zeit nach¬ 
ts* 


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Dr. Adolf Calmann. 


dem sie weiss geworden sind, tritt eine intensive Blaufärbung der Hände und 
der Finger auf, welche mehrere Stunden anhalten und sehr quälende Parästhesien 
(Ameisenlaufen, Kriebeln) im Gefolge haben soll. Gangrän soll nie aufgetreten sein. 

An den unteren Extremitäten treten ähnliche Attaquen nur im Bereiche 
der Füsse und Zehen auf. Dieselben sind jedoch weniger intensiv als an den 
Händen. Die Haut ist in geringerem Grade verändert, ist glatt und verkürzt, 
jedoch keineswegs in dem Masse wie an der oberen Extremität; eine auffallende 
Gestaltveränderung haben die Zehen nicht erfahren. Es besteht keine abnorme 
Schweisssecretion. 

Während im Anfallsstadium die Sensibilität für alle Qualitäten hochgrad g 
herabgesetzt ist, bleibt sie in der anfallsfreien Zeit vollständig normal. 

Im Urin fanden sich bei häufig wiederholten Untersuchungen keine patho¬ 
logischen Bestandtheile. Trotz aller Medication, Faradisiren, Galvanisiren, 
innerer Darreichung von Arsen, Argentum nitricum u. 8. w., konnte keine 
Besserung erzielt werden. 

Fall IV. BarbaraB., 48 Jahre alt, Handarbeiterin. Patientin hat keine schweren 
Erkrankungen durchgemacht, hat zweimal abortirt, sonst keine anamnestischen 
Anhaltspunkte für Luös. 

Mit 23 Jahren zeigten sich die ersten Erscheinungen ihrer jetzigen 
Erkrankung. Im Anschlüsse an eine Erkältung trat zuerst ein völliges Weiss¬ 
werden der Finger auf, dem eine Blaufärbung folgte. Diese Erscheinungen 
wiederholten sich anfallsweise und nahmen besonders bei Kälte zu. Nachdem 
diese Attaquen Patientin mehrere Jahre hindurch belästigt hatten, traten wieder¬ 
holt sehr schmerzhafte Panaritien an den Fingern auf. 

Zugleich zeigten sich an den Füssen ebenfalls vasomotorische Störungen, 
doch kam es dort niemals zur Panaritienbildung. 

Status praesens: Ausgedehnte Vitiligo um die Augen und Kopfhaut; 
dunkle Färbung der übrigen Haut. Im Augenhintergrunde ausgedehnte chorioi- 
ditische Veränderungen. Im Gesichte, am Schultergürtel und den Armen keine 
nervösen Störungen sensibler oder motorischer Natur. 

An den Händen fällt die livide Verfärbung auf, welche an den Fingern 
am meisten ausgesprochen ist. Die Haut über den Metacarpalköpfchen ist 
weisslich verfärbt (Vitiligo). Die Haut der Finger an beiden Händen vollständig 
glatt und faltenlos straff gespannt, nur an dem zweiten und dritten Finger, sowie 
am Daumen rechts sind im I. Interphalangealgelenk Falten an den Gelenkbeugen 
sichtbar. Ueber das zweite Interphalangealgelenk zieht die Haut vollständig 
faltenlos hin. Die glatte Haut zeigt nirgends eine Spur von Behaarung; die 
Schweisssecretion ist nicht vollständig aufgehoben. Die Gestalt der Finger ist 
auffällig verändert, die Finger sind gegen das Ende zugespitzt, insbesondere die 
Endphalangen stark abgerundet. 

In Folge der straff gespannten Haut sind die Bewegungen der Finger 
erheblich eingeschränkt, sie können nur unvollkommen zur Faust geballt 
werden; Spreizung der Finger gelingt nur unvollkommen. 

Die Nägel sind an beiden Händen, besonders aber an der rechten auf¬ 
fallend klein, längs gerieft, stark gebogen, schilfern sich leicht ab; an dem 
Zeigefinger der linken Hand ist der Nagel besonders stark afficirt. An der 


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Zur Keuntniss der Raynaud’schen Krankheit. 


53 


Beugeseite der Hände sind die Veränderungen weniger ausgesprochen; erst an 
den Endphalangen treten dieselben stärker hervor. Man sieht an jeder einzelnen 
Endphalange kleine Defecte, welche nach den Panaritien entstanden sind. Die 
Fingerspitzen sehen in Folge dessen wie zerstochen aus. Leichte Berührungen 
an den Händen werden durchwegs gefühlt und richtig localisirt. Schmerz und 
Temperaturempfindung völlig intact. — Die Zehen sind ebenfalls ausserordent¬ 
lich livide verfärbt, jedoch ist die Haut nicht so verändert wie an den Händen, 
insbesondere nicht so faltenlos und verkürzt. Keine Zeichen von Panaritien an 
den Füssen. Sensibilität für Tast-, Schmerz- und Temperaturempfindung erhalten; 
keine Muskelatrophien. 

Die Patellarretiexe sind etwas gesteigert; die peripherischen Nervenstämme 
aui Druck nicht empfindlich. 

Arteria radialis beiderseits eng, doch nicht verdickt. 

Im Urin kein Zucker oder Eiweiss, noch Formelemente. 

Fall V. Marie B., 31 Jahre alt, Arbeiterin. Aufgenommen den 26. April 1894. 
Seit acht Jahren zeigt sich eine bläuliche Verfärbung der Finger, besonders 
unter dem Einflüsse von Kälte. Sehr häufig stellen sich schmerzhafte Panaritien 
ein mit Brennen in den Fingern. 

Menses ab und zu unregelmässig, keine Blasen- und Mastdarmstörungen. 
Status praesens: Die Art. radialis beiderseits ungleich. An der Lungenspitze 
Schalldifferenz und spärliche Rasselgeräusche rechts. Herztöne rein; über dem 
Sternum keine Dämpfung. Arteriae subclaviae beiderseits gleich. Im Gesichte 
fällt auf, dass die Nasolabialfalte beiderseits sehr scharf ausgeprägt ist. Der 
Gesichtsausdruck ist maskenähnlich, das Spiel der mimischen Muskeln fast auf¬ 
gehoben, die Nase verdünnt, die Nasenflügel leicht nach oben gezogen, so dass 
das Septum vorstehend erscheint. Sonst keinerlei Veränderungen im Gesichte. 
Sensibilität in allen Qualitäten erhalten. Am Rumpf und den Extremitäten 
werden leichte Berührungen überall prompt gefühlt; Schmerzempfindung ist 
auslösbar. Die Nerven sind nirgends druckempfindlich. Temperaturempfindung 
an der Streckseite der Hände und Finger gut, an der Beugeseite etwas abge¬ 
stumpft. Lagevorstellung gut. 

Weder am Schultergürtel noch an den Armen und Händen sind Muskel¬ 
atrophien vorhanden. Der Händedruck ist sehr schwach im Verhältnisse zur 
Muskulatur. Beugung und Streckung des Unterarmes, Pronation und Supination 
ist unbehindert; am Handgelenke geht die Beugung schlecht, die Streckung gut. 
Biceps- und Tricepsreflexe etwas erhöht. 

An den unteren Extremitäten ist die Tast-, Schmerz- und Temperatur¬ 
empfindung überall normal; die Nerven sind nicht druckempfindlich. Die 
motorische Kraft ist entsprechend der Muskulatur, der Patellarreflex gesteigert, 
der Fussclonus angedeutet. 

Die vasomotorischen Störungen sind folgende: Der ganze Handrücken und 
das untere Viertel des Unterarmes sind geschwollen, die Haut ist daselbst schwer 
abhebbar, ebenso an den übrigen Theilen des Unterarmes. Dabei hat man das 
Gefühl des Oedems, ohne dass Fingereindrücke sich in der Haut erhalten. Durch 
diese Anschwellung ist der Unterarm so deformirt, dass er sich distalwärts ver¬ 
dickt, anstatt sich zu verdünnen. 


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54 


Dr. Adolf Calmann. 


Die Drüben zwischen den Knochen des Metacarpo-Phalangealgelenkes 
sind fast verstrichen; die Finger selbst verdickt, volar- und dorsalwärts schmutzig 
livid-blau. Die Falten über den ersten Interphalangealgelenken sind ganz ver¬ 
schwunden, nur hier und da hat sich eine Furche erhalten. Die Nägel sind 
deformirt, verkrümmt, besonders am linken Mittelfinger unregelmässig gebogen 
und eingedrückt. Die Nageloberfläche der rechten Hand ist stark gefurcht, der 
Nagel des Mittelfingers stark verkürzt, überwuchert von der Haut des Nagel¬ 
falzes. 

An den Fingern sieht man einige mehrere Millimeter lange, mit Krusten 
bedeckte Rhagaden, die nur zum Theile der Spaltrichtung der Haut entsprechen. 
Die Finger fühlen sich kühl an. An der Fingerbeere des rechten und linken 
Ringfingers sind mit Krusten beieckte oder freiliegende atrophische halblinsen¬ 
grosse Stellen sichtbar. 

Die Haut an den Grundphalangen ist kaum abhebbar, an den übrigen 
Phalangen ist dies ganz unmöglich. Es besteht keine Knochenverdickung, keine 
abnorme Schweisssecretion. 

Die livide Verfärbung reicht über das untere Viertel des Unterarmes 
hinauf. Am Rumpf ist die Haut übererregbar, das Oeffnen des Kleides erregt 
sofort Cutis auserina. 

An den unteren Extremitäten ist der Fuss auffallend gross, besonders in 
der Knöchelgegend ganz plump. Die Haut fühlt sich teigig an, wie ödematös 
durchtränkt; doch bleiben erst auf anhaltenden Druck Gruben in derselben 
zurück. Ueber dem linken Fussrücken meist isolirt stehende, hier und da zu 
unregelmässigen Flecken zusammenfliessende, livid blaue, auf Fingerdruek voll¬ 
kommen abblassende Stellen. Leichte Varicenbildung. Im Urin keine pathologischen 
Bestandteile. 

Fall VI. Marie F., 42 Jahre alt, Näherin. Vater starb an einem Schlag- 
anfalle, Mutter an Tabes. Patientin hat nie geboren, nie abortirt. 

Potus negirt, für Lues keine Anhaltspunkte. Vor vielen Jahren wurden die 
Finger plötzlich für einige Zeit ganz weiss. Seit sechs Jahren bemerkt Patientin, 
dass, wenn sie aus der Kälte in die Wärme kommt, die Hände blau werden 
und anschwellen, so dass sie keine Faust ballen kann. Aehnliche Erscheinungen 
traten auch an den Füssen auf. Bald darauf beganuen alle Finger mit Ausnahme 
des fünften der linken Hand unter grossen Schmerzen geschwürig zu werden. 

Seit sechs Monaten ist die Geschwürsbildung besonders heftig aufgetreten, 
auch bemerkt Patientin, dass sie in den Händen etwas ungeschickter wurde. Auch 
das Gesicht, besonders Lippen und Zunge, wurden leicht blau, die Zunge 
ganz steif. 

Weihnachten 1893 überstand sie einen Rothlauf, fast zu gleicher Zeit traten 
Oedeme am Rumpf und an den Beinen auf, jedoch nicht an den Armen; zugleich 
konnte sie nicht uriniren. Diese Erscheinungen gingen jedoch bald wieder völlig 
zurück. Vor vier Jahren will sie manchmal Kopfschmerzen und Schwindel, doch 
niemals Doppeltsehen gehabt haben. 

Status praesens: Im Gesichte keine nervösen Störungen. 

/ Die Art. radialis ist links etwas schwächer als rechts, aber nicht rigide, 
auch die Temporalarterien sind nicht geschlängelt. 


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Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit. 


55 


Beide Hände sind ausserordentlich livide verfärbt, die Finger sind ganz 
blau und fühlen sich kühl an. Die Formen der Finger sind wesentlich verändert, 
insbesondere die Nägel; während die Phalangen nur etwas verkürzt erscheinen, 
sind diese auffällig kürzer, sehr splitterig und streifig. Die Fingerkuppe hat zumTheile 
ihre Wölbung verloren durch tiefgreifende Substanzverluste und Narben. Am 
meisten deformirt erscheint der Zeigefinger der linken Hand, an welchem der 
Nagel auch sehr stark gekürzt ist. An dem Daumen der rechten Hand ist ein 
etwa kronengrosser Substanzverlust, der sich mit scharfen Bändern abgrenzt; 
der Boden des Substanzverlustes befindet sich im Zustande trockener Grangrän; 
dieselbe reicht bis unter das Nagelbett. (Sie ist wahrscheinlich in Folge der 
Behandlung mit Carbolumschlägen entstanden.) 

Bei Entwickelung eines Panaritiums sind die Schmerzen sehr stark. — Sonst 
ist an der Haut der Finger keine Veränderung sichtbar. 

Es bestehen ferner an den Händen keine Muskelatrophien, die kleineren 
Handmuskeln sind vollständig intact. Active Bewegungen sind in vollstem 
Umfange möglich, die Kraft ist der Muskulatur entsprechend. Die taetile Sensi¬ 
bilität ist an den cyanotischen Fingerspitzen etwas abgestumpft, Schmerz-, Tem¬ 
peraturempfindung und Lagevorstellung sind normal. 

An den Füssen findet sich ebenfalls livide Verfärbung, die an der grossen 
Zehe weitaus am stärksten ausgesprochen ist. Es ist keine auffallende Deformität 
der Zehen vorhanden, nur die vierte Zehe rechts ist etwas aufgetriehen. (An 
dieser Zehe haben sich viermal hintereinander angeblich ohne Ursache sehr 
schmerzhafte Panaritien, verbunden mit Lymphangitis, entwickelt.) 

Berührungen am Fusse werden gefühlt, Kneifen von Hautfalten ist schmerz¬ 
haft, die thermische Sensibilität ist nur zur Zeit der Anfälle ahgeschwächt, die 
Patellarreflexe sind bedeutend erhöht, ebenso der ßiceps-, Triceps- und die 
Periostreflexe. Die Nervenstämme sind auf Druck nirgends empfindlich. 

Das Romberg’sehe Symptom ist angedeutet, sonst finden sich keine Sym- 
ptome< die auf ein spinales Leiden hindeuten. An den Brust- und Bauchorganen 
keine Abnormitäten. 

Der Urin enthält keine pathologischen Bestandtheile. 

Diesen Krankengeschichten will ich noch hinzufügen, dass sämmtliche 
Fälle mit den üblichen Mitteln, Faradisation, Galvanisation, Arsen, roborirender 
Diät etc. behandelt wurden, ohne mehr als eine vorübergehende, von der 
Therapie wahrscheinlich ganz unabhängige Besserung zu erzielen. 

In den soeben beschriebenen Fällen, besonders dem dritten, 
vierten und fünften, erregt ein zweifacher Symptomencomplex 
unsere Aufmerksamkeit, der in allen Krankengeschichten fast 
völlig übereinstimmend in derselben Weise beschrieben ist und 
einen ausgebildeten Typus aufweist. Abgesehen von dem 
bekannten Kaynaud’schen Krankheitsbilde, der Synkope, localen 
Asphyxie und Gangrän, von denen die einzelnen Stadien in 
den Fällen nicht alle ausgebildet sind, überrascht uns das Auf¬ 
treten so zahlreicher, sich oft wiederholender Panaritien, 


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56 


Dr. Adolf Calmann. 


die nach Angabe der Patienten äusserst schmerzhafter 
Natur sind. In den letzten Jahren hat man sich zu wieder- 
holtenmalen in eingehender Weise mit Erkrankungen beschäftigt, 
bei welchen das Auftreten multipler, sich stets wiederholender 
Panaritien eine bedeutsame Bolle spielte. Bekanntlich hat auf 
Grund klinischer Beobachtungen mit Rücksicht auf sonstige 
eigenartige Befunde Morvan eine Gruppe derartiger Fälle als 
eigene neue Erkrankung von sämmtlichen anderen abgeschieden 
und die Anschauung vertreten, dass diese Erkrankung auf 
nervöser Basis beruhe. Die Fälle von Morvan zeichneten sich 
alle durch die Eigenthümlichkeit aus, dass die sich so oft 
wiederholenden Panaritien stets schmerzlos verliefen. In Bälde 
waren diese interessanten Befunde Gegenstand eifriger Discus- 
sionen; Bernhardt, 1 ) später Hoffmann 2 ) erklärten sich dahin, dass 
diese Fälle identisch seien mit Syringomyelie. Ihnen entgegen 
behauptete ein grosser Theil der französischen Schule, gestützt 
auf Befunde Zambacös, 3 ) dass die Morvan’sche Krankheit mit 
Lepra identisch sei. Nach den Untersuchungen Schlesinger’s 4 ) 
dürfte dieser Symptomencomplex sowohl der Lepra als auch der 
Syringomyelie zukommen. — In allen diesen Arbeiten und bei 
allen diesen Discussionen hatte stets wiederum der seltsame 
Befund die Aufmerksamkeit erregt, dass die Panaritien schmerz¬ 
los’ waren, dass also gleichsam in der Analgesie gleichzeitig ein 
gewisses Erklärungsmoment für das Auftreten von Panaritien 
gegeben war. Man konnte die Annahme acceptiren, dass Ver¬ 
letzungen bei derartigen Individuen, nicht so leicht bemerkt, 
länger getragen und leichter inficirt wurden. 

In unseren Fällen handelt es sich aber nicht um schmerz¬ 
lose Panaritien; übereinstimmend geben vielmehr die Kranken 
an, dass die Entzündungsprocesse recht schmerzhaft waren. Nun 
ist allerdings durch Lichtung einer grösseren Zahl von Fällen 
bekannt worden, dass auch bei Syringomyelie anfangs Pana¬ 
ritien auftreten können, die sehr schmerzhaft sind und sich 

') Ueber die sogenannte Morvan’sche Krankheit. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift 1891, Nr. 8. 

2 ) Zur Lehre von der Syringomyelie. Deutsche Zeitschrift für Nervenheil¬ 
kunde. Bd. III. 

3 ) Maladie de Morvan. Semaine medicale 1893, S. 289 u. f. 

4 ) Die Syringomyelie. 1895. 


* 

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Zur Kenntniss der Kaynaud’sclien Krankheit. 


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öfters wiederholen; erst die später auftretenden Eiterherde ver¬ 
laufen schmerzlos. 1 ) 

In unseren Fällen aber wiederholten sich die eiterigen Ent- 
zündungsprocesse durch eine Reihe von Jahren in gleicher Inten¬ 
sität und Schmerzhaftigkeit, um eine Syringomyelie anzunehmen, 
fehlte ausserdem jeder Anhaltspunkt; an Lepra könnte man 
ohnehin kaum denken, da alle Kranken, mit Ausnahme des Apo¬ 
thekers (Fall III), aus leprafreien Gegenden stammen und nur 
in solchen gelebt haben; der Apotheker stammt aus Russland, 
hat auch in Lepragegenden sich längere Zeit aufgehalten, bot 
aber bei der genauen, von Prof. Kaposi vorgenommenen Unter¬ 
suchung, ebenso wie die anderen speciell in dieser Richtung 
untersuchten Kranken, auch nicht das geringste Zeichen der 
Lepra dar. 

Ich glaube demzufolge berechtigt zu sein, das Auftreten dieser 
multiplen Panaritien als eine bisher nicht genügend gewürdigte 
Eigenthümlichkeit des spontan auftretenden Raynaud’schen Sym- 
ptomencomplexes auffassen zu dürfen. Ich kann mich aber nicht 
entschliessen, diese Erscheinungen auf die gleiche nervöse Grund¬ 
lage zurückzuführen wie die vasomotorischen Störungen; ich 
glaube vielmehr, dass diese Eiterherde durch eine Infection von 
aussen her erzeugt werden, die um so leichter eintreten kann, 
als die die Attaquen begleitende Anästhesie das Entstehen 
kleiner Verletzungen begünstigt und das Vorhandensein der¬ 
selben der Wahrnehmung des Patienten entziehen kann. Dazu 
kommt noch, dass das Gewebe, welches unter ungünstigen Er¬ 
nährungsverhältnissen steht, für eindringende Infectionskeime 
einen günstigen Nährboden bietet. In dieser Auffassung kann 
mich auch der Umstand nicht wankend machen, dass in dem 
einen der vier Fälle (Fall III) die Panaritien symmetrisch auf¬ 
getreten sein sollen; ich glaube, dass der Patient aus einem 
sich mehrmals wiederholenden Zufalle eine Regel gemacht hat; 
jedenfalls ist in den anderen drei Fällen keine Rede von einer 
derartigen Symmetrie der Panaritienbildung. 

Ich glaube für meine AÄisicht auch den Umstand verwerthen 
zu können, dass die Zellgewebseiterungen sich vorwiegend an 
den Händen etablirten, die doch beiweitem mehr als die 


’) Vgl. Schlesinger, Die Syringomyelie, S. 41. 


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Dr. Adolf Calmann. 


geschützten Füsse mechanischen und chemischen Insulten aus* 
gesetzt sind. 

Als eine weitere Theilerscheinung von grosser Wichtigkeit 
möchte ich die in den Fällen III, IV und V am vollkommensten 
ausgebildete Veränderung der Haut und deren Folgezustände 
hervorheben. Die Haut ist an den befallenen Fingern trocken, 
derb, hart, sie lässt sich nicht auf ihrer Unterlage verschieben, 
nicht in Falten aufheben, sie erscheint verkürzt, die Gelenk¬ 
falten sind besonders am Fingerrücken grösstentheils verstrichen, 
die Bewegungen der Finger sind eingeschränkt, kurz, wir haben 
das ausgesprochene Bild der Sklerodermie, beziehungsweise 
Sklerodactylie. Wir können sogar an den einzelnen Fällen die 
verschiedenen Stadien studiren. Während in den Fällen III, IV 
und V besonders die Verkürzung der Haut an den Fingern, das 
Verstrichensein der Hautfalten u. s. w. den ausgebildeten 
Process, den Zustand, repräsentirt, zeigt (im Falle V) an den 
oberen und speciell an den unteren Extremitäten die teigige 
Beschaffenheit der Haut, die jedoch nur theilweise und nur auf 
längeren Druck eine Grube bildet, auf den sich erst ent¬ 
wickelnden Process hin. 

Die Vitiligoflecke (im Falle IV) an der Kopfhaut und über 
den Metacarpalköpfchen sind endlich die Residuen eines bereits 
abgelaufenen skierodermischen Processes. 

Die eigentümlichen Veränderungen der Fingernägel, ihre 
Splitterigkeit, die Längsriefung, ihre Verkrümmung, die Ver¬ 
stärkung oder Aufhebung ihrer normalen Bildung sind wahr¬ 
scheinlich sowohl durch die Panaritienbildung und die dadurch 
entstehenden Substanzverluste und Narbenbildung, als auch durch 
die Sklerodermie, die sich ebenfalls durch Narbengewebe aus¬ 
zeichnet, gemeinschaftlich herbeigeführt worden. 

Die Frage, ob wir beide Erkrankungen auf ein und die¬ 
selbe Ursache zurückführen dürfen, müssen wir unbedingt bejahen, 
wenn ebenso wie für die Raynaud’sche Krankheit für die Sklero¬ 
dermie eine Affection des Nervensystems als ursächliches Moment 
angenommen wird. Zuerst war es nun M. Ball, 1 ) der sich 
allgemein dahin aussprach, die Raynaud’sche Krankheit biete 


') Siehe Legroux: Asphyxie locale et sclerodermie. Gazette des hopitaux 
1880, Nr. 100. 


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Zur Keuntniss der Raynaud’schen Krankheit. 


59 


so viel Analogien mit gewissen Fällen von Sklerodactylie, dass 
es sich nach einigen Autoren um ein und dieselbe Krankheit 
handle. Fa vier 1 ) sieht in beiden Erkrankungen vasomotorische 
Störungen, hervorgerufen durch eine Erhöhung der Reflexerreg¬ 
barkeit. Eulenburg, 2 ) der schon vor Jahren für die Auffassung 
der Sklerodermie als einer nervösen Erkrankung eingetreten 
war, erklärte sie in neuester Zeit s ) direct für eine Trophoneurose 
und erwähnt auch damit in Zusammenhang einen von anderer 
Seite veröffentlichten Fall mit dem complicirten Symptomen- 
complexe von Sklerodermie, Elephantiasis und Raynaud’scher 
Krankheit. Fast beweisend für eine nervöse Grundlage beider 
zusammen auftretender Erkrankungen scheint mir die Beob¬ 
achtung Chauffard’s, 4 ) der Sklerodermie mit halbseitiger 
Atrophie der Zunge im Anschlüsse an den Raynaud’schen Sym- 
ptomencomplex auftreten sah. 

In Betracht zu ziehen wären allerdings noch die Ueber- 
legung, die Sklerodermie sei eine directe Folge der den Raynaud- 
schen Symptomencomplex zusammensetzenden Ernährungs¬ 
störungen, sei also nicht eine mit diesem zusammengehende 
Erkrankung auf gleicher Basis, sondern sei eine secundäre Er¬ 
scheinung der localen Asphyxie. Ich sehe aber nicht ein, warum 
die von Raynaud selbst angenommenen Störungen in der Inner¬ 
vation der Gefasse nicht im Stande sein sollen, von den mehr 
transitorischen Erscheinungen der Syncope und Asphyxie ab¬ 
gesehen, ebenso gut wie eine Gangrän, auch bei längerem Be¬ 
stände, die bleibenden Gewebsveränderungen der Sklerodermie 
hervorzurufen; ich bleibe daher dabei, die Sklerodermie als einen 
ätiologisch der Raynaud’schen Affection gleichwerthigen und 
ihr nicht untergeordneten Zustand zu betrachten. In den Fällen 
I und II kam es vielleicht darum nicht zur Entwickelung der 
Sklerodermie, weil die vasomotorischen Störungen nur verhält- 
nissmässig kurze Zeit dauerten; möglicherweise hätte auch eine 
längere Dauer derselben kein anderes Resultat gehabt, genau 
so wie in der überwiegenden Mehrzahl der bis jetzt beobach- 

9 Quelques considerations sur les rapports entre la scldrodermie spontanee, 
et la gangrdne symmdtrique des Extrdmitds. Thdse Paris 1880. 

2 ) Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. V, Heft 4. 

3 ) Deutsche ined. Wochenschrift 1894, Nr. 21, 22. 

4 ) Gazette des hopitaux 1895, Nr. 82. 


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Dr. Adolf Calmami. 


teten Raynaud’scheu Fälle, die ohne die Complication der 
Sklerodermie verliefen. 

Diese combinirte Erkrankung scheint also mit Recht als 
eine functioneile Neurose aufgefasst zu werden, und so weit es 
mir ersichtlich war, ist kein Fall bekannt worden, in dem eine 
organische Läsion des Nervenapparates nachgewiesen worden 
wäre, die als Ursache dieser beiden zusammen auftretenden 
Processe hätte in Anspruch genommen werden können. Ich 
glaube daher berechtigt zu sein, die Fälle III, IV und V vor¬ 
läufig ebenfalls als reine Neurosen zu betrachten; die beginnende 
Lungenspitzenerkrankung im Falle V steht wohl kaum im ursäch¬ 
lichen Zusammenhänge mit den vasomotorischen Störungen — 
Fall VI dagegen ist durch geringe abnorme Erscheinungen von 
Seiten des Centralnervensystemes ausgezeichnet (Andeutung von 
Romberg’schem Phänomen, bedeutende Steigerung der Reflexe), 
dieselben sind nicht ausreichend, um ein spinales oder ein 
anderes organisches Nervenleiden auch nur mit einiger Wahr¬ 
scheinlichkeit annehmen zu lassen, andererseits lassen sie sich 
ohne grosse Schwierigkeiten in dem Bilde einer Neurose unter¬ 
bringen. 

Fassen wir die sechs beschriebenen Fälle zusammen, so 
bestätigen sie einerseits aufs neue die Anschauung, dass der 
Raynaud’sche Symptomencomplex ohne anatomisch nachweisbare 
Erkrankung des Nervensystemes auftreten kann, andererseits be¬ 
reichern sie die Casuistik der Fälle, in denen die Raynaud’schen 
Erscheinungen nur Symptome einer Affection der nervösen 
Centralorgane, speciell des Rückenmarkes sind. Für eine Er¬ 
krankung der peripherischen Nerven als Ursache der symme¬ 
trischen Gangrän geben sie keine Anhaltspunkte, ebenso wenig 
für Hysterie, die einzige Neurose, die manche Autoren als 
Ursache für die Raynaud’sche Krankheit gelten lassen wollen. 
Des Weiteren habe ich aus diesen Fällen den Eindruck 
gewonnen, dass die Raynaud’schen Erscheinungen auf neuro¬ 
tischer Basis einen ganz anderen Charakter haben, als die nur 
symptomatisch auftretenden. Bei diesen sind die Erscheinungen 
der localen Asphyxie und der Synkope nicht in so intensiver 
Weise ausgebildet wie bei jenen. Bei den Fällen, in denen das 
Rückenmark erkrankt war, blieben die vasomotorischen Störungen 
nur auf einen Körpertheil (die Füsse) beschränkt, ohne Tendenz, 


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Zur Kenntniss der Raynaud’schen Krankheit. 


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sich über grössere Partien des Körpers auszubreiten, sie traten 
zu Anfang besonders nur vorübergehend auf, es fehlten die 
lästigen Parästhesien, kurz diese ganzen Erscheinungen traten 
beiweitem gegen die typischen Symptome des Rückenmark¬ 
leidens zurück. Merkwürdig war in unseren beiden Fällen das 
transitorische Oedem, das den Raynaud’schen Symptomen vor¬ 
ausging oder mit ihnen alternirte. Dieses Oedem ist wohl als ein 
spinales Oedem aufzufassen, wie es zuerst von Remak 
beschrieben worden ist. Von einer bleibenden Deformität, von 
Sklerodermie war kein Zeichen vorhanden. Wie anders gestalten 
sich dagegen die vasomotorischen Störungen in den anderen 
vier Fällen! Die typischen localen Erscheinungen werden com- 
plicirt durch das Auftreten zahlreicher Panaritien; von den 
oberen Extremitäten breiten sich die Krankheitserscheinungen 
auf die unteren aus, das Gesicht bleibt nicht verschont von 
ihnen; sie führen zu schweren Störungen der Sensibilität, vor¬ 
nehmlich subjectiver Natur; schliesslich gesellt sich noch dazu 
das Symptomenbild der Sklerodermie, um schwere und kaum 
reparable Veränderungen der Haut und auffallende Deformitäten 
der erkrankten Glieder herbeizuführen. 

Zum Schlüsse möchte ich noch hinzufügen, dass ich es mit 
Absicht vermieden habe, der Frage näher zu treten, wodurch 
denn unmittelbar die Erscheinungen der localen Synkope, 
Asphyxie und symmetrischen Gangrän hervorgerufen würden, 
ob durch trophoneurotische oder angioneurotische Einflüsse. Die 
Anschauungen hierüber sind noch im Allgemeinen sehr getheilte 
und meine Fälle andererseits bieten keine Möglichkeit, zur 
Klärung dieser Frage beizutragen, so dass ich mich genöthigt 
sah, dieselbe ganz zu vernachlässigen. 

Meinem hochverehrten Chef, Herrn Prof. Dr. v. Schrötter, 
sage ich für die freundliche Ueberlassung der Krankengeschichten, 
Herrn Docenten Dr. Schlesinger für die Anregung zu dieser 
Arbeit und die liebenswürdige Förderung derselben meinen 
herzlichsten Dank! 

') Berliner klinische Wochenschrift 1889, Nr. 2. Oedem der oberen Extremi- 
täten auf spinaler Basis. 


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Ueber moralische Defectzustände. 

Von 

Dr. Josef Berze, 

Secundararzt der n. ö. Landesirrenanstalt Kierling-Gugging. 

So sehr die Thatsache anerkannt ist, dass sich moralische 
Defectuosität im Verlaufe der verschiedensten psychopathischen 
Zustände zeigen kann, unter deren Symptomen sie bald eine 
ganz geringe Stelle einnimmt, bald so sehr hervortritt, dass sie 
das ganze Krankheitsbild beherrscht, so dass die Krankheit „im 
Kleide der moral insanity” erscheint, so wenig ist bisher die 
Ansicht vertreten worden, dass die Mechanik der moralischen 
Defectuosität nicht in allen Fällen ihrer Erscheinung dieselbe 
ist, dass die von mehreren Autoren gemachten Versuche, diese 
Krankheitserscheinung auf eine andere gleichsam mehr elemen¬ 
tare Störungserscheinung der psychischen Thätigkeit zurückzu- 
fiihren, immer nur Versuche sind, die im besten Falle unser 
Verständniss für einige specielle Fälle fördern können in keinem 
Falle aber uns eine Basis abgeben können, die einer Generali- 
sation zugänglich wäre. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, 
unserer Ueberzeugung, dass die Grundlagen für die Erscheinung 
der moralischen Defectuosität in den einzelnen Fällen unter¬ 
einander verschieden sind, Ausdruck zu verleihen, und wollen 
vorweg bemerken, dass unsere Untersuchungen uns zu dem 
Schlüsse gebracht haben, dass die Genese der moralischen 
Defectuosität ähnliche grundlegende Unterschiede zeigt, wie 
etwa die des Grössenwahnes, wenn er im Rahmen einer Manie, 
einer progressiven Paralyse, einer Paranoia erscheint, dass so¬ 
mit wenigstens allen den Versuchen ein Fehler anhaftet, die 
darauf loszielen, eine einheitliche Quelle der zu besprechenden 


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Ueber moralische Defectzustände. 


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Defectuosität ausfindig machen zu wollen, dass ihr Fehler in 
der Generalisation liegt. 

Es handelte sich uns zunächst um die Betrachtung mehr¬ 
facher Beziehungen der Mechanik der gesunden Moral; wir 
mussten zunächst versuchen, die Verhältnisse zu erfassen, die 
das Individuum zur moralischen Leistung fähig machen. 

Die moralische Leistung zeigt sich in Handlungen und 
in Unterlassungen von der Art, dass durch dieselben den 
altruistischen Rücksichten Rechnung getragen wird. Wie allen 
anderen psychischen Bethätigungen des Individuums liegen 
auch denen, die das Gebiet des Moral tangiren, centrale Vor¬ 
gänge zugrunde. Die moralische Leistung ist ein Ausdruck der 
Thätigkeit des Associationsorganes; in diesem treten alle 
Factoren, die im positiven oder negativen Sinne bei der Ge¬ 
staltung der Action des Individuums mitwirken, in Function. 
Woher auch immer „die Widerstände gegen die Gesittung” 
stammen mögen, der Platz, wo sie ihre Wirksamkeit äussern, 
wo sie gewissermassen ihre Kraft mit der Kraft der positiven 
Factoren messen, liegt im „Associationsorgane, dem Träger der 
Intelligenz im Ganzen”, in dem Centralorgane der Psyche, in 
welchem Meynert zunächst nur „den activen Factor im 
Mechanismus der Gesittung, das Organ der Moral” erblickt. Das 
Associationsorgan ist das Organ, in welchem sowohl die Ver¬ 
tretung des primären Ich, als auch die des secundären Ich 
gleichsam ihre Ansprüche erheben, die Interessen der beiden 
betheiligten Factoren geltend machen, und wo die Art der Ab¬ 
findung der zwei Parteien bestimmt wird. Diese Vertretung im 
Associationsorgane ist dadurch gegeben, dass sowohl die „Materie 
des Begehrungsvermögens”, als auch das „moralische Gesetz” 
durch Associationssysteme repräsentirt wird, welche wir viel¬ 
leicht, wie Georg Hirth, 1 ) als Lustsysteme einerseits, als 
Pflichtsysteme andererseits bezeichnen möchten. Wie überall 
dort, wo mehrere Associationen in Wirksamkeit treten, so ist 
auch hier das Resultat von Verhältnissen abhängig, zu deren 
Verständniss uns Wernicke 2 ) verhilft, indem er unsere Auf- 

') Georg Hirth, Die Localisationstheorie angewandt auf psychologische 
Probleme. 

2 ) Wernicke, Grundriss der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen. Psycho¬ 
physiologische Einleitung. 


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Dr. Josef Berze. 


merksamkeit auf die Verschiedenheit der „Erregbarkeitsverhält¬ 
nisse” und der „Werthigkeit” derjenigen Vorstellungen lenkt, 
von denen das Handeln des Individuums unter bestimmten, 
gegebenen Verhältnissen abhängt. Die Verschiedenheit dieser 
Verhältnisse findet Wernicke erstens in der verschiedenen Höhe 
des Lust- oder Unlustaffectes, mit welchem die betreffende Vor¬ 
stellungsgruppe verknüpft ist, zweitens in der verschiedenen 
„Geläufigkeit ihrer ßeproduction oder Leichtigkeit des An¬ 
sprechens” begründet, welche davon abhängt, ob sie häufiger 
oder seltener benützt worden sind. Wenn wir andererseits mit 
Meynert die verschiedene Höhe des Affectes auf der ver¬ 
schiedenen „Zahl von erregten Nervenelementen des Associa- 
tionscomplexes” basirt sehen, den Ausdruck der leichteren oder 
schwereren Reproduction in dem verschiedenen Grade des „Aus¬ 
geschliffenseins” der bestehenden Bahnen finden, können wir 
auch sagen, eine hohe Erregbarkeit und Werthigkeit von Vor¬ 
stellungen setze ein entsprechendes, weitverzweigtes, vielfach 
eingewurzeltes, ausgeschliffenes Associationssystem voraus. In 
welchem Masse besonders die das moralische Postulat aus¬ 
machenden Associationssysteme die genannten Bedingungen 
erfüllen müssen, damit die moralische Leistung zu Stande 
kommt, wird erst dann klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, 
wie gross die normale Erregbarkeit und die normale Werthig¬ 
keit der diesem Gesetze antagonistischen Associationssysteme 
ist. Die durch den leeren Magen oder die „gefüllten Schwell¬ 
körper” immer wieder wachgerufenen complicirten Associations¬ 
systeme, welche zur Nahrungsaufnahme oder zur sexuellen 
Bethätigung führen, haben eine so hohe Erregbarkeit und 
Werthigkeit, dass sie zu der angeführten Bethätigung drängen 
und treiben, dass sie zum Drange, zum „Triebe” werden. Soll 
also das moralische Gesetz diesen gleichsam primären „Trieben” 
und den sich auf denselben aufbauenden unzähligen secundären 
„Trieben", die wir als Theilerscheinungen des Egoismus kennen, 
gegenüber wirksam sich bethätigen können, so müssen auch die 
ihm zu Grunde liegenden Associationssysteme eine so hohe Erreg¬ 
barkeit und Werthigkeit erlangen, dass sie einen triebähnlichen 
Charakter der betreffenden Vorstellungen erzeugen; wenn sie 
zu positiven Bethätigungen führen sollen, fallt besonders das 
Moment der leichten Erregbarkeit ins Gewicht, sollen sie 


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Ueber moralische Defeetzustäude. 


65 


dagegen zu Unterlassungen, zu Hemmungen des Trieblebens 
führen, sich also gewissermassen negativ äussern, kommt neben 
dieser ebenso sehr die hohe Werthigkeit in Betracht. 

Wir sehen so, dass wir in leicht erregbaren und hoch- 
werthigen Associationssystemen die Grundlage sowohl für die 
positive als auch für die negative Aeusserungsform, für die 
gesammte Erscheinung der Moral zu suchen haben. 

Von grossem Belange und hohem Interesse ist nun die 
Frage, auf welche Weise Associationssysteme, die zur Wahrung 
altruistischer Rücksichten führen, zu ihrer in den bezeichneten 
Eigenschaften ihren Ausdruck findenden Bedeutung kommen. 
Zunächst müssen sie natürlich da sein; woher stammen sie also? 
Sind sie vielleicht ererbt und angeboren? Shaftesbury dachte 
sich ja — nur um ein Beispiel anzuführen — den moralischen 
Sinn nur als ein mit der Reflexion verbundenes, angeborenes 
Geftihlsvermögen für moralische Schönheit und Hässlichkeit. Ja, 
sogar der unter dem Einflüsse derselben neuen Forschungen 
und Hypothesen der Hirnanatomie, die wir möglichst genau in 
Rechnung zu ziehen bestrebt sind, stehende Georg Hirth meint 
an einer Stelle: „Die moralischen Systeme, z. B. der Liebe und 
Dankbarkeit, des Mitleids und der Opferfreudigkeit — mit dem 
Reflexmechanismus der „Rührung” — sind wohl ebenso gut 
vererblich, wie die raubthierartigen Instincte.” Während also 
jedes Menschenkind das Gehen erst lernen muss, während das 
Kind sogar das Fixiren eines leuchtenden Punktes durch langes 
Tasten und Probiren erst erwerben muss, während also das 
Artgedächtniss des Menschen nicht dazu hinreicht, so allgemein 
wichtige Bewegungscoordinationen dem Kinde fertig als Erb- 
theil mitzugeben, ist das Kind bei seinem Erscheinen schon mit 
den complicirtesten moralischen Systemen ausgestattet? Während 
also das Fixiren, das Gehen erst ein secundärer Automatismus 
— im Sinne Hartley’s — ist, wäre die Liebe, die Dankbarkeit, 
das Mitleid ein primärer Automatismus! Da entspricht doch 
gewiss die Behauptung Lombroso’s der Wahrheit weit mehr, 
dass die Kinder Züge des moralischen Irreseins und des Ver¬ 
brecherthums zeigten. Freilich leiten wir daraus nicht ab, dass 
der Grund dafür darin liegt, dass sich die Keime des moralischen 
Irreseins und der Verbrechernatur als Norm im ersten Lebens¬ 
jahre des Menschen vorfinden, sondern dass das, was gemeinhin 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. ZV. Bd. 5 


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Dr. Josef Berze. 


moralischer Sinn genannt wird, beim Kinde in diesem Alter noch 
nicht entwickelt ist, dass das Kind noch „ein des moralischen 
Sinnes entbehrender Mensch” ist. Es handelt im Sinne einer 
unmoralischen Bethätigung, nicht weil ein positiver Factor: 
Keime des moralischen Irreseins, seine Handlungen lenkt, 
sondern weil der positive Factor, der den moralisch voll ent¬ 
wickelten Erwachsenen in die Richtung der Moral führt: die 
hochwerthigen Associationssysteme, noch nicht entwickelt ist. 
Wir betrachten diese Systeme eben als einen Theil des er¬ 
worbenen psychischen Besitzes. Es widerstrebt uns, ererbte 
Associationen, die die Beziehungen des Ich zum Nicht-ich 
regeln sollen, anzunehmen, schon aus dem Grunde, weil die 
Theilung der gesammten Erscheinung in ein Ich und Nicht-ich, 
in ein primäres und ein secundäres Ich erst Product der Er¬ 
fahrung ist. Nichtsdestoweniger müssen wir gewisse Anlagen 
als angeboren und ererbt annehmen; diese Anlagen sind aber 
viel allgemeinerer Natur. Wir müssen die Fähigkeit voraussetzen, 
zunächst Associationen aufkommen zu lassen und diese Asso¬ 
ciationen zu bewahren; nur dann kann das weitere Postulat 
erreicht werden, dass diese Associationen zu ausgeschliffenen 
werden. Wir müssen also die Momente als gegeben annehmen, 
welche dem Menschen die Fähigkeit geben, seine „Handlungs¬ 
weise aus der directen Abhängigkeit von den jeweiligen äusseren 
Einwirkungen zu befreien”, wie sich Langwieser 1 ) ausdrückt. 
Wir müssen die Fähigkeit des Individuums voraussetzen, in sich 
ein relativ „Bleibendes im Wechsel” aufkommen zu lassen, das 
ihn-möglichst frei macht von zufälligen Bedingungen, und der 
gesammten bisher gemachten Erfahrung dazu verhilft, „bei der 
Feststellung der Entschliessungen mitconcurriren” zu können. 

Die ausgeschliffenen Associationssysteme repräsentiren ebenso 
viel leicht auslösbare Kräfte, welche die Mitwirkung der Er¬ 
fahrung bei der Entstehung einer Bewegung im Allgemeinen 
oder eines Entschlusses im Besonderen bewirken. Bewegungen 
werden durch ausgeschliffene Associationsbahnen unter anderem 
in der Richtung modificirt, dass sie gegenüber den primären 
Bewegungen gehemmt erscheinen, sowohl was Schnelligkeit des 
Ablaufes, als auch was Intensität anbetrifft. Sie werden durch 


') Langwieser, Versuch einer Mechanik der psychischen Zustände. 


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Ueber moralische Defectzustände. 


67 


dieselben ferner auch modificirt in Ansehung der Art ihres Ab¬ 
laufes. So vermag der Salonmensch einerseits das Gähnen lang 
zu unterdrücken, wenn er einem zweifelhaft amüsanten Concert 
beiwohnt, hält sich andererseits im Falle des unvermeidlichen 
Eintretens dieser primären Bewegung die Hand vor den schmerz¬ 
lich verzerrten Mund. Geradeso verhält es sich mit der Ein¬ 
wirkung einflussreicher Systeme beim Zustandekommen von 
Entschlüssen, insbesondere bei Entschlüssen, die zur moralischen 
Leistung führen. 

Kant *) lehrt uns: „Die Wirkung des moralischen Gesetzes 
als Triebfeder ist zunächst nur negativ” — nämlich eine Ab¬ 
weisung der sinnlichen Antriebe. Derselben Auffassung begegnen 
wir bei Forschern auf den verschiedensten Wissensgebieten, 
ßokitansky meint: „Das Gute besteht als Gegensatz zum 
Bösen in Hintangebung des Thierlebens an und für sich, an 
andere und für andere,” Hieronymus Lorm findet, dass die 
Sittlichkeit ihrem Wesen nach immer Selbstverleugnung ist, 
dass eine sittliche Handlung — immer ein Opfer — nie aus 
egoistischen Motiven hervorgehen kann. Nothwendigerweise 
führt Kant weiter aus, dass das moralische Gesetz unvermeid¬ 
lich jeden Menschen demüthigt, indem dieser mit demselben den 
sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht, dass durch den Ab¬ 
bruch, der den Neigungen geschieht, ein Gefühl bewirkt werden 
muss, welches Schmerz genannt werden kann; erst dadurch, 
dass auch der Hang zur Selbstschätzung durch die Befolgung 
des moralischen Gesetzes Abbruch erleidet, wird dieses nach 
Kant ein Gegenstand der Achtung, mithin auch der Grund 
eines positiven Gefühles. 

Diese weitläufige Deducirung des moralischen Gefühles will 
den Philosophen immer weniger Zusagen. v.Volkmann spricht diese 
Eichtung aus, wenn er sagt: „Dass Kant für das moralische Gefühl 
keine andere Grundlage auffinden konnte, als die Demüthigung 
aus der Niederlage des einen der beiden „um die Gesetzgebung 
unseres Willens streitenden” Vermögen durch das andere, ist 
leider die unausweichliche Consequenz seiner Psychologie, die 
überall einen Kampf der einzelnen Seelenvermögen voraussetzt. 
Die Folge davon ist, dass Kant gerade die immanenten Moral- 


*) Kant, Kritik der praktischen Vernunft. 

5 * 


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Dr. Josef Berze. 


gefühle, das Wohlgefallen und Missfallen, an den Willensverhält¬ 
nissen entgehen und durch eine allgemeine sbimmungsartige 
Lust ersetzt werden, die ihren Umweg durch eine tiefe Unlust 
nehmen muss. — Kant steht übrigens auch nicht an, die Ver¬ 
bindung des moralischen Gefühles mit dem ästhetischen in der 
ästhetischen Auffassung der Gesetzmässigkeit einer Handlung 
aus Pflicht anzuerkennen. Hierdurch werden wir zu der mit den 
Ergebnissen der neueren Forschungen im Gebiete der Physio¬ 
logie der Hirnrinde in vollkommenem Einklang stehenden An¬ 
sicht Volkmann’s hinübergeführt, der sagt: »Unter dem morali¬ 
schen Gefühle verstehen wir eine Art des ästhetischen Gefühles, 
die sich von den übrigen nur durch die Besonderheit ihrer ob- 
jectiven Grundlage unterscheidet. Gefühle dieser Art sind die 
Lust an der Uebereinstimmung des Wollens mit der sittlichen 
Einsicht des Wollenden, mag diese letztere an sich genommen 
richtig sein oder nicht, die Lust der Erhebung des Wollens zu 
jenem Stärkegrade, der ihm als sein quantitatives Mass vor¬ 
schwebt, die Lust in der Lenkung des Wollens auf die Förderung 
fremden Wohles, die Unlust an Rechtsverletzungen und an 
unvergoltenen Wehe- und Wohlthaten.” 

Was Volkmann „als objective Grundlage” bezeichnet, ist 
nichts anderes als die Einwirkung der Associationscomplexe, 
welche wir als Constituentien der Moral des betreffenden Indi¬ 
viduums ansehen. Diese Associationscomplexe werden zunächst 
bestimmend für den Willen des Menschen in der Richtung eines 
moralischen Gebarens, werden weiterhin aber auch zu Urhebern 
eines Gefühles, und zwar entweder des der Lust — wenn die 
betreffende Entäusserung mit dem Systeme stimmt, dagegen zum 
Urheber des Gefühles der Unlust — wenn die Entschliessung 
in einem widersätzlichen Verhältnisse zum Inhalte des Systemes 
steht. (Die Controverse, ob „das” moralische Gefühl dem morali¬ 
schen Urtheile vorangehe [Brown, Spalding] oder nachfolge 
[Payne], halten wir, von unserem Standpunkte aus, somit für 
die letztere Ansicht entschieden.) 

Der „Umweg durch die tiefe Unlust” scheint uns nicht für 
alle moralischen Beziehungen anwendbar. Wenn nämlich auch 
in gewisser Beziehung der Satz allgemeine Giltigkeit bean¬ 
spruchen darf, dass in letzter Linie jede moralische Leistung 
eine Art Selbstbeeinträchtigung in sich schliesst, so ist doch 


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Ueber moralische Defectzustände. 


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andererseits klar, dass das entwickelte secundäre Ich vielen 
moralischen Leistungen das Moment der Beeinträchtigung be¬ 
nimmt, indem eben an Stelle des engen primären Ich das er¬ 
weiterte secundäre Ich tritt; dadurch müssen gewisse Beziehungen 
sogar gerade das entgegengesetzte Moment gewinnen. Die 
moralische Leistung bedingt nur insolange immer eine Selbst¬ 
verleugnung, als nur das nackte primäre Ich mit seinen 
Forderungen hervortritt; je mehr sich Elemente einer secundären 
Ich-Bildung zeigen, desto mehr geht der Charakter der Selbst¬ 
verleugnung verloren. Wenn sich beim Kinde einmal die Vor¬ 
stellung der Eltern mit dem primären Ich so associirt hat, dass 
eine förmliche Identificirung der beiderseitigen Interessen erfolgt 
ist, setzt die Erscheinung der Liebe des Kindes zu den Eltern 
keine Selbstverleugnung voraus, ist im Gegentheile als Er¬ 
scheinung einer erweiterten Philautia von denselben Gefühlen 
begleitet wie die Eigenliebe. Wenn Kant in den „Träumen eines 
Geistersehers” sagt, das moralische Gefühl ordne den Privat¬ 
willen dem allgemeinen Willen unter, so stellt er den Kampf 
der Seelenvermögen schon etwas zahmer dar als in der bereits 
mehrfach citirten „Kritik der praktischen Vernunft”. Das Be- 
dürfniss, einen Kampf vorauszusetzen, wird aber noch weit 
geringer, wenn wir berücksichtigen, dass nach Bildung des 
secundären Ich das primäre Ich für gewöhnlich seinen Separat¬ 
willen nicht zur Geltung bringt, sondern der Wille des Indi¬ 
viduums eben der Wille des erweiterten Ich, welches das primäre 
Ich in sich schliesst, ist. So wird vielen moralischen Systemen 
der Charakter der Hemmung genommen. Das geweckte Gefühl 
•wird nicht erst secundär ein positives, sondern ist schon primär 
ein solches, wie dasjenige, welches durch die Befriedigung der 
Triebe erzeugt wird. Elternliebe, Geschwisterliebe, Vaterlands¬ 
liebe, Nächstenliebe, Mitgefühl mit allen Lebewesen, Liebe zum 
Kosmos stellen in fortschreitender Entwickelung mit der Ent¬ 
wickelung des secundären Ich Schritt haltende moralische 
Leistungen ohne Charakter der Hemmung dar. Klar tritt da¬ 
gegen die Beeinträchtigung hervor, wenn das engere Ich in 
einen Antagonismus zum weiteren Ich tritt. Absichtlich sprechen 
wir nicht von einem Antagonismus zwischen primärem und 
secnndärem Ich, wie er durch den Nahrungstrieb, durch den 
Geschlechtstrieb provocirt wird; denn auch die schrankenlose 


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Dr. Josef Berze. 


Berücksichtigung eines weiteren Ich zeitigt moralische Vergehen 
gegenüber einem noch weiteren Ich. So führt die Liebe zu den 
eigenen Kindern, zu Verwandten zu der unmoralischen Er¬ 
scheinung, die wir als Protectionswirthschaft im öffentlichen 
Leben oft beobachten, die Liebe zur eigenen Nation und Rasse 
zum Krieg gegen andere Nationen, zur Anfeindung anderer 
Rassen. Bis zur Grenze der pantheistischen Weltliebe gibt es 
so viele Moralitätsgrade, bis zur Grenze der Kosmophilie findet 
jedes erweiterte Ich ein noch weiteres, dem gegenüber die 
höhere Moral Hemmung verlangt. Wir halten die so motivirte 
Trennung der moralischen Leistung in eine positive Leistung: 
Bethätigung des secundären oder weiteren Ich, und in eine 
negative Leistung: Hemmung der Neigungen des primären oder 
engeren Ich nicht für werthlos. Wir haben nämlich Fälle kennen 
gelernt, in denen die positive Bethätigung der Moral einen 
hohen Grad erreicht hat, während die negative Bethätigung 
recht defect geblieben oder geworden ist. Besonders auffällig 
ist dieses Verhalten oft bei Hysterischen, die neben aufopfernder 
Nächstenliebe, Wohlthätigkeitssinn, Arbeitsfreude, Begeisterung 
für die Kunst einen oft erschreckenden Mangel jeglicher Hemmung 
bekunden, wenn das engere Ich in seinen eigenen Interessen 
und Neigungen unmittelbar betroffen wird, so dass sie in Hass, 
Neid, Eitelkeit, Ruhmredigkeit, Geschlechtsgier, Genusssucht 
keine Grenze finden. Der Grund für ein solches Verhalten 
dürfte einerseits in der Labilität des psychischen Gleichgewichtes, 
in der darin begründeten Abhängigkeit von Affecten und der 
mit diesen wechselnden Erregbarkeit der einzelnen Associations¬ 
systeme, andererseits in der gesteigerten Impressionabilität zu 
suchen sein. Die irgendwie erzeugte Laune kann bei ihnen 
bald zu hochmoralischem, bald zu tief defectem Thun führen. 

Wir glauben aber auch auf die Annahme näher eingehen 
zu müssen, dass dem moralischen Urtheile nicht nur ein Gefühl 
folge, sondern demselben auch ein moralisches Gefühl voraus¬ 
gehe; sind wir doch gewohnt, nicht nur in dem Wohlgefallen 
an moralischer Bethätigung ein Gefühlselement zu finden, 
sondern auch die einzelnen moralischen Motive als Gefühle auf¬ 
zufassen, von einem Gefühle des Mitleids, der Dankbarkeit, der 
Elternliebe zu sprechen, stellen wir doch das Gemüthsleben in 
einen förmlichen Gegensatz zum Verstandesleben, sprechen wir 


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Ueber moralische Defeetzustände. 


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doch beispielsweise auch davon, die Sittlichkeit des Weibes sei 
eine höhere (?) und dies entspreche einem regeren Gemüthsleben. 
Was unterscheidet die einem gewöhnlichen Urtheile vorangehende 
geistige Thätigkeit von der, welche zum moralischen Urtheile 
führt, so dass wir das letztere vorzugsweise als Resultat des 
Gemüthslebens ansprechen? In dem Gefühle der Lust am Ur- 
theilen überhaupt können wir kein entscheidendes Moment er¬ 
blicken, weil es eben einerseits jedem Urtheile anhaftet, weil 
andererseits gerade die moralischen Urtheile in der Regel nicht 
einer selbstständigen, actuellen Gedankenarbeit entspringen, 
sondern der grössten Mehrzahl nach Reproductionen von in den 
psychischen Besitz des Individuums aufgenommenen, bereits vor¬ 
gebildeten, überlieferten Urtheilen darstellen. Bedeutungsvoller 
ist schon der Umstand, dass nicht nur Urtheile in den psychischen 
Besitz aufgenommen werden, sondern mit denselben auch der 
ihnen entsprechende Lust- oder Unlustaffect; da aber moralische 
Urtheile ganz besonders zur Affectbetonung begünstigt sind, 
weil dieselben immer über das Ich im engeren oder weiteren 
Kreise entscheiden, dessen Interessen fördern oder hemmen, so 
wird diesen Urtheilen mehr als anderen der Charakter von 
„Gefühlen” aufgedrängt. Ein weiteres, noch wichtigeres Moment 
scheint uns aber in dem Bewusstseinsgrad gelegen su sein, bei 
welchem gemeinhin die zum moralischen Urtheil führende Ge¬ 
dankenarbeit ablauft. 

Der Einfluss neuer Forschungen macht sich auch in der 
Richtung fühlbar, dass gewissen Seelenvermögen, die bisher als 
souveräne Lenker der psychischen Thätigkeit betrachtet wurden, 
den „thronenden Seelenvermögen”, eine bescheidenere Stellung 
angewiesen wird, dass sie — entthront werden. So sagt Georg 
Hirth: „Man wird sich vielleicht dazu entschliessen müssen, 
den „Willen” und das „Ich-Bewusstsein aus der Liste der 
selbstständigen, der „thronenden” Seelenvermögen zu streichen”, 
und an anderer Stelle (op. cit.): „Die Worte „Aufmerksamkeit”, 
„Bewusstsein”, „Wille” geben uns nur einen gewissen biologischen 
Massstab für die Stärke und Ordnung der gefühlten oder 
vorausgesetzten Spannungen.” Wir lernen so immer mehr die 
Bedeutung der Annahme eines Huxley oder Maudsley 
schätzen, dass das Bewusstsein nur mit gewissen Nervenpro- 
cessen einhergehe, ohne auf dieselben einwirken zu können, 


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Dr. Josef Berze. 


eines Carpenter, der die grosse Bedeutung der unbewussten 
Gehirnthätigkeit betont, eines Bibot, der dem Bewusstsein im 
Mechanismus des Gedächtnisses die Bolle eines nebensächlichen 
Elementes zuweist. Gleichzeitig mit der Erkenntniss, dass die 
Gehirnthätigkeit des Denkens sowohl über als auch unter der 
Schwelle des Bewusstseins vor sich geht, und dass für das un¬ 
bewusste und für das bewusste Denken dieselben Gesetze 
gelten, macht sich bei uns aber auch die Ueberzeugung geltend, 
dass die Bolle, welche die unbewusste Gehirnthätigkeit in unserem 
geistigen Leben überhaupt spielt, verschieden sein muss von 
der Bolle der bewussten Gehirnthätigkeit Diese Verschiedenheit 
ist zunächst in dem Umstande begründet, dass uns die un¬ 
bewusste Gedankenarbeit in ihren einzelnen Phasen nicht be¬ 
kannt ist und nur durch ihr Eesultat, das über die Schwelle 
des Bewusstseins tritt, auf ihren Ablauf schliessen lässt und 
ihren Einfluss äussert, wogegen uns die bewusste Gedanken¬ 
arbeit, abgesehen von miteinfliessenden unbewussten Elementen, 
in ihrer ganzen Entwickelung klarliegt. Wir werden daher 
durch das unbewusste Denken in eine gewisse Sichtung gelenkt, 
ohne dass wir die einzelnen Momente erkennen, die hierbei 
wirksam werden; wir bezeichnen diese Kraft, die uns wie ein 
dunkler Drang führt, bald als Voreingenommenheit, als Vor- 
urtheil, Personen gegenüber als Sympathie oder Antipathie, oft 
geradezu als Gefühl, besonders dann, wenn es sich um moralische 
Begriffe handelt. Der Sinn für Mein und Dein ist beispielsweise 
nichts anderes als die zur Berücksichtigung des Eigenthums¬ 
rechtes drängende Besultante aller unbewusst wirksam werdenden 
Erkenntniss, die theils in Form von einfach übernommenen 
fremden Urtheilen, theils als Ergebniss eigener Denkthätigkeit, 
auf den Begriff des Eigenthumsrechtes Bezug habend, im 
Associationsorgane aufbewahrt ist; da dieses Wirksamwerden 
unbewusst geschieht, können wir den inneren Werth dieses 
Beweggrundes nicht abschätzen, wie wir einen uns in seinem 
ganzen Inhalt bewussten Beweggrund abschätzen können, wir 
können denselben auch nicht abweisen, wie wir einen bewussten 
Beweggrund abweisen, wenn wir seine momentane Berechtigung 
nicht erkennen, sondern stehen unter seinem Banne, werden 
durch denselben in einen gewissen stimmungsartigen Zustand 
versetzt, der unser Denken und Handeln leitet. Wir können 


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Ueber moralische Defectzustände. 


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von einem Menschen, der uns „vom ersten Momente an anti- 
pathisch” war, nur Gutes und Schönes erfahren; dennoch werden 
wir ihm gegenüber immer reservirt bleiben und dabei vielleicht 
sogar gut fahren. Ein moralisch vollkommenes Individuum mag 
noch so sehr durch ungünstige Lebensverhältnisse etc. in die 
Versuchung kommen, fremdes Eigenthum anzutasten, das Streben 
nach Uebereinstimmung des Wollens mit der unbewusst wirksam 
werdenden sittlichen Einsicht wird auf dasselbe doch mächtiger 
einwirken als die Befriedigung der egoistischen Versuchung, 
das unbewusst geweckte Gefühl der Unlust an Rechtsverletzungen 
wird ihn verhindern, eine seinem Charakter, d. h. der Summe 
seiner sittlichen Erkenntniss widersprechende Handlung zu be¬ 
gehen. Es fällt also wie überall, so auch im Gebiete der Moral 
der unbewussten Gehirnthätigkeit eine Art präparatorische Arbeit 
zu, sie enthebt uns der Nothwendigkeit, mit jener Energie, 
welche wir zum bewussten Denken aufbringen müssen, welche 
zur Entstehung neuer Gedankenreihen und neuer Urtheile 
nöthig ist, alle jene Principien und Grundlagen, die für unser 
Denken und Fühlen allgemein gelten, immer wieder in Betracht 
zu ziehen, und befähigt uns, ja zwingt uns, unsere Urtheile auf 
dieser sich gleichsam von selbst ergebenden Basis weiter auf¬ 
zubauen. In der unbewussten Gestaltung der zur moralischen 
Leistung führenden Triebkraft liegt aber zugleich eines der 
Hauptmomente, welche uns diese Kraft zum Unterschiede von 
genau umschriebenen, bewusst gestalteten Beweggründen als 
Drang oder als „Gefühl” erscheinen lassen. Die Gesammtheit 
dieser Gefühle ist jenes Wissen, das den Namen „Gewissen” 
führt, das Wirksamwerden derselben ist die „Stimme des Ge¬ 
wissens”. 

Wenn wir so eine gewisse Beziehung der unbewussten Ge¬ 
dankenarbeit zur moralischen Leistung gefunden zu haben 
glauben, sind wir aber weit davon entfernt zu leugnen, dass 
nicht auch gelegentlich der bewussten Gedankenarbeit eine 
wichtige Rolle zufällt. Die Leistungsfähigkeit der unbewussten 
Thätigkeit ist ja wahrscheinlich eine begrenzte. Wie oben er¬ 
wähnt, handelt es sich um eine präparatorische Arbeit, die 
offenbar nur so weit gehen kann, bis wohin vorher schon die 
bewusste Thätigkeit geführt hat; wo der neue Weiterbau, wo 
die Speciflcation beginnt, ist schon jene höhere Energie nöthig, 


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Dr. Josef Berze. 


die dem bewussten Denken zukommt. In Sachen der Moral tritt 
letzterer Fall wohl nur äusserst selten ein. Es gibt ja gewiss 
tragische moralische Conflicte, die an die geistige Thätigkeit 
des Individuums hohe Anforderungen stellen; doch sie sind es 
nicht, nach welchen wir die moralische Sufficienz oder InsufA- 
cienz beurtheilen, sondern es wird uns in der Regel auffällig, 
dass die elementarsten moralischen Begriffe vernachlässigt 
werden; weiterhin handelt es sich gerade bei der Moral um die 
Wirksamkeit von zumeist fertig übernommenen, vorgebildeten 
Urtheilen, die erst durch ihre Erregbarkeit und Werthigkeit 
eine hohe Rolle spielen. Zu letzteren Factoren gelangten sie, 
ohne jemals an das Associationsorgan höhere Ansprüche ge¬ 
stellt zu haben, lediglich durch die wiederholte Aufnahme und 
Reproduction; so wurden diese Urtheile zu Elementen des 
„Charakters” ohne wesentliche active Betheiligung des Associa¬ 
tionsorganes, so wurden sie zu unbewusst mitwirkenden Factoren, 
die viel sicherer eine moralische Bethätigung herbeiführen, als 
neue bewusste Urtheilsfunctionen, welche gelegentlich ebenso gut 
zu einer Vernachlässigung der Moral führen können, wenn bewusste 
(„Verstandes-”) Gründe das Urtheil in dieser Richtung beeinflussen. 

Nach dem bisher Gesagten ist es klar, dass wir dem 
Associationsorgane als schlussbildenden Apparat eine äusserst 
geringe Bedeutung für die Moral zuschreiben. Diese Ansicht 
wird durch die Beobachtung gestützt, dass oft sehr schwach¬ 
sinnige Personen den Anforderungen der Moral in ihrem be¬ 
schränkten Gedanken- und Thatenkreise vollauf genügen, dass 
sie manchmal geradezu als Pedanten der Moral erscheinen. Ja, 
der „beschränkte Unterthanenverstand” steht sogar im Rufe, 
der Moral des Staatsbürgers förderlich zu sein! Wenn der Idiot 
im Stande ist, die Schwierigkeiten, welche sich bei ihm der 
Apperception in den Weg stellen, zu überwinden, wenn gewisse 
Vorstellungen, Associationscomplexe, Urtheile und Urtheilsreihen 
in seinen psychischen Besitz einmal aufgenommen sind, spielen 
sie in seinem Geistesleben eine viel bestimmendere Rolle als 
beim Vollsinnigen, bei dem eine grosse Reihe von Neben¬ 
associationen, Nebenurtheilen, neuen Apperceptionen die Wirk* 
samkeit abdunkelt. 

In der Schwierigkeit der Apperception liegt aber in den¬ 
jenigen Fällen von Idiotie, die die moralische Defectuosität 


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Ueber moralische Defectzustände. 


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hervortreten lassen, der nächste Grund für ihre Erscheinung: 
Die der Moral zu Grunde liegenden Associationssysteme 
kommen gar nicht zur Entwickelung. Wenn auch solchen 
Schwachsinnigen durch kundige Erziehung irgend welche 
moralischen Systeme beigebracht werden, so ist es doch nie 
möglich, bei ihnen so zusammengesetzte Associationscomplexe 
zu erzeugen, dass ein entsprechender Affect hervorgerufen 
wurde; die Systeme bleiben nackte Schemen, das Element des 
Affectes tritt nicht hinzu. Das Resultat der Erziehung ist 
bestenfalls Drill. Von dem mehr oder weniger vorhandenen 
Momente der Reizbarkeit wird es in solchen Fällen abhängen, 
ob die moralische Defectuosität hervortritt oder nicht; die 
Autoren, welche den Schwachsinn als Basis dieser Erscheinung 
auffassen, heben daher auch das Moment der Reizbarkeit hervor. 

Für uns hat die moralische Defectuosität des Idioten — 
als Folge mangelhafter Apperception viel weniger Interesse als 
die des Imbecillen. Der Letztere führt uns um einen Schritt 
weiter. Er zeigt uns, dass es zur moralischen Leistung nicht 
genügt, dass das „Gefühl für Recht und Unrecht” vorhanden 
ist, sondern dass es weiterhin nöthig ist, dass dieses Gefühl 
unter allen Umständen geweckt wird, dass „die Wünsche und 
Pläne Revue passiren” — wie sich Tiling') ausdrückt — vor 
den „jedem Menschen geläufigen Begriffen von Recht und Pflicht”, 
dass schliesslich dieses Gefühl von so hochwerthigem Einflüsse 
ist, dass durch dasselbe die Handlungsweise des Individuums 
bestimmt wird. 

Sollier 2 ) hat den psychischen Zustand des Imbecillen 
gegenüber dem des Idioten streng abgegrenzt. Es fällt uns nun 
auf, dass gerade jene Momente, welche den Imbecillen vom 
Idioten unterscheiden, die Grundlage für seine moralische 
Defectuosität abgeben. Während der Idiot leichteren Grades, 
d. h. der Idiot, der einer gewissen, allerdings schwachen Auf¬ 
merksamkeit fähig ist, nur mit schwerem Bemühen neue Er¬ 
fahrungen, die man seinem Geiste aufzudrängen sucht, seinem 
bereits erworbenen Bewusstseins-Inhalt anreiht, wenn man ihm 

*) Tiling, Ueber angeborene moralische Degeneration oder Perversität 
des Charakters. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche 
Medicin, 52. Band, 2. Heft. 

2 ) Sollier, Der Idiot und der Imbecille. 


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Dr. Josef Berze. 


aber einmal gewisse Begriffe beigebracht hat, von denselben 
nur äusserst schwer ablässt, sehen wir den Imbecillen rasch 
erfassen, aber so rasch von einem Gegenstände auf den anderen 
Überspringen, dass wir schon durch die Beobachtung überzeugt 
werden, es könne keine Fixirung des Eindruckes stattgefunden 
haben. Während der Idiot immer derselbe bleibt, ein wahres 
Muster der Beständigkeit, ist der Imbecille ganz der Situation 
unterworfen, die verkörperte Unbeständigkeit. Dieser Gegensatz 
im psychischen Verhalten ist ein so auffälliger, dass man als¬ 
bald erkennt, dass der Schwachsinn des Idioten von dem des 
Imbecillen schon genetisch verschieden ist. Die Ursache des 
ersteren liegt in der erschwerten Apperception, als deren Ur¬ 
sache wir irgend welche angeborene oder erworbene Hindernisse 
innerhalb der Sinnes- und Associationsbahnen annehmen, wogegen 
dem letzteren ein abnorm erleichterter Associationsablanf zu 
Grunde zu liegen scheint, welcher häufig auch Urheber einer 
auffälligen manischen Färbung wird. Vielfache Beobachtungen 
führen uns nämlich dahin, anzunehmen, dass die Festigkeit der 
Fixation einer Association im geraden Verhältnisse steht zur 
Zeit, die zu ihrer Entstehung nothwendig war. Ist die Fixation 
schwach, so erfüllt das Associationsorgan seine Function als 
Gedächtnissorgan nicht vollständig. Auf diesem Defecte beruht 
der Schwachsinn des Imbecillen, wenn er auffällig ist; denn 
es gibt ja anch intellectuell fast normale Imbecille. Auf diesem 
Defecte beruht aber auch die immer vorhandene Unbeständigkeit 
des Imbecillen, endlich auch die moralische Defectuosität; denn 
damit Systeme hochwerthig und erregbar werden, müssen sie 
erworben und aufbewahrt werden, dann erst können sie durch 
wiederholte Erregung und weitere Verknüpfung mit anderen 
Systemen die zwei betonten Eigenschaften gewinnen. Trotzdem 
der „schlussbildende Apparat” des Imbecillen genügt, das Un¬ 
moralische seiner Handlungsweise einzusehen, fehlt ihm daher 
das „Ausgeschliffensein der Bahnen”, so dass sich im gegebenen 
Momente diese Einsicht nicht ausschlaggebend geltend macht. 
Während also der Schwachsinn des Idioten in schlechter Auf¬ 
fassung begründet ist, liegt seine Basis beim Imbecillen in 
einem Defecte des Associationsorganes als Gedächtnissorgan; 
dieser Defect geht nicht so weit, dass überhaupt keine Eindrücke 
haften blieben, sondern nur so weit, dass dieselben in kurzer 


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Ueber moralische Defectzustände. 


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Zeit abblassen, ihre Reproduction daher oberflächlich und ungenau 
wird. Wenn der Imbecille fabulirt, thut er es daher oft in dem 
Bestreben, gewisse Lücken der Erinnerung, welche sich ihm 
fühlbar machen, auszufüllen, wobei er natürlich ab und zu von 
der Wahrheit ab weicht; so belügt er sich und die Anderen. 

Das einzige Moment, welches auch den Imbecillen zu einer 
gewissen Beständigkeit zu zwingen vermag, ist die eigene 
Persönlichkeit mit ihren Interessen; es haftet ja denjenigen 
Associationen, die mit einem Ende in den Associationscomplex 
des primären Ich münden, eine leichte Erregbarkeit, eine hohe 
Werthigkeit an. Wenn wir nach Wernicke in der Bestimmung 
der Höhe, bis zu welcher „sich präformirte AssociationsVorgänge 
über die Schwelle des Bewusstseins erheben”, ein Mittel er¬ 
blicken, um die Aufmerksamkeit zu messen, so müssen wir 
sagen, dass sich die Aufmerksamkeit des Imbecillen von der 
des Normalen dadurch unterscheidet, dass sie nur auf Vorgänge 
gerichtet ist, die auf ihre Persönlichkeit Bezug haben, dass sie 
dagegen sehr gering ist, wenn es sich um Vorgänge handelt, 
deren Mittelpunkt im Objecte, also ausserhalb der Beziehungen 
des Individuums gelegen ist. Dadurch wird aber die Auf¬ 
merksamkeit, die dem eigenen Ich entgegengebracht wird, 
relativ gesteigert, gerade so wie ein Baum grösser erscheint, 
dessen Nachbarn gefällt sind. Im selben Masse also, als die 
Aufmerksamkeit für objective Vorgänge sinkt, steigt beim Im¬ 
becillen die Aufmerksamkeit für sein Ich, sie erscheint geradezu 
vertieft. Auch das Bewusstsein der Körperlichkeit, das uns im 
wachen Zustande, wie Wernicke sich ausdrückt, fortwährend be¬ 
gleitet, spielt daher beim Imbecillen eine grössere Rolle als 
beim Normalen. Diese Umstände führen dazu, dass Vorgänge, 
die vom Normalmenschen gar nicht mit dem Ich in Verbindung 
gebracht werden, vom Imbecillen immer vom Standpunkte der 
Förderung oder Schädigung seines Ich betrachtet werden, 
wodurch eine Erscheinung hervorgerufen wird, die mit dem 
Beziehungswahn in einiger Verwandtschaft steht, jedenfalls als 
gesteigerte Egocentricität auftritt. Während der Normale ge¬ 
wisse Vorschriften als feststehende Forderungen, als Richtschnur 
für sein Handeln anerkennt, ist der Imbecille daran verhindert, 
da er in Folge der krankhaft erhöhten Schätzung seines Ich in 
der Vorschrift zunächst nur eine Schädigung dieses Ich durch 


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Dr. Josef Berze. 


Beschränkung seiner Actionsfreiheit erblickt. Während der 
Normale im fremden Eigenthum etwas Unantastbares sieht, beim 
Erwerb dieser moralischen Grundlage gar nicht an sein Ich 
denkt, findet der Imbecille darin eine Behinderung seines 
Strebens nach Besitz. Während der Normale daher eine Strafe 
bei Ausserachtlassung von Vorschriften mehr weniger als gerecht 
erkennt, findet der Imbecille darin eine ungerechte Behandlung, 
eine Verfolgung. Der relativ hohe Schwellenwerth der eigenen 
Persönlichkeit muss aber auch noch in anderer Richtung seinen 
Ausdruck finden. 

Zunächst wird dadurch das primäre Gefühl des psychischen 
Schmerzes, das der moralischen Leistung nach Kant immer 
anhaftet, derart gesteigert, dass es zu den schon in der Asso¬ 
ciationsanomalie begründeten Hindernissen der Entwickelung und 
Bethätigung der Moral hinzutritt. Andererseits wird aber auch 
das Gefühl der Befriedigung, der ungebundenen Bethätigung, 
welches im Gegensätze zur moralischen Leistung jeder Ver¬ 
letzung der Moral anhaftet und das Holländer 1 ) als das 
„Gefühl der Unumschränktheit”, das zur Erscheinung der Moral 
insanity führen könne, in Betracht zieht, zu einer solchen Höhe 
gedeihen, dass der Kranke dieses Gefühl unter allen Umständen 
herbeizuführen bestrebt ist, dass dasselbe also gewissermassen 
zu einer treibenden Kraft wird. So erklären wir uns, dass der¬ 
artige Imbecille mit erhöhter Ich-Bewerthung gerade solche 
Handlungen verüben, die Verletzungen von in die Erkenntniss 
aufgenommenen Gesetzen der Moral ausmachen, wir erklären 
uns so die bei derartigen Individuen ganz besonders hervor¬ 
tretende Erscheinung der geradezu gesuchten und angestrebten 
Gesetzesverletzung, der moralischen Perversität. Der Schwach¬ 
sinn kann nur eine in Unterlassungssünden begründete und in 
Form von Ausserachtlassung moralischer Gesetze erscheinende 
moralische Defectuosität zur Folge haben, die in Form ange¬ 
strebter Gesetzesverletzungen erscheinende moralische Defectuo¬ 
sität setzt ausser dem negativen Factor des Blödsinnes oder der 
eine Hemmung nicht genügend aufkommen lassenden Associations¬ 
anomalie des Imbecillen einen positiven Factor voraus mit 
treibender Kraft, den Holländer direct aus der gesteigerten 


') Holländer, Zur Lehre von der Moral insanity, dieser Jahrbücher 4. Band. 


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Ueber moralische Defectzustände. 


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subcorticalen Function ableitet, während wir ihn anf eine relativ 
gesteigerte Werthigkeit des Associationscomplexes des primären 
Ich zurückführen. Dass dieser zweite Factor nothwendig ist, 
um einen Imbecillen im Kleide des moralisch Perversen erscheinen 
zu lassen, beweisen Fälle von Imbecilität, bei denen die Er¬ 
scheinung dieser Form der moralischen Defectuosität fehlt. Erst 
auf dem Wege der krankhaft erhöhten Ich-Bewerthung und 
Eigenbeziehung wird im concreten Falle das Moment der starren 
Negation, der Opposition um ihrer selbst willen, der Gesetzes¬ 
übertretung um jeden Preis hervorgebracht. Dabei ist für das 
Individuum der Nutzen, den wir manchmal nicht einsehen können, 
in dem Gefühle der Befriedigung zu suchen, das die Verletzung 
des moralischen Gesetzes durch Schädigung der Aussenwelt und 
das darauf sich gründende Gefühl der Macht mit sich bringt. „Der 
Geist, der stets verneint”, wird so der Grundzug der moralischen 
Defectuosität mancher Imbecillen. 

Wir kommen also bei dem Versuche, die Art der Genese 
der moralischen Defectuosität zu ergründen, für manche Fälle 
der Ansicht Holländer^ nahe, die sich übrigens ganz unmittel¬ 
bar aus Meynert’schen Lehren ableitet. Wir bestreiten aber, 
dass seine Art der Ableitung diejenige ist, die für alle Fälle 
Geltung hätte, geradeso wie wir den zum Schwachsinn als 
Basis führenden Weg einer Generalisation nicht für fähig halten. 
Wir sehen vielmehr aus dem Umstande, dass Holländer das 
„weitere Moment der Urtheilsschwäche” schliesslich doch herbei¬ 
ziehen muss, um den Mangel einer Correctur der im Sinne 
eines nicht fixirten Grössenwahnes gestörten „Beurtheilung der 
Beziehung der Persönlichkeit zur Aussenwelt” zu erklären, dass 
wir in seiner Theorie eigentlich nur eine Umkehrung der 
Theorie vom Blödsinn als Basis vor uns haben. Ebenso wie die 
einen Autoren, nachdem sie dem Blödsinn den unumschränkten, 
einzigen Einfluss auf die Entstehung moralischer Defectuosität 
vindicirt haben, andere Momente, beispielsweise das der Beiz- 
barkeit — wie es Schlöss 1 ) thut — ein Moment, das zunächst 
weder immer vorhanden ist, wenn es aber vorhanden ist, nicht 
den Defect der moralischen „Gefühle”, sondern nur gewisse der 


') Schloss, Ueber die Lehre vom moralischen Irrsinn, dieser Jahrbücher 
8. Band. 


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Dr. Josef Bern. 


Gereiztheit entspringende Zwischenfälle erklären kann, in ihre 
Begründung einführen, ebenso muss Holländer, nachdem er zu¬ 
erst den Grössenwahn ganz allein hat functioniren lassen, die 
fühlbar werdende Lücke durch den Deus ex machina der 
Urtheilsschwäche verdecken lassen, also durch die Einführung 
eines Momentes wettmachen, für dessen Annahme keine be¬ 
stimmten Anhaltspunkte massgebend sind, dessen Constatirung 
subjectivem Ermessen anheimgestellt ist, das daher derjenige 
leicht einzuführen veranlasst wird, der es braucht. 

Wir erklären uns aber, warum die Autoren bald ein cor- 
ticales Minus, den Blödsinn, bald ein subcorticales Plus, den 
von Holländer entwickelten relativen Grössenwahn, in den 
Vordergrund schieben, daraus, dass es unter denjenigen Formen 
von moralischer Defectuosität, bei denen überhaupt von Urtheils¬ 
schwäche die Rede sein kann, solche gibt, für deren Erscheinungs¬ 
weise das eine Moment, und wieder andere, in denen das 
andere Moment bestimmend wird. Fälle, die auf Holländer^ 
Auffassung hinlenken, charakterisiren sich ziemlich scharf. 

Solche Kranke betrachten sich als ausserhalb der Gesetze 
stehend; Hausordnung, Schulordnung, sociale Ordnung hat aut 
sie keine Anwendung; sie dürfen nicht mit gewöhnlichem Masse 
gemessen werden, nicht nach der Schablone beurtheilt werden; 
sie dürfen sich Uebergriffe erlauben, die nur den Anderen ver¬ 
boten sind, ihnen selbst nicht; sie sind aber auch anders als 
die Anderen. Was ihnen von den Eltern, der Gesellschaft in dem 
ihr primäres Ich in seiner Expansivität fördernden Sinne zu- 
theil wird, betrachten sie als selbstverständlichen Zoll, für den 
sie daher keinen Dank schuldig sind. Geht die Förderung ihres 
Ich noch so weit, so entspricht sie doch nie ihren Ansprüchen; 
sie sind daher nie zufrieden, haben immer zu fordern, was sie 
ungestüm und rücksichtslos thun. Sie zeigen ein erhöhtes Ehr¬ 
gefühl, sind daher auch leicht gekränkt, fühlen sich bald als 
Verfolgte, denen alles „zu Fleiss” gethan wird. Ihre Stimmung 
ist daher oft vorübergehend gedrückt, wie affectirter Welt¬ 
schmerz zur Schau getragen; die Stimmung schlägt aber leicht 
um und wird zu einer leicht exaltirenden heiteren Stimmung. 
Ein Eingriff in ihre wirklichen oder angemassten Rechte führt, 
bei ihrer Empfindlichkeit zu übertriebener Reaction; sie erscheinen 
zornmüthig. Manchmal kommt es zu heftigen Erregungszu- 


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ständen, die durch ihre ganze Erscheinung im Beobachter den 
Gedanken an eine vorübergehende Associationsdissolution wach¬ 
rufen. 

Diese Erregungszustände sind es auch oft, welche den 
Kranken einer psychiatrischen Beobachtung znführen. Das 
Moment des Blödsinnes tritt bei diesen Formen sehr zurück. Es 
liegt den unmoralischen Handlungen ein erkennbarer Zweck zu 
Grunde, die ohne Rücksicht auf die Mitwelt angestrebte För¬ 
derung des Ich in seiner momentanen Situation; die Kranken 
sind im Stande, das Moralische oder Unmoralische einer Hand¬ 
lung zu erkennen, was sie nicht nur dadurch documentiren, 
dass sie sich als treffende Kritiker der Handlungen Anderer 
aufwerfen, sondern auch an den eigenen Handlungen das Un¬ 
moralische bei Vorhalt herausfinden, eine Einsicht, die für sie 
aber wirkungslos ist, weil sie sich einerseits im Momente der 
Handlung nicht aufdrängt, andererseits weil selbst, wenn dieses 
Postulat erfüllt wird, das hoch bewerthete Ich mit seiner excep- 
tionellen Stellung eine solche Macht des moralischen Gefühles 
voraussetzen würde, wie sie der Kranke in Folge seiner ganzen 
Veranlagung nicht anfbringt. Schliesslich bekunden diese 
Kranken bei der Erreichung ihres Zweckes klare Erfassung 
der Situation, Umsicht, kluge Benützung der Umstände und 
der Persönlichkeiten, wie sie nur bei nahezu intacter Intelligenz 
erreicht werden kann. Diese Formen unterscheiden sich so weit 
von jenen Formen, die mit Rücksicht darauf, dass sie sich auf 
einen universellen oder partiellen Blödsinn — also auf mangel¬ 
haften Erwerb und mangelhafter Verwerthung des der Moral 
zu Grunde liegenden Vorstellungscomplexes in Folge Insufficienz 
des appercipirenden und schlussbildenden Apparates — zurück¬ 
führen lassen, als moralische Defectuosität bei Blödsinn, be- 
zeihungsweise als partieller moralischer Blödsinn bezeichnet zu 
werden verdienen, dass sie mit Rücksicht auf das bei ihnen im 
Vordergründe stehende Moment der „veränderten Beziehung 
ihrer Persönlichkeit zur Aussenwelt” als moralische Verrückt¬ 
heit immerhin angesprochen werden könnten. 

In den bisher besprochenen Fällen kann von einer relativen 
Insufficienz des schlussbildenden Apparates im weitesten Sinne 
gesprochen werden. Der Umstand, dass es Fälle gibt, in denen 
weder Schwachsinn noch die für die Imbecillität angenommene 

Jahrbücher f. Psychiatrie n»d Neurologie. XV. Bd. 0 


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Dr. Josef Berze. 


Associationsanomalie hervortritt, verlangt, nach weiteren 
Momenten zu forschen, die zur Entstehung moralischer Defec- 
tuosität führen können. Wir vermögen solche Momente zu 
finden, wenn wir berücksichtigen, dass die moralische Fähigkeit 
eine erworbene ist, und bedenken, dass es ans diesem Grunde 
nicht genügt, den Status praesens psychicus des moralisch 
Defecten ins Auge zu fassen, sondern dass wir seine ganze 
geistige Entwickelung zu Rathe ziehen müssen. Wir müssen be¬ 
denken, dass wir in der moralischen Defectuosität ein Symptom 
vor uns haben, das als Resultat einer abnormen geistigen Ent¬ 
wickelung erscheint. Geradeso wie uns eine pathologische Becken- 
form erst durch die Entwickelungsgeschichte verständlich wird, 
so vermögen wir erst durch genaues Studium der geistigen Ent¬ 
wickelung des Individuums einen Einblick in das Wesen seines 
moralischen Defectes zu gewinnen. 

Wir stossen beim Studium der geistigen Entwickelung auf 
Erscheinungen, die uns veranlassen, einige unserer Kranken als 
Degenerirte aufzufassen, etwa jener Art, wie sie von Magnan 
als dög^nöres supörieurs bezeichnet werden, als intelligente 
Entartete. Die Degeneration scheint überhaupt das einzige 
Moment zu sein, das allen Arten gemeinsam zukommt; freilich 
sind es Angehörige aller Stufen der Entartung vom Idioten bis 
zum intelligenten Entarteten, die moralisch defect erscheinen. 

Während wir durch die Erhebung eingehender Anamnesen 
nie zum sicheren Resultate, zur festen Ueberzeugung gelangen 
konnten, dass solche intelligente moralisch-defecte Entartete 
in ihrer frühen Kindheit abgeschwächte oder verlangsamte 
geistige Thätigkeit gezeigt hätten, fiel uns die auch in von 
Anderen verfassten Krankengeschichten erscheinende Angabe 
auf, dass bei den Kranken vielmehr eine überraschend früh¬ 
zeitige geistige Entwickelung constatirt werden konnte. Die 
Kinder werden als äusserst aufgeweckt, redegewandt und rede¬ 
lustig geschildert, besonders betont, dass dieselben schon früh¬ 
zeitig ein selbstständiges ürtheil verriethen, zu einer Zeit, wo 
normale Kinder nur fremde Gedanken und Schlüsse zu über¬ 
nehmen pflegen, dass sie diese Fähigkeit zu selbstständigem Ur- 
theile gern durch Kritik von Vorschriften, Ermahnungen, Strafen, 
Züchtigungen, wie sie die Erziehung als erprobte Hilfsmittel 
zur Erweckung und Ausschleifung gewisser Associationsbahnen 


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anwendet, zum Ausdrucke brachten, dass sie durch diese sich 
förmlich aufdrängende Lust zu kritisiren zur starren Negation 
geführt wurden, dass durch dieses Moment des Widerstandes, 
des Trotzes, der Erfolg der Erziehung illusorisch wurde, da 
wiederholte Strafen eine der Absicht gerade entgegenstehende 
Wirkung, sich immer mehr verschärfende feindselige Gesinnung 
gegen den Erzieher und immer hartnäckigeres Festhalten an 
der Bethätigung und Befolgung der eigenen Neigung zur Folge 
hatten. Jeder kennt solche in unserer an neuropathischer De¬ 
generation so überreichen Zeit immer häufiger auftretende, 
vielversprechende, altkluge, witzelnde, schlagfertige, dabei aber 
vorwitzige, arrogante, Familie und Umgebung terrorisirende 
enfants terribles; sie sind Candidaten für die Moral insanity. 
Ein erfahrener Wiener Schulmann, der das Unglück hat, ein 
wahres Musterbild von Moral insanity zum Sohne zu haben, fasst 
seine Bemerkungen über die frühe Kindheit desselben mit den 
Worten kurz zusammen: „Ich habe schon sehr früh gesagt: 
Mein Sohn wird entweder ein grosses Genie oder ein grosser 
Lump!” Was dieser Schulmann in recht urwüchsiger Weise zum 
Ausdrucke gebracht hat, das wird von der anthropologischen 
Schule, welche auf das häufige Coincidiren vou Moral insanity 
mit der „Genialitätspsychose” hin weist, ausführlich betrachtet. 
Thatsächlich haben beide Abnormitäten oft dieselbe Grundlage, 
nämlich die Negation. Die Negation der Gesetze der verschie¬ 
densten Provenienz, welche zusammengenommen die moralische 
Triebfeder ausmachen, führt gelegentlich zur moralischen Defec- 
tuosität, die Negation von allgemein geglaubten oder allgemein 
„gewussten” Geistesproducten des menschlichen Geschlechtes 
ist bei sonst entsprechender Veranlagung oft die Basis, auf der 
sich geniale oder wenigstens originelle Schöpfungen entwickeln. 
Das „aus der Art schlagen”, das „aus der Bahn weichen” ist 
so eine häufige Grundlage für beide Zustände. 

Geistige Frühreife mit Hervortreten selbstständigen Urtheiles, 
selbstständiger Kritik, kämpfenden Tendenzen gegenüber der 
Aussenwelt, beruht auf einer frühzeitigen Entwickelung des 
Selbstbewusstseins, der Erkenntniss des eigenen Ich als einer der 
Aussenwelt gegenüber abgegrenzten Individualität. Diese Erkennt¬ 
niss ist bei vielen Degenerirten thatsächlich schon sehr früh 
vorhanden und lässt sich unschwer aus einer Eigenschaft, die 

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Dr. Josef Bern. 


bei ihnen anscheinend ebenfalls fast constant zu finden ist, ab¬ 
leiten, nämlich einer zuweilen mit körperlicher Hyperästhesie 
vereinten psychischen Hyperästhesie. Das Selbstbewusstsein muss 
bei hyperästhetischen Kindern bei sonst gleichbleibender psy¬ 
chischer Veranlagung um so eher sich entwickeln, je mehr die 
Grenze der normalen Empfindlichkeit überschritten ist; denn je 
kräftiger die durch die hyperästhetischen Sinne zugeleiteten 
Eindrücke sind, um so eher muss der Gegensatz zwischen der 
eigenen Individualität und der Extraindividualität erkannt wer¬ 
den. Die Negation ist nun nichts anderes als eine Art Reflex¬ 
äusserung des bereits constituirten psychischen Ich im repul- 
siven Sinne. Ebenso wie körperliche Hyperästhesie das Eintreten 
von Reflexbewegungen begünstigt, so begünstigt die psychische 
Hyperästhesie die psychische Reflexäusserung der Negation. 
Mit der Negation erscheinen die Contrastvorstellungen, erscheint 
die Kritik, schwindet der Autoritätsglaube, werden also Be¬ 
dingungen geschaffen, die der Entwickelung der Moral als eines 
unumstösslichen, consolidirten Erfahrungsschatzes zur Regelung 
der Beziehungen des Ich zur Aussenwelt entgegensteheu. 
Während das langsamer heranreifende normale Kind in der 
Zeit, in welcher es fast nur als Accumulator von äusseren Ein¬ 
drücken, die es, man könnte sagen, unbewusst aufnimmt, func- 
tionirt, eine Summe von Erfahrungen gewinnt, die eben wegen 
ihrer kritiklosen Aufnahme ganz unumstösslich werden, haben 
für das frühreife Kind die in dieser Zeit gewonnenen Eindrücke 
keinen wesentlicheren Werth als den der momentanen Situation 
entsprechenden; ein für alle Fälle geltender Erfahrungssatz 
leitet sich daraus nicht ab. 

Mit der Erscheinung der Kritik in einer frühen Ent¬ 
wickelungsperiode werden jene Bedingungen, welche bei dem 
sich normal entwickelnden Kinde die Entwickelung der Moral 
begünstigen, vorzeitig weggeräumt. Ein „Gefühl” der Dank¬ 
barkeit kann sich beispielsweise schwer entwickeln, weil das 
frühreife Kind den empfangenen Gegenstand auf seinen Werth 
abschätzt, Gedankengängen folgt wie: ob es nicht in den Besitz 
des Gegenstandes gesetzt werden musste, ob nicht die Eltern 
ihrerseits Gründe hatten, ihm den Gegenstand zukommen zu 
lassen, ob es nicht selbstverständlich war, dass es damit be¬ 
dacht wurde etc., weil also selbstständige Gedankenreihen ein- 


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treten, welche das treibende, zwingende Moment, das einem 
entwickelten Dankesgefdhle zukommt, und das von uns als das 
zur Dankesbezeigung treibende Resultat einer in Folge seiner 
leichten Erregbarkeit sich unbewusst vollziehenden Gedanken¬ 
arbeit aufgefasst wird, nicht aufkommen lassen. Es entsteht 
nicht jene ausgeschliffene Verbindung zwischen Empfangen und 
Danken, wie sie beim sich normal entwickelnden Kinde entsteht 
und bei diesem nothwendig den Dankesact nach sich zieht — 
ohne Ueberlegung, förmlich ohne Zuthun des Individuums, 
welches sogar eine gewisse Lücke empfindet, wenn der Dankesact 
nicht erfolgt; es wird vielmehr der Dank von einem neuen 
Urtheilsacte abhängig, ist durch die Art der Erfassung der 
Situation bestimmt, tritt daher entweder ein oder nicht, hat im 
Falle des Zustandekommens das kalte, absichtliche Wesen einer 
bewusst begründeten, aus bewussten Gründen und mit bewusstem 
Zwecke vollführten Action an sich. Ebenso entwickelt sich 
keine Elternliebe, keine Nächstenliebe, keine Gottesfurcht als 
gewissermassen über der Situation stehender Drang, als von 
der Situation nicht abhängiges Gefühl, als schwer überstimm¬ 
barer Bestimmungsgrund für die Handlungsweise des Individuums, 
wie dies bei moralisch entwickelten Personen der Fall ist; das 
moralisch defecte Individuum liebt schon als Kind den Nächsten 
nur, so lange es sich in seinen Interessen durch denselben ge¬ 
fördert erachtet; die Eltern haben vor jedem anderen nichts 
voraus, auch sie sind dem momentanen Urtheile unterworfen, 
das der momentanen Situation entsprechend gefallt wird; das 
Kind, welches frühreif urtheilt, bevor noch die moralischen 
Leitkräfte Zeit gehabt haben, sich zu schon unbewusst aus¬ 
lösbaren Impulsen zu entwickeln, liebt den Vater, der ihm 
Kirschen kauft, nicht weil er der Vater ist, sondern weil er 
ihm Kirschen kauft, dasselbe Kind hasst den Vater, wenn er 
aus irgend einem Grunde gezwungen ist, ihm einen Wunsch zu 
versagen. 

Hand in Hand mit der vorzeitigen Entwickelung des Selbst¬ 
bewusstseins geht die Entstehung der Selbstüberschätzung; 
nicht gehemmt durch die in Fleisch und Blut übergegangenen 
moralischen Grundsätze, die die Handlungsweise des normal 
entwickelten Individuums in eine gewisse Richtung zwängen, 
wird das frühreife Kind in seiner Handlungsweise nur durch 


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seine eigene Entschliessung geführt, es handelt nach eigenen 
Lust- nnd Unlustaffecten, thut was ihm gefällt, unterlässt was 
ihm widerspricht, fühlt sich als sein eigener Herr. Personen 
und Dinge werden nur nach dem Nutzen benrtheilt, den sie 
ihm bringen. Das Eind weiss auch bald herauszufinden, wer 
und was ihm — nach seinen Begriffen — nützt; freilich über¬ 
schätzt das Eind den Anhalt, den es für sein Treiben in Per¬ 
sonen, Umständen und Dingen zu finden glaubt Wenn nämlich 
auch die Frühreife so weit gehen kann, dass das Eind im con- 
creten Falle im Stande ist, seine Handlungsweise anstatt die¬ 
selbe fremdem Einflüsse, respective dem bereits entwickelten, 
aber zu geringwerthigen, moralischen Impulse anzupassen, in der 
seiner eigenen Neigung entsprechenden Richtung selbstständig zu 
modificiren, so fehlt ihm doch andererseits eine Fähigkeit, die erst 
durch die Erfahrung gewonnen werden kann und von der für das 
frühreife Eind noch unerreichbaren Erweiterung des geistigen 
Horizontes abhängt, nämlich die richtige Abschätzung der Aussen- 
weit. Ueberschätzung derselben gehört ja geradezu zu den physio¬ 
logischen psychischen Erscheinungen des Eindesalters. Jeder¬ 
mann, der gelegentlich wieder in eine Gegend kommt, die er 
schon als Eind einmal besucht hat, wundert sich über den 
lächerlich kleinen Eirchthurm, über die niedrigen Berge, über 
den kleinen Bach, über die kleine, verkrüppelte Linde vor dem 
Hause. Alles war in seiner Erinnerung viel grösser, Viel 
imposanter. Der Eindruck war im Eindesalter ein mächtiger, 
als solcher wurde er aufbewahrt und steht im Widerspruche 
mit dem neuen Eindrücke, der nach Massgabe der inzwischen 
in der Erfahrung angesammelten anderen Eindrücke abfällt. In 
gleicher Weise überschätzt das Eind verschiedene Anhalts¬ 
punkte, die es als auxiliär für sein Streben nach ungebundener 
Selbstbetätigung betrachtet. Der Geldbeutel des Vaters ist für 
das Eind unerschöpflich, die Bedeutung und Macht des Vaters 
geht über alles, besonders wenn das Eind sieht, wie derselbe — 
ein Hofrath, ein höherer Militär oder dergleichen — von anderen 
Personen geachtet wird; dieser Vater kann alles gut machen, 
was der Sohn verbricht; er zahlt Schulden für sein Söhnchen, 
bringt Eläger zum Schweigen, spricht mit dem Lehrer ein gutes 
Wort. Solche Gedankengänge, die zunächst wohl nur bewusst 
ablaufen, werden in Folge der oftmaligen Wiederholung immer 


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leichter aasgelöst, zaletzt so leicht, dass sie unbewusst wirksam 
werden, geradeso wie beim normal entwickelten Individuum, 
dessen geistige Reife später — zu einer Zeit, wo das secundäre 
Ich mit seinen Forderungen schon voll entwickelt ist — eintritt, 
die Associationscomplexe der Moral wirksam werden, ohne dass 
die Gedankenarbeit bewusst geleistet würde. Solche das Indi¬ 
viduum in seiner Ungebundenheit begünstigende Associations¬ 
complexe stellen aber eine Triebkraft dar, welche sogar einem 
entwickelten moralischen Gefühle gegenüber entgegenzuwirken 
im Stande ist, vielmehr aber noch bei nicht entwickeltem 
moralischen Gefühle die Handlungen des Individuums in einer 
der Moral gerade entgegengesetzten Weise beeinflussen muss. 
Dies geschieht nach Ablauf einer gewissen Zeit ebenso un¬ 
bewusst, wie beim moralisch vollkommenen Individuum das 
moralische „Gefühl” die Handlungsweise in der Richtung der 
Moral unbewusst beeinflusst. Es stellt also auch das Wirksam¬ 
werden dieses dem moralischen Gefühle entgegengesetzten 
Associationscomplexes ein „Gefühl” dar — mit allen den Eigen¬ 
schaften, wie sie dem moralischen Gefühle zukommen — es 
entwickelt sich bei frühreifen degenerirten Kindern noch leichter 
als das moralische Gefühl — ein antimoralisches Gefühl, d. i. 
ein Associationscomplex von leichter Erregbarkeit und hoher 
Werthigkeit, der dem hemmenden Einflüsse des moralischen 
Gefühles, sei es nun entwickelt oder, wie es bei frühreifen 
Kindern nicht anders sein kann, unentwickelt, entgegen¬ 
gesetzt ist. 

Man könnte nun einwenden, dass ein antimoralisches Ge¬ 
fühl, das sich in der angedeuteten Weise entwickelte, wohl 
nicht von Halt, von längerer Dauer sein könnte, dass mit der 
Entwickelung des moralischen Gefühles diese entgegengesetzten 
Gefühle ihren Werth verlieren müssten, dass mit der wachsenden 
Erfahrung die Gründe, die das Kind zu unmoralischen 
Handlungen zu verleiten mochten, ihren Werth verlieren und 
moralische Beweggründe die Oberhand gewinnen mussten, kurz 
dass mit der allmählich sich entwickelnden richtigen Beur- 
theilung der Stellung des Individuums zur Aussenwelt der auf 
ungenügende Basis gestellte Rückhalt für die unmoralische 
Bethätigung des Individuums seinen Werth als Leitkraft für die 
Handlungsweise des betreffenden Individuums einbüssen müsste. 


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Dr. Josef Berze. 


Wenn wir auch vorweg zugeben, dass dieser Schluss bis zu 
einem gewissen Grade zugestanden werden muss, so möchten 
wir doch andererseits zunächst betonen, dass Gedankengänge, 
die einmal durch ausgeschliffene Associationsbahnen zu un¬ 
bewusster Wirksamkeit befähigt worden sind, selbst triftigen 
Erfahrungsgründen gegenüber nicht leicht und schnell ganz 
ihren Werth einbüssen, dass sie immer etwas zurücklassen, 
was als „Gefühl” bei der Entstehung einer Handlung oder des 
zu dieser führenden Gedankenganges in die Wagschale fällt. 
Wir möchten hier auf Darwin hinweisen, welcher sagt: „Be¬ 
merkenswerth ist es, dass ein in den frühesten Lebensjahren, 
wenn das Gehirn am eindrnckfähigsten ist, beständig ein¬ 
geprägter Glaube fast zum Instinct zu werden scheint; und das 
Wesentlichste eines Instinctes ist, dass er unabhängig von der 
Vernunft befolgt wird.” Die Beweggründe, welche seinerzeit 
das frühreife Kind in der Verachtung hemmender Schranken 
unterstützten, mögen schon lange nicht mehr der entwickelten 
Kritik gegenüber Stand halten können und dennoch stellen sie 
noch immer ein Etwas dar, das mit den Begierden, mit den 
Trieben gleichsinnig, dieselben unterstützend wirkt; vielfältige 
corticale Hemmungen werden durch dieses Etwas aufgehoben. 
Wir entkräften daher den Einwurf, dass, da wir zugestehen 
müssen, dass die das antimoralische Gefühl constituirenden 
Associationen einer reiferen Kritik nicht Stand halten könnten, 
von uns nun doch auch in den eben besprochenen Fällen eine 
gewisse Intelligenzschwäche angenommen werden müsse, mit 
dem Hinweise darauf, dass nur das kritisirt werden kann, was 
in seinen Einzelheiten ins Bewusstsein tritt, dass aber die von 
uns kurz als „antimoralisches Gefühl” bezeichneten Beweggründe 
unbewusst, in ihren zusammenwirkenden Einzelheiten nicht er¬ 
kennbar, auf das Individuum einwirken, sich daher der Kritik 
entziehen. Es kann der Betreffende sein „antimoralisches Ge¬ 
fühl” ebenso wenig abschätzen und kritisiren, wie der normal 
Entwickelte sein moralisches Gefühl. Der moralisch Defecte, 
dessen Defectuosität sich in der von uns betonten Weise ab. 
leitet, verschwendet beispielsweise trotz der bewussten Einsicht 
in die Folgen, weil zu seinem Bestreben, sich ein Vergnügen 
zu schaffen, ein unbestimmtes Gefühl hinzutritt, welches ihm 
die Sicherheit verschafft, dass ihm aus seiner Handlungsweise 


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kein Schaden erwachsen wird; die unbewusst wirksam werdenden 
Kräfte überwiegen in Folge ihrer hohen Werthigkeit das 
Resultat der bewussten Gedankenarbeit. 

Das Fortdauern der Wirksamkeit gewisser Ideengruppen 
in einer Zeit, wo dieselben mit dem übrigen psychischen Besitze 
nicht mehr vereinbar sind, lässt sich zudem auf eine Er¬ 
scheinung zurückführen, die wir bei Degenerirten häufig zu 
beobachten Gelegenheit haben und die man am besten als ver¬ 
minderte Variabilität des psychischen Inhaltes bezeichnet. Diese 
ist nicht so sehr in erschwerter Apperception begründet, als 
vielmehr im theilweisen Mangel einer anderen Eigenschaft des 
Associationsorganes, die bisher wenig Beachtung gefunden hat, 
nothwendig aber angenommen werden muss, wenn der psychische 
Besitz seinem Inhalte und seiner Bewerthung nach die Er¬ 
fahrung getreu spiegeln soll, nämlich in dem Defecte der 
Fähigkeit, gewisse Theile des psychischen Besitzes entweder 
zu eliminiren oder in ihrer hohen Werthigkeit und Erregbarkeit, 
die sie allmählich erlangt hatten, wieder herabzustimmen. 
Ribot 1 ) ist in seinen Untersuchungen über das Gedächtniss 
zum „Regressionsgesetze”, zum Gesetze, nach welchem die 
Auflösung der „dynamischen Associationen” erfolgen soll, ge¬ 
langt. Er führt sein Gesetz zurück auf ein physiologisches 
Princip: „Die Degeneration ergreift zuerst das jüngst Gebildete”, 
und auf ein psychologisches: „Das Zusammengesetzte ver¬ 
schwindet früher als das Einfache, weil es in der Erfahrung 
nicht so häufig wiederholt ist.” Es hindert uns nichts, dieselben 
Momente auch für die Verminderung der Erregbarkeit und 
Werthigkeit von Associationen geltend zu machen und das 
„Entwerthungsgesetz” dahin zu fassen, dass die Zeit, welche 
zur Tilgung, respective zur Verminderung des Einflusses ge¬ 
wisser Vorstellungen aut unsere Denkweise erforderlich ist, 
eine desto längere ist, je zahlreicher die Associationen sind, 
welche diese Vorstellungen mit dem übrigen psychischen Besitze 
verbinden und je ausgeschliffener die betreffenden Bahnen sind. 
Die Ursache der Entwerthung liegt in der Nichtbenützung der 
Bahnen, wodurch dieselben weniger gangbar werden, abblassen; 
unterstützt wird die Entwerthung durch das Auftauchen 


0 Ribot, Das Gedächtniss. 


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Dr. Josef Berze. 


anderer — ausschliessender oder modificirender — Vorstellungen 
und entsprechender Bewerthung derselben. Im degenerirten Ge¬ 
hirne scheinen sich nun gelegentlich dem Processe, welcher 
dem Abblassen der Bahnen entspricht, und den wir uns als eine 
Art regressive Metamorphose vorstellen, Schwierigkeiten ent¬ 
gegenzustellen, so dass dieselben weit über die Zeit hinaus, in 
welcher sie der Erfahrung entsprechen, wirksam bleiben. Wir 
gewinnen • eine Vorstellung von der hohen Werthigkeit und 
hohen Erregbarkeit, die beim Degenerirten gewisse mit der Er¬ 
fahrung des Individuums, ja gewissermassen mit der Erfahrung 
der Art contrastirende Associationsgruppen erreichen und be¬ 
wahren können, wenn wir uns das Erankheitsbild mancher 
Perverser auf sexuellem Gebiete vor Augen halten. Letztere 
bieten übrigens noch mancherlei andere Berührungspunkte mit 
der in Betracht kommenden Form moralisch Defecter, darunter 
auch den, dass sie diejenigen Associationen, welche die Perversion 
ihres Geschlechtstriebes bewirkt haben, nicht analysiren und 
daher nicht kritisiren können, daher ebenso unter deren Bann 
stehen, wie unsere Defecten unter dem Banne der der Moral 
entgegenwirkenden Beweggründe. 

In der Natur der Sache ist es gelegen, dass es auch dem 
Beobachter derartiger Fälle schwer gelingen kann, in die Zu¬ 
sammensetzung des „antimoralischen Gefühles” im concreten 
Falle Einblick zu erlangen. Nichtsdestoweniger gelingt es, in 
manchen Fällen die Hauptzüge zu erkunden. Zwei moralisch 
Defecte unserer Beobachtung sollen zu Beispielen dienen. 

G. R., kath., ledig, Buchbindergehilfe, 25 Jahre alt. Patient 
ist der Sohn eines in früheren Decennien oft genannten Finanz¬ 
mannes, der sich durch seinen leichten Lebenswandel bemerk¬ 
bar machte, aber ein genial veranlagter Mann war. Die Mutter 
des Patienten war die Maitresse dieses Mannes, seit jeher leicht¬ 
sinnig, verschwenderisch; erst nach der Geburt des Patienten und 
seiner vier Geschwister heiratete sie ihren gegenwärtigen 
Gatten. Die vier rechten Geschwister des Patienten sind sämmtlich 
in hohem Masse von sich eingenommen, verschwenderisch, 
zeigen „Selbstüberschätzung bis zum Grössenwahn”. Eine 
Schwester soll hysterisch sein. Eine Cousine der Mutter des 
Patienten war geisteskrank, ebenso deren beide Söhne. Patient soll 
in seiner Jugend an häufigen Kopfschmerzen gelitten haben, 


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Krämpfe aber nie gezeigt haben, nie ernstlich krank gewesen 
sein, nie eine Verletzung erlitten haben. Die Angaben über 
seine geistige Entwickelung lauten verschieden. Eine Verwtndte 
berichtet, er sei als Knabe intelligent gewesen, habe gut 
gelernt, sei lenkbar und nachgiebig gewesen. Frühzeitig sei 
aber an ihm Jähzorn aufgefallen, so dass er oft gegen seine 
Umgebung Drohungen ausgestossen habe. Gelegentlich behauptet 
die Mutter, der Patient sei seit seinem 12. Lebensjahre geistig 
nicht mehr vorgeschritten. Später habe er sich prahlerisch, 
feige, unbeständig in der Beschäftigung gezeigt. Als er, sein 
väterliches Erbtheil zu beheben, das gesetzlich vorgeschriebene 
Alter erreicht hatte, vergeudete er dasselbe durch zwecklose 
Reisen und Einkäufe. Auch zahlte er mehreren Prostituirten 60 fl. 
für ihre Leistungen. Die Denunciation einer Dirne führte zur 
ersten Untersuchung seines Geisteszustandes und seiner Unter¬ 
bringung in der Irrenanstalt. 

Patient zeigte sich bei seiner Aufnahme klar und geordnet, 
gab ausführlich und mit guter Erinnerung Auskunft über die 
Ereignisse seiner „Wanderjahre” und über die Art, wie er sein 
Geld angebracht — binnen fünf Monaten 4000 fl. — brachte 
als Entschuldigung vor, dass er eine grosse Summe auf Kleider, 
Wäsche, Reisebücher, Feldstecher, Operngucker etc. verwendet 
habe. Er erklärte einzusehen, dass er etwas locker gelebt habe, 
bereue es, werde sich bessern. 

Während der ganzen Zeit seines Lebens unter psychiatri¬ 
scher Beobachtung, zeigte Patient andauernd dasselbe Verhalten. 
Er hatte wenig Lust zur Arbeit, hatte immer Ausreden, welchen 
zumeist ein der Selbstüberschätzung entspringendes Moment zu 
Grunde lag, z. B. der Aufsichtswärter in der Werkstätte lege 
ihm gegenüber „schlechtes Benehmen” an den Tag, er sei schon 
zu alt zu so kindischen Beschäftigungen, er passe nicht in die 
Gesellschaft von solchen „Trotteln”, mit denen er gemeinschaft¬ 
lich arbeiten solle. Er fügte sich nie in die Hausordnung, 
kritisirte dieselbe derb, bezeichnete mancherlei Vorgänge als 
„grobe Schlamperei”. Zum intimeren Verkehr wählte er sich 
stets moralisch defecte Individuen verschiedenster Art. Er 
zeigte sich unbeständig, fasste Pläne, machte Projecte, denen 
er sich mit Eifer hingab, um nach kurzer Zeit wieder gelang¬ 
weilt davon abzulassen. Mit trotziger Rede lehnte er jede 


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Dr. Josef Berze. 


Kritik seines eigenen Gebarens ab, drohte wiederholt mit An¬ 
zeigen an Behörden, mit Entweichung, wenn man ihn durch 
Bevormundung belästigen wolle. Er geberdete sich eigensinnig, 
obstinat. Als er Aussicht hatte, von einem Verwandten gegen 
Revers in häusliche Pflege übernommen zu werden, wies er 
diese Methode der Entlassung zurück, verlangte „Gesundheits¬ 
erklärung” und Aufhebung der Curatel; im entgegengesetzten 
Falle, behauptete er, die Anstalt nicht verlassen zu wollen. Er 
habe schon viel durchgesetzt und werde wohl auch das noch 
durchsetzen. 

Patient besitzt eine ganz entsprechende Durchschnittsbildung, 
versteht seine Worte ziemlich gut zu setzen, antwortet z. B. 
auf die Frage, wie er es mit der Religion halte: „Ich habe nur 
wenig Religionsunterricht genossen; trotzdem glaube ich an die 
Existenz eines göttlichen Wesens, welches Himmel und Erde 
erschaffen hat. Kirchen habe ich nur in Deutschland besucht, 
aber nur zu dem Zwecke, um die Kirchen zu sehen und dort 
Musik zu hören.” 

Wenn Patient übellaunig ist, flunkert er gewöhnlich von 
„FamilienVerhältnissen”, über die er sich nicht näher aus¬ 
sprechen dürfe. Mit Andeutungen ist er aber nicht zurückhaltend, 
sondern belästigt oft die Kranken dadurch, dass er immer 
wieder auf dasselbe Thema zurückkommt; dabei thut er geheim¬ 
nisvoll. Nichtsdestoweniger ist zu erkennen, dass Patient sich mit 
der Idee trägt, den Namen seines wahren Vaters,-jenes in der 
Anamnese erwähnten Finanzmannes, anzunehmen, dass er sich 
damit gleichzeitig einen grossartigen pecuniären Gewinn zu 
erwerben hofft, womit natürlich grosser Einfluss und wichtige 
Bedeutung in socialer Beziehung verbunden wäre. Nach solchen 
Gedanken, in die er sich noch viel häufiger zu vertiefen scheint, 
als er sie äussert, steigert sich die Ueberhebung des G. R. 
wesentlich. 

Patient batte hauptsächlich zu Beginn seines Anstaltsaufent¬ 
haltes über schmerzhafte Empfindungen zu klagen, besonders 
über Kopfschmerz, welcher die Gegend vom Scheitel bis ins 
Genick einnehme, über Kreuzschmerzen und Herzklopfen. 
Häufig kehrte auch die Klage über einen drückenden Schmerz 
in der Magengrube wieder, welcher sich stets gegen Morgen 
einstelle und dann einem drückenden, schmerzähnlic-hen Gefühle 


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im Halse weiche. Ab und zu spürte er auch einen Druck im 
Magen, wie wenn „was hartes drinnen wäre”, ein ähnliches 
Gefühl in der Gegend des manubrium sterni. Patient gesteht ohne 
Hehl und ohne schamhafte Regung zu, dass er der Masturbation 
ziemlich stark ergeben sei;seine dadurch verschärfte Neurasthenie 
dürfte die beschriebenen Beschwerden erklären. Zeitweise zeigt 
Patient anscheinend unwillkürliche Zuckungen verschiedener 
Muskelgrnppen, besonders des Gesichtes, welche manchmal zu förm¬ 
lichem Grimassiren führen, ausserdem nicht besonders auffälliges, 
im Affecte sich aber steigerndes Stottern. Von seinem Schlafe 
sagt Patient er sei oft nicht erquickend, durch schwere Träume 
gestört, bessere sich aber zu Zeiten. 

Patient ist mittelgross, ziemlich kräftig, aber anämisch. Sein 
Schädel ist rundoval, ohne pathologische Merkmale, misst 
55 Centimeter im Umfange. Die Pupillen sind weiter und 
reagiren etwas träger. Rechts besteht eine auffällige Facialis- 
parese. Patellarreflexe normal. Die vegetativen Organe, die 
Motilität und Sensibilität weisen weiter nichts Abnormes auf. 

Wir haben die Ueberzeugung gewonnen, dass in diesem 
Falle das Gefühl des Rückhaltes, welches für den Patienten 
aus der hochwerthigen und leicht erregbaren Associationsgruppe 
des reichen Vaters resultirte, die bedeutsamste Grundlage für 
sein unmoralisches Gebaren bildet. Dass wir bei ihm die dieses 
Gefühl constituirenden Ideen verhältnissmässig leicht aufünden, 
das Gefühl leicht zergliedern, vielleicht sogar im vollen Umfange 
erfassen können, hat seinen Grund in der relativ geringen 
geistigen Veranlagung des Patienten. Je höher die geistige 
Potenz des Individuums, desto schwieriger wird es sein, in die 
complicirte Constitution seiner Gefühle Einblick zu erhalten, 
desto räthselhafter wird uns daher unter Umständen sein 
defectes Gebaren in moralischer Beziehung erscheinen. Die 
höhere Intelligenz bildet somit kein Hinderniss für das Auf¬ 
treten moralischer Mängel; mit der höheren Intelligenz gestaltet 
sich nur die Zusammensetzung der Gefühle, so auch des ge¬ 
legentlich auf der besprochenen pathologischen Grundlage ent¬ 
standenen „antimoralischen” Gefühles complicirter. Doch ist auch 
dies kein nothwendiges Postulat; denn im Wesen der unbewusst 
wirkenden Factoren liegt es, dass sie auch ohne inneren Werth 
ihre Wirksamkeit entsprechend ihrer Werthigkeit bewahren. 


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94 


Dr. Josef ßerze. 


Die Natur dieser Factoren ist auch von Belang, was die Färbung 
des Krankheitsbildes anbetrifft. Wo wie in dem eben besprochenen 
Falle das Gefühl des Rückhaltes ausschlaggebend ist, tritt das 
Moment der Verbitterung, des Misstrauens nicht so hervor wie 
in solchen Fällen, wo das Gefühl der Beeinträchtigung primär 
erzeugt wird. Zur Beleuchtung dieser Verhältnisse soll folgender 
Fall dienen. 

E. A., Wirthschaftsadjunct, 27 Jahre alt, wurde am 3. Mai 
1893 in die Landesirrenanstalt in Wien aufgenommen. Das Parere 
besagte unter anderem: „K. A. erkrankte vor zwei Jahren 
an Bluthusten und bildete sich ein, er werde nicht mehr gesund 
und wolle so nicht weiter leben. Seit drei Monaten machte er 
fortwährend Selbstmordversuche. Er schnitt sich mit einem 
Rasirmesser, wollte sich erhängen, erdrosseln, eine Schere 
schlucken, wollte zum Fenster hinunterspringen, wollte sich 
vors Gericht führen lassen wegen Kindesmord, Defraudation, 
Documentenfälschung, wurde gegen seine Umgebung aggressiv 
und in Folge dessen am 16. Februar 1893 in das Krankenhaus 
in J. gebracht zur Beobachtung seines Geisteszustandes. Im 
Spitale selbst hat Patient einen Selbstmordversuch mittelst 
Knebelung unternommen, verlangt wegen seiner Drohungen 
gegen seine Umgebung vor das Strafgericht geführt zu werden, 
ist geistig sehr deprimirt.” Die Aerzte des Krankenhauses 
stellten die Diagnose: Blödsinn mit Aufregungszuständen. 

In der Landesirrenanstalt in Wien angelangt, zeigte sich 
Patient ruhig, geordnet, vollkommen orientirt. Unmittelbar nach 
seiner Ankunft äussert er den Wunsch, in eine andere Anstalt 
transferirt zu werden. Ueber sein Vorleben befragt, äussert sich 
Patient dahin, dass er in seiner Jugend vielerlei Krankheiten 
durchgemacht habe, dass er später magenleidend geworden sei, 
dass sich das Magenleiden im Jahre 1885 verschärft habe, so 
dass er an Fieber, Appetitlosigkeit, Diarrhöen gelitten und 
phantasirt habe, dass er im Jahre 1889 seine jetzige Lungen- 
affection acquirirt habe, oft und oft Blut in grösseren oder 
kleineren Quantitäten ausgehustet habe, dass er also nie gesund 
gewesen sei. Zudem habe er seit seinem 12. oder 13. Lebens¬ 
jahre heftig onanirt, in den letzten zwei Jahren aber weniger 
als früher. — Er habe vier Gymnasialclassen absolvirt, sei 
ein talentirter, aber etwas nachlässiger Schüler gewesen. Im 


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IJeber moralische Defectzustände. 


95 


16. Lebensjahre habe er einen Posten als Wirthschaftspraktikant 
angetreten, denselben zwei Jahre versehen, hierauf die Buch¬ 
binderei erlernt. In Prag habe er dann Arbeit gesucht, aber 
keine gefunden, dieses Gewerbe daher aufgegeben. Seinen 
Posten als Kanzlist eines Advocaten, den er darauf erhalten 
habe, habe er wegen Verschärfung seines Magenleidens auf¬ 
geben müssen. Seither sei er ohne Beschäftigung. — Im No¬ 
vember 1892 sei er wegen seines Lungenleidens zu Hause in 
ärztlicher Behandlung gestanden, sei damals sehr herunter¬ 
gekommen, habe in Folge dessen grosse Unlust zu jeder Arbeit 
verspürt, sich einer fortwährenden traurigen Verstimmung nicht 
erwehren können. Er habe über seine Lage und sein Vorleben 
gegrübelt, beide in ursächlichen Zusammenhang gebracht und 
sich so die Ansicht gebildet, dass seine Erkrankung eine Strafe 
für gewisse Delicte sein könnte, die er thatsächlich begangen 
habe. Er habe nämlich unter anderem als Wirthschaftsbeamter 
auf dem Gute Bl. sich 120 fl. fremdes Geld auf die Weise ange¬ 
eignet, dass er bei der Auszahlung der Gelder, die er zu be¬ 
sorgen hatte, immer einiges für sich widerrechtlich zurückhielt. 
Er habe daher damals Geld haben wollen, um den Betrag zu¬ 
rückzahlen zu können. Seine Eltern hätten ihm aber nicht ge¬ 
glaubt; darum habe er damit gedroht, sich dem Gerichte zu 
stellen. Er habe sich weiters vorgeworfen, beim Advocaten sich 
allerhand Dinge angeeignet zu haben, viel Papier verschwendet 
zu haben etc. Auch seine Onanie habe ihm viel unangenehme 
Gedanken gemacht. Als der Fall des Abgeordneten N.... in 
den Zeitungen stand, der sich ein Sittlichkeitsdelict hatte zu 
Schulden kommen lassen, sei er den Gedanken nicht los ge¬ 
worden, dass auch er sich eines ähnlichen Delictes schuldig 
gemacht haben könnte; er habe sich nämlich erinnert, dass er 
einmal in Prag vor einem nackten Kinde onanirt hatte. Dieses 
- Kind sei kurz darauf erkrankt; er habe sich nun die Vorstellung 
gemacht, dass die Krankheit des Kindes und der eventuelle 
Tod desselben mit seinem Laster in Zusammenhang stehen 
könnte. Auch aus diesem Grunde habe er sich der Polizei stellen 
wollen; da aber die Angehörigen darauf nicht eingehen wollten, 
sei er noch erregter geworden, habe sich schliesslich des 
Gedankens, er könnte auch zum Verwandten- und gar Mutter- 
mörder werden, nicht erwehren können und aus diesem Grunde 


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96 


Dr. Josef Berze. 


Selbstmordversuche unternommen. Im Spitale zu I ... . habe er 
sich den Aerzten ganz eröffnen wollen, sei aber nie in die 
Lage gekommen, einen Arzt unter vier Augen zu sprechen, was 
doch zur Besprechung so delicater Angelegenheit unbedingt 
nothwendig sei. Sein fingirter Selbstmordversuch im Spitale zu 
I . ... habe nur den Zweck gehabt, eine Unterredung in der 
gewünschten Form herbeizuführen. 

Patient zeigt das Verhalten eines moralisch defecten Indivi¬ 
duums. In Folge seines herabgekommenen Körperzustandes liegt er 
zu Bette. Er verlangt besonders rücksichtsvolle, aufmerksame Be¬ 
handlung, kriegt nie genug Medicamente, kritisirt dieselben, 
äussert sich, die Aerzte verstünden nichts, seien ja nur in 
Psychiatrie unterrichtet, einseitige Specialisten. Gewünschte 
Kostveränderungen will er sich durch Schimpfen, Drohungen etc. 
verschaffen. Die übrigen Patienten betrachtet er als verachtungs¬ 
würdiges Gesindel; nur wenn durch das zur Schau getragene 
Mitleid mit einem Kranken ein Reflex auf seine eigene unver¬ 
diente unglückliche Lage fallen soll, bedauert er das „arme, 
unglückliche, hier erst recht von den Wärtern misshandelte 
Geschöpf’. Briefe an die Mutter, die Tante, die Schwester 
strotzen von gröblichsten Invectiven gegen diese Personen. 
Allen wirft er vor, dass sie ihn von Kindheit an vernachlässigt, 
geschädigt, lieblos behandelt hätten; nur dadurch sei er krank 
geworden. Der Mutter wirft er ausserdem vor, der „Stadt- 
viehsikus” in I.... sei ihr Geliebter, sie also dessen Maitresse. 
Unter anderem schreibt er auch; „Ein Traum gab mir heute 
Trost; denn ich sah den jüngeren Kr. elend mit Krankheit 
behaftet; so wird Gott mich rächen!” Alle Unterhandlungen 
bricht er schliesslich ab: „Ich will von der Sippschaft nichts 
wissen.” 

Zur selben Zeit äusserte K. A. „Selbstanklagen, Beein- 
trächtigungs- und Verfolgungswahn, Suicidgedanken und stand 
unter dem Einflüsse von Zwangsvorstellungen”. So die Kranken¬ 
geschichte. Die Diagnose lautete: Verrücktheit mit Neurasthenie. 
Vom 19. Juli bis 26. December 1893 in Kierling untergebracht, 
zeigte er dasselbe Verhalten. Er machte sich durch fortwährende 
Unzufriedenheit unangenehm, hatte jeden Tag neue Wünsche. 
Im Gespräche sowohl wie iD Briefen an seine Angehörigen 
kommt gehobenes Selbstbewusstsein zum Ausdrucke. Seinen Auf- 


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Ueber moralische Defectzustände. 


97 


enthalt in der Anstalt führt er auf feindselige, gewinnsüchtige 
Tendenz seiner Angehörigen zurück. Gern lässt er sich über 
seine „Criminalideen” aus; nebst den bereits erwähnten „Zwangs¬ 
vorstellungen” erwähnt er unter anderen folgende: „Als ich die 
Panama-Affaire in den Zeitungen las, stieg mir der Gedanke 
auf, ich bin auch ein Verbrecher, habe gestohlen, veruntreut.” 
Auch bringt er bei jeder Gelegenheit, die ihm wider den Strich 
geht, Selbstmordabsicht zum Ausdrucke, droht z. B., als ihn die 
um ihn besorgte Mutter „gegen Revers” aus der Anstalt nehmen 
will, er werde sich, wenn man ihn nicht in Ruhe lasse, durch 
Pressen und Husten eine Hämoptoe zuzuziehen bestrebt sein 
u. dgl. Da er sich aber schliesslich beruhigt, wird er am 
26. December 1893 in die Wiener Gemeindeversorgung trans- 
ferirt. Dort weiss er sich durch wiederholt geäusserte „Selbst¬ 
anklagen crimineller Natur und durch die Erklärung, er werde, 
wenn er nicht dem Landesgerichte übergeben werde, einen 
Selbstmordversuch begehen oder etwas Aergeres thun”, die 
Qualificirung als „geistesgestört und gemeingefährlich” alsbald 
zu verschaffen und seine Rücktransferirung in die Wiener 
Landesirrenanstalt binnen 8 Tagen zu erzwingen, wo ihm die 
Verpflegung besser gefällt, wo man seinen Launen mehr Vor¬ 
schub leistet. Am 23. Mai 1894 liess er sich zum Sommerauf¬ 
enthalt abermals nach Kierling übersetzen. Auf seiner Rund¬ 
reise hatte er sich die weiteren Diagnosen: Chronischer Wahn¬ 
sinn, Paranoia, Melancholie, neurasthenisches Irresein zu¬ 
gezogen. 

In unserer Anstalt verweilt er nun wieder seit 23. Mai 1895 
bis auf weiteres. Patient hat sich etwas gemässigt. Alle Er¬ 
scheinungen haben sich gemildert. Er beschäftigt sich gewöhnlich 
mit Lectüre, liest: Kritik der reinen Vernunft von Kant und 
andere Kant'sehe Werke, Feuchtersieben, Schopenhauer u. dgl., 
freilich mit wenig Verständniss. Er ist zumeist unzufrieden, 
verdrossen, dabei aber zugänglich. Seinen Lebensüberdruss be¬ 
tont er noch immer bei jeder Gelegenheit. Als aber im Winter 
1894/1895 sich sein körperlicher Zustand bedrohlich ver¬ 
schlimmerte, beobachtete er jedes Symptom genau und nahm 
die ärztliche Hilfeleistung in sehr hohem Masse in Anspruch. 
Nachdem die Gefahr wieder behoben war, zeigte er sich ruhig, 
zufrieden, geordnet. 

Jahrbücher f. Psychiatrie and Neurologie. XV. ßd. 7 


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Dr. Josef Berze. 


Wichtig in unserem Falle ist die Beschreibung des Skeletes. 
Der Schädel ist stark dolichocephal. Die Tubera frontalia treten 
scharf hervor. Deutliche Hinterhauptstufe. Der Thorax flach, 
mässig breit, ziemlich lang. Die Lendenwirbelsäule lordotisch. 
Beide untere Extremitäten deformirt, abgemagert und in ab¬ 
normer Stellung; die beiden Femora im Hüftgelenke gebeugt, 
adducirt und nach innen rotirt; die beiden Unterschenkel mit 
den Oberschenkeln in der Stellung des Genu valgum. Die Patella 
beiderseits nach aussen luxirt und ebenso wie das Ligamentum 
patell. und der Rectus femoris verkümmert. Der Oberkörper ist 
nach vorne gebeugt; die Knie werden gebeugt gehalten. Der 
Gang ist watschelnd, aus kleinen Schritten sich zusammensetzend 
(congenitale Rhachitis). 

Auf Umwegen erfuhren wir folgende anamnestisch wichtige 
Daten: Der Vater entstammt einer Familie, in der Tuberculose 
erblich ist. Er war ein Lebemann, trank, und starb mit 44 Jahren 
an Tuberculose. Er unterhielt zu gleicher Zeit mit der Gross¬ 
mutter und der Mutter des Patienten ein Verhältniss. Als die Mutter 
des Patienten im vierten Monate schwanger war, heiratete er sie, 
brachte die Mitgift, ein ziemlich grosses Vermögen, in kurzer 
Zeit an und starb, als Patient 15 Jahre alt war. Die Mutter ist 
„nervös”, entstammt angeblich gesunden Eltern. Als Patient zur 
Welt kam (er brachte die verkrüppelten Beine mit), soll sich 
der Vater geäussert haben: „Wenn mir meine Frau noch 
ein solches Kind gebiert, lasse ich mich scheiden!” Patient wurde 
thatsächlich von seiner Geburt an von seinem Vater zurück¬ 
gesetzt; die Mutter hat ihn dagegen liebevoll behandelt. Er 
war früh reif, hatte viel Talent, jedoch keine Ausdauer. Nach 
dem Tode seines Vaters wurde er von den Verwandten des 
Vaters gegenüber der Mutter unterstützt, welche ihren Einfluss 
in der Richtung geltend machen wollte, den Jüngling auf die 
rechte Bahn zu lenken. Der Graf von Bl., auf dessen Gute er 
als Wirthschaftsbeamter beschäftigt war, hat ihm viele Ver¬ 
gehen nachgesehen und ihn geradezu verzärtelt, bis Patient die 
Sache zu weit trieb. 

Am liebsten möchten wir diesen Degenerirten unter die 
Instablen Magnan’s 1 ) rechnen, und zwar zu den Formen, von 


') Magnan, Psychiatrische Vorlesungen (deutsch von P. J. Möbius). 


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Ueber moralische Defeetznstände. 


99 


denen er sagt: „Tritt der Mangel an Gleichgewicht besonders 
in moralischer Beziehung hervor, zeigen sich verkehrte Triebe, 
so spricht man von moralischem Irresein.” Neben diesem 
moralischen Defecte erscheinen bei unserem Patienten freilich auch 
auf dem neurasthenischen Boden entwickelte Symptome, die 
episodisch in den Vordergrund treten; die Art, wie er dieselben 
zum Ausdrucke bringt, weicht aber wiederum in einer durch den 
moralischen Defect begründeten Richtung von der gewöhnlichen 
Art ab. Patient spielt mit seinen Zwangsvorstellungen in über¬ 
treibender Weise, .erfindet, da er sieht, dass man diesem Sym¬ 
ptome Beachtung schenkt, immer neue „Zwangsgedanken”, wie 
er sie selbst bezeichnet. Zeitweise mag unser Patient an Zwangs¬ 
vorstellungen auch jetzt noch leiden, zumeist aber erkennen wir 
in seinen Aeusserungen Lügen; diese braucht er, um eine 
Geistesstörung zu simuliren, die ihm den Aufenthalt in einer 
Irrenanstalt ermöglicht. Er ist im Laufe der Zeit zum Irren¬ 
hauspflegling von Profession geworden, drückt sich gelegentlich 
dahin aus, dass er sich bewusst sei, sein krüppelhafter Körper, 
seine vorgeschrittene Phthise, seine mangelhaften Vorkenntnisse, 
sein bemakeltes Vorleben seien fast unüberwindliche Hindernisse 
für ihn, sich sein Brot zu erwerben; da man aber in den Ver¬ 
sorgungshäusern schlecht verpflegt werde, sei es für ihn das 
Beste, als geisteskrank zu gelten, wodurch er sich die „leid¬ 
liche” Verpflegung in einer Irrenanstalt sichere. In diesem Be¬ 
streben werde er wesentlich durch die über ihn verhängte 
Curatel unterstützt und sehe so einer sorgenlosen, wenn auch 
traurigen Zukunft entgegen. Auch die Suicidversuche und 
Aeusserungen von Suicidabsicht waren simulirt; er machte 
darüber dem Arzte unter vier Augen zu einer Zeit, wo er sich 
in Folge hoher Fiebertemperaturen sehr elend fühlte, glaub¬ 
würdige Mittheilung, schrieb darüber auch in einem Briefe: 
„Meine Rabenmutter wollte davon nichts wissen (von der Zu¬ 
sendung einer Summe Geldes, welches er zum Ersätze defrau- 
dirter Summen verwenden zu wollen vorgab); da griff ich zu 
allen erdenklichen Selbstmordmitteln; nach deren Vereitlung 
wollte ich mich dem Gerichte stellen. Als ich auch an letzterem 
verhindert wurde, erfand ich zufleiss die Geschichte vom Kindes¬ 
mord, um ins Irrenhaus zu kommen.” So treten die vom Patienten 
selbst vorgeschobenen Symptome, die auf seine neurasthenische 

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Dr. Josef Berze. 


Constitution zurückzuführen sind, gegenüber seinem moralischen 
Defecte zurück. Diesen führen wir wieder auf ein „antimoralisches” 
Gefühl zurück; dieses ist in unserem Falle von zweierlei Ideen 
constituirt. Zunächst finden wir hochwerthige Ideen, die in 
K. A. das Gefühl der Beeinträchtigung erzeugen mussten: Lieb- 
lose Behandlung wegen seines krüppelhaften Körperbaues, Zu¬ 
rücksetzung und Vernachlässigung im Elternhause; Verbitterung 
gegen seine Mitmenschen ist ihre directe Folge. Wir finden 
diese Verbitterung fast ausnahmslos bei Krüppeln, die bekannter¬ 
weise auch auffallend oft — bei intacter Intelligenz — mora¬ 
lische Defecte aufweisen. Andererseits kommen wieder Momente 
in Betracht, die dem Kranken einen gewissen Rückhalt ver¬ 
schafften: Die Unterstützung seitens der Mutter gegenüber dem 
lieblosen Vater, die Nachsicht des Grafen, bei dem er bedienstet 
war, weiterhin die ihm eingewurzelte Hoffnung, mit Losen 
einen Haupttreffer zu machen, von der Patient selbst berichtet, 
dass sie ihn zu mancher freieren Bewegung ermuntert habe. 
Von derartigen Ideen unbewusst geleitet, musste er auf un¬ 
moralische Handlungen verfallen. Er meint gelegentlich, dass 
die seinem unmoralischen Gebaren zu Grunde liegende Ueber- 
legung am besten durch das Sprichwort: „Gleiches mit gleichem” 
ausgedrückt werde. Dass in diesem Falle der Charakter des 
moralischen Defectes ein mehr aggressiver, boshafter,, die Mit¬ 
welt beleidigender, schädigender ist, erklärt sich aus der zu¬ 
gleich mit dem Rückhalte erzeugten Verbitterung. Dass seine 
Stimmung eine vorwiegend traurige ist, erklärt sich aus dem 
Bewusstsein der Krüppelhaftigkeit und Unbehilflichkeit. 

Wir finden also in einigen Fällen den moralischen Defect 
in übermächtigen Elementen des Gefühlslebens begründet. Da wir 
nun das unterscheidende Moment zwischen Geistes- und Gefühls¬ 
leben nur in der verschiedenen Höhe des Bewusstseins, bei welchem 
die associative Thätigkeit abläuft, erblicken, die Gesetze hin¬ 
gegen, nach welchen beide Arten psychischer Bethätigung 
geschehen, für vollkommen gleich halten, steht uns nichts im 
Wege, die Kenntniss von Erscheinungen, die für das bewusste 
Denken Geltung haben, auf das unbewusste Gemüthsleben zu 
übertragen. Unser Erklärungsversuch gewinnt aber wesentlich 
an Annehmbarkeit, wenn wir uns vorstellen, dass in der unbe¬ 
wusst ablaufenden Gehirnarbeit eine Idee oder eine Ideengruppe 


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Ueber moralische Defectzustände. 


101 


einen ähnlichen Einfluss äussern kann, wie sie ihn im bewussten 
Denken als „dominirende” oder — nach Wernicke — als 
„prävalirende” Idee ausübt. Wir möchten auch in den be¬ 
schriebenen Fällen von moralischem Defecte in Folge präva- 
lirender Ideen sprechen. 

Rein dürften derartige Fälle vielleicht nie erscheinen. Fast 
alle werden daneben noch andere Symptome einer ererbten 
oder erworbenen Degeneration zeigen; und unter diesen wird 
wieder das eine oder das andere den moralischen Defect mit 
erklären helfen. Aber gerade in solcher Combination kommt so 
begründeter moralischer Defect oft vor. Unter dem grossen 
Sammelnamen „chronischer Alkoholismus” finden sich in den 
Irrenanstalten moralisch-defecte Individuen der verschiedensten 
Genese, in der freilich der Alkoholabusus eine constante Rolle 
mitspielt; unter diesen fallen auch Kranke auf, die ihre anti- 
sociale Seite zuerst nur in pathologischen Rauschzuständen ge¬ 
zeigt hatten. Von der Zeit an, wo sie aber „unzurechnungs¬ 
fähig” wurden, ein Ereigniss, dessen Tragweite sie ganz gut 
zu beurtheilen wissen, sind sie gleichsam chronisch krank 
geworden. Sie haben einen förmlichen Freibrief für ihr zu¬ 
künftiges Leben erworben. Als ultima ratio bleibt ihnen in 
allen schwierigen Lebenslagen, bei mangelnden Subsistenzmitteln, 
bei Befürchtung einer Strafe der Hinweis auf ihren „gericht¬ 
lich erhobenen Blödsinn oder Wahnsinn”. Die sonst geläufigsten 
corticalen Hemmungsacte werden so bei derartigen Depravirten 
vollkommen unwirksam gemacht. Die minder Intelligenten ver- 
rathen ihre Speculation, die Intelligenteren halten damit hinterm 
Berge; alle werden aber auch in Gelegenheiten, bei denen sie 
sich diese Leitkraft nicht einmal vergegenwärtigen, von ihr 
gelenkt. Und wie gross ist oft der Einfluss der Berechtigung, 
als Kranker zu gelten, auf das unmoralische Gebaren jugend¬ 
licher moralisch Defecter! Unter diesem Schirm begehen sie 
erst die gewagtesten Gaunereien. 

Bisher haben wir von Formen gesprochen, die sich auf 
mangelhafte Bildung der moralischen Associationssysteme zurück¬ 
führen lassen. Wir fanden diese bei der Idiotie schon in der 
mangelhaften Apperception, bei der Imbecillität in einer mangel¬ 
haften Fixation begründet. Bei frühreifen Degenerirten erkannten 
wir in der Frühreife an und für sich eine genügende Basis. 


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102 


Dr. Josef Berze. 


Weiterhin erblickten wir in der zur Bildung prävalirender 
Elemente, die im Stande sind, der Moral entgegen zu wirken, 
die Grundlage für manche Fälle. Ausserdem kommen aber 
gewisse Veränderungen im Gedankenablaufe in Betracht, die 
trotz vollkommen correcter moralischer Grundlage zu Defecten 
auf diesem Gebiete führen. 

Zuvörderst betrachten wir die manische Verstimmung. Ihre 
Grundlage ist „ein abnorm erleichterter und beschleunigter Ab¬ 
lauf der psychischen Acte” (Krafft-Ebing) 1 ) neben „einer 
Aenderung der Selbstempfindung im Sinne einer vorwiegend 
heiteren Stimmungslage”. Von diesem letzteren Momente wollen 
wir hier absehen; denn wenn auch die heitere Stimmungslage 
expansive Bethätigung an sich zu fördern vermag, so fällt gerade 
in Beziehung auf das moralische Verhalten des Manischen das 
zuerst angeführte Moment des beschleunigten Ablaufes der 
psychischen Acte ins Gewicht. Dieser entspricht nur scheinbar 
einer erhöhten Leistung des Associationsorganes-, denn die 
Massenproduction geht gleichsam mit einer Entwerthung der 
einzelnen Theile Hand in Hand. Die einander rasch ablösenden 
Vorstellungen geben dem Denken und Handeln des Manischen 
das Moment des Unfreien. Dieses Moment muss besonders bei 
denjenigen Entschlüssen auffallen, bei denen die hohe Werthig- 
keit der Vorstellungen von Belang ist, also vor allem bei 
moralischen Entschlüssen. Das unmoralische Gebaren des 
Manischen ist daher dadurch charakterisirt, dass es einer 
mangelhaften Einwirkung jener Systeme entspricht, welche ihre 
Wirkung als Hemmungsvorstellungen zu äussern haben. Der 
moralische Defect des Manischen bewegt sich im Gebiete der 
negativen moralischen Leistung, wie sie von uns oben unter¬ 
schieden worden ist. Die positive moralische Leistung ist fall¬ 
weise sogar gehoben. „Seid umschlungen, Millionen! Diesen 
Kuss der ganzen Welt!” ist ungefähr der Ausdruck der Ge¬ 
sinnung dieser Manischen gegenüber der Aussenwelt. Dies 
schliesst aber nicht aus, dass, abhängig von einer entsprechenden 
Ausbildung des Charakters, auch Störungen der positiven mora¬ 
lischen Leistung hervortreten im Sinne von Boshaftigkeit u. dgl. 
Besonders auffällig sind die moralischen Defecte bei der perio- 


j ) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 


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Ueber moralische Defectzustäade. 


103 


dischen Manie, welche — nach Krafft-Ebing — „in meist 
ausgeprägtem raisonnirenden, vielfach auch Moral insanity- 
Gewand und mit vorherrschendem Delirium actionis erscheint, 
das dann häufig einen impulsiven und vorwiegend unsittlichen 
Charakter hat”. Weiterhin kennen wir episodische maniakalische 
Zustände im Leben der Degenerirten, die dadurch, dass sie 
nicht rein sind, dass die maniakalische Verstimmung eine 
mindergradige ist, dass ihr Eintritt eine gewisse Abhängigkeit 
von Gemtithsaffecten erkennen lässt und sie daher wie eine 
abnorm gesteigerte Reaction erscheinen, schliesslich durch einen 
begleitenden Schwachsinn den Anschein einer sich auf Schwach¬ 
sinn im Wege einer erhöhten Reizbarkeit aufbauenden Moral 
insanity erhalten können. Magnan hat eine Reihe solcher 
Manien kritisch beleuchtet, auf ihr specielles Vorkommen bei 
Epileptischen und Alkoholischen hingewiesen, zugleich auch dar- 
gethan, wie nur der äussere Schein die Folge hat, dass solche 
Zustände mit der typischen Manie zusammengeworfen werden, 
wogegen der geübte Psychiater „hinter der maniakalischen 
Erregung den primären Zustand” psychischer Degeneration 
wahrnimmt. Das häufige Vorkommen solcher Zustände bei 
Individuen, die nebenbei gewisse „epileptische Anzeichen” auf¬ 
weisen, führt uns dahin, an einen intimen Zusammenhang der¬ 
selben mit den epileptoiden Zuständen zu denken und besonders 
den impulsiven Charakter in der später zu entwickelnden Weise 
mit der Epilepsie in Verbindung zu bringen. Nichtsdestoweniger 
setzen wir aber auch bei solchen degenerirten Manischen den 
moralischen Defect zunächst auf Rechnung der durch den 
raschen Associationsablauf begründeten Verminderung des Ein¬ 
flusses gewisser Systeme. Ein wichtiger Factor liegt gerade 
hier ausserdem in dem mehr weniger gesteigerten Triebleben, 
wodurch solche associative Vorgänge, die zu unmoralischen Hand¬ 
lungen führen können, um so eher wachgerufen werden. 

Wenn wir uns auch nicht vollends hierzu berechtigt wissen, 
neigen wir ferner zur Annahme des Bestandes chronischer 
Manien hin, wobei wir wohl an ausserhalb der Irrenanstalten 
beobachtete Charaktere denken. Es handelt sich um Leute 
mit leichter, aber unverkennbarer, fortdauernder, manischer 
Verstimmung, regem Unternehmungsgeiste, grosser Redseligkeit, 
laxer Moral. Auch sie mögen gelegentlich geradezu im Kleide 


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Dr. Josef Bei ze. 


der Moral insanity erscheinen, nicht weniger auch die bleibenden 
Zustandsbilder „chronischer Manie”, welche sich nach Magnan 
unter Umständen aus acuter Manie entwickeln. Zweifellos ist 
schliesslich ja auch in den Fällen secundärer Geistesschwäche 
mit erhaltenen manischen Elementen nach Manie der moralische 
Defect nicht nur auf den Schwachsinn zurückzuführen. 

Von hohem Interesse ist weiterhin die Betrachtung des 
Zusammenhanges des bei Epileptikern erscheinenden moralischen 
Defectes mit anderen psychopathischen Symptomen dieser 
Kranken, zumal wenn wir uns mit Schlagworten wie „reizbarer 
Blödsinn”, „Blödsinn mit Aufregungszuständen” u. dgl. nicht 
zufrieden geben. Ohne wieder in den Fehler der radicalen Ver¬ 
allgemeinerung zu verfallen, wie es bei Reich *) der Fall ist, 
welcher schlechterdings behauptet, dass der von ihm als Epilep- 
sismus bezeichnete Zustand von Gebrechlichkeit den Mutter¬ 
boden abgebe, aus welchem „die besonderen Gebrechen: Epi¬ 
lepsie, Nervosität, Irrsinn und andere Formen der Geistesstörung, 
Neigung zu Ausschweifungen in Trunk und Liebe, Hang zum 
Verbrechen, moralischer Irrsinn u. s. w. den Ursprung nehmen”, 
dürfen wir doch betonen, dass in dem pathologischen epilep¬ 
tischen Charakter Züge zu finden sind, welche dem gelegentlich 
auftretenden moralischen Defecte besonders charakterisirende 
Momente beigeben und denselben in einzelnen Fällen sogar 
begründen, auch ohne unterstützenden Blödsinn. Der moralische 
Defect der Epileptiker ist vor allem durch die Brutalität der 
Unternehmungen ausgezeichnet. Der Zweck heiligt ihnen alle 
Mittel. Körperliche oder geistige Kraft wird vom Epileptiker 
im äussersten Masse aufgebracht, um das einmal gesteckte 
Ziel des Begehrens zu erreichen. Der Gegenstand des Strebens 
erhebt sich so hoch über die Schwelle des Bewusstseins, dass 
gleichsam alle gedankliche Thätigkeit auf den einen Punkt zu¬ 
sammenläuft; dafür ist der wirkliche Werth dieses Zieles ohne 
Bedeutung. So beobachteten wir bei einer Epileptischen, der ein 
Verband angelegt werden musste, das Entstehen des Wunsches, 
sich dieses Verbandes zu entledigen; allmählich erwuchs ihr aus 
dem Wunsche das Bewusstsein der unbedingten NothWendigkeit, 


l ) Dr. E. Reich, Der Epilepsismus. Vide Referat in diesen Jahrbüchern, 
Bd. VE. 


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Ueber moralische Defectzustände. 


105 


so dass sie schliesslich die Wärterin bedrohte und die Aeusserung 
that, sie werde sich zu tödten versuchen, wenn man ihr den 
Verband nicht abnehmen sollte. Der hohe Schwellenwerth des 
begehrten Gegenstandes, nm den es sich in solchen Fällen zu 
handeln scheint, hat gemeinhin rücksichtsloses und unablenkbares 
Streben zur Folge. Die Epileptiker erscheinen aus diesem Grunde 
zugleich eigensinnig oder, wie Krafft-Ebing sagt, „hartköpfig im 
Festhalten eigener Ideen”. In Lagen mit moralischer Beziehung 
kommt aber ausserdem in Betracht, dass die Einwirkung jener 
sich bei geringerer Intensität, daher unbewusst vollziehenden, 
präparatorischen Arbeit, auf die wir die moralische Leistung 
zurückführen, nicht zur Geltung kommen kann, da sie gewisser- 
massen überstimmt wird, gerade so wie uns die Sonne das 
Licht der Sterne verlöscht; es fällt daher die Kraft weg, die 
bei normalem Bewusstsein die Modification der Handlungsweise 
in ethischem Sinne erzeugt. Trotzdem also die psychischen Be¬ 
dingungen für den Erwerb der Pflichtsysteme und deren ent¬ 
sprechender Betonung vorhanden sind, kommen sie nicht zum 
Einflüsse. Eine Vorstellung für die Art der pathologischen 
Grundlage dieser Erscheinung geht uns ab. 

Einer besonderen Betrachtung sind ferner die impulsiven 
Handlungen werth, die bei Epileptikern im Zusammenhänge 
mit Trübungen des Bewusstseins auftreten. In neueren Lehr¬ 
büchern wird das Vorkommen impulsiver Acte gelegentlich 
der Besprechung des „angeborenen Schwachsinnes” kurz abgethan. 
Kraepelin *) schreibt: „Die Eigenthümlichkeit dieser Krank¬ 
heitszustände (impulsives Irresein) besteht in dem zeitweiligen 
Auftauchen mächtiger, den Willen überwältigender Antriebe zu 
bestimmten Handlungen ohne klaren Beweggrund. Der Kranke 
handelt dabei einfach, weil er den unwiderstehlichen Antrieb in 
sich fühlt, zu handeln.” Es ist nicht einzusehen, warum eine 
Krankheit „Schwachsinn” heissen soll, deren Erscheinung durch 
mächtige, überwältigende Triebe, durch die „Forza irresistibile” 
bedingt ist. Wenn wir auf den activen, treibenden Factor 
Gewicht legen, so müssen wir zu der Annahme eines auf einer 
Desorganisation begründeten Defectes der Gehirn thätigkeit 
gelangen, der aber mit Schwachsinn nichts gemein hat als 


9 Kraepelin, Psychiatrie. 


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106 


Dr. Josef Berze. 


vielleicht den gelegentlichen Effect. Wir sehen ja eine ähnliche 
Einwirkung eines überwältigenden Triebes bei manchem Dipso- 
manen, dessen Intelligenz gar nicht anzuzweifeln ist, periodisch 
auftreten, erkennen somit, dass es Erscheinungen gibt, die, ohne 
sich mit Schwachsinn zu decken, den Kranken am Widerstande 
gegen gewisse Impulse verhindern, beziehungsweise diese Im¬ 
pulse zu unüberwindlichen gestalten. Anscheinend ist auch das 
Auftreten impulsiver Acte einerseits durch den hohen Schwellen¬ 
werth der betreffenden Vorstellung bedingt, also auf dieselbe 
Grunderscheinung zurückzuführen, wie die Tilgung der unbe¬ 
wussten Gedankenarbeit. 

Viel mehr als Schwachsinn dürfte beim Epileptiker und bei 
allen den Kranken, die ihm im ethischen Verhalten nahestehen, 
wie gewisse Neurastheniker, die bereits betonte Trübung des 
Bewusstseins in Betracht kommen. Sie ist auf die Grund¬ 
erscheinung von Amentia zu beziehen, von welcher Meynert 
sagt, dass sie „eine Herabsetzung des elementaren Ernährungs- 
pbänomens der geweblichen Attraction im corticalen Organe 
ist, welche die Association im weitgreifenden Zusammenhänge, 
die höher coordinirte Association im verschiedenen Grade beein¬ 
trächtigt”. Die Herabsetzung der geweblichen Attraction, viel¬ 
leicht vergesellschaftet mit in vasomotorischen Störungen be¬ 
gründeter Verminderung der Blutversorgung in der Hirnrinde, 
scheint bei Epileptikern sowohl auf innere als auch auf äussere 
Reize hin leicht zu erfolgen. Sie findet ihren Ausdruck in der 
Zornmüthigkeit, Reizbarkeit der Epileptiker, welche im Be¬ 
obachter zuweilen die Annahme einer vollständigen Associations¬ 
dissolution wachruft; sie dürfte aber auch gelegentlich die Ent¬ 
stehung von impulsiven Handlungen mit bedingen, wenn nämlich 
in dem durch die Herabsetzung seiner Function an der erfolg¬ 
reichen Hemmung gewisser Impulse oder an der Modificirung 
der Handlungen im Sinne einer „höher coordinirten Association” 
gehinderten Associationsorgane gleichzeitig eine zur Handlung 
treibende Vorstellung, mag sie nun durch Apperception oder 
auf combinatorischem Wege angeregt worden sein, entsteht und 
durch ihren hohen Schwellenwerth die Psyche des Kranken be¬ 
herrscht. Je nach der Art dieser in Folge des Darniederliegens 
der anderen Associationen dominirenden Vorstellung, welche wieder 
durch die Natur der betreffenden Desorganisation bestimmt 


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Ueber moralische Defectzustände. 


107 


wird, entwickeln sich die früher als Monomanien beschriebenen 
krankhaften Triebe, von welchen erfahrungsgemäss der Brand¬ 
stiftungstrieb für die epileptische Degeneration geradezu charak¬ 
teristisch ist. 

Es wäre ein Irrthum, wenn wir das Auftreten impulsiver 
Handlungen mit der besprochenen Art der Genese an die Er¬ 
scheinung typischer epileptischer Anfälle gebunden erachten 
wollten; vielmehr müssen wir auch bei der Betrachtung dieses 
Defectes auf die Erweiterung, welche der wissenschaftliche Be¬ 
griff der Epilepsie allmählich erfahren hat, Rücksicht nehmen. 
Wir können uns mit der Anschauung Westphal’s') nicht be¬ 
freunden, wenn er sagt, dass er „kaum einen Fall von sogenannter 
Moral insanity gesehen zu haben sich erinnere, in welchem 
nicht epileptische Anfälle zur Evidenz nachweisbar waren”; 
hingegen kommen wir wohl der Wahrheit am nächsten, wenn 
wir für diejenige Form der moralischen Defectuosität, welche 
die Impulsivität hervortreten lässt, die der Epilepsie zu Grunde 
liegende Desorganisation als grundlegend ansprechen. Es ist 
uns auch hier wieder klar, dass oft oder sogar zumeist parallel 
damit der in angeborener oder erworbener Degeneration fussende 
Schwachsinn laufen muss; viele Fälle von sogenanntem Blödsinn 
mit Reizbarkeit dürften in dieser Weise aufzufassen sein. So auch 
der von Schlöss angezogene Fall F. (vide diese Jahrbücher, 
VIII, S. 263). Bei F. findet Meynert „allerdings” die conti- 
nuirlich zu verfolgende Erscheinung eines geringen Grades an¬ 
geborenen Blödsinnes, zieht aber zur Erklärung der moralischen 
Defectuosität für die verschiedenen Lebensphasen des F. ver¬ 
schiedene Momente heran, welche Reizbarkeit bedingten, zuerst 
die wahre Epilepsie, dann die epileptoiden Zustände, zuletzt 
aus verschiedenen Gründen hervortretende Reizzustände, die 
besonders durch Wein so gesteigert wurden, dass F. den Ein¬ 
druck eines berauschten Geisteskranken machte. Diese Momente 
sind durchwegs aber auch geeignet, vorübergehende Verwirrt¬ 
heitszustände zu erzeugen, aus welchen wir uns ohne Zuhilfe¬ 
nahme eines auch noch so geringen Grades von Blödsinn die 
Entstehung impulsiver Handlungen abzuleiten vermögen. Wie 

') Westplial, Die conträre Sexualempfindung, ein Symptom eines neuro- 
pathischen (psychopathischen) Zustandes. Archiv f. Psych. und Nervenkrankheiten, 
Bd. II, 1870. 


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108 


Dr. Josef Berze. 


zweifelhaft übrigens der Bestand des Schwachsinnes bei F. war, 
drückt, abgesehen von der reservirten Ausdrucksweise im 
Meynert’schen Gutachten, der Umstand aus, dass er von den 
untersuchenden Aerzten bald entdeckt, bald wieder vermisst 
worden ist. 

Zur Krankengeschichte des F. mag noch bemerkt werden, 
dass die krankhafte Reizbarkeit, die zornmüthige Erregbarkeit 
schon sehr früh an ihm hervortrat, dass zu erkennen war, dass 
jede Hoffnung auf einen geordneten Lebenslauf des Kranken 
aufgegeben werden müsse, obwohl er nach übereinstimmendem 
Zeugnisse gut und leicht lernte. Ganz sinnlose Acte waren es, 
zu denen er sich hinreissen liess und zu denen er inmitten einer 
geordneten Zeit durch einfachen Widerspruch mit der Sicherheit 
eines Experimentes veranlasst werden konnte. Nach Ablauf der 
Erregungszustände konnte er sich an das Geschehene gar nicht oder 
nur dunkel erinnern, so dass er sich oft ausdrückte, er begreife nicht, 
warum man ihm schon wieder Vorwürfe mache, warum man ihn 
in die Anstalt gebracht habe; er empfand daher auch die Be¬ 
handlung von Seiten seiner Umgebung als ungerecht und brachte 
dieses Gefühl des ihm zugefügten Unrechtes durch eine gewisser- 
massen natürliche Renitenz und Auflehnung gegen Verfügungen 
zum Ausdrucke. Es entwickelte sich bei ihm zudem eine ähn¬ 
liche Verbitterung, wie wir sie früher zur Constitution eines 
antimoralischen Gefühles herangezogen haben, so dass er sich 
später auch in den freien Zeiten in unmoralischen Handlungen 
gefiel. Wir können also bei ihm verfolgen, wie sich gelegentlich 
die moralische Defectuosität als eine Kette impulsiver Acte dar¬ 
stellt, wozu sich später erst continuirliche moralische Depra- 
vation gesellt. 

In diesem und in mehreren ähnlichen Fällen, die wir zu 
beobachten Gelegenheiten hatten, muss also der zu amentia- 
ähnlichen Zuständen führenden Desorganisation viel mehr die 
Rolle einer Basis, wenn schon von einer solchen gesprochen 
werden soll, zugesprochen werden, als dem gelegentlich wirklich 
nebenher laufenden beliebigen Grade von Dementia. Der gering¬ 
gradige Blödsinn, wie in dem eben angezogenen Falle, hätte nie 
zur Erscheinung des moralischen Defectes geführt, hätte sich 
nicht die speciell auf Epilepsie hindeutende Heredität, die „in 
Epilepsie zweier Ascendenten culminirende vererbte Anlage”, 


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Ueber moralische Defectzustäude. 


109 


wie sich Meynert aasdrückt, noch in anderen Erscheinungen, 
von welchen wir der Neigung zu epileptoiden Zuständen und 
der psychischen Convulsibilität besondere Bedeutung beimessen, 
geltend gemacht. Andererseits ist die Einwirkung dieser letzteren 
Factoren auf das moralische Gebaren so mächtig, dass sich 
uns das Bedürfniss der Annahme eines grundlegenden Schwach¬ 
sinnes gar nicht fühlbar macht, dass wir vielmehr zur Ueber- 
zeugung gelangen, dass auch auf diese Weise begründete mora¬ 
lische Defc-ctuosität mit intacter, ja selbst hoher Intelligenz 
vereinbar ist. 

Ganz eigenartig stellt sich ferner die moralische Defectuo- 
sität dar, welche vorübergehend bei Neurasthenikern auffällig wird. 
Krafft-Ebing 1 ) erwähnt unter den Grunderscheinungen des 
neurasthenischen Charakters: „Einkehr in sich selbst bis zu 
crassem Egoismus und darniederliegendem Altruismus, grosse 
Emotivität, Impressionabilität, Reizbarkeit, mit mangelhafter 
Fähigkeit, die Affecte zu beherrschen, grosse Steigerung der 
AutosuggestibiJität mit steter Bereitschaft zu pessimistischer 
Beurtheilung der Lage und der Zukunft etc.” Es ist wohl ein¬ 
zusehen, dass sich auf solchen Grundlagen die Erscheinung 
eines ethischen Defectes entwickeln muss, welche wieder ganz 
und gar nicht in einer mangelhaften Constitution der ethischen 
Grundlagen, sondern in einer „Verdrängung der ethischen 
Gefühle” (Krafft-Ebing) einerseits, in der Hemmung der 
associativen Thätigkeit, welche nach demselben Autor „so 
gross werden kann, dass eine erschwerte Anspruchsfähigkeit 
des Gemüthes bis zu förmlichem gemüthlichen Torpor platz¬ 
greift”, andererseits begründet ist. In den Fällen, wo das erstere 
Moment Ausschlag gibt, die Verdrängung der ethischen Gefühle, 
ergeben sich Berührungspunkte mit dem ethischen Defecte der 
Hysterischen; der moralische Defect dieser Kranken kann nicht im 
Allgemeinen als moralische Verblödung bezeichnetwerden, wie es bei 
Kraepelin geschieht, sondern muss — gewisse Fälle, in denen 
Blödsinn mitconcurrirt, ausgenommen — auf die Verdrängung 
der altruistischen Rücksichten zurückgeführt werden, welche 
durch den Egoismus, beziehungsweise durch die gesteigerte 
Rücksichtnahme auf die eigentliche Person, die durch die fort- 


') v. Krafft-Ebing, Nervosität und neurasthenische Zustände. 


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Dr. Josef Berze. 


währende Beschäftigung mit wirklichen oder eingebildeten 
Leiden erzwungen wird, bedingt ist. Diejenigen Fälle hin¬ 
wiederum, welche durch die im Vordergründe stehende associa- 
tive Hemmung den ethischen Defect erklären, machen uns die 
Genese der spärlichen Fälle eines bedeutenderen moralischen 
Defectes in melancholischen Krankheitszuständen verständlich, 
welche übrigens wohl am wenigsten geeignet sind, einen der¬ 
artigen Defect aufkommen zu lassen. 

Nur um einer möglichsten Vollständigkeit willen sei noch 
die gelegentlich hervortretende moralische Defectuosität Ver¬ 
rückter erwähnt, die sich wohl aus der im Wahne gelegenen 
Isolirung des Kranken mit seinen egoistischen Tendenzen ab¬ 
leiten lässt. Bei Bestand von Grössenideen hilft das Gefühl der 
Unumschränktheit, bei vorherrschendem Verfolgungswahne das 
Gefühl der Verbitterung mit. Hallucinatorische Einflüsse ziehen 
oft ethische Vergehen nach sich. 

Nach der Betrachtung derjenigen moralischen Defectzustände, 
die sich aus mangelhafter Constitution der betreffenden Asso¬ 
ciationssysteme erklären, und derjenigen, welche in einer vorüber¬ 
gehenden Depotenzirung oder Verdrängung der in der Anlage 
normalen Systeme begründet sind, bleibt uns noch übrig, auf 
die Fälle hinzuweisen, die Hand in Hand mit einer bleibenden 
und oft fortschreitenden Schwächung des Associationsorganes 
erscheinen, sich ebenso wie der Blödsinn als Ausfallserscheinung 
darstellen und daher als moralische Abschwächung, Depravation, 
zu bezeichnen sind. Es handelt sich um die moralische Ver¬ 
blödung im eigentlichen Sinne des Wortes bei progressiver 
Paralyse, bei seniler Demenz, bei Blödsinn in Folge von Alko¬ 
holismus, bei secundärem Blödsinn und in diesem Sinne auch 
bei mit Hysterie und Epilepsie zusammenhängenden Blödsinns¬ 
formen. Hier ist Blödsinn mit Reizbarkeit die unbestrittene 
Basis des ethischen Defectes. 

Wenn wir schliesslich nach dem Momente forschen, welches 
allen moralischen Defectzuständen gemeinsam ist, so ist es 
einzig und allein die angeborene oder erworbene Degeneration. 
Sie zeitigt Factoren, die bei jedem Intelligenzgrade einen 
ethischen Mangel bedingen können. Es nimmt uns daher auch 
nicht Wunder, dass degenerirte Genies oft moralisch defect 
sind; denn wenn auch einer Lehre Zweifel entgegengebracht 


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Ueber moralische Defectzustände. 


111 


werden müssen, welche Eeactiv- und Initiativ-Genies unter 
einen Hut bringen will, wahrhafte Athleten des Geistes und 
kranke Grübler-Genies in derselben Gedankenreihe anzieht, so 
erklären wir uns doch bei denjenigen, welche wirklich degenerirt 
sind, aus den verschiedensten Symptomen psychischer Degene¬ 
ration ihren moralischen Defect. 

Die verschiedene Genese schliesst naturgemäss Verschieden¬ 
heiten der Prognose, der therapeutischen Indicationen n. dgl. 
in sich, was die Prognose zunächst betrifft, in der Eichtung, 
dass gewissen Fällen Aussicht auf Besserung, ja annähernde 
Heilung nicht abgesprochen werden kann. Während es uns 
schwer fällt, an eine Heilung eines angeborenen Blödsinnes zu 
denken — Gauster 1 ) kam in Folge seiner Auffassung der 
Moral insanity als Erscheinungsform des Schwachsinnes in die 
beneidenswerthe Lage, wiederholt Fälle von „Idiotie und ange¬ 
borener Imbecillität” als geheilt ausweisen zu können — und 
daher bei einer auf universellem oder partiellem Blödsinn 
beruhenden moralischen Defectuosität eine wirkliche Besserung 
nicht erhoffen können, zeigt uns die Erfahrung, dass be¬ 
sonders diejenigen Kranken, bei denen die Eeizbarkeit ohne 
Schwachsinn die Basis bildet, einer weitgehenden Consolidirung 
ihres Charakters fähig sind, sobald eben die Eeizbarkeit zurück¬ 
tritt. So haben wir Gelegenheit, einen Mann, der in seinen 
ersten Jünglingsjahren mit der Diagnose Schwachsinn in Form 
von Moral insanity in Irrenpflege stand, fast unablässig zu be¬ 
obachten und können ihm das Zeugniss ausstellen, dass seine 
Verhältnisse geordnet sind, seine Lebensführung seit Jahren 
tadellos ist, und dass er sich seinen Lebensunterhalt durch eine 
geistige Beschäftigung verdient, die an seine Intelligenz ziemlich 
bedeutende Ansprüche stellt, welchen er aber derart vollkommen 
und fast pedantisch genau zu genügen versteht, dass sein Vor¬ 
gesetzter über gewisse aus seiner noch immer nicht ganz 
gewichenen Eeizbarkeit entspringende kleine Conflicte gern 
hinwegsieht. Auch andere einschlägige Fälle haben wir in Er¬ 
fahrung gebracht. 

Aber auch genetisch von diesem verschiedene Fälle wären 
einer wesentlichen Besserung zugänglich, wenn derselben nicht 


*) Vide Jahresbericht pro 1892/93. 


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112 


Dr. Josef Berze. 


gewisse ausser dem Individuum gelegene Factoren geradezu im 
Wege stünden. Degenerirte haben recht häufig schon degenerirte 
Eltern; darin sind vielerlei Mängel der Erziehung begründet, 
die vielleicht erst die derzeit noch als Utopie ausser Discussion 
stehende Idee einer staatlichen Erziehung zum Theile zu be¬ 
seitigen im Stande sein wird. Wir sind uns bewusst, dass 
gerade durch eine geordnete Früherziehung viele moralische 
Defecte, die heute noch als in angeborener Anlage begründet 
angesehen werden, vermieden werden könnten, und glauben, 
dass jener gewissermassen mystische Kern immer weniger in 
Anspruch genommen werden wird, welcher nach Schüle 1 ) „als 
eigentlicher Kern unseres Individualcharakters uns angeboren” 
ist, wenn Erfahrung und Erziehung das ihrige vollkommen 
leisten werden. Ein Kern wird freilich immer Geltung behalten, 
nämlich ein in keiner Richtung gestörtes Associationsorgan. 

Neisser hat klar die Ansicht vertreten, dass der Zweck 
der Erziehung die Erweckung hochwerthiger Associationssysteme 
ist. Die Fähigkeit, solche aufkommen zu lassen, ist normaler¬ 
weise vorhanden, ist in der Kindheit am grössten, nimmt aber 
mit zunehmendem Alter ab, geht im Greisenalter fast ganz ver¬ 
loren. Dies beruht einerseits wohl auf der grösseren Impressiona- 
bilität des kindlichen Gehirnes, ausserdem aber auf einer Reihe 
anderer Factoren. Zunächst fehlen präformirte Associationen, 
welche wie beim Erwachsenen unter Umständen die der Moral 
entsprechende Associationsgruppe auf die Stufe einer Neben¬ 
association herabdrücken würden. Das Kind übernimmt beispiels¬ 
weise den Begriff des Eigeuthumsrechtes durch die Erfahrung 
einer Reihe von concreten Fällen, es übernimmt den Begriff der 
Widerrechtlichkeit in der Lüge, im Betrüge, in der Eigenthums¬ 
verletzung; diese Begriffe werden zu unumstösslichen Principien, 
weil sie zu einerZe.it auftauchten, wo noch keine antagonistischen 
Vorstellungscomplexe vorhanden sind. Beim Erwachsenen dagegen, 
der bis dahin noch nicht zum Besitze moralisch treibender Be¬ 
griffe gelangt wäre, würde z. B. der Spruch: „Ehrlich währt 
am längsten” nicht zu einem wirksamen Associationscomplexe 
werden können, weil er durch Erfahrung Fälle kennen gelernt 
hat, die für das Gegentheil sprechen; Ehrlichkeit und Wohl¬ 
ergehen würden sich bei ihm nicht kräftiger associiren als etwa 
Schüle, Klinische Psychiatrie. 


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Ueber moralische Defectzust&nde. 


113 


die Vorstellung einer nach jeder Bichtung gewagten Speculation 
und die des Wohlergehens in Folge des aus derselben resul- 
tirenden Gewinnes. Der Mangel antagonistischer Associationen 
äussert sich auch in der Gestalt des Autoritätsglaubens, von 
dem Volkmann sagt: „Das Sichbefangenfühlen in der Autorität 
ist gewiss noch kein moralisches Gefühl, es entwickelt sich 
aber zu diesem, je mehr das Kind in dem Gebote des Vaters 
die Manifestation einer höheren, unbefangenen Einsicht erkennt, 
und man hat in dieser Beziehung richtig bemerkt, dass Gehor¬ 
sam die erste Bildungsschule der Sittlichkeit abgibt.” Weiter¬ 
hin fehlt dem normalen Kinde eine psychische Bethätigung, die 
als apriorische Negation bezeichnet werden mag, die Er¬ 
scheinung des Auftretens eines dem neu gewonnenen Urtheile 
entgegengesetzten Urtheiles, woran sich die Erwägung der 
Gründe pro und contra anschliesst. Hört der geistig Entwickelte: 
Dieses Haus kann in zwei Monaten fertig gebaut sein, so taucht 
in ihm gleichzeitig die Vorstellung auf, dass das Haus bis dahin 
noch nicht fertig ist. Dieses Auftauchen des Conträren oder auch des 
Contradictorischen erstreckt sich aber allmählich nicht nur auf 
problematische, sondern auch auf assertorische und apodiktische 
Urtheile; es entspringt wohl der aus der Erfahrung gewonnenen 
Erkenntniss, dass ein übernommenes Urtheil oft durch die Er¬ 
eignisse desavouirt wird. Mit dem Auftauchen der apriorischen 
Negation erscheinen gelegentlich auch Gegengründe gegen das 
primäre Urtheil, die demselben seine Bedeutung ganz oder 
theilweise benehmen. Gerade in Sachen der Moral ist aber vor 
der Entwickelung des erweiterten Ich ein Grund für die Negation 
immer parat: Die Triebe des primären Ich. Dem Kinde fehlen 
für lange Zeit die auf dem Auftreten der Contrastvorstellung 
basirten psychischen Vorgänge; daher steht es dem fremden 
Urtheile äusserst empfangsfahig gegenüber, fast so wie ein 
Hypnotisirter der Suggestion; bei diesem ist die Kritik aus¬ 
geschaltet, bei jenem noch nicht entwickelt. Schliesslich bringt 
es die noch beschränkte Erfahrung des Kindes mit sich, dass 
die Fähigkeit des Differenzirens noch nicht entwickelt sein 
kann; gleich erscheinende Situationen kehren daher leichter 
wieder, wodurch die Möglichkeit, dieselben Vorstellungen in 
rascher Folge oft in Association zu bringen, näher gerückt ist, 
als später, wo bei entwickeltem Geistesleben vielfache Neben- 

Jahrbttcber f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 8 


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Dr. Josef Berze. 


rücksichten die Situationen als verschieden erkennen lassen und 
dadurch unvergleichbar machen oder wenigstens ihren Vergleich 
so weit erschweren, dass sie in der Erinnerung eine gewisse 
Selbstständigkeit bewahren. Während dem Kinde daher bei¬ 
spielsweise jede Lüge als verpönt gilt, hält der Erwachsene je 
nach seinem Moralitätsgrade von der „Nothlüge” angefangen 
verschiedene Lügen für erlaubt. Viele Verhältnisse machen 
demnach das Gehirn des normalen Kindes ganz besonders 
geeignet, Associationscomplexe von hoher Werthigkeit und 
leichter Erregbarkeit aufkommen zu lassen. Das normale Kind 
braucht hierzu nur das angemessene Milieu; eine „Fülle von 
Begünstigungen der Entwickelung moralischer Gefühle entspringt 
ihm aus einem geordneten Familienleben”. Dagegen braucht 
das Kind mit Neigung zu moralischer Defectuosität eine specielle 
Erziehung. Ist es frühreif, so ist es Ziel dieser Erziehung, die 
Entstehung der Pflichtsysteme zu beschleunigen, sie womöglich 
zu einer Zeit , zu wecken, wo der Geist noch nicht seine volle 
selbstständige Betätigung erlangt hat. Bei Idioten, von denen 
übrigens Landenberger übereinstimmend mit anderen Päda¬ 
gogen sagt, dass bei der Mehrzahl die Gemüthsseite von der 
Verkümmerung weniger betroffen sei als die Intelligenz, werden 
die für die Idiotenerziehung im Allgemeinen geltenden Prin- 
cipien, vor allem Erregung der Aufmerksamkeit, auch bei der 
sittlichen Erziehung massgebend sein müssen. Schon bei gewissen 
Idioten, besonders aber bei Imbecillen werden gewisse disciplinäre 
Mittel nicht zu umgehen sein. Aus diesem Grunde verlangt wohl 
auch der um die Idiotenpflege so hochverdiente Pastor Sengel- 
mann, 1 ) gewisse „Idioten, welche, was die Intelligenz anlangt, 
auf einer höheren Stufe, hinsichtlich ihres Gemüthes aber ganz 
von den Banden der Verschmitztheit, der Lüge, des diebischen 
Wesens umschlungen sind, so dass von einer Wirksamkeit des 
Gewissens und eines sittlichen Gefühles nicht die Rede sein 
kann”, lieber in Besserungs- und Rettungsanstalten unter¬ 
zubringen, als in den Idiotenanstalten. Noch viel weniger passen 
sie aber in Irrenanstalten, aus welchen ja glücklicherweise auch 
jeder Anschein einer Disciplinirung verpönt wird; es trägt eben, 
wie oben ausgeführt, zu einer moralischen Besserung nicht nur nicht 


! ) Sengelmann, Systematisches Lehrbuch der Idioten-Heilpfiege. 


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Ueber moralische Defectzustände. 


115 


bei, sondern steht ihr sogar entgegen, wenn zu anderen genetisch 
wichtigen Momenten noch das Bewusstsein der Unzurechnungs¬ 
fähigkeit und UnVerantwortlichkeit, sowie der Sicherheit vor 
Strafe und jeder anderen Remedur hinzutritt. Aus diesen 
Gründen allein schon wäre die Absicht, die depravirten und 
depravirenden Alkoholiker, die Landplage der Irrenanstalten, 
aus denselben in eigene Anstalten zu übersetzen, lebhaft zu 
begrüssen, aus diesen Gründen ist aber auch die Unterbringung 
vieler anderen moralisch Defecten in geeignete Erziehungs¬ 
anstalten in hohem Grade wünschenswert!». Dann wird sich viel¬ 
leicht gerade auf diesem Gebiete ein Feld für die psychische 
Behandlung eröffnen. 

Ferne liegt es uns, auf die Möglichkeit, ab und zu durch 
somatische Behandlung, Hebung der Ernährung, Besserung der 
Blutzusammensetzung u. dgl. den psychischen Zustand günstig 
zu beeinflussen, näher einzugehen. 

Zum Schlüsse sind wir verpflichtet, der Unterstützung mit 
herzlichem Danke zu gedenken, welche Herr Director Krayatsch 
dieser Arbeit durch Ueberlassung der sehr zahlreichen Kranken¬ 
geschichten und durch Hinzufügung vieler aus reicher Erfahrung 
geschöpften Bemerkungen hat angedeihen lassen. 


8 * 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergifiung. 

(Aus dem Hospital des heiligen Nicolaus in St. Petersburg.) 

Von 

Dr. Leo Finkeistein. 

Das Gaz pauvre, zu technischen Zwecken in Westeuropa 
bereits seit mehreren Jahren in Anwendung gezogen, fand in 
Russland erst neulich (1894) Eingang, wo es in den Werkstätten 
der franco-russischen Gesellschaft zu denselben Zwecken ver- 
werthet wird. Es wird in einem besonders dazu hergerichteten 
Raume durch Durchleiten von Luft über "erhitztes Anthracit ge¬ 
wonnen und gelangt von dort durch zwei Röhren in ein Reser¬ 
voir, in welchem es sich bis zu einer bestimmten Menge an¬ 
sammelt. Von dort wird es in die Maschinenabtheilungeu geleitet 
und vermittelst des elektrischen Funkens zur Explosion gebracht; 
die dabei sich entwickelnden Gase sind es, die durch ihren 
Druck die Maschinenkolben in Bewegung setzen und auf diese 
Weise die Dampfkraft ersetzen. Laut in der Fabrik der franco¬ 
russischen Gesellschaft eingezogenen Erkundigungen sind die 
chemischen Eigenschaften dieses neueingefiihrten Gases bisher 
noch nicht genügend aufgeklärt. Bekannt ist nur, dass es aus 
einem Gemenge von Stickstoff, Kohlenoxyd, Kohlensäure und 
einer geringen Menge von Kohlenwasserstoffen besteht; wegen 
seines Mangels an lichterzeugenden Bestandtheilen hat es die 
Benennung Gaz pauvre erhalten. Gegenwärtig hat die Fabriks¬ 
administration bereits eine genauere chemische Analyse dieses 
schon zu Beginn seiner Anwendung als gefährlich erwiesenen 
Stoffes angeordnet und w r ar so liebenswürdig, die vorläufigen 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftnng. 


117 


Resultate der Untersuchung mir mitzutheilen; da jedoch letztere 
noch nicht vollständig abgeschlossen ist, so bin ich vorläufig 
auch nicht im Stande, genaue zahlenmässige Angaben zu machen. 
Jedoch ist in Frankreich die chemische Constitution des Gases 
sehr wohl bekannt. Edouard Delamore Debouteville führt in 
seinem Werke „Des moteurs ä gaz” (Rouen 1893) folgende, 
seiner Meinung nach ziemlich constante Zusammensetzung des 
Gaz pauvre an. 

H= 20-0 
CO = 21-0 
C t H a = 3 5 
C a H a = 0-5 
0= 0-5 
C0 2 = 5-0 
N = 49-5 
100 

* Nach dieser Analyse zu urtheilen, enthält also das Gaz 
pauvre einen überwiegenden Procentsatz an Kohlenoxyd, Stick¬ 
stoff und Kohlensäure. 

Von sämmtlichen complicirten, zur Gewinnung und Ver¬ 
wendung des genannten Gases dienenden Vorrichtungen interes- 
sirt uns nun am meisten jenes oben erwähnte Reservoir, in 
welchem sich der im Folgenden mitzutheilende traurige Vorfall 
ereignet hat. Das benannte Reservoir wird durch ein gewöhn¬ 
liches Gasometer — einen mächtigen Cylinder von 8 Fuss Höhe 
und ebenso viel im Diameter — gebildet und besteht aus zwei 
Theilen: einem unteren mit Boden versehenen Cylinder und 
einer in denselben hineinpassenden, an Rollketten auf- und abwärts 
laufenden Glocke. In den Boden des ersteren gelangen zwei 
Röhren, die bis zum oberen Ende desselben hinaufreichen, während 
dicht an dessen unterer Grenze seitlich ein durch einen Hahn 
absperrbares Abflussrohr mündet. In ähnlicher Weise ist auch 
die Glocke oben mit einer weiten Oeffnung, breit genug, um 
einen Menschen hindurch zu lassen, sowie mit einem Sicherheits¬ 
ventile versehen. Die Füllung des Reservoirs gestaltet sich dem¬ 
nach derartig, dass nach Tiefstellung der Glocke der ganze 
Apparat zunächst mit Wasser gefüllt und sodann durch die 
beiden erwähnten cylindrischen Röhren das Gaz pauvre in den 
Behälter hineingepresst wird. Indem dasselbe sich nun über 


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118 


Dr. Leo Finkeistein. 


dem Wasserniveau ansammelt, drängt es die Glocke in die 
flöhe und sobald diese bis zu einer an ihrem unteren Ende 
angebrachten Marke emporgehoben ist, wird das Reservoir als 
gefüllt betrachtet. Zu gleicher Zeit sinkt um etwas der Wasser¬ 
stand im unteren Cylinder. 

Am 24. September 1894, wo der Unglücksfall passirte, stand 
der Behälter wegen einiger erforderlicher Reparaturen ausser 
Thätigkeit. Die Glocke war vollständig herabgelassen, deren 
obere Oeffnung unverschlossen, während das Wasser durch das 
seitliche Abflussrohr fast ganz entfernt war, so dass es kaum 
3 Zoll hoch reichte. Nach der Meinung des die Aufsicht füh¬ 
renden Ingenieurs konnte vom Gase zu jener Zeit nur eine 
ganz unbedeutende Menge im Reservoir vorhanden gewesen 
sein. Herr Ingenieur W., welcher die entsprechenden Arbeiten 
zu leiten hatte, sowie die damals anwesenden Arbeiter, welche 
Augenzeugen des Vorfalles waren, berichten über denselben 
folgendermassen: Sämmtliche Arbeiter waren um 7 Uhr Morgens 
versammelt; um 9 Uhr wurden Anstalten zum Hinunterlassen 
einiger von ihnen getroffen, um eine Schraubenmutter inner¬ 
halb des Cylinders festzudrehen. Als Erster stieg unser Patient, 
Al. Grigorjeff, hinunter; er brachte selbst die Leiter herbei, 
liess sie durch die obere Glockenöffnung hindurch, nahm die 
nöthigen Instrumente zu sich und stieg, nachdem er ein Zünd¬ 
holz angerieben, die Leiter hinab. Am Boden des Reservoirs 
angelangt, entfernte er letztere von der Lücke und stellte sie 
an einer anderen Stelle der Glocke hin, da, wo die Reparatur 
vorgenommen werden sollte. Er stieg hinauf, fragte noch von 
innen her um ein Paar Anweisungen und man sah sogar, wie 
er seinen Finger durch das Sicherheitsventil hindurchführte. 
Nach 10 Minuten aber blieb es in der Glocke still und auf 
Anrufen erfolgte keine Antwort. Unruhig über so andauerndes 
Schweigen, ohne jedoch irgendwelche besondere Befürchtungen 
zu hegen, beauftragte Ingenieur W. einen zweiten von den 
Arbeitern hinabzusteigen, um nachzusehen, was vorgefallen sei. 
Der Arbeiter kletterte an einem Strick hinunter, der von oben 
bis zum Boden des Cylinders reichte, doch schon nach einigen 
Secunden gab er keine Antwort mehr. In Folge dessen wurde 
sofort ein Dritter, diesesmal an einem Stricke befestigt, in den 
Raum hinuntergelassen, sogleich aber auf sein heftiges Rufen 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung. 


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wieder heraufgezogen. Er erklärte mir nachher, dass im Momente 
des Hinablassens sich Kopfschwindel und Athembeklemmung 
eingestellt hätten. Offenbar war ein Unglück passirt, welches 
die Administration nicht hatte voraussehen können. Eilig wurde 
die Glocke gelüftet und unter ihr die beiden Arbeiter hervor¬ 
geholt. Der eine von ihnen war mit dem Gesichte nach unten 
liegend aufgefunden worden und bereits todt, so dass Wieder¬ 
belebungsversuche erfolglos blieben. Al. Grigorjeff dagegen fand 
man in sitzender Stellung und in tiefem Coma. Alles eben An¬ 
geführte hatte sich in kaum 10 Minuten abgespielt. Krämpfe 
wurden, trotz genauen Nachfragens, in Abrede gestellt. Patient 
wurde sofort ins Alexanderhospital für Arbeiter befördert. 

Laut Krankengeschichte gelangte er in tief comatösem 
Zustande zur Aufnahme. Die Untersuchung der Lungen ergab 
massenhaft feuchte Rasselgeräusche; beim Husten wird blutig 
tingirtes, schaumiges Sputum expectorirt. Herzthätigkeit äus- 
serst geschwächt; Puls klein. Verordnet, unter anderem, Ein- 
athmen von Sauerstoff. 

Am folgenden Tage, 25. September: Patient zu Bewusstsein 
gekommen; gibt an, wo er angestellt ist, weiss jedoch nicht, wo 
er sich befindet und was mit ihm vorgegangen. Herzthätigkeit 
bedeutend besser. Kein schaumig-blutiges Sputum zu constatiren. 

26. uud 27. September: Patient bei voller Besinnung, Schlaf 
und Appetit gut. Herzthätigkeit befriedigend. Harn normal; 
kein Eiweiss. Nähere Angaben über den Geisteszustand sind 
nicht verzeichnet. Am 28. September wurde Patient aus dem 
Alexanderhospitale entlassen und verbrachte die folgende Zeit 
zu Hause bis zu seiner am 2. October erfolgten Aufnahme ins 
Hospital St. Nicolaus. Seine wenig intelligente Frau theilte mit, 
dass der psychische Zustand ihres Mannes sich von Tag zu Tag 
verschlimmerte, so dass sie sich genöthigt sah, die Polizei um 
Unterbringung ihres Mannes im Hospital des St. Nicolaus an¬ 
zugehen. Er war zu Hause schweigsam, mürrisch, seufzte häufig 
auf und führte eine Reihe verkehrter Handlungen aus, zog z. B. 
sein Hemd über die Beine an u. s. w. Er zeigte kein Interesse 
für seine Umgebung, verlangte keine Nahrung, genoss aber 
alles, was man ihm vorlegte. 

Die objective Untersuchung im Hospital des St. Nicolaus 
ergab folgenden Status praesens: Patient 24 Jahre alt, mittelgross, 


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Dr. Leo Finkeistein. 


mittlerer Ernährung und Constitution. Eine genaue Untersuchung 
der inneren Organe zeigte nichts Pathologisches. Puls bis 98. Pu¬ 
pillen mässig erweitert., gleich gross, reagiren trag auf Licht. Weder 
im Gesicht, noch an den übrigen Körpertheilen sind irgend welche 
paretische Erscheinungen zu constatiren. Die Zunge zittert etwas 
beim Hervorstrecken, desgleichen die Hände beim Uebergang in 
Extension. Haut-, Knochen- und Sehnenreflexe beiderseits stark 
erhöht. Reaction auf Schmerzreize gering. Gliedmassen kalt, cyano- 
tisch; keine Oedeme. Temperatur 36'7. Patient sitzt unbeweglich, 
sieht stumpf um sich, murmelt ab und zu etwas vor sich hin 
und seufzt öfter tief auf. Antwortet nicht auf mehrmals wieder¬ 
holte Fragen. Trotzdem fasst Patient äussere Eindrücke, obgleich 
in schwachem Masse, offenbar auf. So z. B. reagirt er nicht 
auf mündliche Aufforderungen sich zu setzen, die Augen zu 
öffnen oder zu schliessen u. dgl., reproducirt jedoch, aufgefordert, 
geradeaus vor sich zu sehen, die meisten Bewegungen, die ihm 
vorgemacht werden. Am Abend desselben Tages stellte sich, 
inmitten völliger Be Weglosigkeit, ein heftiger Tobsuchtsanfall ein, 
wobei Patient sein Hemd zerriss, sich aber bald beruhigte und 
in seinen früheren Zustand zurückkehrte. 

3. October. Psychischer Zustand unverändert. Patient ver¬ 
brachte den ganzen Tag in sitzender Stellung, theilnahmslos gegen¬ 
über seiner Umgebung. Antwortet nicht auf Fragen und murmelt 
etwas, wie früher, vor sich hin. Schlaf und Appetit gut. Im 
Urin Spnren von Eiweiss. Temperatur normal. 

4. October. Stupor etwas geringer. Patient macht merkbare 
Anstrengung zu antworten, bringt jedoch, mit Ausnahme irgend 
eines Wortes, das er mehrmals wiederholt, nichts hervor. Re¬ 
agirt auf äussere Eindrücke etwas besser; so gelingt es z. B. 
mitunter ihn zu bewegen, die Augen zu schliessen, doch sind 
derartige Aufforderungen grösstentheils nur dann von Erfolg, 
wenn die gewünschte Bewegung ihm vorgemacht wird. 

5. October. Spricht heute etwas leichter, antwortet jedoch auf 
Fragen ohne Zusammenhang. Auf die Frage, wie alt er sei. 
antwortete er: 4., 5., 7. Tag, Monat und Datum kennt er nicht. 
Weiss, dass er verheiratet ist; wie lange? — 23 Jahre. Psy¬ 
chischer Zustand in statu quo. Temperatur normal. 

6.0ctober. Psychischerseits macht sich eine geringe Verschlim¬ 
merung bemerkbar. Patient ist schweigsamer und interesseloser 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung. 


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als zuvor. Orientirt sich schwer in der Abtheiluug, vergisst 
sein Zimmer und legt sich in fremde Betten. Antwortet auf 
Fragen einsilbig, zusammenhanglos. Nähert sich nach der Unter¬ 
suchung dem brennenden Kamine, offenbar in der Absicht hin¬ 
ein zu uriniren. Diese Verschlimmerung des psychischen Zustandes 
hei mit einigen neuen Erscheinungen zusammen, indem am 
ganzen Körper sich eine Zunahme der idio-musculären Erreg¬ 
barkeit bemerkbar macht. Sehnenreüexe, wie vorher, stark er¬ 
höht, links etwas mehr als rechts. Pupillen gleichmässig etwas 
erweitert, reagiren befriedigend auf Licht. Linke Nasolabialfalte 
etwas geringer ausgeprägt als rechts, linker Mundwinkel und 
linke Augenbraue stehen etwas tiefer. Den Tag verbrachte der 
Kranke ruhig. Schlaf und Appetit gut. 

7. October. Patient orientirt sich etwas besser, spricht leichter 
und beantwortet Einiges richtig; im Allgemeinen sind jedoch 
Ideengang und Association etwas erschwert. Auf eigene Initia¬ 
tive hin spricht Patient kein Wort, theilt jedoch auf Anfragen 
mit, dass er 24 Jahre alt, l'/ 2 Jahre verheiratet sei, eine Tochter 
habe. Nennt seinen Stand, Heimat, Beschäftigungsart richtig. 
Kann jedoch über den Vorfall vom 24. September keine Aus¬ 
kunft geben und reagirt auf bezügliche Fragen mit sinnlosem 
Lächeln. Isst und schläft gut. Facialparese in statu quo. 

8. bis 9. October. In psychischer Hinsicht keine Aenderung. 

10. October. Patient klagt während der psychischen Unter¬ 
suchung über Kopfschmerzen, spricht etwas leichter. 

11. October. Befinden erheblich gebessert. Gesichtsausdruck 
bedeutend lebendiger, spricht geläufig und antwortet willig. Patient 
ist nach seiner Angabe 1870 geboren, seine Eltern leben und 
sind gesund, von Geistesstörungen und Anfällen irgend welcher 
Art in der Familie weiss er nichts. Patient selbst negirt Potus, 
ebenso Syphilis; er hält sich überhaupt für kerngesund. Er war 
früher Fuhrmann, seit 4 Jahren arbeitet er in der franco-russi- 
schen Fabrik. An den Unfall am 24. September hat er augen¬ 
scheinlich gar keine Erinnerung. Auch auf unsere detaillirte 
Erzählung des Vorfalles negirt er entschieden jede Erinnerung 
daran; er weiss weder, wie er seine Instrumente gesammelt, 
noch wie er hinabgestiegen, noch was er innerhalb des Behälters 
gethan. r Das kann nicht sein, ich war nie dorthin hinabgestiegen, 
kann mich dessen nicht entsinnen .... möglich, dass es wahr 


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Dr. Leo Finkeistein. 


ist”. Daraus geht hervor, dass Al. Gr. sich nicht nur des Mo¬ 
mentes seiner Erkrankung, sondern auch der dieser wenigstens 
2 bis 3 Stunden vorausgegangenen Umstände nicht erinnert. Erst 
heute erfuhr er, dass er sich im Krankenhause befindet; ob er 
inzwischen in einem anderen Hospital gelegen sei — kann er 
nicht sagen. Hallucinationen irgend welcher Art leugnet er. 
Nachdem er von seinem so langen Aufenthalte im Krankenhause 
erfahren hatte, begann er sich sofort für seine Familie zu in- 
teressiren, und bat um möglichst schnelle Entlassung. Die seit 
dem 6. d. M. bestehende Facialisparese beginnt allmählich sich 
auszugleichen und war zum 13. völlig verschwunden. Reflexe, 
wie früher, beiderseits, doch mehr gleichmässig erhöht. 

Angesichts des Falles von Andral (Kohlenoxydvergiftung), 
welcher darauf hinweist, dass lebensgefährliche Erscheinungen 
auch nach scheinbarer Genesung sich einstellen können, sowie 
Huchzenmeyer’s (Ueber Kohlendunstvergiftung. Dissert. 
Berlin 1868), welcher einen Fall von Kohlenoxydvergiftung 
mit nachfolgendem Schwachsinn beschreibt, wo die Psychose 
sich anfangs bis zum 10. Tage der Krankheit gebessert hatte; 
sodann aber am 18. Tage vollkommen neu recidivirte, empfahlen 
wir unserem Kranken noch etwa zwei Wochen zu bleiben, um 
die Vollständigkeit seiner Genesung zu sichern. 

Vom 11. bis 13. October zeigte der Geisteszustand Al. Gr.’s 
nichts Abnormes. Die Kopfschmerzen und der Appetit besserten 
sich unter dem Einflüsse einer entsprechenden Therapie. Als 
einzige Spuren der überstandenen Krankheit hinterblieben zeit¬ 
weise Kopfschmerzen, etwas unregelmässiger Schlaf und etwas 
erhöhte Reflexe. 

Am 23. October verliess Patient das Hospital in gebessertem 
Zustande, nachdem vorher der Director der franco-russischen 
Gesellschaft sich bereit erklärt hatte, ihm einen dreiwöchent¬ 
lichen Urlaub zur endgiltigen Wiederherstellung zu bewilligen. 
So weit wir nachträglich erfahren haben, ist Al. Gr. auch gegen¬ 
wärtig vollständig gesund und arbeitet auf seiner früheren Stelle. 

Zur Vervollständigung der Krankengeschichte unseres Pa¬ 
tienten haben wir nun noch ein Paar Worte über dessen 
Harn, den zu sammeln wegen des psychischen Zustandes des 
Kranken nicht immer leicht war, hinzuzufügen. Ich selbst habe 
die einfacheren Analysen gemacht; genauere wurden im chemi- 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre -Vergiftung. 


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sehen Laboratorium des Herrn Prof. Poehl ausgeführt. Aus 
denselben entnehmen wir Folgendes: Am 7. October, im Bliithe- 
zustande der Krankheit, war der Urin trübe, saurer Reaction; 
specifisches Gewicht 1029. Das Harnsediment besteht aus Schleim 
und enthält Plattenepithelien, oxalsaures Calcium, harnsaures 
Natrium und Harnsäure. Der Urobilingehalt übersteigt nicht die 
Norm; Indicangehalt erhöht. Von normalen Harnbestandtheilen 
waren enthalten: Harnstoff —37-94°/ 00 (normal 23'3°/ 00 ); Harn¬ 
säure 0*48%o (normal 0-5 # / 00 ), Chlornatrium 9-56% 0 (normal 
ll-0% 0 ); Phosphorsäure 2*32 0 /« 0 (normal 2*3% 0 ); Schwefelsäure 
l-48%o (normal l-3°/ 00 ); Gesammtstickstoffmenge des Harns=20 94 
Cubikcentimeter in 1000 Gramm. Von anormalen Bestand¬ 
teilen fanden sich Spuren von Eiweiss und Pepton und Oxal¬ 
säure in erhöhter Menge; Leucomalne, bestimmt nach der Methode 
von Prof. Poehl = O-94 # / 0 o- Das Verhältniss der Harnsäure¬ 
quantität zur Phosphorsäuremenge, als Dinatriumphosphat, betrug 
0-48 : 090 = 053. In Anbetracht dessen, dass der normale Coef- 
ficient nach Zern er 02 bis 037 ist, muss bei unserem Patienten 
eine harnsaure Diathese angenommen werden. Weiterhin betrug 
das Verhältniss der gesammten Stickstoffmenge zur Stickstoff¬ 
quantität des Harnstoffes 20-94 : 17-70 — 100 : 84-53; d. h. die 
Oxydationsintensität der stickstoffhaltigen Stoffe beträchtlich er¬ 
niedrigt. Das Verhältniss der gesammten Schwefelsäure war 
1-48 : 0-16 = 9-25 : 1, woraus, nach Morax, folgt, dass der Fäul- 
nissprocess im Darmtractus die Norm übersteigt. 

Dieser Zustand der ausgesprochenen harnsauren Diathese 
und der herabgesetzten Oxydationsintensität hielt bis zum 
12. October an, nach welcher Zeit die Analysen eine Annäherung an 
die normalen Verhältnisse ergaben. Aus der Harnuntersuchung 
vom 12. October stellt sich ein bedeutend niedrigeres specifisches 
Gewicht von 1012 heraus; Reaction sauer, tägliche Harnmenge 
700 Cubikcentimeter. Das Sediment besteht nur aus Schleim mit 
beigemengtem Pflasterepithel und Schleimkörpern; oxalsaurer 
Kalk, harnsaures Natrium und Harnsäure sind verschwunden. 
Der Indicangehalt ist bis auf die Norm gesunken. Das Ver¬ 
hältniss der Harnsäurequantität zur Phosphorsäuremenge, als 
Dinatriumphosphat, beträgt 0 14 : 0*46 = 0-3, was bereits auf 
ein normales Ausscheidungsvermögen der Harnsäure (Coefficient 
von Zerner), d. h. auf die Abwesenheit einer harnsauren Dia- 


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Dr. Leo Fiokelstein. 


these hinweist. Kein Eiweiss; Pepton in Spuren; Oxalsäure¬ 
gehalt normal. Harnstoff 10*03% 0 > Harnsäure O14% 0 ; Chlor¬ 
natrium 8 36°/ 00 ; Phosphorsäure 1 04°/ 00 ; Stickstoflfgesammtmenge 
4-9 Cubikcentimeter, deren Yerhältniss zur Stickstoffmenge des 
Harnstoffes 4 91 : 4-68 = 100 : 95*32, was als normale Oxydation 
der stickstoffhaltigen Körper gedeutet werden kann. Vom zuletzt 
genannten Tage an blieb im Laufe der nächstfolgenden Wochen 
der Urin nach mehrfach wiederholten Analysen vollständig 
normal. 

Die letzte genaue Analyse des Harns datirt vom 20. October. 
Urinmenge 2000 Cubikcentimeter; specifisches Gewicht 1017; 
Sediment aus Schleim mit beigemengten Plattenepithelien. Die 
Menge normaler spectroskopisch bestimmbarer Harnbestandtheile, 
sowie der Pigmentgehalt (Urobilin, Indican) übersteigen nicht 
die Norm. Abnorme Bestandteile nicht vorhanden. Die Menge 
normaler Harnbestandtheile auf chemischem Wege bestimmt, 
nähert sich ebenfalls vollständig der Norm: Harnstoff — 13*89%«> 
oder im Ganzen 28*78 Gramm (normal in 1500 Cubikcentimeter 
— 35 Gramm); Harnsäure — 0*15 # /« 0 — oder 0*3 (gegen 0*75); 
Chlornatrium — 13-98%o oder 27*96 (gegen 16*5); Phosphorsäure 
1*0%« oder 2*0 (gegen 3*5). Gesammtstickstoff 6*74 Cubikcenti¬ 
meter in 1000 Gramm, oder 13*48 Gramm im Ganzen. Zerner- 
scher Coefficient 0*15 : 0 44 = 0*34, woraus auf völligen Schwund 
der harnsauren Diathese zu schliessen. Verhältniss des gesammten 
Stickstoffes zum Stickstoff des Harnstoffes —6 74: 6*48 =100:96*14, 
d. h. die Oxydation der stickstoffhaltigen Bestandtheile ist ge¬ 
steigert und bewegt sich jedenfalls innerhalb der Norm. 

Aus der Vergleichung der angeführten Harnanalysen er¬ 
sehen wir, dass: 1. Die Gewebeathmung und Energie der Oxy- 
dationsprocesse zu Beginn verringert war, was die Entwickelung 
einer harnsauren Diathese nach sich zog, die ihren Ausdruck 
in dem Zerner’sehen Coöfficient 0*53 gefunden hat. 2. Ein 
weiterer Umstand weist desgleichen auf ein Sinken der Ge¬ 
webeathmung, nämlich die Anwesenheit von Oxalsäure. Dasselbe 
ist 3. zu ersehen aus dem Verhältnisse der Harnstoffquantität 
zur Kochsalzmenge = 4:1, während es normal (nach Prof. 
A. W. Poehl) = 2:1 ist. („Der Einfluss des Spermins auf 
den Stoffwechsel bei den Autointoxicationen im Allgemeinen und 
der harnsauren Diathese im Speciellen.” Mitgetheilt auf dem 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung. 


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internationalen (Kongresse in Rom 1894). 4. Folge der herab¬ 
gesetzten Gewebeathmung ist augenscheinlich die Steigerung 
der Darmfäulnissprocesse, die sich in einer Vermehrung des Ge¬ 
haltes an gepaarten Schwefelsäuren 9 - 25 :1, sowie gleichzeitig 
im Anwachsen der Indicanmenge kund gibt. 

Darauf folgt eine allmähliche Besserung der Psychose und 
mit ihr parallel eine Verstärkung der Oxydationsprocesse. Das 
Verhältniss von 100 : 84 wächst bis auf 100 : 95 und 96; es 
verschwindet die Oxalsäure, der Zerner’sche Coefficient geht 
bis auf die Norm zurück, desgleichen die Indicangehalte. Das 
Eiweiss verschwindet. Hand in Hand mit all dem verändert sich 
auch das Verhältniss der Harnstoff- zur Na Cl-Menge, indem es 
bis auf 10 : 8 und sogar 13-89 : 13 89 = 1:1 ansteigt. 


Welchem von den Bestandtheilen des in Rede stehenden 
Gases die oben beschriebenen verderblichen Wirkungen auf den 
Organismus zukommen, unterliegt, wie uns scheint, keinem 
Zweifel. Wir haben einen Fall von Vergiftung mit Kohlenoxyd 
vor uns, ungeachtet des hohen Procentsatzes an Stickstoff und C0 2 , 
die im Gaz pauvre enthalten sind, namentlich wenn wir über¬ 
legen, dass, wie seit der Arbeit von Pokrowski, 1 ) deren Re¬ 
sultat im Allgemeinen mit denen von Traube 2 ) übereinstimmen, 
wissen, dass die Symptome der Kohlenoxydvergiftung mit 
denen der Erstickung sich decken. (Bei Einathmung von N, H, 
C0 2 , mechanischer Verlegung der Luftwege u. s. w.) 

Wiederholen wir kurz in zeitlicher Reihenfolge die ge¬ 
legentlich unseres Falles gemachten Beobachtungen, so lassen 
sie sich folgend resumiren: 

a) Vor dem Einsteigen ins Reservoir war Al. Gr. voll¬ 
ständig gesund; 

b) aus dem Reservoir war er in Folge einer acuten Kohlen¬ 
oxydvergiftung in comatösem Zustande mit lebensgefährlichen 
Anzeichen hervorgeholt worden; 

c) kurze Zeit danach treten Symptome der geistigen Störung 
in den Vordergrund, welche, anfangs wohl schwach ausgeprägt, 


’) Pokrowski, Arch. für Anatomie und Physiologie 1866 . 

2 j Traube, Gesammelte Beiträge zur Pathologie und Physiologie, Bd. I. 


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Dr. Leo Finkelsteiu. 


allmählich Zunahmen und am vierten Tage nach der Vergiftung 
das Bild einer Amenz gaben; 

d) im Laufe der Phychose wurde einmal, am 6. October, 
eine Zunahme des Stupors mit gleichzeitig auftretenden pare- 
tischen Erscheinungen im Gebiete des linken N. facialis 
beobachtet; 

e) die Parese ging allmählich, parallel mit der Besserung 
des psychischen Zustandes, zurück und schwand am siebenten 
Tage nach deren Beginn; 

f) während der Krankheit war eine harnsaure Diathese 
constatirbar, die mit der Besserung des psychischen Zustandes 
schwand; 

g) nach der Wiederherstellung des Patienten stellte sich 
eine Amnesie, die ganze siebzehntägige Krankheitszeit um¬ 
fassend, heraus; 

h) ausser dieser Amnesie lassen andere Daten darauf 
schliessen, dass auch eine Amnesie für alles vorhanden war, 
was dem Unglücksfalle vorausgegangen war und noch in die 
Gesundheitsperiode Gr.’s hineinreichte, also Zeichen einer retro- 
spectiven Amnesie. 

Die psychischen Störungen in Folge von Kohlenoxydvergif¬ 
tung sind von sehr vielen Autoren beschrieben und äussern 
sich in mannigfaltiger Form. So sah Eulenberg 1 ) als Folge 
davon eine Mania transitoria. Legrain 2 ) erwähnt einen von 
Charcot beobachteten Fall von Neurasthenie und verschiedene 
Störungen des Intellectes (Lancereaux). Rudolf Gnauck 3 ) be¬ 
schreibt einen schweren Fall von primärer Verrücktheit mit 
rechtsseitiger Facialisparese als Begleiterscheinung. Die Mehr¬ 
zahl der sich entwickelnden Psychosen ist in die Rubrik Amenz 
in allen möglichen Erscheinungsformen einzureihen. Raffugeau, 
Boucheron 4 ) beschrieben zwei Fälle von Dementia acuta mit 
Ausgang in Genesung. Th. Simon 5 ) erwähnt eines gleichen 

*) Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen Gasen. S. 41, 121. 

2 ) Legrain, Etüde sur les prisons de l’intelligence. Annales medico-psy- 
eliol. 1891 und 1892. 

3 ) Rud. Gnauck, Casuistische Mittheilungen. Charite-Annalen. Berlin 
1883; S. 402 bis 409. 

4 ) Citat nach Legrain, 1. c. 

5 ) Th. Simon, Encephalomalacie nach Eohlendunstvergiftung. Arch. für 
Psychiatr., Bd. I, S. 263. 


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Dementia acuta in Folge von Gaz pauvre-Vergiftung. 


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Falles, welcher lethal endete und dessen Interesse darin lag, 
dass im Laufe von zehn Tagen eine lucide Zwischenzeit be¬ 
stand, nach welcher erst die Psychose ausbrach. Huchzen- 
mayer 1 ) beschreibt als Folge von Kohlenoxydvergiftung einen 
Fall von acuter Demenz, die sich zum zehnten Krankheitstage 
besserte, sodann aber am achtzehnten Tage vollständig neu wieder 
recidivirte. Einen länger verlaufenden Fall, in welchem Ge¬ 
nesung erst nach einigen Monaten eintrat, haben wir von 
Röchelt. 2 ) Endlich sind unheilbare Fälle von Schwachsinn von 
Oppol zer 3 ) und Barthelemy et Magnan 4 ) beschrieben. Auch 
unser Fall gehört in die Kategorie der Dementia acuta, unter¬ 
scheidet sich aber durch einige Eigenthümlichkeiten, welche 
sowohl die Pathogenese als auch den klinischen Verlauf betreffen. 
Obgleich er ohne Zweifel in die Reihe jener Geistesstörungen 
gehört, welche in Folge von Kohlenoxydvergiftung entstehen, ist 
er doch der erste in der Literatur, welcher als Resultat des 
unaufhaltsamen Fortschrittes der technischen Betriebsthätigkeit 
aufzufassen ist. Andererseits trägt er noch einige Eigenheiten im 
klinischen Verlaufe an sich, denen ich in der mir zugänglichen 
Literatur nicht habe begegnen können und welche in einer vor¬ 
übergehenden Parese des N. facialis und in der retrospectiven 
Amnesie bestehen. Wir wiesen freilich oben auf einen Fall von 
Rud. Gnauck hin, in welchem rechtsseitige Facialisparese aus¬ 
geprägt war, doch hielt dieselbe hier längere Zeit an und war 
mit schweren psychischen Symptomen vereint. 

Was die obenerwähnte retrospective Amuesie betrifft, so 
fanden wir von einer solchen nirgends eine Andeutung. Die 
retrospective Amnesie ist in der Literatur bei Selbsterhängungs- 
versuchen beschrieben. Am ausführlichsten ist das Material über 
die klinischen Erscheinungen seitens des Centralnervensystems 
nach Wiederbelebung Erhängter von Wagner 5 ) zusammen- 


') Huchzenmayer, Ueber Kohlendunstvergiftung. Dissert. Berlin 1868. 

2 ) Röchelt, Zur Casuistik der Leuchtgasvergiftung. Wiener Med. Presse 
1875, Nr. 49. 

3 ) Oppolzer, Prager Vierteljahrschrift, Bd. XXII, 1879, S. 103. 

*) Barthelemy et Magnan, Indoxication parles vapeurs de charbon. 
Annales d’Hygiene 1881, 2 Serie, Nr. 35. 

5 ) Wagner, Ueber einige Erscheinungen im Bereiche des Centralnerven¬ 
systems u. s. w. Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. VI, H. 3, 1889, S. 313 bis 332. 


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Dr. Leo Finkeistein. 


gestellt. Von siebzehn von demselben Autor zusammengestellten 
Fällen von Psychosen nach Selbsterhängungsversuchen zeigten 
drei unzweifelhaft Zeichen der retrospectiven Amnesie, ln der 
russischen Literatur ist ausserdem ein derartiger Fall noch von 
Dr. J. A. Butakow 1 ) beschrieben. Freilich findet sich genannte 
Erscheinung auch als Symptom bei Commotio cerebri, doch 
muss bei unserem Patienten eine Commotio cerebri vollständig 
ausgeschlossen werden. 

Ich gehe nicht auf die Darstellung der pathologisch-ana¬ 
tomischen Veränderungen ein, welche in dem oben beschriebenen 
Falle sich eingestellt haben könnten. Mögen dieselben in einer 
sich schnell ausgleichenden oder zu degenerativer Atrophie 
führenden Ernährungsstörung der nervösen Rindenelemente oder 
in irgend welchen anderen Veränderungen bestehen, so sind 
das sämmtlich wohl theoretisch interessante, aber selbst sogar 
einer experimentellen Untersuchung schwer zugängliche Fragen. 2 ) 
Für uns ist vorläufig das Factum von Wichtigkeit, dass die 
klinische Casuistik derartiger Geistesstörungen uns das Ver¬ 
giftungsbild nach Kohlenoxydeinathmung den Folgeerscheinungen 
nach mechanischer Verlegung der Luftwege annähern lehrt und 
auf diese Weise die physiologische Analyse der entsprechenden 
Vergiftungserscheinungen bestätigt, welche ihrerzeit Nokrovski 
und Traube ausgeführt haben. 


*) Dr. J. A. Butakow, Wjestnik klin i sudebn. psichiatr. 1890, H. 2, S. 135 
(russisch). 

2 ) Dr. W. N. Chardin, Ueber Erkrankungen nach Kohlenoxydvergiftung. 
Diss. Petersburg (russisch). 


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Referate. 


Emil Kräpelin. Psychologische Arbeiten. Erster Band, 

2. u. 3. Heft. Leipzig. 1895. Verlag von Wilhelm Engel mann. 

Das vorliegende Doppelheft bringt zunächst eine ausführliche 
Arbeit von Gustav Aschaffenburg: Experimentelle Studien 
über Associationen. Verf. gibt nach kurzer Schilderung der be¬ 
treffenden Methoden eine Eintheilung der Associationen überhaupt, 
schildert die Ergebnisse der auf Grund dieser Eintheilung ange- 
stellten Versuche, und zwar der sogenannten Normalversuche an Indi¬ 
viduen, welche den Einflüssen von Ermüdung, Ueberarbeitung, von 
Thee, Kaffee, Alkohol und Nicotin entzogen waren. Als Methoden 
sind namhaft gemacht jene des fortlaufenden Niederschreibens im 
Anschlüsse an ein gegebenes Stichwort, wobei neben der Associa¬ 
tionsform auch auf Anzahl der innerhalb einer gewissen Zeit ange¬ 
reihten Worte Bedacht genommen wird; es schliessen sich daran 
weiters Versuche ohne Zeitmessungen, wobei die betheiligten Per¬ 
sonen, denen 100 zweisilbige Worte laut zugerufen werden, sofort 
das betreffende Wort niederschreiben; dann Versuche mit Zeit¬ 
messungen, wobei theils zweisilbige, theils einsilbige Beizworte in 
Anwendung kommen. 

Wir können hier nicht auf die Details der bezüglichen Ex¬ 
perimente eingeben. Die Besultate derselben sind wesentlich in 
folgende Punkte zusammengefasst: 

1. Die Beziehungen der Vorstellungen nach associätiver Ver¬ 
wandtschaft und associativer Uebung (innere und äussere Associa¬ 
tionen) erklären nicht die Bildung aller Associationen; eine Gruppe 
lässt inhaltliche Beziehungen zum Beizworte nicht erkennen. 2. ln 
einzelnen Fällen kann sich die Association an das Beizwort durch 
Vermittelung eines nur unklar oder erst nachträglich bemerkten 
Zwischengliedes anschliessen. 3. Die einzelnen Unterarten der Asso¬ 
ciationen lassen fliessende Uebergänge erkennen. 4, Die äusseren 
Associationen überwiegen an Zahl meist gegenüber den inneren, 
sie zeigen durchschnittlich auch kürzere Dauer. 5. Die Methode des 

Jahrbücher f. Paychi&trie und Neurologie. XV. Bd. 0 


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Referate. 


fortlaufenden Niederscbreibens gibt Anhaltspunkte für die individuell 
verschiedene Neigung zur Associirung nach Coexistenz. 6. Die mit 
dieser Methode gewonnenen Eeihen pflegen nur selten durch 
äussere oder innere Störungen unterbrochen zu werden. 7. Das 
Vorkommen nicht sinnentsprechender Associationen in grösserer 
Zahl lässt auf ungünstige Versuchsbedingungen schliessen; bei Vor¬ 
herrschen von Klangassociationen bestand fast immer ein Zustand 
von Ueberarbeitung und gibt die grössere oder geringere Häufigkeit 
dieser Associationsform wichtigen Aufschluss über den Gesammt- 
zustand. 8. Zuweilen wurden die verschiedenen Reizworte in einer 
Versuchsreihe mit dem gleichen Reactionswort beantwortet; die 
Anzahl der wechselnden Worte lässt Schlüsse auf die geistige Erreg¬ 
barkeit zu. 9. Die Dauer des Associationsvorganges beruht wesentlich 
auf persönlichen Eigenthümlichkeiten. 10. Die Neigung verschiedener 
Individuen, in dieser oder jener grammatischen Sprechform zu 
associiren, ist eine stehende Eigenschaft der einzelnen Personen. 
11. Die mehr minder ausgedehnte Betheiligung der Einzelnen an 
den gemeinsamen Associationen gibt einen Anhaltspunkt für die 
Beurtheilung der geringeren oder grösseren Eigenartigkeit seiner 
Gedankenverbindungen. 

Einem weiteren, interessanten Thema: „Ueber den Ein¬ 
fluss von Arbeitspausen auf die geistige Leistungs¬ 
fähigkeit” ist die experimentelle Studie von Emil Amberg 
gewidmet. Derselbe bediente sich hierbei der fortlaufenden Ar¬ 
beitsmethode, besonders des Addirens und Lesens. Die betref¬ 
fenden Versuche haben ergeben, dass Pausen von verschiedener 
Länge nicht nur eine gradweise, sondern eine grundsätzlich ver¬ 
schiedene Einwirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit entfalten 
und dass die Art und Ausgiebigkeit dieser Wirkung wesentlich 
durch die Dauer und die Art der geleisteten Arbeit beeinflusst 
werden. 

Pausen von gleicher Grösse wirken bei lange fortgesetzter 
Arbeit günstig, bei kurz dauernder Thätigkeit ungünstig; die 
Wirkung der Pause hängt wesentlich ab von dem Zustande, in 
welchem sich der Arbeitende in den verschiedenen Abschnitten 
seiner Thätigkeit befindet; sie gestaltet sich um so günstiger, je 
höher der Grad der Ermüdung ist, den wir durch Dauer und Art 
der Arbeitsleistung erwarten dürfen. Die Versuche haben auch er¬ 
geben, dass unter gewissen Umständen die Pausen nicht nur 
keinen Nutzen bringen, sondern im Gegentheile für die Gestaltung 
der Arbeitsleistung geradezu schädlich sich erweisen, was zur An¬ 
nahme drängt, dass während der Arbeit unabhängig von der 
Uebungswirkung Einflüsse sich entwickeln, die eine bedeutende 
Steigerung der Leistungsfähigkeit bedingen, nach dem Aufhören 
der Thätigkeit jedoch ungemein rasch wieder verschwinden. Nach 
der Anschauung des Verf.’s handelt es sich hierbei um die wichtige 


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Referate. 


131 


Rolle der „Anregung” im psychophysischen Mechanismus, die 
er mit der Arbeitserleichterung einer einmal in Gang gesetzten 
Maschine vergleicht. Verf. knüpft in seinen Deductionen noch an 
die täglichen Erfahrungen von der nach Umständen sehr ver¬ 
schiedenen Wirkung der Arbeitsunterbrechung, die bald als Er¬ 
holung, bald als Störung und Beeinträchtigung der Leistungs¬ 
fähigkeit sich geltend machen kann. 

Den Abschluss des Heftes bildet eine Abhandlung von August 
Hoch und Emil Kräpelin: „Ueber die Wirkung der Thee- 
bestandtheile auf körperliche und geistige Arbeit”. Diese 
in ihren Details sehr lehrreiche Arbeit gipfelt in folgenden Schluss¬ 
sätzen: 1. In der Ergographencurve wird die Hubzahl mehr durch 
den Zustand des Nervensystems, die Hubgrösse mehr durch den¬ 
jenigen des Muskels beeinflusst. 2. Die psychische Disposition, wie die 
Uebung verändert namentlich die Hubzahl, die Muskelermüdung 
und die Nahrungsaufnahme mehr die Hubgrösse. 3. Die Beziehungen 
zwischen Hubzahl und Hubgrösse sind der Ausdruck persönlicher 
Eigenthümlichkeiten. 4. Uebungsfähigkeit und Ermüdbarkeit stehen 
in nahen Abhängigkeitsbeziehungen voneinander; sie sind wahr¬ 
scheinlich Ausfluss einer gemeinsamen Ursache, einer allgemeinen 
Eigenschaft unseres Nervengewebes. 5. Die Anregung im Sinne 
Amberg’s hat einen wesentlichen Antheil an der Gestaltung unserer 
Tagesdisposition. 6. Die Schwankungen der Leistungsfähigkeit im 
Laufe des Tages sind andere für den Muskel als für das cen¬ 
trale Nervensystem. 7. Das Versagen der Muskelleistung am Schlüsse 
der Ermüdungscurve ist die Folge einer Reflexhemmung durch die 
bei der Muskelarbeit gebildeten Zerfallsstoffe. 8. Das Coffein be¬ 
wirkt eine erhebliche Steigerung der Muskelarbeit, die mit einer 
Zunahme der Hubgrösse einhergeht und auf eine unmittelbare 
Beeinflussung des Muskelgewebes zu beziehen ist. 9. Der Ablauf 
gewohnheitsmässiger Associationen wird durch das Coffein erleichtert. 
10. Die Wirkung des Paraguaythees beruht wesentlich auf seinem 
Coffeingehalt. 11. Die ätherischen Oele des Thees erzeugen eine 
Erleichterung der assoeiativen Vorgänge und eine mässige Er¬ 
schwerung in der centralen Auslösung von Bewegungsantrieben. 
Auf diesen Wirkungen beruht wahrscheinlich die Euphorie nach 
Theegenuss. F. 

L. v. Frankl-Hochwart. Der Meniere’sche Symptomencomplex. 
Die Erkrankungen des inneren Ohres. In „Specielle Pathologie 
und Therapie” herausgegeben von H. Nothnagel. XI, 2, HI, 
Wien 1895. 8°. 122 Seiten. 

Im vorliegenden Bande des Nothnagel’schen Handbuches 
sind zwei voneinander vollständig getrennte Abschnitte enthalten. 

Der erste Abschnitt, die Abhandlung über den Meniere’schen 
Symptomencomplex, ist die umfassendste und eingehendste Arbeit, 
ja überhaupt die erste wirkliche Monographie, die über diesen 

9 * 


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132 


Referate. 


schwierigen Gegenstand erschien. Der Verf. geht in der Termino¬ 
logie und der Darstellung des Stoffes vom rein klinischen Stand¬ 
punkte aus. 

Als „Meniere’sche Symptome” wird das Zusammenvor¬ 
kommen von Schwerhörigkeit, Schwindel, Erbrechen und 
Ohrensausen bezeichnet. Gleichbedeutend ist: „Vertigo ab aure 
laesa, Vertigo auralis.” Auf Grund der klinischen Erfahrungen 
werden nun die Fälle zusammengestellt, bei welchen sich jene Reihe 
von Erscheinungen findet. So ergeben sich folgende empirische 
Gruppen: 

I. Plötzlicher Beginn bei bisher intactem Gehörorgan. 

1. Die apoplectische Form Meniere (die classische Ma¬ 
nier e’sche Krankheit). 

2. Die traumatische Form unmittelbar nach dem Unfälle 
einsetzend. 

II. Auftretende Erscheinungen bei erkranktem Gehörorgan. 

1. Bei Mittelohrerkrankungen. 

2. Bei Labyrinthaffectionen. 

3. Bei Erkrankungen im äusseren Gehörorgane. 

4. Bei Erkrankungen des Acusticus, 
a) Isolirt bei Tabes, 

ß ) als Theilerscheinungen von Gehirnerkrankungen (Tu¬ 
moren etc.). 

III. Durch äussere Eingriffe erzeugt (Ohrausspritzung, Luft- 

douche, Kopfgalvanisation u. s. w.). 

IV. „Pseudo-Meniere’sche Anfälle”, anfallweises Auftreten von 
Schwindel, Erbrechen und Ohrensausen bei intactem Ohre als Aus¬ 
druck bestehender Neurosen (Hysterie, Epilepsie, Migräne). 

An der Hand der Literatur und zahlreicher eigener Beobach¬ 
tungen werden die einzelnen Krankheitsbilder eingehend geschildert 
und die Symptomatologie eingehend besprochen. 

Hierauf geht der Verf. auf die Pathogenese der Symptome 
ein. Es werden einerseits genau und mit sorgfältiger Kritik die vor¬ 
liegenden Sectionsbefunde erörtert, andererseits die physiologischen 
Thatsachen über die Function des inneren Ohres vorgeführt. Die 
Darstellung zeigt mit zwingender Logik, dass wir noch nicht im 
Stande sind, vollständig zu erklären, wie der Symptomencomplex 
entsteht. Für die apoplectische Form erscheint die Annahme 
Meniere’s von einer Erkrankung des Labyrinthes am wahrschein¬ 
lichsten, aber strenge beweisen lässt sie sich vorderhand noch 
nicht. Es dürfte wohl eine Läsion der Schnecke und der Bogen¬ 
gänge nöthig sein, um das Bild hervorzurufen. Läsionen der Schnecke 


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Referate. 


133 


machen das Ausfallssymptom der Taubheit, Läsionen der Bogen¬ 
gänge Schwindel und Augenmuskelstörungen, wohin das Ohren¬ 
sausen zu verlegen ist, dafür können nicht einmal Hypothesen vor¬ 
gebracht werden. Bei den chronischen Formen kann die Taub¬ 
heit alle möglichen Ursachen haben (Mittelobr, Schnecke, Nervus 
acusticus). Bei einzelnen Sectionen erwiesen sich die Bogengänge 
als erkrankt. Dort, wo sie frei sind, ist wohl die Meinung, dass es 
sich um reflectorische Erregung der Bogengaugsnerven handelt, nicht 
abzuweisen. Was die Localisation der „Pseudo-Menifer e’schen” An¬ 
fälle betrifft, lässt sich nur eine Hypothese aufstellen. Es drängt 
sich die Ansicht auf, dass eine Neurose des Labyrinthes vorliege, 
beweisen lässt sich die Sache natürlich nicht. 

In sehr sorgfältiger Weise wird die Diagnose erörtert, na¬ 
mentlich nach den reichen Erfahrungen des Verfassers auch auf 
die Unterscheidung von den ähnlichen („Pseudo-Menifere’schen”) 
Zuständen bei Hysterie und Epilepsie Rücksicht genommen. 

Prognose und Therapie werden dann kurz besprochen. Be¬ 
züglich der Anwendung des Chinins verhält sich der Verf. sehr 
reservirt. 

Wenn in einem Handbuche der gegenwärtige Stand des 
Wissens auf einem Gebiete dargestellt werden soll, so ist es ebenso 
wünschenswert!^ dass die Grenzen gegen das, was man heute 
nicht weiss, möglichst scharf gezogen werden. Auf dieser Er¬ 
kenntnis beruht ja jeder Fortschritt und jeder Anreiz zu neuer 
Beobachtung und Forschungsarbeit. Wenn man darauf hin das vor¬ 
liegende Buch betrachtet, so muss man sagen, dass es beiden Rück¬ 
sichten in ausgezeichneter Weise gerecht wird; der ersten durch 
klare und übersichtliche Darstellung, der zweiten durch unerbittlich 
scharfe Kritik, die keinen Widerspruch verschleiert und alle Theorien 
bis auf ihre letzte Begründung prüft. 

Der zweite Theil des Baches gibt eine kurze und prägnante 
TJebersicbt der Krankheiten des schallempfindenden Apparates. 
Ausführlich sind die für den Neurologen wichtigen Untersuchungs- 
metboden und die allgemeine Symptomatologie besprochen, mehr 
schematisch, aber in grösster Vollständigkeit, die Thatsachen zu¬ 
sammengestellt, welche die Hörstörungen bei den einzelnen Er¬ 
krankungen des Labyrinthes, des Acusticus und der Gentralorgane 
betreffen. Interessantes und zum Theile Neues wird über Hör¬ 
störungen bei Neurosen, namentlich Hysterie, gebracht. Stg. 

Die Geisteskranken in England. 

Dem Verf. dieser Zeilen liegt der officielle 45. Rapport der 
Irrencommissäre Englands — ein stattliches Buch von über 400 
Druckseiten, überdies eine Reihe statistischer Tabellen enthaltend, 
herausgegeben zur Information des Unterhauses — vor und dürfte 
der Inhalt desselben auch unsere Fachkreise interessiren, da bei 


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134 


Referate. 


uns ein ähnlicher alljährlicher Bericht über alle Irrenanstalten des 
Reiches nicht erscheint. 

ln England wurden am 1. Januar 1895 94.081 Personen als 
geisteskrank und idiotisch in den verschiedenen Anstalten des 
Reiches registrirt, und zwar war dies die höchste bisher erreichte 
Ziffer; sie übersteigt die des vorhergehenden Jahres noch um 2014. 

Von diesen 94.081 psychisch nicht gesunden in Anstalten 
untergebrachten Personen waren 8250 zahlende, 85.089 arme und 
742 verbrecherische Irre (Tabelle I). 

Wie gross in England die Zunahme der Geistesstörungen in 
den letzten 36 Jahren war, geht aus folgenden Zahlen hervor: 

Im Jahre 1859 gab es in England 36.732 
„ „ 1869 „ * „ „ 53.177 

* „ 1879 „ „ * „ 69.885 

„ „ 1889 „ „ „ „ 84.340 

und endlich „ „ 1895 „ „ „ „ 94.081 als „geistes¬ 

krank” gezählte Personen, es hat sich sohin in 36 Jahren die Zahl 
der in England in Anstalten untergebrachten Geisteskranken fast ver¬ 
dreifacht, während die Bevölkerungszahl in derselben Zeit nur von 
19 auf 30 Millionen gestiegen war, sich also kaum verdoppelt hatte. 

Das Verhältniss der Aufnahmen in den verschiedenen An¬ 
stalten des Reiches, zur Zahl 10.000 gesunder Einwohner, stieg 
von 4*71 1869 bis auf 5*88 im Jahre 1895 (Tabelle III). 

Die Gesammtsumme aller Armen, Gesunden, betrug 1859 
862.078, davon waren damals 31.782, d. i. 3*68 Procent geistes¬ 
krank. Im Jahre 1895 betrug die Zahl der gesunden Armen 
827.759, davon waren 85.089, d. i. 10*28 Procent geistes¬ 
krank. Es drückt sich auch in dieser Tabelle (IV) die kolossale 
Zunahme der psychischen Störungen sogar bei einer Abnahme der 
Armen, 1859 waren 4*37 Procent der Gesammtbevölkerung als arm 
gezählt, 1895 nur 2*72 Procent, deutlich aus. Das Verhältniss der 
Todesfälle, welches in den Jahren 1859 bis 1868 10*31 Procent 
im Mittel der Anstaltsbevölkerung betrug, besserte sich auf 9*55 
Procent in der Dekade 1879 bis 1888 und betrug für die letzten 
6 Jahre im Mittel 9*78 Procent (Tabelle VII u. VIII). 

Unter den in den Tabellen XXIV und XXV angeführten Ur¬ 
sachen der in den letzten 5 Jahren vorgekommenen Erkrankungen ragte 
vor allem die Heredidät mit 21*1 Procent bei den Männern, 25*4 
Procent bei den Frauen hervor. Dieser nahe kommt die Trunk¬ 
sucht mit 20*8 Procent bei den Männern; alle anderen Ursachen, 
die Engländer theilen sie in moralische und physische, ja sogar 
die Fälle von unbekannten Ursachen, erreichen nicht annähernd 
obigen Procentsatz. 

Mr. W. J. Corbet, welcher in den Fortnightly Review 
(März 1896) die jährlichen Berichte der Irrencommissäre kritisch 
bespricht, constatirt auch die aus all diesen Berichten als Haupt- 


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Referate. 


135 


Ursache hervorgehende Heredität und sagt am Schlüsse seiner 
äusserst interessanten Arbeit: „Fünfzehntausend Kranke werden 
jährlich aus den Irrenanstalten der drei Königreiche entlassen, die 
meisten von ihnen als geheilt, Andere nicht so bezeichnet Sie gehen 
hinaus in die Welt, viele von ihnen die Species zu verewigen und 
eine geisteskranke Nachkommenschaft zu erzeugen.” In allen civi- 
lisirten Ländern müssen, bei der sich beständig vermehrenden Zahl 
der Aufnahmen, viele nicht immer vollständig Geheilte, auch 
Geisteskranke aus den Anstalten entlassen werden; wie soll man 
verhindern, dass sie sich fortpflanzen? 

Die guten und schlechten Einrichtungen der 155 englischen 
Anstalten, die in denselben im vergangenen Jahre vorgekommenen 
14 Selbstmorde, die mehrfach vorgekommenen schweren Ver¬ 
letzungen von Anstaltsleitern durch Pfleglinge, den Tod eines Kranken, 
der in der Beschränkung starb etc. etc., zu besprechen, würde viel 
zu weit führen. Nicht unerwähnt kann aber schliesslich gelassen 
werden, dass ni^r 50 Anstalten unter den 155 absolut keinen 
mechanischen Zwang anwenden. „Die trockene Packung (Dry pack) 
wird nur mehr in drei, die nasse Packung (wet pack) in 24 An¬ 
stalten verwendet, in den meisten übrigen Anstalten ist die An¬ 
wendung des Restraint eine sehr geringe und zwar werden durch¬ 
schnittlich noch gebraucht: Die Zwangsjacke, Handschuhe und 
gelegentlich Gürtel und Armschnallen.” Wenn nun auch (Anhang C) 
durch den Vorstand der Irrencommissäre im vorigen Jahre eine 
Reihe ganz zweckmässiger Verordnungen für die einzuscbränkende 
Anwendung des Restraint erlassen wurden, muss doch die Thatsache 
uns seltsam berühren zu erfahren, dass in dem Lande, aus welchem 
das Non-Restraint (und dasselbe galt jahrelang als Dogma in der 
Irrenbehandlung Oesterreichs) vor ungefähr 30 Jahren bei uns ein¬ 
geführt wurde, heute noch das Restraint, wenn auch in sehr ge¬ 
milderter Form, in über hundert Anstalten angewendet wird. 

Schlangenhausen. 

P. J. Möbius. Neurologische Beiträge. 1. bis 4. Heft. Verlag 
von Ambr. Abel (Arthur Meiner) in Leipzig. 

In einer dankenswerten Zusammenstellung hat der um die 
Neurologie wohlverdiente Autor seine vielfach verstreuten Arbeiten 
gesammelt; sie gestattet einen vollen Einblick in seine Leistungen 
und ist geeignet, das Verständniss des Autors dem lesenden Publi¬ 
cum wesentlich zu fördern. Verf. hat übrigens seiner Stellungnahme 
gegenüber principiellen Fragen der wissenschaftlichen Forschung 
auf neurologischem Gebiete mit aller Klarheit und Schärfe gekenn¬ 
zeichnet; er stellt sich durchaus auf klinischen Boden; er schätzt 
auch die verdienstlichen Leistungen der auf anderen einschlägigen 
Arbeitsgebieten massgebenden Autoren, ohne indes ihren ein Ver¬ 
ständniss klinischer Erscheinungen anstrebenden Deductionen, die 
freilich vielfach hypothetischer Natur sind, schlechtweg zu folgen. 


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136 


Referate. 


Mit unverkennbarer Originalität und unleugbarem kritischen Talent 
ausgestattet, weiss Verf. seine einzelnen Abhandlungen nach Form 
und Inhalt interessant auszugestalten und bringen die vier umfang¬ 
reichen Hefte eine ansehnliche Fülle von Einzelarbeiten und sehr 
beachtenswerthem klinischen Detail. Neben schon bekannten Ab¬ 
handlungen und kritischen Erörterungen zumeist psychologischer Art 
findet sich darin viel Neues und Wissenswertes; hervorgehoben 
seien daraus die Bemerkungen über Neurasthenie, die ausser 
theoretischen Auseinandersetzungen zur Klärung des Begriffes auch 
mancherlei, auf reicher Erfahrung fussende praktische Winke ent¬ 
halten und ein alphabetisches Verzeichniss der einschlägigen Lite¬ 
ratur als Abschluss bieten; weiters die das ganze 3. Heft füllenden, 
höchst instructiven Abhandlungen „zur Lehre von der Tabes”, 
an deren Spitze das mit besonderer Sorgfalt und Hingebung be¬ 
arbeitete Capitel über den historischen Entwickelungsgang der 
Aetiologie der Tabes, über die besonderen Beziehungen derselben 
zur Syphilis gestellt ist, dem casuistische Beiträge über Tabes bei 
Weibern und über einzelne seltenere Vorkommnisse im Symptomen- 
complex der Tabes angereiht werden. — Auch das 4. Heft, das Ab¬ 
handlungen über verschiedene Formen der Neuritis und über 
verschiedene Augenmuskelstörungen enthält, wird durch 
seinen reichen Inhalt an belehrendem und klinisch eingehend ver¬ 
arbeitetem Materiale dem Fachmanne sehr willkommen sein, wie denn 
überhaupt die ganze Sammlung von Möbius’ neurologischen Beiträgen 
als eine ergiebige Fundgrube fein beobachteter und kritisch be¬ 
leuchteter klinischer Thatsachen von den Neurologen mit Freuden 
begrtisst werden wird. F. 


K. u. k. Hofbuchdruckerei Carl Fromme in Wien. 


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Zwei Geschwülste der Brücke mul des verlängerten 

Markes. 

Von 

Dr. Ernst Bischoff, 

gewes. Assistent Ger Neuropsychiatriseheu Klinik in Graz. 

Es wurde schon oft betont, dass wegen der Seltenheit von 
Erkrankungen der Brücke und des verlängerten Markes jeder 
uncomplicirte Fall einer Untersuchung unterzogen werden soll. 
Der Umstand, dass Blutungen und Erweichungen zumeist so 
rasch zum Tode führen, dass eine Sonderung der Herdsymptome 
von den Fernwirkungen nicht durchgeführt werden kann, lenkt 
die Aufmerksamkeit auf jene Erkrankungen, welche wegen 
ihrer meist grösseren Ausdehnung zwar für die Prüfung ein¬ 
zelner Fragen ungünstige Verhältnisse bieten, wegen des 
chronischen Verlaufes aber der klinischen Untersuchung und 
Heraushebung der Localsymptome viel zugänglicher sind. Je 
langsamer eine Geschwulst wächst, desto weniger Fernwirkungen 
kann man von ihr erwarten. Die Gliome entsprechen dieser 
Bedingung. Ja, ausser diesem Mangel einer schädigenden Be¬ 
einflussung benachbarter Gewebe findet mau auch innerhalb 
der Geschwulst die Functionsfähigkeit der Nervensubstanz oft 
lange erhalten, was für die Beurtheilung der Fälle ein er¬ 
schwerender Umstand ist. Wenn man aber dieser Thatsache 
rechnungtragend die Untersuchung gewissenhaft durchführt, 
gelangt man doch zu vielen sicheren und werthvollen Ergeb¬ 
nissen. 

Die hier mitgetheilten Fälle sind: 

I. Diffuses Gliom des Pons und der Medulla oblon- 
gata, Syringomyelie des unteren Cervicalmarkes, 
Augenmuskelstörungen, Kaumuskellähmung, gekreuzte 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 10 


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Dr. Ernst Bisehoff. 


Hemiplegie, Taubheit, SensibilitätsstöruDgen, Ataxie. 
Intelligenzschwäche. 

II. Sarkomatöse Geschwulst des Pons und der 
Medulla oblongata. Conjugirte Blicklähmung nach 
beiden Seiten, Facialislähmung und gekreuzte Ex¬ 
tremitätenparese, Hemianästhesie mit Einschluss des 
Gesichtes, Ataxie der paretischen und anästhetischen 
Extremitäten, Vagusaffection, Taubheit, Schwindel, 
Romberg’sches Phänomen. 

1. Neurat Heinrich, 35 Jahre, mosaisch, verheiratet, 
Hausirer aus Ungarn, aufgenommen am 19. Juni 1888 (Journ.- 
Nr. 12.271). Entlassen am 7. August. 

Anamnese: Patient leidet schon seit zwölf Jahren an 
schiessenden Schmerzen in den Beinen, in früheren Jahren von 
der Inguinalgegend zum Kniegelenke ausstrahlend, später vom 
Kreuzbein ausgehend. Die Schmerzen machten aber 8 bis 14 Tage 
Pausen und waren erträglich; an kalten Tagen schlechter. 

Im Sommer 1887 erkrankten die Kinder, worüber er in 
Schreck und Erregung gerieth. Kurze Zeit darauf bemerkte er, 
dass er am linken Auge schlechter sehe, als ob ein Faden 
oder ein Haar darin läge, so dass er beständig daran wischen 
musste. Damals empfand er mitunter Schwindel, besonders 
wenn er nach links schaute. Im Winter 1887 ermüdete ihm 
auffallend und rasch das linke Bein und wurde merklich 
schwächer. Vor vier Monaten bemerkte die Umgebung, dass das 
linke Gesicht viel schlaffer sei. Diese Erscheinungen nahmen 
seither zu und er leidet schon seit vielen Wochen an Einge¬ 
nommenheit des Kopfes. Vor sechs Wochen ging auch das 
rechte Bein schlechter. 

Gleichzeitig litt er auch an Schmerzen und Spannung 
vom Halse bis zum linken Schultergelenke. Kurz darauf be¬ 
merkte er auch ein Ungeschick in der rechten Hand und 
ziehende Schmerzen zum rechten Schultergelenke hinauf. Seit 
gleicher Zeit bringe er auch die Worte nicht so gut hervor, 
das Sprechen gehe viel schwerer und er stosse mitunter mit 
der Zunge an den Zähnen an, rechts mehr als links. Beim 
Kauen werde er früher müde und er merke Schwierigkeit, die 
Speisen aus dem Munde in den Schlund zu bringen. Das 
Schlingen selbst gehe ungehindert. 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 139 


Sofort nach seinem hierortigen Eintritte war er stark in 
der Urinentleerung behindert, welches Symptom jedoch wieder 
vorüberging. 

Status praesens: Patient, gross, kräftig angelegt, von 
mittlerem Ernährungszustände. Die Haltung schlaff, zitternd, 
der Kopf nach rechts geneigt, Gesicht nach links gedreht. 
Schädel vollkommen symmetrisch, rund. Die linke Gesichts¬ 
hälfte viel schlaffer, die linke Lidspalte weiter geöffnet, die 
Falten der linken Gesichtshälfte sämmtlich verstrichen; das 
gilt auch für die oberen Stirnfalten. Beim Versuche, die Augen 
zu schliessen, bleibt ein beträchtliches Segment des linken 
Bulbus unbedeckt. Beim Zähnezeigen wird fast nur der rechte 
Mundwinkel gehoben.' 

Es bestehen bei normaler Blickrichtung vibrirende Be¬ 
wegungen des Bulbus um die Sehnervenaxe; sie werden viel 
deutlicher beim Blicke nach oben. Beim Blicke nach rechts er¬ 
folgen gleichsinnige horizontale Schwingungen der Bulbi; beim 
Versuche, links zu blicken, tritt der linke Bulbus nicht über 
die Mittellinie hinaus, er kann also nicht abducirt werden, 
währenddem der Rectus internus der rechten Seite forcirt 
den Bulbus nach innen dreht. 

An der gerade vorgestreckten Zunge werden linkerseits 
weder Schmerz- noch Tastempfindungen ausgelöst. Die vorge¬ 
nommenen Geschmacksproben constatiren, dass sowohl in den 
vorderen Zungenpartien, als auch am Zungengrunde Geschmacks- 
perceptionen beiderseits stattfinden. Linkerseits sind die Wahr¬ 
nehmungen nach Angabe des Patienten weniger intensiv 
als rechts. 

Der Augenspiegelbefund ist negativ, doch klagt Patient 
über nebelhaftes und undeutliches Sehen besonders nach links 
zu. Bei der Blickrichtung nach links treten lebhafte Schwindel¬ 
gefühle auf. 


2. Aufnahme 21. Februar 1889. 

23. Februar. Er wisse nicht, wann er das Spital verlassen 
habe; erst sagt er, vor sechs bis acht Wochen sei der Kopf¬ 
schmerz heftig gewesen, jetzt sei der Kopf frei; nach einer 
Weile theilt er mit, der Kopf sei immer eingenommen, er 

10 * 


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140 


Dr. Ernst Biscboff. 


schmerze überall und nirgends; er greift auch mit der linken 
Hand daran. Er klagt über seine schlechte Sprache, wenn er 
sprechen wolle, komme alles „von unten herauf’, seit sechs bis 
sieben Wochen könne er nicht mehr gehen. Er sei zu Hause 
im Anschlüsse an einen Traum durch mehrere Tage bewusstlos 
gewesen, daher rühre die jetzige Verschlimmerung seines Zu¬ 
standes. Vor sechs Wochen sei die rechte Seite ganz plötzlich 
schwach geworden. Es sei dabei gewesen, als würde glühender 
Draht durch den rechten Arm und Bein gezogen. 

Jetzt sei ihm, als ob ihm vor langer Zeit etwas auf den 
Kopf gefallen wäre, oder darauf geschlagen worden sei, Schmerz 
empfinde er nicht. 

Patient nimmt meist die rechte Seitenlage ein, er klagt, 
wenn er links liege, empfinde er Kopfschmerz und Schmerzen 
in der linken Körperseite. Gesichtsfarbe blass, die Haut der 
rechten Gesichtshälfte leicht gedunsen, was besonders am oberen 
und unteren Lid deutlich. 

Die linke Masseterengegend erscheint stark einge¬ 
sunken, die linke Lidspalte etwas weiter als die rechte. Bei 
allen Bewegungen bleibt die linke Gesichtshälfte absolut 
regungslos, nur wird die Lidspalte bei Aufforderung, die 
Augen zu schliessen, etwas verkleinert; diese Starre besteht 
auch beim Weinen und Lachen. 

In der Ruhe erscheint der linke Bulbus etwas nach 
innen abgelenkt; die linke Pupille ist etwas weiter als die 
rechte, beide reagiren sehr gut auf Lichteinfall. An den Bulbi 
bemerkt man ab und zu leichte Dreh- und Seitenbewegungen. 
Beim Blicke nach links geht der linke Bulbus knapp bis zur 
Mittellinie, nicht darüber hinaus. Der rechte innere Corneai¬ 
ran d erreicht den inneren Lidwinkel nicht völlig. Beim Blicke 
nach rechts bleibt ebenfalls zwischen äusserem Lidwinkel und 
Cornealrand etwas weisse Sklera sichtbar; der linke Internus 
functionirt gut. Bei letzterer Bewegung steigert sich der 
Nystagmus wesentlich. Beim Blicke nach oben und unten 
keine Störung. Die Zunge weicht beim Hervorstrecken nach 
links ab. Der Kranke klagt, schlecht kauen und schlucken zu 
können; er verschlucke sich häufig. Vom linken Masseter 
ist fast gar nichts zu fühlen. Nur am Unterkieferansatz ein 
ganz dünner, schmaler Muskelbauch. Die rechten unteren 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 141 

Schneidezähne stehen etwas vor den oberen; beim Oeffnen des 
Mundes wird der Unterkiefer deutlich etwas nach links, beim 
Schliessen desselben nach rechts verzogen. 

Streichen der Haut mit einem Faden wird nicht em¬ 
pfunden: An der linken Stirnhälfte, am linken oberen, sowie 
am unteren Lid, bis zum oberen Rande des Jochbogens, an der 
linken Schläfe. Von da nach abwärts bis zur Höhe des Mund¬ 
winkels wird derselbe Reiz „wie ein ganz leiser Hauch” eben 
wahrgenommen (nicht jedesmal). Vom Mundwinkel nach abwärts 
ist die Perception noch deutlicher, doch immer noch schlechter 
als rechterseits. Auch linke Cornea und Sklera sind unter¬ 
empfindlich. Schon leise Stiche werden auch links im ganzen 
Gesichte wahrgenommen. Beim Stechen und Streichen der Zunge 
gibt Patient constant an, rechts besser zu empfinden. Tem¬ 
peraturen: Kalt in der linken Gesichtshälfte schlecht empfunden. 

Auf dem linken Ohre wird das Ticken der knapp ange¬ 
legten Uhr gar nicht gehört. Patient gibt an, das Gehör sei 
mit dem Fortschritte der Krankheit immer schlechter geworden. 

Geschmack: Salzig wird an der Zungenspitze beiderseits gut 
empfunden. Geruch: nichts Abnormes. 

Gaumensegel steht links deutlich tiefer, Uvula steht 
nach rechts; Gaumen hebt sich gut. Sprache schleppend, die 
Articulation öfters verschwommen. 

Rechte obere und untere Extremität sind fast völlig 
paralytisch, es kann nur ganz geringes Heben des Armes im 
Schulter- und des Beines im Hüftgelenke bewerkstelligt werden. 

Die Sensibilität erscheint nur an der rechten Hand ge¬ 
stört, wo Patient am Dorsum, an der Ulnarseite, leise Berührung 
nicht, Stechen an der ganzen Hand anders wahrnimmt als sonst 
am Körper. Es sei als steche man in eine todte Masse. Das 
Bein scheint nichts Abnormes bezüglich Sensibilität zu bieten. 
Lagevorstellung am linken Arm nicht wesentlich gestört. Die 
Bewegungen des linken Armes sind unsicher, beim Versuch, 
einen Gegenstand zu erfassen, greift Patient öfters vorbei, er¬ 
greift ihn erst nacheinigem ungeordneten Hin- und Herfahren. 

Patellarreflexe beiderseits sehr lebhaft. 

26. Februar. Somnolent. 

27. Februar. Nach Angabe der Frau litt Patient bis zum 
zwölften Jahre an Ohnmachtsanfällen. Im Jahre 1873 fiel er 


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Dr. Ernst Bisehoff. 


vom Stellwagen. Seit 1886 bemerkt die Frau, dass der Mund 
beim Lachen schief sei. Im August 1887 sei Patient an einem 
Tage zweimal wie ohnmächtig gewesen. Er begann plötzlich zu 
stottern, klagte über Luftmangel, er musste sich auf den Boden 
legen. Dann begann er zu schreien, ohne auf Fragen zu ant¬ 
worten. Der Zustand dauerte zehn Minuten. Er wusste danach 
nicht, dass er geschrien, hatte Kopfschmerz, Ueblichkeit. 

Seither sei die linke Hand schwächer gewesen, das 
linke Bein habe am Boden geschleift. 

Die rechtsseitige Schwäche habe sich seit seiner Entlassung 
progressiv entwickelt. Der Verstand habe erst seit einem halben 
Jahre abgenommen. Bis Mai 1888 ging er hausiren. 

28. Februar. Negativer Augenspiegelbefund (Dr. 
Dimmer). 

8. März. Meist somnolent. Rechter Handrücken und rechter 
Unterschenkel und Fuss empfinden leise Berührungen nicht. 

Beiderseits im Gesichte Zucken, bei Beklopfen der Muskeln 
jedoch links viel lebhafter. 

Auszug aus dem Sectionsprotokolle: Neurat.f 12.März, 
obducirt 13. März. Syringomyelia et glioma pontis; Peri- 
carditis haemorrhagica recens, Bronchitis catarrhalis capill., 
Endocarditis recens valvul. bicuspid. 

Aus dem Protokolle sind die nebensächlichen Dinge weg¬ 
gelassen. „Linke Pupille eng, rechte weit, der linke Masseter 
sehr schlaff, dementsprechend die linke Wange eingefallen, der 
rechte Masseter stark, über den knorpeligen Theilen der 
sechsten und siebenten Rippe links eine flache und unregel¬ 
mässig begrenzte, handflächengrosse weissliche Narbe 
in der Haut, aussen davon eine etwas kleinere weissliche 
Narbe. — Bronchien bis in die feineren Verzweigungen mit 
schleimig-eiterigem Secret gefüllt, im Herzbeutel ein Esslöffel 
einer stark getrübten, blutig gefärbten Flüssigkeit, Pericard 
injicirt und mit zahlreichen Hämorrhagien durchsetzt, an der 
Vorderfläche des rechten Ventrikels eine zarte Fibrinmembran, 
Bicuspidalis an ihrem Schlussrande mit einer Reihe sehr zarter 
graurother Excrescenzen besetzt. Hofrath Meynert’s Gehirn¬ 
befund: Gehirn an der Oberfläche blutarm, rechts breitere 
Furchen als links, ohne Abflachung der Windungen, in den 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


143 


Kammern eine mässig vermehrte Flüssigkeitsmenge, die beiden 
Hinterhörner verlängert, das rechte verwachsen, das linke eine 
kleine endständige Wiedereröffnung tragend. 

Pons namhaft verbreitert, hart anzufühlen, die 
Convexität links hervortretender, die Härte über den 
Brückenarm bis in das Kleinhirn verbreitert, in welchem 
sie durch die weiche Rinde markwärts durchzufühlen ist. Die 
linke Hälfte der Rautengrube breiter, im Ganzen nach hinten 
gewölbter, die plastische Felderung ausgeglättet. Durchschnitte 
durch den Pons zeigen seine Substanz als derbe weisse 
Masse, welche die Zeichnung erkennen lässt. Im Durch¬ 
schnitte durch die linken Brückenarme und das Kleinhirn findet 
sich das Marklager des Kleinhirns als derbe weisse Masse ge¬ 
schwellt, gegen welche die Marklager der Windungen nach 
hinten mässig einsinken. Vorne enthält der Brückenarm eine 
scharf begrenzte Substanz von dichtschleimiger Con- 
sistenZ. Die linke Hälfte der Oblongata derb, geschwellt, die 
Hervorragungen der Olive und des Strickkörpers unförmlich 
vergrössert (Glioma pontis). 

Rückenmarksbefund (Kolisko): Das Rückenmark in 
seinem Halstheile ganz platt, welche Abplattung im Dorsaltheile 
allmählich sich verliert, so dass das untere Brustmark und das 
Lendenmark wieder die normale äussere Form zeigen. Die 
zarten Häute allenthalben blutarm. Die Abplattung des Rücken¬ 
markes ist bedingt durch eine, die centrale Substanz betreffende, 
ziemlich mächtige Höhlenbildung, welche Höhle als ein 
(gefüllt gedacht) fast 1 Centimeter im Durchmesser haltender 
Canal das Halsmark durchsetzt und sich in das Dorsalmark 
enger werdend fortsetzt. Es nimmt die Höhle im Halsmark die 
Gegend der Commissur der grauen Substanz ein und setzt 
sich nur im Gebiete der linken hinteren Wurzel gegen die 
Peripherie fort, im Dorsalmark dagegen liegt die Höhle grössten- 
theils in der hinteren Wurzel. Auf den Querschnitten des 
Rückenmarkes zeigt sich die Abgrenzung der Höhle als ein fast 
1 Millimeter breiter Saum dichterer blassgrauer Substanz, der auf 
der Durchschnittsfläche in Folge seiner Dichtigkeit aus dem übrigen 
weichen, stark injicirten Gewebe des Rückenmarkes vorsteht. 

Die Besichtigung des in Müller’scher Flüssigkeit gehärteten 
Präparates ergibt Folgendes: 


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144 


1 >c. Knut liischoff. 


Da die Geschwulst grösstentlieils gegen das gesunde Ge¬ 
webe nicht scharf abgegrenzt werden kann, sind ihre Form und 
Ausdehnung nicht leicht zu bestimmen. Man findet die linke 
Hälfte der Medulla oblongata und des Pons nach allen Seiten 
gegenüber der Rechten vergrössert, ohne dass die Con- 
figuration bedeutend verändert wäre. Insbesondere ist der Boden 
des IV. Ventx-ikels nicht hervorgewölbt und die Raphe in diesem 
nur wenig nach rechts verschoben. Dagegen ist die Vergrös- 
serung auch in der Richtung der Axe des Hirnstammes 
darin deutlich ausgesprochen, dass die Brücke links auch in 
dieser Richtung breiter ist als rechts. Auch der mittlere Klein¬ 
hirnstiel ist links an der Vergrösserung betheiligt. Neben dieser 
relativen Vergrösserung der linken Hälfte findet sich eine ab¬ 
solute des ganzen Präparates, indem auch die rechte Pons¬ 
hälfte die normalen Masse bedeutend übertrifft. Au der Stelle der 
grössten Circumferenz, entsprechend der Ebene der Trigeminus¬ 
kerne beträgt die grösste Breite 55 Millimeter, davon ent¬ 
fallen auf die linke Seite 32, auf die rechte 23 Millimeter (nor¬ 
male Breite etwa 36 Millimeter), der ventrodorsale Durchmesser 
entlang der Raphe misst 30 Millimeter (normal etwa 22 Milli¬ 
meter). Nach oben reicht die relative sowie die absolute Ver¬ 
grösserung bis in die caudalen Ebenen des Oculomotoriuskerues. 
Oberhalb sind die Verhältnisse ganz normal. Das untere 
Ende des Präparates bildet die Gegend der Pyramidenkreu¬ 
zung. Hier ist die linke Seite noch etwas grösser: 13 Milli¬ 
meter hoch (gegen 11 rechts), 7-5 Millimeter breit (gegen 65 
rechts). 

Die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchung 
sind folgende: 

Die einzelnen Nervenbündel und Zellgruppen liegen fast 
überall an dem gebührenden Platze, wo sie nicht durch Ge¬ 
schwulstgewebe ganz ersetzt erscheinen. Häufig sind sie innig 
mit Geschwulstzellen vermengt, durch diese auseinander gedrängt, 
so dass sie ein grösseres Areale bedecken als normal. Dagegen 
sieht man keine stärkeren Gestaltveränderungen, welche 
auf Druck, Zerrung oder Verdrängung schliessen lassen. Dem¬ 
gemäss ist auch die rechte Hälfte des Präparates in der Höhe 
des oberen Olivendrittels, wo die linke Hälfte schon sehr ver¬ 
grössert ist, normal gestaltet. 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 145 


Von den caudalsten Schnitten angefangen bis in die Region 
der Vierhttgel finden sich in den erkrankten Theilen runde, 
ziemlich kleine Zellkerne, an denen sich bei der angewandten 
Härtung und Celloidineinbettung an Alauncochenillepräparaten 
eine Differenzirung nicht feststellen liess. Die Zellen liegen 
ziemlich regelmässig vertheilt zwischen den sichtbaren nervösen 
Gebilden. Auch an den Gelassen ist keine stärkere Anhäufung 
vorhanden. Die gefärbten Kerne liegen, wie das an einzelnen 
Zellen deutlich zu sehen ist, in einer anscheinend homogenen 
feinkörnigen Masse. Bei starker Vergrösserung nimmt diese 
Zwischensubstanz mehr die Form eines dichten Faserfilzes an- 

Im Allgemeinen sind die Blutgefässe in normaler Zahl 
ersichtlich, doch sind in der oberen Hälfte an einigen Stellen 
die Gefässe vermehrt und erweitert. 

Diese Zellinfiltration geht fast überall allmählich in die 
normale Anordnung des Zwischengewebes über. An der Rand¬ 
faserung ist mit Ausnahme einer infiltrirten Stelle in der Ge¬ 
gend der Nuclei arcit'ormes keine geschwulstige Wucherung be¬ 
stehend. 

Der makroskopischen Beschaffenheit entsprechend zeigen 
schon die untersten mikroskopischen Schnitte eine beträchtliche 
Grössenzunahme der linken Hälfte. Sie betreffen die Gegend 
der Schleifenkreuzung (Fig. I 1 ). Hier findet sich schon eine In¬ 
filtration in der Gegend der linken Substantia gelatinosa, sowie 
medial-ventral davon. Die Pyramidenbahn enthält beiderseits 
weniger Nervenfasern, deren Querschnitte ungleich sind. Links 
sind diese Verhältnisse viel stärker ausgesprochen, hier sind die 
Fasern auch durch reichlicheres Zwischengewebe getrennt, so 
dass der Querschnitt der Pyramidenbahn iy 2 mal grösser als 
rechts und bei Markscheidenfärbung blasser ist. Die Bogen- 


') In den Figuren sind, um Unklarheiten zu vermeiden, fast durchwegs nur 
die Nervenfasern gezeichnet. Die nerveulose graue Substanz und das Geschwulst¬ 
gewebe sind weiss gelassen. Wo ein Zweifel entstehen könnte, ob eine Stelle 
erkrankt oder gesund geblieben ist, wie am Boden des IV. Ventrikels und in 
den Brückenkernen, ist der Umstand zur Klärung genügend, dass die erkrankten 
Partien durchwegs vergrössert sind. Zur leichteren Orientirung sind einige 
Bezeichnungen beigefügt. — Die Zeichnungen sind alle in eineinhalbfacher 
natürlicher Grösse ausgeführt. 


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146 


Dr. Ernst Bischoff. 


fasern, welche der Schleifenkreuzung angehören, treten links 
besser hervor und die einzelnen Bündel sind rechts etwas 
schmächtiger, doch ist der Unterschied sehr gering. Die Hinter¬ 
strangskerne, die spinale Quintuswurzel und Kleinhirnseiten¬ 
strangbahn weisen nur eine links weniger dichte Faseranord¬ 
nung auf, entsprechend der allgemeinen Vergrösserung dieser 
Seite. Die Ganglienzellen und Wurzeln des Hypoglossus sind 
intact, die Umgebung des Centralcanales erscheint normal. 

In den Schnitten durch das untere Drittel der Oliven 
hat sich die Infiltration mit den beschriebenen Zellen schon weit 
ausgebreitet und occupirt die Substantia reticularis, reicht ven¬ 
tral bis an die Olive, medial bis zur Raphe, lateral zur spinalen 



Fig. 1. 


VHTR—■*' 



Fig. 2. 


Trigeminuswurzel und dorsal bis in die Hinterstrangskerne. Die 
Kerne des X. und XII. Hirnnerven, sowie der Fasciculus soli- 
tarius mit den angrenzenden Theilen der Substantia reticularis 
sind frei, ebenso das hintere Längsbündel. Die Wurzelfasern 
des XII. verlaufen durch Geschwulstgewebe. Die Pyramiden¬ 
bahnen verhalten sich, wie oben beschrieben, in der Oliven¬ 
zwischenschicht lässt sich zwischen links und rechts kein Unter¬ 
schied feststellen, die Oliven und deren Nebenkerne, die inneren 
und äusseren Bogenfasern sind beiderseits von normalem Aus¬ 
sehen. 

Die Geschwulst wächst nun oberhalb rasch nach aussen 
und ventralwärts, so dass sie in mittlerer Olivenhöhe (Fig. 2) 
schon bis an die lateralen und ventralen Grenzen der Medulla 
oblongata gelangt. Innerhalb derselben sind nun auch die ner¬ 
vösen Bestandtheile merklich geschädigt. In Folge der Ver- 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


147 


lagerung der vergrösserten Gebilde findet man hier links neben 
Vagus-Glossopharyngeusvvurzelfasern schon die austretende hin¬ 
tere Acusticuswurzel und einen herabgedrängten Lappen des 
Pons. Man findet hier links nur die Olive und ihren dorsalen 
Markmantel, sowie die Olivenzwischenschicht ziemlich intact und 
von dieser ein schmales wohlerhaltenes Band längs der Raphe 
zu der ebenfalls von Infiltration freien Gegend des hinteren 
Längsbündels. Vom Bodengrau ist die mediale Hälfte frei. Da¬ 
gegen ist die Pyramidenbahn, die ganze seitliche Haubengegend 
inclusive „spinaler Acusticuswurzel”, die spinale Trigeminus- 
w r urzel, das Respirationsbündel, das Corpus restiforme, der aus- 

Strom. 

C.rest 


vm 


Fig. 3. 

tretende Acusticus und das angrenzende Kleinhirnmark infiltrirt, 
auch in den Hilus der Olive dringt die Geschwulstbildung ein. 

Die genannten Gebilde sind alle faserärmer und der Zer¬ 
fall des Markmantels ist in den längsgetroffenen Fasern der 
Acusticuswurzeln, des Strickkörpers und der Pyramidenbahn 
deutlich. Auch in dem nicht infiltrirten, hier schon sichtbaren 
Abschnitte der Ponsfaserung sind reichlich Zerfallsproducte vor¬ 
handen. Die Bogenfasern vom Strickkörper durch die Olive 
sind fast ganz verschwunden, die dorsaleren Bogenfasern sind 
wie die quergetroffenen Fasern der Substantia reticularis grisea 
blässer und th eil weise mit Markschollen vermengt. Während 
etwas distal der Nucleus ambiguus und die austretenden Wurzel¬ 
fasern des Vagus noch intact waren, findet sich hier gerade 
in der Umgebung der spinalen Quintuswurzel eine dichte Infil¬ 
tration. Die rechte Hälfte zeigt normale Verhältnisse. 




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148 


Dr. Ernst Bischoff. 


Schnitte durch das obere Drittel der Oliven (Fig. 3) 
unterscheiden sich von den vorherigen einerseits dadurch, dass 
in den centralen Theilen der Geschwulst keine Nervenfasern 
gefärbt sind, andererseits durch das erste Auftreten einer sicht¬ 
lichen Verdrängung von Nervenfasern durch die Geschwulst: 
die aus der Raphe austretenden Fasern verlaufen links steil 
nach aufwärts. Die äusseren drei Viertel der Olivenzwischen¬ 
schicht sind ins Gebiet der Geschwulst einbezogen, die Olive, 
deren Ganglienzellen kleiner und undeutlicher gefärbt sind, ist 
von einem breiten Gürtel umgeben, in dem keine Nervenfasern 
erkennbar sind. Die dorsalen medialen Theile der Haube und 
die ventralen Ponsfasern sind gut erhalten, die Pyramidenfasern 

C.rest 


vm 


\T 

Fig. 4. 

sind spärlicher, nur im ventralen Theile noch ziemlich dicht. 
Aeussere und innere Acusticuswurzel sind infiltrirt und degene- 
rirt, der accessorische Acusticuskern ebenso, die Striae medul¬ 
läres sind degenerirt. Im Uebrigen die gleichen Verhältnisse 
wie unterhalb. Der dorsale Theil der Raphe erscheint normal, 
während ventral die Infiltration dieselbe etwas überschreitet. 
Das hintere Längsbündel ist hier und bis in die Vierhügelregion 
links an Weigert-Pal-Schnitten etwas blässer. Die rechte 
Hälfte des Schnittes erscheint gegen die Norm etwas ver- 
grössert und in ihren ventralen medialen Theilen reich an 
Zwischengewebe. Der Faserschwund in der Pyramidenbahn 
dieser Seite ist nicht bedeutender als in den distalen Ebenen. 
In der Höhe der austretenden Abducensfasern (Fig 4) ist 
die Begrenzung der Geschwulst nicht bedeutend verändert. Nur 



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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 149 


hat sich im ventralen Theile des Ueberganges von Pons ins 
Kleinhirn ein Geschwulstknoten gebildet, dessen Zellkerne sich 
nicht färben und der ziemlich grosse Gefässe enthält. Daher 
sind alle Theile des linken Acusticus gezwungen, durch die 
Geschwulst zu verlaufen. Vom Corpus trapezoides sind einige 
Bündel sichtbar, die sich bis in die Nähfe der Raphe verfolgen 
lassen. Die mediale Wurzel (nervus vestibulär.) verläuft am 
äusseren Rande des obengenannten Geschwulstknotens und ist 
nicht bis zum hoch hinaufgedrängten Corpus restiforme zu ver¬ 
folgen. Im dorsalen (grosszeiligen) Kern ist Infiltration vor¬ 
handen, so dass die Nervenbündel stark auseinander gedrängt 
und an Zahl herabgesetzt sind. Die austretenden Bündel des 



Fig. 5. 


Abducens sind aufs doppelte verbreitet und faserarm. Vom 
Facialiskern befindet sich nur ein kaum erkennbarer Rest im 
Geschwulstgewebe, ebenso von den Fasern seines Kernschenkels. 
Von der oberen Olive und der centralen Haubenfaserung ist 
nichts, vom Lemniscus nur ein kleines Feld neben der Raphe 
erhalten geblieben. Die linke Pyramidenbahn ist in mehrere 
faserarme Bündel zerfallen. Auch die Ponskerne sind links 
grossentheils vom Geschwulstgewebe eingenommen. Von der 
spinalen Quintuswurzel sind nur wenige zerstreute Fasern vor¬ 
handen. Rechts findet sich neben dem normalen Facialiskern, 
zumeist aussen von demselben eine beträchtliche Vermehrung 
und Erweiterung der Blutgefässe. Während links von den 
Striae acusticae nur degenerirte Reste bestehen, sind sie rechts 
als starker Strang bis zum Nucleus funic. teretis zu verfolgen. 


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150 


Dr. Ernst Bischoff. 


Die Geschwulst zieht sich bald aus dem mittleren Klein¬ 
hirnarm zurück, so dass sie etwas proximal von dem ans¬ 
tretenden Facialis lateral begrenzt ist (Fig. 5). Doch ist bis 
an die äussere Grenze des Präparates zwischen den Fasern 
eine beträchtliche Zellinfiltration zu verfolgen; zugleich wächst 
der Umfang des ganzen Schnittes, indem die Geschwulst die 
linke Ponsfaserung mit Ausnahme eines schmalen oberflächlichen 
Theiles durchsetzt und auseinander drängt und auch im Stratum 
profundum bis über die ßaphe vordringt; endlich findet sich 
eine geringere Infiltration auch in der rechten Hälfte, von der 
nur die lateralen und dorsalen Partien frei bleiben. Hervor¬ 
zuheben ist, dass die dorsomedialen Theile der linken Substantia 
reticularis und das Bodengrau kein Geschwulstgewebe enthalten. 
Dieses Feld bleibt auch im ganzen Bereiche des Abducenskernes 
frei. Die Ganglienzellen dieses Kernes sind von normalem Aus¬ 
sehen, ihre Kerne deutlich zu erkennen. Links sind im Bereiche des 
Kernes etwas mehr Stützzellkerne gefärbt als rechts, derselbe hat 
nicht die regelmässige kreisrunde, sondern eine quer ovale Gestalt. 

Die von den Abducenskernen abgehenden Wurzelfasern 
sind beiderseits normal, treten links aber bald in die Geschwulst 
ein. Von den austretenden Wurzeln war links keine intact. 
Rechts ist an ihnen nichts Abnormes zu erkennen. Der auf¬ 
steigende und der austretende Facialisschenkel ist links faser¬ 
arm. Die sich in der Raphe kreuzenden Fasern sind symmetrisch. 
Auf ihrem Wege nach abwärts zur Austrittstelle liegt die linke 
Facialiswurzel eine weite Strecke in der Geschwulst; ihre 
wenigen Fasern sind hier stark auseinander gedrängt und de- 
generirt. Vom Deiters’schen Kern sind links nur geringe Reste 
erhalten, die aufsteigende Trigeminuswurzel, der grösste Theil 
der Schleife und des Stratum profundum des Pons sind links 
durch die Geschwulst fast ganz zerstört, in den lateralen Pons¬ 
kernen sieht man keine Ganglienzellen, die quergetroffenen 
Bündel des Pons sind links erhalten, aber zum Theile enthalten 
sie weniger dicht stehende Fasern, besonders die äusseren und 
dorsaleren Bündel. Die rechte Hälfte ist wieder, abgesehen von 
der allgemeinen Vergrösserung, bezüglich der Nervenfasern und 
Kerne normal. 

In der Ebene der Trigeminuskerne (Fig. 6) hat die 
Geschwulst noch dieselbe Ausdehnung: Lateral bis zum mittleren 


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Zwei Geschwülste der Brücke and des verlängerten Markes. 


151 


Kleinhirn stiel, so dass das ganze Bereich der Trigeminuskerne 
und Wurzeln innerhalb ihrer Grenzen liegt, ventral sind noch 
Theile der Brückenfaserung ergriffen, medial überschreitet die 
Geschwulst zwischen den Bündeln des Stratum profundum etwas 
die Raphe, dorsal bleibt wieder ein mediales Dreieck frei, 
während lateral der Tumor auch den Locus coeruleus noch be¬ 
setzt hat. Von der Schleife sind nur zerstreute Bündel erhalten, 
die Formatio reticularis enthält etwas mehr Nervenfasern. Der 
motorische und der sensible Trigeminuskern konnte nicht 
aufgefunden werden. Da das dichte Geschwulstgewebe auch im 
Stratum complexum weit nach aussen reicht, ist der austretende 
Trigeminus auch zerstört. Die absteigende Wurzel ist auch in- 



Pig. 6. 


filtrirt, ihre Fasern und die Ganglienzellen atrophirt. Die ge¬ 
kreuzte Quintuswurzel ist beiderseits zu sehen, links sind ihre 
Fasern spärlicher und zerstreut. 

Die Infiltration reicht rechts zwischen den Ponsbündeln 
bis in das zweite Viertel, ohne dass hier ein Faserschwund 
auftreten würde. Die Ganglienzellen der Haube sind links fast 
ganz verschwunden, rechts weniger zahlreich als normal. Die 
Brückenkerne sind links nur ventral und medial ganglieuzellen- 
hältig. An den quergetroffenen Brückenbündeln hat sich nichts 
geändert. 

Von hier an verkleinert sich die Geschwulst nach aufwärts 
rasch, die Zellwucherung ist nicht mehr so stark,-dass die ner¬ 
vösen Gebilde ganz erdrückt wären. Die Gegend der lateralen 


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152 


Dr. Ernst Bischoff. 


Schleife ist noch am schwersten erkrankt. Die absteigende 
Trigeminuswurzel wird links bald deutlicher, die Zellen des 
Locus coeruleus liegen in einer langen Reihe auseinander gezerrt, 
aber normal gestaltet, im Velum medulläre ist die Trochlearis- 
kreuzung gut erhalten (Fig. 7), die Gegend der medialen und 
lateralen Schleife ist infiltrirt, die Fasern darin sehr verringert, 
die tiefen Schichten der Brückenbündel sind auch noch infiltrirt, 
im Stratum complexum finden sich in den grauen Kernen noch 
Zellwucherungen, die oberflächlichen Bündel sind normal. Die 
linke Hälfte ist fast doppelt so breit als die rechte. 

Das linke hintere Längsbündel enthält etwas weniger 
Fasern, auch die Querschnitte der angrenzenden Substantia 



Fig. 7. 


reticularis sind spärlicher, obwohl hier nur wenig Zwischen- 
gewebskerne sich befinden, in den Fasern der Raphe ist auch 
hier keine Asymmetrie sichtbar. Der linke Bindearm ist 
normal. 

Der ganze Verlauf der Trochleariswurzel ist beiderseits 
wohl erhalten, der Trochleariskern erscheint normal. Im 
linken hinteren Vierhügel finden sich mehr Zellkerne als 
rechts, das Nervenfasernetz ist weniger dicht, Ganglienzellen, 
auch die blasigen der absteigenden Trigeminuswurzel beiderseits 
gleich. Die laterale Schleife und ihre Einstrahlung in den 
Vierhügel ist links faserärmer, es lassen sich in ihr einige De- 
generationsproducte nachweisen. Ihre ventralsten Theile und 
die ventrale Hälfte der medialen Schleife sind von den oberen 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


153 


Enden der Geschwulst inflltrirt. Die Bindearme, ihre Kreuzung 
und ihre in der Rapbe sich ventral wendenden Fasern normal. 
Die blässere Färbung der Substantia reticularis links setzt 
sich proximalwärts bis zum Verschwinden derselben in der vollen 
Bindearmkreuzung fort (Fig. 8). Ventral von der Schleife ist 
von links nach rechts noch über die Raphe eine Infiltration zu 
verfolgen, die sich auch theilweise zwischen den Bündeln der 
Brücke fortsetzt. Das Bündel der Fussschleife ist wegen der 
ungünstigen Schnittführung und wegen des bei der Obduction 
ausgeführten Einschnittes nicht mit Sicherheit zu bestimmen. 
Die Faserung der Brücke und des beginnenden Pes pedunculi 
sind normal. 



Fig- 8. 


In Höhe der oberen Zweihügel ist von der Geschwulst 
nichts mehr vorhanden und nichts abnormes zu bemerken. Ins¬ 
besondere sind die Oculomotoriuswurzeln und -Kerne beiderseits 
wohlgebildet, die rothen Kerne und ihre Umgebung sind gefäss- 
reicher als gewöhnlich, sonst normal. In den Sehhügeln, in¬ 
neren Kapseln und Linsenkemen waren normale Verhältnisse, 
mit Ausnahme einer in den grauen Substanzen auffallenden Ver¬ 
mehrung der kleinen Blutgefässe. 


Das Rückenmark dieses Kranken war mir leider zur mikro¬ 
skopischen Untersuchung nicht zugänglich und ich habe von dem 
Bestände der Syringomielie erst durch die Aushebung des Sec- 
tionsprotokolles, welche mir im Institute Professor Weichsel- 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie« XV. Bd. \\ 


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154 


Dr. Ernst Bischoff. 


baum’s in liebenswürdigster Weise gestattet wurde, Kenntniss 
erhalten. 


Die Beschreibung des mikroskopischen Befundes musste in 
diesem Falle ausführlicher gemacht werden, weil mit der ein¬ 
fachen Angabe der Grenzen der Geschwulst gar nichts gesagt 
wäre. Es ist eine bisher nicht häufig beschriebene Geschwulst¬ 
form, ausgezeichnet durch die ganz diffuse Ausbreitung, durch 
den Mangel von Reizerscheinungen in der Umgebung, durch 
das zähe Fortbestehen der Nervenfasern und Zellen im Inneren 
der Geschwulst und durch die geringe Gestaltveränderung des 
Hirnstammes als Ganzes. Auch die kolossale Vergrösserung des 
ganzen Präparates scheint eine Eigenthümlichkeit dieser Ge¬ 
schwülste zu sein. Aehnliche Fälle sind mitgetheilt von Schmidt- 
Rimpier, 1 ) Bruns, 2 ) Ollivier,*) Simon, Gutmann, 4 ) Hun, 8 ) Kümmel 6 ) 
(1. Fall) und Jolly. 7 ) Aus der Vergleichung aller dieser Fälle 
geht hervor, dass dieselben symptomatisch und anatomisch so 
viele Differenzen zeigen, dass man dieselben nicht zu einer 
Gruppe eng verwandter Erkrankungen vereinigen kann. Wenn 
auch einige in ihrem histologischen Bau meinem Fall sehr ähn¬ 
lich sind, so sind in anderen wieder Erweichungen, Cystenbil¬ 
dungen u. dgl. beschrieben, und der Uebergang zu den sarko- 
matösen Geschwülsten ist ein allmählicher. Eine gemeinsame 
Eigenschaft dieser diffusen Gliome ist die sehr lange bestehende 
Functionsfahigkeit der betroffenen Theile, wodurch das Auf¬ 
treten lebensgefährlicher Störungen erst bei grosser Ausdehnung 
der Geschwulst bedingt ist. 

Eine grosse Seltenheit ist auch die Combination eines 
Glioms des Hirnstammes mit Syringomyelie. Ich konnte keinen 
Fall finden, in dem die Symptome des Tumors so überwiegend 
waren, dass die Syringomyelie am Lebenden gar nicht dia- 


>) Areh. f. Augenh. XVIII. 

2 ) Neurol. Centralbl. 1888. 

9 I In Leyden, Klinik d. Rückenmarkskr. II, S. 105. 
4 ) Boston med. and. surg. Journ. 1883. 
s ) Med. News 1887. 

") Zeitsch. f. Mediz. 1880. 

7 ) Arcb. f. Psych. XXIV. 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 155 


gnosticirt worden wäre. Raicliline') beschrieb einen Fall, in dem 
diese Combination angenommen wurde und die Erscheinungen 
von Seite der Brücke und des verlängerten Markes überwogen, 
es ist aber nicht zur Obduction gekommen. Gowers 2 ) theilt zwei 
Fälle mit, in denen unter anderem eine Geschwulst im Pons 
und Syringomyelie bestand. In den Monographien über Syrin¬ 
gomyelie von Hoffmann 3 ) und Schlesinger 4 ) sind noch einige 
Fälle berichtet. In der Regel hat aber die Erkrankung im Hirn¬ 
stamme, die nach Schlesinger unter 200 Fällen 65mal vorhanden 
war, viel geringere Ausdehnung genommen. Es geht nicht an, 
meinen Fall zu Gunsten der einen oder anderen Theorie über 
die Pathologie der Syringomyelie auszunützen, weil eine histolo¬ 
gische Beschreibung des Rückenmarkes fehlt. Aus dem Sections- 
protokoll geht jedoch hervor, dass das derbe Gewebe, welches 
die grosse Geschwulst der Brücke bildete, dort nur fast 1 Milli¬ 
meter dick war, dass eine ausgedehntere Geschwulstbildung also 
nicht vorlag. Es sind also in diesem einen Falle die beiden von 
Hoffmann streng getrennten Formen, die Gliose und die Gliomatose 
zugleich, wenn auch örtlich getrennt aufgetreten. Nach der Anam¬ 
nese dürfte, wie es Hoffmann beschrieb, die gliöse Erkrankung 
des Rückenmarkes viel früher aufgetreten und langsamer ge¬ 
wachsen sein (Ohnmächten in der Jugend, Schmerzen in den 
Beinen, Schwäche der linksseitigen Extremitäten) als der glio- 
matöse der Brücke. Eine vielleicht ähnliche Unterscheidung der 
Erkrankungsformen hat Reymond 5 ) durchgeführt, der allerdings 
die beiden Formen (gliocelluläre und gliofibrilläre) in einem 
Rückenmark mit Höhlenbildung vereinigt vorfand. 


In dem zweiten Falle handelt es sich um eine etwa 
dreissigjährige, verheiratete Frau Anna Sommer, bei welcher 
ohne nachweisbare Ursache im October 1892 eine rechtsseitige 
isolirte Abducensparese, einige Monate später auch Fac ialis- 
parese derselben Seite auftrat. Gleichzeitig stellte sich heftiger 


J ) Paris, 1892, refer. N. Centralbl. 1892, p. 709. 

2 ) Hdb. d. Nervenkr. B. I., p. 573. 

3 ) Deutsche Zeitsch. f. Nervenh. 1892. 

4 ) Erschienen 1895. 

5 ) Arch. d. Neurologie XXVI. 

11 * 


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156 


Dr. Ernst Bischof. 


Schwindel und nervöse Schwerhörigkeit rechts ein. Die 
Sehnenreflexe an den unteren Extremitäten waren leicht gesteigert. 

Im Juli 1893 wurde die Kranke in die Nervenklinik in 
Graz aufgenommen. Sie klagte über zunehmende Schwäche der 
linksseitigen Extremitäten, heftigen Schwindel, Doppeltsehen 
und hochgradige Unsicherheit, so dass sie nicht geben konnte. 

Patientin war kräftig und gut genährt, an den vegetativen 
Organen ohne Abnormität. Der Schädel an den Jochbogen und 
am Hinterhaupt percussionsempfindlich, in der linken Ge¬ 
sichtshälfte die Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit 
deutlich herabgesetzt, eine ausgesprochene Parese beider 
Recti externi und interni (der genau erhobene Befund fehlt), 
normale Reaction der Pupillen und normale Sehschärfe, totale 
Lähmung des rechten Facialis (Lagophthalmus und Conjunc¬ 
tivitis), normale Beweglichkeit der linken Gesichtshälfte, voll¬ 
ständige Taubheit rechts, Schwerhörigkeit links, beide cen¬ 
traler Natur (Befund aufgenommen von Professor Habermann), 
keine Störung des Geruches und Geschmackes. Die Zunge wird 
gerade vorgestreckt und ist frei beweglich. An den rechten 
Extremitäten Motilität und Sensibilität normal, auch der Muskel¬ 
sinn. An der linken unteren Extremität ist der Patellar- 
sehnenreflex lebhaft, kein Knie- und Fussclouus auslösbar, es 
besteht leichte Parese, so dass Stehen auf dem linken Beine 
unmöglich ist und deutliche Ataxie beim Kniefersenversuche. 
An der linken oberen Extremität besteht allgemeine Parese 
(Händedruck schwach), Ataxie und geringer Intentionstremor. 
Die Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit ist an der ganzen 
linken Körperhälfte deutlich herabgesetzt. Der Muskelsinn ist 
nirgends grob gestört. 

Puls bei horizontaler Lage 120, bei Aufsetzen 134 Schläge 
in der Minute. Blasenstörung besteht nicht, Patientin schluckt gut, 
die Sprache entsprechend durch die Facialisparalyse behindert. 

Am 29. Juli ist Zunahme der Anästhesie und Analgesie 
am linken Beine notirt; Patientin fühlt nur mehr starke Nadel¬ 
stiche, die sie schlecht localisirt, spürt Kneifen wie Streichen. 
Am linken Arm besteht die Hypalgesie und Hypästhesie fort, 
die Ataxie der linken Extremitäten hat zugenommen. Puls 150 
pro Minute. Es bestehen jetzt heftige Kopfschmerzen und 
Schwindel. 


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Zwei Geschwülste der Briicke und des verlängerten Markes. 


157 


Am 2. August ist die Hypästhesie der linken Gesichtshälfte 
nochmals constatirt, zugleich aber auch geringere Hypästhesie 
der rechten Gesichtshälfte.’ 

Am 4. steigerte sich der Kopfschmerz, es trat Erbrechen 
auf und am 6. starb die Patientin unter Erscheinungen der 
Vaguslähmung (abwechselnde Dyspnoe und Asphyxie, Unmög¬ 
lichkeit zu sprechen, Behinderung des Hustens). Der Puls blieb 
bis 4 Stunden vor dem Tode kräftig, 120 Schläge pro Minute. 

Bei der Obduction fand sich eine Geschwulst im Pons 
und den angrenzenden Theilen, hauptsächlich rechts. Der übrige 
Befund am Gehirn und seinen Häuten war ein annähernd nor¬ 
maler, es bestand nirgends ein zweiter Geschwulstherd und keine 
Meningitis; auch in den inneren Organen kein pathologischer 
Befund. Da kein Sectionsprotokoll vorliegt, muss ich mich auf 
vorstehende Mittheilung beschränken. 

Das Präparat wurde in Müller’scher Flüssigkeit gehärtet, 
nach Celloidineinbettung in Serienschnitte zerlegt und mit Carmin, 
Alauncochenillen und nach Weigert-Pal dann abwechselnd gefärbt. 

Die Geschwulst, welche mikroskopisch theilweise scharf 
abgegrenzt ist, besteht aus Zellen von ziemlich gleicher Grösse 
und kreisförmiger, ovaler oder unregelmässiger rundlicher Be¬ 
grenzung mit runden Kernen körniger Structur. Die Kerne haben 
die Grösse der Gliakerne. Die Geschwulst ist fast überall ge- 
fässreich. Nur am Boden des IV. Ventrikels fehlt auf weite 
Strecken jedes Gefäss. Hier ist die Geschwulststructur ganz 
gleichmässig und dürfte, als Gliawucherung aufzufassen sein, 
während in den gefässreichen Partien regelmässig einzelne Knoten 
oder Zellhaufen nebeneinander liegen, deren jeder im Centrum 
ein Gefäss hat. Häufig ist nur die Intima erhalten, während die 
äusseren Schichten der Gefässwand in Geschwulstgewebe ver¬ 
wandelt sind. Die Wucherung erscheint hier deutlich von der 
Gefässwand auszugehen. Zwischen den einzelnen Zellhaufen ver¬ 
laufen häufig Nervenfasern, oder überhaupt faseriges Gewebe, 
dessen Natur sich nicht feststellen lässt, da es sich nicht ge¬ 
färbt hat. Inmitten der Geschwulstzellen, besonders wo sie 
regelmässig an geordnet sind, findet man oft Ganglienzellen (so 
in der Substantia reticularis, im Trigeminuskern). 

Die Geschwulst drängt überall das normale Gewebe bei¬ 
seite, die Wurzelfasern des rechten Facialis und des linken 


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158 


Dr. Ernst Bisehoff. 


Abducens verlaufen im weiten Bogen, die Raphe ist, wo die 
Geschwulst nur einseitig liegt, bogenförmig nach der anderen 
Seite gedrängt, am Boden des IY. Ventrikels wölbt die Ge¬ 
schwulst sich weit vor. Häufig aber trägt die Geschwulst auch 
Nervenfasern in ihrem Gewebe, diese sind dann auseinander 
gedrängt und häufig degenerirt. 

Es ist klar, dass die ßeurtheilung der einzelnen Faser¬ 
stränge durch dieses Verhalten der Geschwulst sehr erschwert 
wird. Andererseits kann man voraussetzen, dass die Störungen, 
welche die Nachbarschaft der Geschwulst erlitten hat, ziemlich 
gering waren, weil nirgends eine reactive Veränderung an den 
Rändern der Geschwulst sichtbar ist. Zu demselben Schlüsse 
kommt man bei Vergleichung der klinischen mit den anatomi¬ 
schen Untersuchungsergebnissen. 

Der Mittheilung des anatomischen Befundes muss noch 
vorausgeschickt werden, dass in dem conservirten Präparat nicht 
die ganze Geschwulst enthalten ist, dass aber die mit dem 
rechten mittleren Kleinhirnstiel und am oberen Rande (vordere 
Vierhügelgegend) entfernten Theile von sehr geringer Aus¬ 
dehnung waren und deshalb bei der Auslösung des Präparates 
übersehen wurden. 

Die Hauptergebnisse der mikroskopischen Unter¬ 
suchung sind: 

Im obersten Halsmark lässt sich eine nennenswerthe 
absteigende Degeneration nicht constatiren. Man findet an 
Carminpräparaten überall scharfe Nervenfaserquerschnitte und 
keine Gliawucherung. Nur als fraglich möchte ich eine leichte 
Zunahme der Gliafasern im linken Seitenstrang notiren. Die 
graue Substanz ist normal. Accessoriuskern und seine 
Wurzeln auch. 

In der Pyramidenkreuzung, den Hinterstrangskernen 
und den anderen grauen Massen dieser Gegend nichts verändert. 
Dagegen sind in der Schleifenkreuzung die zu den linken 
Hinterstrangskernen ziehenden Fasern schmäler, die Bündel 
etwas weniger dicht und bei Markscheidenfärbung deshalb 
blässer. Bedeutend ist die Asymmetrie jedoch nicht. Die spinale 
Trigeminuswurzel ist beiderseits gleich faserhältig. In den 
Pyramiden ist hier schon eine beträchtliche Gliavermehrung 
und besonders rechts auch Faserschwund vorhanden. Auf dieser 


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Zwei Geschwülste der Brücke and des verlängerten Markes. 159 


Seite sind an einzelnen Stellen die Fasern durch Markschollen 
ersetzt. Um den Centralcanal findet sich eine Zellanhäufung, 
die denselben stellenweise in zwei und drei getrennte Canäle theilt. 

In der Ebene, wo die untere Olive schon angedeutet 
ist, sieht man rechts lateral davon eine Anhäufung von Ge¬ 
schwulstzellen, das unterste Ende der Geschwulst. Oberhalb der 
Eröffnung des Centralcanales (Fig. 9) ist dieses Gebilde 
so angewachsen, dass es unmittelbar ventral von der spinalen 
Quintuswurzel beginnt und die Olive umfassend bis zum 
Pyramidenstrang reicht. Es erreicht lateral den Rand des Prä¬ 
parates und drängt medial alles zusammen. In der Geschwulst 
verlaufen einzelne, grossentheils degenerirte Nervenfasern 
zwischen den drusenartigen Geschwulsttheilen. 

In der Raphe besteht hier eine Asymmetrie, indem die 
Mehrzahl der Fasern dieselbe von links ventral nach rechts 


Tumor 

Fig- 9. 

dorsal durchsetzen. Die Kerne des X. und XII. Nerven und 
ihre Wurzelfasern sind intact, an allen anderen Theilen des 
Schnittes nichts abnormes, nur der Seitenstrangrest und der 
äussere Markmantel der Olive sind rechts durch die Geschwulst 
zerstört und die Pyramiden in gleicher Weise verändert wie 
unterhalb. 

In mittlerer Olivenhöhe haben sich einzelne Geschwulst¬ 
knoten schon in den ventralen Bündeln der rechten spinalen 
Quintuswurzel entwickelt und wuchert ein neuer Herd anscheinend 
von der Fissura longitud. medullae zwischen den Pyramiden¬ 
bündeln in die Raphe und bildet links eine Kappe auf das 
untere Blatt der Olive. Rechts sind einige kleinere Knoten im 
dorsalen Theile der Pyramide. Auch im centralen Mark der 
rechten Olive ist eine Geschwulstbildung sichtbar. Die obersten 
Hypoglossusstränge sind rechts gezwungen, die Geschwulst zu 
durchsetzen und sind degenerirt. Auch ein Bündel der rechten 



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160 


Dr. Ernst Bischoff. 


Vaguswurzel ist in der Geschwulst degenerirt zu sehen. In der 
Substantia reticularis, dem hinteren Längsbündel und dessen 
ventraler Fortsetzung (Vorderstrangrest und dorsalen drei 
Viertel der Olivenzwischenschicht) nichts abnormes. In der 
linken aufsteigenden Glossopharyngeuswurzel liegt ein Gefäss- 
convolut umgeben von einem Zellhaufen, das nur einem spär¬ 
lichen Nervennetz Raum übrig lässt. In den Strickkörpern nichts 
abnormes. 

Nach aufwärts breitet sich der Tumor rasch aus, occupirt 
links die ganze ventrale und mediale Seite der unteren Olive, 
drückt dabei die Pyramide platt und drängt die Olive nach 
aussen und oben. Rechts dringt die Geschwulst von allen Seiten 
in die Pyramidenbündel; sie reicht weit in die Raphe hinauf 
und einige Knoten liegen im ventrolateralen Theile der rechten 



Substantia reticularis. Die liuke Olive erscheint atrophirt, die 
Kreuzung in der Raphe erhält sich noch, wie früher beschrieben, 
die in derselben aufsteigenden Fasern sind spärlicher und 
fehlen in der dorsalen Hälfte derselben. Die Fasern der linken 
Schleife sind stark dorsal verschoben und theilweise zerstört. 
Die rechte Pyramide ist mehr geschädigt als die linke. 

In der Austrittsebene des Nervus cochleae (Fig. 10) 
ist die Geschwulst rechts und links weit vorgedrungen. Rechts 
hat sie nur einen etwa auf ein Viertel des normalen zusammen¬ 
gedrängten Theil des Pyramidenbündels, das obere Ende der 
Olive, die Olivenzwischenschicht, ein dorsomediales Dreieck, 
dann das Corpus restiforme und einen Theil der spinalen Trige¬ 
minuswurzel ziemlich frei gelassen. 

Vom Strickkörper ziehen einige Bündel durch die Ge¬ 
schwulst zur Olive. Hier und in der Umgebung des Facialis- 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 161 


kernes befinden sich wenige, meist degenerirte, quergetroffene 
Nervenbündel. Dem Strickkörper sitzt ventral eine keilförmige 
Geschwulstmasse auf, aus der der degenerirte Nervus cochleae 
entspringt. Der Boden des Ventrikels ist vorgewölbt und von 
Zellen gleichmässig infiltrirt, so dass auch die spinale Acusticus- 
wurzel und die Kernschenkelfasern des Facialis auseinander 
gedrängt sind. Der Facialiskern ist hier und weiter oben 
erhalten. 

Links liegt die Hauptmasse der Geschwulst dorsal von 
der Pyramide, reicht bis in die Höhe der Trigeminuswurzel, 
drängt einige längs- und quergetroffene Nervenbündel dorsal- 
wärts und lässt die dorsaleren Theile frei. Daher sind Fasern, 
welche die Raphe überschreiten, nur im dorsalsten Theile der¬ 
selben vorhanden. Sie verlaufen wieder fast ausschliesslich wie 
oben beschrieben. 

Der linke Facialiskern und sein intracerebraler Verlauf 
sind intact, ebenso Acusticuswurzel, Strickkörper und spinale 
Trigeminuswurzel. Rechts sind letztere zwei Gebilde etwas 
faserärmer. An die rechte Seite legt sich ventral ein der Brücke 
angehörender Streifen an, der ganz in Geschwulstgewebe um¬ 
gewandelt ist. 

In der Ebene der Abducenskerne hat die Geschwulst 
die rechte Seite des Hirnstammes nach oben und aussen 
bedeutend ausgedehnt. Am Boden des IV. Ventrikels liegt 
rechts und links in der ganzen Ausdehnung Geschwulst¬ 
gewebe. Links bildet es nur einen Streifen, unter dem dife auf¬ 
steigende Facialiswurzel, das hintere Längsbündel, derAbducens- 
kern mit seinen Wurzelfasern und die Substantia reticularis 
gut erhalten sind. Alles, was lateral vom erhaltenen Facialis¬ 
kern liegt, ist intact. Der grosse Geschwulstknoten im ventralen 
Theil ist gleich geblieben. Die Striae acusticae verlieren sich 
schon am lateralen Rande in der Geschwulst. Rechts durchsetzt 
die Geschwulst auch die dorsalen Theile der Haube, so dass 
die aufsteigende Facialiswurzel und der austretende Schenkel, 
die Substantia reticularis und das hintere Längsbündel faser¬ 
ärmer sind. Im Abducenskern sieht man nur einige Ganglien¬ 
zellen und Nervenfasern. Die weniger erhaltenen Fasern der 
Abducenswurzel liegen inmitten der Geschwulst und sind dege- 
nerirt. Links werden sie weit nach aussen gedrängt und 


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162 


Dr. Ernst Bischof!. 


treten endlich auch in die Geschwulst ein. Die Geschwulst hat 
sich rechts etwas vergrössert, daher sind die oben beschriebenen 
Zerstörungen der Nervenfasern noch ausgiebiger. 

Das Corpus trapezoideum ist daher rechts und links 
vollständig unterbrochen. Die ventrodorsalen Fasern fehlen in 
der Raphe gänzlich, nur im dorsalsten Theile derselben steigen 
Fasern von links nach rechts in derselben auf. Von den Fasern 
der Brücke sind nur im Stratum superficiale einige Bündel 
enthalten. 

Etwas proximal (Fig. 11) werden auch beide hinteren 
Längsbündel von Geschwulstknoten durchwachsen. Von 
den dorsalen Acusticuskernen sind beiderseits die grosszelligen 
gut erhalten, die mediale Acusticuswurzel verläuft rechts durch 



Geschwulstmassen, ist aber bis zum grosszelligen Kern zu ver¬ 
folgen. Links ist ihre Eintrittsstelle nicht geschädigt. Im 
Corpus restiforme sind rechts einige Geschwulstknoten. Die 
hier links und rechts sichtbaren austretenden Abducensfasern 
sind nach Weigert-Pal gefärbt nicht als krankhaft verändert 
erkennbar. In der rechten spinalen Trigeminuswurzel ist be¬ 
trächtlicher Faserschwund vorhanden. 

In den unteren Ebenen derTrigeminuskerne (Fig. 12) 
ist der links befindliche grosse Geschwulstknoten nahezu ver¬ 
schwunden. Nur in einem dorsalen medialen Dreieck sitzen 
einige kleinere Geschwulstmassen, die das hintere Längsbündel 
und Umgebung grossentheils zerstört haben. Die Schleife ist, 
mit Ausnahme der medialsten Bündel frei, enthält aber im 
Ganzen weniger Fasern als normal. Rechts sind nur Reste 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


163 


vom hinteren Längsbünde], einige quergetroffene Fasern der 
Substantia reticularis und der Schleife nahe der Raphe, wenige 
Fasern des Stratum complexum und einige oberflächliche Pons* 
bündel mit den dazwischen liegenden Pyramidenbündeln erhalten. 
Der sensible und motorische Trigeminuskern liegt in einem 
gleichmässigen geschwulstigen Zellgewebe, die austretenden 
Trigeminusfasern sind spärlich und zum Theile schlecht gefärbt. 
Am meisten ist der Zellhaufen des Locus coeruleus geschädigt. 
Es sind in den distaleren Schnitten nur wenige Zellen kennt¬ 
lich. In den proximalen Schnitten sind sie besser erhalten. 

Am oberen Ende des Quintusgebietes nimmt die 
Geschwulst links noch weniger Raum ein. Das hintere Längs¬ 
bündel und die gekreuzte Trigeminuswurzel liegen 



Pig. 12. 


innerhalb ihres Bereiches und sind sehr faserarm. Die Fasern 
des gekreuzten Quintus scheinen links alle aus dem Locus 
coeruleus zu entspringen, während sie rechts in der Nähe des 
sensiblen Trigeminuskernes verschwinden und nur zum Theile 
vom Locus coeruleus ausgehen. In den medialen Schleifenbündeln 
sind links einige scharf durch die fehlende Markscheidenfärbung 
hervorgehoben, welche in distaleren Ebenen noch von Geschwulst¬ 
knoten durchwachsen waren. Auch in der Substantia reticularis 
finden sich solche blasse Bündel. Die Ponsfaserung, der Binde¬ 
arm und die cerebrale Trigeminuswurzel, sowie der Locus coeru¬ 
leus sind intact. Rechts sind nur die oberflächlichen Brücken¬ 
bündel und ein ventral an der Raphe liegender dreieckiger 
Abschnitt nicht erkrankt. Das Stratum complexum wird von 
der Geschwulst bis an den äusseren Rand des Präparates durch- 


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164 


Dr. Ernst Bischof!. 


wachsen, so dass nur wenige zerstreute Bündel zwischen den 
einzelnen Knoten übrig bleiben. Das Stratum profundum ist 
etwas besser erhalten, besonders in den medialen Theilen. Von 
der Schleife sind nur nahe der Raphe einige zerstreute Fasern 
sichtbar, die Substantia reticularis ist ebenso schwer geschädigt, 
das hintere Längsbündel und die gekreuzte Quintuswurzel sind 
gleich links. Das Brach, conjunct. ist von der Geschwulst durch¬ 
wuchert, die Fasern der cerebralen Trigeminuswurzel sind aus¬ 
einander gedrängt, die Zellen des Locus coeruleus nur verein¬ 
zelt sichtbar. Die in der Raphe ventrodorsal verlaufenden Fasern 
sind nur im dorsalsten Theile in der Geschwulst zerstreut, sonst 
normal. 



Fig. 13. 


In der Höhe der Trochleariskreuzung (Fig. 13) findet 
man eine beginnende Degeneration der linken medialen Schleife, 
sonst links normale Verhältnisse. Auch ist das hintere Längs¬ 
bündel, der Locus coeruleus und die dorsale Hälfte des Binde¬ 
armes gut erhalten, sonst keine Aenderung. Die Trochlearis- 
wurzel ist rechts erst in höheren Schnitten getroffen und deut¬ 
lich sichtbar. 

In der Ebene der vollen Bindearmkreuzung (Fig. 14) 
reicht der Tumor rechts nur mehr in der Region der Schleife 
bis zur Raphe und drängt die Fasern des Bindearmes dorsal, 
die der Brücke ventral. Lateral nimmt die Geschwulst den 
ganzen Raum in Anspruch, so dass von der Schleife keine Spur 
zu sehen ist und die Bindearmfasern sich aussen alle in der 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


165 


Geschwulst verlieren. Die quergetroffenen Bündel der rechten 
Brücke sind theilweise weniger faserhältig. In der linken 
medialen und lateralen Schleife sind degenerirte Fasern ent¬ 
halten, ebenso in beiden hinteren Längsbündeln. 

Das Präparat reicht nur bis in die Höhe der Oculomo- 
toriuskerne. Diese und die Wurzelfasern sind, so weit sie 
verfolgt werden können, normal. Die Geschwulst occupirt rechts 
die laterale Hälfte des Vierhügels und reicht noch so weit herab, 
dass die Schleife ganz zerstört ist. Die äusseren Grenzen fallen 
nicht mehr in das Bereich des Schnittes. 

j _ 

Die Aetiologie der nicht tuberculösen oder syphilitischen 
Geschwülste des Hirnstammes ist bekanntlich wenig erkannt. 



Fig. 14. 

Nur vom Schädeltrauma weiss man, dass es Veranlassung zur 
Bildung einer solchen Geschwulst geben kann. Ein für diese 
Annahme sehr gut verwendbarer Fall, der wegen seiner ana¬ 
tomischen Aehnlichkeit mit meinem ersten Falle hier erwähnt 
werden möge, ist der Fall I von Küjnmel, in dem nach einem 
Trauma mit Bewusstlosigkeit ein dumpfes Gefühl im Kopfe 
dauernd zurückblieb und nach neun Monaten eine Parese des 
VI. und VII. Hirnnerven als erstes Symptom einer „diffusen 
Hypertrophie des Pons” auftrat. Auch die Fälle Ollivier’s und 
Brun’s sind nach einem Trauma entstanden. Meistens war dieses 
nicht sehr schwer, die ersten Tumorsymptome traten erst nach 
Monaten auf. In meinem ersten Falle ist ein Trauma vorge¬ 
kommen, aber 14 Jahre vor der manifesten Erkrankung. Wenn 


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166 


Dr. Ernst Bisehoff. 


sich auch ein Zusammenhang nicht ausschliessen lässt, wird 
man doch ein anderes veranlassendes Moment unbekannter Natur 
für den Ausbruch der Gewebswucherung verantwortlich machen 
müssen, für die das Trauma vielleicht vorbereitend gewirkt 
hat. Dass Kopftraumen Einfluss auf die Entstehung von Ge¬ 
schwülsten der Brücke und des verlängerten Markes haben, hat 
Goldberg') mit der Thatsache in Verbindung gebracht, dass 
Männer zweimal häufiger daran erkranken als Frauen. Von 
den Gliomen dieser Gegend waren unter zwölf Fällen dreimal 
Traumen als ziemlich sicheres ätiologisches Moment verzeichnet, 
alle bei männlichen Kranken. Auch für die Syringomyelie hat 
man mit Recht oft ein Trauma verantwortlich gemacht, doch 
ist für diese die Annahme einer congenitalen abnormen Keim¬ 
anlage noch mehr in den Vordergrund getreten. In meinem 
Falle kann man sich wohl gar keine anschauliche Vorstellung 
von dieser Keimabnormität machen; dagegen wird man eine 
enge Verwandtschaft der Gliome mit einem Theile der Höhlen¬ 
bildungen des Rückenmarkes auch aus diesem Falle erschliessen 
müssen. 

Der Fall Neurat begann mit linksseitiger Abducens- 
und Faciälisparese, allgemeiner Ermüdbarkeit, dazu gesellte sich 
allmählich eine Lähmung der Muskulatur der rechten Extremi¬ 
täten, complicirte Augenmuskellähmungen und Taubheit links, 
Lähmung und Atrophie der Kaumuskeln links, der linken 
Zungenhälfte, Hyperästhesie der linken Gesichtshälfte und der 
rechten oberen Extremität, Ataxie des linken Armes, Steigerung 
beider Patellarreflexe und kurz vor dem Tode Hyperästhesie der 
rechten unteren Extremität. Vorübergehend waren neuralgische 
Schmerzen in den Armen und im rechten Bein, Parese der 
linken Extremitäten, Kopfschmerz, Bewusstseinsverlust und Brech¬ 
reiz. In der letzten Zeit Abnahme der Intelligenz und Som¬ 
nolenz. 

Die anatomische Untersuchung ergab Läsion der 
ganzen linken Hälfte der Brücke und des verlängerten Markes, 
von den Faserzügen waren am stärksten geschädigt die Pyra- 
fnidenbahn, der mittlere Kleinhirnstiel, die Schleife, deren 
medialster Antheil am wenigsten erkrankt war, die Faserung 


') Inaug. Dias. Jena 1888. 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 167 


der unteren und oberen Olive und die laterale Formatio reti¬ 
cularis, von den Kernanhäufungen die Oliven, die distalen und 
lateralen Ponskerne, die Ganglienzellen der Substantia reticu¬ 
laris, vom Trigeminus war nur die cerebrale Wurzel erhalten, 
der motorische und sensible Kern und die Wurzeln schwer ge¬ 
schädigt. Der Abducenskern ist ziemlich wohl erhalten, der 
Facialiskern zerstört. Vom Acusticus ist der accessorische 
(vordere, ventrale) Kern am meisten, die übrigen Kerne alle 
mehr minder erkrankt, Corpus trapezoides und Striae medulläres 
ebenfalls. Hier ist auch die bedeutende Schädigung der linken 
lateralen Schleife und des linken hinteren Vierhügels zu er¬ 
wähnen. Vom IX. bis XII. Hirnnerven sind die Kerne gut er¬ 
halten, Nur die spinale Glossopharyngeuswurzel ist in ihren 
proximalen Theilen erkrankt. Die austretenden Fasern aller 
Hirnnerven vom fünften nach abwärts sind links mehr oder 
weniger in ihrem Verlaufe erkrankt. Kerne und Wurzelfasern 
des III. und IV. Hirnnerven erscheinen normal. Der dorsale 
Theil der Raphe ist in der Region des Abducenskernes erkrankt, 
ebenso das linke hintere Längsbündel; beide werden oberhalb 
des Trigeminuskernes wieder normal. 

Der zweite Fall ist durch rascheren Verlauf ausge¬ 
zeichnet. Beginn mit Abducensparese rechts, wozu sich rasch 
Facialisparese und Taubheit derselben Seite gesellen. Ein 
Monat vor dem Tode Parese der Recti externi und interni 
beider Augen, rechtsseitige totale Lähmung des Facialis, rechts 
vollständige Taubheit, links Schwerhörigkeit, Parese und Ataxie 
der linken Extremitäten, Abstumpfung der Sensibilität an der 
linken Gesichts- und Körperhälfte und Pulsbeschleunigung. 
Anatomisch bestand Erkrankung beider Hälften der obersten 
Medulla oblongata und der rechten Hälfte des Pons, sowie des 
rechten hinteren Vierhügels. Die Pyramidenstränge und die 
Oliven, sowie die medialen Schleifen sind beiderseits erkrankt, 
der Strickkörper ist links nicht, rechts wenig geschädigt, der 
mittlere und obere Kleinhirnstiel rechts zum grössten Theile 
unterbrochen. Links ist das Corpus trapezoides unterbrochen, 
vom Abducenskern proximal sind beide hinteren Längsbündel 
bis gegen die Trigeminusregion schwer erkrankt, die Hauben¬ 
region der Brücke ist rechts von der Geschwulst durchwachsen, 
so dass die innere und die äussere Schleife ganz zerstört sind. 


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168 


Dr. Ernst Bischoft. 


Die Brückenkerne sind rechts theilweise erkrankt, der Seiten¬ 
strangrest hier schon in der Hypoglossusgegend zerstört. In 
der Raphe besteht Asymmetrie der Kreuzung, im oberen ver¬ 
längerten Mark ist die Raphe grossentheils zerstört. 

Der XII. Hirnnerv ist beiderseits ziemlich intact, ebenso 
sein Kern. Der X. rechts in seinen oberen Wurzelästen dege- 
nerirt, seine Kerne erhalten. Der oberste Theil der linken spinalen 
Glossopharyngeuswurzel ist erkrankt, die austretenden Fasern 
des IX. Hirnnerven sind rechts theilweise degenerirt. 

Die beiden Acusticuswurzeln sind rechts degenerirt, der 
accessorische Kern ganz zerstört, der dreieckige Acusticuskern 
erkrankt, der grosszellige erhalten, die Faserung des rechten 
Corpus trapezoides unterbrochen, die Striae medulläres ebenso. 
Links sind die Acusticuskerne ziemlich erhalten, das Corpus 
trapezoides aber unterbrochen, der Striae acusticae erkrankt. Die 
laterale Schleife ist links vorhanden, rechts zerstört. Die oberen 
Oliven sind beiderseits nicht sichtbar. Der Facialiskern ist beider¬ 
seits erhalten, die Wurzel des rechten Facialis fast vollständig 
unterbrochen, die des linken gut erhalten. Der Abducenskern 
ist rechts grossentheils zerstört, der linke ziemlich normal, die 
Wurzelfhsern beiderseits grösstentheils unterbrochen. Die Tri¬ 
geminuskerne sind links normal, rechts in Geschwulstgewebe 
eingebettet, die spinale Trigeminuswurzel ist rechts etwas er¬ 
krankt, die Wurzelfasern verlaufen rechts durch Geschwulst¬ 
gewebe. Kerne und Wurzeln der Trochleares und Oculomotorii 
sind normal. Secundäre Degeneration ist in beiden Fällen nur 
in wenigen Faserzügen und auf kurze Strecken verfolgbar. 

Für die nun durchzuführende kritische Vergleichung der 
klinischen mit den anatomischen Ergebnissen ist es 
nothwendig festzustellen, dass in beiden Fällen an allen von 
der Geschwulst nicht direct betroffenen Theilen keine Functions¬ 
störung aufgetreten ist, dass die Geschwülste nur innerhalb 
ihres Bereiches dauernde Symptome gesetzt haben, und das 
nur bei vorgeschrittener Schädigung der functionirenden Sub¬ 
stanz. Man wird also die einzelnen Ausfallserscheinungen mit 
ausserhalb der Geschwulst liegenden und mit den nur wenig 
beschädigten Gebilden nicht in Zusammenhang bringen können. 
Dieser Satz wird durch die ersten im Folgenden besprochenen 
Punkte bestätigt. Motorische Störungen im Bereiche der 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


169 


Extremitäten waren im ersten Falle Paralyse der rechten Extre¬ 
mitäten mit Reflexsteigerung entsprechend der starken diffusen 
Schädigung der linksseitigen Pyramidenbahn. Von den linken 
Extremitäten ist keine Störung der Muskelkraft notirt. Die 
anatomisch nachgewiesene Erkrankung der rechten Pyramiden¬ 
bahn hat nur Steigerung des Patellarreflexes verursacht. Wegen 
Fehlens von Contracturen durfte eine ausgebildete absteigende 
Degeneration nicht erwartet werden. Die lange vor dem Tode 
vorübergehend aufgetretene linksseitige Extremitätenparese ist 
wohl durch den Process im Rückenmark zu erklären, der sich 
mehr auf der linken Seite ausgebreitet hatte. 

In meinem zweiten Falle bestand nur Parese links, ent¬ 
sprechend der stärkeren Erkrankung der rechten Pyramidenbahn 
und beiderseitige Reflexsteigerung ohne Spasmen und Contrac¬ 
turen in Uebereinstimmung mit dem anatomischen Befund. 

Im Gebiete der motorischen Hirnnerven bestand im 
ersten Falle Hypoglossuslähmung auf Seite der Geschwulst, im 
zweiten Falle fehlte sie. Das stimmt mit dem anatomischen Be¬ 
fund insofern überein, als die Geschwulst im ersten Falle tiefer 
herabreichte. 

In beiden Fällen war der Facialis auf Seite der Ge¬ 
schwulst in allen Aesten gelähmt. Es ist hervorzuheben, dass 
im ersten Falle, trotz Zerstörung des Facialiskernes, im Augen- 
ast eine geringe Functionstüchtigkeit geblieben war, was für 
die seit Mendel’s 1 ) Untersuchungen angenommene Versorgung 
derselben vom Oculomotoriuskern sprechen kann. Allerdings sind 
auch die gekreuzten Wurzelfasern erhalten, denen man einen 
Einfluss auf den Orbicularis oculi zuschreiben kann. Die voll¬ 
ständige Lähmung des Facialis im zweiten Falle hat ihr anato¬ 
misches Substrat in der Zerstörung der Wurzelfasern. 

Einseitige Lähmung der Kaumuskeln, die im ersten 
Falle als Folge der Zerstörung des motorischen Trigeminuskernes 
und seiner Wurzel bestand, ist ein seltenes Vorkommniss bei Tumor. 
Delbanco 2 ) hat in seiner Zusammenstellung keinen Fall erwähnt. 
In jüngster Zeit sind in den Fällen Bristowe’s 5 ) und Jolly’s 
Kaumuskellähmungen beschrieben. 

') Neurol. Centralbl. 1887. 

2 ) Iuaug. Diss. 1891. 

'•’) Brain 1891. 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 


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170 


Dr. Ernst Bisehoff 


Im Falle Sommer bestand keine Störung der Kaumuskulatur. 

Die Augenmuskellähmungen, welche schon seit mehr 
als 40 Jahren ein wichtiges Capitel unter den Symptomen der 
ßriickenerkrankungen sind, erscheinen auch in meinen Fällen 
der genaueren Berücksichtigung werth, wenn auch die Kranken¬ 
geschichten nicht alle erwünschten Auskünfte geben. 

Im Falle N e urat bestand anfangs isolirte Abducenslähmung 
links und Nystagmus beim . Blicke nach rechts. Später wurde 
wieder Nystagmus constatirt, Abducenslähmung links, unvoll¬ 
kommene Einwärtsbewegung des rechten Auges bei conjugirtem 
Blick nach links, was gegen die frühere secundäre Ablenkung 
nach innen sehr contrastirt und endlich Parese des rechten Ab- 
ducens, sowie Nystagmus beim Blicke nach rechts. 

Aus der Bemerkung in der Krankengeschichte des zweiten 
Falles, Lähmung beider Recti externi und interni, kann map 
den begründeten Schluss ziehen, dass eine doppelseitige 
Blicklähmung bestanden habe, da sicher keine anderweitige 
Augenmuskelstörung bestand und auch anatomisch die Kerne 
und Wurzelfasern des Oculomotorius intact befunden wurden. 
Die diagnostische Wichtigkeit der Lähmung der conjugirten 
Augenbewegungen wurde schon 1856 in Frankreich betont. In 
Deutschland hat zuerst Wernicke') den Satz aufgestellt, dass 
die conjugirte Blicklähmung durch Zerstörung des Abducens- 
kernes verursacht werde. Er konnte in der Literatur nur einen 
einwandfreien Fall zur Unterstützung dieser These finden. 1878 
hat Graux 2 ) fünf neue brauchbare Fälle mitgetheilt und an der 
Hand derselben, sowie histologischer Untersuchungen und einer 
Reihe von Thierexperimenten die Thesen aufgestellt, dass die 
seitlichen conjugirten Augenbewegungen vom Abducenskern 
aus innervirt werden, die Convergenzbewegungen aber vom 
Oculomotoriuskern und dass ein Faserzug am Boden des IV. Ven¬ 
trikels die Verbindung des VI. mit dem gekreuzten III. Ner¬ 
venkerne herstelle (als bewiesen nur bei der Katze angenommen). 

Kahler schloss sich dieser Annahme an, während Edinger 3 ) 
und Gudden 4 ) die Verbindung durch des hintere Längsbündel 

*) Aroh. f. Psych., VII. 

2 ) De la paralysie du moteur oculaire externe etc. Paris 1878. 

3 ; Vorlesungen etc. 

4 ) Ges. Abhandl. 


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Zwei Geschwülste Ger Brücke und ries verlängerten Markes. 171 


für nicht bewiesen hielten. 1891 hat Delbanco in seiner stati¬ 
stischen Arbeit über Ponstumoren 15 Fälle zusammengestellt, 
die dieses Symptom zeigten, und dabei der Ansicht Hunnius 1 ) 
Erwähnung gethan, dass eine gemeinsame Bahn vom Grosshirn 
herab für die Innervation der conjugirten Blickbewegungen be¬ 
stehe, so dass eine Blicklähmung auch durch Läsion des oberen 
Neurons entstehen könne. Da sein Fall nur zehn Tage lebte, 
hat er geringe Beweiskraft. Dagegen findet er unter 18 Fällen 
einige, die beweisen, dass ein Centrum für die conjugirten Augen¬ 
bewegungen in nächster Nähe des Abducenskernes liege. Ein 
Fall, den Delbanco citirt, 2 ) ist geeignet, neue Schwierigkeiten 
zu bereiten: Ein erbsengrosser Tumor in der Medulla oblongata 
bewirkte eonjugirte Blicklähmung. Quiocq nahm daher das Cen¬ 
trum unterhalb des Abducenskernes an. Dieselbe Annahme 
machte Senator (cit. bei Jolly) gelegentlich eines Falles, wo die 
Läsion vom spinalen Ende des Abducenskernes nach abwärts 
reichte. 

Auf Grund dieses Befundes und eines Falles von Siemer- 
ling, 3 )der aber wegen anderweitiger Augenmuskelstörungen nicht 
ganz einwandfrei erscheint, hat Jolly 4 ) die Hypothese vorge¬ 
bracht, dass vom gemeinsamen Centrum in der Vierhügelgegend 
eine geschlossene Bahn bis unterhalb des Abducenskernes her¬ 
absteigen, umbiegen und den Abducenskern berührend wieder 
aufwärts steigen könnte. Die letztere Hypothese ist geeignet, 
für alle Fälle eine Erklärung zu geben, es bestehen aber doch 
keine Beweise dafür, es sei denn, dass mau die Resultate einiger 
Experimente Graux’ 5 ) zu Gunsten derselben auslegt. Graux hat 
nämlich unmittelbar nach Verletzungen der dorsalen Theile der 
Medulla oblongata einige Millimeter unterhalb des Abducens¬ 
kernes eine Deviation der Augen nach der verletzten Seite ge¬ 
funden. Da die Thiere (Hunde) immer kurz nach der Operation 
starben, konnte das Symptom nicht weiter verfolgt werden. Man 
könnte sich vorstellen, dass durch die plötzliche Durchtrennung 
der von Jolly supponirten nervösen Schlinge eine vorübergehende 

*) Zur Symptomatologie der Brückeuerkr. 1881. 

2) Quiocq, Lyon med. 1881. 

3 ) Arcb. f. Psych. XXII. 

4 ) Arch. f. Psych. XXIV. 

s; 1. c. 

12 * 


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172 


Dr. Grast Bisohoff. 


Reizung der Fasern und eventuell eingeschalteten Ganglienzellen 
nnd dadurch die tonische Contraction der entsprechenden Mus¬ 
keln hervorgerufen werde. Weil aber Granx bei successiver Ver¬ 
letzung, die von obiger Stelle bis in den Abducenskern vordrang, 
im Momente der Zerstörung des Abducenskernes ein Umschlagen 
der Deviation auf die andere Seite beobachtete, ist man ge¬ 
zwungen, doch wieder in nächster Nähe des Abducenskernes 
oder in diesem ein Centrum für die conjugirte Bewegung anzu¬ 
nehmen, denn sonst hätte der contralaterale Rectus internus in 
seiner Contractur weiter verharren müssen. 

In den letzten Jahren erfuhr das besprochene Capitel noch 
eine Bereicherung durch zwei Fälle von Lähmung der 
conjugirten Bewegungen nach beiden Seiten. Der eine 
ist von Bristowe') mitgetheilt und dadurch interessant, dass 
anfangs associirte Deviation der Augen nach links bestand. Die 
Obduction, deren Ergebniss nur kurz mitgetheilt ist, ergab einen 
walnussgrossen Tumor in der Brücke, der den Boden des IV. Ven¬ 
trikels etwas vordrängte. Der andere ist der Fall Kolisch’, 2 ) 
in dem sich Zerstörung des Abducenskernes rechts, Verdrängung 
links und proximal bedeutende Schädigung beider hinteren Längs¬ 
bündel fand. 

Mit der Annahme, dass in Verletzungen des Abducens¬ 
kernes die Ursache der Blicklähmung zu suchen sei, sind meine 
Fälle leicht in Uebereinstimmung zu bringen. 

Im ersten Falle war entsprechend der angedeuteten Blick¬ 
lähmung nach links der linke Abducenskern im Ganzen in ein 
queres Oval verzerrt, etwas infiltrirt und von unten in geringer 
Entfernung von Geschwulstmassen umgeben. Der rechte Ab¬ 
ducenskern dagegen war gesund, ebenso die hinteren Längs¬ 
bündel in ihrem proximalen Verlaufe nirgends in unmittelbarer 
Berührung mit der Geschwulst. Das Symptom der Blickparese 
war allerdings durch die Abducenswurzelerkrankung getrübt. 

Im zweiten Falle bestand schwere Erkrankung beider Ab- 
dncenswurzeln und des rechten Abducenskernes. Bald oberhalb 
sind aber beide Längsbündel stark lädirt, so dass etwa dieselben 
Verhältnisse bestehen wie im Falle Kolisch’. Immerhin ist die 
Betrachtung sowohl des ersten, als auch des zweiten Falles und 

') Brain 1891. 

Wiener Klin. Woehensehr. 1893. 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


173 


ihre Vergleichung von Interesse. Die Zerstörung beider hinterer 
Längsbündel hatte im zweiten Falle genügt, die Einwärtswendung 
beider Augen bei conjugirten Bewegungen unmöglich zu machen. 
Durch das Zusammentreffen dieser Zerstörung der hinteren 
Längsbündel mit Zerstörung des Abducenskernes der einen und 
der Abducenswurzeln beider Seiten kam das Bild der doppel¬ 
seitigen Blicklähmung für Seitwärtsbewegungen zu Stande. Im 
ersten Falle hatte dagegen die Erkrankung des linken Abducens¬ 
kernes nicht nur Lähmung des gleichseitigen Musculus rectus 
externus, sondern auch Störungen in der Function des gekreuzten 
Musculus rectus internus bei conjugirter Bewegung nach links 
bewirkt 

Nach den bisherigen Erfahrungen wird eine Entscheidung, 
welche der oben angeführten Hypothese der Wahrheit entspricht, 
auf dem Wege der klinischen und pathologisch-anatomischen 
Beobachtung wohl nicht zu treffen sein. Eine genauere Kennt- 
niss des anatomischen Aufbaues und der Functionsart müssten 
da zu Hilfe kommen. 

Die Convergenzbewegungen, welche nach ziemlich über¬ 
einstimmender Angabe bei conjugirter Blicklähmung nicht ge¬ 
stört ist und auch bei der doppelseitigen Blicklähmung Kolisch’ 
als erhalten angegeben ist, ist in meinen Krankengeschichten 
nicht erwähnt. Wichtige Beiträge zu dem obigen Capitel können 
auch durch genaue Beobachtungen über Abschwächung der In¬ 
nervation einer associirten Augenbewegung geliefert werden. 
Nystagmus erscheint oft in Gesellschaft derselben und war auch 
in meinem Falle I vorhanden. Ueber reflectorische Augenbewe¬ 
gungen geben meine Fälle keinen Aufschluss. Aus den mit-* 
getheilten drei Fällen doppelseitiger Blicklähmung 
geht hervor, dass eine Erkrankung der Abducens- 
wurzel verbunden mit Erkrankung des proximalen 
hinteren Längsbündels oder seiner Umgebung auch 
ohne Kernläsion des Abducens das Symptom der Blick¬ 
lähmung erzeugt. 

Störungen der Sensibilität bestanden in beiden Fällen. 
Im Falle Neurat bestand alternirende Hypästhesie im Gesichte 
links, verbunden mit Anästhesie der Cornea und der Znngen- 
hälfte, und an den Extremitäten rechts in geringerem Grade. 
Die Anästhesie im Gesichte ist die Folge der Kern- und Wurzel- 


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174 


I)r. Frust HiscliotT. 


erkraukung des Trigeminus, die Hypästhesie der Extremitäten 
ist durch die theilweise Läsion der linken Schleife in ihrem 
ganzen Verlaufe durch die Brücke erklärt. 

Im Falle Sommer bestand eine Hypästhesie und Hypalgesie 
der ganzen linken Körperhälfte mit Einschluss des Gesichtes'. 
Die totale Zerstörung der medialen Schleife auf der rechten 
Seite, sowie der umgebenden Haubenbahnen, welche bis in die 
Vierhügelgegend hinaufreicht, macht diesen Befund verständlich; 
so wie die sensiblen Bahnen von den Extremitäten und vom 
Rumpf sind auch die aus dem Gesichte kommenden Fasern erst 
nach der Kreuzung in ihrem centripetalen Verlaufe unterbrochen. 
Eine andere Erklärung, etwa durch Annahme einer Unterbrechung 
während der Kreuzung, ist sehr unwahrscheinlich, weil dann in 
der anderen Gesichtshälfte auch Störungen erwartet werden 
müssten, deren die Raphe überschreitende Fasern einen viel 
weiteren Weg durch die Geschwulst zurückzulegen haben. Sehr 
ähnlich diesem Falle ist Fall 7 von Delbanco: 1 ) Anästhesie des 
Gesichtes und der Extremitäten rechts, Facialisparalyse links, 
motorische Lähmung der Extremitäten rechts. Complicirter und 
in der Deutung anfechtbar ist Wernicke’s Fall: 2 ) Tonischer Krampf 
im linken Masseter und Sensibilitätsabstumpfung im Gesichte 
und am behaarten Kopfe rechts bis in den Nacken. Die Tuberkel 
lag links unter dem Boden des Ventrikels, sein oberes Ende 
hatte die gekreuzte Quintuswurzel unterbrochen, die in der 
rechten Hälfte degenerirt war. 

Diese Degeneration sollte die Ursache der Anästhesie 
sein. Man kann aber heute der gekreuzten Wurzel eine so 
wichtige Rolle in der sensiblen Leitung nicht zusprechen. Auch 
hier könnte man eher eine Unterbrechung in der Haube nach 
der Kreuzung der- sensiblen Wurzeln oder des proximalen 
Neurons annehmen, die durch den in oberer Olivenhöhe viel 
umfangreicheren Tumor verursacht wäre, wenn man nicht zur 
Eventualität einer functionellen Lähmung seine Zuflucht nimmt, 
die wegen der Ausdehnung der Anästhesie bis in den Nacken 
immerhin möglich erscheint. 

Entsprechend den Resultaten der neuesten Forschung war 
im ersten Falle durch die Wurzelläsion des Trigeminus sowohl 

') Finny, Dublin Journ. 1889. 

2 ) Arfb. f. Psych. VII. 


♦ 


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Zwei Geschwülste der Brücke nud des verlängerten Markes. 175 


Anästhesie als Geschmacksstörung erzeugt worden, während 
die Intactheit des Geschmackes im zweiten Falle auf centrale 
Localisation der Trigeminasaffection hinweist. 

Meine Fälle bieten also keinen Anhaltspunkt für die An. 
nähme, dass die Zerstörung der gekreuzten Trigeminuswurzel 
am Boden des IV. Ventrikels ein Symptom von Seite des moto¬ 
rischen oder sensiblen Trigeminus erzeugen würde. Dagegen 
sprechen sie dafür, dass auch die Geschmacksfasern gemeinsam 
mit dem Trigeminus ins Gehirn eintreten. Im Gegensätze zu der 
Störung sowohl der Sensibilität als auch des Geschmackes im 
ersten Falle bei Wurzelläsion, war durch die Zerstörung in der 
gekreuzten Haube im zweiten Falle nur Störung der Sensibilität 
im Gesichte entstanden, während die Kaumuskeln und der Ge¬ 
schmackssinn nicht gestört waren. Offenbar sind die sensiblen 
centralen Trigeminusfasern an einer Stelle unterbrochen worden, 
wo sie schon getrennt von den motorischen und den Geschmacks¬ 
fasern verlaufen. 

Dieser Fall bietet endlich ein schönes Beispiel einer cen¬ 
tralen Störung des Quintus und beweist, dass auch bei Erkran¬ 
kungen in der Brücke gleichseitige Sensibilitätsstörungen in 
Gesicht und Extremitäten auftreten können, ohne dass die Sen¬ 
sibilität im Gesichte auf der Seite der Läsion gestört ist. 

Der auffallende Befund von Hautnarben auf der linken 
Brust, der im Sectionsprotokolle des ersten Falles verzeichnet 
ist, in Verbindung gebracht mit der bestehenden Syringomyelie, 
legt die Annahme nahe, dass eine Thermoanästhesie daselbst 
bestanden haben könne, welche durch die Erkrankung der 
hinteren Wurzeleinstrahlung und der grauen Substanz hin¬ 
reichend erklärt wird, ebenso wie die Verengerung der linken 
Pupille am natürlichsten durch Affection der linken Sym- 
pathicusfasern daselbst erklärt werden kann. 

Ataxie bestand in beiden Fällen. Wegen der vollständigen 
Lähmung der rechten Extremitäten im ersten Falle muss die 
Frage offen bleiben, ob sie ataktisch waren. Die anamnestische 
Angabe von Ungeschicklichkeit der rechten Hand deutet darauf 
hin, dass entsprechend der ausgedehnten Erkrankung der 
linken Haube rechts Ataxie bestanden habe. Die leichte Ataxie 
der linken Hand kann mit verschiedenen Veränderungen erklärt 
werden. Am einfachsten erscheint es, die Höhlenbildung in der 


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176 


I)r. Ernst Bischoff. 


linken hinteren Wurzelregion im Cervicalmark dafür verant¬ 
wortlich zu machen. Dabei muss aber auffallen, dass die Sensi¬ 
bilität dieser Extremität nicht als gestört angegeben ist. Gerade 
bei Erkrankung der hinteren Wurzeln müsste man ein enges 
Zusammengehen dieser zwei Symptome erwarten. Die von 
Moeli und Marinesco') mit der Ataxie in Zusammenhang ge¬ 
brachte Stelle der Haube war rechts gesund; dagegen ist das 
Kleinhirnmark, der Brückenarm und der Strickkörper links 
stark erkrankt, welche mit der Regulirung der Bewegungen 
der gleichen Körperseite in Beziehung stehen, wie das nach 
den Versuchen von Luciani, Ferner und Turner, Rüssel u. s. w. 
feststeht. Die von Marchi, Biedl und Pellizzi gefundenen, ab¬ 
steigend degenerirenden Kleinhirnbahnen waren in meinem 
Falle gewiss auch erkrankt. Ich muss diese Frage wegen der 
Complicirtheit der Verhältnisse unbeantwortet lassen, besonders 
weil im zweiten Falle trotz Läsion des rechten oberen und 
mittleren Kleinhirnstieles und eines Theiles der Kleinhirnseiten¬ 
strangbahn rechts keine Ataxie bestand. 

Da man über die Entstehungsart der Ataxie noch sehr im 
Unklaren ist, muss dieses Symptom, das hier, wie nur selten, 
ohne Sensibilitätsstörung aufgetreten ist, hervorgehoben werden. 
Hofstetter 2 ) hat in einem Falle ohne Sensibilitätsstörungen die 
Ataxie als rein motorische Störung aufgefasst, als Folge einer 
ruckartigen Contraction der einzelnen Muskeln. Es scheint 
aber, dass die Ataxie immer mit diesen Contractionen einher¬ 
gehen muss, dass also kein Grund vorliegt, den Fall Hofstetter’s 
besonders zu unterscheiden. Im Obductionsbefnnde erscheinen 
dort auch die Haubenbahnen geschädigt. 

Im Falle Sommer waren die linken Extremitäten deut¬ 
lich ataktisch. Man wird dieses Symptom wohl ohne Wider¬ 
spruch der ausgedehnten Schädigung der rechten Haube zu¬ 
schreiben können. Die von Moeli und Marinesco durchgeführte 
Trennung der Localisation von sensiblen und ataktischen Sym¬ 
ptomen kann an meinen Fällen wegen der grossen Ausdehnung 
der Geschwülste nicht geprüft werden. 

In beiden Fällen war das Sehvermögen gut erhalten, 
bestand keine Stauungspapille. 

>) Aroh. f. Psych. XXIV. 

2 ) Inaug. Disfi. Zürich. 


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Zwei Geschwülste Her Hrüeke mul des verlängerten Markes. 


177 


Im ersten Falle bestand Taubheit links, entsprechend der 
Acnsticuserkrankung. Die Erkrankung der linken lateralen 
Schleife und des linken hinteren Vierhügels hätte auch eine 
Abnahme der Hörfähigkeit am rechten Ohr erwarten lassen. 
Genaue Angaben darüber fehlen, doch deutet die Angabe des 
Kranken, dass sein Gehör immer schlechter geworden sei, an, 
dass die Leitungsfähigkeit beider Acusticusbahnen gelitten habe. 

Im zweiten Falle bestand Taubheit rechts, Schwerhörig¬ 
keit links, in Uebereinstimmung mit der Schwere der Erkrankung 
der beiden Acusticuskerne. Es ist auffallend, dass die schwere 
Erkrankung der rechten lateralen Schleife und des rechten 
hinteren Vierhügels nur Schwerhörigkeit links .verursachte. 
Doch ist, wie im ersten Falle, die Hörfahigkeit progressiv ge¬ 
schwunden und in den letzten Krankheitstagen nicht geprüft. 
Jedenfalls sprechen auch diese Verhältnisse dafür, dass man in 
derartigen Geschwülsten einem auch nur theilweise erhaltenen 
Faserbündel noch Functionsfähigkeit zusprechen muss, wie das 
an den Pyramiden, den Schleifen, den Trigeminuswurzeln in 
einem oder dem anderen meiner Fälle zu constatiren ist. Ver¬ 
tigo ist im Falle Sommer sehr ausgesprochen und als seltenes 
Vorkommniss bei Intactheit des Kleinhirns hervorzuheben. Die 
Erkrankung des N. vestibularis, aber auch die bekannte 
Neigung Tumorkranker zu Schwindel erklären dieses Symptom. 
Das Romberg’sche Phänomen kann mit der Erkrankung des 
rechten Bin^earmes erklärt werden. Die Neigung, nach der 
linken Seite zu gehen und zu fallen, entspricht den neueren 
Resultaten bei Exstirpation einer Kleinhirnhemisphäre, kann 
aber in unserem Falle gegen die Erklärung dieses Symptomes 
durch Rüssel 1) angeführt werden, dass nämlich die Abweichung 
nach der gekreuzten Seite durch das Bestreben entstehe, die 
der Läsion entsprechende Körperseite möglichst zu entlasten. 
In meinem Falle bestand wegen der Parese links jedenfalls das 
Bestreben, das linke Bein zu entlasten und doch Neigung, nach 
links zu gehen. 

An den anatomischen Befunden ist der fast völlige 
Mangel des Nachweises secundärer Degenerationen her¬ 
vorzuheben. Dasselbe Resultat ist schon wiederholt mitgetheilt 


1 ) Philosophical Transactions 1894. 


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178 


Dr. Ernst Bischoff. 


worden, und die Erklärung dafür darin gesucht, dass auch in 
den scheinbar ganz des Nervengewebes beraubten Theilen noch 
Nervenfasern liegen dürften, die nicht nachweisbar sind, und 
dass andere Faserzüge an den Rändern der Geschwulst zu- 
sammengedrängt und nicht mehr richtig erkannt würden. Das 
Fortbestehen von Nervenfasern in der Geschwulst konnte in 
meinen beiden Fällen nachgewiesen werden, und es ist erwäh- 
nenswerth, dass diese Fasern sich oft nach der Methode der 
Markscheidenfärbung nicht gefärbt hatten und deshalb nur 
bei genauer Besichtigung erkennbar waren. Es ist aber auch 
zu betonen, dass geringe Grade und der Beginn secundärer 
Degenerationen an solchen Präparaten schwer und oft gar nicht 
erkannt werden, was man an Vergleichung mit Märchi-Färbung 
schon oft gefunden hat. Wegen dieser Unsicherheit in der Be¬ 
urteilung und wegen der Unregelmässigkeit der Zustände, in 
denen sich die einzelnen Faserzüge in meinen Fällen befanden, 
habe ich auf eine Verfolgung und Ausnützung dieser Verhält¬ 
nisse zu Untersuchungen über den normalen Aufbau des 
Organes verzichtet. Durch die in Geschwülsten auftretenden 
Verschiebungen und Richtungsänderungen wird die Möglichkeit 
grober Täuschungen sehr gesteigert. Die in der Arbeit Geb- 
hard’s ') versuchte Erklärung der raschen Erholung des (schein¬ 
bar) ganz unterbrochenen Pyramidenstranges unterhalb der 
Unterbrechung durch Zuzug neuer Fasern aus der Brücke steht 
sowohl mit den Ergebnissen der anatomischen Forschungen in 
Widerspruch, als auch mit meinem zweiten Falle, in dem die 
Pyramidenfasern bis weit ins verlängerte Mark durch Geschwulst 
rings umgeben und von der Brückenfaserung getrennt waren 
und doch unterhalb der Geschwulst nur geringe Veränderungen 
zeigten. Zudem bestand die Lähmung in Gebhard’s Fall nur 
drei Monate, und aus den Ergebnissen vieler Beobachtungen 
geht hervor, dass das Bild der anatomischen Veränderungen in 
der Geschwulst viel hochgradigere Zerstörungen vermnthen lässt, 
als sie vorhanden waren. Man kann also seinen Befund durch 
die Annahmen erklären, dass erstens erhalten gewesene Fasern 
nicht nachgewiesen werden und zweitens die Degeneration schon 
weiter vorgeschritten war. als es den Anschein hatte. Man ist 


') Inaug. Dias. Halle 1887. 


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Zwei Geschwülste der Brücke und des verlängerten Markes. 


179 


ja noch weit davon entfernt, eine functionsfähige Nervenfaser 
von einer nicht leitungsfähigen immer unterscheiden zu können. 
So kann ein Nervenbündel von ganz normalem Aussehen sein, 
bei Weigert-Färbung keine abnormen Markscheidenbilder und bei 
Carminfarbung normale Axencylinder zeigen, und dennoch nicht 
mehr functionsfähig sein. Die Thatsache, dass man in den Ge¬ 
schwülsten oft von einer nervösen Bahn, die sicher noch func- 
tionirt hat, fast keine Spur auffinden kann, und andererseits in 
nächster Nähe des Herdes scheinbar wohlerhaltene Bahnen 
sieht, die gewiss keinen Nervenstrom mehr geleitet haben, 
zwingt zu dem Schlüsse, dass eine geringere Schädigung der 
Function in den Präparaten viel deutlicher zum Ausdrucke 
kommen kann als eine grössere, je nach der Stelle, wo die 
Untersuchung ausgeführt wird. 

Zum Schlüsse habe ich noch eine angenehme Pflicht zu 
erfüllen, indem ich Herrn Professor Anton in Graz für die 
Ueberlassung der Krankengeschichte und des Präparates des 
aus der Meynert’schen Klinik stammenden ersten Falles meinen 
besten Dank ausspreche. 


Anmerkung: Aus Versehen ist im Text die Figur (i auf Seite 104 und 
die Figur IS auf Seite 151 gesetzt worden. Die Abbildung auf Seite 1(54 bezieht 
sieh auf den ersten, die Abbildung auf Seite 151 auf den zweiten Fall. 


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(Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner.) 

Beitrag zur Kwintniss (los IMirium tremens. 

Nach einem in der Sitzung des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien 
vom 9. Juni 1896 gehaltenen Vortrage. 

Von 

Dr. Adolf Elzholz, 

Assistent der Klinik. 

Die Erörterungen, welche im Nachfolgenden sich mit dem 
Delirium tremens beschäftigen, gründen sich im Wesentlichen 
auf Befunde, welche durch dem psychiatrischen Forschungsgebiete 
etwas ferner gelegene Methoden gewonnen wurden. Die An¬ 
regung zu den hier in Betracht kommenden Untersuchungen er¬ 
gab sich aus dem in der modernen Psychiatrie gewiss mit Recht 
zur Geltung kommenden Bestreben, die Beziehungen zwischen 
somatischen und psychischen Veränderungen, die Wechselwirkung 
zwischen körperlichen und geistigen Abnormitäten an der Hand 
neuer und anderen Disciplinen entlehnter Methoden zu untersuchen. 

Dieser Gesichtspunkt, sowie der Umstand, dass die Häma¬ 
tologie, dieser Ableger der internen Medicin, auch auf vielen 
anderen Gebieten medicinisclier Specialfacher in jüngster Zeit 
das Bürgerrecht gewonnen, legten es mir nahe, die Blutbefunde 
bei Psychosen mit den neueren Blutuntersuchungsmethoden zu 
erheben. 

Im Nachfolgenden werden hämatologische Befunde be¬ 
sprochen, die ich beim Delirium tremens, einer ohnehin von 
markanten somatischen Erscheinungen begleiteten Psychose ge¬ 
wonnen habe. Ich werde mir erlauben, bei den bisher nur sehr 
spärlich vorhandenen Beziehungen zwischen der Psychiatrie und 
der Hämatologie mit einigen kurzen Bemerkungen das Ver- 
ständniss der nachfolgenden Befunde vorzubereiten. 

Die rotken Blutkörperchen als den durch die hier zu be¬ 
sprechende Krankheit wenig alterirten Bestandtheil des Blutes 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


181 


lasse ich beiseite. Die folgenden Ausführungen beschäftigen 
sich nur mit dem Verhalten der Leukocyten. 

Für unsere Zwecke wird es genügen, drei Formen von 
Leukocyten (wie sie auch dem normalen Blute zukommen) zu un¬ 
terscheiden. Nimmt man nach Ehrlich als Unterscheidungsprincip 
das Fehlen oder Vorhandensein von Granulationen in dem Proto¬ 
plasma der Zellen an, so hätten wir zunächst Zellen mit und Zellen 
ohne Granulationen auseinanderzuhalten. Die letzteren können wir 
mit der generellen Bezeichnung der mononucleären Leukocyten 
zusammenfassen. In den mit dem Ehrlich’schen Drei-Farben¬ 
gemisch gewonnenen Präparaten sind letztere durch einen bald 
kleineren, bald grösseren intensiv bläulich grünen bis schwach 
bläulich violetten Kern mit bald kaum sichtbarer, bald reich¬ 
licher Protoplasmaumhüllung gekennzeichnet, letztere ist frei von 
färbbaren Körnelungen. Der Kern dieser Zellen ist bald rund, 
bald oval oder zeigt Einkerbungen. Diese Zellen sind ver¬ 
schieden gross; sie sind kleiner, grösser und bis zweieinhalbmal 
so gross wie ein rothes Blutkörperchen. 

Die Zellen, deren Protoplasma Granulationen aufweist, 
zerfallen je nachdem, ob letztere sich mit neutralen Farbstoffen 
oder mit sauren tingiren, in neutrophile und acidophile Leukocyten. 

In den mit dem Ehrlich’schen Triacidgemisch gefärbten 
Präparaten präsentiren sich die neutrophilen Leukocyten als 
bald grössere, bald kleinere, die Erytrocyten an Grösse jedoch 
stets überragende Zellen, deren Kern vielgestaltig oder mehr¬ 
fach und deren Protoplasma von einer feinen, ungleichmässigen, 
röthlich violetten Körnelung erfüllt ist, die acidophilen Zellen 
unter dem geläufigeren Namen der eosinophilen bekannt als 
Leukocyten von ähnlichen Charakteren, wie bei den vorge¬ 
nannten, nur sind hier die eingelagerten Granula viel grösser, 
zumeist gleichmässiger und zeigen eine ziegelrothe Färbung. 

Diese drei Leukocytenarten, namentlich ihre numerischen 
Procentverhältnisse im Verlaufe des Delirium alcoholicum waren 
das Object meiner Untersuchungen. 

Im Beginn derselben bediente ich mich hierzu gleichzeitig der 
Zählung im Ehrlich’schen Trockenpräparate und meiner 1 ) im 

] ) Elzholz, Neue Methode zur Bestimmung der absoluten Zahlenwerthe der 
einzelnen Leukocytenarten im Kubikmillimeter Blut. Wiener Klinische Wochen¬ 
schrift Nr. 82, 1894. 


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182 


Dr. Adolf Elzholz. 


Mai 1894 in der Gesellschaft der Aerzte mitgetkeilten Methode 
und dies, um absolut zuverlässige Resultate zu erzielen; als ich mich 
aber überzeugte, dass die durch beide Methoden erhaltenen 
Zahlen manchmal gar nicht, in einzelnen Fällen nur um wenige 
Procente differirten, Procentzahlen, die bei den von mir gefun* 
denen Werthen gar nicht in Betracht kamen, beschränkte ich 
mich auf Zählungen mit meiner Methode* durch die ich gleich* 
zeitig in die Lage versetzt war, die absoluten Zahlenwerthe der 
einzelnen Leükocytenarten und deren Summen im Kubikmilli¬ 
meter Blut zu bestimmen.') 

Indem ich nun zur Besprechung der Befunde übergehe, 
möchte ich noch feststellen, in welcher Weise ich die gewonnenen 
Zahlen der angeführten Leükocytenarten zu Schlüssen verwerthe. 
Ich halte mir zunächst hierbei die Normalzahlen der einzelnen 
Leükocytenarten vor Augen, was allerdings bei der Verschieden¬ 
heit der darauf bezüglichen Angaben der einzelnen Autoren 
einige Schwierigkeiten hat. Um diesen möglichst einwandsfrei 
zu begegnen, will ich die Procentzahlen von 66 bis 73 Procent 
bei den polynucleären Neutrophilen, von 24 bis 32 Procent bei 
den Mononucleären, einschliesslich der nicht granulirten Ueber- 
gangsformen und von 1'5 bis 4-5 Procent bei den eosinophilen 
Zellen als in der Gesundheitsbreite schwankend annehmen. 
Wichtiger aber als dieser Gesichtspunkt des Vergleichens mit 
normalen Zahlen ist unstreitig für die Verwerthung gewisser 
Befunde als pathologischer Zeichen die Constatirung weitgehen¬ 
der Schwankungen in den Verhältnisszahlen der Leukocyten, 
erstens bei einem und demselben Individuum, und zwar, wenn 
diese Schritt für Schritt die sonstigen markanten Krankheits¬ 
phasen begleiten, und zweitens bei einer Reihe von Individuen, 
die unter sonst gleichen Erscheinungen erkrankt sind und bei 
denen diese Schwankungen eine bis zu einem gewissen Grade 
gesetzmässige Richtung einhalten. 


') Die seinerzeit gemachten Angaben, betreffend die Herstellung des Prä¬ 
parates nach meiner Methode, möchte ich heute in einem Punkte modificiren. 
Es bezieht sich dies auf die Frage, wie lange man die Kammer stehen lassen 
muss, bis alle Leukocytenformen genau differencirt sind; ich habe mich überzeugt, 
dass es nöthig ist, die Leukocyten durch mehrere Stunden (vier bis fünf Stunden) 
der Einwirkung des Farbengemisches auszusetzen, bis in allen neutrophilen 
Leukocyten der violette Farbenton ihrer Körnungen manifest wird. 


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Ans der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


183 


Die Resultate, zu denen ich gelangt bin, stützen sieh auf 
16 von mir untersuchte Fälle von Delirium tremens; 1 ) bei ein¬ 
zelnen davon ist die Gestaltung der Zahlenverhältnisse ge¬ 
nannter Leukocytenformen durch Wochen verfolgt worden. Es 
war in der Natur der mir gestellten Aufgabe begründet, dass 
ich jene Fälle von Delirium in den Kreis meiner Untersuchungen 
nicht einbezog, bei denen ein somatisches Leiden als provo- 
catorisches Moment der Erkrankung vorlag; es würde ja dann 
fraglich werden, ob die gewonnenen Resultate im Blutbilde der 
Ausdruck der für die Psychose als ätiologisches Moment wirk¬ 
sam gewesenen somatischen Erkrankung sind, oder ein Abbild 
der die Psychose begleitenden abnormen Vorgänge in den 
Werkstätten der Blutbildung oder den blutführenden Organen 
darzustellen haben. 

Ich habe daher Fälle von Pneumonie, von Gelenksrheuma¬ 
tismus und sonstigen, durch unsere Untersuchungsmethoden 
feststellbaren somatischen Erkrankungen, die von einem Delirium 
complicirt waren, bis auf zwei Fälle in Ablauf begriffener 
Pneumonie zu Controlzwecken, nicht berücksichtigt. 

Eine ausführliche Mittheilung der Krankengeschichten und 
eine sich daran anschliessende Citirung der Zahlen kann wohl 
umgangen werden, nur im Allgemeinen sollen hier die Thatsachen 
und die sich daraus ergebenden Schlüsse vorgeführt werden. 
Die Details ergeben sich aus der beifolgenden Tabelle. 

Zunächst wäre hier das Verhalten der Gesammtzahlen der 
Leukocyten zu erwähnen. In sieben Fällen (T. Fall 1, 2, 3, 5, 
6, 8, 11) fand sich eine Vermehrung der Leukocyten, und zwar 
zusammenfallend mit der Höhe des Delirium, es sind dabei die 
zwei Fälle (T. Fall 4 und 7) von Delirium bei nachweisbarer 
Pneumonie nicht einbezogen; mit dem Abklingen des Delirium 
nimmt die Zahl der Leukocyten ab, in zwei Fällen (Fall 1, 6), 
wo die Zählungen an Tagen ausgeführt wurden, zwischen 
welche sich der kritische Schlaf einschob, konnte ein sofortiges 
extremes Sinken der Leukocytenzahl selbst bis unter die Norm 
constatirt werden; in anderen Fällen (Fall 11) scheint die 
niedrigste Zahl der Leukocyten erst allmählich erreicht zu 
werden, worauf dann unter Schwankungen eine Aufwärts- 


*} Siehe beigeschlossene Tabelle. 


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Dr. Adolf Elzholz. 


bewegung der Zahlen bis zu dem für das Individuum scheinbar 
constanten Werth erfolgt. Die Leukocytosen sind hier nie be¬ 
sonders hochgradige, die Zahlen, die ich fand, schwankten 
zwischen 8265 (Fall 3) und 14466 (Fall 6). Hierbei möchte ich 
mir zu bemerken erlauben, dass die mit meiner Methode (durch 
die es ermöglicht ist, den Gehalt an weissen Zellen in 9 /ioo 
Kubikmillimeter nativen Blutes in einem Präparate zu bestim¬ 
men) 1 ) erhaltenen normalen Mittelwerthe der Leukocyten im 
Kubikmillimeter Blut kleiner sind als die von anderen Au¬ 
toren angegebenen. Ich bin geneigt, Werthe von 6000 bis 
7000 als normale, von 4500 bis 5000 als untere und 8000 
als obere Grenzwerthe anzusehen. Diese Zahlen stehen am 
nächsten den von Tumas 2 ) gefundenen. Schwerlich kann man 
das Material, an dem ich arbeite, liiefür verantwortlich 
machen, da ich auch bei kräftigen Wärtern und einigen an¬ 
deren gesunden Individuen keine höheren Werthe erhoben 
habe. Nur in einem Falle (Fall 9), der in den erwähnten sieben 
nicht enthalten ist, fand ich Leukocytose am vierten Tage nach 
Beginn der Klärung, während am Tage meiner ersten Unter¬ 
suchung nur eine hohe Normalzahl zu constatiren war. Dass es 
sich in all diesen Fällen um Leukocytenvermehrung handelte 
und nicht um abnorm hohe, aber für die betreffenden Individuen 
habituelle Werthe, ergab sich aus dem weiteren Verlaufe, der 
ein mehr oder minder rasches Absinken der Leukocytenzahl 
aufwies. Fragen wir uns nach den weiteren Eigenthümlichkeiten 
der mit Leukocytenvermehrung einhergehenden Fälle, so wäre 
hervorzuheben, dass es sich bei allen um schwerere Erscheinungs¬ 
formen des Delirium handelte. 

Auf die Unterscheidung der Fälle in schwerere und 
leichtere, auf die Kriterien, welche diese Unterscheidung zu 
machen gestatten, werde ich noch etwas ausführlicher zurück¬ 
kommen. 

Als zweite Besonderheit dieser Fälle ist das Verhalten 
der Temperatur zu kennzeichnen. In vier (Fall 1, 2, 3, 6) von 
den sieben Fällen bestanden während der Dauer des Delirium 


') In der gewöhnliehen Zeiss’sehet) Kammer wird ‘/ioo Kubikmillimeter, nach 
der Zappert’schen Methode in einem Präparate "/„*= 0009 Kubikmillimeter 
nativen Blutes auf Leukocyten durchsucht. 

-) Deutsches Archiv für klinische Medicin 1887, Bd. XU, S. 323. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


185 


Fieberbewegungen. In einem Falle stieg die Temperatur über 
39 Grad, in den übrigen drei Fällen erreichte sie kaum 38 Grad 
oder stieg etwas darüber. Ich glaube es nicht unterlassen zu 
sollen, hier anzudeuten, dass unter den sieben Fällen von 
Leukocytose ein fieberloser Fall (Fall 11) einen annähernd so 
hohen Leukocytenwerth erreichte, wie ein anderer fiebernder 
(Fall 1). Hingegen befand sich unter den ohne Leukocytose 
verlaufenden Fällen kein einziger, der nachweisbar höher ge¬ 
fiebert hätte. 

Nun wende ich mich der Besprechung der Verhältnisse 
der verschiedenen Leukocytenarten auf der Höhe der Erkrankung 
und während des Ablaufes derselben zu. Mit einer überraschen¬ 
den Gesetzmässigkeit wiederholen sich hier zunächst die Be¬ 
funde bei voll ausgebildetem Delirium in allen Fällen, bei denen 
sich Gelegenheit bot, in diesem Stadium der Erkrankung das 
Blut zu untersuchen. Ich fand ein auffallendes Ueberwiegen der 
polynucleären, neutrophilen Leukocyten über die einkernigen. 
Wir haben als Spielraum, innerhalb dessen die Werthe der 
Polynucleären noch als normale gelten können, die Zahlen 
66 bis 73 Procent angenommen; in den von mir untersuchten 
Fällen ausgeprägten Deliriums betrugen 80 Procent das Mini¬ 
mum (Fall 11), 97-9 Procent das Maximum (Fall 5) der relativen 
Werthe für die Neutrophilen, 18 Procent (Fall 11) das Maximum, 
2-1 Procent (Fall 5) das Minimum für die der Mononucleären 
bei einer für die Normalverhältnisse der letzteren festgesetzten 
Amplitude von 24bis 32 Procent. Die Differenzen zwischen den von 
mir erhaltenen Zahlen und den Normalzahlen sind so grosse, dass 
man erstere zweifellos als pathologische bezeichnen, und bei 
dem Umstande, als sie sich in der überwiegenden Zahl der 
Fälle wiederholten, als dem Krankheitsbilde des Delirium alcohol. 
zugehörig mit Recht ansehen kann. Eine kleine Einschränkung 
muss allerdings das soeben Gesagte erfahren. 

In zwei Fällen (Fall 13 und 15) waren diese Blutverän¬ 
derungen nicht so ausgeprägt; die Tendenz zu diesen Verän¬ 
derungen war jedoch nicht zu verkennen, es wurde in einem 
Falle (Fall 15) die obere Grenze der Norm von 74 4 Procent 
der Polynucleären und die unterste Grenze von 24*7 Procent 
für die Mononucleären, in einem zweiten (Fall 12) 78-6 Procent 
für die Polynucleären, 20-2 Procent für die Mononucleären 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 13 


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Dr. Adolf Elzholz. 


erreicht; doch bot es gerade ein besonderes und den auffälligen 
Parallelismus zwischen psychischer Störung und den Blutver¬ 
änderungen beleuchtendes Interesse zu sehen, wie in diesen 
beiden Fällen die Krankheitssymptome des Delirium nur ange¬ 
deutet waren. In beiden Fällen konnte der Rapport mit den 
Kranken ohneweiters hergestellt werden; auf Fragen erfolgten 
sofort prompte und concise Antworten, es bedurfte nicht inten¬ 
siverer Anregung ihrer Aufmerksamkeit, um von ihnen das Ge¬ 
wünschte zu erfahren, das Examen vollzog sich in gewöhnlichem 
Conversationstone, die Hallucinationen, die, wenn die Kranken 
sich überlassen waren, nicht fehlten, occupirten jedoch ihr Be¬ 
wusstsein in nur geringem Grade, so dass sie sich durch die 
reellen Vorgänge leicht ablenken Hessen. Die geringere Inan¬ 
spruchnahme durch continuirliche Delirien documentirte sicli 
ferner in dem Fehlen der bekannten beweglichen Geschäftigkeit, 
in der relativen Sicherheit der Bewegungen, die Tremores 
waren gering, es fehlten die Schweisse. So wusste der eine mit 
den nahezu normalen Leukocytenwerthen, dass er sich im 
Spitale befinde, er konnte das Datum richtig angeben und 
machte sich über den Arzt lustig, dass es ihm gelungen, 
ersterem den Glauben beizubringen, dass er ein Stück Brot für 
eine Maus angesehen. Beide Fälle verliefen rasch und günstig. 
Ich möchte mir noch zu bemerken erlauben, dass die Blutent¬ 
nahme in beiden Fällen des Nachts (um 9 Uhr) geschah, zu 
einer Zeit, welche die Delirien begünstigt; auch war während 
des Aufenthaltes beider Kranken in der Anstalt die Intensität 
des Delirium nie stärker ausgeprägt als zur Zeit der Blutent¬ 
nahme. 

Den Uebergang von den leichten zu den schwereren 
Fällen und, wie dieser auch im Blutbefunde sich ausprägt, ist 
folgender Fall zu illustriren geeignet (Fall 1); er betraf einen 
Kranken, der bei seiner Ankunft fieberlos und trotz ausge¬ 
prägten Deliriums noch relativ klar war, namentlich mit schlag¬ 
fertiger Präcision anamnestische Angaben machte, die sich nach¬ 
träglich als durchaus correct erwiesen. 

Bei der Ankunft dieses Kranken fand ich 79‘34 Procent 
Polynucleäre und 19'27 Procent Mononucleäre, während die 
Untersuchung am nächsten Tage, da er nach durchwachter 
Nacht ein stärker getrübtes Bewusstsein, hochgradige Unruhe, 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


187 


profuse Schweisse, eine Temperatur von 38-2 Grad darbot und 
es nicht möglich war, den Kranken auf die einfachsten Dinge 
zu fixiren, 88 - 73 Procent Polynucleäre und 11 "27 Mononucleäre 
feststellte. 

Ein zweiter Fall (Fall 11), dessen Bewusstseinszustand 
im Laufe eines Tages zwischen Vormittag und Abend eine ähn¬ 
liche Schwankung aufwies, sich aber durch den fieberlosen Ver¬ 
lauf von dem ersten unterschied, zeigte eine übrigens allen 
übrigen Befunden zuwiderlaufende Tendenz, indem am Vormittag 
bei einer Normalzahl von Leukocyten im Kubikmillimeter Blut 
80 Procent Polynucleäre und 18 Procent Mononucleäre, Abends 
auf der Höhe des Delirium bei einer Leukocytenzahl von 10133 
64-3 Procent Polynucleäre und 34-6 Procent Mononucleäre, also 
nahezu normale Verhältnisszahlen gefunden wurden; am darauf¬ 
folgenden Tage finden wir nach Eintritt des kritischen Schlafes 
wiederum für das Delirium charakteristische Zahlen: 81*1 Procent 
Polynucleäre, 17 3 Procent Mononucleäre. Ich glaubte diesen 
Befund, der mit seinen nahezu normalen Verhältnisszahlen bei 
einer bestehenden Leukocytose auf der Höhe des Delirium 
unter allen Fällen eine Ausnahme bildet, der Vollständigkeit 
halber hervorheben zu müssen und wäre versucht, auf diesen 
den vielleicht trivialen Spruch anzuwenden, die Ausnahme be¬ 
stätigt die Regel. 

Was geschieht nun im weiteren Verlaufe des Delirium? 

Aus der darüber zusammengestellten Tabelle geht hervor, 
dass innerhalb der ersten drei bis vier Tage ein Ueberwiegen 
der Procentverhältnisse der Polynucleären zu Ungunsten der 
Mononucleären zu constatiren ist, allerdings mit der Ver¬ 
schiebungstendenz der Zahlen nach der Richtung normaler Ver¬ 
hältnisse. 

Das Eintreten des Schlafes, dieses oft kritischen Abschlusses 
des Delirium, findet in den Zahlenverhältnissen dieser zwei 
Leukocytenarten keinen stärker accentuirten Ausdruck. Am 
dritten oder vierten Tage nach Ablauf des Delirium, d. i. nach 
dem Momente, von welchem angefangen keine weiteren Hallu- 
cinationen, keine neuen Delirien producirt werden, finden sich 
auffallende Veränderungen des Blutbildes; es kommt zu einer 
Umkehr der Verhältnisse, wie sie auf der Höhe des Delirium 
vorherrschten; die Mononucleären erreichen sehr hohe, die 

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Dr. Adolf Elzholz. 


(von einem Falle, der in die erste Zeit meiner Untersuchungen 
fiel, wurde die Temperatur nicht verzeichnet), zwei Fälle waren 
fieberlos zur Zeit der Blutentnahme; von diesen sieben Fällen 
wiesen fünf Fälle Vermehrung der Leukocyten auf, zwei Fälle 
(Fall 14 und 16) boten ein normales numerisches Verhalten der 
Leukocyten, es waren dies auch die zwei fieberlosen Fälle. 

In diesen zwei Fällen fehlten eosinophile Zellen oder waren 
in einer durch unsere Methoden der Blutzählung nicht nach¬ 
weisbaren Menge vorhanden, trotzdem weder Fieber noch Ver¬ 
mehrung der Leukocyten vorhanden waren, bekanntermassen 
zwei Momente, welche auf die Eosinophilie des Blutes beein¬ 
trächtigend wirken. 

Ein Fall (Fall 1), den ich schon bei Besprechung der 
anderen Leukocytenformen erwähnte, war auch in Bezug auf das 
Verhalten der eosinophilen Zellen bemerkens werth; am Tage der 
Ankunft bot er Abends in lebhaft delirantem Zustande, aber mit 
klarer Erinnerung für die Vergangenheit, bezüglich welcher er 
detaillirte, prompte, vollständig correcte Angaben machte, bei 
Fehlen von Fieber 1-39 Procent eosinophiler Zellen, am nächsten 
Tage bei weiterem Ansteigen des Delirium fehlten die eosino¬ 
philen Zellen. — 

Ich möchte aus einem weiter unten ersichtlichen Grunde 
die schon früher nur angedeuteten psychischen Symptome 
dieses Falles auf der Höhe des Delirium hier noch mit einigen 
Worten näher ausführen. Während der Blutentnahme um 7 Uhr 
Abends von Delirien ganz occupirt, hat Patient Gehörs-, Ge¬ 
sichts- und Tasthallucinationen, spricht und bewegt sich im 
Sinne von Beschäftigungsdelirien, wobei sowohl sein früherer 
Beruf als Volksschullehrer durch Tadel und Lob für seine 
Schüler, als auch seine nachträgliche Beschäftigung als kleiner 
Geschäftsmann durch Hantiren mit Nahrungsmitteln, durch Auf¬ 
räumen seines Geschäftslocales zur Geltung kommen; dabei ist 
der Körper des Patienten von Schweiss bedeckt; es gelingt 
nicht, seine Aufmerksamkeit für die einfachsten Fragen anzuregen, 
die Antworten, die er gelegentlich ertheilt, knüpfen nicht an 
den Inhalt der Frage an und sind nur Aeusserungen, die augen¬ 
scheinlich mit deliranten Erlebnissen in Beziehung stehen; die 
wenigen anamnestischen Angaben, die auf eindringliches Fragen 
erhältlich sind, sind falsch, nicht zutreffend. Während des Exa- 


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Aus der psyehiatrisehen Klinik von Professor v. Wagner. 


191 


mens muss Patient festgebalten werden, weil er in geschäftiger 
Unruhe fortdrängt. Am ganzen Körper laufen zitternde Bewe¬ 
gungen ab, die Temperatur ist 38 2 Grad. — 

Ich habe hier den Symptomencomplex skizzirt, um besonders 
einen Umstand hervorzuheben, der gewisse Bewusstseinszustände 
bei Delirium alcohol. betrifft, Bewusstseinszustände, die, so weit ich 
mich über das Krankheitsbild dieser Erkrankung aus den ver¬ 
schiedenen Lehrbüchern informiren konnte, nirgends eine Wür¬ 
digung erfahren haben. Wie ich nun andeutete, konnte der 
Patient am ersten Tage zu genauen Auskünften über seinen 
äusseren Lebenslauf verhalten werden; er erzählte mit genauen 
Zeitangaben, wann und wo er Schulen besucht, wie lange er 
als Volksschullehrer wirkte, seit wann er seinen Lehrerberuf 
aufgegeben, über sein Verhältniss zur ersten Frau u. s. w., und 
es überraschte insbesondere die Präcision und Promptheit, das 
Fehlen längeren Besinnens bei der zeitlichen und örtlichen Lo- 
calisation auch minder wichtiger Erlebnisse; diese retrospective 
Orientirung in Ort und Zeit erstreckte sich bis auf wenige Tage 
vor Ausbruch seiner Erkrankung; in auffallendem Gegensätze 
hierzu stand seine während der Untersuchung zu constatirende 
Desorientirtheit in Bezug auf Ort und Zeit (letzterer war er 
um viele Tage voraus), seine Personenverkennung; er versicherte 
den ihn untersuchenden Arzt, dem er noch einige Momente zu¬ 
vor in tadellos klarer Weise über sein Vorleben berichtete, er 
habe das Weib da nicht angerührt und deutete dabei auf den 
vor ihm liegenden zusammengefalteten Kotzen; er nannte den 
Namen des vermeintlichen Weibes, es war der seiner Concubine 
u. s. w. Tags darauf war die vorhin erwähnte Fähigkeit, sich 
retrospectiv zu orientiren, in der inzwischen angestiegenen Ver¬ 
worrenheit, in der Masse der Sinnestäuschungen ganz unter¬ 
gegangen, die anamnestischen Angaben, die nur spärlich zu 
gewinnen sind, sind falsch, unzutreffend. 

Diese zwei verschiedenen Helligkeitsgrade des Bewusst¬ 
seins, für die ich als Kriterium das Vorhandensein oder Fehlen 
einer, nennen wir sie retrograden Orientirung aufstellen möchte, 
waren bei dem hier geschilderten Falle an zwei aufeinander 
folgenden Tagen zu constatiren, ein Verhalten, das mir noch bei 
anderen Fällen von Delirium, die nicht Gegenstand einer Blut¬ 
untersuchung waren, auffiel. Im Laufe meiner Untersuchungen 


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Dr. Adolf Elzholz. 


fand, ich, dass in einzelnen Fällen der tiefere Grad der Bewusst¬ 
seinstrübung gar nicht erreicht wurde, in anderen Fällen bis 
zum Eintritte des Schlafes die retrograde Orientirung bald in 
höherem, bald in geringerem Masse gestört blieb. Es drängte 
sich mir jedesmal bei diesen Beobachtungen die bildliche Vor¬ 
stellung auf, als würde in dem einen Falle das Bewusstsein aus 
dem dunklen Raum der Gegenwart die wohlbeleuchteten 
Fernen der Vergangenheit überblicken, ähnlich wie man aus 
einem dunklen Zimmer auch schon durch eine kleine Fenster¬ 
lücke bei hellem Tage eine weite Landschaft überschauen kann; 
in einem anderen Falle ist Vergangenheit und Gegenwart in 
Dunkel gehüllt; es wäre dies das dunkle Zimmer bei hereinge¬ 
brochener Nacht. Dieser hier herangezogene Vergleich soll nur 
bildlich die oben erwähnten Beobachtungen illustriren. 

Ich hätte schliesslich den hier besprochenen zwei Formen 
noch eine dritte, die leichteste Form des Delirium, gegenüber 
zu stellen, in der zwei gleichfalls schon gestreifte Fälle (Fall 13 
und 15) unter den untersuchten figuriren; es waren das zwei 
Kranke, bei denen das Delirium nur angedeutet war, von denen 
der eine zeitlich und örtlich vollständig orientirt und nur ver¬ 
einzelten Sinnestäuschungen ausgesetzt war, der andere mit 
einiger Nachhilfe sich in Ort und Zeit zurecht fand und sich 
von den Hallucinationen nur wenig stören liess; die retrograde 
Orientirung war in beiden Fällen lückenlos. 

Ich habe mir diese Excursion auf das Gebiet der Bewusst¬ 
seinszustände des Delirium zu machen erlaubt, weil ich in den 
Veränderungen des Blutes, namentlich in dem Verhalten der 
eosinophilen Zellen bei der in Rede stehenden Erkrankung einen 
bis zu einem gewissen Grade gehenden Parallelismus zu den 
erörterten drei Intensitätsgraden des Delirium gefunden zu 
haben glaube. 

In welcher Weise ich mir diesen Parallelismus zurecht¬ 
zulegen versuche, werde ich am Schlüsse dieser Besprechung 
auszuführen haben, wo ich die Ansicht, die ich mir über das 
Wesen und die Entstehung des Delirs gebildet habe, mitzutheilen 
mir erlauben werde. Doch sei schon jetzt, um Missverständnissen 
vorzubeugen, vorweggenommen, dass dieser Parallelismus zwi¬ 
schen gewissen Zuständen im Blute und den aufgestellten Be¬ 
wusstseinszuständen nicht im Sinne eines Causalnexus, nicht 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


193 


als Verhältnis von Ursache und Wirkung, sondern als coordi- 
nirte Folgen eines Processes aufzufassen wäre. 

Es sei mir gestattet, darauf hinzuweisen, dass die Ein¬ 
teilung des Alkoholdelirium nach ähnlichen Gesichtspunkten 
mehrfach durchgeführt wurde. In der im Jahre 1872 erschie¬ 
nenen bekannten Monographie „Delirium tremens und Delirium 
traumaticum”unterscheidetRose t ) vier Stadien des Delirium, „die 
dem aufmerksamen Beobachter zugleich als vier verschiedene 
Grade im Auftreten der Krankheit erscheinen”. Es sind dies 
erstens das Stadium der Prodrome mit einzelnen Abstinenzerschei¬ 
nungen, mit ängstlichem Wesen, Appetitlosigkeit, zeitweiligem Er¬ 
brechen, zweitens das Stadium der vollen Entwickelung des Deli¬ 
rium, von der ersten schlaflosen Nacht an gerechnet mit der Sym- 
ptomentrias, dem Zittern, der Schlaflosigkeit und den Delirien; 
„die Delirien dieses Stadiums sind gewöhnlich einfache Sinnes¬ 
delirien unter der Form der Hallucination”. Das dritte Stadium, 
meint dieser Autor, fehlt in der Mehrzahl der Fälle, da schon 
früher die Krisis erfolgt. Es ist dies das Stadium der Agitation. 
Das Wesentliche, was Rose über dieses aussagt, wäre Folgendes: 
„Der Kranke ist nicht mehr im Stande, die Hallucinationen zu 
verbergen, oder sich über diese zu unterhalten, wie dies früher 
geschah, es überwältigen ihn immer mehr seine Bilder. Dann 
lässt er sich nicht mehr in die äussere Welt zurückrufen und 
wird unfähig, die Aufmerksamkeit längere Zeit zu fixiren. Heftig 
angerufen, gibt er nur verkehrte Antworten.” Als viertes Stadium 
beschreibt er tobsüchtige Erregungszustände oder mussitirende 
Delirien mit ihrem häufigen Ausgang in Tod. Aus diesem kurzen 
Excerpt der von Rose classisch geschilderten Krankheitsbilder 
ist wohl zu ersehen, dass meine Fälle mit gut erhaltener retro¬ 
grader Orientirung sich seinen Fällen im zweiten Stadium, die mit 
gestörter Orientirung für die Gegenwart und Vorleben sich in 
seine Fälle im dritten Stadium ganz wohl einfügeu. 

Ein anderer classischer Autor Magnan 2 ) theilt die alkoho¬ 
lischen Delirien in leichte und schwere ein; die schwere Form 
der Delirien sind nach ihm durch hohes, bis zu 41 Grad an¬ 
steigendes und sich durch mehrere Tage bis 40 Grad oder 

') Handbuch der aligem. und spec. Chirurgie. I. Bd., II. Abth., I. Heft, 
2. Lieferung. 

2 ) Psychiatrische Vorlesungen, VI. Heft, S. 32. Deutsch von Möbius. 


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41 Grad behauptendes Fieber, durch ausgedehntes Muskelzittern, 
durch Paresen der Beine gekennzeichnet; diese Form gibt eine 
sehr ernste Prognose. Magnan hebt ausdrücklich hervor, dass 
es sich hierbei nicht um durch andere schwere Erkrankungen 
von Brust, Bauchorganen, durch Knochenbrüche provocirte Fälle 
von Delirien handle, sondern um eine unter hohem Fieber ein¬ 
hergehende Alkoholintoxication, ein Umstand, den ich hier mit 
Rücksicht auf die weiterhin folgenden Ausführungen mit Nach¬ 
druck betonen möchte; zu der leichteren Form zählt Magnan 
alle anderen Fälle, auch wenn sie nach einer raschen Erhebung 
der Temperatur selbst bis 39 Grad oder gar 40 Grad in 24 
oder 48 Stunden in der Defervescenz sich befinden. In Anleh¬ 
nung an diese Eintheilung wären sämmtliclie von mir unter¬ 
suchten Fälle bis vielleicht auf einen, der Temperaturen bis 
39-2 Grad aufwies, der leichten Form nach Magnan zuzuzählen. 

Auch Schüle 1 ) und v. Krafft-Ebing 2 ) seheD in excessiven 
Temperatursteigerungen ein signum pessimi ominis und wollen 
diese Fälle vom Delirium alcohol. ausgeschieden und dem Deli¬ 
rium acutum zugezählt wissen; nach v. Krafft-Ebing würde das ex- 
cessive Fieber des primären, also durch complicirende Erkran¬ 
kungen vegetativer Organe nicht bedingten Delirium tremens 
febrile auf Innervationsanomalien der wärmeregulirenden Centra, 
ähnlich wie das Fieber schwerer Neurosen, zu beziehen sein. 

Fälle letzterer Art, letal verlaufene Delirien hatte ich 
nicht Gelegenheit auf ihren Blutbefund zu untersuchen; bei dem 
einen Falle (Fall 3), dessen Temperatur bis 39 - 2 Grad an gestiegen 
war, war die Gefahr eines letalen Ausganges sehr nahe, der 
Kranke zeigte einen beschleunigten, sehr schwachen Puls, lag 
erschöpft dahin und murmelte in mussitirenden Delirien vor 
sich hin. Der Blutbefund war bei diesem analog all jenen 
Fällen, die im psychischen Verhalten durch das Fehlen einer 
retrograden Orientirung gekennzeichnet waren. Es erscheint 
mir wichtig, anknüpfend an diesen Fall ein Moment hervorzu¬ 
heben. Man könnte unter Hinweis auf diesen und auf die 
anderen Fälle mit Temperatursteigerung einerseits und auf die 
mit Leukocytose einhergehenden andererseits mir entgegen- 


’) Klinische Psychiatrie, 3. Auflage, S. 417. 

2 ) Lehrbuch der Psychiatrie, 3. Auflage, S. 601. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


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halten, dass es eine bekannte Thatsache sei, dass hohes Fieber 
überhaupt auf die Zahl der eosinophilen Zellen reducirend wirke 
und dass Leukocytosen einen ähnlichen Einfluss üben, dass dem¬ 
nach die Krankheit als solche, das, was ihr Wesen ausmache, 
die verschiedenen Intensitätsgrade der psychischen Erkrankung 
mit Unrecht in Beziehung zu den mitgetheilten Blutbefunden, 
zu dem Fehlen eosinophiler Zellen gebracht werde. 

Darauf wäre zu erwidern, dass nur einer der mitgetheilten 
Fälle eine höhere Temperatur aufwies, die anderen unter 
38 Grad blieben oder nur einige Zehntel Grade darüber hatten, 
während andererseits z. B. aus den Zappert’schen *) Tabellen zu 
entnehmen ist, dass z. B. bei Erysipelas oder bei Gelenks¬ 
rheumatismus bei Temperaturen von 39 Grad und darüber 
eosinophile Zellen allerdings in spärlicher Anzahl, aber doch 
auch bis zu 1-52 Procent (ein Fall von Gelenksrheumatismus 
mit Temperatur 39-2 Grad) gefunden wurden. Was andererseits 
den Einfluss von Leukocytose auf die Eosinophilie betrifft, so 
finden sich viel stärkere Leukocytosen als die von mir bei 
Delirium erhobenen bei Vorhandensein eosinophiler Zellen ver¬ 
zeichnet. Ich will nur hier einige Beispiele anführen; in den 
Rieder’schen 1 2 ) Tabellen ist ein Fall von Lues mit Anämie mit- 
getheilt, der bei einer Zahl von 18.500 Leukocyten 1*7 Procent 
Eosinophilie aufwies, ein Fall von Melanosarkom mit 28.500 
Leukocyten und 02 Procent Eosinophilie, ein Fall von Carci¬ 
noma ventriculi mit 12.800 Leukocyten und 6 Procent Eosino¬ 
philie, ein Fall von Anaemia splenica mit 14.700 Leukocyten und 
0 8 Procent Eosinophilie. 

In den Zappert’schen 3 ) Tabellen ist eine ganze Reihe solcher 
Fälle, selbst bei fieberhaften Affectionen, wie Gelenksrheumatis¬ 
mus, Scarlatina, bei letzterer ein Fall mit 16.720 Leukocyten und 
5-31 Procent eosinophil zu finden. 

Klein 4 ) gibt einen Fall von Nephritis p. scarlatinam mit 
15.400 Leukocyten und 16-5 Procent Eosinophilier an. Es ist 


1 ) Ueber das Vorkommen der eosinophilen Zellen im menschlichen Blute. 
Zeitschrift für klinische Mediein, Bd. XXIII, Heft 3 u. 4, S. 61 u. 64. 

2) L. c., S. 99. 

3) L. c. 

4 ) Die diagnostische Verwerthungder Leukocytose. Volkmann’s SammluDg 
klinischer Vorträge Nr. 87. 


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schliesslich richtig, dass bei sehr starken Leukocytosen über¬ 
einstimmend von allen Seiten eine hochgradige Verminderung 
oder vollständiges Fehlen der eosinophilen Zellen angegeben 
werden; unter meinen Fällen betrug die extremste Zahl 14.666 
Leukocyten. 

Als ganz besonders in die Wagschale fallend für die 
Annahme, dass in dem Wesen der hier in Frage stehenden Er¬ 
krankung selbst der Grund für das Fehlen der eosinophilen 
Zellen zu suchen sei, glaube ich die schon vorhin angeführten 
Fälle ansehen zu dürfen, bei denen trotz fieberlosen Verlaufes, 
trotz Fehlens von Leukocytose keine eosinophilen Zellen ge¬ 
funden wurden. 

In den nach Abzug der bisher erörterten sieben Fälle 
verbleibenden restlichen wurden bei der jeweiligen Höhe des 
Delirium (es wurde das erstemal gewöhnlich des Nachts, 
oder, wie dies einmal geschah, nach kurz dauerndem ersten 
Schlummer Blut entnommen) verschieden hohe Procentzahlen 
eosinophiler Zellen constatirt. Diese Zahlen hielten sich in den 
Grenzen von 0-2 bis 2 Procent. 

Der Fall, der 2 Procent darbot (Fall 11), erfordert einige 
erläuternde Worte. Es war ein Fall, bei dem diese relativ hohe 
Procentzahl an eosinophilen Zellen bei einer Vormittag ge¬ 
machten Blutentnahme festgestellt wurde, zu einer Zeit, da er 
für die Gegenwart desorientirt war, anamnestische Angaben 
jedoch in prompter Weise zu machen vermochte. Bis Abend 
steigerte sich das Delirium zu grosser motorischer Unruhe und 
völliger Verwirrtheit, die retrograde Orientirung war getrübt. 
Trotz dieses Verhaltens war 11 Procent eosinophiler Zellen zu 
constatiren. 

Es könnte dies vielleicht damit erklärt werden, dass 
dieser Kranke 25 Tage nachher 9-9 Procent Eosinophilie, am 
Tage seiner Entlassung 3 Procent Eosinophilie aufwies, dem¬ 
nach auch in gesunden Tagen einen hohen Normalwerth eosino¬ 
philer Zellen in seinem Blute beherbergte. 

In Fällen, wo auf der Höhe des jeweiligen Delirium das 
Blut eosinophile Zellen enthielt, waren die Kranken nur für die 
Gegenwart desorientirt, die retrograde Orientirung war eine 
prompte und correcte, die Kranken Hessen sich durch Fragen 
aus ihren deliriösen Erlebnissen leicht herausreissen, standen 


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Rede und Antwort, schwitzten wenig und zeigten nur geringe 
Grade motorischer Geschäftigkeit. 

Dass der dem Delirium tremens zu Grunde liegende Pro- 
cess und dessen Schwere zu dem Gehalte des Blutes an eosino¬ 
philen Zellen nahe Beziehungen unterhalte, lässt sich noch 
weiter, wie mir scheint, in überzeugender Weise aus dem 
weiteren Verlaufe der Delirien und den mit diesen Schritt 
haltenden Veränderungen des Blutes deduciren. Zunächst zeigt 
sich dies im Anschlüsse an den so sehr beim Delirium er¬ 
wünschten Schlaf, der ja seit jeher als kritischer Abschluss der 
Krankheit gilt. Diese günstige Wendung findet in einer eclatanten 
Erscheinung mit einer immer wiederkehrenden Gesetzmässigkeit 
ihren hämatologischen Ausdruck; man kann mit gutem Rechte 
die hierbei auftretende Veränderung im Blutbilde als Blutkrise 
bezeichnen. 

In allen Fällen, wo auf der Höhe des Delirium die eosino¬ 
philen Zellen fehlten, wurden diese nach dem Schlafe in 
bald grösserer, bald geringerer Zahl angetroffen; von sechs 
derartigen Fällen bot sich Gelegenheit, drei kurze Zeit nach 
dem Erwachen zu untersuchen, in zwei von diesen drei Fällen 
(Fall 6 und 12) untersuchte ich sofort nach dem Erwachen, da¬ 
von den einen nach einem leisen, initialen Schlummer *) von 
kurzer Dauer; während nun bei letzterem 02 Procent eosino¬ 
phile Zellen constatirt wurden (es war dies übrigens ein zu¬ 
vor nicht untersuchter Fall), wurde bei ersterem nach ausgiebi¬ 
gem Schlafe 10 Procent dieser Zellart gefunden. 

In einem dritten Falle (Fall 16) war nach einem 18stün- 
digen Schlafe der negative Befund an eosinophilen Zellen einem 
Procentverhältnisse von 3 - 5 Procent gewichen. Ein vierter 
Fall bot an dem auf den Schlaf nachfolgenden Tage 0 5 Pro¬ 
cent (Fall 3), ein fünfter 0*6 Procent (Fall 14), schliesslich ein 
sechster (Fall 1), der die erste Nacht seines Aufenthaltes in der 
Anstalt vollständig schlaflos war, in der zweiten Nacht nur eine 
Stunde schlief, hatte nach einer dritten schlafend zugebrachten 


') Auf Grund einer supponirten Analogie mit den anderen Fällen wird 
bei diesem Falle auf das Fehlen der Eosinophilen vor dem Schlafe nur ge¬ 
schlossen, wozu das fortschreitende Ansteigen der Zahl der Eosinophilen in der 
Folgezeit wohl bis zu einem gewissen Grade berechtigt. 


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Dr. Adolf Elzholz. 


Nacht 3 9 Procent Eosinophile, nachdem er 3 Tage vorher keine 
Eosinophilen aufzuweisen hatte. Das Auftauchen der Eosino¬ 
philen im Blute vollzog sich, wie aus den sofort nach dem 
Schlafe erhobenen Befunden hervorzugehen scheint, noch während 
des Schlafes, und man fand sie schon zu einer Zeit, wo die 
Kranken noch unbesinnlich waren, wo sie zweifelnd und staunend 
unter Nachhilfe des Arztes die deliriösen Erlebnisse an sich 
voriiberziehen liessen, wo sie das meiste, oder alles, das ihnen 
das Delirium vorgeführt, noch als reell und thatsächlich an¬ 
sahen, wo aber die Production neuer Hallucinationen, neuer 
Delirien versiegt war. Aber nicht nur die Fälle, in denen das 
Delirium die Eosinophilen nach dem Untersuchungsergebnisse 
ganz unterdrückt hatte, sondern auch jene, in denen diese Zell¬ 
art auf der Höhe des Delirium noch anzutreffen war, zeigen 
nach Einsetzen des Schlafes mit den soeben angegebenen gleich¬ 
sinnige Bewegungen der Zahlenwerthe für die in Rede stehende 
Zellart; auch hier steigen die Werthe in den nachfolgenden 
Tagen in durchgehends gesetzmässiger Weise. Den geringeren 
Procentverhältnissen der Eosinophilen in den ersten Tagen 
nach Eintritt des kritischen Schlafes folgen für die nächste 
Zeit Zahlen mit steigender Tendenz, und zwar für beide Grade 
des Delirium; das Maximum dieses Anstieges wird nach ver¬ 
schieden langer Zeit erreicht. In dem einen schon mehrfach er¬ 
wähnten Falle (Fall 11), bei dem trotz schwerer Bewusstseins¬ 
trübung die Eosinophilen mit 1*1 Procent bestimmt wurden, 
fiel die Akme des Anstieges mit 9 9 Procent, wie ich schon er¬ 
wähnt habe, auf den 25. Tag; bei einem zweiten Falle (Fall 9), 
den ich das erstemal nach einem kurz dauernden Schlummer 
bei noch bestehender Personenverkennung und völliger Des- 
orientirtheit untersuchte und bei dem zu dieser Zeit 029 Pro¬ 
cent Eosinophile gefunden wurden, wurde das imposante Pro- 
centverhältniss von 16 2 Procent Eosinophile 30 Tage nachher 
constatirt, in einem dritten Falle (Fall 3), bei dem auf der Höhe 
des Delirium eosinophile Zellen fehlten, wurde die Zahl von 
8 Procent nach 31 Tagen erreicht. 

Aus den in der Zwischenzeit in Pausen von 2 bis 3 oder 
mehreren Tagen unternommenen Untersuchungen ergab sich, 
dass der Anstieg der Eosinophilen die weite Distanz zwischen 
den Grenzwerthen allmählich, aber stetig und unter kleinen 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


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Schwankungen bald nach aufwärts, bald nach abwärts zurück¬ 
legte. (Ob diese leichte Discontinuität im Ansteigen der Eosino¬ 
philen nur als eine scheinbare und durch die schliesslich jeder 
Methode anhaftenden Mängel bedingte anzusehen sei, oder ob 
sie ein getreues Abbild der sich im Blute unter Schwankungen 
vollziehenden Vorgänge darstellt, möge dahingestellt bleiben.) 
Es würde zu weit führen, wollte ich in jedem einzelnen Falle 
die gesetzmässige Wiederkehr der soeben erörterten Verhältnisse 
nachweisen; ich verweise diesbezüglich auf die Tabelle, deren 
Zahlenzusammenstellung dies leicht ermöglichen dürfte. Dass 
aber das Verhalten der eosinophilen Zellen im Verlaufe des 
Delirium ein ganz auffallendes Abhängigkeitsverhältniss von 
der Schwere des Processes, von dessen einzelnen Phasen er¬ 
kennen lässt, glaube ich nachgewiesen zu haben. Schliesslich 
braucht dieses nicht Wunder zu nehmen. Haben ja die ein¬ 
gehenden Blutuntersuchungen der letzten Jahre bei den mannig¬ 
fachsten Krankheiten bei einzelnen derselben Befunde zu Tage 
gefördert, deren Analogon die von uns gefundenen Verhältnisse 
bei Delirium tremens abgeben. 

Hinter die histogenestischen Beziehungen der eosinophilen 
Zellen im Blute ist man bisher trotz vieler Bemühungen *) nicht 
gekommen. Aber aus einer Reihe von Untersuchungen bei den 
verschiedensten Infectionskrankheiten, bei malignen Geschwülsten 
hat sich auf dem Wege der klinischen Beobachtung ergeben, 
dass die eosinophilen Zellen ein gar empfindliches Reagens auf 
die den Organismus bedrohenden Schädlichkeiten abgeben, dass 
sie durch den Feind, den die Krankheit darstellt, im Blute sehr 
leicht in die Flucht geschlagen werden, und bei lange und 
intensiv unterhaltenen Feindseligkeiten seitens des Gegners 
überhaupt verschwinden, bei Nachlass der Feindschaften nach 
Eliminirung der Noxe aus dem Körper zuerst vereinzelt auf- 
treten, dann aber auch schaarenweise herbeidrängen. Bei 
manchen Krankheitsformen sind sie willkommene Verkünder 
der überstandenen Krankheit, Bürgschaft beginnender Recon- 
valescenz. So sehen wir sie nach Pneumonie 2 ) gewöhnlich am 

') Ehrlich, Neusser, Müller. 

-) Mandybur, Vorkommen und diagnostische Bedeutung der oxyphilen und 
basophilen Leukocyten im Sputum. Wiener medicinische Wochenschrift Nr. 7—9, 
1895. 


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zweiten Tage (nach Untersuchungen von Bieganski') undZappert) 1 2 * ) 
nach dem kritischen Temperaturabfalle erscheinen, bei Scarlatina *) 
tauchen sie noch vor Ablauf des Fiebers auf, damit die nahe 
Reconvalescenz anzeigend; sie stellen sich nach Ablauf des 
Typhus, 4 ) nach Abschluss septischer Processe ein und fehlen 
im Verlaufe dieser Krankheiten zumeist ganz oder finden sich 
nur vereinzelt vor. Für die Sepsis ä ) gilt Canon die grössere 
oder geringere Abnahme der Eosinophilen als Fingerzeig für 
die im ersten Falle ungünstige, im zweiten Falle günstigere 
Prognose. Auf der Höhe des Malariaanfalles räumen sie das 
Feld, um während der fieberfreien Intervalle wieder zu er¬ 
scheinen, bei länger dauernden Fällen in relativ reichlichen 
Mengen. 

Es ist ferner bekannt, dass schwere anämische Zu¬ 
stände mit Verringerung der Zahl der Eosinophilen einhergehen 
und dass das vorgeschrittene Siechthum mit malignen Ge¬ 
schwülsten (Carcinom) Behafteter sich hämatologisch in ähn¬ 
licher Weise äussert. ®) In der Mehrzahl der angeführten Pro¬ 
cesse sehen wir der Unterdrückung der eosinophilen Zellen 
durch die dabei wirksame Schädlichkeit eine Zunahme ihrer 
Zahl mit dem Abklingen der Krankheit folgen, wir sehen, dass 
die Abnahme oder das Schwinden der eosinophilen Zellen ein 
Zeichen körperlichen Verfalles ist, ihr neuerliches Erscheinen 
oder ihre Steigerung bis und selbst über die Norm die ge¬ 
schäftige Thätigkeit der den Organismen zur Verfügung stehen¬ 
den Vis reparatrix naturae bedeutet. 

Vom hämatologischen Standpunkte wären die zwei Fälle, 
bei denen die eosinophilen Zellen während der Reconvalescenz 
Procentzahlen wie 16 2 Procent und 9 9 Procent erreichten, für 


1) Leukocytose bei der croupösen Pneumonie; Deutsches Archiv für 
klinische Medicin XVIII. 

2) L. c. 

3 ) Koczetkow, Die morphologischen Blutveränderungen hei Scharlach, Dis¬ 
sertation, Petersburg 1891, citirt nach Klein, 1. c. 

4 ) Zappert, 1. c. 

5 ) Canon, Ueber eosinophile Zellen und Mastzellen Gesunder und 
Kranker. Deutsche medicinische Wochenschrift 1892, Nr. 10. 

6 ) Rieder, Zappert, Klein, 1. c. 


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die Frage der vermutheten Entwickelung *) 2 ) der eosinophilen 
Zellen aus den Polynucleären hervorzuheben. 

In diesen Fällen konnte constatirt werden, dass, während der 
Blutbefund dem zuvor erwähnten Höhepunkte in der Zahl der 
Eosinophilen zustrebt, die Lymphocytenzahlen von einem Mo¬ 
mente an nur wenig ausgiebige Verschiebungen erleiden, während 
die Procentverhältnisse der Polynucleären Schritt für Schritt vor 
den in Zunahme begriffenen Procentzahlen der Eosinophilen 
zurückweichen, in der Weise, dass die Summirung von Eosino¬ 
philen und Polynucleären an den einzelnen Tagen beiläufig 
Zahlen entsprechen, wie sie auch de norma aus der Summirung 
der Polynucleären und Eosinophilen sich ergeben. 

So viel des Thatsächlichen wäre aus den Resultaten meiner 
Blutuntersuchungen zu entnehmen. Es kann allerdings hierbei 
die Frage aufgeworfen werden, woher ich die Gewissheit habe, 
dass alles, was ich bisher ausgeführt, dem Delirium alcoholicum 
als solchem, als einer Psychose zukomme, ob denn \doch nicht 
hierbei für die weitgehenden Veränderungen des Blutbildes eine 
im Hintergründe verborgene somatische Erkrankung, und zwar 
eine von den bekannten Krankheiten verantwortlich zu machen 
sei. So könnte zunächst die Thatsache von vorneherein ent¬ 
gegengehalten werden, dass somatische Erkrankungen allerlei Art 
ein gar häufiges ätiologisches Moment für den Ausbruch des 
Delirium bei Säufern abgeben. 

Gegen die Eingangs von mir betonte und geübte Vorsicht, 
Kranke mit nachweislichen somatischen Erkrankungen bis auf 
zwei zu Controlzwecken untersuchte Fälle von Pneumonie in 
mein Untersuchungsmateriale nicht einzubeziehen, könnte ein¬ 
gewendet werden, dass manche somatische Erkrankung sich der 
Feststellung durch unsere Untersuchungsmethoden auch während 
ihres ganzen Verlaufes leicht entziehen oder übersehen werden 
könne. 

Die Affectionen, die hier insbesondere in Betracht kämen, 
wären centrale Pneumonien, infectiöse Bronchitiden und Influenza- 

*) Ehrlich. Farbenamylytische Untersuchungen, 1891. Zur Histologie und 
Klinik des Blutes. 

2 ) Müller und Rieder, Deutsches Archiv für klinische Medicin, Bd. XLVIII 
Heft 1 u. 2. Ueber Vorkommen und klinische Bedeutung der eosinophilen Zellen 
im Blute. 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 14 


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Dr. Adolf Elzhob. 


fälle mit und ohne pneumonische Herde. Dieser Einwand könnte 
durch den Hinweis auf die in mehreren Fällen vorhanden ge¬ 
wesenen Temperatursteigerungen, auf die mehrfach constatirte 
Leukocytose und, was ich noch hier zur Vervollständigung 
nachtragen möchte, auf in zwei fiebernden Fällen erhobene 
bronchitische Geräusche an Gewicht gewinnen. Ueberdies 
könnten die Blutbefunde selbst zu einer Kritik der von mir 
gemachten Annahme, dass die vorhin mitgetheilten Verän¬ 
derungen in der numerischen Zusammensetzung der normalen 
Leukocytenverhältnisse bei den von mir beschriebenen Fällen 
nur dem Delirium angehören, verwerthet werden. 

Es haben nämlich Kikodze *) und später Bieganski 2 ) durch 
über die Dauer von croupösen Lungenentzündungen fortgesetzte 
Blutuntersuchungen übereinstimmend feststellen können, dass 
mit der nach dem Schüttelfrost bei Pneumonie auftretenden 
Leukocytose die polynucleären Neutrophilen im Procentgehalte 
beträchtlich in die Höhe gehen. Bieganski gibt ihre Zahl auf 
80 oder 90 Procent an, die Zahl der Lymphocyten sinke auf 
15, 10 oder 6 Procent, zu denen, um Vergleiche mit meinen 
Befunden anstellen zu können, noch die unverändert bleibende 
Zahl der grossen Lymphocyten im Betrage von 2 bis 3 Procent 
hinzu zu addiren wären. Nach der Krise, nach dem Temperatur¬ 
abfall, manchmal schon während des Fiebers (wie dies aus den 
Tabellen Bieganski’s hervorgeht) ändert sich das Blutbild ähn¬ 
lich wie bei unseren Kranken. Die Polynucleären sinken nach 
den Angaben Bieganski’s auf 60, ja bis 44 Procent, dement¬ 
sprechend steigen die Procentzahlen der Mononucleären bis 40 
oder 51 Procent (wenn kleine und grosse Lymphocyten summirt 
werden). Bieganski spricht auch von dem Auftreten einer deut¬ 
lichen Eosinophilie nach der Krise, 2 bis 4 Procent betragend, 
während er in allen Fällen vor der Krise diese Zellart (ebenso 
wie andere Autoren) vollends vermisste. 

Ein bis zu einem gewissen Grade ähnliches Verhalten 
zeigt nach den Angaben Koczetkow’s 3 ) das Blutbild bei Scarla- 


') Die pathologische Anatomie des Blutes bei der croupösen Pneumonie. 
1890 (Russisch). Citirt nach Eiein. 

2) L. c. 

3 ; L. c. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


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tina, nach einer Angabe Rieder’s') bei Diphtherie. Dass wir es 
in unseren Fällen weder mit Diphtherie noch Scarlatina zu thun 
hatten, bedarf keiner weiteren Erörterung. 

Noch am schwierigsten würden sich für unsere Fälle, 
nämlich die fiebernden, die Ausscheidung centraler Pneumonien 
gestalten. 

Auf alle diese möglichen Einwände wäre nun Folgendes 
zu erwidern: 

Unter den von mir untersuchten Fällen befanden sich 
neben fiebernden während der ganzen Dauer des Delirium 
fieberlos verlaufende Fälle. Weiterhin kann aus dem Verlaufe 
der Blutveränderungen bei Delirium alcoholicum erschlossen 
werden, dass es sich hier um einen anderen Process als um 
eine etwaige centrale Pneumonie handle. 

Das Fieber in den febrilen Fällen, die Veränderungen des 
Blutbefundes, das ganze Krankheitsbild währt nur kurz, 2 bis 
3 Tage, und was wichtig ist, es schliesst mit dem kritischen 
Schlafe ab, ein Verhalten, wie es der Pneumonie gewiss nicht 
zukommt. Durchgehends waren während der Krankheit Schweisse 
vorhanden, bekanntlich ein Symptom, das der Pneumonie vor 
der Krise ebenfalls nicht eigen ist. Eine weitere Differenz 
zwischen beiden Krankheitsformen beruht auf dem verschiedenen 
Verhalten der eosinophilen Zellen nach der die Pneumonie ab¬ 
schliessenden Krise einerseits und der das Delirium abschneiden¬ 
den andererseits. Aus den Tabellen Bieganski’s, sowie aus den 
diesen Punkt erörternden Ausführungen Zappert’s ist zu ent¬ 
nehmen, dass bei der Pneumonie noch mehrere Stunden nach 
der Krise die Eosinophilen geradeso vermisst werden wie 
während ihres fieberhaften Verlaufes; die Zellen erscheinen erst, 
wie beide übereinstimmend angeben, am zweiten Tage nach der 
Krise und in der Mehrzahl der Fälle in vermehrter Menge; in 
einem Falle weist Zappert darauf hin, dass am drittfolgenden 
Tage nach vorausgegangener Vermehrung ein Abfall der Eosino¬ 
philen sich nachweisen liess. Zappert erwägt, allerdings mit 
grosser Vorsicht, die Möglichkeit, ob es sich hier nicht um für 
die Pneumonie charakteristische Verhältnisse handeln könnte. 
Diese Möglichkeit gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch die 


') L. c., S. 138. 

14* 


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Dr. Adolf Elzholz. 


Angaben Bieganski’s, der die sich selbst gestellte Frage, „wie 
schnell sich die Veränderungen des Blutes nach der Krisis bei 
Pneumonie ausgleichen”, auf Grund seiner Beobachtungen dahin 
beantwortet, dass er schon am dritten bis vierten Tage nach dem 
Temperaturabfalle, selten später, das normale Procentverhältniss 
der Leukocytenformen antraf. 

Auch ich habe in zwei Fällen (Fall 4 und 7) von Pneu¬ 
monie, deren Infiltrationserscheinungen noch deutlich nachweis¬ 
bar waren und die unter dem Bilde eines Delirium in die 
Anstalt kamen, dasselbe Verhalten nachweisen können. Der eine 
davon zeigte schon nach 3 Tagen, der andere ebenfalls nur 
wenige Tage nach durchgemachtem Delirium normale Verhält- 
nisszahlen. 

In welcher Weise vollzogen sich nun die Veränderungen 
bei den Fällen von Delirium, die durch die hier geltende Krise, 
den Schlaf, abgeschlossen erschienen? — 

Ich verweise diesbezüglich auf das bereits Gesagte: Die 
eosinophilen Zellen tauchen schon während des Schlafes wieder 
im Blute auf, wie dies die oben erwähnten drei Fälle mir 
überzeugend zu beweisen scheinen, die Schwankungen in den 
Zahlenverhältnissen der einzelnen Leukocytenarten scheinen in 
manchen Fällen selbst nach Monatsfrist noch nicht zur Ruhe 
zu kommen, in anderen Fällen dauerten sie 10 und 4 Tage; 
dabei zeigte sich, wo eine Tendenz zu excessiven Steigerungen 
der eosinophilen Zellen bestand, dass die hohen Zahlen erst nach 
mehreren Tagen und selbst Wochen erreicht werden. Diese 
Differenzen zwischen den Blutbildern nach Ablauf einer Pneu¬ 
monie und den eines Delirium werden nun keinesfalls befremden, 
wenn man sich darüber klar ist, dass das Delirium alcohol. eine 
leicht auslösbare Episode bei der psychischen und körperlichen 
Constitution eines durch chronische Durchseuchung mit Alkohol 
depravirten Individuums darstellt, während die Pneumonie als 
elementares Ereigniss anzusehen ist, das, so lange es wirksam 
ist, den Organismus tief auf wühlt, das aber rasch mit seinen 
Folgen verschwindet, wenn sich der kräftige Organismus damit 
einmal abgefunden hat. Füge ich noch hinzu, dass ich in keinem 
der darauf untersuchten, auch in keinem der fiebernden Fälle 
eine für die Pneumonie charakteristische auffallendere Ver¬ 
minderung der Chloride nachweisen konnte, so wären damit 


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Aua der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


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die Argumente zusammengetragen, welche die zuvor auf¬ 
geworfenen Einwände zu entkräften geeignet sind. 

Bei fieberhafter Bronchitis sind die normalen Verhältniss- 
zahlen der Leukocytenarten nicht alterirt, wie dies einer Angabe 
Bieganski’s ■) zu entnehmen ist. Die katarrhalische Influenza 
führt selbst, wenn katarrhalische Pneumonien hinzutreten, zu 
keiner Leukocytenvermehrung, wie aus einer besonderen, dieser 
Erkrankung gewidmeten Arbeit Rieder’s 2 ) hervorgeht. Ueber 
die Verhältnisszahlen der Leukocytenarten im Verlaufe pulmo¬ 
naler Influenzafälle konnte ich mich, so viel ich mich in der 
Literatur umthat, nicht informiren; ich selbst kam nicht in die 
Lage, Influenzafälle zu untersuchen. In einem Falle katarrha¬ 
lischer Pneumonie (Fall 17) bei einem degenerirten Potator, 
der seit Monaten auf der Abtheilung als Abwascher beschäftigt 
war, traten in den letzten drei Tagen vor dem Exitus trotz 
hochgradiger Dyspnoe eine gewisse Euphorie und vereinzelte 
Delirien auf, die seine Beschäftigung auf der Klinik zum Gegen¬ 
stände hatten, er wollte immer aufstehen und Kohlen tragen. 
Doch waren diese Delirien nur angedeutet, und traten nur des 
Abends auf, Hallucinationen waren nicht nachweisbar. Bei diesem 
Kranken, bei dem an Influenzapneumonie gedacht wurde (es 
wurden auf der Höhe des continuirlichen Fiebers bei einer Zahl 
von 4300 Leukocyten 74 Procent Polynucleäre, 26 Procent Mono- 
nucleäre constatirt — Eosinophile fehlten), ergab die Section 
wohl katarrhalische Pneumonie, eine Influenzainfection war nicht 
constatirbar; der Fall hat deshalb ein specielles Interesse, weil 
er einen an katarrhalischer Pneumonie erkrankten Säufer vor¬ 
führt, der allerdings schon lange Zeit nicht getrunken hatte 
und der bei Fehlen ausgesprochener Delirien nahezu normale 
Verhältnisszahlen von Polynucleären und Mononucleären bei 
Fehlen Eosinophiler aufwies. Letzteres war bei dem hohen con¬ 
tinuirlichen Fieber erklärlich. 

Es ist hier der Platz, noch einer Untersuchung zu gedenken, 
die ich unternommen, um mir darüber Klarheit zu verschaffen, 
ob die Andauer der Verminderung oder des Fehlens der eosi- 

>) L. c. 

2 ) Ueber das numerische Verhalten der weissen Blutzellen bei Influenza, 
croupöser und katarrhalischer Influenzapneumonie. Münchener Medicinische Wochen¬ 
schrift 1892, Nr. 29. 


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Dr. Adolf Elzholz. 


nophilen Zellen während der schlaflosen Zeit nnr einfach die 
Folge der Schlaflosigkeit oder der Specifität der uns hier be¬ 
schäftigenden Erkrankung sei; bei einem kräftigen Wärter 
(Fall 18) wurde das Blut am Abend vor Antritt der Nachtwache 
untersucht und mit 5400 Leukocyten bei 70-3 Procent Poly- 
nncleären, 25 4 Procent Mononucleären und 4 - 3 Procent Eosi¬ 
nophilen befunden. Nach durchwachter Nacht fanden sich 6077 
Leukocyten bei 67 Procent Polynucleären, 28*4 Procent Mono- 
cleären 4-6 Procent Eosinophile. Es ist daraus ersichtlich, 
dass die Nachtwache den Blutbefund nur sehr wenig verändert 
hat (jedenfalls nicht um vieles mehr, als den jeder Methode an¬ 
haftenden und zu erwartenden Fehlern entspricht); es sind auch 
die Normal Verhältnisse in keiner Weise alterirt. 

Nachdem ich nun für alle meine Fälle bis auf die zwei 
Fälle von Pneumonie nachgewiesen zu haben glaube, dass nur 
der das Delirium erzeugende Process und keine andere soma¬ 
tische Erkrankung für die typischen Blutveränderungen ver¬ 
antwortlich zu machen sei, möchte ich noch einige Worte dem 
beim Delirium tremens auftretenden Fieber widmen. Ist es ja 
gerade diese Erscheinung, welche zum grossen Theile die vor¬ 
ausgegangenen Betrachtungen zur Folge hatte. Ich habe schon 
weiter oben die Angaben Magnan’s, ferner die damit überein¬ 
stimmenden Ausführungen v. Krafft-Ebing’s und Schüle’s ange¬ 
führt; aus dem Jahre 1891 liegt eine diesen Punkt neuerlich 
behandelnde Arbeit eines dänischen Autors A. Fries l ) vor. Der¬ 
selbe fand unter 116 Patienten, die das Delirium überlebten, in 
90 Procent Fieber. 

Fries spricht die gesteigerte Gehirnthätigkeit im Delirium 
als Ursache des Fiebers an; nach Schlaf wurde die Temperatur 
fast in allen Fällen normal. 

Er gelangt zu folgenden Schlüssen: „Das uncomplicirte 
Delirium tremens verlaufe fast nie ganz fieberlos, die Temperatur¬ 
steigerung erreiche oft eine beträchtliche Höhe, die mit der In¬ 
tensität der Delirien in bestimmter Beziehung stehe, denn sie 
komme und gehe mit ihnen.” Die Temperaturmessungen in 
meinen Fällen wurden bei der grossen Inanspruchnahme des 
bei dem grossen Krankenstände unserer Abtheilungen stark be- 

•) Om Temperatorforhol dene ved Delirium tremens nach ßeferat D. Neurg. 
C. B. Nr. 892, Nr. 15, S. 476. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


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lasteten Wartepersonales nicht methodisch durchgeführt, doch 
scheinen sie bis zu einem gewissen Grade den Ausführungen 
Fries, Recht zu geben. 

Es sind demnach auch die Temperatursteigerungen kein 
Hinderniss für die wohl mit Recht den Anspruch auf den Werth 
einer Thatsache erhebenden Annahme, dass sämmtliche in den 
uncomplicirten Fällen von Delirium von mir erhobenen Blut¬ 
befunde einzig und allein dem Delirium alcohol. als solchem 
zukommen, dass diese als charakteristisch für den dabei in Be¬ 
tracht kommenden Process gelten können. 


Nachdem ich mich in dem Vorausgegangenen mit den dem 
Delirium alcohol. in seinen Spielarten zukommenden Blutbefunden 
beschäftigt habe, drängt sich die Frage auf, ob sich aus diesen 
hier constatirten Thatsachen nicht Anhaltspunkte für ein 
weiteres Eindringen in das Wesen des uns beschäftigenden 
Krankheitsbildes, für ein die Blutbefunde berücksichtigendes 
Verständniss desselben gewinnen Hessen. Es wird gut sein, hier¬ 
bei die MögHchkeiten, die in der Literatur schon erwogen wurden 
und solche, die sich aus den hier mitgetheilten Blutbefunden 
deduciren lassen, ins Auge zu fassen. 

Als reine Alkoholintoxication als Ausdruck einer Impräg- 
nirung des Organismus mit Alkohol, eine Ansicht, wie sie in der 
Auffassung der charakteristischen Hallucinationen des Deliranteu 
durch Meynert gegeben ist, kann das Delirium nicht gelten; ab¬ 
gesehen davon, dass anerkanntermassen die Abstinenz es häufig 
ist, die den Boden für das Delirium vorbereitet, ist ja das 
Krankheitsbild, das durch Uebergenuss von Alkohol erzeugt 
wird, ein vom Delirium sehr abweichendes. Der Rausch bei der 
alkohoHschen Degeneration noch nicht Verfallenen, der patholo¬ 
gische Rauschzustand beim chronischen Alkoholisten, der acute 
Wahnsinn oder Amentia, die im Gefolge gehäufter Alkohol- 
excesse auftritt, sind Krankheitszustände, die in psychischer und 
somatischer Beziehung vom Delirium weit abseits liegen, die 
nach beiden dieser Richtungen hin ihr eigenes Gepräge tragen. 
Mit dieser klinischen Differenz stimmt auch vollständig das 
überein, was wir in Bezug auf Einwirkung des Alkohols auf 
das Verhalten der morphologischen Elemente im Blute wissen. 


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Dr. Adolf Elzholz. 


Es ist nämlich erwiesen, dass der ins Blut eingeführte Alkohol 1 ) 
die Leukocytenzahl unbeeinflusst lässt. Ob die Verhältnisszahlen 
der Leukocytenarten im Rausche Verschiebungen von der Norm 
erleiden, ist mir nicht bekannt. Es dürfte aber neben den an¬ 
gedeuteten klinischen Verschiedenheiten der hier zu Tage tre¬ 
tende Unterschied, dass sich beim Delirium alcohol. häufig Leu- 
kocytosen und immer ein leukocytotischer Blutbefund im Sinne 
Rieder’s (wofür das procentische Ueberwiegen der Polynucleären 
bei normaler Leukocytenzahl massgebend ist) vorfindet, genügen, 
um dem Alkohol als solchem die Bedeutung eines das Delirium 
unmittelbar hervorrufenden Agens streitig zu machen. 

Ein zweites Moment, das hier Berücksichtigung verdient, 
ist das Verhalten der Herzthätigkeit, der Zustand des Blutkreis¬ 
laufapparates. 

Der von den älteren Psychiatern vertretenen, auf aphori¬ 
stische Voraussetzungen gegründeten Ansicht, dass die orga¬ 
nischen Herzkrankheiten eine häufige Quelle für Psychosen ab¬ 
geben, wurde schon längst durch Witkowsky 2 ) der Boden ent¬ 
zogen. Diese Auffassung Witkowsky’s theilten später Griesinger, 
Leidesdorf, Kirchhoff, Emminghaus, v. Krafft-Ebing, zuletzt eine 
ausführliche Arbeit Reinhold’s. 2 ) Demgegenüber muss anderer¬ 
seits betont werden, dass ein so hervorragender Psychiater wie 
Kraepelin 4 ) für das Zustandekommen von Psychosen Störungen 
der Herzthätigkeit in Anspruch nimmt und dass er bei Be¬ 
sprechung der Fieberdelirien, der sich so häufig an infectiöse Er¬ 
krankungen anschliessenden Psychosen, auf die Möglichkeit 
hin weist, dass, abgesehen von dem infectiösen Agens und der 
schädigenden Einwirkung der hohen Temperaturen, im Beginne 
der Krankheit active Hyperämie, im weiteren Verlaufe in Folge 
geschwächter Herzthätigkeit passive Hyperämie des Gehirns das 
psychische Krankheitsbild bedingen könne. Auch ist er geneigt, 
für die Delirien der Säufer zum Theile Herzschwäche verant¬ 
wortlich zu machen. Ich glaubte auf diesen kleinen Excurs auf 
ein die hier behandelte Frage nicht direct einbegreifendes Ge¬ 
biet umsoweniger verzichten zu können, als ja der deletäre 

! ) Nach Untersuchungen von Meyer und Sieger, Schülern von Binz. 

2 ) Witkowsky, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie XXXII, S. 347. 

3 ) Reinhold, Münchener Medicinische Wochenschrift 1894, Nr. 16 ff. 

4 ) Psychiatrie, fünfte Auflage 1896, S. 354 und S. 29. 


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Einfluss des Alkohols auf das Herz und das Gefässsystem 
geradezu herausfordert, die etwaige ätiologische Bedeutung ge¬ 
störter Herzthätigkeit für das Zustandekommen des Delirium 
zu untersuchen. 

Wir werden mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte einer 
functionellen Störung der Herzthätigkeit oder auch einer durch 
myocarditische oder fettige Degeneration des Herzparenchyms 
bedingten Störung keine grössere ätiologische Wichtigkeit für 
die Entstehung von Psychosen zuschreiben dürfen als den or¬ 
ganischen Herzfehlern, und werden in weiterer Consequenz 
dieser Annahme auch die Antheilnahme der Functionsstörung 
des Herzens beim Zustandekommen des Delirium alcohol. nicht 
hoch veranschlagen können. 

Dürften hier noch als Tertium comparationis die Blut¬ 
befunde herangezogen werden, so wäre auch hier darauf zu ver¬ 
weisen, dass, so weit Blutuntersuchungen bei Herzfehlern (in 
bekannteren Arbeiten) vorliegen, Leukocytosen nicht vermerkt 
sind; über die Verhältnisszahlen der Leukocytenarten bei Herz¬ 
fehlern stehen mir keine Daten zu Gebote. 

Dass das Fieber, die Wärmestauung als solche, nicht für 
die Auslösung des Delirium verantwortlich zu machen sei, ist 
ohneweiters daraus zu ersehen, dass das Delirium nicht immer 
mit Fieber einhergeht, dass in der Minderzahl der Fälle das 
Fieber höhere Grade erreicht, und dass andererseits die exqui¬ 
siten Fieberdelirien eine verschiedene klinische Erscheinungs¬ 
weise aufweisen wie das Alkoholdelirium. 

Versuchen wir nun der Reihenfolge nach den Angriffspunkt 
unserer Ueberlegungen für das Auffinden der Materia peccans 
bei dem Alkoholdelirium in das Blut selbst, in die weiter oben 
besprochenen Blutbefunde zu verlegen. Ich habe schon mehrfach 
betont, dass die Blutbefunde auf der Höhe des Delirium einen 
exquisit leukocytotischen Charakter aufweisen, dass entweder 
eine mehr oder minder hochgradige Leukocytose mit beträcht¬ 
lichem Ueberwiegen der polynucleären Leukocyten, oder wo die 
Zahl der Leukocyten sich nicht als vermehrt erwies, diese Ver¬ 
schiebung der relativen Zahlenwerthe zu Gunsten der polynu¬ 
cleären Neutrophilen dennoch zu coustatiren war. 

Was ist nun die Ursache dieses leukocytotischen Blut¬ 
befundes beim Delirium tremens? 


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210 


Dr. Adolf Elzholz. 


Da wird es wohl am Platze sein, sich überhaupt in der 
Frage der Leukocytose, so weit diese studirt ist, umzuthun und 
den Versuch zu machen, die bei Delirium alcohol. auftretende 
Leukocytose unter eine der bekannten Leukocytosenformen zu 
subsummiren. 

Wir folgen hierbei der Eintheilung Rieder’s, des um das 
Studium der Leukocytenfrage sehr verdienten Autors. 

Zu den physiologischen Leukocytosen kann der hier in 
Rede stehende Blutbefund nicht gerechnet werden. Diese sind 
übrigens durch ein normales Procentverhältniss der Leukocyten- 
formen gekennzeichnet; ebenso wenig findet sich ein Platz für 
unsere Blutbefunde bei den hämorrhagischen, kachektischen, 
hydrämischen, agonalen oder entzündlichen Leukocytosen. Was 
letztere betrifft, so widerstrebt die gesammte Physiognomie der 
hier in Rede stehenden Erkrankung der Auffassung derselben 
als einer acuten, fieberhaften, auf Infection mit Mikroorganismen 
beruhenden Krankheit. Auf letztere Weise entstandene Leuko¬ 
cytosen sind es aber, die als entzündliche figuriren. Das Re¬ 
sultat dieser Erwägungen ist, dass die Leukocytose des Delirium 
in keine der genannten Gruppen hineinpasst. In neuerer Zeit 
haben die von Goldscheider und Jacob 1 ) durchgeführten Unter¬ 
suchungen die zuerst von v. Limbeck ausgesprochene Ansicht be¬ 
kräftigt, dass die Leukocytosen auf einer im Bereiche der blut¬ 
bildenden Organe sich geltend machenden chemotaktischen 
Wirkung Leukocyten anlockender Substanzen beruhen. 

Es liegt nun nahe, sich die Frage vorzulegen, von welcher 
Beschaffenheit die beim Delirium alcohol. zu supponirende chemo¬ 
taktische Substanz sein dürfte. 

Bei der Charakteristik dieser zu supponirenden Substanz 
vom klinischen Gesichtspunkte hätten wir uns vor Augen zu 
halten, dass ihre Individualität sich weniger imposant im Blut¬ 
bilde (da die von mir constatirten Leukocytosen nur gering¬ 
gradige waren) als in der grossen Reihe der anderen klinischen 
Symptome kundgibt; das ist so zu verstehen, dass die Wirkung 
dieser Substanz wohl einen geringeren Ausläufer in die Blut¬ 
bahn und in die Blut bereitenden Organe sendet, als in das 
Centralorgan des Bewusstseins, in den gesammten motorischen 

*) Ueber die Variation der Leukocytosen, Zeitschrift för klinische Medicin, 
Bd. XXV. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


211 


Apparat, in die schweisssecernirenden Organe; sie setzt in der 
Mehrzahl der Fälle einen Reizzustand in den Nieren und er¬ 
zeugt Albuminurie, sie beeinflusst die Herzthätigkeit und setzt 
dessen normale Function herab, die Herztöne werden schwach, 
der Puls frequent und klein, die Arterienspannung gering; es 
findet eine Störung der Wärmeregulation statt, man beobachtet 
Fieber; in den letal endigenden Fällen wird Hyperämie der 
Gehirnhäute constatirt. 

Durch all die hier angeführten Krankheitserscheinungen 
erscheint die Wirkungsweise der hier supponirten Substanz 
charakterisirt, und es frägt sich, ob wir uns nicht eine Vor¬ 
stellung über die Natur des hier supponirten Körpers zu bilden 
versuchen könnten. Vielleicht kann uns hierbei der Befund der 
Leukocytose leiten. 

Wir werden uns zu erinnern haben, dass die Leukocytosen, 
welche nach Einbringung von Culturen verschiedener Mikro¬ 
organismen in dem Körper auftreten, vorwiegend auf der Ein¬ 
wirkung von Proteinen (Büchner), also Eiweisskörpern beruhen, 
dass ferner auch Pflanzencaseine, wie Glutencasein und Legumin, 
demnach nicht specifische Eiweisskörper der Bakterien, auch 
Leukocytose erzeugen können, allerdings nur solche geringeren 
Grades. (Nach Büchner entstehen dieselben nicht auf einen 
mechanischen, sondern auf einen chemischen Reiz hin.) Vor 
zwei Jahren haben Goldscheider und Jakob durch Glycerin- 
extracte gewisser thierischer Organe, wie der Milz, der Tymus- 
drüse und des Knochenmarkes, nicht aber bei Anwendung an¬ 
derer Organextracte, wie Nieren-, Leber- und Schilddrüsen- 
extract bei Thieren Leukocytose erzielen können. 

Aus den soeben angeführten Thatsachen ist zu ersehen, 
dass verschiedene Eiweisskörper, auch solche, die in Thier¬ 
organen enthalten sind, unter gewissen Bedingungen die Eigen¬ 
schaft chemotaktischer Substanzen erlangen. 

Für unsere Frage wäre nun folgender Vorgang anzu¬ 
nehmen. Der lange fortgesetzte Genuss des Alkohols erzeuge 
im Körper des chronischen Alkoholisten eine Substanz, deren 
specifisehen Charakter man eben durch die Einwirkung des 
Alkohols auf Substanzen des Organismus, vielleicht Eiweiss¬ 
körper sich zu Stande gekommen denken könnte. Es wäre 
dies etwas ähnliches wie die Entstehung von Antitoxinen bei 


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212 


Dr. Adolf Elzholz. 


Einführung von Bakterien und deren Toxinen in den Or¬ 
ganismus. 

Die Eigenart in der Wirksamkeit dieser supponirten Sul- 
stanz könnte allerdings auf die Alkoholcomponente bezogen 
werden, ähnlich wie man sich die Mannigfaltigkeit der Schutz¬ 
körper nicht von einer Mannigfaltigkeit der thierischen Sub¬ 
stanz, sondern von der Verschiedenheit der Bakterien und 
deren Toxine abhängig denkt. 

N ur wäre hier ein gewisser Gegensatz bezüglich der Einwir¬ 
kung auf den Organismus zwischen den Bakterientoxinen und dem 
Alkohol zu construiren. Durch die Einführung von Bakterien in 
den Organismus entsteht, wenn die Infectiou überstanden wird, 
ein für das Thier wohlthätiger Körper, der ihm Schutzkraft 
gegen einen neuerlichen Anprall der betreffenden Bakterien und 
deren Toxine verleiht; beim Alkohol würde sich im Körper erst 
das Toxin bilden und das Antitoxin wäre der vom chronischen 
Alkoholisten stets neuerlich begehrte Alkohol. 

Die weiter oben schon betonte Aehnlichkeit zwischen den 
Blutbefunden bei Pneumonie und Delirium tremens legt ferner 
den Gedanken nahe, dass bei chronischen Alkoholisten unter dem 
Einflüsse des chronischen Alkoholmissbrauches eine den Toxinen 
der Pneumoniekokken ähnliche Substanz entsteht. Die Aehnlich¬ 
keit der Befunde beruht, um zu recapituliren, darauf, dass bei 
beiden genannten Krankheiten während ihres Verlaufes sich 
Leukocytose vorfindet, die Polynucleären ein beträchtliches 
Uebergewicht über die Mononucleären besitzen, die Eosinophilen 
vermindert sind oder ganz fehlen. Beiden ist ferner nach der 
Krise ein Auftreten der eosinophilen Zellen in vermehrter 
Menge und eine Umkehr der Zahlenverhältnisse der anderen 
Leukocytenarten gemeinsam. Dass bei an Pneumonie erkrankten 
Trinkern so leicht ein Delirium ausbricht, wäre vielleicht auf 
die Summirung zweier ähnlicher Schädlichkeiten bei einem und 
demselben Kranken zurückzuführen. 

Schliesslich sei noch mit einigen Worten auf das benach¬ 
barte Gebiet des Morphinismus hingewiesen. 

Marme *) stellte aus Lunge und Leber von Hunden, denen 
er einige Zeit Morphium subcutan injicirte, einen Körper dar, 


’) Naeh Erlenmayer: Die Morphiumsueht, 3. Auflage, 1837, S. 94. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


213 


der Reactionen wie das Oxy dimorphin gab. Nach Injection 
dieser Substanz bei Hunden traten Erscheinungen auf, die 
Marme mit dem Symptomencomplex der Morphiumabstinenz 
identificirte. Injicirte er diesen Hunden Morphium, dann schwan¬ 
den diese Abstinenzerscheinungen. Er stellte auf Grund dieser 
Versuche die Hypothese auf, dass die Abstinenzsymptome nicht 
die Folge einer Morphiumentziehung, sondern die Symptome 
einer Oxydimorphinvergiftung seien. Das Morphium sei das 
Gegengift des Oxydimorphins. Diese Hypothese blieb nicht un¬ 
angefochten, doch meint Erlenmayer trotz der erhobenen Ein¬ 
wände, dass „diese Angelegenheit noch wiederholter genauer 
Prüfung bedarf’. 

Aus der Symptomatologie des chronischen Alkoholismus 
könnten der Tremor und vielleicht anch der Vomitus matutinus 
zur Stütze für unsere Annahme herangezogen werden. Der 
Tremor schwindet, oder wird geringer nach Genuss von Alkohol, 
der Vomitus matutinus wird durch letzteren bekämpft; es 
erscheint von vorneherein unwahrscheinlich, dass dasselbe 
Agens, welches. Tremor und Vomitus erzeugt, auch diese zu 
beseitigen im Stande wäre. 

Nimmt man aber die Giftwirkung einer im Körper entstan¬ 
denen Substanz an, für welche der Alkohol das Gegengift ist, 
dann wird dieses Verhalten verständlich. 

Aus all diesen Ausführungen scheint es mir nicht ganz 
unberechtigt, folgendes Resume zu ziehen: 1 ) 

Durch den chronischen Alkoholmissbrauch wird im Körper 
des Alkoholisten eine giftige Substanz erzeugt, die lange Zeit 
in ihrer Wirkungsweise durch das Gegengift, den Alkohol, be¬ 
kämpft wird. Vielleicht bildet dieses Gift das Verhängniss des 
Alkoholikers, sich nicht mehr von dem Genüsse des Gegen¬ 
giftes trotz bester Vorsätze fernhalten zu können. 

Hat sich dieses supponirte Gift in grösserer Menge nach 
lange fortgesetztem Missbrauch angesammelt, so erschöpft sich 


*) Dem Julihefte (1896) des Neurologischen Centralblattes entnehme ich, 
dass Kraepelin eine ähnliche Auffassung des Delirium vertritt, indem er in 
einem Vorträge: Ueber Delirium tremensartige Zustände bei Paralysis sagt: „Aus 
diesen Gründen haben wir es hier (Delirium tremens) wahrscheinlich mit Stoff¬ 
wechselgiften zu thun, deren Entstehung bei den tiefgreifenden allgemeinen Er¬ 
nährungsstörungen, welche der Alkoholismus erzeugt, nicht wunderbar wäre. 


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214 


Dr. Adolf Elzholz. 


sehr rasch die Wirkung des Gegengiftes, es treten Abstinenz¬ 
erscheinungen auf, Tremor, Vomitus matutinus, Schweisse, 
Angstgefühle u. s. f. Kommt es weiter durch äussere Umstände 
zu länger dauernder Abstinenz oder wirken verschiedene den 
Organismus in seiner Widerstandskraft erheblich herabsetzende 
Schädlichkeiten ein (Pneumonie, allerlei Infectionskrankheiten 
u. s. w.), so entfaltet sich die Wirkung des supponirteu Giftes 
bis zur Höhe des Delirium, innerhalb dessen auch noch ver¬ 
schiedene Intensitätsgrade zu unterscheiden sind, vielleicht je 
nach der Menge des gebildeten Giftes. In manchen Fällen 
kommt es nur zu vereinzelten Reizerscheinungen im Gebiete 
der Sinnesorgane, das Bewusstsein ist nur wenig getrübt, im 
Blute und den blutbildenden Organen kommt die Wirkung der 
supponirten Substanz noch nicht recht zur Geltung (Fall 13 
und 15). Steigt das Delirium an, tritt Desorientirtheit in Bezug 
auf die Gegenwart bei erhaltener retrograder Orientirung, bei 
Häufung von Sinnestäuschungen ein, so zeigt sich die suppo- 
nirte Giftwirkung auch im Blutbefunde. 

Die Zahl der eosinophilen Leukocyten ist verringert, es 
tritt eine Vermehrung der polynucleären, neutrophilen Leuko¬ 
cyten zu Ungunsten der Einkernigen ohne Vermehrung der 
absoluten Leukocytenzahl im Kubikmillimeter Blut auf. 

Erreicht das Delirium höhere Grade, was auf die An¬ 
sammlung noch grösserer Giftmengen im Körper zu beziehen 
wäre, dann ergibt sich bei tiefer Verworrenheit, grosser 
motorischer Unruhe, profusen Schweissen, geschwächter Herz- 
thätigkeit, Eiweissgehalt des Urins, Fieberleukocytose, Fehlen 
der Eosinophilen, starke Vermehrung der Polynucleären bei 
Zurücktreten der Mononucleären. 

Nach dem Eintritte des Schlafes findet eine Rückbildung 
all dieser Erscheinungen bis zur Norm im Laufe einer län¬ 
geren oder kürzeren Zeit statt. 

Die Annahme, dass das Delirium eine Vergiftung durch 
eine im Körper unter Mitwirkung des Alkohols gebildete Sub¬ 
stanz sei, kann natürlich nur einen hypothetischen Werth be¬ 
sitzen, so lange eine solche Substanz nicht chemisch darge¬ 
stellt wird. 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 

Tabelle. 1 ) 


215 


Name 

Datum 

Leukocyten im 
Kubikmillim. 
Blut 

Polynucl. 
in Proeent. 

Lymph. 
in Procent. 

Eosin. 
in Procent. 

1 . 

Spielvogel 
15. Novemb. 
1895. 

6400 

7934 

19-27 

1-35 

16. Novemb. 

11444 

8873 

11-27 


17. Novemb. 



_ 

_ 

18. Novemb. 

5600 

55-6 

*3111 

40-5 

2266 

3-9 

222 

21. Novemb. 

6500 

65-5 

325 

20 

4. Decemb. 

— 

58-2 

400 

1-8 

2. 

Wichmann 

9. Novemb. 
1895 

9400 

87-8 

12-2 

— 

13. Novemb. 

4033 

60-3 

38-5 

1-2 

22. Novemb. 

4077 

68-6 

2800 

29-5 

1200 

1-9 

77 

1. Decemb. 

6472 

82-7 

5355 

15-7 

1017 

1-6 

100 


A n m < * r k u n g 


Temp. 37-1°. Bronchialkatarrh. Bei der 
Aufnahme relativ klar. Tremores deut¬ 
lich. Abends Höhe des Delirs, sieht 
Frau, Pferde, für die Vergangenheit 
klare Erinnerung. 

Temp. Nachmittags 38*2°. Blutentnahme 
7 Uhr Abends; sehr lebhaft hallu- 
cinirend, Gehörs-, Gesichts-, Tasthalluc. 
Beschäftigungsdelirien, profus schwi¬ 
tzend, desorientirt, ist zu keinen 
Antworten zu verhalten, macht falsche 
anamnestische Angaben, so weit diese er¬ 
hältlich. Die Aeusserungen entsprechen 
augenscheinlich deliranten Vorgängen. 

Temp. 37 , 9° Früh. In der Nacht nur 
eine Stunde geschlafen. 

Fieberlos. Blutentnahme 7 Uhr Abends. 
Gestern die Nacht geschlafen, Früh noch 
an der Realität der Delirien festhaltend, 
Abends bezüglich derselben schwankend, 
gibt correcte Auskünfte. 

Früh Blutentnahme, krankheitseinsichtig. 


Temp. 37*8° Abends Blutentnahme, wirft 
im Bett alles durcheinander, sucht her • 
um, verkennt den Arzt, es sei ein Be¬ 
kannter, Beschäftigungsdelirien. 

Fieberlos. Delir abgelaufen, corrigirt die 
Ideen des Delirium. 

Klar, einsichtig. 


* Die Zahlen unterhalb der Procentzahlen bedeuten die absoluten Zahlen- 
werthe der Leukocytenarten im Kubikmillimeter Blut. 


*) Verdauungsleukocytose in allen Fällen ausgeschlossen. 


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216 


Dr. Adolf Elzholz. 


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Name 

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Anmerkung 


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3 

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1 a — 1 



3. 

Sikorowsky 
12. Aug. 
1895 

im Delirium 
schlaflos 





13. Aug. 

8265 

86-7 

7166 

13 3 
1099! 


15. Aug. 

_ 

57*9 

41*6 

0*5 

27. Aug. 

- 

— 

— 

1*3 i 

12. Sept. 

5000 



8% 

444 

4. 

Kotzian 

2. Jan. 1896 


81'2 

18-8 

— 

3. Jan. 

— 


_ 

— 

6. Jan. 

6194 

71-2 

4411 

27*2 

1683 

1*6 

100 

8. Jan. 

5049 

749 

3788 

24 

1211 

1*1 

50 

13. Jan. 

4211 

71-3 

3000 

264 

1111 

2-3 

100 


Fieber: Temp. 39-2°, schlechter Puls. 
Abends 38*2°. Blutentnahme Mittags. 
Hochgradige Unruhe, »Schweisse. 
Total verwirrt. 

Fieberlos. Blutentnahme am 15. Vorm. 
Vom 14. auf den 15. Schlaf auf Paral- 
dehyd. 

Polynucl. + Lymph. = 98'7. 
Polynucl. + Lymph. = 92*0%. 


Pneumonie. Bei der Ankunft am 30. Dec. 
Temp. 37'1", 37*7°, 37'5°. 31. Lee. Temp. 
3b-5°, 38*6°. 1. Jan. Temp. 37*8°, 38*7°. 
2. Jan. Temp. 37*3°, 371°, 37'4“. Heute 
lieberlos. Abends lebhaft delirant, sah 
Feuer, hörte blasen, hatte Beschäftigungs¬ 
delirien, rechtsseitige Pneumonie noch 
nachweisbar. 


Temp. 37-2°, 37*8°. 4. Jan. Temp.37*6 n , 
37'3°, 37'2", 36-8°, die Nacht geschlafen. 
5. Jan. Temp. 36*6°, 36*9°, 37*5°, 37'2 U . 


Rechts hinten Infiltration des Unter¬ 
lappens noch nachweisbar Dämpfung 
und klingendes Rasseln, kein broneh. 
Atlimen. 


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Aus der pbychiatrisohen Klinik von Professor v. Wagner. 


217 


Naine 

Datum 

Leukocyten im 
Kubikinillim. 
Blut. 

Polynucl. 
in Procent. 

Lymph. 
in Procent. 

a; 

o 

. © 
r- — 

x M " 1 
© _ 
W ■= 

1 

A n m e r k u n g 

5. 

Rupp 

1. März 1895 
Delirium bei 
einem 
Paralytiker 

15600 

97*9 

2*1 



6. 

Paehl 

26. Jan. 
1896 

1 

l 

1 

i 

14466 

95*4 

13737 

46 

729 


26. Jan. Abends Blutentnahme. Hat 
gestern nicht geschlafen. Vormittags 
noch leidlich orientirt. Abends hoch¬ 
gradig unruhig, ist im Wirthshause, sucht 
Schlüssel, will Holz spalten, sieht Thiere, 
ist nur mühsam auf die Anamnese zu- 
rückzuführen, Schweisse. 27. Jan Früh 
Temp. 37 9°. Abends 38 4°. Vom 26. auf 
den 27. Jan. noch schlaflos. 

i 

28. Jan. 

4677 

64-1 

aooo 

34-9 

1633 

1*0 

44 

Heute fieberlos Hat gestern die Nacht 
geschlafen, hat heute Krankheitseinsicht, 
diese jedoch noch schwankend. Blut¬ 
entnahme heute sofort nach dem Er¬ 
wachen. 

30. Jan. 

3954 

700 

2766 

28-4 

1122 

16 

66 


13. Febr. 

5631 

739 

4188 

232 

1277 

2-9 

166 


7. 

Hutzier 

14. Jan. 
1896 

10344 

73*6 

7600 

25 5 
2633 

09 

111 

Fieberlos Abgelaufenes Delirium im 
Abklingen einer Pneumonie R. H. 
Dämpfung. Knisterrasseln. 

8. 

Nowak 

26. Jan. 
1895 

9288 

7897 

7334 

2009 

1866 

^ 094 

88 

- 

Nach durchwachter Nacht bei gut er¬ 
haltener Orientirung in der Vergangen¬ 
heit, Dcsorientirrheit in der Gegenwart; 
ohne Krankheitseinsicht. 

9. 

Höberle 

31. Octob. 
1895 

7888 

8704 

12-67 

019 

Seit drei Tagen in der Anstalt, gestern 
Temp. 38*6°. Heute Vorm. 37-6°. Heute 
um 3 Uhr Nachmittag Blutentnahme 
(Katarrh über den Lungen), hat heute 
etwas geschlafen, noch ganz desorientirt 
(Personenverkennung), momentan keine 
Delirien, macht genaue anamnestische 


Angaben. 


Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 


i:> 


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218 


Dr. Adolf Elzholz. 


Name 

Datum 

§ . c c 

C •— cj <x 

© TZ O CJ . O 

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5i-s 1 9^ 

s-- o = = 

^ ©•= | j.= | 

Eosin. 
in Procent. 

7. Novemb. 

11711 72-1 27 1 

0-8 

30. Novemb. 

5900 53-2 30-6 

16 2 

10. 



Wegscheider 

— — — 

0-4 

17. März 



1895 



20. März 

72153 82-94 13 37 

3 69 

11. 



Prexel 

5700 80 180 

2% 

28. Sept. 

4567 1022 

111 

28. Sept. 

10133 64-3 34-6 

1*1 


K.F. 6511 3510 

110 

29. Sept. 

6366 81-1 17-3 

1-6 


5178 1100 

88 

2. Octob. 

3500 66 35 5 

4*5 


2000 1255 

155 

8. Octob. 

7333 57 3 35 4 

7-3 

10. Octob. 

8755 62 5 319 

56 

12. Octob. 

6666 67-2 28*1 

4-7 

23. Octob. 

6733 58 4 31*7 

9-9 

1. Novemb. 

5910 48 2 48-8 

3-0 

12. 



Karner 

5310 85-9 13-4 

02 

19. Jan. 

4566 733 

11 

1896 



20. Jan. 


|- 


Anmerkung 


Früh. Blutentnahme. Seit vier Tagen 
klar, erinnert sich an die durchgemachten 
Delirien, krankheitseinsichtig. 


Drei Tage nach abgelaufenem Delirium. 
Polyn + Lymph = 99*6 Procent. 


Blutentnahme Vormittags, deeorientirt, 
aber zu richtigen anamnestischen An¬ 
gaben zu verhalten. 

Blutentnahme Abends. Fieberlos. Leb¬ 
haft delirirend, hallueinirt, grosse motor. 
Unruhe, schwitzend,lässt sich nicht durch 
Fragen fixiren, gibt falsche Auskünfte. 

Geschlafen; nicht mehr im Delirium, 
noch nicht krankheitseinsichtig. 

Klar. 


Volle Krankheitseinsiclit. 




Blutentnahme 10 Uhr Früh, fieberlos; 
ist nach einem kurz dauernden leisen 
Schlummer, keine neuerliche Production 
von Delirien, schwankend in der Auf¬ 
fassung seines Zustandes. Nachts zuvor 
lebhaft halluc. Blutentnahme wurde 
gestern nicht gemacht. 


| Hat die ganze Nacht vom 19. auf den 
120. geschlafen, fieberlos am 20. und 21. 

t 


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Aus der psychiatrischen Klinik von Professor v. Wagner. 


219 


Name 

Datum 

Leukocyten im 
Kubikmillim. 
Blut 

Polynucl. 
in Procent. 

Ly mph. 
in Procent. 

Eosin. 
in Procent. 

22. Jan. 

3689 

533 

45*7 

0-9 



1966 

1690 

33 

29. Jan. 

5350 

58*9 

39*2 

1*9 



3150 

2100 

100 

6. Febr. 

4954 

709 

27-8 

1*3 



3511 

1377 

66 

13. 





Nowacek 

5280 

78-6 

20-2 

1*2 

27. Novemb. 


4150 

1066 

66 

2. Decemb. 

5582 

83*5 

14*7 

1*8 



4666 

816 

100 

11. Decemb. 

6222 

79*1 

181 

2-8 



4922 

1122 

177 

14. 





Pryborsky 

5200 

84*7 

153 

-- 

19. October 


4400 

800 

20. October 

6888 

726 

26*8 

0*6 



5000 

1844 

44 

21. October 

5200 

530 

45*6 

1-4 

Vormittag 


2756 

2371 

73 

21. October 

_ 

_ 


66 

Nachmittag 





22. October 

_ 

_ 

_ 

89 

Vormittag 





24. October 

4464 

61*2 

37-3 

1-5 



2732 

1666 

66 

25. October 

5777 

58-9 

40-3 

0*8 



3400 

2332 

45 

29. October 

4644 

64*6 

330 

2*4 



3000 

1532 

112 


A n m e r k u n g 


Klar, krankheitseinsichtig. 


Temp. 37'5°, besonnen, jedoch desorien- 
tirt, verkennt den Arzt, keine Beschäf¬ 
tigungsdelirien, genaue anamnestische 
Angaben, massige Unruhe, vorige Nacht 
nicht geschlafen. 

28. Nov. Delirium abgeschlossen. 


Fieberlos. Den zweiten Tag in der An¬ 
stalt schlaflos, occupirt von Delirien. 

Nach zweitägigem schlaflosen Deli¬ 
rium heute Früh kurze Zeit geschlafen, 
um 11V 2 Uhr Blutentnahme. Hat die 
Delirien vergessen, ruhiger, schwitzt 
nicht mehr. 


Hat die Nacht gut geschlafen. 


15* 


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220 


Dr. Adolf Elzholz. 



Name 

Datum 

J Leukocyten im 
Kubikmillim. 

| Blut 

Polynucl. 
in Procent. 

Lyrnpli. 
in Procent. 

Eosin. 
in Procent. 

Anmerkung 



2. Novemb. 

7266 

79-9 

189 

1*2 






5800 

1377 

89 




6. Novemb. 

5511 

774 

21*3 

1*3 






4267 

1178 

66 




11. Novemb. 

6020 

725 

26-4 

11 






4366 

1588 

66 




23. Novemb. 

6266 

74*7 

23*2 

2*1 

. 

I 




4683 

1450 

138 

i 


24. Novemb. 

6588 

71*5 

26*3 

22 





4711 

1733 

144 

1 


26. Novemb. 


668 

30*9 

23 

i 


15. 







Horzinek 

4599 

744 

24-7 

0*9 

Orientirt in der Gegenwart wie in der | 


10. Jan. 


3422 

1133 

44 

Vergangenheit. Delirium nur angedeutet, 1 


1896 





hat Gesichts- und Gehörtäuschungen, 







die er über Befragen in Abrede stellt. | 


24. Jan. 

3598 

80*3 

15*4 

4*3 

Dauernd klar, ruhig, stellt durchgemachtes 





2888 

555 

155 

Delirium in Abrede. 



16. 








Sustruznik 

4500 

86-6 

13 4 

— 

Fieberlos. Hochgradig von Delirien 



19. Jan. 





occupirt, nur ungenaue Anamnese er- 



1896 





hältlich. 



21. Jan. 

5065 

60 

36*5 

3*5 

Klar, krankheitseinsichtig, nachdem Pat. 





8044 

1844 

177 

von gestern Mittag bis heute Früh ge- 








schlafen. 



29. Jan. 

6844 

709 

27 

21 






4855 

1844 

144 




17. 








Seiler 

4300 

74 

26 

— 

Continuirliches Fieber. Katarrhalische 








Pneumonie (keine Influenza), am vierten 








Tag der Erkrankung untersucht. 



18. 








Goldsehmidt 

5100 

70*3 

25-4 

4*3 

Kräftiger Wärter, vor durchwachter Nacht 



28. Decemb. 


3800 

1300 

300 

Abends Blutentnahme. 



29. Decemb. 

6077 

67 

28*4 

4*6 

Nach durchwachter Nacht 



i 

l 

1 

1 




früh Blutentnahme. 



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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehlmgolblutung. 

Von 

Ernst BischofT, 

gewes. klin. Assistent, derzeit in Wien. 

Es gelingt nur langsam, die anatomischen und functioneilen 
Verhältnisse des Sehhügels und seiner Umgebung zu klären. 
Die Schwierigkeiten, welche hier zu überwinden sind, sind in 
verschiedener Beziehung ausserordentlich gross. Wir können 
aber nicht hoffen, einen klaren Einblick in die Gesetze zu er- 4 
langen, nach welchen das Centralnervensystem aufgebaut ist 
und arbeitet, wenn nicht alle seine Theile in gleichmässiger 
Weise erforscht werden. Gerade eine bessere Kenntniss der hier 
besprochenen Gebiete dürfte für die Erfassung der einheitlichen 
Organisation des Gehirns nothwendig sein. Ich halte deshalb 
jeden Beitrag zum Studium der mannigfachen hier in Betracht 
kommenden Fragen für nützlich und übergebe die Resultate 
meiner Untersuchung der Oeffentlichkeit, wenn sie auch nicht 
im Stande sind, früher aufgestellten oder neuen Hypothesen 
naturwissenschaftlich beweiskräftige Grundlagen zu schaffen. 

Apoplektischer Insult in früher Jugend, an¬ 
schliessend daran Hemiplegia dextra mit Contracturen, 
Athetose, Atrophie der rechten Gesichts- und Körper¬ 
seite, Sensibilitätsstörungen und Epilepsie. Tod im 
31. Lebensjahre im Stat. epilept. Herd im linken Seh¬ 
hügel, dessen dorsale Hälfte in eine Höhle verwandelt 
ist. Secundäre Veränderungen im Corpus mamillare, 
im rothen Kern und gekreuzten Bindearm, in der 
Schleife, in den Hinterstrangskernen der rechten Seite 
und in der linken Pyramide. 


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222 


Dr. Ernst Bisehoff. 


Ueber die Kranke wurden mir folgende Mittheilungen zur 
Verfügung gestellt: 1 ) Germer Marie, Metzgerstochter, war bis 
zum Alter von 2V 2 Jahren gesund; über hereditäre Verhältnisse 
liegen keine genauen Angaben vor. Seit obiger Zeit leidet die 
Kranke an Convulsionen. Der erste Anfall sei ganz plötzlich 
gekommen; Patientin sei damals umgesunken und lange Zeit 
bewusstlos gewesen. Damals war angeblich die eine Kopfseite 
und die Finger der rechten Hand blau gewesen. Seit dieser Er¬ 
krankung, die mit dem Durchbruche von gleichzeitig neun Zähnen 
gekommen sei und vom Arzte als Hirnhautentzündung bezeichnet 
wurde, sei das Kind rechts gelähmt gewesen. Hand und Fuss 
seien dann allmählich von Contractur befallen worden. Die 
Kranke hatte oft, mit Intervallen von höchstens zehn Tagen, 
Krampfanfälle, die nicht näher beschrieben wurden. Sie habe 
später ein wenig schreiben und arbeiten gelernt, natürlich mit 
der linken Hand. 

Im Alter von 26 Jahren wurde sie im Jahre 1889 in die 
Anstalt aufgenommen. Hier wurden starke Contracturen in 
• den Spitzen der rechtsseitigen Extremitäten beobachtet; 
die Hand befand sich in Supination und Beugestellung, der Fuss 
in Spitzfussstellung. Im Schulter-, Ellbogen- und Hüftgelenk 
waren active Bewegungen ausführbar. Der rechte Mund¬ 
winkel war nach aussen verzogen, die rechte Nasolabialfalte 
tiefer. In der rechten Hand bestanden starke typisch athe- 
totische Bewegungen, die Fingergelenke daselbst in der 
charakteristischen Weise verändert, so dass bei der Athetose 
deutliche Hyperextension vorkam. An der rechten Hand war 
die Berührungs- und Schmerzempfindung beträchtlich ab¬ 
gestumpft. 

Die Sehnenreflexe an den gelähmten Extremitäten' ge¬ 
steigert. Die ganze rechte Körperseite mit Einschluss des Ge¬ 
sichtes ist im Wachsthum zurückgeblieben. Gesichts- und 
Gehörssinn boten keine abnormen Befunde dar. 

Patientin litt an häufigen epileptischen Convulsionen, 
wobei beide Körperseiten ergriffen waren. Eine Störung der 
Ausdrucksbewegungen wurde nicht vermerkt und war jeden- 

■) Diese und das Präparat verdanke ich Herrn Dr. Schweighofer, 
Leiter der Irren- und Siechenanstalt Salzburg, dem ich hiermit meinen herz¬ 
lichen Dank ausspreche. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


223 


falls nicht deutlich. Psychisch war die Kranke nur leicht 
schwachsinnig, sie konnte lesen und schreiben; dagegen war sie 
im Allgemeinen moros und zänkisch. Der Tod erfolgte im Jahre 
1894 im Status epilepticus. 


Die Obduction ergab mit Ausnahme der gleich zu be¬ 
schreibenden flerderkrankung keine besondere Veränderung im 
Gehirn. Insbesondere erschienen beide Hemisphären sym¬ 
metrisch, die Hirnhäute nicht erkrankt. 

Nach Härtung in Müller’scher Flüssigkeit wurde das 
Gehirn zerlegt, wobei sich eine Höhle im dorsalen Theile 
des linken Sehhügels zeigte. Die dorsale Wand derselben, 
überall sehr dünn und ziemlich derb, wurde beim Zerlegen des 
Gehirns zum Theile entfernt. Nach Celloidineinbettung des 
Präparates, welches proximal nicht ganz die Frontalebene der 
vorderen Commissur, und distal die Ebene der fast vollendeten 
Pyramidenkreuzung erreichte, zerlegte ich dasselbe in eine fort¬ 
laufende Serie von Frontalschnitten, von welchen etwa jeder 
zweite mit Ammoniakcarmin, nach Weigert-Pal und theilweise 
mit Alaunhämatoxylineosin gefärbt und conservirt wurde. Durch 
die Zerlegung ging ein etwa 3 Millimeter dickes Stück in der 
oberen Kernregion des Oculomotorius verloren. 

Die Cyste, in deren nächster Umgebung zahlreich ange¬ 
sammeltes Blutpigment sich findet, nimmt die ganze freiliegende 
dorsale Fläche des Thalamus opticus ein. Die ganze Partie ist 
nach allen Kichtungen zusammengeschrumpft, so dass ausser 
der Verringerung der Höhe und Breite in jedem Präparate auch 
der Sehhügel links proximal schon erschöpft erscheint, wo der 
rechte es noch nicht ist, und distal das linke Corpus geniculatum 
internum früher als das rechte in der Schnittfläche erscheint. 
Der laterale Ansatzpunkt der dorsalen Cystenwand liegt etwas 
medial von der Stria cornea, der mediale jedenfalls überall 
ventral von der Lage der Taenia thalami. Hier ist eine Ver¬ 
wachsung mit dem rechten Sehhügel ventral von seiner Taenia 
vorhanden, die fast durch die ganze Länge der Cyste statt¬ 
gefunden hat. Dadurch ist der rechte Sehhügel, besonders vorne 
bedeutend nach links verzogen. Die Commissura mollis geht 
distal in diese Verwachsungs brücke über, so dass ventral davon 


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224 


Dr. Ernst Bischoff. 


eine Absackung des dritten Ventrikels sich befindet, die nach 
rückwärts in den Aquaeductus Sylvii direct übergeht. 

Die ventrale Wand der Cyste wird von einer lateralwärts 
ansteigenden concaven Fläche gebildet. Es ist der Sehhügel 
also hauptsächlich in seinen dorsalen Theilen zerstört. Der 
ganze linke Sehhügel ist auf weniger als ein Fünftel seiner 
normalen Ausdehnung beschränkt. 

Die Cysten wand besteht überall aus feinfaserigem Ge¬ 
webe, das als dichtes Gliagewebe beschrieben werden muss. 
Gliakerne sind in derselben mit Ausnahme einer schmalen 
inneren Schicht sehr zahlreich vorhanden. Die Höhle ist nirgends 
mit Epithel ausgekleidet. 

Die Beurtheilung der einzelnen im Sehhügel unter¬ 
schiedenen Regionen war theilweise mit Schwierigkeiten ver¬ 
bunden, da alle Theile in ihrer Ausdehnung und ihrer gegen¬ 
seitigen Lage verändert sind. Ich benütze zur Beschreibung 
derselben die von v. Monakow eingeführte Eintheilung und 
seine Nomenclatur. 

Vom Tuberculum anterius ist nirgends eine Spur er¬ 
halten; auch von seiner Kapsel fehlt jeder Rest (Fig. 1). 

Der laterale Kern, der im normalen Präparate durch 
seine Lage zwischen Gitterschicht und Lam. med. int. leicht 
abgegrenzt werden kann, ist im vorliegenden Falle hochgradig 
verkümmert; in den vorderen Ebenen finden sich einige 
Gruppen ziemlich grosser, sternförmiger Ganglienzellen mit 
zumeist wohl erhaltenen Zellkernen und Fortsätzen in lockerem 
Nervenfasernetz. Wegen ihres Baues und ihrer gleichmässigen 
zerstreuten Anordnung sind sie zum lateralen Kern zu rechnen, 
obwohl die innere Marklamelle kaum durch einige von innen 
schräg nach aussen aufsteigende Fasern angedeutet ist. Diese 
Zellgruppe wird nach rückwärts in den Ebenen der Commissura 
mollis kleiner, und ist etwa im 35. Schnitt verschwunden. Hier 
findet man nur vereinzelte kleinere Ganglienzellen nahe der 
inneren Kapsel. Von den grossen Zellen des lateralen Kernes 
sind etwas weiter rückwärts nahe der Cystenkapsel einige 
inmitten der Blutpigmentanhäufungen zu sehen. Sie sind verkalkt. 
Weiter rückwärts ist vom lateralen Kern gar nichts erhalten. 
Die aus der Gitterschicht einstrahlenden Radiärfasern sind 
nirgends nachweisbar und an Stelle derselben sieht man nur 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


225 


spärliche Faserbündel aus der inneren Kapsel abbiegen und 
parallel dieser ventralwärts laufen (Fig. 2). 

Der mediale Kern ist in den vorderen Theilen auf eine 
kleine Zellgruppe im medialen Felde nahe an der Verwachsungs¬ 
stelle beschränkt. Die Zellen des centralen Höhlengran sind 
zahlreich und von normalem Aussehen. 

Erst etwas vor dem Corpus subthalamicum gewinnt das 
mediale Feld an Ausdehnung und erscheint durch die dichte 
Anordnung der rundlichen Zellen und das zarte Zwischen ge webe 
als Rest der Kerngruppe Med. a. Diese Zellgruppe breitet sich 



Fig. 1. Vorderster Selihttgelabsehnitt. Rechte Seite nur zum Theile ausgeführt. 

C.f. = Columna fornicis. Li. Sehl. = Linsenkernschlinge. 

distal immer mehr aus, so dass sie vor den Ebenen des rothen 
Kernes mehr als die Hälfte der normalen Ausdehnung hat. Von 
hier bis zum hinteren Ende dieses Kernes ist derselbe überall 
gut ausgeprägt und gewinnt noch etwas an relativer Ausdeh¬ 
nung. Weder in den Zellen, noch an der Zwischensubstanz sind 
krankhafte Veränderungen merkbar. Ueber den normalerweise 
der Lam. medull. int. eingelagerten Nebenkern Med. b. ist ein 
Urtheil schwer zu fällen, weil jene nirgends deutlich zu er¬ 
kennen ist. Es befinden sich in den Ebenen, wo der Rest des 
linken Corpus mamillare in seinem distalen Ende getroffen is:, 
lateral und etwas ventral von Med. a. in den ziemlich dicht 
schräg nach aussen oben verlaufenden Fasern, denen einzelne 
quer durchschnittene Bündel beigesellt sind, eine Anzahl mittel- 


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226 


Ür. Ernst BUchoff. 


grosser und kleinerer, spindelförmiger und runder Ganglien¬ 
zellen, die ich als Repräsentanten des Kernes Med. b. ansehe. 
Die Gruppe liegt in Sichelform dem medialen Hauptkern an¬ 
geschmiegt und geht nach hinten in ein scharf begrenztes 
sichelförmiges Feld über, das ventral deutlich von quer ver¬ 
laufenden Nervenfasern begrenzt ist und in seinem lateralen 
Theile mehrere Bündelquerschnitte enthält. Die Zwischensubstanz 
ist dicht und daher das Feld mit Carmin dunkel gefärbt. Dieses 
sich scharf abhebende Feld ist wohl das Centre mddian von 
Lu 3 t s. (Fig. 3.) Es lässt sich nach hinten bis zu dem verloren 
gegangenen Stück, also bis in die untersten Ebenen des C. Luys 



Fig. 2. Ebene der Commiseora mollis. 


verfolgen. Die Zellen sind darin etwas kleiner als im Kern 
Med. a. und stärker gefärbt, die Form des Kernes Med. b. etwas 
flach und nach aussen gedrückt, so dass man geneigt sein 
könnte, ihn für den Nucl. ventr. b. zu halten. An einigen Prä¬ 
paraten kann man sich aber überzeugen, dass die letztere 
Zellgruppe vollständig getrennt mehr lateral und ventral sich 
befindet. 

Vom ventralen Kern treten vorne die ersten Zellen 
etwas vor dem Corpus mamillare auf. Am lateralen Rande des 
Thalamus sind wenige spindelförmige Zellen zerstreut, und in 
den ventralsten Partien der lateralen Thalamusabtheilung liegt 
eine Gruppe zumeist sehr kleiner, pigmentirter Zellen zwischen 
zahlreichen feinen Neivenfasern, die quer und längs getroffen 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhflgelblutung. 


227 


siud. Diese kleinen Zellen sind zumeist unregelmässig geformt, 
lassen keine Fortsätze erkennen und scheinen atrophirt. Diese 
ventro-laterale Gruppe, die bis in die hinteren Ebenen ununter¬ 
brochen verfolgt werden kann, muss als Nucleus ventr. a. 
und ventr. ant. angesprochen werden. Grosse charakteristische 
Elemente finden sich hier ebenso wenig wie im lateralen Kern. 
Zwischen diesem ventralen und dem Kern des Centre median 
liegt eine Gruppe von intensiv gefärbten, mit langen Fortsätzen 
versehenen Sternzellen,, die in der Höhe des C. mamillare auf¬ 
taucht und nach rückwärts bis in die oberen Ebenen des rothen 



Clm/s Jt.K 

Fig. 3. Ebene des Corpus mamillare. 


Kernes reicht. Diese Zellen sind die grössten des ganzen Seh¬ 
hügels, freilich nicht so gross wie die normalen grösseren 
Zellen, liegen ziemlich zerstreut in ziemlich nervenreichem Ge¬ 
webe und sind zu einer quer ovalen, nirgends deutlich ab¬ 
gegrenzten Gruppe vereinigt. Das rückwärtige Ende dieses 
Kernes ist deutlicher durch zwei schräg nach aussen oben 
verlaufende Faserzüge gegen die als Ventr. a. und Med. b. be- 
zeichneten Gebiete abgegrenzt und zeigt mehr Annäherung an 
die Sichelform des schalenförmigen Körpers. Das Gewebe der 
Grundsubstanz ist hier weniger dicht als im Kern Vent. a. Man 
kann diese Zellanhäufung mit ziemlicher Sicherheit als N. ventr. b. 
bezeichnen (Fig. 4). 


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228 


Dr. Ernst Bisehoff. 


Der hintere Kern, sowie der Vent. c. ist ebenso wie die 
hintersten Abschnitte des Vent. a. gut erhalten. Dagegen ist 
das Pulvinar ziemlich vollständig zerstört. 

Ueber das Verhalten der Sehhügelfasern ergibt die 
Untersuchung vor allem, dass die Fasern der Gitterschicht 
gänzlich fehlen, mit Ausnahme des ventralen hinteren Ab¬ 
schnittes. Am medialen Rande der inneren Kapsel verlaufen 
wenige dünne Fasern, die Reste der Lam. med. ext. Die übrigen 
Binnenfasern des Sehhügels zeigen so complicirte Anordnung, 
dass ihre Beschreibung nicht möglich ist. Es muss daher auf 



Fig. 4. Ebene des vordersten Theiles des rothen Kernes. 


die Abbildungen verwiesen werden. Im Allgemeinen ist hervor¬ 
zuheben, dass in den dorsalen Theilen ein ziemlich dichtes 
Fasernetz vorhanden ist, während ventral die Faserordnung 
grossentheils der normalen entspricht. . 

Die beiden Abtheilungen der Linsenkernschlinge sind 
sehr gut entwickelt, ebenso das als H 2 und x bezeichnete Feld. 
Dagegen konnte ich vom Vicq d’Azyr’schen Bündel nichts 
nachweisen; die Fornixsäule ist durch wenige Fasern, welche 
in einem rundlichen Narbenstrange verlaufen, vertreten. 

Das Corpus mamillare ist auf ein Viertel des normalen 
zusammengeschrumpft und enthält auch in diesem Raume wenige 
kleine und nur einzelne grössere Ganglienzellen. Nur im late- 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


229 


ralen Abschnitte ist eine grössere Zahl kleiner Zellen angehäuft. 
Das frontale Mark des rothen Kernes, sowie die Hauben¬ 
strahlung sind auf einen viel kleineren Raum beschränkt als 
rechts, die L. med. int. links nirgends deutlich. 

Die Taenia thalami ist links nicht vorhanden; in der 
Meynert’schen Commissur sind links und rechts gleich ein¬ 
strahlende Fasern vertreten. 

Die innere Kapsel ist links schmäler als rechts (etwa 
um ein Drittel). Ebenso der Hirnschenkelfuss. Doch sind die 
Fasern überall dicht gestellt und gleichmässig gefärbt. In der 
Zona incerta und Substantia innominata besteht keine ent¬ 
fallende Abnormität 

Die Zellen und die Kapsel des Corpus Luys sind gleich 
denen der rechten Seite, die Grösse dieses Körpers erscheint 
annähernd normal. Im Linsenkern nichts abnormes. 

Das Corpus gen. ext. ist von normaler Grösse und Be¬ 
schaffenheit, ebenso das Corp. gen. int. und sein Stiel (Fig. 5). 

Der rothe Kern ist links in sehr charakteristischer Weise 
verändert. Oben wurde schon bemerkt, dass sein frontales und 
laterales Mark verkleinert und faserärmer ist. Der linke rothe 
Kern ist im Gauzen (etwa um ein Drittel) kleiner als der rechte. 
Die Ursache dieser Verkleinerung ist offenbar der Schwund 
der sagittalen Nervenfaserbündel, welche in den vorderen 
Ebenen gar nicht vorhanden sind und auch weiter rückwärts 
nirgends gleich zahlreich sind wie rechts. Doch nimmt die Zahl 
derselben nach rückwärts constant zu, so dass am distalen Ende 
des Kernes ein ziemlich faserreiches Gewebe sich findet. Im 
vorderen Theile sieht man nur ein etwas rareficirtes Nerven¬ 
fasernetz. Die Ganglienzellen sind von normaler Beschaffenheit, 
jedoch enger aneinander gerückt und die Grundsubstanz scheint 
etwas dichter. 

Das mediale Mark des linken rothen Kernes ist viel 
schmäler und seine Fasern im Allgemeinen dünner als rechts. 
Im ventralen Mark und den beiden Haubenkreuzungen 
besteht kein bedeutender Unterschied zu Ungunsten der linken 
Seite. 

Das aus dem rothen Kern distal austretende Markfeld (der 
weisse Kern) ist links etwa halb so gross als rechts, und seine 
Fasern sind dünner. Der daraus gekreuzt hervorgehende Binde- 


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230 


Dr. Ernst Bischoff. 


arm lässt dieselbe Verkleinerung bis zu seinem Eintritte ins 
Kleinhirn verfolgen. Das Meynert’sche Bündel ist links etwa 
halb so gross als rechts. Hinteres Längsbündel und die lateral 
davon befindliche Subst. reticular. verhalten sich normal. 

Die Schleife ist links durch ihren ganzen Verlauf auf ein 
kleineres Feld beschränkt. Der Unterschied der links und 
rechts von derselben bedeckten Fläche ist in der Vierhügel- 
gegend kein bedeutender. Dagegen zeigen sich an Carmin- 
schnitten bei stärkerer Vergrösserung beträchtliche Differenzen. 
Links sieht man fast keine einzige quergeschnittene 



Fig. 5. Ebene der proximalen Oculomotoriuskerne. 


Nervenfaser zwischen den schräg aufsteigenden Bündeln, wie 
sie normalerweise zahlreich vorhanden sindf(Fig. 6). 

Dem entsprechend ist auch dieses Feld mit freiem Auge 
betrachtet, röthlich gefärbt, während es rechts fast weiss 
erscheint. Je mehr die Schnitte sich vom Sehhügel entfernen, 
desto mehr Faserquerschnitte tauchen im Schleifenfelde auf. 
Trotz genauer Durchsuchung der Präparate konnte ich ein ver¬ 
schiedenes Verhalten der einzelnen Theile der Schleife nicht 
constatiren. Nur die sogenannte obere Schleife erscheint an 
Gesammtausdehnung sehr reducirt. Fasern mit starker Mark¬ 
scheide sind in der Gegend des rothen Kernes überhaupt nicht 
im Gebiete der Schleife vorhanden. In der Gegend der hinteren 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


231 


Vierhügel, wo sie schon fast ausschliesslich quergeschnittene 
Nervenfasern enthält, sieht man links die ganze Schleife mit 
Ausnahme der unteren Vierhügelschleife auf die halbe Aus¬ 
dehnung der rechten reducirt. Innerhalb ihres Bereiches finden 
sich hauptsächlich feine Fasern. Die laterale Hälfte der Haupt¬ 
schleife scheint stärker verändert als die mediale. Die feinfase¬ 
rigen Bündel der Fussschleife sind nach ihrem Anschlüsse an 
die Schleifenschicht links und rechts ein Stück nach abwärts 
zu verfolgen, mischen sich aber bald unter die übrigen Bündel. 
Die sogenannten lateralen pontinen Bündel Schlesinger’s 



fass. Schläfe 

Fig. 6. 


(Bechterew’s accessorische Schleife) sind ebenfalls beiderseits 
als ziemlich mächtige, allmählich vom Fusse zur Schleife über¬ 
gehende Bündel zu verfolgen. Die medial der Schleife einge¬ 
lagerten, sowie die lateral dorsal davon empfindlichen grauen 
Massen sind normal. Im weiteren absteigenden Verlaufe ist die 
linke Schleifenbahn gleichmässig um mindestens ein Drittel 
kleiner als die rechte, die Fasern sind in allen Theilen 
derselben dünner. Die Olivenzwischenschicht ist links etwas 
mehr wie halb so breit als rechts (Fig. 7). 

Schon in dem unteren Abschnitte der unteren Oliven ist 
eine Verschiedenheit in der Zahl und Dicke der ventralen 


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232 


Dr. Ernst Bisehoff. 


Bogenfasern zu Gunsten der linken Seite vorhanden. Daran 
nehmen auch einige das dorsale Olivenblatt durchbrechende 
Fasern theil. Von hier nach abwärts lässt sich continuirlich 
eine bessere Entwickelung der Bogenfasern der linken Seite 
verfolgen, und zwar ist der Unterschied wohl ein ziemlich 
gleichmässiger; er tritt aber in Olivenhöhe deutlicher hervor, 
weil die Bogenfasern hier länger sind und zerstreut liegen 
(Fig. 8). 

Die beiden Hinterstrangskerne sind rechts bedeutend 
geschrumpft. Sie dürften kaum die Hälfte der Ausdehnung 
dieser Kerne der linken Seite haben. Normal ist nur die soge- 



O. rest. 


RVa 


W 

JfäcLW. 
Oben? Olive 


Fig. 7. 


nannte laterale Abtheilung des Burdach’schen Kernes, die 
übrigen Theile sind geschrumpft. Im Goll’schen Kern scheint 
die Veränderung höheren Grades zu sein, wenigstens sind hier 
in manchen Schnitten gar keine Ganglienzellen sichtbar. 
Zwischen den verschiedenen Regionen dieses Kernes besteht in 
dieser Beziehung kein Unterschied. Die erhaltenen Nervenzellen 
sind durchwegs klein, oft sehr schmächtig oder unregelmässig 
begrenzt, der Kern ist in der dunkel gefärbten, homogen er¬ 
scheinenden Substanz des Zellkörpers fast nie kenntlich. Nahe 
der Einstrahlungszone der Kreuzungsfasern finden sich im rechten 
Goll’schen Kerne einige ziemlich gut erhaltene spindelförmige 
Ganglienzellen. Endlich sind in beiden Goll’schen Kernen einige 
grosse, blasige, blass gefärbte Zellen vorhanden. Das Faser- 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sebhügelblutung. 233 

netz des rechten Goll’schen Kernes ist nicht deutlich rareficirt. 
(Fig. 12.) 

Im medialen Burdach’schen Kerne scheint die Zahl 
der Ganglienzellen nicht so bedeutend vermindert zu sein. Die 
Atrophie der Zellen ist hier aber auch eine ganz allgemeine. 
Viele dieser Zellen sind nicht viel grösser als die Gliakerne. 
Auch hier ist ein beträchtlicher Schwund des Nervennetzes 
nicht eingetreten. Die Grundsubstanz und die Gliakerne sind 
in beiden Kernen links und rechts ganz gleich. Die Nerven¬ 
fasern, welche sich aus der Schleifenkreuzung in die Hinter- 



Pig- 8. 


strangskerne auflösen, sind rechts weniger dicht und oft feiner. 
In den Hintersträngen, so weit sie nach abwärts zu verfolgen 
waren, fiel keine Abnormität in die Augen. 

Die übrigen Gebilde der Haube erscheinen absolut 
normal und beiderseits gleich ausgebildet. Hervorzuheben ist, 
dass die centrale Haubenbahn keine Atrophie erkennen liess, 
dass die grauen Massen der Formatio reticularis ganz symme¬ 
trisch angeordnet waren, ebenso die Kerne und Markmassen 
beider Vierhügel, die motorischen Trigeminuswurzeln, sämmtliche 
Hirnnervenkerne und Wurzeln. Nur der sensible Trige¬ 
minuskern der rechten Seite kann nicht mit Bestimmtheit als 
gesund erklärt werden. Seine Ausdehnung scheint ein wenig 

Jalirbflcher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 16 


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234 


Dr. Ernst Bisehoff. 


kleiner und seine an Zahl wohl dem linken gleichen Ganglien¬ 
zellen sind im Allgemeinen etwas kleiner. Die Unterschiede 
sind aber so gering, dass ich dieselben für weitere Schluss¬ 
bildungen nicht verwerthen möchte. Auch ist die spinale Quintus- 
wurzel und ihre Substantia gelatinosa beiderseits ganz normal. 
Mit Ausnahme der gleich zu besprechenden Pyramidenbahn sind 
auch alle übrigen Gebilde nach abwärts normal. Die Brücken¬ 
kerne sind in allen Theilen der Brücke gleichmässig entwickelt 
und die Brückenarme von gleicher Mächtigkeit. 

Die Substantia nigra ist nicht pathologisch verändert. 
Im Verlaufe des Hirnschenkelfusses bis zur Brücke besteht 



links rechts 

Fig. 12. Goll’scher Kern. 


die geringe Verkleinerung derselben auf der linken Seite fort. 
Sie dürfte höchstens ein Viertel des Gesammtvolumens betragen. 
Die Fasern stehen überall dicht. Weil sehr wenige Fasern quer¬ 
geschnitten sind, kann man nicht beurtheilen, ob dieselben 
ganz gleichen Calibers sind wie die der rechten Seite. Die 
Fasern der lateralen pontinen Bündel sind von gleicher Stärke. 
Innerhalb der Brücke bleiben die Verhältnisse dieselben. In der 
Medulla oblongata ist der Volumunterschied der Pyramiden 
grösser. Die linke ist wohl um ein Drittel kleiner. Ihre Fasern 
sind aber gleich gross und ebenso angeordnet wie rechts. Die 
Pyramidenkerne sind normal, ebenso die Fibrae arcuatae ext. 
In der Pyramidenkreuzung findet ein Ueberwiegen der von 
rechts nach links verlaufenden Kreuzung statt. 


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Cerebrale Kinderlähmung naeh Sehhügelblutung. 


235 


Die anatomischen Untersuchungsresultate in ihren 
wichtigsten Zügen sind folgende: Vom linken Sehhügel im 
engeren Sinne sind alle Bestandtheile mehr oder weniger 
erkrankt. Das Tuberculum anterius ist völlig zerstört, vom 
lateralen Kern sind geringfügige Reste erhalten, der mediale 
Kern ist in beiden Abtheilungen bedeutend verkleinert, der 
Nucleus ventral, a. und b. etwa in demselben Masse geschrumpft, 
der Nucleus ventral, c. und der hintere Kern ziemlich wohl er¬ 
halten, das Pulvinar zerstört. 

Die radiären Fasern der Gitterschicht müssen zum grössten 
Theile degenerirt und zur Resorption gekommen sein, ebenso 
das Vicq d’Azyr’sche Bündel, die beiden Lam. medull. sind nicht 
deutlich und ihre Fasermassen jedenfalls reducirt, ebenso die 
Haubenstrahlung. Die Taenia thalami ist zerstört, die Fornix- 
säule fast verschwunden, das Corpus mamillare geschrumpft 
und degenerirt. Dagegen ist die Linsenkernschlinge sammt dem 
Felde H 2 , das Corpus subthalamicum, die Zona incerta und das 
gesammte Höhlengrau sehr gut erhalten, ebenso die Meynert’sche 
Commissur. Ausserhalb dieser Region erscheint alles normal 
mit Ausnahme: 

1. Der Schleifenbahn, welche cöntinuirliche Volumsvermin¬ 
derung und theilweisen Faserausfall, sowie Verkleinerung des 
durchschnittlichen^ Faserquerschnittes zeigt; diese Veränderungen 
sind durch die Schleifenkreuzung bis in die rechtsseitigen 
Hinterstrangskerne zu verfolgen, deren Zellen theils geschrumpft, 
theils resorbirt sind; 

2. der Sagittalbündel des linken rothen Kernes, welche 
zum grossen Theile fehlen; dieser Faserausfall ist in den ge¬ 
kreuzten Bindearm zu verfolgen, an dem hauptsächlich Volums- 
verminderung besteht; 

3. der inneren Capsel und des Hirnschenkelfusses, sowie 
deren Fortsetzung in der Pyramide links, welche eine Volums¬ 
verminderung aufweisen ohne andere Structurveränderungen. 

In den Haubenfascikeln konnte keine Asymmetrie nach¬ 
gewiesen werden. 

Der Hirnmantel, der makroskopisch ein normales Aussehen 
hatte, konnte mikroskopisch nicht untersucht werden. 


16 * 


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236 


Dr. Ernst Bisehoff. 


Der Krankheitsprocess hat den Thalamus opticus zum Theile 
zerstört, zum Theile sind die nervöseD Gebilde in der Kapsel der 
Cyste zugrunde gegangen. 

Der erhaltene Rest des Sehhügels (im engeren Sinne, 
also mit Ausschluss der beiden Kniehöcker) bietet in seinem 
grössten Theile vom Normalen abweichende Verhältnisse dar. 
Die medialen und ventralen Kerne (ausgenommen der hinteren) 
sind in ihren Dimensionen mehr minder reducirt, sie enthalten 
viel weniger und fast durchaus kleinere Ganglienzellen als die 
entsprechenden Kerne der rechten Seite, und ihr Nervenfasernetz 
ist zum Theile deutlich geschwunden. Ich möchte diese Verände¬ 
rungen nicht als mechanische Wirkung der benachbarten Cyste 
allein ansehen, da sie nicht überall gleich ausgesprochen sind. 
Der Nucleus medialis a. ist relativ viel besser erhalten als die 
übrigen (Med. b., ventr. ant., a. und b.). Ich glaube deshalb, dass 
an dem stärkeren Erkranktsein der letzteren auch eine innigere 
Beziehung ihrer Nervenfasern mit den zerstörten Gebieten mit¬ 
schuldig ist. Mein Befund weist also darauf hin, dass der 
nucleus med. a. nicht in so enger anatomischer Ver¬ 
bindung mit dem lateralen Kern steht, als die oben ge¬ 
nannten Kerne, die schlechter erhalten sind. Ebenso 
muss ich aus der Intactheit der distalen Theile des lateralen 
und ventralen Kernes schliessen, dass sie von den zerstörten 
Theilen anatomisch unabhängig sind. In habe in der Beschrei¬ 
bung der Präparate vermieden, eine Unterscheidung zwischen 
degenerativen und atrophischen Veränderungen zu machen, da 
die Gefahr einer Täuschung in dieser Beziehung sehr gross ist, 
wenn der acute Krankheitsprocess schon so viele Jahre ver¬ 
gangen ist, wie das in meinem Falle war. Auch werden von ver¬ 
schiedenen Seiten die Begriffe der Degeneration und Atrophie 
nicht in übereinstimmender Weise angewendet, so dass ihre Be¬ 
nützung leicht zu Missverständnissen führen könnte. Endlich 
sind unsere Kenntnisse über die Gesetze, nach denen die retro¬ 
grade Degeneration und die Atrophie verläuft, noch zu gering, 
so dass man in diesem Gebiete leicht zu Fehlschlüssen und zu 
einer künstlichen schematischen Auffassung verleitet wird, die 
dem wahren Sachverhalte nicht entspricht. Doch halte ich es 
fast für selbstverständlich, dass eine Nervenbahn oder Ganglien¬ 
zellengruppe umsomehr leiden muss, je intimer ihre Beziehung 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


237 


zu dem primär zerstörten Gebiete ist. Von diesem Gesichts¬ 
punkte aus hoffe ich die anatomischen Verhältnisse meines Falles 
kritisch beurtheilen zu können, ohne Fehlschlüsse daraus zu 
ziehen. 

Total verschwunden sind die Radiärfasern des 
Thalamus mit Ausnahme der hinteren ventralen Bündel. Dieser 
Befund steht in Einklang mit den Untersuchungsergebnissen 
v. Monakow’s, welcher bei Hirnrindenläsionen, die hauptsäch¬ 
lich in den Parietalwindungen localisirt waren, diese • Fasern 
secundär zugrunde gegangen fand. Aus den hochgradigen Ver¬ 
änderungen der zugehörigen Ganglienzellen der lateralen und 
ventralen Sehhügelkerne in diesen Fällen hat v. Monakow ge¬ 
schlossen, dass in ihnen der Ursprung der Radiärfasern zu 
suchen sei, welche also ein centripetal zur Rinde leitendes 
System darstellen. Mein Fall hat ergeben, dass bei Zerstörung 
dieser Thalamuskerne die Radiärfasern spurlos verschwinden, und 
beweist mithin die Richtigkeit der obigen Annahme neuerlich. 

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Vicq d’Azyr- 
schen Bündel; dasselbe verbindet das Corpus mamillare mit 
dem vorderen Sehhügelkern. v. Monakow fand bei Necrose des 
Uncus und des Ammonshornes constant (degenerativen) Schwund 
der Fornixsäule und der interstitiellen Faserung des Corpus 
mamillare, sowie Veränderungen an den Ganglienzellen des 
letzteren und an dem Vicq d’Azyr’sehen Bündel. Das Corpus 
mamillare war in ganz gleicher Weise erkrankt wie das Corpus 
geniculat. ext. nach Läsion des N. opticus und das Corpus 
genic. int. nach Durchschneidung der unteren Schleife. Daraus 
ergab sich der Schluss, dass die Fornixsäule nicht im Corpus 
mamillare, sondern in seiner Rindenzone, der Ammonshorngegend, 
ihren Ursprung nimmt. In meinem Falle war die Erkrankung 
des Corpus mamillare eine viel hochgradigere und principiell 
von der oben geschilderten Erkrankungsform verschieden. 
Während nach Läsion der Rindenzone hauptsächlich 
das interstitielle Fasernetz zugrunde ging und die 
Ganglienzellen fast in normaler Zahl erhalten blieben 
und nur in Form und Grösse verändert waren, sind nach 
Läsion des vorderen Sehhügelkernes die Ganglien¬ 
zellen des Corpus mamillare ziemlich vollständig zu¬ 
grunde gegangen, und das Vicq d’Azyr’sche Bündel ist 


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238 


Dr. Emst Bisehoff. 


vollständig verschwunden. Aber auch die Fornixsäule 
ist bis auf geringe Reste resorbirt. Da ich nicht im Stande 
war, diese durch ihren weiteren Verlauf zu verfolgen, kann ich 
nicht entscheiden, ob die Ursache ihres Schwundes nur in der 
Erkrankung des Corpus mamillare zu suchen ist, oder ob nicht 
eine Druckwirkung der Cyste im Sehhügel auf den langen 
Verlauf des Fornix zur starken Schädigung desselben beigetragen 
hat. Aus diesem Grunde kann ich auch nicht entscheiden, ob 
die hochgradige Erkrankung des Corpus mamillare allein auf 
die primäre Zerstörung des vorderen Sehhügelkernes zurück¬ 
zuführen ist, oder ob diese erst in Verbindung mit der Schädi¬ 
gung des Fornix im Stande war, das Corpus mamillare zu voll¬ 
ständigem secundären Schwund zu bringen. Aus dem Befunde 
lässt sich nur schliessen, dass die Ganglienzellen des 
Corpus mamillare zu ihrer Existenz die Verbindung 
mit dem vorderen Thalamuskern durch das Vicq d’Azyr- 
sche Bündel nothwendig brauchen, eventuell könnte auch 
der vordere Thalamusstiel, der in meinem Falle auch ver¬ 
schwunden war, hier eine Rolle spielen. Während also nach 
Schwund der Fornixsäule die interstitiellen Veränderungen des 
Corpus mamillare im Vordergründe stehen und die Ganglienzellen 
derselben nur leicht erkranken, geht nach Schwund des Vicq 
d’Azyr’schen Bündels und bei Erkrankung der Fornixsäule das 
Corpus mamillare in allen seinen Theilen zugrunde. Es besteht 
offenbar keine Faserverbindung dieses Körpers nach einer an¬ 
deren, in meinem Falle nicht zerstörten Region des Gehirns. 
Dass das Corpus mamillare nicht etwa primär durch Druck zu¬ 
grunde gegangen ist, geht daraus hervor, dass die Ganglien¬ 
zellen des Höhlengaues in seiner nächsten Umgebung und seiner 
lateralen Zellgruppe nicht geschwunden sind. 

Mit Ausnahme der bisher genannten Theile (Radiärfasern, 
C. mamillare mit seinen Faserverbindungen und vorderer 
Thalamusstiel) ist in den primär verschont gebliebenen Gebieten 
nirgends ein vollständiges Zugrundegehen einzelner Zell- und 
Fasergruppen zu constatiren. 

In den erhaltenen Kernen des Sehhügels ist es, wie oben 
beschrieben, zum grossen Theile zu hochgradigen Veränderungen 
gekommen. Daran betheiligen sich die Kniehöcker und die ven¬ 
tralen distalen Kerngruppen nicht. Diesen Umstand, dass be- 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhiigelblutung. 


239 


trächtliche Theile des Sehhügels erhalten blieben, will ich 
nochmals hervorheben, weil dadurch erklärt wird, warum die 
secundären Veränderungen in den Bahnen, die den Sehhügel 
mit den distalen Hirntheilen verbinden, fast überall nur theil- 
weise platzgegriffen haben. 

Die Haubenstrahlung ist auf ein kleineres Feld be¬ 
schränkt als rechts, und die Fasernetze innerhalb der Sehhügel¬ 
kerne sind zum grossen Theile stark rareficirt. Die Verbindung 
dieser Theile mit den geschädigten Sehhügelkernen ist sicher¬ 
gestellt und ihre Erkrankung war daher zu erwarten. 

Pie Faserbündel des Feldes H 2 und der Linsen¬ 
kernschlinge sammt der Kapsel des Corpus subthalamicum 



(Die schräg geschnittenen Fasern gehören dem hinteren Vierhügelarm an.) 

sind wohl erhalten geblieben. Es ist bekannt, dass sie grossen- 
theils eine Verbindung der Haube mit dem Linsenkern dar¬ 
stellen. Aus meinem Falle geht hervor, dass sie von den zer¬ 
störten Sehhügelabschnitten unabhängig sind. Auch der Luys’sche 
Körper selbst lässt keine Veränderung bis auf geringe wahr¬ 
scheinliche Volumsreduction erkennen; seine Zellen und Fasern 
entsprechen in Grösse und Anordnung ganz denen der gesunden 
Seite. Dasselbe kann man von der Zona incerta und von der 
Substantia nigra aussagen. Erkennbare Veränderungen sind in 
diesen Theilen nicht nachweisbar; sie sind also mit den dorsalen 
Sehhügelabschnitten auch nicht in gegenseitiger Abhängigkeit. 

Die secundäre Veränderung der Schleifenbahn war 
eine sehr ausgesprochene. Einen deutlichen Faserausfall konnte 
ich nur in der oberen Schleife nachweisen, während für den 
Haupttheil die Frage offen bleiben muss, ob der Mangel an quer- 


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240 


Dr. Ernst Bischoff. 


geschnittenen Nervenfasern durch Faserschwund (Fig. 9) oder 
durch eine zufällige schrägere Stellung der Fasern erklärt 
werden muss. Letzteres erscheint mir höchstens für einen Theil 
der Fasern geltend. Denn schon die Grösse der Einbusse an 
Volumen des ganzen Schleifenfeldes war beträchtlicher, als es 
nach einfacher Atrophie bei Hirnrindenzerstörung der Fall ist. 
Da ein Theil der Rindenschleife jedenfalls ziemlich intact war 
(zahlreiche, ziemlich starke Fasern in der Olivenzwischenschicht), 
so kann ein Verlust an Volumen, der mehr als ein Drittel des 
Gesammtvolumens beträgt, nur auf Rechnung theilweiser Faser¬ 
resorption gestellt werden. Die grössere Anzahl feiner Fasern 
in der Schleife innerhalb der Brücke (Fig. 10) lässt darauf 
schliessen, dass in einem Theile der Fasern auch nur Verschmä¬ 
lerung eingetreten ist. Da in meinem Falle die Schleife hoch¬ 
gradiger erkrankt war, als nach Rindenläsionen zu geschehen 



links rechts 

Fig. 10. Hauptschleife. 


pflegt, muss ich annehmen, dass ein beträchtlicher Theil 
der „Rindenschleife” mit den hier zerstörten Sehhügel¬ 
kernen direct oder indirect in Verbindung steht. 

Ob Schleifeofasern ohne Unterbrechung im Sehhügel zur 
Hirnrinde aufsteigen, lässt sich durch meinen Fall nicht ent¬ 
scheiden. Ein Ursprung solcher Fasern in den Hinterstrangs¬ 
kernen könnte aber nur in geringem Ausmasse zugestanden 
werden, da diese auf der gekreuzten Seite ganz allgemein 
erkrankt erscheinen. 

Einen Uebergang erkrankter Schleifenfasern in die ver¬ 
schiedenen Kerne der Haube, respective eine Veränderung in 
diesen, konnte ich nicht feststellen. Das Bündel vom Fuss zur 
Schleife war entsprechend der geringen Volumsreduction des 
Hirnschenkelfusses links und rechts in gleicher Weise ausge¬ 
bildet. Für eine theilweise Anlagerung von neuen Schleifenfasern 
grossen Calibers innerhalb der Brücke spricht das Auftauchen 
solcher Fasern in tieferen Schnittebenen. Den hauptsächlichsten 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


241 


Zuwachs an dicken Fasern dürften die Bündel der accessorischen 
Schleife Bechterew’s liefern, welche in den distalen Theilen 
des Hirnschenkelfusses sich von diesem lostrennen und der 
Schleifenschicht angliedern. Aber auch in Bezug auf feinere 
Fasern muss ein öfteres Ein- und Austreteu solcher in verschie¬ 
denen Ebenen angenommen werden, wenn man die in gewissen 
Abschnitten rasch wechselnde Zusammensetzung dieser Bahn 
in Betracht zieht. 

Auf Grund meines Falles war eine Trennung der Haupt¬ 
schleife in verschiedene constante Bündel nicht möglich. Die 
gesund gebliebenen Fasern erscheinen überall gleichmässig ver¬ 
theilt. Eine geschlossene Degeneration vom Sehhügel nach 


J^Yaserrv 



JTZette JlCZeTte 


links rechts 

Fig. 11. Rother Kern. 

abwärts hätte wohl nicht durch Resorption und Verschiebung 
so vollständig zum Verschwinden gebracht werden können. Ich 
nehme daher an, dass die in den zerstörten Theilen des Seh¬ 
hügels endigenden Schleifenfasern unter andere Bestandtheile 
derselben gemischt, nach abwärts laufen. 

Die Veränderung im rothen Kern war, wie oben 
bemerkt, auf die Sagittalfasern derselben beschränkt. Diese 
waren aber in sehr hohem Grade geschwunden, so dass in den 
proximalen Ebenen fast nichts davon übrig geblieben war. Alle 
diese Fasern dürfen daher mit dem Herd im Sehhügel in 
directen Zusammenhang gebracht werden, mit anderen Worten, 
die Sehhügelregion erscheint nach diesem Befunde als der 
eine Endpunkt für diese ziemlich grosse Anzahl von Fasern. 
Da der Bindearm ziemlich ausschliesslich cerebralwärts leitet 
und im rothen Kern keine Zelldegeneration aufgetreten ist, muss 


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242 


Dr. Ernst Bischoff. 


man annehmen, dass die Fasern, welche hier degenerirt waren, 
direct aus dem Kleinhirn, wo sie ihre Ursprungszellen besitzen, 
in den gekreuzten Sehhügel verlaufen, dabei den rothen Kern 
passiren, ohne eine Unterbrechung zu erleiden. Der 
Faserschwund liess sich dem entsprechend durch den ganzen 
Verlauf dieser Bahn in gleichmässiger Weise verfolgen. Dagegen 
konnte ich an den Ganglienzellen des rothen Kernes eine 
degenerative oder atrophische Veränderung nicht nachweisen. 
Eine Verbindung dieser Zellen mit den zerstörten Seh¬ 
hügelgebieten scheint also nicht zu bestehen. Es sei 
noch hervorgehoben, dass in distaleren Ebenen sagittale Faser¬ 
bündel wieder auftauchten, und dass das markhaltige Fasernetz 
im ganzen rothen Kern gut ausgebildet ist, was mit der Intact- 
heit der Ganglienzellen in Einklang steht. 

Die Volumsreduction, welche die innere Kapsel erlitten 
hatte, ist zum Theile jedenfalls durch den Ausfall der Fasern 
der Gitterschicht entstanden. Ausserdem besteht die Volums¬ 
reduction aber im Hirnschenkelfuss und in der Pyramidenbahn 
noch fort, da sie in der Medulla oblongata relativ etwas be¬ 
deutender erscheint als im Hirnschenkelfuss, glaube ich annehmen 
zu können, dass der Grund derselben hauptsächlich in mangel¬ 
hafter Ausbildung der Pyramidenfasern zu suchen ist. 

Darauf deutet auch der Umstand hin, dass die grauen 
Massen der Brücke beiderseits ganz gleich und normal sind, 
und dass auch der rechte mittlere Kleinhirnstiel durchaus nicht 
erkrankt ist. Auch die Gangliengeflechte der Haube sind hier 
ganz normal geblieben. Da alle diese Theile bei primären 
Rindenläsionen und secundärer Degeneration des Hirnschenkel- 
fusses in den bisher beobachteten Fällen von infantiler Er¬ 
krankung deutlich verändert waren, kann man aus ihrer Intact- 
heit in meinem Falle schliessen, dass auch die zugehörenden 
Fasern des Fusses und der inneren Kapsel nicht bedeutend 
erkrankt waren. 

Auf dieses auffallende Verhalten, dass von den Fasern¬ 
zügen, welche in der inneren Kapsel am Thalamus vorbei¬ 
streichen, nur die Fasern der Pyramidenbahn in ihrem weiteren 
Verlaufe eine erkennbare Schädigung aufweisen, werde ich unten 
noch einmal zurückkommen. Doch glaube ich schon jetzt die 
sich daraus ergebende Schlussfolgerung aussprechen zu sollen, 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


243 


dass nämlich dieses Verhalten gegen die Annahme spricht, 
dass die Pyramidenfasern in ihrem Verlaufe durch die innere 
Kapsel durch Fernwirkung von Seite des primären Krankheits¬ 
herdes im Sehhügel geschädigt wären* denn in diesem Falle 
hätten die übrigen Fasern, welche aus der Hirnrinde durch die 
innere Kapsel und den Hirnschenkelfuss zur Brücke verlaufen, 
ebenso gelitten. 

Auch der Umstand, dass innerhalb der Pyramidenbahn 
nirgends eine Spur von degenerativen Veränderungen zu sehen 
ist, spricht dafür, dass die Schädigung derselben in irgend einer 
indirecten Weise entstanden ist. In den Fällen nämlich, wo die 
Pyramidenbahn durch Zerstörung der motorischen Rindenfelder 
oder durch Unterbrechung an einer Stelle ihres absteigenden 
Verlaufes erkrankt ist, kommt es zu einer Degeneration, die 
auch nach vielen Jahren noch einen deutlichen Fasermangel im 
distalen Verlaufe zur Folge hat. Auch wenn die Unterbrechung 
in frühester Kindheit stattgefunden hat, sind die Pyramiden 
nicht nur kleiner, sondern auch in diesem kleineren Felde faser¬ 
ärmer; an Stelle der ausgefallenen Fasern tritt gewuchertes 
Gliagewebe. In meinem Falle ist aber ausser der Verkleinerung 
der Pyramide gar kein Unterschied gegenüber der gesunden 
Seite vorhanden, die linke Pyramide erscheint bei starker Ver- 
grösserung in Grösse und Anordnung ihrer Fasern durchaus 
nicht von der rechten verschieden. Das beschriebene anatomische 
Bild ebenso wie die vollständig hemiplegischen Erscheinungen 
weisen jedenfalls darauf hin, dass die Pyramidenbahn als 
Ganzes in gleichmässiger Weise in ihrer Entwickelung 
und Function durch die Zerstörung im Sehhügel ge¬ 
litten haben dürfte. 

Endlich möchte ich hervorheben, dass die geringe Er¬ 
krankung der linken Pyramide die hochgradige rechts¬ 
seitige Hemiplegie nicht genügend erklärt. Da die Er¬ 
krankung in so früher Jugend entstanden ist, wäre sehr wohl 
die Gelegenheit für ein vicariirendes Eintreten der rechten 
Hemisphäre vorhanden gewesen. Ich finde auch zur Erklärung 
dieses Verhaltens keinen anderen Ausweg als den Factor, der 
meinen Fall von den gewöhnlichen Hemiplegien unterscheidet, 
nämlich, dass dort die Function des zerstörten Sehhügels aus¬ 
gefallen ist. 


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244 


Dr. Ernst Bischoff. 


Die Erkrankung der hier besprochenen Patientin muss als 
cerebrale Kinderlähmung bezeichnet werden. Während des 
Lebens war wohl gar kein Anhaltspunkt dafür vorhanden, dass 
der Erkrankungsherd nicht wie gewöhnlich in der Hemisphären¬ 
rinde oder in ihrem Mark, sondern im Sehhügel sich befand. 

Die Symptome sind solche, wie sie bei Herden in 
den motorischen Rindenfeldern, die etwa auf die hin¬ 
teren Parietalwindungen übergreifen, vorausgesetzt 
werden können. 

Von den bei Sehhügelherden öfter erwähnten Symptomen 
waren nur die Athetose und die Sensibilitätsstörungen 
(abgesehen von den Lähmungserscheinungen) in diesem Falle 
vertreten. Freilich ist einer Reihe anderer Symptome die 
Existenzbedingung durch den Mangel der freien Beweglichkeit 
genommen. Chorea, Zwangshaltungen, Ataxie sind bei Hemiplegie 
mit Contracturen unmöglich, eine stärkere mimische Lähmung 
ist bei Facialislähmung ebenso wenig denkbar. 

Die Athetose kommt zwar sehr häufig bei Sehhügelherden 
zur Beobachtung, sie kann jedoch hier auch fehlen und anderer¬ 
seits bei Rindenläsionen angetroffen werden. 

Die Sensibilitätsstörungen sind zwar häufig bei Seh¬ 
hügelerkrankungen, man hat sich bisher darüber aber noch 
nicht geeinigt, ob sie direct darauf bezogen werden können. 

Es würde mir sehr schwer fallen, für meinen Fall 
eine andere als eine directe Entstehung durch die 
Sehhügelerkrankung anzunehmen. Eine Fernwirkung auf 
das hintere Drittel des hinteren Kapselschenkels ist auf Grund 
der anatomischen Untersuchung auszuschliessen. Da die Bahnen 
und Centren der Haube mit Ausnahme der secundär veränderten 
Theile gesund waren, bleibt zur Erklärung der Sensibilitäts¬ 
störung nur die Annahme, dass der Zerfall des grösseren 
Theiles des linken Sehhügels genügte, um die Empfindung an 
der Hand (sonst ist sie nicht geprüft) herabzusetzen. 

Die epileptischen Anfälle scheinen die Eigentümlich¬ 
keit gehabt zu haben, dass auch die gelähmten Glieder daran 
betheiligt waren. Wenn man in Betracht zieht, dass die Pyra¬ 
midenbahn der linken Seite eine grosse Anzahl leistungsfähiger 
Fasern enthielt, kann die Erklärung dafür keine Schwierig¬ 
keiten machen. Leider ist nicht bekannt, ob die Anfälle in einer 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


245 


Körperhälfte oder in einem Gliede zuerst oder in allen Theilen 
gleichzeitig auftraten. 

Bevor ich zur Besprechung der bestandenen Hemiplegie 
übergehe, welche wegen der sich ergebenden Schwierigkeiten 
etwas ausgedehnter werden musste, will ich noch erwähnen, 
dass das allgemeine Zurückbleiben im Körperwachsthum 
auch für Sehhügelerkrankungen nicht pathognomisch ist. Be¬ 
kanntlich bleibt bei einer grossen Anzahl cerebraler Kinder¬ 
lähmungen der gelähmte Theil im Wachsthum zurück. Dass 
andererseits trophische Störungen bei Sehhügelerkran¬ 
kungen oft Vorkommen, bestätigt und stützt meine An¬ 
schauung, dass man auch für dieses Symptom so wie für 
alle anderen mit der Annahme directer oder indirecter 
Folgen der Herderkrankung auskommt. Ich füge noch 
hinzu, dass in letzterer Zeit gerade über trophische und vege¬ 
tative Functionen des Sehhügels von Eisenlohr 1 ) u. A., sowie 
von Bechterew 2 ) geschrieben wurde. Ein weiteres Eingehen 
auf dieses Gebiet ist hier aber nicht am Platze. 

Die in Folge von Sehhügelerkrankungen aufgetretenen 
motorischen Lähmungserscheinungen sind in den neueren 
Arbeiten von Nothnagel, 3 ) Wernicke, 4 ) Oppenheim 5 ) als 
Fernwirkungen auf die innere Kapsel aufgefasst worden. 
Wernicke zieht sogar die Thatsache, dass bei Blutungen in den 
Sehhügel oft ohne apoplektischen Insult eine Hemiplegie als 
hervorstechendes Anfangssymptom beobachtet wurde, zur Stütze 
seiner Theorie über die Entstehungsart des apoplektischen In¬ 
sultes und der Hemiplegie durch Fern Wirkung herbei: Für den 
Insult sei die Höhe des traumatischen Momentes allein mass¬ 
gebend, während die Hemiplegie ausserdem noch in einer ge¬ 
wissen Abhängigkeit von der Localität der Blutung steht, indem 
sie um so leichter zu Stande kommt, um so ausgeprägter und 
hartnäckiger ist, je weiter abwärts von der Binde aus gerechnet 
die Blutung sitzt. Die Fälle von Thalamusblutung mit Hemi¬ 
plegie sind aber die einzige Stütze für den zweiten Theil 

4 ) D. Zeitschr. f. Nervenh. I. u. III. 

2 ) Neurol. Centralbl. 1894, S. 584 etc. 

3 ) Diagnostik der Gehirnkrankheiten. 

4 ) Gehimkrankheiten II. 

5 ) Geschwülste des Gehirns. 


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246 


Dr. Ernst Bischoff. 


dieser Theorie. Die wenigen Fälle von Streifenhügel- und 
Linsenkernblutungen oder Erweichungen ohne Betheiligung der 
inneren Kapsel, die veröffentlicht worden sind, können nicht 
mehr zur Unterstützung obiger Theorie verwendet werden. Von 
Wernicke selbst sind zwei Fälle von Blutung in die äussere 
Kapsel und ins Putamen mitgetheilt, welche nur acht-, respective 
zwölftägige Parese der Motilität und Sensibilität zur Folge 
hatten, sowie ein Fall von je einer Erweichung im Linsenkern 
und im Streifenhügel, die bis an den Rand der inneren Kapsel 
reichten und doch nur eine nach acht Tagen verschwundene 
Hemiplegie verursachten. 

Eine andere hier verwerthbare Beobachtung ist von Jour- 
niac 1 ) mitgetheilt: Ein 70jähriger Greis litt an Melancholie und 
Zwangsgedanken; somatisch fand sich nur eine (wohl physiolo¬ 
gische) Pupillen Verengerung, während die Motilität und Sen¬ 
sibilität normal war. Die Obduction ergab einen mandelgrossen 
hämorrhagischen Herd im linken Linsenkern, der beide 
äusseren Glieder desselben fast vollständig zerstört hatte. 
Bramwein) beobachtete einen Fall, der ohne Lähmungen ver¬ 
lief; es bestand ein Krebs, der den ganzen linken Linsenkern 
zerstört hatte. Endlich kann hier der allerdings weniger ver¬ 
werthbare Fall von Anton 3 ) angereiht werden, in dem beider¬ 
seitige Narben im Putamen bestanden und vom neunten Lebens¬ 
monate an bis zum Tode heftige Chorea, aber keine Lähmung 
bestand. Aus diesen Fällen geht also hervor, dass dauernde 
Hemiplegie bei Linsenkern- und Streifenhügelläsionen, die 
nicht die innere Kapsel mit zerstört hatten, bisher, soweit ich 
die Literatur übersehe, nicht beobachtet wurden; auch wenn 
die innere Kapsel dicht an den Herd grenzte, bestand keine 
Lähmung. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Seh¬ 
hügel. Die Einwirkung der acut entstehenden Sehhügelerkran¬ 
kungen — die langsam wachsenden diffusen Geschwülste müssen 
hier ausgeschlossen werden, da sie ja hier wie auch in anderen 
Hirntheilen die Function der ergriffenen Gebiete oft lange un¬ 
gestört lassen können — auf die Motilität ist eine fast regel- 


9 Annal. med. psych. 1891. 

2 ) Brain 1888. 

3 ; Ref. Neurol. Centralbl. 1898, S. 668. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


247 


mässige. Je nach der Ausdehnung und dem Sitze des Herdes 
sind die Erscheinungen verschieden. Ein grösserer Herd ver¬ 
ursacht aber immer Motilitätsstörungen. Es ist jedenfalls 
nothwendig, vorübergehende von dauernden Läh¬ 
mungen zu unterscheiden. Dass eine ausgedehnte Blutung 
in den Sehhügel durch Druck auf die innere Kapsel die moto¬ 
rischen Bahnen in ihrer Function stören kann, steht natürlicli 
ausser Frage. Die Lähmung muss dann aber gleichzeitig mit 
dem Insult eintreten. Wenn die reactiven Entzündungserschei¬ 
nungen bis ins Bereich der Pjramidenbahnen reichen, wird eine 
so durch Fern Wirkung entstandene Hemiplegie stabil werden; 
wenn das nicht der Fall ist, sollte man annehmen, dass sie 
wieder zurückgeht. Es sind aber eine Reihe von Sehhügel¬ 
blutungen mit dauernden Lähmungen bekannt, bei welchen 
die Pyramidenbahnen überall durch gesundes Gewebe von dem 
Herde getrennt waren. (Pitres, Römy, Chouppe, Raymond, 
Hughlings Jackson. 1 ) Das contrastirt auffallend mit der 
geringen Empfindlichkeit der inneren Kapsel gegenüber benach¬ 
barten Herden in anderen Hirntheilen. Weiters ist der in diesen 
Fällen offenbar innige Zusammenhang der Lähmungserschei¬ 
nungen mit anderen Störungen der Motilität auffallend. Bekannt¬ 
lich treten bei Sehhügelherden häufig Athetose, choreiforme, oft 
sehr heftige Krämpfe, zwangsartige Bewegungen oder eine auf¬ 
fallende Schwerfälligkeit derselben oder vollständige Bewegungs¬ 
losigkeit auf. Daran ist noch die einigemale bemerkte Lähmung 
der mimischen Bewegungen zu fügen. Diese sind alle von oben¬ 
genannten Forschern in directe Abhängigkeit von der Sehhügel¬ 
erkrankung gebracht worden. Im Falle von Pitres war die 
Parese von eigenthümlicher Art, indem eine eigenartige Schwer¬ 
fälligkeit der Bewegungen bestand. Im ersten Falle von Go wer s 
(citirt bei Nothnagel) ging die Hemiparese in starke Bewegungs¬ 
unstetigkeit über; im zweiten Falle von Gowers bestand neben 
dauernder Hemiplegie stärkere Lähmung der Mimik. Veissiere 
theilte einen Fall angeblich ohne Parese mit, notirt aber, dass 
ein Bein geschleift wurde. Im Arm und nach einem zweiten 
Anfalle auch im Bein bestand Chorea. Am auffallendsten ist der 
Zusammenhang bei Raymond (erster Fall). Nach vorüber- 

J ) Alle citirt bei Nothnagel und Wernicke. 


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248 


Dr. Ernst Bischoff. 


gehendem Insult trat Erbrechen auf, dann rechtsseitiger Kopf¬ 
schmerz und Sausen, dann Parese im linken Facialis und im 
linken Bein, während der linke Arm choreatische Bewegungen 
zeigte. 

Im Laufe der nächsten Wochen nahm die Lähmung zu und 
wurde zur completen Hemiplegie, während die automatischen 
Bewegungen aufhörten. Die Blutung sass in der inneren hinteren 
Abtheilung des rechten Sehhügels. 

Im zweiten Falle von Raymond bestand rechtsseitige 
Hemiplegie nach dem apoplektischen Anfalle, die unvollständig 
zurückging, dann trat Chorea der ganzen rechten Körperseite 
auf, der Arm stand in Flexionscontractur, während der Hände¬ 
druck kräftig war. Ein gewisser Zusammenhang der ver¬ 
schiedenen Motilitätsstörungen erscheint in diesen Fällen wahr¬ 
scheinlich. 

Eisenlohr 1 ) beschreibt folgenden Fall: Ein achtjähriges 
Mädchen erkrankt einige Monate nach Scharlach an Schwäche 
der linken Extremitäten, besonders in den distalen Theilen, 
Schwerbeweglichkeit der Finger, leichter Gangstörung. Es be¬ 
stand Erschlaffung in der Musculatur der ergriffenen Theile, 
Parese und leichte Incoordination der Hand- und Finger¬ 
bewegungen, Neigung des linken Fusses, nach unten und innen 
zu fallen (Parese im Peroneusgebiete). Keine Spur von Con- 
tractur. Die Daumenmusculatur war in ihrer faradischen Erreg¬ 
barkeit herabgesetzt. Nach Pneumonie kam bleibende Parese im. 
linken Facialis dazu; der Tod erfolgte an acuter tuberculöser 
Meningitis nach zwei Jahren. Es bestand eine Cyste von der 
Grösse einer Kirsche im hinteren basalen Theile des rechten 
Thalamus, an die Faserung der inneren Kapsel grenzend. 

Derselbe Autor 2 ) fand bei beiderseitiger Zerstörung des 
hinteren Drittels der Sehhügel mit Zerstörung im hinteren 
Schenkel der inneren Kapsel Parese der unteren Extremitäten, 
Kehlkopflähmung und excessive Mimik. Die beiden letzteren 
Symptome sind auf den Sehhügel zu beziehen, da ja die moto¬ 
rischen Bahnen der oberen Extremitäten frei geblieben, die noch 
weiter vorne liegenden Theile der motorischen Bahnen, welche 


*) D. Zeitschr. f. Nervenh. in. 
2 ) D. Zeitsehr. f. Nervenh. I. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


249 


die Fasern für die motorischen Hirnnerven enthalten, von der 
Erweichungsstelle aber noch weiter entfernt waren. 

Anton 1 ) beobachtete einen Patienten mit homonymer 
Hemianopsie, Sensibilitätsstörungen und Bewegungslosigkeit der 
linken Körperhälfte, die wie ein Anhängsel an der rechten 
Körperhälfte hing. Eine Erweichung hatte den ganzen Cunens, 
die hinteren zwei Drittel des Thalamus sammt Corp. gen. int. 
und ext. ergriffen. Die motorischen Bahnen blieben intact. 

So weit ich die Literatur übersehen konnte, ist kein Fall 
von ausgedehnter Sehhügelzerstörung bekannt, in dem keine 
Lähmungserscheinungen bestanden, während irgend eine Moti¬ 
litätsstörung auch bei kleinen Herden fast regelmässig vorhan¬ 
den war. 

Dagegen habe ich oben eine Reihe von Erkrankungen des 
Linsenkernes und des Streifenhügels aufgezählt, wo keine Läh¬ 
mung bestand, obwohl der Herd bis nahe an den motorischen 
Theil der inneren Kapsel reichte. Die Annahme, dass die Er¬ 
krankungen in der Tiefe der Hemisphäre deshalb häufiger Läh¬ 
mungen bewirken als die nahe der Rinde gelegenen, weil in 
ersterem Falle die in der inneren Kapsel zusammengedrängten 
motorischen Bahnen leichter durch Fernwirkung betroffen 
würden, während ein Herd in der Rinde oder nahe derselben 
nur dann die motorischen Centren oder ihre centrifugalen Bahnen 
schädigen könne, wenn er von grösserer Ausdehnung 'und nahe 
der motorischen Hirnregion localisirt sei, genügt zur Aufklärung 
dieser Differenz nicht. Mit Hilfe dieser rein mechanischen 
Auffassung lässt sich nicht erklären, warum die Moti¬ 
lität einer Körperhälfte so oft leidet, wenn im Seh¬ 
hügel ein Krankheitsherd besteht, der von der inneren 
Kapsel durch einen makroskopisch sichtbaren Saum 
primär nicht erkrankten Gewebes geschieden ist, wäh¬ 
rend eine Zerstörung im Linsenkern oder Streifenhügel, auch 
wenn sie bis hart an die innere Kapsel reicht, ohne dauernde 
Motilitätsstörung bleiben kann. 

Diese Betrachtung führt zu der Annahme, dass die Er¬ 
krankungen des Sehhügels an und für sich geeignet sein können, 
Störung in der Motilität zu verursachen. Schon Nothnagel 


*) a. a. 0. 

Jahrbücher f. Pnychiatrie und Neurologie* XV. Bd. 


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250 


Dr. Ernst Bischoff. 


liat das in Bezug auf die motorischen Reizerscheinungen für 
wahrscheinlich gehalten. Die in einigen der oben citirten Fälle 
beobachtete Bewegungslosigkeit, das Ausbleiben von selbst¬ 
ständigen Willkürbewegungen nach Sehhügelerkrankung bieten 
aber schon einen Hinweis darauf, dass es nicht unbegründet 
sein dürfte, auch für die Lähmungszustände unter Umständen 
einen directen Zusammenhang mit der Thalamuserkrankung in 
Erwägung zu ziehen. Da sich der Erklärung dieser Lähmungs¬ 
erscheinungen durch indirecte Schädigung der Pyramidenbahn 
in Folge von Fernwirkung, wie ich gezeigt habe, einige 
Schwierigkeiten entgegenstellen, halte ich es für nothwendig, 
diesen Punkt genauer zu betrachten. 

In den meisten bekannten Fällen von Sehhügelerkrankung 
handelt es sich um Erwachsene. An der Hand dieser Beobach¬ 
tungen kann man sowohl eine choreiforme Unruhe, Muskel¬ 
zuckungen u. s. w. als Reizungssymptome, als auch das Fehlen 
von selbstständigen Bewegungen als „Lähmungssymptome”, welche 
beide häufig dauernd bestanden, von der Sehhügelerkrankung 
direct abhängig ansehen. Dagegen sind dauernde Hemiplegien 
wohl nur vorhanden, wenn die Pyramidenbahn in der inneren 
Kapsel auch direct in Mitleidenschaft gezogen ist. Es ist natür¬ 
lich, dass gerade die Fälle ausgedehnter Sehhügelerkrankung, 
wo der Einfluss des Thalamus auf die Motilität sich am besten 
prüfen Hesse, wegen der zumeist gleichzeitigen Erkrankung der 
inneren Kapsel für diese Frage unbrauchbar werden. Ich muss 
mich daher damit begnügen, darauf hinzuweisen, dass bei Er¬ 
wachsenen die Erkrankung des Thalamus als Herdsymptom im 
Stande sein dürfte, sowohl motorische Reizerscheinungen, als auch 
eine Art Lähmung hervorzurufen, die der weiter unten noch 
erwähnten, von Bruns beschriebenen Seelenlähmung sehr ähn¬ 
lich ist. 

Mein Fall unterscheidet sich von den oben genannten 
dadurch, dass die Blutung in früher Jugend aufgetreten war 
und dass, obwohl die Erkrankung auf den Sehhügel streng 
begrenzt blieb, eine dauernde Hemiplegie mit Contracturen 
bestand. Auf Grund des oben geschilderten anatomischen Be¬ 
fundes bin ich zur Ansicht gekommen, dass eine dauernde 
Schädigung der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel durch 
Fernwirkung wahrscheinlich nicht bestand. Da mir die Hemi- 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


251 


Sphäre nicht zur Untersuchung vorlag, bin ich nicht im Stande, 
die Pyramidenbahn anatomisch bis zur Rinde zu verfolgen. Eine 
Untersuchung nach dieser Seite hätte wohl sicheren Aufschluss 
darüber geben können, ob eine anatomische Grundlage für die 
Hemiplegie innerhalb der Pyramidenbahn selbst vorlag, oder ob 
diese in secundärer Weise atrophirt war. Man könnte nämlich 
wohl daran denken, dass die Degeneration fast der ganzen 
Radiärfasern des Thalamus auf die Ganglienzellen bestimmter 
Rindenbezirke schädigend eingewirkt hätte; in meinem Falle 
hätte sich also eine Atrophie in der motorischen Rindenregion 
und im ganzen centralen motorischen Neuron finden müssen. 
Diese Untersuchung hat nicht stattfinden können. Ich glaube 
aber trotzdem nicht versäumen zu sollen, eine naheliegende Er¬ 
klärungsweise für das Zustandekommen der Hemiplegie hier 
kurz vorzubringen, durch welche man in den Stand gesetzt 
wird, die Schwierigkeiten zu beheben, welche sich bei dem 
Versuche ergeben haben, die Lähmung durch Fernwirkung zu 
erklären. 

Meynert 1 ) hat auf Grund klinischer Beobachtungen, welche 
ähnliche Verhältnisse boten, wie einige der von mir citirten 
Fälle, nämlich Bewegungslosigkeit, Zwangsstellungen, Parese 
einer Körperhälfte, dem Sehhügel die Aufgabe zugewiesen, der 
Rinde die Bewegungsgefühle zu überliefern; wenn diese Leitung 
unterbrochen ist, kann die nöthige Controle der ausgeführten 
Bewegungen nicht stattfinden, sie werden unsicher und da die 
äusseren Reize, welche auf die betreffenden Extremitäten aus¬ 
geübt werden, nicht oder in veränderter Weise an die Rinde 
herantreten, auch seltener. Bekanntlich werden die ersten Willkür¬ 
bewegungen alle in reflectorischer Weise angeregt, indem ein 
Sinnesreiz ohne Dazwischentreten der Associationsbildung 
ziemlich direct zu einer zweckmässigen Bewegung führt. Erst 
später gewinnt die Associationsbildung einen grösseren Spielraum, 
so dass endlich im Erwachsenen bei weitem die grössere Zahl 
aller Bewegungen nicht direct durch sensorielle Reize, sondern 
durch eine Reihe von Associationen ausgelöst wird. 

Beim kleinen Kinde wird unter dieser Voraussetzung bei 
Unterbrechung der sensorischen Bahnen auch die ausschliess- 


Wiener psych. Centralblatt 1873, 2. 

17* 


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252 


Dr. Ernst Bischoff. 


Jiche Ursache der Willkürbewegungen, nämlich das Einwirken 
von Sinnesreizen auf die Hirnrinde wegfallen. Ist die Annahme 
richtig, dass ein grosser Theil der Sinnesreize den Sehhügel 
passiren muss, um zur ßinde zu kommen, so kann man auch 
voraussetzen, dass bei Zerstörung des Sehhügels ein grosser 
Theil der Sinnesreize nicht auf die Rinde wirken kann, und dass 
deshalb die Auslösung einer Bewegung seltener oder gar nicht 
erfolgt. Ist die Unterbrechung eine dauernde, werden die 
Körperempfindungen der einen Seite der Gehirnrinde gar nicht 
zugeführt, so kann sich auch die Bewegungslosigkeit stabilisiren, 
da der zur Erlernung der complicirten Bewegungen nothwendige 
Kreis geöffnet ist, die versuchten Bewegungen nicht gefühlt 
werden. Das Kind könnte dann den Gebrauch der affi- 
cirten Körpertheile nicht erlernen. 

Der Erwachsene kann den Mangel der Bewegungsgefühle 
und anderer Sinnesreize leicht durch die Verstandesthätigkeit 
ausgleichen. Er wird sich der Bewegungslosigkeit bewusst und 
wird sich anstrengen, sich wie früher zu bewegen, die geübten 
Bewegungen werden durch die noch functionirenden Sinnes¬ 
organe geprüft, so dass ein dauernder Bewegungsmangel nicht 
entstehen kann. Nur wenn sowohl ein grosser Theil der Sinn es - 
bahnen und der Associationsbahnen durch eine ausgebreitete Er¬ 
krankung der Hemisphäre von den motorischen Centren getrennt 
sind, wird es auch dem Erwachsenen nicht gelingen, den will¬ 
kürlichen Gebrauch seiner Glieder wieder zu erlangen. In diesem 
Falle kann es also, wenn meine Voraussetzung richtig ist, 
auch beim Erwachsenen zu ausgeprägten Lähmungserscheinungen 
kommen, ohne dass die Pyramidenbahn primär erkrankt ist. Für 
diesen Fall lässt sich eine Beobachtung von Bruns verwerthen, 
welcher bei einer Erweichung, die die motorische Rinde von 
der Sinnesbahn trennte, die motorischen Centren und Bahnen 
aber intact liess, eine Art Lähmung, die er als Seelenlähmung 
bezeichnet, beobachtete. Ich citire diesen Fall weiter unten aus¬ 
führlicher. Bei theilweiser Zerstörung der Sinnesbahnen im 
Gehirn kann man nur einen theilweisen Ausfall motorischer 
Impulse erwarten, indem nur jene fehlen werden, welche im ge¬ 
sunden Individuum durch periphere Reize angeregt werden, die 
in dem speciellen Falle nicht zur motorischen Rinde geleitet 
werden können. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


253 


Für den Fall, dass im kleinen Kinde die Einwirkung der 
für die Erlernung der Willkürbewegungen nothwendigsten sen¬ 
siblen Reize fortfallt, habe ich angenommen, dass Willkür¬ 
bewegungen dann überhaupt nicht mehr zu Stande kommen 
können. Ob dadurch schon das spätere Eintreten einer Con- 
tractur in den afflcirten Gliedern erklärt werden kann, lässt 
sich nicht entscheiden, da die Ursachen der Contractur noch zu 
wenig erkannt sind. Doch scheinen sich die Contracturen bei 
so frühzeitiger Erkrankung sehr leicht zu entwickeln, wie eine 
Beobachtung v. Monakow's 1 ) erhärtet, wo auch geringe ana¬ 
tomische Schädigung der Pyramidenbahn mit hochgradiger Con¬ 
tractur verbunden war. 

Ausser meiner Beobachtung von Hemiplegie nach Sehhügel¬ 
herd kann ich nur einen Fall infantiler Sehhügelerkrankung mit¬ 
theilen. Er ist von Drouin veröffentlicht und bei Nothnagel 
citirt. Auch hier bestand infantile Hemiplegie mit 
Zurückbleiben der gelähmten Glieder im Wachsthum. Die Kranke 
starb in hohem Alter und es fand sich eine Blutung im Seh¬ 
hügel, die über seine Grenzen nicht hinausging. 

Dieser Fall steht demnach mit meiner Annahme nicht in 
Widerspruch, ist aber auch nicht geeignet, derselben eine sichere 
Grundlage zu geben, weil er nicht genau anatomisch untersucht 
ist. Eine andere hierhergehörige Beobachtung konnte ich nicht 
ausfindig machen. 

Wenn ich also für meinen speeiellen Fall, für die Erfor¬ 
schung der vermutheten Functionsstörung der motorischen Rinde 
in Folge von Thalamuserkrankung kein genügendes Material 
zur Verfügung habe, kann ich doch zur Klärung der Frage im 
Allgemeinen, ob motorische und sensible Centren und 
Bahnen sich gegenseitig beeinflussen, aus der Literatur 
einige Thatsachen zusammenstellen, wodurch meine Annahme 
an Wahrscheinlichkeit einigermassen gewinnen dürfte. 

Vorerst muss ich hier erwähnen, dass der Zusammenhang 
der motorischen Rindenbezirke mit dem Sehhügel dadurch be¬ 
wiesen ist, dass bei Zerstörung der ersteren im Sehhügel aus¬ 
geprägte secundäre Veränderungen auftreten, die am genauesten 
von v. Monakow beschrieben wurden. Aus diesem anatomischen 


') Archiv f. Psychiatrie, ßd. XXVTI. Beobachtung II. 


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254 


Dr. Ernst Bischof!'. 


Zusammenhänge lässt sich gewiss auf eine wichtige functionelle 
Verknüpfung beider Hirntheile ein Schluss ziehen. Doch konnte 
in den Fällen von Rindenzerstörung eine Störung der Function 
des Sehhügels klinisch nicht zum Ausdrucke kommen, weil ja 
die Hauptmasse der Sehhügelfasern in centripetaler Richtung 
leiten; an der Peripherie, welche allein der klinischen Unter¬ 
suchung zugänglich ist, konnte daher kein Ausfallssymptom be¬ 
stehen, welches nicht schon durch den primären Krankheitsherd 
in der Rinde entstanden war. 

Ich muss daher andere Theile des Nervensystems in 
Betracht ziehen, an welchen ein etwa bestehender Zusammen¬ 
hang in der von mir vermutheten Weise leichter naehgewiesen 
werden kann. 

Eine Beeinflussung der centrifugalen, motorischen 
Bahnen von Seite subcorticaler Centren wurde bis in die 
letzte Zeit beim Menschen nicht beschrieben. Ich glaube, bevor 
ich auf die klinischen Erfahrungen zu sprechen komme, mit 
Recht als Analogie meiner oben vertretenen Hypothese ein 
physiologisches Experiment heranziehen zu können. Wie Exner 1 ) 
nachgewiesen hat, tritt nach Durchschneidung des Nervus 
laryngeus superior beim Pferde, wo er ein rein sensibler 
Nerv ist, Lähmung undAtrophie der Kehlkopfmuskulatur 
auf der Seite der Durchschneidung ein. Exner erklärt diese 
Thatsache dadurch, dass er für gewisse intendirte Bewegungs¬ 
impulse die Nothwendigkeit einer fortgesetzten Regulirung 
durch subcorticale sensible Reize annimmt. Fallen diese 
weg, so werden die Bewegungen ungeschickt oder fallen ganz 
aus. Ausserdem fehle in diesem Falle auch die Beeinflussung 
der subcorticalen Centren durch die den Sinneseindrücken zu¬ 
gewendete Aufmerksamkeit. Der bewusste Bewegungsimpuls 
vermag diese beiden Schäden nicht zu ersetzen. Exner nennt 
diese Form der sensiblen Regulirung Intentionsregulirung 
und alle Bewegungen, für welche jene eigenthümliche Form der 
Sensomobilität gilt, instinctive Bewegungen. Diese In¬ 
tentionsregulirung ist in obigem Falle als subcorticale, bei compli- 
cirteren Bewegungen (Gehen auf einer schmalen Leiste z. B.) 
aber als cortical aufzufassen. 


>) Pflüger s Archiv XLVIII. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung 


255 


Das ist also eiu Fall, in dem Zerstörung der sensiblen 
Leitung Muskellähmung und Atrophie in demselben Gebiet 
bewirkt. Zwischen den Verhältnissen, wie sie beim Thiere be¬ 
stehen und denen beim kleinen Kinde kann eine gewisse Aehn- 
lichkeit angenommen werden, insoferne als bei beiden eine klare 
Vorstellung über die Ausfallserscheinungen nicht gebildet wird 
und daher eine bewusste Correction nicht stattfindet. In einer 
gewissen Analogie mit dieser experimentellen Erfahrung steht 
die oben erwähnte erste Beobachtung von Eisenlohr (Muskel¬ 
atrophie nach Thalamusherd). 

Ein ganz analoges Resultat haben Untersuchungen über 
die Willkürbewegungen der Extremitäten ergeben, welche von 
Mott und Sherrington 1 ) an Affen ausgeführt wurden. Die 
Durchschneidung sämmtlicher hinterer Wurzeln für eine Extre¬ 
mität bewirkte dauerndes und vollständiges Fehlen der Willkür¬ 
bewegungen in dieser Extremität. Die Störungen der Motilität 
waren hier sehr ähnlich den nach Exstirpation des Extremi¬ 
tätencentrums der Rinde auftretenden Lähmungserscheinungen 
nur hochgradiger. Die Autoren sind zu dem Schlüsse gekommen, 
dass durch den vollständigen Verlust der Sensibilität die 
Willenskraft zur Ausführung gewollter Bewegungen in dem be¬ 
troffenen Gebiet verloren gehe. Endlich gehören die Experimente 
v. Bechterew’s 2 ) hierher, der an Meerschweinchen, Ratten 
und Kaninchen durch Zerstörung der hinteren Zweihügel neben 
der Taubheit auch Stimmlosigkeit entstehen sah. 

Erst nach Skizzirung dieser Arbeit wurden mir einige 
klinische Beobachtungen bekannt, welche hier auch Erwäh¬ 
nung finden mögen. Sie beziehen sich auf Störungen im 
Facialis nach der Krause’schen Trigeminusoperation und nach 
Lähmungen des Trigeminus. Krause®) hat nach seiner Opera¬ 
tion Parese im gleichseitigen Facialis und Ataxie der mimischen 
Bewegungen daselbst beobachtet. Hirschl 4 ) hat in einem Falle 
rheumatischer Trigeminuslähmung, der in fast vollständige Hei¬ 
lung ausging, Störungen in der Mimik derselben Gesichtshälfte 


9 Communications made to the Koyal Society, 1895 March 7. 

2 ) Neurolog. Centralbl. 1895, S. 706. 

3 ) Münchener med. Wochenschrift 1895. 

4 ) Wiener klinische Wochenschrift 1896, S. 849. 


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256 


Dr. Ernst Bisehoff. 


beobachtet. Diese Gesichtshälfte hatte ein maskenartiges Aus- 
sehen und blieb bei mimischen Bewegungen zurück. Willkür¬ 
bewegungen waren etwas verlangsamt. In dieser Arbeit sind 
einige ähnliche Beobachtungen von Eomberg, Hasse, Erb 
und James Eoy erwähnt, welche von Filehne 1 ) citirt sind. 
Letzterer hat beim Kaninchen nach intracranieller Trigeminus- 
durchschneidung ausser dem Ausfälle der reflectorischen Ohr- 
bewegungen auch das Fehlen derselben sowohl bei Aenderungen 
der Temperatur, welche von dem Ohre der gesunden Seite 
regelmässig durch eine bestimmte Bewegung beantwortet wer¬ 
den, als bei dem gewöhnlichen mimischen Spiel beobachtet. 
Diese Erfahrung wurde von Exner nachgeprüft und bestätigt. 
Ueber eventuelle anatomische Veränderungen im Facialis oder 
der Gesichtsmuskulatur ist in diesen Fällen nichts notirt, wäh¬ 
rend nach Durchschneidung des sensiblen Kehlkopfnerven beim 
Pferde die Larynxmuskulatur degenerirt gefunden wurde. Es 
muss endlich noch hervorgehoben werden, dass Exner diese Er¬ 
scheinungen mit der bekannten Thatsache in Parallele setzt, 
dass bei ausgedehnter Anästhesie nach Augenschluss Unbeweg¬ 
lichkeit eintritt. 

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass bei vorüber¬ 
gehenden Trigeminuslähmungen für die Zeit des Bestandes 
derselben die Facialisinnervation mehr minder gestört ist, und 
nach Eesection des Trigeminus Lähmungserscheinungen 
im Facialis bestehen. 

Auch in diesen Fällen kommt es also zu Lähmungs¬ 
erscheinungen, ohne dass das motorische System primär erkrankt 
ist, nachdem die Verbindung der sensiblen Endorgane der be¬ 
treffenden Körpergegend zum Centralorgan aufgehoben ist. 

Für die principielle Frage, ob das Verhalten der Motilität 
nur von der Intactheit oder Läsion der motorischen Centren 
und Bahnen oder auch von der Verbindung der motorischen 
Centren mit anderen Hirntheilen abhängt, ist auch die folgende 
Beobachtung von Wichtigkeit: Nach Erweichung der hinteren 
Theile der ersten und zweiten Schläfenwindung und des Gyrus 
angularis, sowie des hintersten Theiles der inneren Kapsel und 
des Markes des Gyrus supramarginalis beobachtete Bruns 2 ) 

*) Arch. f. Anat. u. Physiologie, Phys. Abth. 1886, S. 432. 

2 ) Festschrift der Provinzialirrenanstal Nietleben 1895 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügclblutnng. 


257 


abgesehen von aphasischen Erscheinungen rechtsseitige Anal¬ 
gesie und Bewegungslosigkeit der rechten Hand. Der Kranke 
gebrauchte die Hand zu Willkürbewegungen gar nicht, wenn er 
nicht durch Kunstgriffe dazu veranlasst wurde. Dagegen waren 
die Reflexbewegungen nicht gestört. Auf Grund dieses Befundes 
schliesst Bruns, dass die Zerstörung der sensorischen 
Centren und subcorticalen Bahnen derselben, sowie 
die Unzulänglichkeit der von diesen zu den motorischen 
Centren verlaufenden Associationsfasern die Ursache 
dieser als Seelenlähmung bezeichneten Störung sei. 

Aus diesen experimentellen und klinischen Beobachtungen 
lässt sich der Satz ableiten, dass Störungen der Willkür¬ 
bewegungen nicht nur bei Erkrankung der motorischen 
Bahnen, sondern auch dann eintreten können, wenn 
diese intact sind. Alle diese Beobachtungen weisen 
darauf hin, dass die Unterbrechung sensibler Bahnen 
oder die Unterbrechung zwischen Sinnescentren und 
motorischen Centren an diesen Motilitätsstörungen 
schuld seien. 

Wenn es gestattet ist, diese Erfahrungen auf die bei Seh¬ 
hügelerkrankungen bestehenden Verhältnisse zu übertragen, so 
resultirt daraus etwa folgende Hypothese: Es ist wahrscheinlich, 
dass ein grosser Theil der bei Sehhügelerkrankungen beobach¬ 
teten Störungen der Motilität nicht durch Fernwirkung auf die 
innere Kapsel, sondern durch die Erkrankung gewisser Seh¬ 
hügelabschnitte selbst hervorgerufen ist. Da es feststeht, dass 
der Sehhügel mit dem motorischen Rindenfeld in ausgiebiger 
Weise verbunden ist, hat die Annahme am meisten für sich, 
dass die gestörte oder unterbrochene Einwirkung der dem Seh¬ 
hügel entspringenden Impulse auf die Hirnrinde die Ursache 
dieser Motilitätsstörung ist. Eine in früher Jugend erworbene 
Sehhügelerkrankung ist vielleicht im Stande, auf die Function 
der motorischen Rinde in höherem Grade störend einzuwirken, 
da hier die motorischen Impulse fast ausschliesslich durch sen¬ 
sible Reize, welche zum grössten Theile wohl den Thalamus 
passiren müssen, ausgelöst werden; bei Zerstörung des Thalamus 
fehlt diese Anregung zu Bewegungen, während die selbststän¬ 
digen, nur auf dem Wege der Associationsbahnen ausgelösten 
Bewegungen im kleinen Kinde nur in geringem Masse vor- 


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258 


Dr. Ernst Bischoff. 


kommen. Hier können demnach die Lähmungserscheinungen 
hochgradiger werden als im Erwachsenen, der immer wieder 
willkürlich versuchen wird, die Bewegungsstörung zu corrigiren. 

Ich würde viel zu weit gehen, wenn ich auf Grund meiner 
Beobachtung und des gesammelten Materiales die obige Annahme 
für irgendwie fest begründet erklären wollte. Dazu fehlt vor 
allem eine genaue Untersuchung der Hemisphäre. Wenn auch 
die makroskopische Betrachtung den Mangel jeder Veränderung 
ergeben hat, wodurch es ausgeschlossen erscheint, dass irgend 
eine complicirende Erkrankung in der Hirnrinde oder im Mark¬ 
lager als Ursache der Hemiplegie bestanden hätte, so fehlt mir 
doch der positive Nachweis der von mir vermutheten Degene¬ 
ration der Radiärfasern des Thalamus bis zur Hirnrinde und 
der atrophischen Veränderung der motorischen Ganglien¬ 
zellen. 

Ich möchte nur auf die Möglichkeit eines derartigen Sach¬ 
verhaltes hinweisen. 

Die Kenntnisse über den Zusammenhang des Sehhügels 
mit der Hirnrinde sind durch v. Monakow sehr erweitert 
worden. Er hat nachgewiesen, dass einzelne Thalamustheile mit 
ganz bestimmten Rindenbezirken Zusammenhängen. Es wird 
daher hier noch zu prüfen sein, ob die Localisation des 
Herdes in meinem Falle eine derartige war, dass eine 
secundäre Schädigung der motorischen Rindencentren 
erwartet werden kann. Bei Zerstörung der motorischen 
Rindenfelder hat v. Monakow hauptsächlich schwere Verände¬ 
rungen secundärer Art im lateralen Sehhügelkerne gefunden; 
aber auch im ventralen Kern waren deutliche Veränderungen 
vorhanden, während der vordere, der mediale, der hintere Kern 
und das Pulvinar durch Zerstörung der motorischen Rinde nicht 
beeinflusst waren. Daraus geht hervor, dass mit der moto¬ 
rischen Rinde der laterale und der ventrale Thalamuskern 
in Verbindung stehen. Nach der Annahme v. Monakow’s ist 
diese Bahn eine centripetale, d. h. ihre Ursprungszellen liegen 
im Sehhügel, ihre Endausbreitung in der motorischen Hirnrinde. 
Ich habe mir vorgestellt, dass nach Zerstörung eines Thalamus¬ 
kernes die Function des damit verbundenen Rindenbezirkes 
durch das Ausbleiben der normalerweise vom Thalamus kommen¬ 
den nervösen Ströme gestört werden könne. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhiigelblutung. 


259 


Man muss also in erster Linie Störungen der Motilität 
nach Herden im lateralen und ventralen Kern antreffen, wenn 
sich meine Annahme mit den anatomischen Verhältnissen decken 
soll. Aus den ungenauen Angaben über die älteren Beobach¬ 
tungen, wonach bei den mehr vorne gelegenen Herden Läh¬ 
mungen ausgesprochener sind, geht hervor, dass der laterale 
Kern, der vorne ein grosses Gebiet einnimmt, in den Fällen mit 
Lähmungen in hervorragender Weise betheiligt war. Die 
neueren Fälle von Eisenlohr und Anton weisen darauf hin, 
dass auch bei Zerstörung der hinteren Abtheilung des Seh¬ 
hügels Störungen der Beweglichkeit Vorkommen, welche mehr 
Verwandtschaft mit Lähmungs- als mit Reizungssymptomen 
haben (Unbeweglichkeit). Da der laterale und ventrale Kern 
auch in die hintere Abtheilung reichen, widersprechen diese 
Beobachtungen meiner Annahme auch dann nicht, wenn man 
von der Wirkung dieser Herde auf die nächste Umgebung, 
d. i. die vorderen Theile, absieht. Die beiden Fälle von Kinder¬ 
lähmung, derDrouin’s und meiner, erfüllen vollkommen 
die verlangten Bedingungen. In ersterem Falle war der 
ganze Sehhügel ergriffen; in meinem Falle war gerade der 
laterale Kern am meisten reducirt, fast ganz verschwunden. 

Es ist schliesslich hervorzuheben, dass alle herbeigezogenen 
Momente nicht genügen, der oben formulirten Hypothese eine 
sichere Grundlage zu geben. Es könnten andere, unerforschte 
Ursachen für die Lähmungen bestehen und die Uebereinstimmung 
der Lage des Herdes mit den bekannten Faserverbindungen 
zwischen Rinde und Sehhügel könnte eine zufällige sein. 

Auch in Bezug auf die übrigen Kerngebiete des Seh¬ 
hügels kann man ohne Zwang eine Parallele zu den von 
v. Monakow beschriebenen Faserverbindungen des Sehhügels 
mit der Rinde ziehen. 

Der mediale Kern, welcher mit dem Frontalhirn ver¬ 
knüpft ist, war am besten erhalten. Die Intelligenz, auf 
deren Entwickelung die Ausbildung des Frontalhirns von 
grossem Einflüsse ist, war bei unserer Kranken über¬ 
raschend gut entwickelt. Wenn man die zahllosen epilep¬ 
tischen Anfälle, welche von frühester Kindheit an bestanden, 
und die Hilflosigkeit der Kranken in Betracht zieht, erscheint 
die von derselben erworbene Fähigkeit, zu lesen, mit der linken 


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260 


Dr. Ernst Biselioff. 


Hand za schreiben und Handarbeiten auszuführen, als Zeugniss 
ziemlich bedeutender vorhandener Intelligenzkräfte. Das Frontal¬ 
hirn hat also unter den Folgen des Thalamusherdes wahrschein¬ 
lich nicht gelitten. Die Möglichkeit einer vicariirenden 
Thätigkeit der rechten Hemisphäre muss allerdings zugestanden 
werden, wenn auch das Ausbleiben derselben bezüglich der 
Motilität dies unwahrscheinlich macht. 

Der Geruchsinn wurde nicht geprüft, die Degeneration 
des Corpus mamillare und der Schwund der Fornixsäule kann 
somit in dieser Beziehung nicht ausgenützt werden. 

Dass das Gehör und das Gesicht normal waren, steht 
in Einklang mit der Intactheit der beiden Kniehöcker und der 
Vierhügel. Die ziemlich ausgiebige Zerstörung des Pulvinar 
hat in den constatirten Symptomen keinen Ausdruck gefunden. 

Die Zerstörung bestimmter Sehhügelabschnitte 
hat also Ausfallserscheinungen von Seite derjenigen 
Rindenzone zur Folge gehabt, von der eine starke 
Faserverbindung gerade mit jenen Sehhügelabschnitten 
nachgewiesen ist, während von Seite der Rindenzonen, 
welche mit erhaltenen Sehhügeltheilen verbunden sind, 
keine Symptome bestanden. 

Es ist schliesslich nothwendig, die Schwierigkeiten hervor¬ 
zuheben, welche sich der Prüfung meines Erklärungsversuches 
entgegenstellen. Die Unklarkeit, welche noch über die ana¬ 
tomischen und functionellen Verhältnisse des Sehhügels herrscht, 
ist die Ursache dieser Schwierigkeiten. Ich glaube durch den 
Versuch, die anatomischen und functionellen Beziehungen des 
Sehhügels zur Hirnrinde zur Erklärung eines Symptomenbildes 
heranzuziehen, die Anregung zu einer bisher vernachlässigten 
Forschungsart gegeben zu haben, welche bei ausgedehnterer 
Verwendung wohl positive Ergebnisse zur Folge haben dürfte* 

Die Hauptergebnisse dieser Arbeit sind: 

1. Eine infantile Erkrankung im Sehhügel kann unter den 
Symptomen einer cerebralen Kinderlähmung verlaufen. 

2. Zur Entstehung dauernder Lähmungserscheinungen nach 
einer solchen Erkrankung ist vielleicht keine locale Schädigung 
der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel nothwendig. 


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Cerebrale Kinderlähmung nach Sehhügelblutung. 


261 


3. Die mit den einzelnen Sehhögelkernen durch Projections- 
fasern eng verknüpften Zonen der Hirnrinde scheinen auch in 
engem functioneilen Zusammenhang mit denselben zu stehen. 

4. Daraus lässt sich folgern, dass eine Zerstörung des 
lateralen und ventralen Sehhügelkernes die Function der zuge¬ 
hörigen Rinde des Parietallappens und der Centralwindungen 
stören kann, wodurch eine Reihe von motorischen Reizungs¬ 
und Lähmungssymptomen bei Sehhügelerkrankung erklärt werden 
kann. 

5. Nach Zerstörung des vorderen und des lateralen Seh- 
hügelkernes degenerirt beim Menschen secundär: 

a) Das Yicq d’Azyr’sche Bündel mit den Ganglienzellen 
des Corpus mamillare. 

b) Ein grosser Theil der Sagittalfasern des rothen Kernes 
und ein Theil der Bindearmfasern, während die Ganglienzellen 
des rothen Kernes intact bleiben. 

c) ZumTheile auch die Hauptschleife mit den Hinterstrangs¬ 
kernen der anderen Seite. 

d) Die Radiärfaserung der Gitterschicht. 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 

Von 

Dr. P. Ranschburg 

em. st. Assistent an der psychiatrischen Klinik Prof. Laufenauer s zu Budapest. 

I. Bewusstsein und Ich-Bewusstsein. 

Acceptiren wir das Princip der Causalität, so müssen alle 
Vorgänge der materiellen und geistigen Welt, ob wir die 
letztere auch an materielle Vorgänge gebunden betrachten oder 
nicht, ihre Erklärung haben, es muss eine Lösung für alle dies¬ 
bezüglichen Fragen existiren, da doch die Fragen nichts an¬ 
deres als die stilistische Umschreibung der Suche nach den 
nothwendigerweise existirenden Ursachen der vorhandenen Vor¬ 
gänge sind. 

So fest nun dieses steht, so wenig steht es irgendwo ge¬ 
schrieben, dass es uns bestimmt sei, diese Erklärung des Vor¬ 
handenen auch finden zu können. 

Ebenso wenig kann es aber demgemäss einen Vorgang in 
der Natur geben, dessen Erklärung eo ipso Sache der Unmög¬ 
lichkeit wäre. 

Es gibt also kein Gebiet der Natur und keinen Vorgang 
in derselben, welche sich nicht als Gegenstand der Forschung 
darbieten würden, keine wissenschaftliche Frage, welche die 
Unmöglichkeit ihrer Erklärung, die Nutzlosigkeit der Forschung 
in sich tragen würde, es gibt kein „Noli me tangere” vor der 
wissenschaftlichen Forschung. 

Als eine Frage von höchstem Interesse und wichtigster 
Bedeutung steht in der endlosen Reihe der offenen Fragen der 
forschenden Psychologie das Problem des Bewusstseins. 

„Wir müssen und werden die Lösung finden!” betheuem 
die Einen. 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 263 

„Ihr werdet sie nie finden. Sie liegt ausser Eurem Bereiche!” 
rufen die Anderen. 

„Suchen wir dieselbe!” soll unsere Devise sein, und dieser 
Abschnitt unserer Arbeit sei ein Versuch, so manches Werth¬ 
volle, was schon von Anderen gefunden wurde, zu sichten und 
zu ordnen, vor allem aber die Beziehungen zwischen dem Be¬ 
wusstsein der Persönlichkeit und dem Bewusstsein an und für 
sich, falls ein solches existirt, möglichst ins Reine zu bringen. 

Es besteht nämlich eine herzliche Unordnung in dieser 
Frage. Beobachtungen und Versuche liegen uns massenhaft vor, 
doch besteht keinerlei Einheitlichkeit in der Aufarbeitung und 
Verwerthung derselben, und so bleibt das ganze, werthvolle 
Material eigentlich ohne Nutzen. Es geschehen zwar Versuche 
zur Sammlung und Sichtung desselben, doch sind dieselben 
tlieils einseitig psychologisch bearbeitet theils, wagen sie sich 
zu weit, indem sie die noch nicht stabilen psychologischen 
Erfahrungen auf noch weniger sichere anatomisch-histologische 
Grundlage stützen wollen. * 

Der Psychologe Ribot, einer der emsigsten Forscher in 
dieser Richtung, gibt in seinen pathologisch-psychologischen 
Studien über die Persönlichkeit 1 ) eine ausführliche Schilderung 
des Ich-Bewusstseins, und obzwar er sich in dieser Hinsicht nicht 
genügend deutlich ausspricht, beschreibt er doch das Bewusstsein 
als einen Vorgang, welcher nur der Persönlichkeit eigen ist, 
während die übrigen Nervenprocesse ohne den begleitenden 
Vorgang des Bewusstseins verlaufen. In seiner Einleitung 
skizzirt er das Verhäitniss des Bewussten zum Unbewussten 
und schreibt nur dem ersteren die Eigenschaft zu, die psycho¬ 
logischen Vorgänge im Gehirn einregistriren zu können, während 
er der unbewussten Hirnarbeit diese Einregistrirung, die Grund¬ 
lage des Gedächtnisses nicht zuspricht. Es. wären also nach 
dieser Auffassung nur die persönlich bewussten Vorgänge in 
das Gehirn eingeprägt, während die persönlich nicht bewussten 
eigentlich ohne nachweisbare oder wieder hervorrufbare Spuren 
verlaufen müssten. 

Dessoir ist einer anderen Auffassung. „Bewusstsein” — 
schreibt er in seiner Studie über das „Doppel-Ich” — „muss im 

*) Die Persönlichkeit. Th. Ribot, übers, von Pabst. Berlin 1891, S. 13 
und 16. 


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264 


Dr. P. Ransehburg. 


weitesten, absoluten Sinn als Kennzeichen aller seelischen 
Vorgänge verstanden werden; das meist ausschliesslich so 
genannte Bewusstsein unterscheidet sich wesentlich durch vor¬ 
herrschende Synthesenbildung von den übrigen Seelenprocessen. 
Diesen übrigen Seelenprocessen darf nicht eine bloss physio¬ 
logische Bedeutung beigelegt werden, weil ein solches Verfahren 
der Gesammtauffassung des Parallelismus widerspricht, das 
Gesetz der psychischen Causalität und Continuität verletzt, 
eine Beihe sicherer Thatsachen nicht erklärt. Dessoir') 
kennt weiters vier Eigenschaften, welche wir den psychischen 
Elementen als ursprüngliche zuzuerkennen haben, weil ihre 
Ableitung auseinander oder aus einer allgemeineren Eigenschaft 
bis jetzt nicht gelungen ist: Bewusstsein, Irritabilität (Empfin¬ 
dung, Bewegung), Gedächtniss und Vermögen einheitlichen Zu¬ 
sammenschlusses (synthetisches Vermögen, Kant), welch letzteres 
die Grundlage der Persönlichkeit ist. 2 ) Er nimmt nun an, dass 
es in jedem normalen Individuum eine herrschende Synthese der 
psychologischen* Elemente gebe (Oberbewusstsein), ausserdem 
aber fortwährend Elemente einträten, welche nicht in diese 
Synthese zu treten im Stande sind. Das normale Verhältniss der 
herrschenden Synthese (Oberbewusstsein) zu den anderen (ver- 
muthlich ungekannterweise synthetisch zusammenhängenden) 
Elementen (Unterbewusstsein) 3 ) besteht im Parallelismus oder 
in Zusammenarbeit. Die Eigenschaft der Elemente, die dieselben 
zur Synthese des Ichs befähigt, beruht aber nach Dessoir auch 
auf anderen Vorgängen, und zwar hat „eine Anzahl bewusster 
innerer Vorgänge gewissermassen eine besondere Färbung, die 
auf accessorische Begleitvorgänge zurückgeführt werden muss. 
Wodurch ein sogenannter selbstbewusster Act sich von dem 
bloss bewussten unterscheidet, ist neben einer Intensitätserhöhung 
vornehmlich das Hinzutreten interpretativer Empfindungen 
zu der Hauptempfindung: Sie stellen eine unsichtbare, aber 
feste Kette zwischen den Hauptvorgängen her und verleihen 
ihnen dadurch das Merkmal der Zusammengehörigkeit unter sich 
und zu einem Ich-Mittelpunkt. So bleibt die persönliche Syn¬ 
these stets in Abhängigkeit von der Summe der nicht zum 

4 ) Dessoir, Das Doppel-Ich. Leipzig 1896, S. 54. 

2 ) Op. eit., S. 76. 

3 ) Op. eit., S. 55. 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


265 


Selbstbewusstsein zusammengefassten Bewusstseinsinhalte”.') 
Was Dessoir unter diesen interpretativen Empfindungen versteht, 
gibt er uns nicht zu erkennen. Und doch wäre dies um so 
nöthiger gewesen, als Dessoir sich bemössigt sieht, den Begriff 
der Persönlichkeit vom Begriffe des Selbstbewusstseins scharf 
loszulösen. „Selbstbewusstsein kann nur besagen wollen, dass 
gewisse, durch eine besondere Tonfärbung charakterisirte Em¬ 
pfindungen sammt ihren Erzeugnissen (Vorstellungen, Gefühlen, 
Trieben) sich gewöhnlich zu einer Einheit zusammenschliessen, 
einer Einheit, die allenfalls philosophisch mit „Selbst” oder „Ich” 
bezeichnet werden kann.” 2 ) 

„Der so bedingte seelische Zusammenhang (die Persönlich¬ 
keit nämlich) ist gänzlich von der Seelenfahigkeit verschieden, 
irgend welche Inhalte zur Einheit zusammenzufassen. 

Trotzdem besteht in Wirklichkeit eine unaufhörliche 
Wechselwirkung zwischen ihnen beiden, und das ist die Veran¬ 
lassung gewesen, Selbstbewusstsein und Persönlichkeit gleich 
zu setzen. Wenn nämlich eine Reihe von Zuständlichkeiten 
synthetisirt ist, so wird die neu enstandene Einheit naturgemäss 
auf den stets bereiten Complex der erst körperlichen, dann auch 
seelischen Persönlichkeit bezogen.” 8 ) 

Deutlich ausgedrückt kann dass nur heissen, dass das syn¬ 
thetische Vermögen nicht absolut von der Synthese der Persön¬ 
lichkeit abhängig sei; es können auch Synthesen ohne Anschluss 
an die Persönlichkeit zu Stande kommen, doch kommt dieser 
Anschluss unter normalen Umständen meist zu Stande. 

Da nun Dessoir nicht angibt, ob auch die Persönlichkeit 
aus durch besondere Tonfärbung charakterisirten psychologischen 
Elementen zu Stande kommt, ob alle psychologischen Elemente 
eine gewisse Tonfärbung haben, ob dieselbe gleich oder ver¬ 
schieden ist, so hat er ein unbekanntes Element mehr gewaltsam 
in seine Theorie gesetzt, mit dem er nichts anzufangen weiss, 
als dass er es zur Losreissung des Selbstbewusstseins von der 
Persönlichkeit gebrauchte, um dieselben dann sofort wieder 
zusammenzuleimen. 


') Op. cit., S. 75. 

2 ) Op. oit., S. 77. 

3 ) Op. cit., S. 78 und 79. 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 18 


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266 


Dr. P. Bauschburg. 


Herzen 1 ) macht keinen Unterschied zwischen Ich-, 
Selbstbewusstsein oder Persönlichkeit. Er fasst das Selbst¬ 
bewusstsein „als einen besonderen Fall des Bewusstseins im 
Allgemeinen” auf, welches also denselben Gesetzen wie das 
letztere unterliegt. Das neugeborene Kind hat kein Selbst¬ 
bewusstsein, nur ein Bewusstsein im Allgemeinen. Auch beim 
Erwachsenen können heftige physische oder moralische Ein¬ 
drücke sich so sehr aller empfindenden Elemente bemächtigen, 
dass andere Eindrücke, welche zu jeder anderen Zeit unsere 
Aufmerksamkeit erregt hätten, unbemerkt vorübergehen, d. h. 
es gibt im normalen geistigen Leben Zustände des Bewusst¬ 
seins ohne Selbstbewusstsein. Ueberhaupt sei die Idee des Ichs 
gar kein so constantes Element des Bewusstseins, als man zu 
glauben geneigt ist; da sie aber jeden Augenblick von der 
intercentralen Reflexthätigkeit, d. h. der Ideenverbindung hervor¬ 
gerufen wird, und die einander folgenden Gedanken beherrscht, 
da es fast unvermeidlich ist, dass ein leichter Anklang an das 
Gesammtbild jeden Theil desselben begleitet, so ist es natür¬ 
lich, dass das Gesammtbild im Geiste derjenigen vorherrschend 
ist, welche nicht daran gewöhnt sind, sich genau zu be¬ 
obachten, und dass hierdurch die Illusion einer Continuität 
erzeugt wird, die nicht vorhanden ist. Herzen nimmt Aen- 
derungen des Ich in Folge von physiologischen, toxikologischen 
und pathologischen Bedingungen an, unter welch letztere er 
die Erscheinung der doppelten oder mehrfachen Persönlichkeit 
rechnet. 

P. Janet’s Theorie und Ansichten über das Ich-Bewusst- 
sein haben wir im ersten Theile unserer Arbeit 2 ) dargestellt. 
Untersuchen wir dieselben näher, so finden wir, dass er sich nur 
mit der Erklärung des Ich-Bewusstseins eingehend befasst, während 
er sich von einem Eingehen auf die Erklärung des Bewusstseins 
oder des Verhältnisses dieses letzteren zum Ich-Bewusstsein 
fern hält, und uns dadurch über seine eigentliche Auffassung 
der psychischen Vorgänge im Dunkeln lässt. Denselben Vorwurf 

9 Herzen, Grundlinien einer allgem. Psychophysiologie. Leipzig 1889, 
Abschn.VI, S. 131. 

2 ) Neue Beiträge zur Psychologie des hysterischen Geisteszustandes, von 
Dr. P. Ranschburg und Dr. L. Hajos. Verlag Deuticke, Wien und Leipzig. 
Unter Druck befindlich. 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


267 


macht ihm auch Landmann in seinem Essay über „Die Mehrheit 
geistiger Persönlichkeiten in einem Individuum”:') „Werden die 
Erklärungen, welche Janet über die psychischen Thätigkeiten 
im Allgemeinen und über die der Katalepsie im Besonderen gibt, 
einer genaueren Prüfung unterworfen, so wird man ihnen den 

Vorwurf einer ungenügenden Klarheit nicht ersparen können. 

Es scheint zwar, als ob Janet unter Bewusstsein die Verbin¬ 
dung von Gefühlen und Bildern mit der Idee des Ichs 
verstanden wissen will.” Und thatsächlich, da Janet sich 
bei der Analyse der Bewusstseinszustände über ein „Be¬ 
wusstsein” nicht äussert und nur von einem „persönlichen 
Bewusstsein” spricht, da er also die nicht persönlich bewussten 
Vorgänge als unbewusst, später als unterbewusst erklärt, 
scheint er das Bewusstsein mit dem Ichbewusstsein zu iden- 
tificiren. 

Auch Exner in seinem „Entwurf zu einer physiologischen 
Erklärung der psychischen Erscheinungen” 2 ) scheint auf dem¬ 
selben Standpunkte zu stehen. Eigentlich geräth derselbe in den¬ 
selben Fehler, dem Janet verfallen ist. Er beginnt mit der Ana¬ 
lyse des Bewusstseins, unterscheidet dasselbe sodann vom Selbst¬ 
bewusstsein, um es dann wieder mit demselben zu identificiren. 
Wir wollen die interessanten Ausführungen Exner’s, welche trotz 
ihrer diesbezüglichen Inconsequenz, in ihrer Analyse der Bewusst¬ 
seinsvorgänge von höchster Feinheit und treffender Anschaulichkeit 
sind, im Auszuge wiedergeben. „Indem eine Wahrnehmung oder 
Vorstellung sich associativ mit gewissen anderen Vorstellungen 
verbindet, die im Gedächtnisse ruhen, sagen wir, sie trete ins 
Bewusstsein oder wurde vom Bewusstsein erfasst. Diese Gruppe 
anderer Vorstellungen bilden das Bewusstsein. Es wird desto 
mehr den Namen Selbstbewusstsein verdienen, je enger 
die erweckten Vorstellungen mit den Erfahrungen des Indi¬ 
viduums verknüpft und je mehr sie den Stempel des Selbst¬ 
erlebten tragen.” Demnach wäre das Bewusstsein die Asso¬ 
ciation einer Vorstellung oder Wahrnehmung mit einer Gruppe 
von Vorstellungen. „Je mehr diese Vorstellungen den Charakter 
des Selbsterlebten tragen, d. h. je innigere Theile der Persön- 


1) Stuttgart 1894, S. 40. 

2 ) Verl. Deutieke, Leipzig und Wien, 1894, S. 274 bis 279. 

18* 


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268 


Dr. P. ßansehburg. 


lichkeit sie bilden, desto mehr wird das Bewusste zum Selbst¬ 
bewussten.” 

Nun fragen wir, was wird mit den Wahrnehmungen, 
wenn sie sich nicht mit der genannten Gruppe von Vorstel¬ 
lungen, welche Exner Bewusstsein nennt und welche mit dem 
Vorstellungscomplexe der Persönlichkeit identisch sind, ver¬ 
bindet? Sind dann jene Wahrnehmungen unbewusst, oder können 
wir den betreffenden psychischen Zustand gar als Bewusstlosig¬ 
keit kennzeichnen? 

Denn dass auch dieser eben erwähnte Fall vorkommt, 
das gibt Exner selber zu, und führt sogar gleich in den nächsten 
Zeilen ein Beispiel an, welches höchst zutreffend ist. „Aus 
meiner Kindheit erinnere ich mich” — fährt Exner fort — „dass 
mir bei Vertiefung in die Lectüre eines Romanes oder einer 
Reisebeschreibung, in der ich irgendwie unterbrochen wurde, 
die Frage durch den Kopf fuhr, wer von den Personen, die 
mich beschäftigten, eigentlich ich sei, bis mich ein Blick auf 
meine Umgebung lehrte, dass ich ganz ausserhalb dieser Vor¬ 
kommnisse stehe, und dass ich der Knabe Sigm. Exner sei. Es 
ist das natürlich kein vereinzelnter Fall, und die Ausdrücke, 
die man von impressionablen Individuen gebraucht, „er habe 
sich vergessen”, „er sei ausser sich”, „er habe sich in der 
Lectüre verloren” sind sehr treffende. Von diesem Zustande 
wird kaum jemand sagen wollen, dass er ein bewusst¬ 
loser war; er bestand darin, dass lebhafte Vorstellungen 
mit den ihnen verbundenen Associationen in durch keine 
anderweitigen Vorstellungsreihen unterbrochenen 
raschen Fluss aufeinander folgten, und was die Haupt¬ 
sache ist, an keiner derselben directere Associationen 
mit Selbsterlebtem enthalten waren.” Hier deutet also 
Exner auf einen bestehenden Unterschied zwischen Bewusstsein 
und Selbstbewusstsein, welch letzteres gänzlich ausser Action 
sein kann, ohne dass dies auf Rechnung des Bewusstseins ge¬ 
schehen würde. (Dieses Beispiel zeigt auch deutlich, wie sehr 
Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein voneinander verschieden 
sind. Die ganze Aufmerksamkeit des Knaben Exner — in un¬ 
seren Worten seine ganze associative Energie — war durch 
die Lectüre gefesselt, ohne dass seine Persönlichkeit sich an 
diesem psychischen Acte betheiligt hätte.) 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


269 


Doch scheint Exner zwei Seiten weiter schon anderer 
Meinung zu sein. „Wenn ein Erregungscomplex in meiner 
Gehirnrinde eine gewisse Ausbreitung erreicht — und dadurch 
jene Bahnen mit in Erregung einbezogen hat, welche bei selbst 
erlebten Ereignissen in bedeutende Erregung gerathen waren, 
welche durch die alltäglichen Wahrnehmungen meiner Ange¬ 
hörigen, meiner Beschäftigung, meiner Andenken an vergangene 
Jahre in Thätigkeit gerathen und deshalb fast immer gebahnt 
sind, kurz welche der Vorstellung des Ich angehören; wenn 
durch die Mannigfaltigkeit der erregten Fasern auch die Er¬ 
regung selbst im intercellulären Tetanus an Intensität zunimmt, 
somit dieser Erregungscomplex die schon oft erwähnte Eigen- 
thümlichkeit angenommen hat, schwächere Erregungen zu 
hemmen, dann sage ich, die Vorstellung ist im Bewusst¬ 
sein.” 

Hier identificirt Exner wieder das Bewusstsein mit dem 
Selbstbewusstsein. Ich citire ausführlich, weil die gegebene Auf¬ 
fassung Exner’s vom Ich-ßewusstsein, abgesehen von der zwar 
schwerwiegenden Inconsequenz, gänzlich unserer Auffassung der 
Persönlichkeit entspricht. 

Welches ist nun unserer Auffassung nach das Verhältniss 
zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein? 

Für selbstbewusst erachten wir diejenigen psychischen 
Vorgänge, welche mit dem subjectiven Gefühle der activen Per¬ 
sönlichkeit einhergehen, und zwar sind das diejenigen primären 
Vorstellungen und Wahrnehmungen, welche mit dem eben be¬ 
stehenden Vorstellungsconiplexe der eigenen Persönlichkeit, d. i. 
mit dem „Ich” associirt werden. Woraus dieser Vorstellungs- 
complex des „Ich” sich zusammenstellt, brauchen wir nicht 
weiter auseinanderzusetzen. Die verschiedensten Psychologen 
wie Wundt, Janet, ßibot, Ziehen, Herzen, Meynert, Dessoir, 
Landmann, Exner variiren nur unwesentlich in der Auffassung 
der Bestandteile und der Entstehung dieses Vorstellungs- 
complexes, und ich will nur noch die einstimmig hervorgehobene 
Eigenschaft des Ichs, dass es fast immer im Lichte, im Vorder¬ 
gründe des Bewusstseins steht, betonen. 

Beim eben zur Welt gekommenen Kinde können wir selbst¬ 
verständlich von einem „Ich” als Vorstellungsconiplexe nicht 
reden, und noch lange Zeit hindurch wird die Persönlichkeit im 


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270 


Dr. P. Kanschburg. 


Bewusstseinsleben des Kindes gar keine, oder eine nur unter¬ 
geordnete Holle spielen. Sind doch die meisten Wahrnehmungen 
und Gefühle, sowie die entstehenden Vorstellungen noch neu, 
können nur primär sein, und sich nicht an schon bestehende 
Vorstellungen anknüpfen. Und trotzdem wird es wohl niemandem 
einfallen zu behaupten, das Kind sei, so lange seine Persönlich¬ 
keit in Bildung begriffen ist, ohne Bewusstsein. Jedenfalls ist 
dieses Bewusstsein nur ein primäres, vertritt aber so lange 
ganz oder theilweise die Stelle des Selbstbewusstseins, bis sich 
durch die Abgrenzung der inneren Projection des empfindenden 
Körpers von der wahrgenommenen Aussenwelt das primäre 
Ich und langsam, langsam durch Anschluss von Vorstellungen 
der biologischen und socialen Erfahrungen des Individuums das 
ewig wechselnde secundäre Ich herausgebildet hat. 

Während nun im ersten Zustande die (das Bewusstsein 
bildende) associative Energie von den primären psychischen 
Vorgängen in Anspruch genommen ist, wird mit der Zeit der 
Heranbildung der Persönlichkeit diese Energie immer mehr zur 
Beleuchtung dieses für das Individuum höchstwichtigen Vor- 
stellungscomplexes in Beschlag gelegt, wodurch für die neu 
eintretenden psychischen Elemente nur eine gewisse Reserve¬ 
potenz zur Verfügung steht, mittelst welcher dieselben ebenfalls 
mit dem Ich-Complexe in Verbindung gebracht werden. 

Mit der sich vervollkommnenden Entwickelung also nimmt 
das Ich-Bewusstsein immer mehr an Bedeutung zu, während 
das unpersönliche Bewusstsein nunmehr nur eine scheinbar 
untergeordnete Rolle spielt. Dass dasselbe aber auch im normalen 
Geistesleben einen Wirkungskreis hat, haben wir eben aus dem 
durch Exner angeführten Beispiele gesehen; ähnliche Fälle 
werden wohl jedem denkenden Individuum öfters vorgekommen 
sein. So oft wir uns in eine Lectüre vertiefen, so oft wir in 
Gedanken an Lösung eines Problems versunken sind, wird der 
Zusammenhang des eben im Bewusstsein befindlichen Vor- 
stellungscomplexes mit dem Ich-Bewusstsein ein immer spär¬ 
licherer, sehr oft löst sich auch derselbe vollkommen. Die für ge¬ 
wöhnlich durch das Ich-Bewusstsein in Beschlag genommene 
associative Energie wurde nach und nach durch einen günstig 
eonstellirten Vorstellungscomplex an sich gerissen; eventuell 
bleibt dasselbe gänzlich „unbeleuchtet”, das Gefühl des Selbst- 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


271 


bewusstseins, der Persönlichkeit, schwindet gänzlich, das primäre 
Bewusstsein hat die führende Bolle übernommen. Lassen wir 
auf die „vertiefte” Person schwache Sinnesreize ein wirken, so 
gelangen dieselben jetzt überhaupt nicht zum Ich-Bewusstsein, 
sie bleiben auch persönlich unbewusst, das Individuum bemerkt 
dieselben nicht. Wirkt ein stärkerer Sinnesreiz ein, so kann 
derselbe (einen Theil der associativen Energie an sich reissen 
und) ins Selbstbewusstsein eintreten, worauf dasselbe mehr 
minder schnell wieder die Oberherrschaft erlangen kann. Die 
ganze, vorhin persönlich unbewusste Ideengruppe kann sich 
nun mit dem Vorstellungscomplexe der Persönlichkeit vereinigen, 
wo sie dann persönlich bewusst wird und in dem Ich natürlich 
eine mindere Intensität besitzt, als vorher im Zustande der Los¬ 
lösung von demselben. Tritt aber dieser erweckende Sinnesreiz 
mit solcher Intensität ins Ich-Bewusstsein, dass er nun der 
Führer einer ganz neuen Vorstellungskette wird, und die ganze 
zur Verfügung stehende associative Energie für dieselbe in 
Anspruch nimmt, so kann der Fall eintreten, dass die persön¬ 
lich unbewusste Ideengruppe sich mit dem Ich-Bewusstsein nur 
unvollkommen, oder auch gar nicht zu vereinigen vermag, die¬ 
selbe also persönlich nur lückenhaft oder überhaupt nicht be¬ 
wusst wird, demnach nur eine unvollständige oder auch keine 
persönlich bewusste Erinnerung an dieselbe bestehen kann. 

Dies wird der Fall sein, wenn das Bewusstsein eines tief- 
erregten Individuums unter die Herrschaft einer mit über¬ 
mässig intensiven Gefühlstönen auftretenden Vorstellung gelangt. 
Dieser Gefühlston kann der Erfahrung gemäss sowohl derjenige 
der Lust, als auch der Unlust sein. Unter dem präpotenten 
Eindrücke derselben kann das Individuum sich zu Worten oder 
Handlungen hinreissen lassen, die es nachträglich als nicht von 
seinem Ich herrührend bezeichnen wird, es kann unter dem 
Banne des plötzlichen Zornes oder des auflodernden Hasses 
morden, und die Details seiner That werden ihm unbekannt, 
oft unglaublich erscheinen. Es kann während dieses Zeitraumes 
berührt, geschlagen, oft gefährlich verwundet werden, ohne diese 
Empfindungen zur Kenntniss zu nehmen, erst nachher werden 
dieselben bemerkt und es besteht keine Erinnerung des em¬ 
pfundenen Schmerzes. Die transitorische Tobsucht ist ein Beispiel 
der gänzlichen Loslösung einer Associationskette von dem Be- 


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272 


Dr. P. ßanscbburg. 


wusstsein der Persönlichkeit. Der Kranke vollbringt gewöhnlich 
im Zusammenhänge mit einer heftigen Aufregung Handlungen, 
welche zwar gänzlich widersinnig erscheinen, dennoch aber 
deutliche Anzeichen des Bewusstseins an sich tragen. Erinnerung 
besteht an den ganzen Vorfall überhaupt keine. 

Wie wir sehen, können also nicht nur einzelne Vorstel¬ 
lungen von der Persönlichkeit losgelöst bestehen, sondern ganze 
Vorstellungsreihen können verlaufen, ohne mit derselben in Ver¬ 
bindung gelangt zu sein, ohne also eine dem Ich bewusste Er¬ 
innerung hinterlassen zu haben. Diese Vorstellungsreihen können 
aber wieder in das Bewusstsein treten, so oft sich der mit 
dem Vorigen identische Geisteszustand einstellt, dass nämlich 
das primäre Bewusstsein vom Ich-Bewusstsein sich loslöst und 
nur das erstere in Action tritt. Durch günstige Associationen 
kann dann die ganze persönlich unbewusste Vorstellungsreihe 
wieder als mehr minder lebhafte Erinnerung ins psychische 
Leben ein treten. 

So scheint im Traumbewusstsein die dem Wachbewusst¬ 
sein eigene feste Verbindung der das Ich-Bewusstsein bildenden 
Vorstellungen und Vorstellungsgruppen sich zu lockern, einzelne 
Theile des Ich-Bewusstseins übernehmen die führende Rolle, 
wobei die übrigen Partien in Dunkel gehüllt sind und ihre 
Controleurrolle derart einbüssen. So können dann Einzeltheile 
unseres Ich das ganze Ich Vortäuschen, wir werden im Traum 
wieder zu Kindern, überleben wiederholt die Tollheiten des 
Jugendalters, die Plagen der Matura, der Rigorosen, wir treffen 
mit den Idealen unserer Jugendjahre zusammen etc. etc. Die 
dem Traumbewusstsein zur Verfügung stehende geringe asso- 
ciative Energie kann sich aber — wie es scheint — auch 
gänzlich von der ursprünglichen Persönlichkeit loslösen und 
unserem Ich fremde Vorstellungen können jetzt zur Persönlich¬ 
keit werden; wir werden Helden, Könige, aber auch Bettler, 
Mörder, Abenteurer, ja wir können sogar mit unserer ursprüng¬ 
lichen Persönlichkeit Zusammentreffen. Ausser den Organempfin¬ 
dungen, die uns auch im Traume zugehen, spielen auch leb¬ 
haftere, von der Aussenwelt eintretende Reize eine führende 
Rolle in der Beeinflussung des Auftretens der Vorstellungen 
im Schlafbewusstsein. Ein Doctor Juris erzählte mir jüngst als 
merkwürdige Erscheinung, er sei gegen Morgen wie im Halb- 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


273 


schlafe gelegen und hatte unbestimmte Träume. Unter anderen 
kam es ihm vor, als würde eine Person in seinem Bette liegen. 
Immer deutlicher begann die Vorstellung des Bauches der be¬ 
treffenden Person in den Vordergrund zu treten, ja er sah sogar 
vier, fünf bis sechs Bäuche nebeneinander liegen. Dann hatte er 
das lebhafte Gefühl, als wenn die im Bette liegende Person 
Bauchkrämpfe hätte, worauf er endlich mit dem Gefühle des 
Alpdrückens langsam erwachte und nur nach und nach zur Be¬ 
sinnung kam und bewusst wurde, dass er selber die betreffende 
Person sei, welche heftige Bauchkrämpfe hätte. 

Ich selber hatte dieser Nächte den Traum, als hörte ich 
jemanden husten. Ich erinnere mich nur, dass mich diese Huster 
im meinem Traume ärgerlich störten, immer heftiger und lauter 
wurden, bis sich auch eine eigentümliche Art unpersönlicher 
Schmerzempfindung dazu gesellte und ich endlich durch einen 
heftigen Hustenanfall zu mir kam, merkend, dass ich die hustende 
Person sei. Während des allmählichen Erwachens scheint sich 
die Persönlichkeit mit den Bewusstseinsvorgängen wieder zu 
vereinigen, daher mag die etwas undeutliche, aber dennoch 
existirende Erinnerung an diese Vorgänge herstammen. 

Auf dieselbe Art lässt sich die Beschreibung erklären, 
die Herzen von dem Vorgänge in seinem Bewusstsein während 
des allmählichen Erwachens aus tiefen Ohnmächten, an denen er 
litt, gibt. 1 ) 

„Träume sind Schäume,” sagt das Sprichwort, und noch 
heute oder gerade heute gehört eigentlich eine Art Verwegen¬ 
heit dazu, sich mit denselben zu beschäftigen und aus dem In¬ 
halte derselben wissenschaftliche Ergebnisse schöpfen zu wollen. 
Und wenn mich gerade das bunte Gaukelspiel derselben derart 
zur Beschäftigung einladet, dass ich es unternehme, noch einen 
Traum zum Gegenstände unserer Betrachtung zu machen, so 
ist es nicht der Hang für das Mystische, für das Unklare, 
sondern die Bestrebung, diejenigen Zustände unseres geistigen 
Apparates, welche an der Grenze zwischen den normalen 
Wachfunctionen und den pathologischen Erscheinungen des¬ 
selben liegen, welche uns Allen aus eigener Erfahrung bekannt 


! ) Herzen, Grundlinien einer allgemeinen Psychophysiologie, Leipzig 1889, 

S. 113. 


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274 


Dr. P. Bansehburg. 


und unserer weiteren Beobachtung zugänglich sind, zur Klar¬ 
legung der psychologischen Geisteszustände möglichst auszu¬ 
beuten. 

Eine mir bekannte Dame erzählte mir dieser Tage — ich 
arbeitete eben an diesen Zeilen — eine kleine Begebenheit, die 
ihr während des Sommers passirte, und welcher ich naturgemäss 
mehr Beachtung schenkte als sie selbst. Sie war zu ihrer 
Schwester aufs Land gekommen, und obwohl sie sich genau er¬ 
innerte, ihre Aquarellfarbenchatouille mitgebracht zu haben, 
war sie durchaus nicht im Stande, dieselbe unter ihren ausge¬ 
packten Sachen zu finden. In der Meinung, die Chatouille 
vielleicht im Koffer gelassen zu haben — sie erinnerte sich 
präcis, wohin sie dieselbe verpackt hatte — suchte sie im 
selben nach, fand jedoch nichts, so dass sie sich im Gedanken 
ergeben musste, die Chatouille trotz allem zu Hause vergessen 
zu haben. Die zweite Nacht hernach träumte es ihr, sie wäre 
soeben von der Bahn bei ihrer Schwester angekommen und be¬ 
ginne ihren Koffer auszupacken. Sie räumte ihre Kleider in den 
Kasten, nahm die Farbenchatouille heraus und legte dieselbe 
in ein Fach des Schreibtisches ihres Schwagers etc. etc. In der 
Früh fiel ihr der nächtliche Traum ein, und voll Ungläubigkeit, 
mehr aus Spass öffnete sie das Fach des Schreibtisches, dessen 
sie sich früher im Wachbewusstsein durchaus nicht erinnern 
konnte, von welchem sie eigentlich keine bewusste Kenntniss 
hatte, und fand zu ihrem grossen Erstaunen die Chatouille 
daselbst. 

Sie hatte dieselbe demnach in einem Zustande der Zer¬ 
streutheit weggelegt, doch zeigt der Ort des Verlegens, dass 
sie es zielbewusst that, während der Umstand, dass sie von 
diesem Acte auch jetzt, nachträglich nicht die geringste Er¬ 
innerung in sich wachrufen konnte, beweist, dass es nicht einfache 
Vergesslichkeit, kein temporäres Verwischen des Erinnerungsein¬ 
druckes des Actes war, sondern der ganze zielbewusst voll¬ 
zogene Act ist dem Selbstbewusstsein und der Erinnerung 
gänzlich entfallen. Und trotzdem muss der Vorstellungscomplex 
des vollzogenen Actes im Bewusstsein vorhanden gewesen 
sein, da die Erinnerung im Zustande des Traumschlafes ins 
Leben erwachte und Erinnerungsspuren für den Wachzustand 
hinterliess. 


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Stadien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


275 


Höchst wahrscheinlich war das Ich-Bewusstsein während 
derselben Zeit von einem anderen Ideengang oder von anders¬ 
artigen Wahrnehmungen derart in Anspruch genommen, dass 
sich der übrigens bewusste Act nicht auch ins Selbstbewusst¬ 
sein zu erheben vermochte. Im Traume nun gerieth diese Vor¬ 
stellungsgruppe in Folge mehr minder zufälliger Associationen 
in das Spiel der bewussten Association, kam aber diesmal mit 
der Persönlichkeit während des sofort nachher erfolgenden Er¬ 
wachens in Verbindung und gelangte auf diese Weise ins wache 
Ich-Bewusstsein.') 

Nehmen wir nun den Fall an, eine Vorstellung oder Vor¬ 
stellungsgruppe mit ausserordentlich lebhaften Gefühlstönen 
trete in das Bewusstsein und beanspruche für sich den grösseren 
Theil der associativen Energie. Die Persönlichkeit beginne in 
Folge dessen ihre führende Bolle einzubüssen und endlich auch 
gänzlich in das Dunkel der Unbewusstheit gehüllt zu sein, so 
dass nun die neueingetretene Vorstellungsgruppe den Charakter 
einer neuen Persönlichkeit annimmt. Es wird sich nun eine Art 
Wettkampf zwischen den beiden Persönlichkeiten entspinnen, 
in welchem bald die eine, bald die andere als Siegerin hervor¬ 
tritt. Auf diese Art würde ich mir die Verdoppelung oder 
Vermehrfachung der Persönlichkeit erklären, auf diese Art die 
unverständlich erscheinenden, dennoch aber meist den Charakter 
des Bewussten an sich tragenden Delirien der hysterischen 


') Dieser Fall ruft mir einen ähnlichen ins Gedächtnis, den mir seiner¬ 
zeit Herr Privatdocent Dr. Schaffer mittheilte. Eine seiner Patientinnen, 
Fräulein B., die an temporären hysterischen Irreseinszuständen litt, und die 
Schaffer mittelst Hypnose behandelte, theilte ihm eines Tages mit, sie habe 
den Brillanten aus ihrem Ringe beim Händewaschen verloren, was sie nach dem 
Waschen bemerkte, und könne denselben nicht finden. Während der darauf¬ 
folgenden Hypnose fiel es Schaffer ein, die Erinnerung des Mädchens auf diesen 
Vorfall zu lenken, und das Ergebniss war, dass B. sich erinnerte, während des 
Händewaschens gehört zu haben, wie ein kleiner Gegenstand zu Boden fiel und 
unter den Waschtisch rollte; sie wäre aber mit anderen Gedanken beschäftigt 
gewesen und hätte nicht hingeraerkt. Dehypnotisirt war ihre Aufmerksamkeit 
im Wachbewusstsein nicht wieder auf die Details des Vorganges zu lenken, und 
erst auf directe Anfrage, ob sie sich nicht erinnere, dass der Brillant unter den 
Waschtisch gerollt wäre, war eine ganz dunkle Erinnerung daran in ihr zu 
wecken. Wie ihre Mutter beim nächsten Besuch bestätigte, wurde der Stein 
thatsächlich unter dem Waschtische gefunden. 

\ 

/ 


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276 Dr. P. Ranschburg. 

Attaquen den Somnambulismus und die Perioden des hysterischen 
Irreseins auslegen. 

Von den hypnotischen Zuständen scheint nur das somnam¬ 
bule Stadium eine Loslösung der Persönlichkeit vom Bewusst¬ 
sein mit sich zu führen, ohne dass damit auch die Analyse des 
somnambulen Stadiums gegeben wäre. Dasselbe kann aber eben¬ 
falls den Charakter einer Persönlichkeit annehmen und mit 
einer continuirlichen Erinnerung versehen sein. 

Die unter dem Namen „Automatismus” beschriebenen 
Zustände endlich betrachte ich nicht als das Ergebniss 
gleichzeitiger Function mehrfacher Persönlichkeiten in einem 
Individuum, auch nicht als Function subcorticaler Organe 
während gleichzeitiger Function der Hirnrinde — dieselben 
tragen doch meist deutliche und untrügliche Zeichen des 
Bewusstseins, nämlich Erinnerung, an sich — sondern fasse 
dieselben einfach als Functionen des unpersönlichen Bewusst¬ 
seins auf. 

Versuchen wir nun, wie unsere Erfahrungen betreffs der 
„unbewussten Empfindungen” mit unserer Auffassung des per¬ 
sönlichen Bewusstseins in Einklang stehen? 

Können wir empirisch den Beweis führen, dass elementare 
Empfindungen und Vorstellungen in uns entstehen, unser Ich 
aber von denselben keine Kenntniss besitzt? Dass die Anästhesie 
thatsächlich eine Loslösung des Bewusstseins vom Ich-Bewusst- 
sein ist? 

Eigentlich ist der Beweis schon durch die Versuche 
Janet’s 1 ) geführt, durch welche es bewiesen ist, dass anä¬ 
sthetische Körpertheile ohne persönlich bewusste Kenntniss des 
betreffenden Individuums Bewegungen complicirtester Art aus¬ 
führen, dass persönlich unbewusste Empfindungen sich mit sugge- 
rirten Hallucinationen, also Vorstellungen associiren, endlich 
auch dem Individuum persönlich unbewusste Erinnerungen 
hinterlassen, welche in gewissen veränderten Zuständen des 
Bewusstseins (Hypnose) erweckbar sind. Dass Janet die vom 
Ich-Bewusstsein unabhängigen psychologischen Vorgänge als 
„unbewusst” oder „unterbewusst” bezeichnet, ändert nichts an 


l ) Janet, Geisteszustand der Hysterischen. Uebers. Dr. Kahane. Verl. 
Deutioke, Leipzig u. Wien 1894. \ 

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r. 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


277 


dem Meritum der Sache, ist mehr eine Frage der Termi¬ 
nologie. 

Auch wir haben zum Beweise der Existenz von persönlich 
unbewussten Empfindungen zahlreiche Versuche angestellt, 
welche die Ergebnisse von Janet’s Forschungen bestätigen. 
Wir bedienten uns hierzu hauptsächlich der Methode der asso- 1 
ciirten Bewegungen, vorzüglich aber der associirten Vorstellungen 
(Hallucinationen). 

In den Fällen Janet’s mag die Trennung der Empfindungen 
vom Ich-Bewusstsein nur eine oberflächliche gewesen sein, da 
bei Anwendung der Methode der associirten Suggestionen, durch 
das persönliche Bewusstwerden dieser letzteren auch die Ele¬ 
mentarempfindung ins Ich-Bewusstsein eintrat, die Anästhesie 
auf kurze Zeit verschwand. 

Dasselbe fanden wir in fast allen Fällen der noch nicht 
entwickelten Hysterie. 

In mehreren Fällen entwickelter Hysterie jedoch fand sich 
eine viel schärfere Abtrennung der Elementarempfindungen von 
dem Selbstbewusstsein. 

Bei diesen nämlich — besonders ausgeprägt aber in einem 
Falle der chronischen Retinalanästhesie — traten bei Anwen¬ 
dung von associirten Suggestionen die letzteren ins persönliche 
Bewusstsein, ohne dass zugleich auch die entsprechende Ele¬ 
mentarempfindung persönlich bewusst geworden wäre. Die 
directe Verbindung zwischen Elementarempfindung und Ich- 
Bewusstsein war in diesem Falle auf keinerlei Art, weder 
durch directe noch durch indirecte Wach- oder hypnotische 
Suggestion herstellbar, das Individuum hatte von den Empfin¬ 
dungen, die ihm durch das anästhetische Auge zugeleitet 
wurden, nicht die geringste Idee, und doch waren dieselben in 
seinem Bewusstsein vorhanden, wie durch das persönliche Be¬ 
wusstwerden der associirten Vorstellungen bewiesen werden 
konnte. 

Es lässt sich aus diesen Erfahrungen feststellen: 

1. Zur Existenz der sogenannten Sensibilität ist es 
nothwendig, dass die (ins primäre Bewusstsein eingetre¬ 
tenen) elementaren Empfindungen, beziehungsweise Vorstel¬ 
lungen durch das Ich erfasst, dem Ich-Bewusstsein einverleibt 
werden. 


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278 


Dr. P. Banschburg. 


2. Die functionellen (hysterischen) Störungen der Sensi¬ 
bilität haben ihre nächste Ursache in der Abgetrenntheit der 
geistigen Vorgänge vom Ich-Bewusstsein. 

Während die zweite Folgerung eine directe logische Conse- 
quenz der ersten ist, lässt sich diese erstere ausser den ange- 
stellten Experimenten, auch durch biologische und klinische Er¬ 
fahrung befestigen. 

Wir thaten schon des Zustandes Erwähnung, wo bei hoch¬ 
gradiger Vertieftheit in ein Problem oder Thema das persön¬ 
liche Bewusstsein mehr minder, eventuell auch gänzlich in den 
Hintergrund tritt und nur das primäre Bewusstsein in Function 
ist. In diesem Falle ist die Sensibilität des Individuums mehr 
minder, eventuell auch gänzlich aufgehoben, nur starke Reize 
können den Weg zum persönlichen Bewusstsein finden, in diesem 
Augenblicke schwindet aber schon die Vertieftheit und die Per¬ 
sönlichkeit steht wieder im Vordergründe. 

Dieselbe Abnahme der Sensibilität finden wir in Zuständen 
der hochgradigen Erregtheit, des Zornes, der Niedergeschlagen¬ 
heit, der Freude, des Entsetzens, der Begeisterung, der Ver¬ 
zücktheit, lauter Zustände, bei deren intensivem Vorherrschen 
die Persönlichkeit zusammenschrumpft. 

Im Schlafe, wo das Bewusstsein überhaupt eingeengt 
ist und -die Persönlichkeit nur in Bruchstücken hie und da 
aufleuchtet, ist auch die Sensibilität verschwunden, oder 
functionirt nur hie und da im Sinne dieser Splitter der Persön¬ 
lichkeit. 

Bei Ausbildung mehrfacher Persönlichkeiten in einem Indi¬ 
viduum endlich ist es beobachtet worden, dass jeder Persönlich¬ 
keit eine bestimmte Form von Sensibilität entsprach, die Anä¬ 
sthesie wechselte je nach der functionirenden Persönlichkeit, jede 
derselben behielt aber ihre eigene Form continuirlich bei. So will 
ich nur einen von Bourru und Burot beobachteten und beschrie¬ 
benen charakteristischen Fall erwähnen, wo sich in einem Indi¬ 
viduum sechs miteinander mehr minder Zusammenhängende Per¬ 
sönlichkeiten unterscheiden Hessen, von denen eine jede durch 
eine derselben eigenthümliche Anästhesie und Bewegungs¬ 
lähmungen gekennzeichnet war. Ribot erzählt von einem in der 
Schlacht bei Austerlitz verwundeten Soldaten, der in Geistes¬ 
störung verfiel, in Folge deren er behauptete, in der Schlacht 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


279 


gestorben zu sein und von sich als vom „gestorbenen alten 
Lambert” sprach. Es bestand bei ihm vollkommene Hautunem¬ 
pfindlichkeit, 1 ) welche zweifellos mit seinen autonihilistischen 
Ideen im engen Zusammenhänge stand. 

Suchen wir daher die functioneilen Anästhesien vom Stand¬ 
punkte der Frage des Bewusstseins zu beurtheilen, so können 
wir sie nur als Folge der Abspaltung von Bestandtheilgruppen 
des Ich, also der Verengerung des Selbstbewusstseins auffassen. 
Gewisse Theilsysteme der Persönlichkeit können also — wie es 
scheint — auf kürzere oder längere Dauer die der übrigen 
Persönlichkeit eigene ständige Activität verlieren, welcher 
Zustand sich nach aussenhin als Anästhesie, als scheinbare Un¬ 
erregbarkeit peripherer Sinnesorgane äussert. 

* 

* * 

So hätten wir nun einen kurzen Ueberblick über die ver¬ 
schiedenen Geisteszustände, welche geeignet sind, uns einen 
Einblick in das Verhältniss des Selbstbewusstseins zum unper¬ 
sönlichen Bewusstsein zu verschaffen. Wie wir gesehen, ist es 
eher eine Begriffsverwirrung in Folge unconsequenten Gebrauches 
einer noch ungeklärten Nomenclatur, als ein wesentlicher 
Meinungsunterschied, welcher die Differenzen in der Auffassung, 
Beschreibung und Eintheilung bei den verschiedenen Autoren 
zur Folge hat, obwohl zweifelsohne einige auch in dem Wesen 
ihrer Auffassung wesentlich voneinander divergiren. 

Wollen wir nur die Essenz unseres Ideenganges kurz zu¬ 
sammenfassen, so können wir unsere Auffassung über das Ver¬ 
hältniss des Bewusstseins zum Ich-Bewusstsein in folgenden 
Sätzen formuliren: 

1. Eine jede psychologische Function ist von dem 
Vorgänge des Bewusstseins begleitet. Das Bewusstsein 
ist weder Dirigent, noch Zuschauer der geistigen Functionen, 
es ist ein integrirender Factor derselben, welcher allen Ele¬ 
menten, die an der Bildung geistiger Vorgänge thatkräftig 
wirken, eigen sein muss. Es ist ein Product dieser Elemente, 


■) Ribot, Op. eit. S. 36 nach Michea, Annales med.-psychologiques 1856, 

S. 249. 


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280 


Dr. P. Ranschburg. 


dessen Wesen wir vorderhand nicht weiter zu analysiren im 
Stande sind, welches wir als „geistig” zu bezeichnen gewohnt 
sind. Da es erwiesenermassen mit den materiellen Vorgängen 
dieser Elemente in causalem Zusammenhänge steht (Vernichtung 
derselben vernichtet das Bewusstsein, toxikologische und patho¬ 
logische Veränderungen derselben verändern auch das Bewusst¬ 
sein), so kann es als Product der Energie der Hirnelemente 
aufgefasst werden, welche Energie sich ausserdem in der Ver¬ 
bindung der Bewusstseinselemente bethätigt (Association). Die 
Summe dieser Energie nennen wir die associative Energie, 
deren Wesen wir im folgenden Abschnitte näher zu beleuchten 
gedenken. 

2. Das Selbstbewusstsein oder Ich-Bewusstsein ist 
eine höhere Entwickelungsform des Bewusstseins, 
welche in dem wachen Geistesleben des entwickelten 
normalen Menschen die vorherrschende Rolle spielt, 
indem sie die meisten Bewusstseinsvorgänge begleitet. 
Doch führt auch das Ich-Bewusstsein nicht die Rolle eines 
Dirigenten, sondern dasselbe ist gleichsam der Erläuterer 
der Bewusstseinsvorgänge, welche sich mit ihm in Ver¬ 
bindung setzen müssen, um einen für das Individuum 
verwerthbaren Inhalt zu bekommen. 

3. Das „primäre Ich” oder „Selbst” ist die innereProjection 
des Körpers im Bewusstsein. Das secundäre Ich ist die Synthese 
der biologischen und socialen Erfahrungen und der intellectuellen 
Consequenzen derselheo. 

Da es mit dem primären Ich sich vereinigt, sich gleichsam 
an dasselbe ansetzt, bildet es die „Persönlichkeit”, welche das 
gesammte Ich vorstellt. Das „Ich-Bewusstsein”, „Selbst¬ 
bewusstsein” oder „persönliche Bewusstsein” ist derjenige Theil 
des Ichs oder der Persönlichkeit, welcher zu einer gewissen Zeit 
in Function ist, kann daher vom Begriffe der Persönlichkeit nicht 
losgetrennt werden. Das Bewusstsein im Allgemeinen würde ich 
vorschlagen, „primäres oder unpersönliches Bewusstsein” 
im Gegensätze zum „persönlichen, Ich- oder Selbst¬ 
bewusstsein” zu nennen. 

4. Es können auch im Geistesleben des entwickelten 
Menschen intellectuelle Vorgänge ohne Anschluss an das Ich, 
also persönlich unbewusst, verlaufen, wobei diese Vorgänge auch 


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Studien Uber das normale und hysterische Bewusstsein. 


281 


Gedächtnissspuren hinterlassen können, welche durch günstige 
Association sich an die Persönlichkeit anschliessen, oft aber für 
dieselbe unbewusst verbleiben und sich eventuell zu neuen Per¬ 
sönlichkeiten verbinden. Eine pathologische äussere Erscheinungs¬ 
form einer constanteren systematischen Loslösung gewisser Par¬ 
tien der Persönlichkeit vom unpersönlichen Bewusstsein bilden 
die functionellen Anästhesien. 


II. Die Natur und die Entstehung der hysterischen Anästhesien. 

Das hysterische Bewusstsein, 

Wir haben die Anästhesien als eine Erscheinungsform des 
eingeengten persönlichen Bewusstseinsfeldes der Hysterischen 
kennen gelernt und haben im Principe angenommen, dass 
diese Einengung eine Folge der verminderten associativen 
Energie sei. 

Es bleibt uns nur noch übrig zu untersuchen, wie diese 
Ergebnisse mit den durch Janet festgestellten Grundeigen¬ 
schaften der hysterischen Empfindungslähmungen, mit der Ver¬ 
änderlichkeit und dem widerspruchsvollen Verhalten derselben 
übereinstimmen und die Bedingungen zu prüfen, welche für 
das Entstehen der Anästhesien geeignet und unerlässlich 
sind. 

Und so wenden wir uns wieder Janet zu, der zur Lösung 
dieses Problemes eine Theorie aufzustellen versuchte, eine 
Theorie, welche für den ersten Blick gefällig und annehmenswerth 
erscheint, welche aber schon vor uns die Kritik Anderer heraus¬ 
forderte, uns aber, wenigstens in der Form, wie sie aufgestellt 
wurde, überhaupt nicht annehmbar dünkt. 

„Die Anästhesie — sagt Janet — ist ein hochentwickelter 
Zustand psychischer Ablenkung (Zerstreutheit) und macht die 
Befallenen unfähig, gewisse Empfindungen dem Ich-Bewusstsein 

einzuverleiben.Der hysterische Kranke kann in Folge 

seines eingeengten Bewusstseinsfeldes gleichzeitig nur wenige 
Elementarempfindungen in sich aufnehmen. Nothgedrungen 
bewahrt er sich diese geringe Aufnahmsfähigkeit für jene Em¬ 
pfindungen auf, die ihm unentbehrlich erscheinen, nämlich für 
Gesichts- und Gehörsempfindungen. Er muss in Folge dessen 
das Bewusstsein des Gesehenen und Gehörten empfinden und 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 19 


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282 


Dr. P. Ranschburg. 


unterlässt es, die Tast- und Muskelempfindungen, die ihm unent¬ 
behrlich erscheinen, aufzunehmen. Im Beginne hätte er sich viel¬ 
leicht noch diesen zuwenden und sie ins Bewusstseinsfeld auf¬ 
nehmen können, wenigstens für den ersten Augenblick. Da aber 
die Gelegenheit dazu sich nicht darbietet, so wird diese psycho¬ 
logische Unart langsam angenommen. Nichts ist dauernder und 
widerstandsfähiger als derartige psychische Angewöhnungen 
und eine Menge von Krankheiten besteht in nichts anderem als 
in psychologischen Tics. Eines Tages wird nun der Kranke — 
so kann man ihn nun thatsächlich nennen — vom Arzte unter¬ 
sucht, dieser kneift ihn in seinen linken Arm und fragt ihn, ob 
er es fühlt, und zu seiner eigenen Ueberraschung bemerkt der 
Patient, dass ihm die bewusste Empfindung mangelt, und dass 
er, wenn ich so sagen darf, die allzu lange unbeobachtet gelassenen 
Empfindungen nicht mehr in sein Ich-Bewusstsein aufnehmen 
kann — er ist anästhetisch geworden.” 

Wir können also diese Theorie P. Janet’s füglich kurzer¬ 
weise die „Zerstreutheitstheorie” nennen, und wollen uns nun 
möglichst auf Grundlage unserer eigenen Untersuchungen 
kritisch mit derselben befassen und ihre Richtigkeit und logische 
Berechtigung einer eingehenden Prüfung unterwerfen. 

Gibt es thatsächlich eine hysterische Zerstreutheit? Ist 
diese eine Folge des bei Hysterischen pathognomisch ein¬ 
geengten Bewusstseinsfeldes? Ist dieses letztere Ursache oder 
Wirkung? Lässt es sich annehmen, dass eine hochgradige Zer¬ 
streutheit zur Gewohnheit wird und daraus eine Anästhesie ent¬ 
stehen kann? Diese und derartige Fragen drängen sich uns 
nach dem Studium der Forschungen Janet’s und noch mehr 
nach unseren eigenen Untersuchungen unabweisbar auf. 

Vorerst die hysterischeZerstreutheit. Ja, es ist zweifel¬ 
los, dass sie existirt. Doch müssen wir erst mit den Begriffen, 
deren wir uns bedienen, ins Reine kommen, und da muss ich 
denn bemerken, dass wir den Ausdruck „Zerstreutheit” für den 
Geisteszustand, welchen Janet unter diesem Namen beschreibt, 
nicht als gänzlich bezeichnend betrachten können. Was bedeutet 
im sprachwortlichen Sinne zerstreut? 

Was verstehen wir gemeinhin unter diesem Ausdrucke? 
Wohl nur den Zustand der zersplitterten, zerstreuten Auf¬ 
merksamkeit. Zahllose Male hören wir die Klage der Zerstreut- 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


283 


heit seitens unserer eigentlich neurasthenischen Patienten. Wollen 
wir einen befragen, was er darunter versteht, so wird er seine 
Klage derart detailliren, dass seine Aufmerksamkeit seinem 
Willen nicht mehr gehorcht, dass er dieselbe nicht zu concen- 
triren vermag. Er hat den besten Willen, sich mit einem Gegen¬ 
stände zu befassen, aber ein jeder Eindruck der Aussenwelt, ein 
jeder in seiner Association auftauchende Gedanke entreisst seine 
Aufmerksamkeit ihrem ursprünglichen Gegenstände, ohne dass 
etwas Bestimmtes, das seine Aufmerksamkeit festbindet, in 
seinem Denken sich vorfinden würde. 

Eigentlich ist der Zustand, welchen Janet unter dem Namen 
Zerstreutheit beschrieb und analysirt, von dem eben beschrie¬ 
benen gänzlich verschieden. Hier ist die Aufmerksamkeit nicht 
zerplittert, zerstreut, neu auftauchende innere oder äussere Ein¬ 
drücke entreissen dieselbe nicht immer von neuem ihrem vor¬ 
herigen Gegenstände. Im Gegentheile, gerade wie Janet es so 
richtig analysirt, neue Eindrücke vermögen hier nicht über 
die Schwelle des wachen Bewusstseins zu gelangen, denn die 
vorhandene Aufmerksamkeitsenergie ist von individuell, social 
oder biologisch wichtigen Vorstellungen und Empfindungen 
vollauf in Anspruch genommen. Hier ist die Aufmerksamkeit 
nicht zerstreut, sondern gebunden, das Individuum ist nicht 
im Zustande der Zerstreutheit, sondern der Vertieftheit. 

Die wirkliche Zerstreutheit finden wir mehr bei eigentlich 
neurasthenischen Individuen, in wahrhaft verzerrter Maske bei 
Paralytikern. Auch bei hysterischen Individuen lässt sich dieselbe 
oft genug constatiren. Treten wir aber dem Seelenleben der 
Letzteren näher, begnügen wir uns nicht mit der blossen Kennt¬ 
nisnahme ihrer Klage über Zerstreutheit, so wird es sich meist 
zeigen, dass hier nicht der Zustand der ungenügenden Concen- 
trirbarkeit der Aufmerksamkeit, sondern derjenige einer durch 
gewisse tiefere, innere Seelenvorgänge, oder sagen wir durch 
theils persönlich bewusste, theils unbewusste, latente Vorstel¬ 
lungen gebundener Aufmerksamkeit vorliegt. 

Die hysterische Zerstreutheit ist sozusagen systematisch. 
Nur gewisse, mit intensiven Gefühlstönen auftretende Elementar¬ 
empfindungen vermögen die Aufmerksamkeit der Hysterischen 
zu fesseln, während sonstige Eindrücke unbewusst bleiben und 
wirken. 

19* 


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284 


Dr. P. Ranschburg. 


Beispiele dieser aus gebundener Aufmerksamkeit herrühren- 
den transitorischen Anästhesie der verschiedenen Sinnesorgane 
vermögen wir wann immer an uns selbst zu beobachten. Z. B. 
ich habe einen Brief wichtigen Inhaltes erhalten, welcher meine 
Gedanken lebhaft beschäftigt. Ich gehe auf und ab, denke nach, 
gleichzeitig herrscht in mir eine gewisse halbbewusste Spannung, 
da ich weiss, dass es bald Zeit sein wird, auf der Kranken- 
abtheilung Visit zu halten. Diese latente Vorstellung einer Pflicht 
veranlasst mich, die Uhr aus der Tasche zu ziehen und anzu¬ 
schauen, worauf ich sie dann wieder mechanisch zurückstecke. 
In diesem Momente erhebt sich der vollzogene Act über die 
Schwelle des Vollbewusstseins, es fällt mir nachträglich auf, dass 
ich die Uhr eingesteckt habe. Nun denke ich nach, welche Zeit 
die Uhr gezeigt habe, und ich habe keine Idee davon, obwohl 
ich mich erinnere, dieselbe einige Momente hindurch angeschaut 
zu haben, auch die Tonempfindung des Zuklappens kommt mir 
noch nachträglich klar ins Gedächtniss. Mit einem Worte, es 
war für einige Momente eine wahrhaftige Amaurose vorhanden. 

Wie oft geschieht es, dass wir mit anderen Gedanken 
lebhaft beschäftigt nach dem Schlüsselbunde herumsuchen, 
während derselbe an unserem Finger hängt, was wieder ein 
Beispiel der transitorischen cutanen Anästhesie ist. 

So viel ist also Thatsache, dass es auch im normalen Be¬ 
wusstsein Zustände gibt, wo die Aufmerksamkeitsenergie durch 
intensive Empfindungen, respective Vorstellungen in Anspruch 
genommen, andere Eindrücke äusseren oder inneren Ursprunges 
vernachlässigt, wodurch transitorische Anästhesien der verschie¬ 
denen Sinnescentren entstehen können. Ob wir diesen Zustand 
Vertiefung oder Zerstreutheit nennen, bleibt für das Endresultat 
irrelevant. Und so wollen wir, trotzdem wir uns bemüssigt 
sahen, den Unterschied zwischen den beiden Zuständen der 
Association ins Klare zu bringen, uns nicht dem Vorwurfe der 
Wortspintelei aussetzen, und werden auch weiterhin den Aus¬ 
druck Janet’s: hysterische Zerstreutheit, beibehalten mit 
dem Vorbehalte, darunter immer einer Absperrung des Bewusst¬ 
seinsfeldes in Folge der gefesselten Associationsenergie zu 
verstehen. 

Wir gebrauchten nun schon einigemale den Ausdruck 
Associationsenergie. Wir verstehen darunter jene Energie, 


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Studien über das normale nnd hysterische Bewusstsein. 


285 


welche einem gewissen Theile der Association den Charakter 
des Bewussten verleiht. Obwohl rein theoretisch, ist dieselbe 
dennoch unbedingt vorhanden, da eine Action ohne treibende 
Energie nicht zu Stande kommt. Wir müssen es nun als fest¬ 
stehend betrachten, dass diese Energie, d. h. die Kraft, welche 
der zu einer gewissen Zeiteinheit fungirenden Asso- 



Fig. 1. Vertheilung der Anästhesie bei Julie Z. 

Die dichtgetüpfelten Partien sind anästhetisch, die schütter punktirten 
hypästhetisch. 


ciation den Charakter des Bewussten verleiht, bei ver¬ 
schiedenen Individuen in verschiedener Quantität vorhanden ist. 
Wir können uns keine Kraft ohne Materie denken, und so ist 
es denn natürlich, dass auch diese Energie an einen Stoff ge¬ 
bunden ist, und zwar an die Bestandtheile des Centralnerven- 
systemes. Einestheils gibt es nun kein Hirn, welches dem 
äusseren und inneren Baue nach einem anderen vollkommen 
identisch wäre, andererseits ändert sich die chemische Zusammen- 


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286 


Dr. P, Ranschburg. 


Setzung eines und desselben Hirnorganes in Folge der Ab¬ 
nützung, überhaupt in Folge seines fortwährend variirenden 
Stoffwechsels. Daraus folgt, dass einestheils die Functionsenergie 
des Gehirns der verschiedenen Individuen eine verschiedene ist, 
dass zweitens diese Energie bei einem und demselben Indivi¬ 
duum in ihrer Quantität fortwährenden Variationen ausgesetzt 
ist. Mathematisch ausgedrückt ist die Aufmerksamkeitsenergie 



Pig. 2. Vertheilung der Anästhesie bei Therese N. 


des einen Individuums (des A), zu einer gewissen Zeit x, die¬ 
jenige eines anderen Individuums (B) y, die eines dritten (C) z. 
Der Inhalt der durch diese Energie versehenen Association, d. h. 
das Bewusstseinsfeld des ersten sei X, des zweiten Y, des 
dritten Z. Jedoch auch bei A ist die associative Energie 
nur zu einer gewissen Zeit gleich x, ein anderesmal ist 
dieselbe x -f-1, wieder ein anderesmal ZHr Zeit eines ungün¬ 
stigeren Stoffwechsels x — 1. Unter günstigeren Verhältnissen 
kann daher das Bewusstseinsfeld, welches im Durchschnitt X ist, 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


287 


zuX + 1, X + 2, X -}- 3.X + n sich erweitern, 

wo X + n die weitmöglichste Grenze bezeichnet; dagegen kann 
das Bewusstseinsfeld unter ungünstigen Verhältnissen zu X — 1, 

X — 2, X — 3.X — n sich verengern, welch 

letzte Zahl die Grenze des möglichst engsten Bewusstseinsfeldes 
bezeichnet, welche natürlich mit der gänzlichen Unbewusstheit 



Eig. 3. VertheiluDg der Anästhesie bei Therese N. (Eine Woche später.) 


zusammenfiele. Bei welcher Grenze die Verengerung des Be¬ 
wusstseinsfeldes noch normal ist und wo sie anfangt patho¬ 
logisch zu werden, lässt sich bei einer sich so fein abstufenden 
Wellenlinie nicht haarscharf bestimmen, und ebenso glaube ich 
lässt sich keine sogenannte Zerstreutheit als absolut pathologisch 
kennzeichnen, da wir erstens überhaupt kein Normalmass für 
das Bewusstseinsfeld besitzen, da weiter dasjenige, was bei 
dem einen nur im pathologischen Zustande vorkommt, bei einem 
anderen das Normale vertritt und umgekehrt. 


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Dr. P. Ransehburg. 


Im Allgemeinen lässt es sich aber leicht vorstellen, dass 
in Folge ungünstiger Verhältnisse die associative Energie ab¬ 
genommen habe, in Folge dessen eine andauernde Verengerung 
des Bewusstseinsfeldes eingetreten ist. Es erscheint dabei nur 
plausibel, das von den Beizen, welche in die Sinnescentren und 
von hier in die Associationscentren gedrungen sind, nur die 
biologisch wichtigsten — welche die abgestimmtesten Bahnen 
haben — und die mit intensiven Gefühlstönen versehenen — 
welche die Bahnen am mächtigsten abzustimmen im Stande 
sind — in den beleuchtenden Strom der Associationsenergie 
gelangen, daher bewusst werden, während die übrigen peri¬ 
pheren Beize im Gentrum zwar zu Elementarempfindungen 
werden, sich auch mit Vorstellungen verbinden, auch zu moto¬ 
rischen Besultaten führen können, ohne in das beleuchtete 
Wachbewusstsein getreten zu sein, ohne die Aufmerksamkeit auf 
sich gelenkt zu haben. 

Es können daher — auch nach dieser theoretischen Auf¬ 
fassung — Anästhesien in Folge verengerten Bewusstseinsfeldes 
entstehen, jedoch erscheint es unzweifelhaft, dass immer die Ver¬ 
minderung der freien associativen Energie, in Folge dessen die 
Verengerung des Bewusstseinsfeldes, das verursachende Moment, 
die Hyp- oder Anästhesie hingegen Wirkung derselben ist 

Die Frage ist nun, ob sich auch das Entstehen der hyste¬ 
rischen Anästhesien aus einer chronischen Verengerung des 
Bewusstseinsfeldes, aus einer Angewöhnung des Vernachlässigens 
der Elementarempfindungen erklären lasse. Wir haben gesehen, 
dass Janet ausschliesslich diese Art der Entstehung kennt, und 
haben seine Beweisführung im experimentellen Theile unserer 
Arbeit 1 ) mit Beispielen versehen skizzirt. 

Gegen diese Annahme einer Erklärung der Anästhesien 
durch chronische Zerstreutheit äussert schon Dutil, der sich 
im Uebrigen der Theorie Janet’s, als der verhältnissmässig 
besten, anschliesst, seine Bedenken. 2 ) 

Wir wollen die unserigen, die theilweise mit den seinigen 
übereinstimmen, mit unserer Motivirung anführen: 

1. Janet erkannte als Grundcharakter der hysterischen 
Anästhesien die Veränderlichkeit und das Widerspruchs- 

0 Dr. P. Ranschburg u. Dr. L. Hajos. Op. cit. I. Theil. 

2 ) Datil, Hysterie, Traite de Medecine. Paris 1894. Pag. 1345. 


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Stadien Aber das normale und hysterische Bewusstsein. 


289 


volle Verhalten derselben. Unsere eigenen Erfahrungen 
stimmen in dieser Hinsicht vollkommen mit den seinigen überein. 
Doch sehen wir zwar in diesen Grundeigenschaften Beweise der 
nicht peripherischen, sondern centralen, der nicht organischen, 
sondern functioneilen Natur der Anästhesien, aber gerade als 
Beweise für die Entstehung der letzteren aus Angewöhnung 
können wir dieselben durchaus nicht gelten lassen. Gerade im 
Gegentheile. Es widerspricht durchaus jeder Logik, dass 
ein Individuum, welches in Folge seines verengerten Bewusst¬ 
seinsfeldes genöthigt war, lange Zeit hindurch seine links¬ 
seitigen Tastempfindungen zu vernachlässigen und in Folge 
dessen mit der Zeit eine linksseitige Hemianästhesie 
erwarb, auf einmal nach einer Attaque, oder auch während des 
Verlaufes einer Untersuchung plötzlich linksseitig empfin¬ 
dungsfähig und rechtsseitig anästhetisch werde. Und wir 
haben doch diese Eigenschaft sowohl durch Janet betonen als 
auch vor unseren Augen in zahlreichen Fällen sich bethätigen 
gesehen. Diese Veränderlichkeit, dieses paradoxe Verhalten 
verträgt sich mit dem Sinne der Angewöhnungstheorie auf keinerlei 
Weise und kann mit derselben durch keinerlei Hin- oder Her¬ 
deutelei in Einklang gebracht werden. (Vergl. Abbildung 2 u. 3.) 

2. Es widerspricht der Theorie der angewöhnten Zerstreut¬ 
heit auch die Natur der Vertheilung der Anästhesien. Es 
ist nur plausibel, dass ein Individuum mit verengertem Bewusst¬ 
seinsfelde seine geringe Perceptionsfähigkeit für diejenigen 
Elementarempfindungen reservire, welche seinem Organismus aus 
biologischen und physiologischen oder anderen Rücksichten 
wichtig sind. Oder auf physische Grundlage übertragen, dass 
bei verminderter Energie dieselbe nur mehr die abgestimmten 
freien Bahnen leicht durchlaufen kann. Die Erscheinung, 
dass die Anästhesien meist linksseitig sind, dass wichtige 
Organe von der Anästhesie meist verschont werden, dass z. B. 
hysterische Amaurose nicht doppelseitig bestehen bleibt etc., 
steht mit dieser Auffassung in voller Uebereinstimmung. Und 
wären es nur sehr vereinzelte Fälle, wo die Anästhesie ein 
anderes Verhalten zeigt, so würde dies die Regel noch nicht 
zum Falle bringen. Jedoch wir sehen, dass Anästhesien mit ge¬ 
kreuzter Vertheilung auf beide Körperhälften keineswegs zu den 
Ausnahmen gehören. (Vgl. Abbildung 1,2 u. 3.) Wir finden massen- 


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Dr. P. Ranschburg. 


haft Fälle der Art, wo z. B. die rechte Gesichtshälfte, der linke Ober¬ 
arm, eine Manchette um das rechte und linke Handgelenk, ein Gürtel 
um die Brust und beide Unterschenkel anästhetisch sind. Solche 
variirte Vertheilung der Anästhesie findet sich in den verschie¬ 
densten, überraschendsten, wir müssen sagen in den sinn¬ 
losesten Abwechslungen. Diese Art der Vertheilung wieder¬ 
spricht durchaus der Auffassung, dass diese Anästhesien durch 
eine physiologisch oder biologisch zielbewusste Vernachlässigung 
der Elementarempfindungen entstanden wären. 

3. Gegen die Annahme des Ursprunges der Anästhesien 
aus einer nothgedrungenen psychischen Unart, wie Janet die 
angewöhnte Vernachlässigung der Elementarempfindungen be¬ 
zeichnet, spricht ferner der Umstand, dass die Anästhesien nicht 
immer unbewusst entstehen und verbleiben, sondern sie ent¬ 
wickeln sich manchmal langsam und allmählich unter ständiger 
Controle der Kranken, die das anwachsende Uebel oft mit 
grosser Sorge genau beobachten, und auch den Arzt auf das¬ 
selbe aufmerksam machen. Uns kamen sowohl innerhalb, als 
ausserhalb der Klinik mehrere Fälle zur Beobachtung, wo wir 
auf dieses Entstehen der Anästhesie durch die Klagen der 
Kranken aufmerksam gemacht, den Vorgang beobachten konnten. 
Die Kranken klagen meist über ein Gefühl der Schwere, der 
Mattigkeit, der zeitweiligen Vertaubung eines oder mehrerer Glied¬ 
massen, meist der totalen linken Körperhälfte, während die objective 
Untersuchung zu dieser Zeit höchstens eine geringe Hypästhesie 
nachzuweisen im Stande ist. Später hören wir öfters die Klage 
über ein holziges, schwammiges Gefühl (wie bei Tabeskranken), 
nicht selten auch klagt die Kranke, sie fühle zeitweilig ihre 
eine Seite überhaupt nicht, oder aber sie fühle gewisse Körper¬ 
teile an sich hängen, als wenn dieselben nicht ihr gehörten. 
Wir müssen sogar bemerken, dass wir, seit wir auf diese Art 
der Entstehung der Anästhesien aufmerksam geworden sind, in 
fast allen Fällen, wo wir derartige Klagen seitens der Kranken 
vernahmen, eine mehr minder intensive Hypästhesie, meistens der 
linken Körperhälfte vorfanden. Wenn die Kranken mit ihrer 
vertaubten Hand einen Gegenstand anpacken, so haben sie zwar 
das Gefühl der Berührung, aber als wenn nicht sie selber es 
wären, die die Berührung fühlten, als wäre es ein anderer 
Jemand. Zu dieser Zeit lässt sich meist eine constante Hyp- 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


291 


ästhesie und zu gewissen Zeitpunkten eine Anästhesie nach- 
weisen, letztere bei Kranken mit Anfällen meist vor und nach 
den Attaken, während sie nach einiger Zeit wieder ver¬ 
schwindet. Eines Tages ist dann die Anästhesie völlig ent¬ 
wickelt und schwindet nur zeitweilig unter Einwirkung der 
verschiedenartigen Einflüsse, die wir (anderen Ortes) des 
weiteren behandelten. 

4. Endlich lässt sich mit der Zerstreutheitsauffassung die 
eben von Janet angeführte und auch durch uns oft bestätigt 
gefundene Thatsache, dass bei intacter Tastempfindung voll¬ 
ständige Analgesie, oder bei Anästhesie gleichzeitig Hyperal- 
gesie vorhanden ist, nicht in Uebereinstimmung bringen. 

* 

* * 

Wie wir also ersehen haben, lässt es sich wohl vorstellen, 
dass die Eingeengtheit des Bewusstseinsfeldes Zerstreutheit zur 
Folge habe; dass aber Zerstreutheit und Einengung des Be¬ 
wusstseins identisch wären, und dass die Anästhesien eine Folge 
der chronischen Zerstreutheit bildeten, können wir nicht an¬ 
nehmen. 

Welche sind also die Umstände, welche die Erscheinungs¬ 
form der hysterischen Anästhesien bedingen? 

Wir haben angenommen, das Wesen derselben bestehe in 
der Einschränkung des persönlichen Bewusstseinsfeldes, die 
wieder ein Folgezustand der verminderten associativen Energie 
wäre. 

Janet hält diese Einengung für eine originäre, primäre, 
Breuer und Freud 1 ) für eine secundäre, für eine Folge der ge¬ 
steigerten Spaltbarkeit des Bewusstseins. 

Gegen die Behauptung Janet’s lassen sich keine haltbaren 
Einwände erheben und Breuer beweist nur wenig, wenn er 
anführt, „dass man unter den Hysterischen die geistig klarsten, 
willensstärksten, charaktervollsten und kritischesten Menschen 
finden kann”. Denn alle diese Eigenschaften stehen mit der 
Einschränkung des Bewusstseinsfeldes nicht im Widerspruche. 
Die associative Energie ändert sich eben bei den Hysterischen 
nicht in der Qualität, nur in der Quantität.. 

’) Stadien über Hysterie. Denticke’s Verl. Leipzig u. Wien. 1895. S. 201. 


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Dr. P. Ranseliburg. 


Wenn wir also die Möglichkeit der Ableitung der psychi¬ 
schen Stigmata aus einer originären Schwäche, aus der pri¬ 
mären Einschränkung des Bewusstseinsfeldes als eine acceptable 
erachten, so müssen wir dennoch bemerken, dass es in den 
meisten Fällen nachweisbar ist, wie die Einengung des Be¬ 
wusstseins eine Folge der pathologischen Gespaltenheit des¬ 
selben bildet, dass nämlich die associative Energie nicht absolut 
vermindert ist, sondern von der Persönlichkeit unabhängige 
Vorstellungscomplexe einen bedeutenden Theil der Energie an 
sich gebunden halten, und in Folge dessen die dem Ich-Bewusst- 
sein zur Verfügung stehende associative Energie eine nur 
relativ verminderte ist, welche sich in Defecten des persön¬ 
lichen Bewusstseins (Anästhesien, Amnesien etc.) offenbart. 

Wir können also den Satz folgendermassen formuliren: 

Die hysterischen Anästhesien sind Folgezustände 
der absolut oder relativ verminderten associativen 
Energie. Die Verminderung derselben gibt sich haupt¬ 
sächlich in der Einengung des Ich-Bewusstseins kund. 

Jetzt bleibt uns noch die grosse Frage zu beantworten, 
wie sich die eigenthümliche Localisation der Anästhesien er¬ 
klären lasse? 

Es scheint uns, es wäre auch hier eine nutzlose Anstren¬ 
gung, alle Erscheinungsformen derselben mit Hilfe einer ein¬ 
heitlichen Grundformel erklären zu wollen. Wenn wir auch die 
Theorie Janet’s, dass die Anästhesien eine Folge von chronischer 
Angewöhnung der nothgedrungen vernachlässigten unwesent¬ 
lichen Elementarempfindungen wären, in der ursprünglichen 
Fassung verwerfen mussten, so dürfen wir doch dasjenige aus 
seiner Theorie, was unbedingt wahr erscheint, nicht vernach¬ 
lässigen. Dass nämlich im Allgemeinen die linksseitigen An¬ 
ästhesien vorherrschen, ist unleugbar, ebenso wie kein Zweifel 
vorhanden ist, dass die linksseitigen Tastempfindungen unseres 
Körpers für unser Ich biologisch minder wichtig sind als die 
rechtsseitigen. Es ist also einleuchtend, dass ein Zusammenhang 
dieser zwei Thatsachen bei der Vertheilung der Anästhesien 
eine Rolle spielt. 

Wir können uns dieselbe nach den allgemeinen Regeln 
der Association ganz wohl vergegenwärtigen. Je öfters eine 
Bahn in Gebrauch kommt, desto mehr ist dieselbe für die 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


293 


Association abgestimmt, es ist also nur selbstverständlich, dass 
die ohnehin geschwächte associative Energie des Ichcomplexes 
hauptsächlich und in erster Linie diejenigen Associations¬ 
bahnen beleuchten wird, die für dieselbe leichter zugänglich 
sind, d. h. diejenigen, welche die Elementarempfindungen der 
rechten Körperhälfte mit dem Vorstellungscomplexe der Persön¬ 
lichkeit verbinden, während die schwerer zugänglichen Verbin¬ 
dungsbahnen der linken Körperhälfte oder gewisser Theile der¬ 
selben im Dunklen bleiben, d. h. die ihr entsprechenden Ele¬ 
mentarempfindungen nicht ins persönliche Bewusstsein ge¬ 
langen. 

Trifft nun ein intensiver Reiz die anästhetische linke 
Körperhälfte, so kann die entstehende Elementarempfindung in 
Folge ihrer günstigen Constellation die Unabgestimmtheit der 
entsprechenden Bahnen bezwingen und eine gewisse Summe 
associativer Energie an sich reissen, wodurch eine temporäre 
Empfindungsfähigkeit der vorhin anästhetischen Partie eintritt. 

Derart lässt sich die Veränderlichkeit und der wieder¬ 
spruchsvolle Charakter der Anästhesien ohne Zwang erklärlich 
machen. 

Die Eingeübtheit der associativen Bahnen, welche 
mit der biologischen Wichtigkeit derselben parallel läuft, wäre 
also ein Factor, welcher auf die Localisation der Anästhesien 
unbedingt einen Einfluss ausübt. 

Doch lassen sich mittelst derselben die auf beide Körper¬ 
hälften regelmässig oder unregelmässig vertheilten Anästhesien, 
sowie auch die sensoriellen halbseitigen Anästhesien nicht mehr 
erklären. Wenigstens dünkt es uns nicht wahrscheinlich, dass 
die Elementarempfindungen des linken Auges, des linken Ohres, 
oder der linken Zungenhälfte und Nasenschleimhaut biologisch 
weniger wichtig für uns wären als die durch die rechtsseitigen 
entsprechenden Sinnesorgane vermittelten Empfindungen. 

Hier müssen wir nach anderen Ursachen forschen, deren 
eine wir in den anatomischen, beziehungsweise histologischen 
Verhältnissen der Perceptionscentren vermuthen. Die äusserst. 
häufig vorhandene geometrische Regelmässigkeit der Anästhesien 
welche sich meist auch in den scheinbaren Unregelmässigkeiten 
erkennen lässt, die Erscheinungen des Transfert, wenn 
wir dieselben aucli als Suggestion auffassen, weisen unabweis- 


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Dr. P. Ransehburg. 


lieh auf eine gewisse topographische Segmentation der centralen 
empflndungs- und vorstellungsbildenden Felder hin. Durch die 
Annahme eines Functionsausfalles (Hemmung oder Lähmung) 
solcher Segmente aus der Association liesse sich dann die geo¬ 
metrische Figuration der Anästhesien unserem Verständnisse 
näher bringen. 

Hat auch schon in den jüngsten Tagen ein Forscher wie 
Flechsig die Entdeckung der verschiedenen centralen Sinnes¬ 
felder verkündet, 1 ) so hielten wir es entschieden für verfrüht, 
uns in eine topographische Localisationstheorie der functionellen 
Anästhesie ernstlich einzulassen. Ich wollte nur andeuten, dass 
es mir gewagt erscheint, die periphere Vertheilung derselben 
rein aus Zweckmässigkeitsrücksichten oder aus dem Stand¬ 
punkte des ideogenen Ursprunges, welch letzteren wir sofort 
erörtern werden, erklären zu wollen. 

Die Frage der Ideogenese der Anästhesien darf nicht mit 
der Frage betreffs des Einflusses der Vorstellungen auf 
die Vertheilung der hysterischen Anästhesien verwechselt 
werden. 

Wir haben es nicht für ausgeschlossen erachtet, dass ge¬ 
wisse hysterische Empfindungslähmungen in Folge einer absoluten 
Verminderung der associativen Energie entstehen können. Bei 
diesen Formen, falls dieselben rein nachgewiesen würden, liesse 
sich der ideogene Ursprung ausschliessen. Diese absolute Vermin¬ 
derung der associativen Energie als Krankheitsursache liesse 
sich entweder als Folge originärer Degeneration oder aber 
toxikologischer und pathologischer Einflüsse erklären. Doch sind 
solche Formen der Hysterie selten rein nachweisbar. Meist 
finden wir auf dieser Grundlage, welche als prädisponirendes 
Moment wirkt, eine weitere Verminderung der associativen 
Energie (in ihrer Erscheinung als verengertes Bewusstseinsfeld 
nachweisbar) in Folge ideogenen Ursprunges sich als krankheits¬ 
verursachendes Motiv hinzugesellen. Eine Vorstellung, welche in 
Begleitung ausserordentlich lebhafter Gefühlstöne ins Bewusstsein 
tritt, beansprucht für sich einen bedeutenden Theil der Energie, 
bindet dieselbe constant an sich und verursacht in Folge dessen 
die Verengerung des persönlich bewussten Bewusstseinsfeldes, 


') Flechsig, Gehirn u. Seele, Leipzig 1896. Vgl. S. 21 n. 65. 


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Studien über das normale und hysterische Bewusstsein. 


295 


welche sich in den psychischen Stigmata kundgeben wird. 
Dieser ideogene Ursprung ist fast in allen Fällen nachzuweisen, 
und so ist Möbius keinesfalls weit von der Wahrheit entfernt, 
wenn er annimmt, dass alle hysterischen Erscheinungen — 
dieselben sind ja überwiegend psychischer Art — von Vorstel¬ 
lungen bedingt sind. 

Etwas anderes ist dagegen der Einfluss der Vorstellungen 
auf die Vertheilung der Anästhesien. Dieselbe ist in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle nicht nachweisbar, doch beweisen 
mehrere beschriebene Fälle, dass auch dieser Fall, obzwar ver- 
hältnissmässig selten, vorkommt. Ausser den Fällen, die Gilles 
de la Tourettes erwähnt, will ich noch den Fall des B . . . 
anführen, der unter die Beobachtung meines Freundes Herrn 
Dr. Hajos kam, und bei welchem sich die eigenthümliche un¬ 
regelmässige Vertheilung der Anästhesien aus den nach der 
Freud’schen Methode gewonnenen Details seiner hysterogenen 
Ideen mehr minder in all ihren Einzelheiten erklären liess. 

Wir können also nach all diesem die Lehre der hysterischen 
Anästhesien in folgenden Sätzen zusammenfassen: 

1. Diehysterischen Anästhesien sindFolgezustände 
der Einengung des Ich-Bewusstseins, welche sich in 
Folge absoluter oder relativer Verminderung der asso- 
ciativen Energie einstellt. 

2. Die periphere Vertheilung dieser Anästhesien 
wird theils durch biologische Zweckmässigkeitshin¬ 
sichten (die ihre physische Grundlage in der erhöhten Ab- 
gestimmtheit der gebrauchteren Bahnen besitzen), theils durch 
uns noch unbekannte anatomisch histologische Structur 
der höheren Sinnescentren, theils durch persönlich 
mehr minder unbewusste Vorstellungen, oder durch 
Combinationen dieser drei Factoren beeinflusst. 


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Ueber hysterische Amnesien. 

(Vorläufige Mittheilung.) 

Von 

Dr. L. Hajos, 

Assistent an der psychiatr. neurol. Univ. Klinik Prof. Laufenauer’s in Budapest. 

Die Amnesien nehmen in der Reihe der hysterischen Stigmen 
keinen besonderen Platz ein. Diese, sowie jene sind bloss 
Symptome des krankhaften Seelenzustandes, welcher das Funda¬ 
ment der Hysterie bildet. 

Kurz zusammengefasst besteht der Seelenzustand des 
Hysterischen in Folgendem: Hysterische Individuen verfügen 
über eine kleinere Associationsenergie als Normale. Daraus 
folgt, dass die Schwankung der Weite des Bewusstseins in 
scheinbar grösseren Wellenlängen vor sich geht. Das enge Be¬ 
wusstsein erzeugt Geneigtheit zur Perception bloss solcher 
Reize, welche lebhafte Gemüthsfarbungen hervorbringen. Der 
Umstand, dass dieses „affective Ich” die Oberhand erlangt, ist mit 
der weiteren Verengung des Bewusstseins verbunden, oder wir 
können sagen, dass die engen Bewusstseinszustände die Bedin¬ 
gungen zur weiteren Verengung in sich tragen. 

Diese Verengungen des Bewusstseins sind die Grund¬ 
bedingung und das Charakteristicum all jener Zustände der 
Hysterischen, welche zur Entstehung der Amnesien den frucht¬ 
baren Boden liefern und welche ich in einem als amnesiogene 
Geisteszustände zu bezeichnen mich berechtigt fühlte. Zu 
denselben gehören die Hypnose, die Hypnoide, die intraparoxys¬ 
malen Geisteszustände, manche Intoxicationszustände, ferner 
der physiologische Schlaf mit der ihm vorangehenden Schlaf¬ 
trunkenheit. 


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Ueber hysterische Amnesien. 


297 


Dieser neue Gesichtspunkt, der die amnesiogene Phase 
als das wichtigste ätiologische Moment der hysterischen Amnesien 
darstellt, führte mich zur Annahme einer theoretischen Auffassung 
über das Wesen der hysterischen Amnesien. Meine Theorie wird 
in einem unter Druck befindlichen Essay in ausführlicher Dar¬ 
stellung erscheinen. Hier beschränke ich mich, deren wichtigere 
Eesultate kurz zusammenzufassen. 

1. In seiner Studie über das normale und hysterische Be¬ 
wusstsein hebt Dr. P. Ranschburg hervor, dass das Wesen des 
hysterischen Geisteszustandes in der Verengerung des Bewusst¬ 
seins in Folge der Verminderung der associativen Energie zu 
suchen sei. Meine Forschungen über die hysterischen Amnesien 
erwiesen, dass es gewisse periodische Zustände des hysterischen 
Normal-Geisteszustandes gibt, welche durch eine specifisch 
starke Einengung des schon an und für sich eingeengten, sagen 
wir normalen hysterischen Bewusstseins charakterisirt sind. 
Dieses ist das von mir sogenannte „affective Bewusstsein”, wo 
nur für das „Ich” in besonders egoistischer Beziehung stehende 
Elementarempfindungen und Begriffe mit der Persönlichkeit 
in Verbindung gelangen und auf diese Weise ein noch mehr 
eingeengtes „affectives Ich” entsteht. 

2. Das Vorherrschen dieses „affectiven Bewusstseins” ist 
dasjenige, was ich als wichtiges Charakteristicum der amnesio- 
genen Zustände fand. 

3. Jede Amnesie ist die Folge einer vorher abgelaufenen 
amnesiogenen Phase. Das während des amnesiogenen Zustandes 
ausschliesslich Rolle spielende „affective Ich” tritt nämlich mit 
dem normal-hysterischen Bewusstsein in gar keine oder nur in 
eine mehr minder lockere Verbindung, in Folge dessen bezüglich 
der Ereignisse der amnesiogenen Phase eine vollkommene Am¬ 
nesie, oder eine mehr minder fehlerhafte Erinnerung zurück¬ 
bleibt. 

Betrachten wir nun die einzelnen Phasen und Formen der 
Amnesien mit Rücksicht auf unsere eben angeführten theore¬ 
tischen Resultate. 

Das Entstehen der Amnesien. 

In der amnesiogenen Phase wird das Bewusstsein allmählich 
enger, bis endlich nur noch die mit stärkeren Affecten einher- 

Jahrbücher f. P*yehiatri<« und Neurologie- XV. Bd 20 


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Dr. L. Hajos. 


gehenden Reize zur Geltung kommen. Die Stimmungen nehmen 
so sehr überhand, dass jeder disponible Tbeil der associativen 
Energie verbraucht wird. In diesem Zustande gehen für das 
herrschende Bewusstsein des Individuums viele Reize, welche 
zum Erwecken von Stimmungen ungeeignet sind — ist doch ein 
überwiegender Theil der Reize indifferent — verloren. Selbstver¬ 
ständlich werden bezüglich dieser indifferenten Reize Amnesien 
vorhanden sein. 

Um zu verstehen, dass wir nicht nur bezüglich ein¬ 
zelner Reize, sondern auch bezüglich der meisten Ereignisse 
eines krankhaft verengerten Bewusstseinszustandes Amnesien 
vorfinden, müssen zwei Umstände in Betracht gezogen werden. 
Erstens wissen wir, dass die meisten Reize nicht die Eignung 
zum Hervorbringen starker Affecte besitzen, und dass die Ge¬ 
schehnisse aus einer Reihe solcher, meist indifferenter Reize be¬ 
stehen. Zweitens haben wir gesehen, wie einzelne, noch zur 
Geltung kommende Reize Associationen erwecken können, deren 
Inhalt nebensächlich ist, indem die intensiven, präpotenten 
Affecte die Oberhand behalten. Affecte haben die Neigung, Er¬ 
innerungsbilder, die mit derselben Färbung einherzugehen 
pflegen, zu erwecken, wodurch es geschehen kann, dass eine 
Erinnerung so plastisch hervortritt, dass dieselbe die eigentliche 
äussere Ursache des Affectes ganz verdrängt. Wir sahen dies 
bei Helene K., welche wegen eines Wortwechsels erregt, ihre üble 
Laune bewahrt, betreffs des Ursprunges derselben aber sich im 
Irrthum befindet. Dieses Loslösen von den äusseren Reizen 
bleibt nicht isolirt; alsbald tritt eine fremde Association auf, und 
die ursprüngliche Stimmung kommt im Rahmen einer fremden 
Association zur Geltung. So sucht sich Helene ihre Aufregung 
mit einer eingebildeten Vernachlässigung zu erklären. Unter 
solchen Umständen können die in fremden Boden übertragenen 
Associationen nicht das Erinnerungsbild des ursprünglichen 
Reizes, sondern im besten Falle nur falsche Erinnerungsbilder 
zurücklassen. Dass in diesem Falle die Erinnerungsfälschung 
der Autosuggestion gleich ist, ist natürlich. 

So finden wir Amnesien hysterischer Individuen für die 
Zeit amnesiogener Zustände, denn sie haben die damals ein¬ 
wirkenden Reize entweder gar nicht gefühlt oder falsch 
gedeutet. 


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Ueber hysterische Amnesien. 


299 


Eine andere Ursprungsquelle der Amnesien liegt in der 
Verschiedenheit der Ausgangspunkte der Associationen während 
des amnesiogenen und normalen Geisteszustandes. Während des 
amnesiogenen Zustandes fasst das Individuum alles von der 
subjectivsten Seite auf, ob nämlich das wahrgenommene Gefühl 
für dasselbe angenehm oder unangenehm sei? Ganz anders ge¬ 
stalten sich die Dinge, sobald der amnesiogene Zustand auf¬ 
gehört hat. 

Der Verstand übernimmt sein Regime und die Gescheh¬ 
nisse der Aussenwelt werden auf Grund ganz anderer, im 
früheren Zustande indifferenter Zeichen wichtig, durch welche 
primäre Associationen ganz anderer Natur hervorgerufen, die 
übertrieben subjectiven egoistischen Beziehungen hingegen nach 
Möglichkeit in den Hintergrund gedrängt werden. 

Nachdem die Erinnerung ebenfalls nur eine durch äusseren 
Reiz in Bewegung gesetzte Association ist — wird es für 
natürlich erscheinen, dass zwischen den auf verschiedenem Wege 
zu Stande gekommenen Associationen — die erste Station der 
ersten ist das enge „affective Ich”, die der zweiten das weit 
umfassende „persönliche Bewusstsein” — die Verbindung gering 
sein wird. 

Die schüttere associative Verbindung ist ferner auch auf 
jene Thatsache zurückzuführen, dass die im schärfsten Lichte 
dastehenden Associationen des verengten Bewusstseins ohne 
Uebergang, d. h. ohne stufenweise Perspective plötzlich zu jenen 
Associationen übergehen, welche im Halbdunkel bleiben. Ein 
Grund der scharfen Abgrenzung besteht darin, dass die im 
vollen Lichte befindlichen Associationen wegen ihrer affec¬ 
tiven Färbung einen grossen Theil der Associationsenergie ver¬ 
brauchen, weshalb für den übrigen Inhalt des Bewusstseins nur 
sehr wenig zurückbleibt. 

Dieser scharfen Abgrenzung zufolge besitzen die im con- 
centrirten Lichte befindlichen und im Dunklen gebliebenen Asso¬ 
ciationen nur wenig associative Verbindung. 

Dieses Schwinden des associativen Bandes konnten wir bei He¬ 
lene K. gut beobachten. Als mit der Abenddämmerung ihre hypnoiden 
Zustände auftraten, trennte sich gleichzeitig ihr „Ich” immer 
schärfer von der Aussenwelt. Wenn mit dem lawinenartigen Zu¬ 
nehmen ihrer Aflfecte auch diese Grenzlinie schärfer wurde, 

20 * 


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Dr. L. Hajos. 


haben wir gesehen, dass nun schon sehr wenige Reize der 
Aussenwelt eine solche Association hervorzubringen vermochten, 
welche den entstandenen Riss für einen Moment überbrückte. 
Aber auch jene Associationen, welche ein solches momentanes 
Band herstellten, laufen in ihrem weiteren Verlaufe, nun schon 
auf die Illusionsgruppe des stark beleuchteten „affectiven Ich” 
beschränkt, ohne jede Controle ab, und das Individuum, welches 
aus dem Inhalte seiner derzeitigen Associationen auf den äusseren 
Grund derselben folgert, verfällt in Irrthum. 

Solche Associationen, welche im Halbdunkel des Bewusst* 
seins bleiben, unterscheiden sich weder der Form, noch dem 
Inhalte nach von jenen, welche in concentrirtem Lichte ablaufen, 
nur die Verschiedenheit ihres Ursprunges trennt sie voneinander. 
Nachdem während des amnesiogenen Zustandes der im vollen 
Lichte sich befindliche Theil des Bewusstseins oft von alten 
Reminiscenzen, welche wegen der krankhaften Suggestibilität 
dieser Zustände leicht die Form retroactiver Hallucinationen 
annehmen, eingenommen wird, wird es leicht verständlich sein, 
dass diese Associationen von dem abgetrennten und im Halb¬ 
dunkel befindlichen Bewusstsein keiner Kritik unterzogen werden. 
Die schüttere Verbindung und der Mangel gegenseitiger Kritik 
hat zur Folge, dass die im verschiedenen Lichte befind¬ 
lichen Theile des Bewusstseins zu autonomer Organisation 
geneigt werden, was wieder zur Verdoppelung der Individualität 
führt. Es wird also leicht begreiflich sein, dass die um 
irgend eine fixe Idee autonomisch geordneten, jedoch im Dunklen 
gebliebenen Associationen mit dem Ende des amnesiogenen Zu¬ 
standes der Erinnerung entfallen, und auf diese Art entstehen 
die systematischen Amnesien. 

Diese Erklärung ist aber nur auf solche systematische 
Amnesien anwendbar, welche sich ganz innerhalb der Zeitdauer 
ein und desselben amnesiogenen Zustandes befinden. Theilweise 
von einem anderen Gesichtspunkte müssen diejenigen syste¬ 
matischen Amnesien betrachtet werden, bei welchen einzelne 
Wurzeln des verlorenen Erinnerungsbildes in die Vergangenheit 
zurückgreifen, welche also gleichzeitig auch retrograde Amnesien 
sind. Als Beispiel kann auf die systematische Amnesie der Fanny 
L. hingewiesen werden, welche sich auch auf frühere Erinne¬ 
rungen an ihren Bräutigam erstreckte, obwohl sie diesen früher 


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Ueber hysterische Amnesien. 


301 


kannte, als der amnesiogene krankhafte psychische Zustand bei 
ihr auftrat, der jede Erinnerung an ihre Verlobung ver¬ 
nichtete. Derartige Amnesien sind leichter zu erklären, wenn 
wir die Erinnerungsstörungen normaler Individuen betrachten. 
Eben aus diesem Grunde trägt die physiologische Erinnerung, 
sowie die Abwesenheit derselben, nämlich die Amnesie den Cha¬ 
rakter des Systematischen an sich. Eines der ersten und wich¬ 
tigsten Gesetze der Association ist, dass die gleichzeitig auf¬ 
getretenen Vorstellungen sich miteinander associiren. Diese 
Contemporaneität bezieht sich naturgemäss nicht nur auf die 
in einem Momente aufgetretenen Vorstellungen, sondern auch 
die inneren Projectionsbilder der im stufenmässigen Nacheinander 
der Zeit miteinander verschlungenen Ereignisse und Objecte 
associiren sich miteinander, so entstehen gemäss ihrer mehr 
minder engen Zusammengehörigkeit mehr minder fest zu¬ 
sammenhängende associative Systeme. Der Ausfall eines Gliedes 
dieser Systemkette kann den Ausfall der ganzen Kette zur 
Folge haben. Die physiologische Vergesslichkeit hat gewöhn¬ 
lich den Typus der retrograd systematischen Amnesien an sich. 
Wenn wir einen fertig geschriebenen Brief auf die Post zu 
tragen vergessen, erinnern wir uns auch an das Schreiben des¬ 
selben nicht, ebenso auch nicht an die Angelegenheit, wegen 
welcher der Brief geschrieben werden musste. Beobachten wir 
nun den psychischen Vorgang, wenn es uns einfällt, den Brief 
ms Briefkästchen zu werfen, so nehmen wir wahr, dass uns 
gewöhnlich erst die dem Briefschreiben zu Grunde liegende 
Angelegenheit, bald die Thatsache des Briefschreibens, endlich, 
dass wir den Brief bei uns haben, rasch hintereinander in den 
Sinn kommt. 

Es wird nun einleuchtend sein, dass auch eine hinsicht¬ 
lich ihrer Entstehung auf früher zurückgreifende Associa¬ 
tionsgruppe in solchem Masse abgestimmt sein kann, dass der 
Verlust eines Theiles den Verlust des Ganzen involvirt. Diese 
Auffassung ist um so eher annehmbar, als wir sehen können, 
dass den Gegenstand systematischer Amnesien in erster Reihe 
solche Ereignisse bilden, welche für den Kranken von Wichtig¬ 
keit sind, und so ist anzunehmen, dass der Kranke sich mit 
diesen viel beschäftigte und die einzelnen Associationselemente 
sehr gut zusammen einübte. Dies bemerken wir z. B. bei 


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302 


Dr. L. Hajös. 


Helene K. bezüglich des Ursprunges ihrer systematischen Amne¬ 
sie, bei Fanny L. bezüglich ihrer Verlobung: beide sind für 
die betreffenden Individuen Geschehnisse von eminenter 
Wichtigkeit. 

Die Geneigtheit der zusammengehörenden Vorstellungs¬ 
gruppen zu gemeinsamer Function und zu gemeinsamem Ver¬ 
klingen kann auch als die Einwirkungder Suggestibilität auf die 
Erinnerung bezeichnet werden. Die Suggestibilität besteht eben 
in dem voraus bestimmten Verlaufe gewisser Associationen, 
welche nur durch Abstimmung entstehen kann. Aber die Sug¬ 
gestibilität übt oft einen viel sichtbareren Einfluss auf die Gestal¬ 
tung der Amnesien als in den früheren Beispielen; in diesem Falle 
können wir von Amnesien, deren Ursprung auf einer Wahn¬ 
idee basirt, sprechen. Frau Ladislaus T. schmückt das Grab 
ihres ersten Mannes und fallt nach einem hysterischen Krampf 
in eine längere Verwirrtheit. In diesem Zustande hallucinirte 
sie oft mit ihrem verstorbenen Gatten, und dies führte sie auf 
die irrige Idee, dass ihr erster Mann noch am Leben sei. Ohne 
dass sich ihre Amnesien auch auf andere Ergebnisse erstreckt 
hätten, konnte sie sich von diesem Zeitpunkte angefangen an 
nichts erinnern, was auf ihre zweite Verheiratung Bezug hatte. 
Sie erzählt alle Details ihrer Reise nach Budapest, beschreibt 
sämmtliche Reisegefährten, mit Ausnahme ihres Mannes, der auf 
der ganzen Reise ihr gegenüber gesessen war. Hinter dieser 
Amnesie steckte jene, mit der Kraft einer fixen Idee versehene 
Autosuggestion, dass ihr erster Gatte noch am Leben sei, weshalb 
sie nicht die Frau eines Anderen sein könne. 

Spielt auch bei retrograden Amnesien die Suggestion eine 
solche offene oder versteckte Rolle, wir müssen behaupten, dass 
einzelne abgestimmte Associationen im grossen Associations¬ 
mechanismus sich sequestriren und ohne Rücksicht auf den un¬ 
gleichzeitigen Ursprung ihrer Bestandtheile sich als elementare 
Association verhalten können. Es wird verständlich sein, 
dass ein solcher Associationssequester, besonders wenn er im 
affectiven Leben des Individuums eine grosse Rolle spielt, nur 
durch zum Hervorbringen von Affecten geeignete äussere Reize 
in die Association einbezogen werden kann, während indiffe¬ 
rente Reize des hysterisch normalen Seelenzustandes mit dem¬ 
selben nicht in Continuität treten. 


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Ueber hysterische Amnesien. 


303 


Eine einfachere Form der systematischen Amnesien erhalten 
wir, wenn diese bloss den Hof irgend welcher localisirter Am¬ 
nesie bilden. So zeigt z. B. Helene K. localisirte Amnesien be¬ 
züglich ihres mehrmaligen Aufenthaltes in der Heilanstalt, aber 
diese Amnesien erstrecken sich in systematischer Form gleich¬ 
zeitig auch auf ihre Erkrankungen, welche ihre Internirung 
nothwendig machten, ebenso auf die Entlassungen, wenn ihr 
Zustand sich besserte. Dasselbe Yerhältniss sehen wir öfters 
bei Hysterien traumatischen Ursprunges, wenn die Amnesie sich 
auch auf die Vorbegebenheiten der Katastrophe erstreckt, z. B. 
auf die ganze Reise vor einem Zusammenstosse. Diese mit den 
localisirten Amnesien sich verbindenden supplementär-systemati¬ 
schen Amnesien verrathen am sichtbarsten ihren suggestiven 
Ursprung; es scheint ihnen die Rolle zuzukommen, dass die 
localisirte Amnesie von ihrem Besitzer unbemerkt bleibe. 

Diese supplementär systematischen Amnesien bilden den 
Uebergang zu den retrograden Amnesien, wo sämmtliche Er¬ 
innerungsbilder eines vergangenen Zeitabschnittes verloren 
gehen. Die einfachste Form der retrograden Amnesien ist jene, 
wo der Beginn der localisirten Amnesie verwischt wird. Solche 
Amnesien sind nur dem Scheine nach rückbezüglich. Zumeist 
erscheint die Amnesie aus dem Grunde als eine retrograde, da der 
amnesiogene Zustand, welcher die Entstehung derselben ermög¬ 
lichte, sich langsam ausbildete, und weil deren Anfang auf viel 
früher zurückgreift, als wir uns vorstellen würden. Bernheim 1 ) 
hat nachgewiesen, dass seine im künstlichen Somnambulismus 
sich befindlichen Patienten auch für einen grösseren oder kleineren 
Zeitabschnitt vor dem Einschläfern Amnesie zeigen. Dessen 
macht er aber keine Erwähnung, ob er seine Experimente nicht 
an Kranken anstellte, welche auch sonst oft in künstlicher oder 
spontaner Hypnose waren, denn es ist fraglich, in was für einem 
psychischen Zustande die zum Experiment gebrauchten Individuen 
vor dem Einschläfern waren. Ich selbst habe auch oft die Be¬ 
obachtung gemacht, dass z. B. Julie Z., als sie ahnte, dass sie 
hypnotisirt werde, bereits vor dem Einschläfern sämmtliche 
Symptome der Hypnose zeigte. Bertha R. wurde an der Klinik als 


*) Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psycho¬ 
therapie. Hebers, v. Freud. 1892. 


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304 


Dr. L. Hajos. 


ambulante Kranke hypnotisch behandelt: Wenn diese Kranke auf 
die Klinik ging, fühlte sie schon beim Austritte aus dem Haus- 
thore starke Schläfrigkeit, und wenn ich sie nach der Behand¬ 
lung dehypnotisirte, konnte sie sich weder an ihren Weg auf 
die Klinik, noch daran erinnern, dass sie oft eine Stunde im 
Wartezimmer warten musste. 

Das successive Eintreten des hypnoxden Zustandes kann 
oft retrograde systematische Amnesien resultiren. Die geistigen 
Functionen erscheinen noch im Allgemeinen normal, aber mit 
starken Affecten verbundene Geschehnisse können schon jetzt 
solche, bloss auf das „affective Ich” beschränkte Associationen 
hervorbringen, welche später bei vollkommener Ausbildung des 
hypno'iden Zustandes zur Norm gehören.- So können sich schon 
Associationen, welche durch einzelne Geschehnisse aus der Zeit 
vor Eintritt der vollkommenen Amnesie hervorgerufen wurden, 
späteren Amnesien anschliessen: einer Zeit daher, für deren 
gleichgiltigere Geschehnisse die Erinnerung noch vollkommen 
besteht. Auf solche Weise können systematische Amnesien auf- 
treten, deren Quelle einerseits das successive eintretende Hyp- 
noid, andererseits die mit diesem Zustande zusammen in den 
Vordergrund tretende Suggestibilität sind. Fanny L. erzählt, nach¬ 
dem ihre localisirte Amnesie vorüber war, dass selbst der Streit 
mit ihrem Bräutigam schon Ausfluss ihres krankhaften Zustandes 
war; sie hatte gerade die Menstruation, heftige Kopfschmerzen; 
da kamen ihr eigenthümliche Gedanken in den Sinn, sie wolle 
Künstlerin werden, es wäre besser zu sterben. Mit Wahrschein¬ 
lichkeit kann behauptet werden, dass schon damals eine Ver¬ 
engung des Bewusstseins bei ihr auftrat, welche dann die Am¬ 
nesie zur Folge hatte. 

Wir sehen also, dass die eine Quelle der retrograden Am¬ 
nesie die successive eintretende Verengung des Bewusstseins 
ist, wo dann der Ausgangspunkt der Amnesien verwischt wird; 
eine zweite Quelle besteht darin, dass die Erinnerungsfälschung, 
welche die Lücken der Erinnerung ausfüllt, auf suggestivem Wege 
sich auch auf die Vergangenheit erstreckt. Jene Beobachtungen, 
wo das hysterische Individuum ganze erfundene Romane in seine 
Lebensgeschichte einsetzt, sind immer besonders zu beurtheilen, 
ob, abgesehen davon, dass diese selbstbewusst erdichtet werden: 
die Erinnerungsfälschung, welche die Vernachlässigung ihr wider- 


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Ueber hysterische Amnesien. 


305 


sprechender Erinnerungsbilder auf suggestivem Wege verursacht, 
oder die Amnesie, deren Lücken mit den Lügengeweben von 
Romanen ausgefüllt werden, die primäre ist? Helene K. bezeich- 
nete in ihrem componirten Zustande ihre eigene Mutter immer 
als Stiefmutter, ihre Geschwister nicht als wirkliche und zeigt 
vollkommene Amnesie bezüglich aller Geschehnisse, welche dieser 
ganzen Erdichtung widersprechen. Alle diese Amnesien wurzeln 
in jener primären Erinnerungsfälschung, laut welcher sie nach 
Scheidung ihrer Eltern sich zwei Jahre im Hause ihres Vaters 
aufhielt, wo sie eine Frau kennen lernte, welche sie als eigene 
Mutter betrachtete und von deren Tod sie Kenntniss zu haben 
glaubt. In der Hypnose corrigirt sie ihre Erinnerungsfälschung 
und sie erinnert sich an Dinge, welche zweifellos beweisen, 
dass ihre Mutter die eigene Mutter sei, im wachen Zustande 
aber behauptet sie, man bezeichne ihr die Stiefmutter bloss aus 
Schonung als ihre eigene und sie könne sich an nichts erinnern, 
was die Echtheit ihrer Mutter beweisen würde. 

Das Verhalten der Amnesien während des normalen 
Geisteszustandes der Hysterischen. 

Wir haben gesehen, dass die scheinbar verlorenen Er¬ 
innerungsbilder die Fähigkeit besitzen, auch weiter auf die 
Associationen einzuwirken. Die Erklärung dieses Umstandes ist 
darin zu suchen, dass die den Inhalt der Amnesien bildenden 
Erinnerungsbilder ausserhalb, des vollen Lichtes des Bewusst¬ 
seins gerathen sind, aber irgend welcher loser Zusammen¬ 
hang, welchen einzelne Associationen benützen können, dennoch 
aufrecht erhalten bleiben kann. Nachdem aber eine isolirte Asso¬ 
ciation nicht die Fähigkeit besitzt, das gespaltene Bewusstsein 
in organischen Zusammenhang zu bringen, wenn auch hie und 
da eine im Dunklen gebliebene Association später auftaucht, 
kann diese der ganzen Amnesie kein Ende machen. Einen solchen 
associativen Zusammenhang benützte Fanny L.’s Association, 
als sie ihren Ring suchte; nachdem aber jeder weitere Zu¬ 
sammenhang fehlte, wusste sie auch nicht, was für einen 
Ring. 

Eine zweite Quelle der activen Einwirkung von verloren 
erscheinenden Erinnerungsbildern ist in den Associations¬ 
wegen der zwei Bewusstseinszustände zu suchen. Die 


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306 


Dr. L. Hajos. 


Vorstellungsgruppe des „affectiven Ich” bildet im normalen Be¬ 
wusstseinszustande auch einen Bestandteil des breiten persön¬ 
lichen Bewusstseins, wenn dieses auch in den Hintergrund 
gedrängt wird. Einzelne Reize aber — besonders zur Weckung 
von Stimmungen geeignete — können auch im normalen Zu¬ 
stande auf demselben Wege elementare Associationen hervor- 
rufen; so wird die Continuität irgend welchem Ergebnisse des 
vergangenen Amnesiogens gegenüber auf einen Moment her¬ 
gestellt, und nachdem ein Bestandtheil der Amnesie verschwunden 
ist, übt dasselbe seine Wirkung auf die Associationen aus. Wenn 
eine solche momentane Wirkung sich auf eine längere Zeit¬ 
periode erstreckt, so kann auch die Amnesie aufhören. 

Das Aufhören der Amnesien. 

Im Vorhergehenden haben wir schon gesehen, dass, wenn 
ein Reiz sich auf dieselben Associationswege verirrt wie im 
amnesiogenen Zustande, die Amnesie auch verschwinden kann- 
Zumeist hört die Amnesie während derselben psychischen Zu¬ 
stände auf, als sie entstand, d. h. während der amnesiogenen 
Zustände. Der Grund davon ist, dass in diesem Falle die Reize 
der Aussenwelt ähnliche primär elementare Associationen hervor- 
rufen wie im früheren amnesiogenen Zustande; die Continuität 
der Reize ist eine vollkommene, die Reize sind zum Hervor¬ 
bringen derselben Associationen ebenso das erstemal wie das 
zweitemal geeignet. Der Unterschied besteht nur darin, dass, 
während auf die erste Einwirkung des Reizes eine gegebene 
Association in Bewegung gesetzt wird, bei der zweiten durch 
denselben Reiz dieselbe Association wiederholt wird, was 
wir derart zum Ausdrucke bringen, dass eine Association der 
Vergangenheit im Gedächtnisse aufgetaucht sei. 

Die Morphologie der Amnesien. 

Die localisirten und systematischen Amnesien in Einklang 
zu bringen, haben wir schon mit unserer früheren Theorie ver¬ 
sucht. An dieser Stelle wollen wir nur auf allgemeine Amnesien 
eingehen. Das Auftreten derselben hängt nicht von dem psychi¬ 
schen Zustande ab, in welchem die Erinnerungsbilder entstanden 
— dies ist bloss eine Störung der Reproduction der Erinnerungs¬ 
bilder. Die Beobachtung der Anna E., welche auf ihre Kinder- 


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Ueber hysterische Amnesien. 


307 


zeit spontan sich nicht erinnern konnte, während an sie ge¬ 
richtete Fragen ihre Erinnerungsbilder immer hervorzurufen 
vermochten, scheint den Beweis zu liefern, dass in solchen 
Fällen manchmal die Trägheit zu denken und sich zu erinnern, 
als functioneller Stupor die Basis der Amnesie bilden kann. 
Diese könnte man als abulische Amnesien bezeichnen. Janet’s 
Behauptung, dass Amnesien, welche auf Anomalien von Erinne- 
rungsreproductionen basiren, gewöhnlich allgemeine sind, scheint 
auch für meine Auffassung zu zeugen. Nachdem wir aber auch 
localisirte Abulien zu sehen Gelegenheit haben — eben jetzt 
befindet sich auf unserer Klinik eine locale Sprachabulie unter Beob¬ 
achtung — ist es leicht verständlich, dass die Erinnerungsabulie 
sich nicht unbedingt auf sämmtliche Erinnerungsbilder erstrecken 
muss. Jene seltenen, allgemeinen Fälle, welche von Charcot 1 ) 
und Weir Mitchell 2 ) mitgetheilt werden, verrathen in jeder 
Beziehung ihre hysterische Natur und erscheinen als eine auf 
die ganze Lebensdauer zurückgreifende retrograde Amnesie. Dass 
dies laut unserer Theorie nur mit suggestivem Mechanismus 
denkbar ist, versteht sich von selbst. 

Schlüsse. 

Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Amnesien 
die äusseren Symptome desselben krankhaften Seelenzustandes 
sind, aus welchen die Hysterie im Ganzen besteht. Bei Unter¬ 
suchung von Amnesien ist nicht deren Bestand, sondern das 
Entstehen und Aufhören derselben von Wichtigkeit; nachdem 
aber diese auf einzelne vergängliche Ebbezustände der ohnehin 
schon krankhaft beschränkten associativen Function fallen, 
respective deren Resultate sind, müssen die Amnesien zu den 
episodischen Symptomen der Hysterie gezählt werden. Die be¬ 
stehende Amnesie ist also bloss eine vorhandene Spur einer 
amnesiogenen Periode. Die Zustände, welche wir in unseren 
Ausführungen als amnesiogene bezeichneten, sind von der Regel 
bedingt, dass das enge Bewusstsein die Bedingungen zu hoch¬ 
gradiger weiterer Verengung in sich birgt. Als Grundmotiv 
finden wir die verminderte Associationsfähigkeit (enges Bewusst- 

1 ) Charcot, Ueber einen Fall von retroanterograder Amnesie, wahrschein-» 
lieh hysterischen Ursprunges. Revue de medec. 1892. 

2 ) Weir Mitchell, Mary Reynolds, a case of double consciousnesS, 


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308 


Dr. L. Hajos. 


sein), welche die Quelle sämmtlicher hysterischer Stigmen ist, 
weshalb sie auch Stigma der Stigmen genannt zu werden 
verdient. 

Zur Erklärung der verminderten Associationsfähigkeit 
nehmen wir an, dass die Degeneration des Centralnervensystems. 
welche den organischen Grund der Hysterie bildet, sich in der 
geringeren Arbeitsfähigkeit des Gehirns offenbart. Die associative 
Arbeitsfähigkeit des Gehirns haben wir associative Energie 
genannt. 

Nachdem sämmtliche Stigmen einer gemeinsamen Quelle 
entspringen, hat jedes den Stempel seines Ursprunges an sich, 
darum finden wir keine rein krystallisirten Stigmen, sie sind 
immer gemischt Nach den Triebfedern der Amnesien forschend, 
begegnen wir auf Schritt und Tritt folgenden noch nicht ganz ge¬ 
klärten Ausdrücken: „Spaltung des Bewusstseins”, „Suggesti- 
bilität”, „unbewusste und bewusste Lüge”; bei der Analyse 
hysterischer Symptome dürfen wir diesen Begriffen nicht abge¬ 
neigt sein, eben diese verrathen den psychischen Kern der 
Hysterie, die Erkrankung der Persönlichkeit. Der Rolle 
wegen, welche ihnen bei sämmtlichen hysterischen Stigmen 
zukommt, sind sie alle veränderlicher und widerspruchsvoller 
Natur. 

In der Function des hysterischen Nervensystems finden 
wir kein Element, welches bei der Function des normalen 
Gehirns nicht zu finden wäre; organische Unterbrechungen 
der Leitung kommen nicht vor, nur die Associationen vollziehen 
sich mit verminderter Kraft und mit anderer Eintheilung. 

Ich schliesse meine Studie mit einem Gleichniss. Stellen 
wir uns eine grosse Maschinenhalle eines Industrieetablisse¬ 
ments vor, in welcher die verschiedensten Maschinen durch eine 
centrale Dampfmaschine und mittelst vieler Transmissionen in 
Bewegung erhalten werden. Das Zusammenwirken sämmtlicher 
Maschinen ermöglicht die Herstellung eines Gewerbeartikels; 
jeder einzelnen Maschine kommt eine specielle Phase der Her¬ 
stellung zu. 

Ohne dass auch nur eine Maschine verdorben wäre, ist 
jetzt die Spannkraft des Dampfvorrathes im centralen Kessel 
gesunken. Auf einmal muss die Arbeitsordnung geändert werden; 
viele der Transmissionen werden abgespannt, es arbeiten nur 


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Ueber hysterische Amnesien. 


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einige Maschinen mehr. Die Herstellung des Artikels aber 
geschieht weiter, nur mit dem Unterschiede, dass derselbe nicht 
mehr polirt, gereinigt und verpackt wird; die Maschinen, welche 
dies besorgten, wurden ausgeschaltet. 

Der psychische Apparat functionirt bei hysterischen Indi¬ 
viduen nur mit geringerer Arbeitskraft, trotzdem sind die ein¬ 
zelnen Functionen ganz fehlerfrei. 


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(Aus dem Laboratorium der Landes-Irrenanstalt Feldhof bei Graz.) 

Befund von Oompression und Tuberkel im Rückenmark. 

Eine casuistische Mittheilung von 
Dr. J. v. Scarpatetti, 
ordinirender Arzt in Feldhof. 

Die Marchi’sche Methode der Untersuchung des Central¬ 
nervensystems fördert gegenwärtig zahlreiche neue Befunde be¬ 
sonders über auf- und absteigende Degeneration im Rückenmark 
zu Tage. Ja, es steht zu erwarten, dass manche der jetzt noch 
feststehenden Ansichten über Verlauf und Degeneration bestimmter 
Bahnen auf Grund der Untersuchungen mit diesem feinen Reagens 
noch bedeutende Aenderungen erfahren werden. 

Mit dem Fortschreiten der feineren Untersuchungsmethoden 
werden die unzähligen Verbindungen eines zerstörten Bezirkes 
immer mehr als Gesammtschädigung des Centralnervensystems, 
erkannt. Störungen der grauen Substanz ohne gleichzeitige Be¬ 
theiligung der weissen gibt es nicht und umgekehrt. Erkran¬ 
kungen des Gehirns rufen degenerative Veränderungen im 
Rückenmarke hervor, und die aufsteigende Degeneration aus 
dem Rückenmarke lässt sich ins Gehirn und Kleinhirn hinein 
verfolgen. 

Wir ziehen den einzelnen Bahnen im Rückenmarke 
immer deutlichere Grenzen, und finden gleichzeitig, dass die 
Areale der absteigend entartenden Bahnen aufsteigend degene- 
rirende in sich führen und umgekehrt. Andererseits gibt es im 
Centralnervensysteme Nervenfasern, welche mit mehreren Zell¬ 
gebieten präformirte Verbindungen haben. Un<f hierdurch dürften 
dieselben bildlich gesprochen auch durch verschiedene Umschal¬ 
tungen mit den peripheren Organen in variable Verbindung 
gesetzt werden können. 


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Aus dem Laboratorium der Landes-Jrrenanstalt Feldhof. 


311 


Zum Studium der Rückenmarksleitungsbahnen durch Ver¬ 
folgung der Degeneration schien mir folgender Fall geeignet. 1 ) 

Krankengeschichte. 

J. M., öOjähriger Finanzbeamter, stammt von gesunden 
Eltern, lernte in der Schule gut, spricht deutsch und slovenisch. 
Im Jahre 1866 zum Militär abgestellt, diente er in verschie¬ 
denen Provinzen beim Militär, der Polizei, der Gendarmerie 
und Finanz als Beamter. In dieser letzten Dienstesverwendung 
begann man „ihm aufsässig zu werden und ihn dienstlich zu 
verfolgen”. Hierüber gibt ein Stoss Beschwerde-, Rechtferti- 
gungs- und Bittschriften, die in der Krankengeschichte nieder¬ 
gelegt sind, und welche sämmtlich mit der vielen Paranoikern 
eigenthümlichen exacten Schreibweise verfasst sind, hier weiter 
nicht interessirenden Aufschluss. 

Der Kranke wurde am 14. November 1893 in Feldhof auf¬ 
genommen. 

Die psychische Erkrankung bestand in einem breit ausge¬ 
arbeiteten Wahnsystem von Verfolgungen, Vergiftungsversuchen, 
Attentaten gegen seine Person, hypochondrischen Sensationen und 
daraus hervorgehendem Queruliren. Somatisch fand sich bei der 
Aufnahme ausser Ungleichheit der Pupillen und träger Reaction 
der engeren linken Pupille kein abnormaler Befund. 

Am 28. December des folgenden Jahres erkrankte M. an 
einer rechtsseitigen Pleuritis. Diese führte Patient auf Ver¬ 
kühlung zurück, der er bei der Kohleneinlagerung im nassen, 
kalten October 1894 ausgesetzt war. Schon damals habe er 
Stechen und „Rheumatismus” in den Beinen verspürt. Im Ver¬ 
laufe des Sommers wurde der Gang des Patienten immer steif¬ 
beiniger, langsamer und unbehilflicher, und seit Neujahr 1896 
verliess Patient das Krankenzimmer nicht mehr. Die Schmerzen 
wurden immer unerträglicher, und die Beine wollten dem Willen 
des Besitzers nicht mehr gehorchen: „Es ist, als wie wenn ich 
rings um die Hüften und um der Mitte herum im Fleisch pure 
Glasplitter drinnen hätte, so dass ich oft vor Schmerzen nicht 
athmen kann,” schreibt er in einer Beschwerdeschrift. 


') Zwei weitere Fälle von Compressionsmyelitis stehen derzeit in Bear¬ 
beitung. 


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312 


Dr. J. t. Scarpatetti. 


Am 23. April d. J. hatte ich das erstemal Gelegenheit, 
den Kranken za sehen und notirte mir folgenden Befund: 
Patient klagt über Schmerzen, Ziehen, Reissen und Taubsein, 
besonders in den Beinen, bis hinauf in die Höhe des Brust¬ 
beines. Das Leiden sei ganz allmählich von unten nach oben 
gestiegen. Unter den schon oben beschriebenen Schmerzen sei 
die Gebrauchsverminderung der Beine immer hochgradiger ge¬ 
worden, so dass er seit drei Wochen überhaupt nicht mehr 
gehen könne und zu Bette bleiben müsse. 

Der Kranke konnte sich nur sehr schwer verständlich 
machen. Mitten im Satze konnte er oft ein Wort nicht finden 
und schaute dann resignirt fragend auf den examinirenden Arzt; 
er fand viele Worte nicht mehr. Die Bezeichnung der Gegen¬ 
stände geschah mangelhaft und falsch, die einzelnen Buchstaben 
eines gedruckten Wortes erkennt er, doch ist er nicht im 
Stande, dieselben zu einem Worte zusammenzufassen und das 
Wort auszusprechen. Dieser letzte Zustand dauerte seit zwei 
Tagen. Er komme sich ganz verändert vor, er könne nicht 
mehr sprechen. 

Zur Aufnahme einer genaueren Anamnese nahm Patient 
sichtlich ermüdet und über sein Unvermögen bestürzt, Papier 
und Bleistift zur Hand, um zu antworten. Das Schreiben ging 
noch leidlich, doch konnte er seine eigene Schrift nicht laut 
lesen; aber er wusste, was er aufgeschrieben hatte. 

Aus diesem Examen ging noch hervor, dass der Kranke 
ausser Schmerzen noch Kältegefühle, Steifigkeit und Ameisen¬ 
laufen zu den Zehen hinunter und wieder herauf verspüre. Er 
müsse jetzt auf allen Vieren zum Leibstuhl kriechen. Krämpfe 
fehlten stets. Seit zwei Wochen besteht Stuhlverstopfung, seit 
fünf Tagen Ohrensausen, Ziehen und Reissen auch im Kopf und 
den Armen. Lues wird negirt, Gonorrhoe zugegeben. 

Körperlicher Befund: 

Grosser, schlecht genährter, hektisch aussehender Mann. 
Der Schädel von ziemlich normaler Configuration, ist nirgends 
percussionsempfindlich. Die rechte Pupille weiter als die linke. 
Letztere scheint heute auf Lichteinfall nicht zu reagiren. Sehkraft 
mit + 2'0 auf beiden Augen nicht herabgesetzt. Am rechten Ohr 
besteht deutliche Herabsetzung des Gehörvermögens. Die Zunge 


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ßefuod von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


313 


tritt gerade hervor und zittert stark fibrillär. Die Schluck¬ 
bewegungen sind frei. Facialis und Trigeminus sind nicht 
gestört. Pleuritis adhaesiva dextra. 

Die Extremitäten sind nach Angabe des Patienten sämmtlich 
mägerer geworden. Die oberen bieten eine geringe Ataxie. Ihre 
grobe Kraft scheint nicht wesentlich herabgesetzt und beider¬ 
seits gleich. Die Sensibilität der Arme nicht gestört. Die Wirbel¬ 
säule wird im ganzen unteren Antheile besonders im mittleren 
Brusttheile auf Druck als schmerzhaft bezeichnet. Deformation 
der Wirbelsäule kann nicht gefunden werden. Die Austritts¬ 
punkte der Ischiadici sind druckempfindlich, doch leitet sich der 
Schmerz nicht bis zur Peripherie fort. Am Abdomen bestehen 
subjectiv Gefühle von Geschwollensein. Die Lymphdrüsen in 
inguine sind etwas geschwellt. Die unteren Extremitäten sind 
deutlich abgemagert, doch beiderseits von gleichem Umfange. 
Das linke Bein kann nur etwa 1 Decimeter gehoben werden, 
das rechte gar nicht. Im umgekehrten Verhältnisse zur Ge¬ 
brauchsfähigkeit standen die Kniesehnenreflexe. Links fehlte 
dieser Reflex vollständig. Dagegen trat jedesmal beim Beklopfen 
der linken Patellarsehne eine deutliche Contraction im rechten 
Sartorius und den Beugern auf, zweifelsohne durch Ueber- 
springen des Reflexes aufs rechte Bein erklärbar. Wurde da¬ 
gegen der rechte Kniesehnenreflex geprüft, so erwies er sich 
als annähernd normal, aber sicher nicht gesteigert. Auch schien 
keine Verlangsamung in der Auslösung des Reflexes zu be¬ 
stehen. Die Patellarreflexe waren unbeständig, bald stärker, bald 
schwächer auslösbar. Fussclonus bestand nicht. 

Die Sensibilitätsstörung konnte rechts deutlicher als 
links bezeichnet werden. Doch wurden auch hier einige ganz 
richtige Angaben gemacht. Die Temperatur der Beine erschien 
beiderseits gleich, etwas niedrig. Die Muskulatur zeigte etwas 
erhöhten Tonus; beim Beklopfen entstand ein deutlicher Muskel¬ 
bauch. Fibrilläre Zuckungen waren nicht sichtbar. 

Wenn ein Bein im unteren Antheile des Oberschenkels 
in die Höhe gehoben und dort unterstützt wurde, war 
Patient im Stande, den Unterschenkel für kurze Zeit auszu¬ 
strecken. 

Während des Examens trat Singultus auf, der eine Stunde 
andauerte. Erbrechen wurde nie beobachtet. Patient, der seit 

Jahrbüclitr f. Pnychiatric und Neurologie. XV. Bd. Ol 


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314 


Dr. J. v. Scsrpatetti. 


drei Wochen an leichterer Harnverhaltung litt, wurde seit 
vier Tagen katheterisirt. 

M. delirirte dann durch mehrere Tage, bald sprach er voll¬ 
ständig unzusammenhängend, bald konnte er gar kein Wort 
hervorbringen und deutete nur. 

In der Nacht vom 26. auf 27. April 1896 wurde der Kranke 
von der Nachtwache angetroffen, wie er in vollständig ver¬ 
wirrtem Zustande am Waschtisch ein Lavoir zu Boden warf. 
Wie er die Strecke bis zum Waschtisch zurücklegte, konnte 
nicht in Erfahrung gebracht werden. Thatsächlich konnte Patient 
mit Unterstützung des Wärters in ganz kleinen Schritten in 
unerwarteter Weise ins Bett zurückgeführt werden. 

In den letzten drei Tagen lag M. grösstentheils in Agonie. 
Nur für Momente schien er etwas klarer und machte Versuche 
zu sprechen, wobei er aber nur unartikulirte Laute hervor¬ 
brachte. 

Am 3. Mai 1896 trat Exitus letalis ein. 

Obduction am 5. Mai 1896 (29 Stunden nach dem Tode). 

(Herr Ordinarius Dr. Raab.) 

Aus dem Obductionsprotokolle sei im Besonderen hervor¬ 
gehoben: Das Schädeldach dünnwandig, leicht, regelmässig 
gebaut, 173:144 Millimeter. Die Dura gespannt, sonst normal. 
Die Meningen im Allgemeinen zart, blutreich, leicht abziehbar. 
In der Sylvi'sehen Furche, über den Inselwindungen und den 
angrenzenden Partien des linken Gehirns erscheint die Meninx 
verdickt, getrübt und von zahlreichen Knötchen durchsetzt. Die 
Gehirnrinde röthlich grau, glatt, weich, die Windungen regelmässig 
angeordnet, breit; die Marksubstanz weich, von zahlreichen 
confluirenden Blutpunkten durchsetzt. Die Ventrikel weit, mit 
einer trüben Flüssigkeit gefüllt. Das Ependym verdickt und 
granulirt. In den grossen Ganglien und dem Kleinhirn nichts 
Besonderes. Bei Eröffnung des Wirbelcanales findet sich im 
Körper des achten Brustwirbels eine von rauhen Rändern um¬ 
gebene Oeffnung, aus der dicker gelber Eiter quillt. Entsprechend 
dieser Oeffnung im Wirbelkörper findet sich hinter der Dura 
mater des Rückenmarkes ein Eiterherd, der das Rückenmark 
von aussen und von vorn nach hinten umspült. Durch diesen 
Eiterherd, der nur wenige Gramm betragen haben mochte, zog 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


315 


ein wenige Millimeter dicker Strang paraduralen Fettes, der bei 
der mikroskopischen Untersuchung als mit bindegewebigen 
Strängen reichlich durchsetzt angetroffen wurde. Von den 
übrigen Sectionsbefunden sei hier nur mehr die beiderseitige 
Pleuritis mit Schwartenbildung und Lungentuberculose er¬ 
wähnt. 

Die Section hat demnach ausser der tuberculösen Menin¬ 
gitis der linken Fossa Sylvii einen tuberculösen Process im 
achten Brustwirbel ergeben, der wohl wahrscheinlich zugleich mit 
der tuberculösen Pleuritis entstanden ist, weil der Kranke seit 
damals sich im Rücken krank fühlte. Der Zeitpunkt, wann der 
Erguss in die Rückenmarkshöhle auftrat, konnte mit Genauig¬ 
keit nicht festgestellt werden, da die Schmerzen und die übrigen 
subjectiven Symptome ganz allmählich begonnen hatten. Die 
motorische Aphasie wurde durch den Befund der mit starker 
Verdickung einhergehenden tuberculösen Meningitis an der linken 
Fossa Sylvii hinreichend erklärt. Für die Paranoia und die be 
stehende Pupillenungleichheit hat die Obduction keinen Auf¬ 
schluss ergeben. 

Mikroskopische Bearbeitung. 

Das Rückenmark wurde in Müller'sehe Flüssigkeit gelegt 
und nach 16 Tagen mit der Untersuchung desselben nach Marchi 
begonnen. Die nähere Betrachtung desselben lehrte, dass die 
Dura an der äusseren Fläche, welche der Eiterung aus dem 
Knochen entsprach, leichte entzündliche Veränderungen zeigte. 
Besonders an dieser Stelle war ein feines bindegewebiges Netz 
ausgespannt, in welchem der fettige Strang eingebettet und 
vielfach verwickelt war. Die zarten Rückenmarkshäute erwiesen 
sich nur wenig verdickt und von relativ grosskalibrigen Ge¬ 
wissen durchzogen, welche hie und da geschlängelt aussahen. 
Die Lymphscheiden schienen etwas erweitert. 

Das Rückenmark selbst erschien äusserlich von normaler 
Configuration ohne Einschnürung oder Erweichung und von 
durchwegs gleicher Consistenz. 

Wir begannen die mikroskopische Untersuchung von oben 
nach unten. Der oberste Schnitt betraf die Höhe des zweiten 
Cervicalnervens. Hier fand sich die in Tafel Nr. V abgebildete 
aufsteigende Degeneration, welche nun nach abwärts verfolgt 

21 * 


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Dr. J. v. Scarpatetti. 


wurde. Es waren degenerirt die beiden Goll’sfchen Stränge und 
die beiden Kleinliirnseitenstrangbahnen. 

Im Areal der Go wer s'sehen Bahn waren wenige schwarze 
Punkte erkennbar, welche ohne Demarcationslinie sich an die 
Entartung in den Eieinhirnseitenstrangsbahnen anschloss. Gegen 
das untere Ende des Brustmarkes begannen auch im Areal der 
kurzen Bahnen, welche der grauen Substanz grösstentheils an¬ 
gelagert sind, schwarze Punkte aufzutreten,undauf Schnitten, welche 
der Höhe des siebenten und achten Brustnerven entsprechen, wurde 
in den kurzen Bahnen ein ziemlich scharf gegen die Umgebung 
abgrenzbares schwarzes Feld sichtbar, welches auf Tafel V, 
Nr. 5, ungefähr wiedergegeben ist. Dieses Feld grenzt nach 
rückwärts an das Areal des betreffenden Pyramidenseitenstranges 
nach aussen an die Kleinhirnseitenstrangsbahn und geht in diese 
über, nach vorne an ein Areal, das noch kürzeren Bahnen an¬ 
gehört, welche in dieser Höhe bereits wieder ausgetreten sind. 
Allmählich tritt am ganzen Querschnitt mit Marchi-Färbung 
nachweisbarer Zerfall auf. Dazu gesellen sich Fasern, deren 
Markscheiden zum Theile sehr stark gequollen sind und alle 
möglichen Formen am Querschnitt annehmen, während der 
Axencylinder oft nicht kennbar verändert erscheint. 

Die graue Substanz hebt sich weiter herunter nicht mehr 
so scharf von der Umgebung ab, wohl wegen der zahlreichen, 
feinsten schwarzen Pünktchen, die sich in ihr eingelagert haben. 
Doch lassen sich die Contouren noch immerhin deutlich erkennen. 
Die zahlreichen, durch diese Stelle geführten Längsschnitte, um 
den Faserverlauf in der grauen Substanz zu studiren, haben 
mir keinen eindeutigen Befund ergeben. 

In der Gegend des achten bis zehnten Brustnerven 
erscheinen die meisten schwarzen Schollen am Querschnitte. 
Präparate aus dieser Höhe zeigen mit Marchi-Färbung besonders 
in den Hinter- und Pyramidenseitensträngen unregelmässig ge¬ 
stellte, von oben nach unten rasch sich verändernde, inselförmig 
angehäufte Zerfallsproducte, und oft wie ein Keil gegen die 
graue Substanz vorspringende, schwarz punktirte Felder. Die 
graue Substanz zwar weniger scharf als weiter oben gezeichnet, 
ist noch immer nach allen Seiten hin deutlich abgrenzbar und 
von fast normaler Configuration. Nur das Areal der Clarke-* 
sehen Säulen erscheint merklich vergrössert und mit stärkeren 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


317 


schwarzen Pünktchen durchsetzt. Die Zahl der Ganglienzellen 
scheint an manchen Stellen sehr reducirt, so dass an manchen 
Schnitten gar keine anzutreffen ist. An anderen nahegelegenen 
Schnitten ist ihre Zahl ungefähr normal. Die Ganglienzellen er¬ 
scheinen mit verschiedenen Färbemethoden, welche nach Chrom¬ 
härtung möglich sind, grösstentheils atrophisch, zum Theile so 
stark, dass nur mehr die charakteristischen Pigmentanhäufungen 
Kunde von ihrer früheren Existenz geben. 

Der Zellleib ist verkleinert, Kerne sind nur selten und 
undeutlich nachweisbar, Fortsätze sind meist nicht auffindbar. 
In den Clarke’schen Säulen ist die Masse der schwarzen 
Punkte eine abnorm starke; hierdurch hebt sich dieses Zell¬ 
gebiet noch besonders in der grauen Substanz deutlich ab. Be¬ 
sonders um diese herum finden sich wie Marksteine herum¬ 
gelagert, zahlreiche starkwandige Gefässe. Durch die Contour- 
vergrösserung der Clarke’schen Säulen, welche wie Wulste in 
die Hinterstänge hineinragen, erhalten diese eine fast abge¬ 
spitzte Configuration. Auf einigen Schnitten reicht der erwei¬ 
terte von oben nach unten zusammengepresste Centralcanal bis 
zu den Clarke’schen Säulen heran. Hierdurch wird das Bild 
der Syringomyelie nachgeahmt. Das Epithel der bald längsspalt¬ 
förmig, bald röhrenförmig, bald querspaltförmig aussehenden 
Röhre ist an einzelnen Präparaten sehr schön zu sehen, an an¬ 
deren nicht. Unter den von Stephan Dimitroff 1 ) in seinem 
Aufsatze über Syringomyelie zusammengestellten Fällen findet 
sich nur ein einziger Fall, wo die Rückenmarkshöhle bald mit, 
bald ohne Epithel ausgekleidet war wie Nr. 17 (II). Die nähere 
Betrachtung der Präparate ergab, dass da, wo stärkerer Druck 
stattgefunden hatte, kein Epithel anzutreffen war. 

Einen weiteren pathologischen Befund, der besonders 
deutlich an Längsschnitten hervortrat, boten die erweiterten 
Lymphräume besonders um die Gefässe herum. Auch die ein¬ 
zelnen Nervenfasern schienen oft unter sich selbst gelockert 
und auseinander gedrängt. 

Die in der Höhe des siebenten und achten Dorsalnerven- 
paares eintretenden und austretenden Nerven erwiesen sich 
grösstentheils degenerirt. Auf Marchi-Präparaten erschienen 


*) Archiv für Psychiatrie, XXVIII. Band, 2- Heft. 


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Dr. J. v. Scarpatetti. 


schwarze Schollen unter ihnen und auf Pal-Schnitten fehlten die 
sich blaufärbenden Markscheiden in auffallender Weise. 

Weniger stark als in den Nerven liessen Hämatoxylin- 
farbungen die mit Marchi so deutlich nachweisbare Entartung 
am Querschnitte des Rückenmarkes erkennen. Ja, so geringgradig 
war die Entartung des einzelnen Fasersystems am Querschnitte 
z. B. mit Pal-Färbung zu erkennen, dass ein ungenauer Beob¬ 
achter sie hätte übersehen können. Weiter nach unten begann 
die Zahl der schwarzen Punkte in den kurzen Bahnbezirken 
sich wieder zu vermindern, während die beiderseitige absteigende 
Pyramidenbahn sich immer mehr herausdifferenzirte, bis zum 
völligen Schwinden der Degenerationsproducte in den übrigen 
Theilen. 

Nur in den Hintersträngen verschwindet nicht ganz ein 
Bild der Entartung, welches der nach oben aufgetretenen fast 
gar nicht gleich sieht. Es finden sich auf Schnitten durch den 
elften und zwölften Brust- und ersten Lendennerven über beide 
Fasergruppen der Goll’schen und Burdach’schen Stränge 
zerstreut kleine, etwas voneinander abstehende schwarzp 
Punkte, welche sich in keinerlei Weise zu einem System ab¬ 
grenzen lassen. Die Erklärung dieser ungewöhnlichen Degene¬ 
ration ergibt sich auf Schnitten durch den zweiten und dritten 
Lendennerven. Hier hat sich im linken Vorderhorn ein Tuberkel 
breit gemacht, der von oben nach unten etwas in die Länge 
gezogen, das linke Vorderhorn in dieser Ausdehnung fast ganz 
zerstört, die linke Hälfte des Rückenmarkes und die an der 
Peripherie gelegenen Fasern so an die Umgebung und indirect 
an die knöcherne Rückenmarkshülle anpresst, dass auf Pal- 
Schnitten eine fast weisse Randzone überbleibt. Sofort in die 
Augen springt die starke Volumsbeeinträchtigung auch der 
rechten Rückenmarkshälfte am Querschnitte. Hier erscheinen die 
an der Peripherie gelegenen Fasersysteme in Folge des Druckes 
durch den Tumor entartet, die mehr medial gelegenen aber so 
gegen die graue Substanz verschoben, dass diese fast unkennt¬ 
lich wird, und nur durch die im Uebrigen nicht kennbar ver¬ 
änderten Ganglienzellen angedeutet wird. Der Tuberkel, dessen 
Grösse im Querschnitte beiläufig auf der Zeichnung Nr. 8 ange¬ 
deutet ist, erweist sich im Inneren verkäst, er ist am Rande 
von vielen, zum Theile stark infiltrirten Gefässen durchzogen 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


319 


and lässt durch die starke Bindegewebseinlagerung nur ein 
langsames Wachsen errathen. Die schönste Färbung dieser 
Schnitte erhielt ich mit der Färbung von Vassale, die ganz 
ausgezeichnete Bilder lieferte, wenn man sie nur wenig modifi- 
cirte. 1 ) 

Interessant gestalten sich die Ganglienzellen in der Gegend 
des Tuberkels. Manche Ganglienzellen schienen, trotzdem die 
neugebildeten Massen sie schon vollständig eingeschlossen 
hatten, noch sehr wenig verändert. Ja an einer ganz in der 
Neubildung nahe an verkästen Partien liegenden Vorderhornzelle 
konnte noch deutlich ein Fortsatz und das Vorhandensein des 
Kernes nachgewiesen werden; an einer anderen der Kern ohne 
Fortsätze, ein Beweis, wie widerstandsfähig Ganglienzellen 
gegen tumorösen Druck und andere Einflüsse und Schädi¬ 
gungen sind. Die hintere Commissur, sowie die vordere blieb 
noch erhalten, doch griff ein Arm der Neubildung bereits gegen 
die linke Seite vor. 

Am stärksten haben die Fasersysteme der Hinterstränge 
durch den Druck des Tuberkels gelitten. Dieselben sind nicht 
nur am Rande, sondern in ihrer ganzen Ausdehnung stark 
atrophisch und degenerirt. Dieser Befund ist insofern interessant, 
als die am stärksten dem tumorösen Druck ausgesetzten Vorder¬ 
stränge fast gar keine degenerativen Veränderungen zeigen, ein 
neuer Beweis dafür, dass bei Druckzunahme im Wirbelcanale 
zuerst die Hinterstränge der Entartung anheimfallen. 

*) Nicht allzu lange in Müll er’scher Flüssigkeit gelegene, in Alkohol 
nachgehärtete, eventuell noch in 5procentige Formollösung gelegte Stückchen 
werden in Celloidin geschnitten und die Schnitte in frisch bereitete lprocentigo 
Hämatoxylinlösung für 3 bis 5 Minuten gebracht; hierauf für ebenso lange 
in concentrirte neutrale Kupferacetatlösung, dann einen Moment ausgewaschen, 
in auf ein Drittel verdünnte Weigert’sche Differenzirungsflüssigkeit gebracht 
und nachher noch in fast concentrirte Lithionlösung gelegt. Durch letztere 
Procedur werden die wie Weigert-Schnitte aussehenden Tinctionen noch so 
verändert, dass die Markscheiden dunkelblau, die Kerne und Blutkörperchen 
schwarz, die ^wisehensubstanz grau, röthlieh oder weiss, die Ganglienzellen durch¬ 
scheinend gelb und die Kerne derselben schwarz erscheinen. Besonders zum 
Studium der Gefässvertheilung an der Gehirnrinde empfiehlt sich die Methode, 
da der schwarze Gefässinhalt sofort auffällt. Eine andere der Pal’sehen an 
Färbung ganz ähnliche Methode, die leicht, rasch und bequem gelingt, ist die 
Osmium-Pyrogallusmethode von Heller. Sie gibt scharfe Bilder, ohne Degene¬ 
rationen irgendwie besonders zu markiren. 


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Dr. J. v. Scarpatetti. 


Die unter dem Tumor geführten Schnitte bestätigen die 
schon vorher gemachten Annahmen. Die Veränderungen an den 
Nerven der kurzen Bahnen verschwanden nach einigen Segmenten 
ziemlich rasch, und die schwarzen Schollen der Pyramiden¬ 
seitenstrangsbahnen blieben in unveränderter Stärke an ihrer 
Stelle. Dagegen erschien von hier ab eine neue Bahn im Quer¬ 
schnitte der Hinterstränge nach abwärts degenerirt, welche 
rechts und links gleich stark, anfänglich am hinteren Rande 
der Goll’schen Stränge, dann gegen die Ecke am hinteren 
Septum hinzog, dann abwärts sich gegen dasselbe hinauf aus¬ 
dehnte, und auf den letzten Schnitten durch das Sacralmark 
durch wenige grosse schwarze Punkte am hintersten Ende des 
Markes leicht kenntlich wurde. 

In den degenerirten Partien der kurzen Bahnen fiel die 
unverhältnissmässig grössere Zahl schwarzer Schollen der 
rechten Seite im Verhältnisse zur linken auf. Dieselben rühren 
zweifelsohne von der stärkeren Druckwirkung und Zerstörung 
mehrerer Fasern auf der Seite des Tuberkels her, und gibt 
dieser Befund einen Beweis für die noch immer angezweifelte 
Genauigkeit der Marchi-Färbung. 

Kritische Besprechung des Falles. 

Die in der Höhe des achten Brustwirbels aufgetretene 
Läsion des Rückenmarkes, welche mit Marchi-Färbung einen 
den ganzen Querschnitt diffus einnehmenden Degenerationsprocess 
darstellt, von dem aus nach oben und unten secundäre Degene¬ 
rationen abgingen, wurde von pathologisch-anatomischer Seite als 
nicht durch die Compressionswirkung des Eiters entstanden 
bezeichnet. 1 ) Freier in die Rückenmarkshöhle eintretender Eiter 
sei nicht im Stande, eine Compression auszuüben. Für die Com- 
pressionsmyelitis fehlten die entzündlichen Veränderungen oder zum 
mindesten die Entartung aller Theile des Querschnittes, Zugrunde¬ 
gehen und Formveränderung der grauen Substanz u. s. w. 
Der oben beschriebene Process sei vielmehr als Giftwirkung 
oder als Fernwirkung von Seite des Tuberkels zurück¬ 
zuführen. 


') Herr Professor Pommer war so liebenswürdig, die vorliegende Beob¬ 
achtung mit mir zu discutiren. 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


321 


Ich selbst halte den in der Höhe des achten Brustwirbels 
aufgetretenen Process als durch den Druck des dicken gelben 
Eiters und eventuell der verdickten Häute und die entzündliche 
Exudation der gesammten Umgebung auf den Rückenmarks¬ 
querschnitt hervorgerufen. Ob hierbei eine theilweise Verlegung 
und Verschluss der einzelnen Gefässe zu Stande kam, und hierdurch 
die degenerativen Veränderungen auftraten, wie dies Hoche 
für seinen diesbezüglich ganz ähnlichen ersten Fall annimmt, 
vermag ich nicht zu beurtheilen. Ich glaube, dass einerseits 
directe geringgradige Druckwirkung, andererseits die hierdurch 
hervorgerufene Gefässverlegung die Ursache dieser fast nur mit 
Marchi-Färbung nachweisbaren Veränderungen im Nerven¬ 
systeme ist. Für die directe Druckeinwirkung sprechen die 
Markscheidenquellungen, für die Gefässverlegungen die insel¬ 
förmige Anordnung der einzelnen dichteren Schollen, die oft den 
Charakter der Keilform annahmen. Für die Annahme der Druck¬ 
wirkung spricht weiter der Umstand, dass die Compressionserschei- 
nungen mit Marchi-Färbung am ganzen Querschnitt nur an der der 
Eiterumspülung correspondirenden Stelle und Ausdehnung nach¬ 
weisbar waren. Weiterhin der in anderen Fällen bei ganz kurz 
dauernder Compression durch Wirbeldislocation gefundene 
gleiche Querschnittsbefund (Hoche’s zweiter Fall). 

Die beschriebenen Erscheinungen allein auf Giftwirkung 
zurückzuführen, halte ich für zu theoretisch, wenngleich Gift¬ 
wirkungen wohl eine Mitursache für das Auftreten der degene¬ 
rativen Veränderungen sein dürften. Die Annahme, dass die 
Querschnittsläsion als Fernwirkung durch den Tuberkel zu be¬ 
trachten sei, ist aus dem Grunde unwahrscheinlich, weil die 
Querschnittsläsion in keinem sichtbaren Zusammenhänge mit 
der Neubildung steht, und im Gegentheile eine absteigende De¬ 
generation dazwischen geschoben sich findet. Sie steht aus 
dem Grunde vielmehr in Zusammenhang mit dem Drucke des 
Eiters. 

Insoferne der Tuberkel den vollständigen Verschluss des 
Centralcanales bewirkt hat und hierdurch nach oben eine 
Stauung im Centralcanale, dürfte wohl die Annahme einer in- 
directen, von innen her den Druck von aussen begünstigenden 
(centroperiphären) Druckes Wirkung nicht von der Hand zu 
weisen sein. Dieser durch Stauung von unten her entstandene 


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Dr. J. v. Searpatetti. 


Druck gibt uns zugleich die Aufklärung für den anfänglich 
unerklärlich scheinenden Befund am Centralcanale, insoferne 
er in der Ausdehnung der Compressionserscheinungen unregel¬ 
mässig erweitert war. 

Demnach scheint für das Auftreten der Druckerscheinungen 
im Rückenmark für unseren Fall die Eiterung in den Rücken¬ 
markscanal verantwortlich zu sein, wobei die Fernwirkung und 
Giftwirkung durch den Tuberkel wohl als begünstigende Mo¬ 
mente mitgewirkt haben werden. 

So verhältnissmässig leichte, den ganzen Querschnitt diffus 
durchsetzende, mit Hämatoxylinfärbung gar nicht oder kaum 
nachweisbare Veränderungen im Rückenmark dürften wahr¬ 
scheinlich bestehen in Fällen von acut auftretender Lähmung 
der Extremitäten, bei rapid auftretenden Compressionen, welche 
durch Extensivverbände bald wieder behoben werden können. 
Von diesen geringgradigen Störungen schreibt Hirt 1 ) in seinem 
Lehrbuch der Nervenkrankheiten wörtlich: „Der anatomische 
Process, der hier in Betracht kommt, kann ein kaum 
nachweisbarer sein, selbst wenn im Leben die schwersten 
Lähmungserscheinungen bestanden haben. Dies findet sich 
namentlich bei Drucklähmungen des Rückenmarkes, wie sie 
durch Wirbelerkrankungen bedingt werden.” 


Bahnen. 

Seit der Anwendung des Marchi’schen Reagens zum Studium 
der auf- und absteigenden Bahnen hat sich in der Literatur über 
Compressionsmyelitis und der Druckatrophien eine eigene Gruppe 
der Literatur herausgebildet, welche in Hoche 2 ) und Egger 3 ) 
genau verzeichnet und besprochen ist, und deshalb hier nur durch 
Aufzählung der Autoren näher hervorgehoben werden soll. Die 
herabsteigende Degeneration der hinteren Stränge haben 


') Ludwig Hirt .Pathologie und Therapie der Nervenkrankheiten, H. Theil. 
Urban und Schwarzenberg 1891. 

2 ) A. Hoche, Ueber secundäre Degeneration, speeiell des Gowers'schen 
Bündels nebst Bemerkungen über das Verhalten der Reflexe bei Compression des 
Rückenmarkes. Archiv für Psychiatrie, XXVII. Band, 2. Heft. 

Ueber totale Compression des obereu Dorsalmarkes. Archiv für Psychiatrie, 
XXVII. Band, 1. Heft. 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


323 


Schultze, 1 ) v. Flechsig, 2 ) Eisenlohr, 3 ) Kröger, 4 ) Daxen- 
berger, 5 ) Barbacci, 6 ) Gombault und Philippe 7 ) genauer 
studirt; die Druckwirkungen der Compression vonRosenbach und 
Schtscherbak, 8 ) Kahler und Kraus. Nach ihnen entsteht 
die Compression hauptsächlich in der Stauung der Cerebro¬ 
spinalflüssigkeit. Die hohe Bedeutung dieser Stauung für das 
Zustandekommen der Compression muss auch für unseren Fall 
noch nachträglich besonders hervorgehoben werden. 

Unser Fall eignet sich nicht besonders zum Studium der 
Rückenmarksbahnen; doch sei das Ergebniss kurz repetirt. 
Nach oben degenerirten: 

1. Die Burdach’schen Stränge durch circa drei Seg¬ 
mente. 

2. Die G oll'scheu Stränge ihrer ganzen Ausdehnung nach, 
so weit das Rückenmark conservirt wurde, und in der bekannten 
Weise. 

3. Die Kleinhirnseitenstrangsbahn unverändert bis ans 
Ende des Rückenmarkes. 

4. Die Gowers’sche Bahn bis in die obersten Antheile des 
Halsmarkes. Hier fand sich die Anzahl der zerstreuten schwarzen 
Punkte entschieden vermindert. Dieser Befund ist demnach dem 
Schaffer’schen 9 ) gleichlautend. 

9 Schultze, Beitrag zur Lehre von der secundären Degeneration iin 
Rückenmarke des Menschen, nebst Bemerkungen über die Anatomie der Tabes. 
Archiv für Psychiatrie, XIV. Band, 14. Aufsatz. 

2 ) P. Flechsig, Die Leituugsbahnen im Gehirn und Rückenmark bei 
Wilhelm Engelmann, Leipzig 1876. 

„ 3 ) C. Eisenlohr, Meningitis spinalis chronica der Cauda equina mit 

secundärer Rückenmarksdegeneratiou, wahrscheinlich syph. Ursprunges. Neuro¬ 
logisches Centralblatt 1888, Nr. 4. 

4 ) A. Kröger, Beiträge zur Pathologie des Rückenmarkes, Inaugural- 
Dissertation (Klinik Professor Schultze, Dorpat 1888). 

5 ) Daxenberger, Compression des Rückenmarkes. Deutsche Zeitschrift 
für Nervenheilkunde, XIV. Band, 1893, 136 Seiten. 

6 ) Barbacci, Los sperimentale giornale medico; anno quarantacinque 
(Memorie originale), 1891. 

7 ) Archive de medicine experimentale et d’anatomie pathol. 1894. 

8 ) Rosenbach und Schtscherbak, Experimentelle Untersuchungen 
über die sogenannte Myelitis ex compressione. Congress russischer Aerzte in 
St. Petersburg 1889. 

9 ) Schaffer, Beitrag zur Histologie der secund. Deg. Zugleich ein 
Beitrag zur Rückenmarksanatomie. Arch. f. mikr. Anatomie, XL11I. Baud. 


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Dr. J. v. Searpatetti. 


Die zahlreichen in dieser Höhe geführten Längsschnitte 
Hessen jedoch kein Abbiegen der degenerirten Nervenfasern 
gegen die graue Substanz hin erkennen, wie dies Ho che ver- 
muthete. Deutliche kettenförmige Anordnung der schwarzen 
Punkte war nur im Bereiche der hinteren Commissur kenntlich, 
welche Degeneration auch einen anderen Zusammenhang haben 
kann. Nur einmal konnte eine degenerirte Faser bis ins Seiten¬ 
horn beobachtet werden; dagegen fand sich Anlagerung der 
schwarz punktirten Striche an die graue Substanz des Hinter¬ 
holmes sehr häufig, ja liess sich sogar bis in dieselbe hinein ver¬ 
folgen. Demnach scheinen die Gowers’schen Stränge zu den 
Kleinhirnseitenstrangsbahnen in ähnlichem Verhältnisse zu.stehen, 
wie die Burdach’schen zu den Groll’schen Strängen. 1 ) 

5. Eine oben näher beschriebene Bahn vor den Pyramiden¬ 
seitenstrangsbahnen durch circa drei Segmente, welche Ho che 
mit „Fasern in den Seitensträngen keinem benannten Systeme 
angehörend” bezeichnet. Die Zeichnung D 6 und D 5 entspricht 
genau bezüglich dieser Bahn unserer Nr. 5. 

Nach abwärts degenerirten vom Tuberkel aus: 

1. Die Pyramidenseitenstrangsbahn bis ins unterste Sacral- 
mark, rechts etwas stärker als links. 

2. Die oben genauer beschriebene Bahn, vom Tuberkel 
abwärts bis ans Ende des Rückenmarkes. 

3. Kurze Bahnen an der Peripherie des Rückenmarkes 
vom Tuberkel aus; auf der Seite des Tuberkels stärker als auf 
der anderen; durch wenige Segmente. 

Zwischen Compressionsstelle und Tuberkel nach ab- und 
aufwärts: 

1. Die absteigende Pyramidenbahn. 

2. Die Groll’schen und Burdach’schen Stränge durch 
auf- und absteigende lange und kurze Bahnen. 

3. Kurze Bahnen in den Vorder- und Seitensträngen. 

Die Schultze’sche Commabahn lässt sich unter der tuber- 
culösen Neubildung herunter nicht mehr auffinden; demnach 
erscheint dieser Fall für die Beantwortung der Frage, ob die 


*) Die Schnittriohtung dieser Längsschnitte ist in der Zeichnung Nr. 1 
(a—b) angegeben. 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


325 


Schultze’sche Bahn mit der Hoche’schen Bahn identisch ist 
und nur eine Fortsetzung derselben darstellt, nicht tauglich. 

Wenn im Vorausgehenden von den Degenerationen der 
Bahnen die Rede ist, so ist dieser Ausdruck insoferne nicht 
ganz richtig, als eine vollständige Zerstörung der betreffenden 
Bahn nach meinen Befunden nicht stattgefunden hat. Es finden 
sich nämlich hei genauerem Zusehen zwischen den schwarzen 
Punkten auf Querschnitten noch immer recht viele normal er¬ 
scheinende, wenn auch verhältnissmässig kleine Nervenfaser¬ 
durchschnitte; und auf Längsschnitten gelingt es, manche Nerven¬ 
fasern durch mehrere Gesichtsfelder zu verfolgen, ohne in ihnen 
auch nur einen schwarzen Punkt aufzufinden, auch an Schnitten, 
die gerade durch die stärkste Ansammlung von schwarzen 
Punkten am Querschnitte geführt sind. Eine Ausnahme hiervon 
machte nur die aufsteigende Degeneration in den Goll’schen 
Strängen, die so bedeutend war, dass der ventrale Rand 
der Degeneration fast gar keine normale Nervenfaser er¬ 
kennen liess. 

Vielleicht gibt uns dieser Befund eine Erklärung für die 
in der Nacht des 26. April im deliranten Zustande unternommene 
Wanderung zum Lavoir und Waschkasten. Da diese Wanderung 
sicher constatirt ist bei einem Patienten, der activ die Beine 
nicht bewegen konnte, und bei dem die Section eine so hoch¬ 
gradige Degeneration in den Pyramidenbahnen aufdeckte, so 
mag dieser Vorfall als ein neues Beispiel für die noch uner¬ 
klärlichen Zustände des Uebergewichtes der Gehirnleistungen 
in Ausnahmszuständen im Verhältnisse zu den gewöhnlichen 
Willensleistungen hier angeführt werden. Ein Zustand ausser¬ 
ordentlicher Reizung der Gehirnoberfläche mag in diesem Falle 
im Stande gewesen sein, die wenigen nicht degenerirten Fasern 
in den Pyramiden zu solcher Kraftleistung anzuspannen. 

Die klinischen Symptome sind mit dem pathologisch ana¬ 
tomischen Befunde in Einklang zu bringen: Das Bestehen eines 
von der Erkrankung im Gehirn direct unabhängigen und schon 
mehr als ein Jahr bestehenden Rückenmarksaffection wurde 
besonders durch die Schmerzhaftigkeit bei Druck auf die unteren 
Wirbel, durch die Paraplegie und durch die für die Höhe der 
Läsion passenden anderen Symptome zur Gewissheit. Dagegen 
war uns die Verschiedenheit und das Doppelte der Erkrankung 


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Dr. J. v. Searpatetti. 


entgangen. Nach Herter, 1 )'der 25 Fälle von Tuberkelbildung 
im Rückenmark zusammenstellte, war das älteste Individuum 
43 Jahre alt. Eiu Fall sei symptomlos verlaufen; sonst be¬ 
standen meist einseitige Schmerzen und Lähmungserscheinungen, 
bald darauf Betheiligung der anderen Seite durch Uebergriff 
auf dieselbe. Schnell traten Lähmungen mit intercurrenten, 
spastischen Erscheinungen und mit Anästhesien und Hyper¬ 
ästhesien auf, die mehr auf Lähmungs- als Reizungserschei¬ 
nungen zu beziehen sind. Nach Hayem ist der Sitz der 
Tuberkel vorwiegend im Lendenmark. In der Mehrzahl der 
Fälle besteht wegen der kurzen Dauer keine Degeneration. 
Dieses Gesetz fand Herter nicht begründet, dagegen con- 
statirt auch er die solitäre Tuberkelbildung als Regel für das 
Auftreten der Tuberculose im Rückenmarke. 

Nachträglich müssen wohl die subjectiven Symptome von 
Geschwollensein, die Kältegefühle, die Par- und Anästhesien 
auf den Tuberkel bezogen werden. Da die Schmerzen und Par- 
ästhesien ursprünglich bis zur Lendengegend und erst all¬ 
mählich bis zur Brustbeinhöhe hinaufsteigen, muss die tuber- 
culöse Erkrankung zeitlich vor die compressiven Erscheinungen 
gestellt werden. 

Interessant gestalteten sich die Reflexe. Dieselben fehlten 
in vielen Fällen von Compressionsmyelitis, die in letzterer Zeit 
publicirt wurden, oder waren herabgesetzt. In anderen Fällen 
waren sie gesteigert bis fast zum Exitus. Unzweifelhaftes Fehlen 
haben Bastian 2 ) und Bruns 3 ) in Fällen von Compressions¬ 
myelitis, die über dem Reflexbogen localisirt war, constatirt, 
und Hoche 4 ) vermuthet, dass es sich um die vollständige oder 
unvollständige Querschnittsläsion handelt in Fällen, wo der 
Patellarreflex fehlt oder nicht. Nach dieser Richtung hin ist die 


J ) A contribution to the pathologie of solitary tubercle of the spinal cord. 
Journal of nervous and mental disease. XV, 1890. Referat des Neurolog. Central¬ 
blattes. 

2 ) On the symptomato logie of total transverse lesions of spinal cord with 
reference to the condition of the various reflexes. Medical Chirurgieal Transactions 
1890 (Referat). 

3 ) Ueber einen Fall totaler traumatischer Zerstörung des Rückenmarkes an 
der Grenze zwischen Hals und Dorsalmark. Archiv f. Psychiatrie XXV, Nr. 29. 

4 ) L. c. 


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Befund von Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


327 


vorliegende Beobachtung nicht brauchbar, da einerseits der 
Tuberkel das rechte Vorderhorn einnahm, andererseits eine 
solche Compression zu Stande kam, dass der Fall nicht mehr 
rein erscheint. 

Links, entsprechend der Lage des Tumors, fehlte der Pa¬ 
tellarreflex, und beim Beklopfen der linken Quadricepssehne 
sprang der Reiz auf die rechte Seite über, um hier einen etwas 
herabgesetzten Patellarreflex auszulösen. Beim Beklopfen der 
rechter Sehne wurde ein etwas herabgesetzter Patellarreflex 
ausgelöst. Dieser Befund musste schon intra vitam den Ge¬ 
danken an eine Leitungsunterbrechung im Bereiche des linken 
Kniesehnenreflexbogens nahelegen, mit der Vermuthung auf Er¬ 
haltensein der Commissuren zur Weiterleitung des Reizes auf 
die rechte Seite. Dieses übrigens wiederholt beobachtete Ueber- 
springen eines Anreizes auf die andere Seite erinnert nur in 
viel einfacherer Weise auf einen Fall tumoröser Substitution 
des Vierhügels und des linken Thalamus opticus, der auf der 
Klinik Professor An ton’s in Innsbruck zur Beobachtung kam 
und von mir veröffentlicht wurde. 1 ) Damals fand sich gesteigerte 
reflectorische Erregbarkeit in der rechten Körperhälfte, herab¬ 
gesetzte in der linken, und Ueberspringen eines Reizes von 
links nach rechts. Die willkürlichen Bewegungen waren leidlich 
erhalten. Pathologisch-anatomischer Befand: Tumor des linken 
Thalamus opticus (die Vierhügel kamen nicht in Betracht) und 
der senilen Atrophie ähnliche Entartung der Gehirnrinde, die 
aber die willkürlichen Bewegungen wesentlich nicht beein¬ 
trächtigt hatte. 

Der diesmalige objective Befund ergab: Fehlen des Reflexes 
und der reflectorischen Erregbarkeit links mit Ueberspringen der 
Reize nach der rechten Seite bei theilweiser Unvermögenheit, will¬ 
kürlich die Beine zu bewegen. Dieser Befund ist demnach 
sowohl in klinischer wie in pathologisch-anatomischer Hinsicht 
dem damaligen sehr ähnlich und nur viel vereinfachter. Durch 
ihn erhält die von Anton 2 ) mitgetheilte Ansicht, dass die 
Thalami optici Centren für die Coordination und ein Regulativ 

0 Ein Fall von Sarkom der Vierhügel und des linken Thalamus opticus. 
Jahrbücher f. Psychiatrie 1895, 1. u. 2. Heft. 

2 ) Ueber Betheiligung der grossen basalen Ganglien bei Bewegungs¬ 
störungen. Wiener Klin. Wochenschrift 1893. 


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328 


Dr. J. v. Scarpatetti. 


für die Bewegungsanreize seien, eine Stütze und die damals 
schon ausgesprochene Vermuthung, dass einfachere Verhältnisse 
auch in anderen speciell niederen Ganglien, z. B. in den Vorder¬ 
hörnern der grauen Substanz bestehen, wird durch den vor¬ 
liegenden Fall geradezu bewiesen. 

Als Substrat für die Möglichkeit des Ueberspringens des 
Reflexes nach der anderen Seite fand sich, wie oben angedeutet, 
auch auf Schnitten durch die grösste Ausdehnung des Tuberkels 
das Erhaltensein der Commissuren. 

Auffallend und mit dem pathologisch-anatomischen Befund 
der Zerstörung eines Vorderhornes nicht im Einklänge stand 
der relativ gute Ernährungszustand des linken Beines, das dem 
rechten auch an Umfang nicht nachstand. Es ist auffallend, 
dass Herter 1 ) bei Aufzählung seiner 25 Fälle hierüber keine 
Angabe macht. 

Zum Schlüsse sei noch ein negatives Ergebniss mitgetheilt. 
Es wurden Nachforschungen auf zahlreichen Längs-, Quer- und 
Schiefschnitten nach dem von Ciaglinsky 2 ) beim Hunde und 
dem Meerschweinchen nach Rückenmarksabschnürung entartet 
gefundenen System markhaltiger Nervenfasern, welche die 
Sensibilität zu leiten hätten, angestellt, doch ohne jeden Erfolg. 
Es fanden sich speciell um den Rückenmarkscanal herum 
nirgends Zeichen der Entartung. Es lässt sich aus einer „vor¬ 
läufigen Publication” noch kein Schluss ziehen und kein Urtheil 
fällen, weil speciell weder Längsschnitte noch starke Vergrösse- 
rungen, noch Schnitte aus dem Rückenmark unterhalb der Ab¬ 
schnürung besprochen sind. 

Ich erlaube mir anzuführen, dass bei der durch den 
Tuberkel zu Stande gekommenen Abschnürung des Central- 
canales Bilder an und um diesen aufgetreten sind, die manche 
Aehnlichkeit mit den von Ciaglinsky mitgetheilten haben und 
sicher nur mit der Rundzellenanhäufung um den Centralcanal 
im Zusammenhänge stehen. Die Marchi’sche Tinction färbt 
einzelne wenige, in denselben vorkommende Bestandtheile schwarz 
oder braun, und so wird, wo diese Rundzellenanhäufung eine 
bestimmte Form annimmt, hinter dem Centralcanale eine ähn- 

[ ) L. C. 

2 ) Lange sensible Bahnen in der grauen Substanz des Rückenmarkes und 
ihre experimentelle Degeneration. Neurol. Centralbl. Nr. 17, 1896. 


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Aus dem Laboratorium der Landes-Trrenanstalt Peldhof. 


329 


liclie Figur entworfen, wie sie Ciaglinsky angibt. Freilich 
muss zugegeben werden, dass die Zeit für die Auffindung der 
Zerfallsproducte, die Ciaglinsky postulirt, in unserem Falle 
längst vorüber war, und daher die Auffindung schon aus diesem 
Grunde von vornherein unmöglich war. 

Zum Schlüsse sei noch dem Herrn Director Dr. Sterz 
für die Ueberlassung des Materiales und für die Gründung 
eines pathologisch anatomischen Laboratoriums in Feldhof und 
Herrn Professor Anton für die mehrfache Anregung und 
Unterstützung dieser Arbeit der innigste Dank ausgesprochen. 


Jlihrbttcher f. Psychiatrie und Neurologie- XV. Bd. 


22 


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Aus dem klinischen Ambulatorium für Nervenkranke des Herrn Hofrathes 
v. Krafft-Ebing im k. k. allgemeinen Krankenhause in Wien. 

Uel>or asthenische Ophthalmoplegie. 

(Ein Beitrag zur Kenntniss der asthenischen Lähmungen.) 

Von 

Dr. J. P. Karplus, 

Assistent an Hofrath v. Krafft-Ebing’s psychiatrischer Klinik. 

Den Ausgangspunkt dieses Aufsatzes bildeten unsere Beob¬ 
achtungen an einer Patientin mit Ophtlialmoplegia exterior 
bilateralis, die seit zwei Jahren im klinischen Ambulatorium 
für Nervenkranke des Herrn Hofrathes v. Krafft-Ebing in 
Behandlung steht. Aus der Krankengeschichte ergibt sich ohne- 
weiters, dass sich der Fall unter die bekannten und wohl 
charakterisirten Formen der Ophthalmoplegie nicht einreihen 
lässt. Hingegen finden wir gerade jene Eigenthümlichkeiten, die 
dem Falle ein eigenartiges Gepräge verleihen, auch bei einer 
Gruppe von „bulbären” Erkrankungen, auf die zuerst Erb ’) 
aufmerksam gemacht hat, bei der „Bulbärparalyse ohne 
anatomischen Befund” (Oppenheim) 2 ) oder „asthenischen 
Bulbärparalyse” (Strümpell). 3 ) 

Mit voller Sicherheit können wir sagen, dass diese asthe¬ 
nische Bulbärparalyse der Duchenne’schen progressiven Bulbär¬ 
paralyse und ällen anderen seither bekannt gewordenen Formen 
der Bulbärlähmung als etwas anderes, als eine Krankheit sui 
generis gegenüber gestellt werden muss. Ich glaube zeigen zu 
können, dass unser Fall genau in der gleichen Weise der chroni- 

9 Erb, Ueber einen neuen, wahrscheinlich bulbären Symptomcomplex. Arch. 
f. Psych., Bd. IX, S. 336 ff. 1879. 

2 ; Oppenheim, Ueber einen Fall von chron progr. Bulbärparalyse ohne 
anatom. Befund. Virch. Arch., Bd. CVIII; XXVI, 1887. 

3 ) Strümpell, Ueber die asthenische Bulbärparalyse. Deutsche Zeitschr. f. 
Nervenheilk. VIII, 1 u. 2, 1896. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


331 


sehen progressiven Ophthalmoplegie und allen anderen Formen 
der „oberen Bulbärparalyse” als asthenische Ophthalmo¬ 
plegie gegenüber zu stellen ist. Es lassen sich weiters in der 
Literatur über geheilte und über recidivirende Augenmuskel¬ 
lähmungen einzelne Fälle finden, die mit Sicherheit, beziehungs¬ 
weise mit mehr weniger grosser Wahrscheinlichkeit von den 
anderen Formen der Ophthalmoplegie abzutrennen und mit 
unserem zu einer Gruppe zu vereinigen sind. Von einzelnen 
Autoren ist bereits bezüglich des einen und des anderen dieser 
Fälle darauf hingewiesen worden, dass sie möglicherweise mit 
der asthenischen Bulbärparalyse verwandt wären. Ob die Gruppe 
der „asthenischen Ophthalmoplegie” klinische Selbstständigkeit 
verdient neben der „asthenischen Bulbärparalyse”, oder ob es 
bei weiter fortschreitender Erkenntniss sich als zweckmässig 
erweisen wird, die beiden Krankheitsformen in eine zusammen¬ 
zufassen, ist von untergeordneter Bedeutung; uns kam es vor 
allem darauf an, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es nicht 
nur einen „bulbären” Process gibt, der die zu besprechenden 
Eigenthümlichkeiten zeigt, sondern dass im Bereiche der Augen¬ 
muskelnerven und mit Verschonung des bulbären Ge¬ 
bietes dieselbe Krankheits form auftreten kann. 

Krankengeschichte. 

Katharina Sch., 24 Jahre alt, verheiratet, Industrielehrerin 
aus St., kam am 9. December 1894 in Herrn Hofrath v. Krafft- 
Ebing’s klinisches Ambulatorium für Nervenkranke. 

Der Vater der Patientin, Josef R., ist ein 46jähriger ge¬ 
sunder, robuster Bauer, der erst seit den letzten 10 Jahren etwas 
stärkerer Potator geworden ist. Die Mutter, Anna R., ist eine 
45jährige gesunde Bäuerin. Von acht Kindern dieses Ehepaares 
leben fünf; einmal hat die Frau abortirt: 

1. Katharina, unsere Patientin; 2. Abortus mit zwei Knaben 
im 5. Graviditätsmonate; 3. Johann, starb im 6. Jahre (Trauma, 
Gehirnerschütterung); 4. Josef, starb im 7. Monate unter Fraisen, 
war lungenkrank; 5. Anna, 17 Jahre alt, seit einigen Monaten 
an Chlorose leidend, sonst gesund; 6. Franz, 13 Jahre alt, hatte 
im Alter von 2 Jahren nach einem Sturze, der von Bewusst¬ 
losigkeit gefolgt war, Fraisen. Vom 7. bis zum 11. Lebensjahre 
litt er an nächtlichen epileptiformen Convulsionen, stand im 

22 * 


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332 


Dr. J. P. Karplus. 


klinischen Ambulatorium des Herrn Hofrathes v. Krafft-Ebing 
in Behandlung, bekam Brom, hat seit 2 Jahren keine Anfälle 
mehr; 7. Adele, 11 Jahre alt, gesund; 8. Josef, soll einen Herz¬ 
fehler gehabt haben, starb 4 Jahre alt, im Mai 1894, als seine 
Schwester Katharina im Wochenbette lag; 9. Minna, 2 Jahre 
alt, gesund. 

Die Eltern und sämmtliche lebende Geschwister der Patientin 
wurden von uns untersucht und examiDirt, und wir achteten 
besonders darauf, ob bei denselben irgendwelche Störungen im 
Gebiete der Augen- und bulbären Nerven subjectiv oder ob- 
jectiv vorhanden seien oder waren ; das Resultat war nach dieser 
Richtung hin ein vollkommen negatives. 

Unsere Patientin hat im 16. Lebensjahre einen Typhus 
durchgemacht, soll sonst nie fieberhaft erkrankt, nie bettlägerig 
gewesen sein. Menses seit dem 13. Lebensjahre, unregelmässig 
Patientin war von jeher zart, doch nicht gerade schwächlich, 
konnte zu häuslichen Arbeiten verwendet werden, z. B. zum 
Zimmerreiben. 

Als das Kind 5 Jahre alt war, bemerkte die Mutter eines 
Tages, dass das rechte Oberlid etwas stärker herabhänge. 
An den folgenden Tagen nahm die Ptosis zu, und die Mutter 
wendete sich nun an Professor Arlt, welcher, wie sich die 
Mutter bestimmt erinnert, damals constatirte, dass sich auch 
die Augäpfel nicht recht bewegten. Die Mutter liess nun 
das Kind auch auf der Klinik Jäger untersuchen. Pro¬ 
fessor Jäger examinirte die Mutter nach einer Störung, welche 
die Frucht intrauterin getroffen haben könne, sowie nach einer 
acuten Erkrankung, welche etwa den Augensymptomen vorher¬ 
gegangen sei. Schon damals konnte die Mutter weder das eine, 
noch das andere zugeben. 

Auf den Rath Professor Jäger’s wurde Patientin bei 
Docent Dr. Fieber einen Monat lang elektrisirt. 1 ) Während des 
Elektrisirens sank auch das linke Oberlid herab, und es bestand 
nun eine sehr starke beiderseitige Ptosis. Die Lidspalten sollen 
höchstens 3 Millimeter weit gewesen sein; das Kind konnte 


D Leider sind die Protokolle der Klinik Professor Jäger’s und des Herrn 
Dr. Fieber aus jener Zeit trotz aller Mühe, die wir uns gaben, nicht mehr 
aufzufinden gewesen. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


333 


allein herumgehen. Nach etwa einem Jahre giDg die Ptosis auf 
beiden Augen ganz allmählich, wie sie gekommen war, wieder 
zurück. 

Seit jener Zeit hat die Mutter bemerkt, dass das Kind, 
wenn es Abends ungewöhnlich lang aufblieb, kleine Augen 
bekam. Es trat dann rechts deutlichere, links eben merkliche 
Ptosis auf. 

Ausser dieser geringen Ptosis, die nur, wenn das Kind 
über seine Zeit aufgeblieben war, beobachtet werden konnte, 
traten aber seit jenem ersten Anfalle starker beiderseitiger 
Ptosis von einjähriger Dauer (vom fünften bis zum sechsten 
Lebensjahre) fast jährlich, manchmal auch zweimal im Jahre, 
Perioden starker Ptosis auf, welche nun aber jedesmal nur 
mehrere Wochen anhielten. Alle diese Anfälle glichen einander 
und dem ersten Anfalle auch darin, dass die Ptosis jedesmal 
ganz allmählich auftrat und wieder verschwand, ohne dass 
dabei irgend welche anderen Symptome beobachtet worden 
wären. Dabei hatte die Mutter sehr häufig Gelegenheit zu beob¬ 
achten, dass die Ptosis, wenn das Kind die Augen anstrengte, 
stärker wurde. Auch war immer die Ptosis Früh am geringsten, 
steigerte sich dann bis zu einem gewissen Grade und blieb 
nun constant, oder zeigte auch Abends wieder eine deutliche 
Verstärkung. Dabei erreichte die Ptosis häufig wieder jenen 
hohen Grad wie im ersten Anfalle, welcher auch Morgens Re¬ 
missionen, Abends Exacerbationen gezeigt hatte. 

Als Patientin menstruirt war, sollen die Menses auf eine 
eben bestehende Ptosis insofern von Einfluss gewesen sein, als 
prämenstrual eine Verschlechterung, menstrual eine Erleichte¬ 
rung eintrat. 

Ausser der Entstellung, welche die Ptosis der Kranken 
jeweils verursacht, hat sie keine Klagen über ihre Augen. Auf 
Befragen erzählt sie, dass sie von jeher an der Luft leicht 
Thränenträufeln bekomme, dass ihr beim Waschen leicht Seife 
in die Augen komme; sie sehe gut, habe nie Schmerzen in den 
Augen gehabt, nie Schwindel. Auf eindringliches Befragen 
erfahrt man, dass schon seit vielen Jahren hie und da ganz 
vorübergehend, und ohne dass Patientin dadurch wesentlich be¬ 
lästigt worden wäre, Doppelbilder aufgetreten seien. So musste 
Patientin, als sie 12 Jahre alt war, eines Tages in der Schule 


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334 


Dr. J. P. Karplus. 


laut vorlesen; eine Zeit lang ging das ganz anstandslos, doch auf 
einmal stockte sie, war ausser Stande weiter zu lesen, weil sie 
alles doppelt sah, nicht verschwommen, sondern deutlich doppelt. 

In den ptosisfreien Zeiten fiel Patientin ihrer Umgebung 
durch ihre grossen schönen Augen, sowie durch ihren starren 
Blick auf, und sie zeigt zum Beweise, dass die Ptosis thatsäch- 
lich immer wieder ganz zurückging, eine Reihe von Photo¬ 
graphien aus verschiedenen Lebensaltern (8., 12., 14., 18. und 
20. Jahr), an denen keine Spur von Ptosis zu sehen ist. 

Wie fast alljährlich, trat auch im September 1893 wieder 
ganz allmählich starke beiderseitige Ptosis aüf, bestand vier 
Wochen lang und ging dann, wie bei allen früheren Anfällen, 
allmählich vollkommen zurück. 

Ende Mai 1894 erste Entbindung nach normaler Gravidität 
(das Kind der Patientin, im Sommer 1896 von uns untersucht, 
ist gesund). Beim Partus sehr starker Blutverlust. Einige Tage 
danach heftige Erregung über den plötzlichen Tod des im 
selben Hause wohnenden Bruders. Patientin erholte sich nur 
sehr langsam, war sehr müde, abgespannt, hatte oft einge¬ 
nommenen Kopf. Aus Angst vor neuerlicher Gravidität seither 
Coitus interruptus. 

Im September 1894 stellte sich die Ptosis wieder ein. 1 ) 
Patientin wurde dadurch durchaus nicht beunruhigt, an diese 
Störung war sie schon gewöhnt, sie hatte sich damit abgefunden. 
Die Ptosis erwies sich aber diesmal hartnäckiger als sonst, und 
Anfangs November 1894 traten Störungen im Bereiche der 
oberen und unteren Extremitäten hinzu. Patientin bekam 
Stechen, Kriebeln, Gefühllosigkeit in den Händen, die Arme und 
Beine waren Früh, wenn Patientin erwachte, steif und schwach; 
andererseits ermüdeten dieselben auch ungemein rasch. So erzählt 
Patientin, dass sie eines Tages im November ihr kleines Kind 
fast fallen gelassen hätte, da sie von einer plötzlichen Schwäche 
des Armes überfallen wurde, während sie dasselbe eben herum¬ 
trug. Beim Stricken konnte sie nach der dritten Masche nicht 
weiter arbeiten. Beim Gehen musste sie nach wenigen Schritten 


') Dass die Ptosisanfälle im Jahre 1893 and 1894 beidemale im Sep¬ 
tember cintraten, wird von der Patientin als Zufall bezeichnet, da in früheren 
Jahren die Anfälle in den verschiedensten Jahreszeiten begonnen hätten. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


335 


stehen bleiben und sich aasruhen, konnte überhaupt nicht rasch 
gehen. Die Parästhesien und die zunehmende Schwäche der 
Arme veranlassten Patientin, am 9. December 1894 das klinische 
Ambulatorium für Nervenkrankheiten des Herrn Hofrathes 
v. Krafft-Ebing aufzusuchen; über ihre Augen hatte sie 
keine Klagen. 

Status praesens vom 9. December 1894, 10 Uhr Vor¬ 
mittags: 

Patientin etwas unter mittelgross, gracil gebaut, von mitt¬ 
lerem Ernährungszustände, leicht anämisch. Keine Drüsen¬ 
schwellungen, keine Haut- und Schleimhautnarben, keine Spuren 
überstandener Rhachitis. Sensorium frei, keine Kopfschmerzen, 
keine Schmerzen beim Beklopfen des Schädels. Die physikalische 
Untersuchung der Brust- und Bauchorgane ergibt normale Ver¬ 
hältnisse, im Urin kein Eiweiss, kein Zucker. 

Beiderseits besteht eine Ptosis mittleren Grades, die Ober¬ 
lider hängen bis zum oberen Rande der mittelweiten Pupille 
herab; das Gesicht der Patientin erhält dadurch einen müden, 
schläfrigen Ausdruck. 

Bei passiver Hebung der Oberlider bemerkt man eine ganz 
leichte Prominenz der Bulbi, rechts etwas deutlicher als links. 

Die Augen sind geradeaus gerichtet, Gesichtslinien parallel. 

Bei der Untersuchung der Bulbusbewegungen ergibt sich 
beiderseits totale Lähmung der den Bulbus bewegenden Muskeln. 
Das Resultat bleibt dasselbe, ob man nun jedes Auge für sich 
oder beide Augen zusammen untersucht. Vollkommen aufgehoben 
ist die Fähigkeit, nach aufwärts, nach rechts, nach links zusehen, zu 
convergiren. Bei energischem Versuche, nach abwärts zu sehen, 
erfolgt eine sehr geringe, doch deutliche Senkung der Bulbi. 
Beim Versuche, nach unten aussen zu sehen, schien anfangs 
beiderseits eine Andeutung von Raddrehung (Trochlearis) vor¬ 
handen zu sein, doch liess sich dieselbe bei weiteren Versuchen 
nicht mehr constatiren. 

Die Pupillen sind mittelweit, gleich, reagiren prompt auf 
Licht und Accommodation. 

Emmetropie, normale Accommodationsbreite, Visus beider¬ 
seits = */«• Spiegelbefund normal. 


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336 


Dr. J. P. Karplus. 


Stirnrunzeln ist rechts wie links nur andeutungsweise 
möglich, ein merkliches Geringerwerden der Ptosis findet dabei 
nicht statt. 

Der Lidschluss gelingt nicht. Bei leichtem Lidschluss¬ 
versuch bleibt die Lidspalte beiderseits auf 2 Millimeter offen; 
bei maximaler Anstrengung rechts 2 Millimeter, links 1 Milli¬ 
meter. Eine abnorme Kürze der Lider besteht nicht. Auch die 
Unterlider werden nur mangelhaft gehoben. Diese unvoll¬ 
kommenen Lidbewegungen werden mit minimaler Kraft ausgeführt. 

Im Bereiche des unteren Facialis bestehen vollkommen 
normale Verhältnisse. 

Die elektrische Untersuchung ergibt in allen Aesten des 
Facialis normale Verhältnisse. 

Mit Ausnahme der beschriebenen Störungen an den Augen¬ 
muskeln und am oberen Facialis verhalten sich die Gehirnnerven 
vollkommen normal. Insbesondere besteht nicht die Spur einer 
bulbären Störung. Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt 
keinen Tremor, keine fibrillären Zuckungen, keine Atrophie, 
wird gut seitwärts bewegt. Kiefer- und Gaumenbewegungen 
Sprechen, Kauen und Schlingen vollkommen normal; ebenso im 
Bereiche des Gesichtes die Sensibilität, die Reflexe normal. 

An den oberen Extremitäten Musculatur ziemlich schwach 
entwickelt, keine Atrophie, keine fibrillären Zuckungen. Es 
besteht grosse motorische Schwäche, distalwärts zunehmend, 
jedoch sind sämmtliche Bewegungen, wenn auch langsam und 
mit sehr geringer Kraft, in vollem Umfange ausführbar. Sensi¬ 
bilität normal. Tiefe Reflexe eben angedeutet (Bicepsreflex vom 
Vorderarm aus). Elektrische Untersuchung ergibt normale Ver¬ 
hältnisse. 

Die objective Untersuchung der unteren Extremitäten 
ergibt vollkommen normales Verhalten. Die motorische Kraft der 
mässig entwickelten Muskulatur entsprechend. Sensibilität normal; 
P. S. R. lebhaft. 

Im Uebrigen liess sich an Patientin nichts Abnormes nach- 
weisen; keine Zeichen von Hysterie. 

Patientin war nicht zu bewegen, sich ins Spital aufnehmen 
zu lassen, und so waren wir auf ambulatorische Beobachtung 
der Patientin, die einige Stunden von Wien entfernt wohnt und 
uns häufig aufsuchte, angewiesen. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 337 

Wir empfählen der Patientin Rahe, gaben ihr Arsen-Eisen¬ 
tropfen. 

Am 16. December 1894 Ophthalmoplegia exterior, Parese 
des Stirn- und Augenfacialis unverändert. Schwäche der Extremi¬ 
täten im Rückgänge. 

Auf neuerliches dringendes Befragen nach bulbären Stö¬ 
rungen erzählte die Patientin, es sei in der letzten Woche 
während des Mittagessens einmal vorgekommen, dass sie müde 
geworden sei, wie wenn die Kraft der Kiefer sie verlassen würde, 
sie habe ein Spannungsgefühl im Munde gehabt, eine Schwere 
der Zunge empfunden, sie habe aufhören müssen zu essen; der 
ganze Zustand habe nur einige Secunden gedauert, dann habe sie 
weiter essen können. Objectiv liess sich im Bereiche der Bulbär- 
nerven weder Parese, noch Ermüdbarkeit nachweisen. 

Wir heben schon hier hervor, dass Patientin am 16. De¬ 
cember 1894 bestimmt erklärte, jene momentane Kauschwäche 
sei in der vergangenen Woche zum ersten- und einzigenmale 
vorgekommen, sowie dass wir während einer nun zweijährigen 
Beobachtungszeit niemals die geringste bulbäre Störung objectiv 
nachweisen konnten; auch hat Patientin niemals mehr überder¬ 
gleichen berichten können, obwohl sie auf unser Ersuchen darauf 
besonders aufmerksam war. 

23. December 1894. Patientin berichtet, dass sie häufig, 
wenn sie zu gehen anfange, in den Beinen steif und müde sei, 
was sich bei längerem Gehen verliere, sonst gehe es mit der 
Schwäche besser. 

Parese des Stirn- und Augenfacialis unverändert; Ophthal¬ 
moplegia exterior unverändert. 

6. Januar 1895. Die Parästhesien an den oberen Extremi¬ 
täten haben ganz aufgehört. Patientin ermüdet nicht mehr so 
leicht; auch objectiv lässt sich der Rückgang der Parese der 
Arme constatiren. Sonst objectiv Status idem. 

Am 15. Januar 1895 wurde die Kranke von uns im Verein 
für Psychiatrie und Neurologie in Wien vorgestellt. 1 ) Wir 
konnten damals die Ophthalmoplegia exterior (vollkommene Un¬ 
beweglichkeit beider Bulbi bis auf eine Spur von Senkung), die 


') Wiener Klin. Wochenschrift 1895, 27. 


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338 Dr. J. P. Karplus. 

Unfähigkeit, die Lider zu schliessen, die Stirn zu runzeln, 
demonstriren. 

Wir wiesen damals darauf hin, dass das Ungewöhnliche des Falles in der 
fast periodisch schwankenden Ptosis, sowie in der Mitbetheiligung des oberen 
Facialis gelegen sei. Letztere schien uns mit Rücksicht auf die anzunehmende 
nucleare Natur des Falles und im Hinblicke auf die bekannten Befunde Mendel’s 
an Thieren bemerkenswerth. Wir konnten damals den Fall mit der „Bulbärparalyse 
ohne anatomischen Befund” (Oppenheim) umsoweniger in Parallele setzen, als 
nicht nur der Beginn, der Verlauf und die Localisation in unserem Falle von 
jener Gruppe abwich, sondern auch die charakteristische rapide Erschöpfbarkeit 
der Muskeln zu jener Zeit von der vollkommenen Lähmung verdeckt war, und 
vor allem deshalb nicht, weil uns eine nur unvollkommene und theilweise un¬ 
richtige Anamnese zur Verfügung gestanden hatte. So hatte z. B. Patientin be¬ 
stimmt erklärt, sie habe nie doppelt gesehen, und erst später, als es uns gelang, 
die Doppelbilder experimentell hervorzurufen, erinnerte sie sich, schon früher 
Diplopie gehabt zu haben, und im Herbste 1896 erzählte sie uns die in der 
Anamnese erwähnte, charakteristische Scene aus ihrem 12. Lebensjahre. Ferner 
hatte sie, so lange eine Schwäche der Extremitäten bestand, immer den Gegensatz 
zwischen Ptosis und Extremitäten hervorgehoben. Die Ptosis sei Abends am 
stärksten, die Arme und Beine aber seien gerade in der Früh steif und schwach. 
Die Angaben über Erdmüdbarkeit der Extremitäten (s. o.) wurden erst nach¬ 
träglich hinzugefügt. Dann hatte die Patientin anfangs fest behauptet, dass in den 
Zeiten zwischen den einzelnen Ptosisanfällen niemals eine Spur von Ptosis vor¬ 
handen gewesen sei, und nachträglich wurde diese Angabe von der Mutter dahin 
richtig gestellt, dass immer, wenn die Kranke über ihre Zeit aufblieb, leichte 
Ptosis eintrat. 

3. März 1895. Patientin ist mit ihrem Zustande zufriedener; 
die oberen Extremitäten würden bei längerem Arbeiten noch 
schwach. Mit den Augen gehe es viel besser, nach dem Schlafe 
sei die Ptosis ganz verschwunden, nach einiger Zeit trete wieder 
ein geringer Grad auf; wenn sie ruhig ihre Handarbeit mache, 
so schade das den Augen nicht, wenn sie dieselben aber an¬ 
strenge, werde die Ptosis stärker. 

Beim Anblicke der Patientin fällt sofort auf, dass die Ptosis 
beiderseits zurückgegangen ist; die Oberlider reichen bis zur 
Mitte zwischen oberem Pupillarrand und Cornearand. Während 
der Untersuchung der Augen wird Patientin müde, die Ptosis 
wird stärker. Nachdem Patientin sich einige Minuten mit ge¬ 
schlossenen Augen ausgeruht hat, ist der Grad der Ptosis wieder 
derselbe wie bei Beginn der Untersuchung. 

Patientin vermag willkürlich die Lider bis zur vollen Weite 
der Lidspalte zu heben. 

Die Stirn wird beiderseits ausgiebig gerunzelt. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


339 


Der Lidschluss gelingt vollkommen, jedoch nur mit sehr 
geringer Kraft, und Patientin vermag passiver Oeffnung der ge¬ 
schlossenen Lider nur einen kaum merkbaren Widerstand ent¬ 
gegen zu setzen. 

Unbeweglichkeit der Bulbi unverändert: Seitenbewegungen, 
Aufwärtsbewegung, Convergenz vollkommen aufgehoben, Spur 
von Beweglichkeit nach unten erhalten. Pupillen gleich, mittel* 
weit, prompt reagirend. 

Am 18. April 1895 erkrankte Patientin unter Schüttelfrost, 
hohem Fieber, heftigen Kopfschmerzen. Das Fieber hielt mehrere 
Tage an, Magenschmerzen, Erbrechen, Diarrhöen, Schnupfen 
stellten sich ein. Der behandelnde Arzt diagnosticirte Influenza. 
Nach acht Tagen versuchte Patientin das Bett zu verlassen, 
fühlte sich aber ungemein schwach, bekam häutig Schwindel¬ 
anfälle, litt dauernd an Kopfschmerzen und Erbrechen, an Appetit¬ 
mangel und Schlaflosigkeit. Auf Einladung ihres Gatten fuhr 
ich am 27. April 1895 zur Patientin nach St. Ich fand sie in 
einem halbverdunkelten Zimmer, in welchem sie die ganze Zeit 
über verweilt hatte, im Bette liegend, in zusammengesunkener 
Rückenlage, über heftige drückende Kopfschmerzen, über Ein¬ 
genommensein des ganzen Kopfes, über grosse Mattigkeit klagend. 
Ausser vollkommener Undurchgängigkeit der Nase für Luft 
(Rhinitis) und Druckempfindlichkeit beider Nervi Supraorbitales 
am Orbitalrande fand ich keine neu aufgetretene locale Störung. 
Patientin war ungemein erschöpft, war ausser Stande, aufrecht 
zu sitzen. 

Die Ptosis war links verschwunden, rechts ganz leicht 
angedeutet. Die Stirn wurde ziemlich gut gerunzelt, die 
Lider wurden beiderseits, jedoch mit geringer Kraft ge¬ 
schlossen. 

Die auffallendste Veränderung war an den Bulbi vor sich 
gegangen: Beide Bulbi waren beweglich. Patientin'vermochte 
ausgiebige Seitenbewegungen beiderseits auszuführen. Bei der 
Abduction blieb rechts wie links zwischen äusserem Cornearand 
und Canthus externus ein Spatium von etwa 3 Millimetern. Ein¬ 
wärtsbewegung beiderseits ausgiebig, innerer Cornearand fast 
bis zum unteren Thränenpunkt. Beiderseits ausgiebige Aufwärts¬ 
bewegung, jedoch nicht im normalen Umfange. Die Senkung an¬ 
scheinend nicht eingeschränkt. 


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340 


Dr. J. P. Karplus. 


Am 30. Juni 1895 suchte uns Patientin wieder auf und er¬ 
zählte, dass sie wenige Tage nach der letzten Consultation das 
Bett habe verlassen können, die Ptosis sei am rechten Auge 
vorübergehend wiedergekehrt, auch jetzt bemerke sie gegen 
Abend noch ein leichtes Hängen des rechten Oberlides. Hie und 
da sei der Kopf etwas eingenommen, sonst sei sie ganz gesund, 
sei mit ihrem Zustande sehr zufrieden; insbesondere seien die 
Arme so gelenkig und kräftig, wie nur jemals. 

War Patientin früher durch ihre Ptosis aufgefallen, so flel 
sie nun im Gegentheile durch die grossen, weitgeöffneten Augen 
auf. Bei genauem Zusehen schien es uns, als würde immerhin 
das rechte Oberlid um V 2 bis 1 Millimeter tiefer stehen als das 
linke, doch blieb auch rechts zwischen unterem Rande des Ober¬ 
lides und Cornea beim Geradeaussehen der Patientin noch ein 
2 Millimeter breiter Sklerastreifen sichtbar. 

Bulbi zeigen leichten Exophthalmus wie früher, normale 
Stellung. Die Beweglichkeit nach allen Richtungen vorhanden, 
jedoch eingeschränkt. Nach aussen: Zwischen äusserem Cornea¬ 
rand und Lidwinkel 3 bis 4 Millimeter. Nach innen: Beweglich¬ 
keit am wenigsten eingeschränkt, innerer Cornearand beiderseits 
bis zum Thränenpunkt. Am stärksten ist die Aufwärtsbewegung 
eingeschränkt, beide Bulbi können kaum etwas über die Hori¬ 
zontale gehoben werden. Viel ausgiebiger, jedoch auch deutlich 
eingeschränkt, ist die Senkung. Die Bewegungen sind an beiden 
Augen im gleichen Ausmasse möglich, das Resultat dasselbe bei 
Einzelprüfung wie bei Untersuchung beider Augen zugleich. 
Die Convergenz gelingt bis auf 10 Centimeter, bei noch stärkerer 
Annäherung des Objectes weicht bald das rechte, bald das linke 
Auge nach aussen ab und es treten Doppelbilder auf. Die Aus¬ 
wärtsbewegung der Bulbi ist nach fünf- bis sechsmaligem Ver¬ 
suche deutlich noch beträchtlicher eingeschränkt als anfangs. 

Pupillen gleich, mittelweit, prompt reagirend; keine Accom- 
modationsstörung. 

Lidschluss gelingt vollkommen unter Erzittern der Oberlider. 
Beim Versuche, die Lider möglichst fest zu schliessen, Runzelung 
der Lidhaut und der Haut nach aussen vom äusseren Lidwinkel. 
Der Widerstand bei passiver Oeffnung der Lider nur gering. 

Der untere Facialis und die übrigen Hirnnerven bieten 
vollkommen normalen Befund wie früher. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 341 

Der Händedruck ist sehr kräftig, bleibt auch bei wieder¬ 
holten Versuchen kräftig, die tiefen Reflexe an den oberen 
Extremitäten sind deutlich hervorzurufen. 

Am 11. Februar 1896 hatte ich Gelegenheit, im Vereine für 
Psychiatrie und Neurologie für Wien über den bisherigen Ver¬ 
lauf der Krankheit zu berichten und ich habe damals vorge¬ 
schlagen, diesen und ähnliche Fälle, die sich in der Literatur 
würden auffinden lassen und die insbesondere bei einmal darauf 
gerichteter Aufmerksamkeit wohl nicht vereinzelt bleiben würden, 
im Anschlüsse an StrümpeH’s „asthenische Bulbärparalyse” als 
„asthenische Ophthalmoplegie” zu bezeichnen. (Wiener 
klin. Wochenschrift 1896, 10.) 

Erst am 14. Juni 1896 stellte sich Patientin wieder vor. 
Sie fühlt sich im Grossen und Ganzen gesund. Störungen im 
Bereiche der bulbären Nerven sind, wie schon oben hervor¬ 
gehoben, nie wieder aufgetreten. Wenn sie sich aufrege, bekomme 
sie leicht stechende Kopfschmerzen, auch Schmerzen in den 
Händen; ebenso bekomme sie manchmal Schmerzen in den 
Händen, wenn sie dieselben stärker anstrenge. Bei längerem 
Arbeiten werden die Hände matt. Die Ptosis sei für gewöhnlich 
geschwunden, nur wenn sie über ihre Zeit aufbleibe, trete rechts 
leichte Ptosis ein. Einmal sei sie gelegentlich einer Soiree die 
halbe Nacht aufgeblieben, da sei sehr starke Ptosis beiderseits 
aufgetreten, welche jedoch des Morgens nach ausgiebigem Schlafe 
wieder verschwunden war. Auch hat Patientin bemerkt, dass 
jetzt vor Eintritt der Menses immer rechts leichte Ptosis eintrete. 

Beim Blicke geradeaus, links zwischen Lidrand und Cornea ein 
1 bis 2 Millimeter breiter Sklerastreifen, rechts hängt das Ober¬ 
lid bis zum oberen Cornearande herab. Diese geringe Ptosis kann 
auch willkürlich nicht ausgeglichen werden. Lidschluss voll¬ 
kommen möglich, doch kraftlos. 

Bulbusbewegungen eingeschränkt. Beim Blicke geradeaus 
Parallelstellung der Bulbi; bei Seitenbewegungen kommt es zu 
Schielstellung, und es treten Doppelbilder auf. Die Bewegung 
nach aussen ist rechts viel mehr eingeschränkt als links. Einwärts¬ 
bewegung beiderseits ausgiebig. Hebung gering, Senkung fast 
im normalen Ausmass. 

Nach mehreren Abductionsversuchen stellt sich das linke 
Auge ebenso weit wie anfangs nach aussen ein (Cornearand 2 bis 


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Dr. J. P. Karplus. 


3 Millimeter vom Canthus), während das rechte Auge, das anfangs 
auf eine Entfernung von 4 Millimeter zwischen Cornearand und 
Canthus abducirt werden konnte, nun eine vollkommene Unfähig¬ 
keit der Auswärtswendung zeigt; nach mehreren Minuten der 
Ruhe vermag Patientin wieder zu abduciren wie anfangs. Herr 
Dr. Wintersteiner, Assistent der Klinik Schnabel, hatte auf 
mein Ersuchen die Güte, diesen Ermüdungsversuch nachzuprüfen 
und kam zu demselben Resultate wie ich. 

Pupillen gleich, prompt reagirend. Auch bei öOmal unmittel¬ 
bar hintereinander wiederholtem Einfallenlassen von grellem 
Lichte bleibt die Reaction ebenso prompt und ausgiebig wie 
beim ersten Lichteinfall. 

Am 21. Juni 1896 hatte ich Gelegenheit, Patientin in St. 
in ausgeruhtem und in ermüdetem Zustande zu untersuchen. 

Auf meine Bitte hatte Patientin von 12 Uhr Mittags bis 
2 Uhr Nachmittags mit geschlossenen Augen in einem verfinster¬ 
ten Zimmer gelegen; einzuschlafen hatte sie vergeblich versucht. 

Status um 2 Uhr Nachmittags: Ptosis rechts eben ange¬ 
deutet; beim Blicke geradeaus, links 1V 2 Millimeter zwischen 
oberem Lide und oberem Cornearande, rechts schleift das Augen¬ 
lid am oberen Cornearande. Bulbusbewegungen: Das rechte 
Auge kann so weit abducirt werden, dass zwischen Cornea und 
Canthus 2 Millimeter Sklera sichtbar bleiben; links beim selben 
Versuch l / 2 Millimeter. Nun liess ich Patientin rasch hinterein¬ 
ander rechts zehnmal abduciren, dabei nahm die Excursion immer 
mehr ab, und schliesslich konnte Patientin das rechte Auge nur 
kaum merklich über die Mittelstellung nach aussen bringen. 
Links traten beim selben Versuche schliesslich nystactische 
Zuckungen auf und blieben zwischen Cornearand und Lidwinkel 
l'/j bis 2 Millimeter. Nach 5 Minuten der Ruhe Abductions- 
fähigkeit wie vor dem Versuche. Aufwärtssehen beiderseits mög¬ 
lich, links deutlich, rechts stark eingeschränkt. Abwärtssehen 
beiderseits in normalem Ausmasse. Einwärtsbewegung: Cornea 
beiderseits zum Thränenpunkt. Pupillen gleich, mittel weit, prompt 
reagirend. 

Stirnrunzeln schwach, Lidschluss vollkommen, kraftlos. 

Den Nachmittag dieses Tages brachte Patientin mit Be¬ 
sichtigung einer landwirthschaftlichen Ausstellung, mit Tanz und 
Unterhaltung in anregender Gesellschaft zu. Sie sah ab und zu 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


343 


doppelt, besonders wenn sie nach rechts sehen wollte und den 
Kopf nicht nach rechts wendete. 

Status um 8 Uhr Abends: Ptosis links deutlich, rechts stärker 
als um 2 Uhr. Linkes Oberlid reicht zum oberen Rande der 
Cornea, rechts bis zur Mitte zwischen oberem Cornea- und oberem 
Pupillarrande. Während der Untersuchung des rechten Auges 
sinkt das rechte Oberlid noch mehr herab, so dass nach zehn¬ 
maligem Auswärts- und Einwärtssehen das Oberlid die halbe 
Pupille bedeckt. Nach aussen bewegt sich das rechte Auge schon 
beim ersten Versuche kaum über die Mittelstellung, nach innen 
fast bis zum Thränenpunkt, nach mehreren Versuchen (diese 
hatten um 2 Uhr keinen Einfluss auf die Adduction) unter 
nystactischen Zuckungen etwas weniger weit nach innen. Links 
aussen beim ersten Versuche 2 bis 3 Millimeter zwischen Lid¬ 
winkel und Cornearand, innen zum Thränenpunkt. Aufwärts¬ 
bewegung rechts unmöglich, links spurweise. Abwärtsbewegung 
beiderseits ausgiebig, dabei scheint das linke Auge etwas zurück¬ 
zubleiben. (Dabei keine Doppelbilder.) 

Stirnrunzeln und Lidschluss gelingt nicht schlechter als um 
2 Uhr. 

18. October 1896. Patientin fühlt sich gesund. Wenn sie 
längere Zeit lese, geschehe es hie und da, dass sie doppelt sehe, 
dann fahre sie sich mit der Hand über die Augen und es sei 
wieder gut. Die Ptosis sei seit zwei Monaten ganz geschwunden, 
auch wenn sie über ihre Zeit aufbleibe, trete keine Spur von 
Ptosis auf. 

Es besteht keine Spur von Ptosis, tritt auch bei der folgen¬ 
den Prüfung der Augenbewegungen nicht auf. Die Stirn wird 
ausgiebig gerunzelt, Lidschluss vollkommen, sehr kräftig, auch 
bei 40maliger Wiederholung lässt die Kraft des Lidschlusses 
nicht nach. 

Blinzeln nicht seltener als normal; Conjunctiva normal. 
Kein deutlicher Exophthalmus. Parallelstellung der Bulbi. Starke 
Einschränkung der Bewegungen nach aussen und nach oben. 
Rechts aussen 2 bis 3 Millimeter zwischen Cornea und Canthus, 
links V« Millimeter. Aufwärtsbewegung am stärksten einge¬ 
schränkt, rechts mehr wie links. Nach innen beiderseits Corneal- 
rand bis zum Thränenpunkt. Senkung kaum eingeschränkt. Erst 
nach öOmaliger forcirter Ab- und Adduction Zunahme der Be- 


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Dr. J. P. Karplus. 


wegungseinschränkung deutlich, rechts aussen 4 bis 5 Millimeter, 
links aussen 1 Millimeter vom Canthus. Rechts innen unver¬ 
ändert, links innen Cornea 7, Millimeter vom Thränenpunkt. 

Pupillen gleich, prompt reagirend. 

Die oberen und unteren Extremitäten zeigen vollkommen 
normales Verhalten, lebhafte tiefe Reflexe. 

Der Inhalt vorstehender Krankengeschichte ist kurz zu¬ 
sammengefasst folgender: Bei einer jetzt 24jährigen Frau aus 
gesunder Familie trat, als sie 5 Jahre alt war, ohne erkennbare 
äussere Veranlassung eines Tages eine geringgradige rechts¬ 
seitige Ptosis auf, die in den nächsten Tagen an Intensität zu¬ 
nahm, und zu welcher sich im Laufe der nächsten Wochen auch 
linksseitige Ptosis gesellte. Eine Untersuchung der Augen ergab, 
dass sich auch „die Augäpfel nicht recht bewegten”. Nach einem 
Jahre ging die beiderseitige Ptosis allmählich, wie sie gekommen 
war, wieder zurück. Seither treten alljährlich mahrwöchentliche 
Perioden starker beiderseitiger Ptosis auf. In den ptosisfreien 
Zeiten werden die Augen des Abends bei Aufbleiben über die 
gewohnte Zeit klein (Geringe Ptosis). Während der Zeiten der 
starken Ptosis früh Remissionen, Abends Exacerbationen. Hie 
und da Doppelbilder. Beim Waschen kam seit jeher leicht Seife 
ins Auge. Im September 1894 trat wieder Ptosis auf, die dies¬ 
mal monatelang persistirte. Zu derselben gesellten sich im No¬ 
vember 1894 Parästhesien, Schwäche und auffallende Ermüd¬ 
barkeit der oberen Extremitäten, Ermüdbarkeit der unteren 
Extremitäten. 

Am 9. December 1894 constatirten wir Paralyse der 
den Bulbus bewegenden Muskeln, Ptosis mittleren 
Grades beiderseits, Parese des Stirn- und Augen- 
facialis beiderseits. Innere Augenmuskeln normal, unterer 
Facialis normal. An den oberen Extremitäten grosse 
motorische Schwäche, distalwärts zunehmend. Im Uebrigen 
negativer Befund. 

Im Laufe des Decembers 1894 trat einmal während des 
Essens eine auffallende Ermüdung beim Kauen ein. Etwas Aehn- 
liches war vorher nicht vorgekommen und wurde auch in den 
beiden folgenden Jahren nicht wieder beobachtet. Objectiv liess 
sich nie die geringste bulbäre Störung nachweisen. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


345 


Während des Decembers 1894 und des Januars 1895 
ging die Parese der Extremitäten allmählich zurück und kehrte 
nicht mehr wieder. 

März 1895: Ptosis, Parese des Stirn und Augenfacialis im 
Rückgang. 

April 1895: Wiederkehr der Beweglichkeit der Bulbi, 
Bewegungen jedoch nicht im vollen Umfange möglich. Fast voll¬ 
kommener Rückgang der Ptosis. 

Von nun an liess sich besonders deutlich bei Prüfung der 
Abduction nachweisen, dass in Muskeln, die anscheinend nur 
wenig paretisch waren, eine rapide Erschöpfbarkeit bestand. 
Die Ptosis kehrte nur Abends, und in stärkerem Grade nur bei 
ungewöhnlich langem Auf bleiben wieder. Die Beweglichkeit der 
Bulbi wurde auch im folgenden Jahre keine vollkommene, ins¬ 
besondere die Insufücienz der Heber war stets deutlich. 

Im Juni 1896 ergab eine Prüfung der Augen im ausge¬ 
ruhten und im ermüdeten Zustande — 2 Uhr Nachmittags und 
8 Uhr Abends — eine beträchtliche Zunahme der Läh¬ 
mungen durch Ermüdung. Die geringe Parese der Abductoren 
im ausgeruhten Zustande konnte durch zehnmal hintereinander 
wiederholten Abductionsversuch in vollkommene Paralyse über¬ 
führt werden, welche nach fünf Minuten der Ruhe wieder der 
leichten Parese wich, Abends dauernd Paralyse der Abductoren. 
Ebenso liess sich Zunahme der Parese an den anderen äusseren 
Augenmuskeln, auch im Levator sehr deutlich nachweisen. 

Im Herbste 1896 verlor sich die Ptosis vollkommen, kehrte 
auch bei Ermüdung am Abend, sowie bei forcirten Augenbewe¬ 
gungen nicht wieder. Eine sehr deutliche Parese der Heber, eine 
erkennbare der Auswärtswender blieb bestehen. Die Erschöpf¬ 
barkeit liess sich, wenn auch in geringerem Grade, noch nach¬ 
weisen. 

Das Krankheitsbild in unserem Falle wird, wie ein Blick 
auf die Krankengeschichte lehrt, durchaus beherrscht von der 
chronischen Ophthalmoplegia exterior bilateralis. Dass 
hier keine angeborene Augenmuskellähmung, kein angeborener 
Beweglichkeitsdefect des Auges vorliegt,') ist ohne weiters klar. 

*) Die hierhergehörigen Fälle wurden in einer sehr sorgfältigen Arbeit 
von Kunn (Die angeborenen Beweglichkeitsdefecte der Augen. Beiträge zur 
Augenheilkunde XIX, 1895) zusammengestellt und kritisch besprochen. 

Jahrbücher f. Psychiatrie. XV. Bd. 23 


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Dr. J. P. Karplus. 


Ebenso, dass der Fall mit den acuten Ophthalmoplegien nichts 
gemein hat. Von den bekannten und wohl charakterisirten 
Formen der chronischen Ophthalmoplegie ist er jedoch gleichfalls 
wesentlich verschieden. Die chronische Ophthalmoplegie ist in 
der Mehrzahl der Fälle Theilerscheinung oder Vorläufer eines 
grösseren Ganzen, eine Symptomengruppe im Rahmen der Tabes, 
progressiven Paralyse, multiplen Sklerose u. s. w. In einer ge¬ 
ringeren Zahl von Fällen besteht die Ophthalmoplegie selbst¬ 
ständig viele Jahre hindurch. Auch von diesen Formen ist der 
vorliegende Fall wesentlich verschieden, vor allem durch die 
Heilbarkeit, die Recidiven, die Erschöpfbarkeit, die episodische 
Betheiligung der Extremitäten. Andererseits werden wir zu be¬ 
weisen suchen, dass es doch eine Anzahl Fälle gibt, die von den 
anderen Formen der Ophthalmoplegie abgetrennt und mit unserem 
Falle zusammen in einer eigenen Gruppe vereinigt werden müssen. 

Um unseren Fall richtig zu würdigen, müssen wir, wie 
schon eingangs erwähnt, darauf hinweisen, dass gerade jene 
Eigenthümlichkeiten, welche demselben den anderen Formen 
der Ophthalmoplegie gegenüber ein so eigenartiges Gepräge ver¬ 
leihen, sich bei einer Gruppe von bulbären Erkrankungen 
wiederfinden, auf die zuerst Erb 1 ) aufmerksam gemacht hat und 
über welche aus den letzten Jahren eine grosse Reihe von Publi- 
cationen vorliegen (Oppenheim, 2 ) Wilks, 3 ) Eisenlohr, 4 ) 
Senator, 5 ) Hoppe, 6 ) Remak, 7 ) Bernhardt, 8 ) Goldflam, 6 ) 

J ) Erb, 1. c. 

2 ) Oppenheim, 1. c. und Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin 1894. 

3 ) Wilks, Guy’s hospitals reports, Vol. XXII, cit. nach Oppenheim. 

4 ) Eisen loh r, Ein Fall von Ophthalmoplegia externa progressiva und finaler 
Bulbärparalyse mit negativem Sectionsbefund. Neurol. Centralbl. 1887, 15 u. 16. 

5 ) Senator, Ein Fall von Bulbärlähmung ohne anatomischen Befund. 
Neurol. Centralbl. 1892, 6. 

6 ) Hoppe, Ein Beitrag zur Kenntniss der Bulbärparalyse. Berliner klin. 
Wochenschr. 1892, 14. 

7 ) Remak, Zur Pathologie der Bulbärparalyse. Arch. f. Psych., Bd. XXIII, 1892. 

8 ) Bernhardt, Zur Lehre von den nuclearen Augenmuskellähmungen und 
ihren Complicationen. Berliner klin. Wochenschr. 1890, 43. 

9 ) Goldflam, Ein Fall von Polioencephalitis superior, inferior und Polio¬ 
myelitis anterior nach Influenza mit tödtlichem Ausgange, ein anderer aus unbe¬ 
kannter Ursache mit Uebergang in Genesung. Neurol. Centralbl. 1891, 7. — 
Ueber einen scheinbar heilbaren bulbärparalytischen Symptomcomplex mit Be¬ 
theiligung der Extremitäten. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. IV, 1893. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


347 


Jolly, 1 ) v. Sölder, 2 ) Shaw, 8 ) Pineies, 4 ) Mayer, 5 ) Kali¬ 
scher, 6 ) Strümpell, 7 ; Fajersztajn, 8 ) Murri, 9 ) Kojewni- 
koff, 10 ) Silbermark.) 11 ) 

Soll diese Arbeit nicht eine ungebührliche Ausdehnung ge¬ 
winnen, so müssen wir auf eine ausführliche Beschreibung dieses 
Krankheitsbildes, der asthenischen Bulbärparalyse (Strümpell), 
verzichten und können näher nur auf die hier in Betracht 
kommenden Punkte eingehen. 

In allerjüngster Zeit hat Strümpell 12 ) folgende Beschrei¬ 
bung der Krankheit gegeben: „Die Symptome des Leidens be¬ 
stehen in Ptosis, Parese der Gesichtsmuskeln, Kau¬ 
störung, Schlingstörung und Sprachstörung. Bei genauerer 
Betrachtung zeigt sich, dass diese Symptome nur zum Theile 
gleichmässig andauernd sind, zum grösseren Theile dagegen auf 
einer ungemein raschen Ermüdbarkeit und Erschöpfung der 
betreffenden Muskeln beruhen. Ein derartiger Kranker kann 
z. B. einige Sätze ganz deutlich sprechen; bei anhaltendem 
Sprechen wird die Sprache aber immer undeutlicher, unarti- 


! ) Jolly, Ueber Myasthenia gravis pseudoparalytica. Berliner Klin. Wochen¬ 
schrift 1895, 1. S. auch Berliner klin. Wochenschrift 1891, 26. 

2 ) v. Sölder, Sitzungsber. der k. k. Gesellschaft d. Aerzte in Wien. Wiener 
klin. Wochenschr. 1894, 21. 

3 ) Shaw, Brain 1890, Bd. XLIX, p. 96, cit. nach Goldflam. 

4 ) Pineies, Zur Kenntniss des „bulbären Symptomeneomplexes” (Typus 
Erb-Goldflam). Jahrb. f. Psych. Bd. XIII, 1895. 

5 ) Mayer, Sitzungsber. d. Vereines f. Psych. u. Neurol. in Wien. Wiener 
klin. Wochenschr. 1894, 9. 

G ) K a 1 i 8 c h e r, Ein Fall von subacuter nuclearer Ophthalmoplegie und Extre¬ 
mitätenlähmung mit Obductionsbefund. (Polio-Mesencephalo-Myelitis subacuta.) 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. VI, 1895. — Ueber Poliencephalomyelitis und 
Muskelermüdbarkeit (Myasthenia). Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. XXXI, 1896. 

7 ) Strümpell, 1. c. 

8 ) Fajersztajn, Zur Casuistik und Symptomatologie der asthenischen 
Paralyse. Neurol. Centralbl. 1896, 18 und 19. 

9 ) Murri, Eshallo de Policlinico, Vol. II, M. Fascie, 9, 1895, cit. nach 
Strümpell und Kalischer. 

10 ) Kojewnikoff, Zwei Fälle von asthenischer Bulbärparalyse. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. IX., 1896. 

u ) Silbermark, Wiener klin. Rundschau 1896, 45 und 46. 

12 ) Strümpell, Lehrbuch der Pathologie und Therapie der inneren Krank¬ 
heiten, HI, 10. Aufl. 1896. 

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Dr. J. P. Karplus. 


culirter und schliesslich geht sie in ein unverständliches Lallen 
über. Dasselbe zeigt sich beim Kauen und Schlucken: Die ersten 
Bissen werden ganz normal gekaut und geschluckt; schon nach 
wenigen Minuten aber ist die weitere Nahrungsaufnahme völlig 
unmöglich geworden. Neben diesen zunächst am meisten auf¬ 
fallenden „bulbären” Erscheinungen zeigen sich aber ganz ähn¬ 
liche Symptome auch an den Muskeln der Extremitäten. Auch 
hier meist dieselbe rasche Ermüdbarkeit bis zum vollständigen 
Versagen der Function.” 

Dieselbe rasche Ermüdbarkeit und Erschöpfung, das¬ 
selbe Fehlen von Ausdauer finden wir in unserem Falle. 
Damit hängen zusammen der Wechsel der Erscheinungen, 
die Remissionen des Morgens, die Exacerbationen des 
Abends, die von allen Beschreibern der asthenischen Bulbär- 
paralyse hervorgehoben werden, und die in unserem Falle von 
asthenischer Ophthalmoplegie so deutlich hervortreten. Hier wie 
dort haben wir chronischen Verlauf über viele Jahre, monate- 
und jahrelange Remissionen, scheinbare und vielleicht wirk¬ 
liche Heilungen. Weitere gemeinsame Züge sind das Fehlen 
von objectiven sensiblen und sensorischen Störungen, von 
cerebralen Allgemeinerscheinungen, die Betheiligung 
der Extremitäten. Parese und Erschöpfbarkeit des oberen 
Facialis, in unserem Falle so auffallend, ist häufig im Rahmen 
der asthenischen Bulbärparalyse. Ptosis ist ein fast regel¬ 
mässiger Befund, und zwar eine Ptosis, die sich ganz in der¬ 
selben Weise verhält wie in unserem Falle. Die inneren Augen¬ 
muskeln waren in allen Fällen vollkommen intact. 

Auch die Lähmung der den Bulbus bewegenden 
Muskeln ist dem Symptomenbilde der asthenischen Bul¬ 
bärparalyse nicht vollkommen fremd. 

Vollkommen frei waren die Bulbusbewegungen in 
Fällen von Erb, Oppenheim, Jolly, Goldflam, Senator, 
Remak, Shaw, Pineies, Fayersztajn, Mayer, Silber- 
raark. 

Geringe Störungen der äusseren Augenmuskeln 
(Bulbusbeweger), wie anamnestische Angaben von Doppelbildern, 
vorübergehende leichte Paresen einzelner Augenmuskeln sind 
angegeben in Fällen von Wilks, Hoppe, Bernhardt, Strüm¬ 
pell, Pineies, Kalischer, Kojewnikoff. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


349 


Hier wollen wir noch einmal darauf hinweisen, dass objectiv 
bulbäre Störungen in unserem Falle nie nachzuweisen waren, 
und dass Patientin nur ein einzigesmal eine Kaustörung be¬ 
merkte, dass die diesbezügliche Angabe aber so präcise gemacht 
wurde, dass sie immerhin verwerthet werden kann. Sie weist 
auf eine ganz leichte vorübergehende Betheiligung bulbärer Ge¬ 
biete hin, und kann etwa verglichen werden mit der häufigen 
Angabe der an asthenischer Bulbärparalyse Leidenden, dass 
sie im Beginne oder Verlaufe ihres Leidens vorübergehend 
doppelt gesehen hätten. 

Von besonderem Interesse sind jene Fälle, in denen im 
Symptomenbild der asthenischen Lähmung neben der 
Bulbärparalyse eine mehr oder weniger vollständige 
Ophthalmoplegie bestand; denn sie sind besonders geeignet, 
unsere Behauptung, dass unser Fall seinem Wesen nach ver¬ 
wandt sei mit den Fällen von asthenischer Bulbärparalyse, zu 
unterstützen. 

Derartige Fälle wurden von Erb, Eisenlohr und Gold- 
flam beobachtet und wir geben sie hier im Auszuge unter 
Hervorhebung der Augensymptome wieder. 

Fall von Krb. 

(Arch. f. Psyeh. IX, 1879.) 

30jähriges Bauernmädchen, vor neun Wochen mit leichten Zuckungen im 
Gesicht, Doppeltsehen erkrankt. Dann Schwere der Augenlider, später Kau¬ 
beschwerden, Kopfweh, Schwindel. In den letzten Wochen Herzklopfen, Oppres- 
sionsgefühl, Glioderschwäche. 17. Oetober 1870: Zwinkern der Augen, hie und da 
Zuckungen um den Mund. Die Augen „stets halb geschlossen, indem das 
obere Augenlid fast unbeweglich darüber herunterhängt; dasselbe 
wird nur mit Mühe so weit gehoben, dass die Pupillen Sichtbar¬ 
werden. Die Fixation mit den Augen ist gleich Null, indem alle 
Augenbewegungen nur höchst mangelhaft von Statten gehen, gleich¬ 
sam als bewegten sich die Augen in einem widerstandleistenden 
Medium. Doppeltsehen lässt sich hierbei nicht constatiren. Die 
Pupillen sind von mittlerer Weite, reagiren gut’’. Schwäche der Kau¬ 
muskeln, Trägheit und Steifigkeit der Gesichtsmuskeln. Im November Ver¬ 
schlechterung, Schluckbeschwerden, Müdigkeit des Kopfes, der Nackenmusculatur. 
Im December Besserung. 23. Januar 1871: „Die Augenlider können jetzt sehr 
gut gehoben werden, nur hie und da Gefühl von etwas Schwere der¬ 
selben. Die Augenbewegungen geschehen leicht und frei; Doppelt¬ 
sehen tritt fast nie mehr auf. (Auch bei uer Untersuchung nicht.)” 
Kauen besser, Müdigkeit im Nacken. Weiter schwankender Verlauf. 4. Juli 1871: 
„Die oberen Augenlider hängen mehr als früher. Doppeltsehen fast 


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Dr. J. P. Karplus. 


in allen Blickrichtungen. Pupillen normal reagirend.” Kau- und Sprach- 
beschwerden, Schwäche und Müdigkeit der Glieder, Herzklopfen. Bald darauf 
Entlassung der Patientin. Monatelanges Wohlbefinden. 24. März 1872: Plötzlich 
Nachts Exitus letalis, nachdem seit 14 Tagen wieder Beschwerden bestanden 
hatten, 1 x j 2 Jahre nach Beginn der Krankheit. Keine Section 

Fall von Eisenlohr. 

(Neurol. Centralbl. 1887, 15 und 16.) 

18jähriges, nervös nicht belastetes Mädchen, leidet seit der Kindheit an 
Migräneanfällen. An einen solchen hat sich nach Angabe der Mutter das erste 
Auftreten der Ptosis angeschlossen. Vor zwei Jahren (1884) plötzlich Doppelt¬ 
sehen, das nach drei Wochen zurückging, im Sommer 1885 temporär wieder¬ 
kehrte. Dann Ptosis, bald rechts, bald links stärker, häufigem und starkem Wechsel 
unterworfen. Juli 1886 nach starkem Migräneanfall Schwäche beider Hände. 
August 1886 Schwäche der Beine, Kurzathmigkeit, Schluckbeschwerden. Er¬ 
schwerung der Sprache, Schwäche der Kaumuskeln, der Halsmuskeln. Alle Er¬ 
scheinungen wechseln in ihrer Stärke während eines Tages öfter. 16. August 
1886: Zart, blassgelbe Hautfarbe. „Zunächst fiel in die Augen eine doppel¬ 
seitige, unvollständige, links etwas stärker ausgeprägte Ptosis. Mit 
Mühe wurden die Augen auf circa :i / 4 Centimeter geöffnet, aber die 
Action der Levat. palpebr. liess sofort nach, so dass Patientin, um 
geradeaus zu blicken, den Kopf etwas zurücklegen musste. Pupillen 
gleich. Die Reaction auf Licht prompt und ausgiebig. Aecommodation 
normal. Beide Bulbi stehen ziemlich starr, der linke etwas nach 
aussen abweichend; beim Verfolgen eines Objectes nach rechts oder 
links folgen beide Augen nur sehr wenig; beim Fixiren eines Ob¬ 
jectes in der Mittellinie Divergenz der Augenaxen. Keine Diplopie. 
Die Beweglichkeit der Augen nach allen Richtungen ziemlich 
gleichmässig eingeschränkt. Aber auch der Schluss der Lider, ob¬ 
schon vollständig, mit geringer Kraft beiderseits.” Beide Faciales 
paretiseh. Gaumensegel hebt sich wenig. Schluckbeschwerden, Verschlucken. 
Regurgitiren durch die Nase. Kopfbewegungen mit geringer Kraft. Athembewe- 
gungen etwas beeinträchtigt, Husten nur schwach. Parese an oberen und unteren 
Extremitäten. Sensibilität normal. Im weiteren Verlaufe Schlucken Morgens besser 
als Abends. Erschwerung der Zungenbewegungen, Ansammlung von Speichel und 
Schleim, Schwierigkeit zu expectoriren. Am 18. August 1886: Abends Hitze¬ 
gefühl, Herzklopfen, Puls 140, frequente Respiration, Unfähigkeit, Schleim aus 
Rachen und Hals zu entfernen. 21. August 1886: Früh nach dem Waschen Re¬ 
spirationsschwäche, Cyanose, oberflächliche frequente Athmung, hauptsächlich 
durch die Auxiliärmuskeln. Zwerchfell fast ganz paralytisch. Exitus letalis. Krank¬ 
heitsdauer zwei Jahre. Die genaue mikroskopische Untersuchung ergab ein nega¬ 
tives Resultat. Die Wurzeln des Vagus und Hypoglossus makroskopisch auffallend 
dünn, nicht verfärbt. Im Facialis, Vagus, Accessorius, Hypoglossus mikroskopisch 
zahlreiche schmale Fasern, keine Spur von körniger oder fettiger Degeneration. 
„Die frischen capillären Hämorrhagien, die pralle Füllung der Gefässe in der 
Medulla oblongata sind sicher als kurz vor dem Tode entstanden zu betrachten. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


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Fall von Goldflam. 

(Neurol. Centralbl. 1891, 7.) 

30jährige Frau. August 1886 unter Hinterkopfschmerzen, Ptosis, Diplopie 
erkrankt; im September Ohnmachtsanfall, im November Schwäche der Arme. 
Februar 1887 undeutliche Sprache, namentlich in den Nachmittagsstunden, 
Schluckbeschwerden, Regurgitation durch die Nase, Schwäche der Beine, bett¬ 
lägerig. Ende März bessere Beweglichkeit des linken Armes, Dyspnoeanfälle. 
21. April 1887 oberflächliche Respiration, Diaphragmaparese, Schwäche der 
Extremitäten, des Rumpfes, der Kopfbewegungen, Sehnenreflexe erloschen oder 
sehr schwach, Zungenparese, Kau- und Sehluckbeschwerden, Gaumensegelparese, 
Husten schwach, Stimme nasal, leise. „Die rechte Lidspalte ist kleiner, 
eigentliche Ptose aber nicht vorhanden. Die Lider können nicht 
vollständig geschlossen werden; es bleibt eine Spalte, rechts 
grösser als links. Der rechte Bulbus nimmt die Mittelstellung ein, 
der linke mehr nach innen. Die associirten Bewegungen sind sehr 
beschränkt, am wenigsten nach rechts, nach links bleibt der rechte 
Bulbus in der Mitte, der linke überschreitet nur wenig die Mittel¬ 
linie, nach oben und unten macht der linke Bulbus nur kleine Oseil- 
lationen, der rechte ganz minimale. Die Bewegungen jedes Bulbus 
für sich sind selbstverständlich auch sehr beschränkt, für den 
rechten noch mehr als für den linken. Der rechte macht die grösste 
Excursion nach rechts, in allen anderen Richtungen nur minimale, 
der linke hat die grösste Beweglichkeit nach innen, kleinere in 
anderen Richtungen. Die Pupillen sind gleich, reagiren auf Licht 
und Accommodation. Palpebralreflex erhalten. Gesichtssinn gut, bei 
Fernsehen soll Diplopie auftreten, aber diese Angabe ist schwan¬ 
kend.” Elektrische Erregbarkeit, namentlich in den kleinen Handmuskeln herab¬ 
gesetzt. Täglich Dyspnoeanfälle. Temperatursteigerungen bis über 39 Grad. Bald tritt 
Besserung ein. Im September 1887, ein Jahr nach Beginn der Erkrankung, war 
Patientin ganz gesund; sie blieb bis December 1890 ganz gesund. Die Schwan¬ 
kungen in der Intensität der Symptome betrafen beinahe alle Erscheinungen, 
sogar die Kniereflexe. Früh Morgens war der Zustand am besten, er war schlechter 
Mittags, am schlechtesten Abends. 

Hier wollen wir einen Fall beifügen, der schon von 
Kalis eher erwähnt wird. 

Fall von Raymond. J ) 

Ein 25jähriges Mädchen erkrankte am 8. Januar 1890 nach Erkältung 
mit Parese des linken unteren Facialis. Am 25. Januar trat dazu linksseitige 
Ptosis, in den nächsten Tagen an Intensität zunehmend, dann rechtsseitige Ptosis 
geringeren Grades. Die Ptosis zeigte Intermissionen, verschwand manchmal für 
eine Viertelstunde ganz, trat dann, wenn Patientin einen Gegenstand fixirte, 
wieder hervor, war den ganzen Nachmittag stärker als Vormittags. 7. Februar: 


!) Raymond, Un cas d’ophthalmoplegie nucleaire exterieure. Gaz. d. hop. 
1890, 126. 


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352 


Dr. J. P. Karplus. 


Diplopie. Am 10. Februar: Kau beschwer den, Ermüdung beim Kauen, Kiefer¬ 
bewegungen erschwert. Grosse Erschwerung der Zungenbewegungen. Schluck¬ 
schwierigkeit. Ermüdung und Schlechterwerden der Sprache während des Sprechens. 
Pupillen normal. Fundus normal. Beiderseits Unfähigkeit nach aussen 
und nach aufwärts zu sehen, eine gewisse Schwierigkeit beim Ein¬ 
wärtssehen. Keine Doppelbilder. Keine Sensibilitätsstörungen, Reflexe 
normal. Klage über rasche Ermüdbarkeit, über Unfähigkeit lange zu gehen. Vom 
26. Februar an Besserung. 15. April: Vollkommene Heilung. 

Eine sichere Deutung dieses Palles ist nicht möglich. Das 
Schwanken der Symptome, die Ermüdbarkeit, die vollkommene 
Heilung, legen die Annahme nahe, dass der Fall zur Gruppe 
der asthenischen Lähmungen gehöre. Derselbe könnte dann den 
drei zuletzt angeführten Fällen an die Seite gestellt werden. 
Erwähnen wollen wir noch, dass die Ophthalmoplegie in diesem 
Falle, wie in unserem Falle, am meisten die Abduction und 
Hebung, am wenigsten die Senkung betraf. 1 ) 

Durch die bisherigen Ausführungen glauben wir nachge¬ 
wiesen zu haben, dass unser Fall seinem Wesen nach den Fällen 
von asthenischer Bulbärparalyse gleicht. Neben der Bulbär- 
paralyse nach dem Typus Erb-Goldflam, bei der in ein¬ 
zelnen Fällen die im Vordergründe stehenden bulbären 
Symptome von Augenmuskelparesen eingeleitet werden 
oder begleitet sind, gibt es eine Ophthalmoplegie nach 
dem Typus Erb-Goldflam, bei der selbst bei Jahrzehnte 
langem Verlaufe das Krankheitsbild durchaus von der 
Ophthalmoplegie beherrscht wird und bulbäreStörungen 
fehlen. 


Besonders bemerkenswerth ist nun, dass unser Fall nicht 
vereinzelt in der Literatur dasteht, sondern eine weitgehende 
Uebereinstimmung darbietet mit einer Beobachtung von Ca- 
muset 2 ) aus dem Jahre 1876, welche den Autoren über asthe¬ 
nische Bulbärparalyse, so weit ich sehe, nur aus dem nicht 
ganz zulänglichen Referat von Mauthner bekannt war. Wir 


*) Die Deutung einiger anderer theils von Kalischer, theils von Marina 
(Ueber multiple Augenmuskellähmungen u. s. w. 1896) angeführter Fälle ist noch 
unsicherer. 

-) Camuset, Paresie musculaire des yeux, symptomatique d’une affeetioa 
nerveuse centrale mal definie. (Observation lue ä la Societe de medecine de Paris, 
dans sa seance du 13 mai 1876.) L'union medicale 1876, No. 67. 


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Ueber' asthenische Ophthalmoplegie. 


353 


wollen diesen Fall, der leider von Camuset nur kurz beschrieben 
ist, seiner Wichtigkeit wegen hier wörtlich wieder geben. 

Fall von Camuset. 

M. C. capitaine en retraite, äg£ de 55 ans, trapu, robuste, blond, de 
temperament sanguin, sans antecedents pathologiques hereditaires ou 
personnels, legerement dyspeptique, mais doue en somme d’une bonne sante, 
vient me eonsulter en mars dernier pour les phenomenes que voiei: 

Pfcosis inegal et tr&s-marque des deux paupieres superieures. — Diplopie 
dans tous les sens, excepte quand le malade regarde devant lui ä une distance 
de plusieurs metres. — Pas de mydriase. — Pas de troubles visuels monoculaires. 
— Rien a l’ophthalmoscope. 

Je constate une paralysie ou plutöt une paitesie incompl&te de tous les 
museles moteurs des yeux. Dans les eflforts pour regarder lateralement, les cornees 
se deplacent de 1 ou 2 millimbtres ä peine. 

Cet etat s’est manifeste insensiblement ä partir du mois de novembre 1875, 
et n’a fait que s’aecroitre depuis quatre mois, en presentant des remissions 
incomptetes et irtegulieres. 

Voiei ce que le capitaine C . . me raconte: 

.En 1842, etant äge de 20 ans, il a eu une diplopie dans tous les sens 
qui a dure un mois ou deux. Ce phenombne a disparu sans traitement. 

En 1847, meme Symptome. Les paupieres superieures sont un peu tombees 
vers la fin de Tattaque, qui a dure un an, et a gueri sans traitement, eomme la 
precedente. 

En 1855, ayant passe plusieurs mois en Afrique, ä la Tafna, occupe a 
surveiller des ehargements pour l’armee de Crimee, il a eprouve une attaque de 
meme nature, commen<?ant par la diplopie, mais se compliquant, au bout de deux 
mois, d’une grande faiblesse des bras et des jambes. Il n’y a jamais eu perte de 
mouvement ou diminution de sensibilite, mais seulement une fatigue excessive, 
l’empechant d’accomplir un mouvement tout entier. Les mains restaient demi- 
fermees; la marehe etait impossible. En meme temps s’est manifestee une tres- 
forte disphagie qui a dure pendant un mois, et qui cessait momentanement le 
matin, vers dix heures. Le capitaine C . . a ete envoye alors ä l’höpital de Lyon, 
puis a celui de Montpellier; ä ce moment, la chute des paupibres (ptosis) ätait 
compläte. Le traitement a consiste en revulsifs sur la colonne vertebrale, bromure 
de potassium, hydrotherapie. Le traitement ne parait pas avoir eu une grande 
influence sur la marehe de la maladie; on l’a cessä, et, au bout de quelques 
mois, le malade s’est completement retabli. 

En 1866, etant en garnison ä Lisieux, meme serie de symptömes, pour 
lesquels le capitaine est envoye de nouveau ä i’hopital de Montpellier, ou il est 
traite par l’hydrotherapie. 

Jusqu’en 1865, etourdissements frequents. En 1874, chute subite, sans perte 
de connaissance, en faisant un mouvement pour retourner la tete. Enfin en 1875 
(novembre) debut des phenomenes pour lesquels je suis consulte.” 

Je prescris du sulfate de quinine (10 centigrammes parjour); des frictions 
stimulantes autour des orbites et surlanuque; un exercice corporel gymnastique 


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Dr. J. P. Karplus. 


allant jusqu'ä la sudation; uu regirne sobre (le malade, du reste, n'a jamais 
fait dexces alcooliques, meine en Afrique). 

Au bout de quelques jours, la dispepsie disparait; le malade se sent plus 
fort, plus alerte. Le ptosis de paupieres est moins marquä, mais la parösie mus- 
culaire des yeux n'a pas varie. Pour fixer un objet situ6 lateralement, M. C . . 
doit faire mouvoir toute la tete. 

Apres un mois de traitement, M. C . . vient m’accuser Fapparition des 
faiblesse* musculaires qui ont dejä Signale ses premieres attaques, et qui döbutent 
aujourd’hui par une impuissance des flechisseurs des doigts et par une paresse 
extreme des jambes. II peut cependant marcher, et en outre de sa promenade 
quotidienne sur la place, il fait hors de la ville 4 ou 5 kilometres, mais non 
sans de grands efforts de volonte. Les yeux fermes, il a la plus grande peine a 
se tenir debout sur uu pied. 

Les faeultes intellectuelles sont toujours rest6es intactes. 

En somme le capitaine C . . li est que peu inquiet sur l’issue d’une atta- 
que dont il fixe lui-meme la duree probable a sept ou huit mois encore. Mais 
il voudrait conjurer ses progres qui Font, par deux fois, reduit ä ne pouvoir 
marcher et ä se servir difficilement de ses mains. Il m'ecrit aujourd’hui „avee 
toutes les peines du monde” dit-il; l’ecriture n’est cependant ni tremblee ni 
embrouillee. 

A quelle cause pouvons-nous attribuer cette singuli^re succession de 
phenomfcnes? J’inclinerais a admettre un processus congestif au niveau de la 
protubßrance, a Forigine des nerfs moteurs oculaires.” 

Es handelt sich also um einen 55jährigen Mann, der seit 
35 Jahren an Anfällen leidet, die im 20., 25., 33., 44. und 
55. Lebensjahre aufgetreten sind. Der 1. Anfalle bot nur Doppelt¬ 
sehen, dauerte einen Monat. Der 2. Anfall von einjähriger Dauer: 
Doppeltsehen, dann Ptosis. Der 3. und 4. Anfall dauerten viele 
Monate, begannen ebenfalls mit Doppeltsehen und Ptosis, com- 
plicirten sich mit ausserordentlicher Schwäche und Müdigkeit 
der Extremitäten, mit Schluckbeschwerden. Im 5. Anfalle werden 
nach viermonatlicher Dauer Ptosis, Doppelbilder, hochgradige 
Augenmuskelparesen constatirt, nach einem weiteren Monat trat 
hochgradige Schwäche der Arme und Beine hinzu. Besonders 
hervorhebenswerth ist auch die von Mauthner nicht beachtete 
Angabe über „fatigue excessive .. sowie die Entwickelung 
des einzelnen Anfalles unter Remissionen. 

Im Fall Camuset haben wir wie in unserem Falle eine 
chronische bilaterale Ophthalmoplegie, Heilbarkeit, 
zahlreiche Recidiven, jahrzehntelange Dauer, episo¬ 
dische Betheiligung des bulbären Gebietes und der 
Extremitäten, Ermüdbarkeit, ungestörte Sensibilität. 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


355 


Für den Fall Camuset möchte ich auf Grund unserer Aus¬ 
einandersetzungen mit derselben Sicherheit wie für unseren 
Fall die Sonderstellung den anderen Formen der Ophthalmo¬ 
plegie gegenüber in Anspruch nehmen, ihn ebenfalls als asthe¬ 
nische Ophthalmoplegie bezeichnen. 

Weniger sicher ist die Bedeutung einiger Fälle, die wir 
nun noch anführen wollen. 

Zunächst käme in Betracht ein Fall von Mauthner: 1 ) 

„In Betreff der Anamnese bei dem 5jährigen L. weiss dessen Pflegemutter 
nur anzugeben, dass der Knabe vor 2 Jahren über eine Treppe hinabfiel, und 
dass er vor B Monaten eine Lungenentzündung durehgemacht hat. Seit dieser 
Zeit (seit 3 Monaten) bemerke man auch das Schielen. Es fällt die hochgradige 
Ptosis beiderseits auf. Die faltenlosen Oberlider werden durch die Frontales 
etwas gehoben (Stirn in horizontale Falten gelegt und Augenbrauen stark in die 
Höhe gezogen). Bei der Fixation der Augenbrauen vermag der Knabe das rechte 
Auge gar nicht, das linke nur wenig zu öffnen; die Frontaliswirkung jedoch 
bringt es zuwege, dass ein Theil der Pupille jederseits frei wird. "Rechts ist 
die Beweglichkeit nach innen wie nach oben vollständig aufgehoben; beim Blicke 
nach unten tritt die reine Troehleariswirkung sehr schön hervor, während die 
Beweglichkeit des in der Ruhestellung divergirenden Auges in lateraler Richtung 
(nach aussen) keine Störung zeigt. Es besteht also totale Oculomotoriuslähmung, 
Sphincter pupillae und Aecommodation sind jedoch vollständig intact. 

Dasselbe normale Verhalten in Betreff der Iris und der Aecommodation 
offenbart auch das linke Auge. Beide Pupillen sind eher eng als weit, von 
gleichem Durchmesser, reagiren prompt nach jeder Richtung. Die Unversehrtheit 
der Aecommodation wurde bei jedem Auge dadurch constatirt, dass demselben in 
sehr grosser Nähe eine dunkle Metallplatte, in der ein sehr feines Loch sich 
befand, im reflectirten Lichte vorgehalten ward. Nur bei vollkommener Accom- 
modation ist es möglich, diesen feinen Lochpunkt zu sehen. Der Knabe sah ihn 
und zeigte richtig mit dem Finger nach demselben. 

Was die äusseren Muskeln des linken Auges anlangt, so liess sich, abge¬ 
sehen von der Ptosis, eine eigenthümliehe Schwierigkeit in den Be¬ 
wegungen des Auges nachweisen. In dem einen Momente geht das Auge 
ziemlich gut nach innen, im nächsten jedoch nur zögernd, ruckweise und wenig 
ausgiebig. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Bewegungen nach oben wie 
nach unten, die stets im verticalen Meridiane erfolgten; auch der Abducens 
führte nur zögernd das Auge nach aussen. 

Das Kind gibt an, dass es anfänglich doppelt gesehen, jetzt aber keine 
Doppelbilder mehr habe. 

Von den übrigen Gehirnnerven bot nur der linke Facialis eine leichte 
Parese dar. Sie wurde ersichtlich, wenn der Knabe den Mund zum Lachen ver¬ 
zog. Sonst wurde beim Patienten nichts Krankhaftes bemerkt. Kein Kopfschmerz, 


J ) Mauthner, Die ursächlichen Momente der Augenmuskellähmungen. 
Wiesbaden 1886. 


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Dr. J. P. Karplus. 


weder spontan, noch beiin Anschlägen oder Schütteln des Schädels, weder Moti- 
litäts- noch Sensibilitätsstörung, keine Störung der Intelligenz. 

Die Diagnose lautete: Ophthalmoplegia nuclearis, die sich seit 3 Monaten 
allmählich entwickelt. Die Prognose wurde, so weit sie das Leben und den allge¬ 
meinen Gesundheitszustand betrifft, nicht ungünstig, dagegen in Betreff des 
Augenmuskelleidens ungünstig gestellt. Ich gab wenig Hoffnung auf Besserung 
des Zustandes, machte es im Gegentheile wahrscheinlich, dass die Lähmungen an 
beiden Augen fortschreiten würden. 

Desto mehr war ich überrascht, als ich 2 Monate später zum Zwecke der 
Demonstration einer nuclearen Lähmung den kleinen Kranken citirte und statt 
einer vollständig ausgebildeten Ophthalmoplegie — eine vollständige Resti¬ 
tutio in integrum an beiden Augen vorfand. ,, 

Mautliner selbst meint, es handle sieh hier vielleicht nicht 
um eine dauernde Heilung, sondern um eine erste Attaque eines 
Krankheitsprocesses, der vielleicht dem Falle von Camuset an 
die Seite gestellt werden könne. Mauthner kam zu dieser Ver- 
muthung, weil ihm eine dauernde Heilung einer chronischen, 
nicht syphilitischen Ophthalmoplegie nicht gut annehmbar er¬ 
schien. Für uns erhält die Annahme, dass der Fall mit dem 
von Camuset verwandt sein könne, und so wie dieser zur asthe¬ 
nischen Ophthalmoplegie gehöre, eine weitere Stütze in der 
von Mauthner besonders hervorgehobenen, aber in ihrer Be¬ 
deutung nicht gewürdigten Angabe über „eine eigenthümliche 
Schwierigkeit in den Bewegungen des Auges”. In dem einen 
Moment gehen die Augenbewegungen ziemlich gut von Statten, 
im nächsten jedoch nur zögernd, ruckweise und wenig ausgiebig. 

Ferner erwähnen wir einen Fall von Kunn: 1 ) 

Ein 25jähriger Mann aus gesunder Familie erkrankt im Oetober 1895 mit 
Diplopie. Im November vorübergehend Strabismus. Dann Ptosis links, später 
rechts. Morgens Remissionen. 27. December 1895: Beiderseits unvollständige 
Ptosis, Parese der äusseren Augenmuskeln. 30. December 1895: Grosse Varia¬ 
bilität der Erscheinungen. Paresen des Morgens geringer. Auch während der 
Untersuchung Zunahme der Paresen. Weiter schwankender Verlauf. „Immer aber 
zeigt sich deutlich der Einfluss der Ermüdung der Augenmuskeln auf ihre 
Leistungsfähigkeit.” Am 31. Januar 1896 vorübergehend Parese des Stirnfacialis. 

Kunn denkt an progressiven Kernschwund oder an asthe¬ 
nische Bulbärparalyse. Mir scheint letztere Annahme wahr¬ 
scheinlicher. 

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Fälle, die mög¬ 
licherweise zur asthenischen Ophthalmoplegie zu rechnen wären, 

') Kunn, Demonstration im Vereine f. Psych. u. Neurol. in Wien. Wiener 
klin. Wochenschr. 1896, 10. 


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lieber asthenische Ophthalmoplegie. 


357 


hier nicht vollständig auf gezählt werden können. Schon in den 
zuletzt angeführten Fällen war die Deutung unsicher. Sie würde 
immer unsicherer, wollten wir noch weitere Fälle anführen, schon 
darum, weil auf die hier in Betracht kommenden Punkte, ins¬ 
besondere die Erschöpfbarkeit von früheren Autoren wohl nicht 
entsprechend geachtet wurde. Andererseits hebt schon Mauthner 
hervor, dass gerade die Nuclearlähmuug, ehe sie vollständig gewor¬ 
den ist, sich dadurch auszeichne, „dass die Beweglichkeitsstörung 
durch energischen Willensimpuls momentan behoben werden 
kann, dass die Bewegung wie in einem behindernden Medium 
vor sich geht, dass die Symptome Abends stärker hervortreten 
können als am Morgen”. Wir müssen auch betonen, dass selbst 
die abnorme Erschöpfbarkeit, eine so wichtige und charakte¬ 
ristische Erscheinung sie ist, doch wieder nicht ausschliess¬ 
lich der asthenischen Bulbärparalyse und asthenischen 
Ophthalmoplegie zukommt. 

Von Wichtigkeit ist hier insbesondere ein Fall von Ka¬ 
lischer: 1 ) 

„Bei einem 64jährigen, bisher gesunden Manne tritt ohne bestimmtes 
ätiologisches Moment (vielleicht Gram, Ueberanstrengung, Tabakmissbrauch) erst 
rechts eine Ptosis mit vorübergehender Diplopie auf und kurz darauf auch links. 
In wenigen Tagen waren alle äusseren Augenmuskeln paretisch, respective para¬ 
lytisch, während die inneren anfangs frei, später auch vorübergehend paretisch 
wurden. Dabei fehlten alle Allgemeinerscheinungen, wie Fieber, Kopfschmerz, 
Neuritis optica, Erbrechen, Schwindel, Benommenheit u. s. w., und die anderen 
Hirnnerven waren frei bis auf eine Schwäche im rechten unteren Facialis. Fast 
gleichzeitig, vielleicht 2 bis 8 Wochen später, trat eine schlaffe symmetrische 
Parese, respective Lähmung erst der unteren und dann der oberen Extremitäten 
auf; später wurden auch die Rumpfmuskeln betroffen. Die Extensoren waren 
mehr gelähmt als die Flexoren, die Endglieder der Extremitäten vielleicht ein 
wenig mehr als die proximalen Theile. Dabei bestand ein Verlust der Sehnen- 
reflexe ohne Ataxie, noch Veränderung des Lagegefühles. Die faradische Erreg¬ 
barkeit der Muskeln und Nerven war herabgesetzt, respective aufgehoben; an¬ 
scheinend lag keine Entartungsreaction vor; fibrilläre Zuckungen traten nicht 
auf, und es fehlte eine sichtbare Atrophie der gelähmten Muskeln im Verlaufe 
der Krankheit (circa 4 1 / 2 Monate). Die Spbincteren blieben unversehrt, und nie 
konnten irgend welche Sensibilitätsstörungen objectiv nachgewiesen werden, 
obwohl eine geringe Druckempfindlichkeit der cerebralen und spinalen Nerven- 
stämme in ihrem peripheren Verlaufe und zeitweilige leichte Parästhesien in den 
Händen auftraten. Nach anfänglich progressivem Verlaufe blieb die Lähmung 
stationär und zeigte Remissionen in ihrem allgemeinen Verlaufe. Abgesehen von 

9 Kalischer 1. c. 


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358 


Dr. J. P. Karplus. 


diesen trat stets nach Ruhe und besonders Morgens eine vorübergehende Besserung 
der Lähmungen ein, der jedoch eine schnelle Erschöpfbarkeit und Ermüdung 
folgte. 4V2 Monate nach dem Beginne des Leidens trat der Tod ziemlich plötz¬ 
lich, anscheinend an einer Respirationslähmung ein, ohne dass andere Erschei¬ 
nungen als die genannten vorher auf eine Betheiligung der Medulla oblongata 
hingewiesen hatten. Die Sprache, das Schlucken u. s. w, sowie die psychischen 
Functionen waren unbetheiligt geblieben.” Bei der mikroskopischen Untersuchung 
fand sich Poliencephalomyelitis subacuta. Gefässdilatationen, Hämorrhagien und 
degenerativ atrophische Zustände der Ganglienzellen des centralen Höhlengrau. 

Kalischer vereinigt seinen Fall und mehrere andere von 
den Autoren nicht hierher gerechnete, welche ebenfalls mehr 
minder ausgesprochene Ermüdbarkeit zeigten, mit den ange¬ 
führten Fällen von asthenischer Bulbärparalyse zu einer Gruppe, 
die er als Poliencephalomyelitis bezeichnet und von der er 
folgendes Krankheitsbild entwirft: 

„Sie erhält ein charakteristisches Bild durch den subacuten oder chroni¬ 
schen Verlauf über Jahre und Jahrzehnte bei subacutem, acutem oder schleichen¬ 
dem Beginne; die scheinbaren Heilungen, respective Remissionen für Monate 
und Jahre; die täglichen Schwankungen im Verlaufe; das Symptom der Erschöpf¬ 
barkeit und Ermüdbarkeit der Muskeln; die Betheiligung der Augenmuskeln und 
Extremitäten bei vorwiegend bulbären, unregelmässig localisirten Lähmungen; 
das Ausbleiben oder späte und geringe Auftreten der Muskelatrophie; das Fehlen 
sensibler und sensorischer Störungen, sowie von cerebralen Allgemeinerscheinungen: 
die Heilbarkeit; den häufigen plötzlichen letalen Ausgang; den nicht selten nega¬ 
tiven mikroskopischen Befund u. s. w. Diese und andere, wenn auch nicht in 
jedem einzelnen Falle vorhandenen Erscheinungen geben dem Krankheitsbilde 
ein eigenes Gepräge. Dasselbe wird sehr variiren, je nachdem die Augenmuskeln 
oder die Kau-, Sprach-, Sehluckmuskeln oder die Extremitäten- und Rumpf¬ 
muskulatur zuerst oder vorwiegend im ganzen Verlaufe betroffen sind, und so wird 
das Bild einer nuclearen Ophthalmoplegie, einer Bulbärparalyse oder einer 
spinalen Muskelatrophie, respective Poliomyelitis vorgetäuscht werden. Ferner 
wird das Krankheitsbild durch das Vorhandensein oder Fehlen, wie durch den 
Grad der Muskelermüdbarkeit und Erschöpfbarkeit erheblich beeinflusst werden. 
Die letztere kann völlig in den Vordergrund treten und das Krankheitsbild be¬ 
herrschen, wie in den zwei Fällen Jolly’s, oder sie wird durch die constant 
andauernde Parese und Schwäche oder durch eine chronische fortschreitende 
Lähmung verdeckt.” 

Den mehrfachen negativen Sectionsbefunden (Wilks, Oppenheim, Eisenlohr, 
Jolly, Senator, Hoppe, Shaw, Strümpell) gegenüber meint Kalischer, auch trotz 
bemerkenswerther anderer Differenzen, die Zusammengehörigkeit seines Falles 
mit der asthenischen Bulbärparalyse doch aufrecht erhalten zu sollen. Er sieht 
seinen Befund, sowie die von Mayer gefundenen Degenerationen intermedullärer 
Wurzelfasern als secundär, als accidentell an, die eigentliche Krankheitsursache 
liege in der gleichzeitigen Schädigung der Ganglienzellen des centralen Höhlengrau. 


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lieber asthenische Ophthalmoplegie. 


359 


Die Auffassung von Kalischer ist mehrfach auf Widerspruch ge- 
tossen (Jolly, Fajersztajn); Strümpell erklärt rundweg, im Falle 
Kalischer’s liege „ein ganz anderer Process” vor als bei der astheni¬ 
schen Bulbärparalyse. (Verschwinden der Partellarreflexe, Verschwinden der 
elektrischen Erregbarkeit in zahlreichen Muskeln und Nerven, die degenerativen 
Veränderungen an den Ganglienzellen werden von Strümpell als die wichtigsten 
Unterscheidungsmerkmale hervorgehoben.) 

Jedenfalls geht aus dem Kalischer’schen Befunde her7or, dass abnorme 
Erschöpfbarkeit und negativer Sectionsbefund nicht nothwendig miteinander 
verbunden sind; allerdings gibt Kaliseher selbst zu, dass sein Befund das 
Symptom nicht erklärt. 

Wie weit seine Anschauungen sonst berechtigt sind, können erst weitere 
genaue klinische Beobachtungen und vor allem genaue anatomische Untersuchungen 
entscheiden. 

Würden sich die von uns oben als asthenische Ophthalmo¬ 
plegie angeführten Fälle — insbesondere unser Fall und Fall 
Camuset — von den anderen Formen der Ophthalmoplegien nur 
durch das Symptom der abnormen Erschöpfbarkeit unterscheiden, 
so könnte die Berechtigung, ihnen aus diesem Grunde eine Sonder¬ 
stellung unter den Ophthalmoplegien zu geben, nach dem 
Mitgetheilten vielleicht* angezweifelt werden. Allein, dass 
auch andere Gründe zur Aufstellung dieser besonderen Gruppe 
unter den Ophthalmoplegien drängen, geht einerseits aus der 
oben zusammengestellten Fülle von Symptomen hervor, die 
unsere Fälle von anderen Ophthalmoplegien unterscheiden und 
der asthenischen Bulbärparalyse an die Seite stellen, anderer¬ 
seits — und das ist wohl ein schlagender Beweis — sah 
sich Mauthner, 1 ) der die Bedeutung der Ermüdung in dem 
Falle Camuset übersah, trotzdem genöthigt, dem Falle wegen 
der Heilung der chronischen Ophthalmoplegie und den immer 
wiederkehrenden ßecidiven eine Sonderstellung unter den Oph¬ 
thalmoplegien einzuräumen, und die Autoren über asthenische 
Bulbärparalyse, die von der Ermüdung im Falle Camuset 
nichts wussten, wiesen doch mehrfach auf Beziehungen dieses 
Falles zu ihren Fällen hin. 

Nach all dem Gesagten halten wir uns zur Aufstellung 
des Begriffes der „asthenischen Ophthalmoplegie'’ für 
berechtigt. 


l ) Mauthner, Die ursächlichen Momente der Allgenmuskellähmungen. 
Wiesbaden 1886. 


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360 


Dr. J. P. Karplus. 


Die ausführlichen theoretischen Auseinandersetzungen der Autoren, ins¬ 
besondere von Jolly, Murri, Strümpell, Kalischer über Myasthenie und 
über das Wesen der asthenischen Bulbärparalyse können unverändert auch für 
die asthenische Ophthalmoplegie, die ja dem Wesen nach dieselbe Krankheit 
darstellt, Anwendung finden. Wir haben nach dieser Richtung den Ausführungen 
der genannten Autoren nicht viel hinzuzufügen und verweisen bezüglich der 
vielen Einzelheiten unserer Fälle, die wir hier nicht noch einmal durchsprechen 
wollen, auf die Krankengeschichten. Erwähnen wollen wir, dass monate- und 
jahrelange Remissionen, jahrelanger Verlauf, wie in unseren Fällen auch bei der 
asthenischen Bulbärparalyse wiederholt beobachtet wurden, jedoch niemals eine 
20jährige oder gar 35jährige Krankheitsdauer. Auffallend könnte auch er¬ 
scheinen, dass in dem eingangs beschriebenen Falle die Krankheit im 5. Lebens¬ 
jahre begann, während unter den zahlreichen Fällen asthenischer Bulbärparalyse 
der früheste Krankeitsbeginn in das 12., der häufigste um das 20. Jahr fiel und 
in manchen Fällen die Krankheit erst um das 30. Jahr begann. Strümpell 
bemerkt, dass das Auftreten in der Jugend nicht genug constant sei, um für die 
Annahme einer endogenen Natur verwerthet werden zu können. Wir möchten 
da hervorheben, dass unsere Patientin, als sie wegen Schwäche und Müdigkeit 
der Extremitäten in das Spital kam, nicht im entferntesten daran dachte, die seit 
vielen Jahren auftretenden Ptosisperioden damit in Zusammenhang zu bringen. 
Tn einzelnen Fällen könnte der schwere Anfall asthenischer Läh¬ 
mung, von dem die Autoren in den Krankengeschichten berichten, 
vielleicht doch nicht die erste Manifestzftion des Leidens gewesen 
sein; wenn etwa ein früherer leichter Anfall nur durch Ermüdbarkeit der 
Extremitäten sich bemerkbar machte, denkt der Patient, falls dann ein schwerer 
Anfall mit Ptosis, Diplopie, schweren bulbären Störungen debutirt, nicht an 
einen Zusammenhang, hat vielleicht den früheren Anfall vergessen, und auch 
für den Arzt ist es schwerer, eine Ermüdbarkeit der Extremitäten nachträglich 
als eigenartiges und für die Beurtheilung der gesammten Krankheit wichtiges 
Phänomen zu erkennen, als eine Ermüdbarkeit des Levator palpebrarum. Viel¬ 
leicht haben auch die ätiologisch öfter angeführten acuten Krankheiten nur die 
Bedeutung von agents provocateurs. Der von uns mit Wahrscheinlichkeit zur 
asthenischen Ophthalmoplegie gerechnete Fall Mauthners betraf auch ein 
öjähriges Kind. In der Familiengeschichte unserer Kranken, der wir mit be¬ 
sonderer Sorgfalt nachgegangen sind, haben wir ein unterstützendes Moment für 
die Annahme einer endogenen Natur der Krankheit vergebens gesucht. Die 
Prognose quoad vitam könnte man bei der asthenischen Ophthalmoplegie viel¬ 
leicht etwas günstiger stellen als bei der asthenischen Bulbärparalyse, doch muss 
man auch bei ersterer jederzeit auf die Möglichkeit des Hereinbrechens schwerer 
bulbärer Störungen gefasst sein. 

Von einer Reihe von Autoren über asthenische Bulbär¬ 
paralyse ist auf die periodische Oculomotoriuslähmung 
hingewiesen und eine Aehnlichkeit im Wesen der beiden Krank¬ 
heiten theils als wahrscheinlich, theils als unwahrscheinlich hin¬ 
gestellt worden. Auch wir Avollen diesen Punkt kurz erwähnen, 


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Ueber asthenische Ophthalmoplegie. 


361 


einerseits weil die asthenische Ophthalmoplegie der periodischen 
Oculomotoriuslähmung ja noch um einen Schritt näher stünde 
als die asthenische Bulbärparalyse, andererseits weil in den 
letzten Jahren auf der Klinik des Herrn Hofrathes v. Krafft- 
Ebing eine Anzahl zum Theile bereits publicirter Fälle von 
periodischer Oculomotoriuslähmung zur Beobachtung kamen. ’) 
Auch war das Periodische, das Auftreten in einzelnen Attaquen, 
im Falle Camuset und in unserem Falle ausserordentlich deut¬ 
lich hervortretend. 

Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass alle von 
den Autoren zur periodischen Oculomotoriuslähmung gerechneten 
Fälle ein und dieselbe Krankheit darstellen. Periodische 
Oculomotoriuslähmung ist ein klinisches Symptomen- 
bild. In den beiden Fällen, die zur Autopsie kamen (Thomsen- 
Richter 1 ) und Karplus,) 2 ) wurden an der Hirnbasis unmittelbar an 
der Dura Oculomotoriustumoren gefunden, und es kann mit 
Sicherheit angenommen werden, dass in diesen beiden Fällen 
die periodische Oculomotoriuslähmung Symptom des basalen 
Tumors war; hier war die den einzelnen Anfall einleitende 
Migräne zweifellos als symptomatische Migräne anzusehen. Es 
ist sehr wahrscheinlich, dass der grösste Theil der Fälle von 
periodischer Oculomotoriuslähmung ebenfalls grob anatomischen 
basalen Läsionen seine Entstehung verdankt. Die Möglichkeit, 
dass in manchen Fällen ein nuclearer Process der Krankheit zu 
Grunde liegt (Möbius), 3 ) muss zugegeben werden. Auch könnten 
einzelne Fälle im Sinne Charcot’s 4 ) als Migraine ophthalmo- 
plegique aufzufassen sein, in denen der Krankheit keine grobe 
anatomische Läsion zu Grunde liegen würde. Dass jene Fälle, 
in denen die periodische Oculomotoriuslähmung Symptom einer 
palpablen anatomischen Kern- oder Basisläsion ist, von unserer 
Krankheit verschieden sind, bedarf keines weiteren Beweises. 
Allein auch in Hinsicht auf jene hypothetischen Fälle periodischer 
Oculomotoriuslähmung ohne grob anatomische Grundlage, die 
möglicherweise zu der genuinen Migräne gehören, möchten wir. 


<) Richter, Arch. f. Psych. 1886 (Thomsen-Oharitö-Annalen 1885). 

2 ) Karplus, Wiener klin. Woehenschr. 1895, 50 bis 52. 

3 ) Möbius, Berliner klin. Woehenschr. 1884, 38. 

4 ) Charcot, Progres inöd. 1890, XII, 31, 32. 

Jahrbücher f. Pnychiatrie und Neurologie. XV. Bd. 24 


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362 


Dr. J. P. Karplus. 


mit Rücksicht auf die klinische Erscheinungsweise der 
beiden Krankheiten, annehmen, dass ein wesentlicher Unter¬ 
schied zwischen ihnen und der asthenischen Bulbärparalyse 
besteht. 

Ueber den von einzelnen Autoren, wie uns scheint mit Unrecht, als eine 
Art Uebergangsfall angesehenen Fall Duboys (Dufour, Annales d’oculistique 
1890, Obs. 82, p. 124, können wir kein sicheres Urtheil abgeben, da uns nur das 
hierzu ungenügende Referat Dufour’s zu Gebote stand. 

Zum Schlüsse erfülle ich eine angenehme Pflicht, indem 
ich meinem hochverehrten Lehrer und Chef Herrn Hofrath 
v. Krafft-Ebing für die Unterstützung bei dieser Arbeit auch 
an dieser Stelle meinen wärmsten Dank ausdrücke. 


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Referate. 


Ueber den Querulantenwahnsinn, seine nosologische Stellung 
und seine forensische Bedeutung. Eine Abhandlung für Aerzte 
und Juristen. Von Dr. Eduard Hitzig. Verlag von F. C. W 
Vogel, 1895. 

Verfasser knüpft in dieser Schrift an die bisher von den 
verschiedenen Autoren geltend gemachten Ansichten über diese 
Krankheitsform und insbesondere ihre Beziehungen zu den Zuständen 
geistiger Schwäche an, macht auf die vorhandenen Meinungsver¬ 
schiedenheiten aufmerksam und gedenkt hierbei auch ganz besonders 
der neuestens vielfach und immer wieder laut werdenden Bufe nach 
Reform des Irrenwesens, kurz jener Bewegung, deren Ausgangs¬ 
punkt und wesentlicher Inhalt im besonderen Masse die verrückten 
Querulanten bilden. An der Hand mehrfacher eigener Beobachtungen 
bringt Verfasser kritische Erörterungen über das Wesen und die 
nosologische Stellung der querulirenden Verrücktheit, und gipfeln 
seine Erwägungen in folgenden Sätzen: 

1. Die chronische primäre Verrücktheit (Paranoia) ist nach 
ihrer Entwickelung, ihrem Wesen und ihrer Bedeutung für die 
psychische Persönlichkeit eine durchaus eigenartige Krankheit, die 
sich von den typischen Formen jeder anderen Geistesstörung in 
der schärfsten Weise absetzt. 

2. Insbesondere sind die typischen Formen der Geistesstörung 
aus Zwangsvorstellungen, des hallucinatorischen Irreseins, der Manie 
und Melancholie in jeder dieser Beziehungen auf das Bestimmteste 
von ihr zu trennen. 

3. Dagegen unterscheidet sich der sogenannte Querulanten¬ 
wahn nach jeder dieser drei Bichtungen grundsätzlich nicht von 
der Paranoia. 

24* 


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364 


Keferate. 


4. Quantitative Verschiedenheiten zwischen den einzelnen 
Fällen des Leidens finden sich auch bei den anderen Formen der 
chronischen Verrücktheit und berechtigen schon deshalb nicht zur 
Abtrennung einzelner Fälle der querulirenden Verrücktheit von der 
Gesammtgruppe. Am wenigsten kann aus solchen Fällen die Be¬ 
rechtigung zur Wiedererweckung der obsoleten Lehre von den 
Monomanien entnommen werden. Vielmehr ist die querulirende 
wie die chronische Verrücktheit im Allgemeinen stets als ein Leiden 
der gesammten psychischen Persönlichkeit aufzufassen, auch wenn 
im Einzelfalle nur intellectuelle Störungen und nur solche be¬ 
schränkten Umfanges diagnosticirt sein sollten. 

5. Der primären chronischen Verrücktheit, wenn auch nicht 
nach ihrer Entwickelung, so doch nach ihrem Wesen und nach 
ihrer Bedeutung für die psychische Persönlichkeit äquivalent, kann 
sich eine secundäre chronische Verrücktheit aus einer Anzahl von 
acuten Psychosen entwickeln. 

6. Die Bezeichnung der letzteren als acute Paranoia ist so 
lange und insoweit unberechtigt, als der Nachweis der gleichen 
degenerativen Tendenz für sämmtliche dahin gerechnete Formen 
nicht beigebracht werden kann. Bis jetzt ist dies unmöglich. 

7. Die Mischformen und Uebergangsformen dürfen, so wichtig 
sie auch in praktisciier Beziehung sind, für den theoretischen Zweck 
der Classification nur mit grosser Vorsicht benützt werden. 

Verfasser verbreitet sich des Weiteren über die Geistes¬ 
schwäche der Verrückten unter Beschränkung des Begriffes Demenz 
auf unheilbare Zustände geistigen Defectes, welcher sich vorwiegend, 
aber nicht ausschliesslich auf dem Gebiete der Verstandesthätigkeit 
äussert; er bekämpft dabei die Ansichten jener Autoren, besonders 
Ziehen’s, welche den Bestand eines Intelligenzdefectes bei der 
Paranoia in Abrede stellen; auch wendet er sich gegen die Be¬ 
zeichnung der Störung als einer functionellen und erklärt, dass der 
die Correctur der Wahnvorstellungen behindernde psychische 
Schwächezustand mit grösster Wahrscheinlichkeit auf feinere ana¬ 
tomische Veränderungen des Gehirns zurückzuführen sei. 

In forensischer Hinsicht spricht Verfasser die Ansicht aus, 
es seien je nach dem im Einzelfalle verschiedenen Grade der 
Geistesstörung, insbesondere der psychischen Schwäche, die im 
Interesse des Kranken, wie dritter Personen zu treffenden Mass¬ 
nahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu bemessen. Die Frei¬ 
sprechung im Strafprocesse, sowie die Entmündigung rechtfertigen 
sich nur dann, wenn die geistige Störung einen solchen Grad er¬ 
reicht hat, dass durch sie die Fähigkeit, normal zu überlegen, 
wesentlich beeinträchtigt wird, beziehungsweise wenn durch sie 
die eigenen Interessen der Kranken oder die Rechte Dritter bedroht 
werden. Die sachgemässe Feststellung der Beurtheilung all dieser 
Umstände kann einerseits nur durch wirklich sachverständige Aerzte, 
andererseits nur durch Richter, welche eine gewisse psychiatrische 


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Referate. 


365 


Vorbildung, Schulung in der Beurtheilung psychiatrisch forensischer 
Fälle und Welterfahrung besitzen, mit Erfolg vorgenommen werden. 

Es sind sehr wichtige Fragen nicht nur rein theoretischer 
Natur, sondern, wie aus obigen Andeutungen zu ersehen, auch sehr 
beachtenswerte Ratschläge für die gerichtsärztliche Praxis, welche 
das vorliegende Buch ausführlich behandelt. Wenn sich auch gegen 
einzelne der ausgesprochenen Sätze gerechte Bedenken und 
mancherlei Einwände erheben lassen, so ist nicht zu verkennen, 
dass diese Abhandlung durch ihre weit ausgreifenden Beziehungen 
zur psychiatrischen Gesammtdisciplin, durch ihre Anknüpfung an 
die lebhaft empfundenen Bedürfnisse der Praxis, durch mehrfache 
neue Gesichtspunkte den Anforderungen modernen Fortschrittes 
entgegenkommt, Impulse zu neuen Forschungen wecken und auch 
beitragen wird, in dem gegen psychiatrische Fachkreise immer 
wieder von neuem angefachten Kampfe der gerechten Sache zum 
Siege zu verhelfen. F. 

Einführung in die Psychiatrie mit specieller Berücksichtigung 
der Differentialdiagnose der einzelnen Geisteskrankheiten. Von 
Dr. Th. Becker. Leipzig 1896. Verlag von Georg Thieme. 
Preis M. 1.60. 

In diesem, 101 Seiten fassenden Büchlein bringt Verfasser einen 
kurzen Abriss der wichtigsten Kenntnisse aus dem Gebiete der 
Psychiatrie in knapper, dabei verständlicher Form. Er beabsichtigt 
damit lediglich eine leichtere Einführung des Anfängers in den 
Gegenstand selbst zu vermitteln und beschränkt sich, um eine klare 
Orientirung zu ermöglichen, auf eine gedrängte Skizzirung der 
typischen Psychosen. Dieser Zweck dürfte denn auch nach der 
ganzen Anlage des Büchleins, das auch auf neuere Gesichtspunkte 
Bedacht nimmt, erreicht werden. F. 

Die Alkoholfrage und ihre Bedeutung für Volkswohl und Volks¬ 
gesundheit. Eine social-medicinische Studie für Aerzte und 
gebildete Laien. Von Dr. August Smith. Tübingen 1895. 
0 s i a n d e r'sehe Verlagsbuchhandlung. 

Seit der 1886 durch Forel inaugurirten Abstinenzbewegung 
hat es nicht an Bemühungen gefehlt, durch Wort und Schrift, nicht 
minder durch consequentes Beispiel jene Bewegung auch in Fluss 
zu bringen. Obige Studie des um die Alkoholfrage wohlverdienten 
Autors bezweckt, durch sachgemässe Darstellung des einschlägigen 
Materiales auch weitere Kreise hiefür zu interessiren und von der 
Nothwendigkeit der Abstinenzbewegung zu überzeugen. In einer 
diesem Zwecke durchaus angepassten Form legt Smith unter Zuhilfe¬ 
nahme statistischer Daten auseinander, welch wichtige volkswirt¬ 
schaftliche Interessen hierbei in Frage kommen, welch enorme 
Schäden durch den Alkoholconsum dem allgemeinen Wohlstände 


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366 


Eeferate. 


durch Rückgang der Vermögensverhältnisse, durch Charakterdepra- 
vation, geistigen Niedergang, durch die mit ihm wachsende Crimi- 
nalität etc. zugefügt werden. Verfasser bespricht klar und verständ¬ 
lich die Art der Alkoholwirkung, insbesondere die Beeinflussung* 
psychischer Vorgänge durch den Alkohol, wobei er auch die Resul¬ 
tate der Experimente Kräpelin’s heranzieht; er unterzieht die be- 
kapnten ätiologischen Verhältnisse des Alkoholgenusses einer ebenso 
zutreffenden wie scharfen Kritik und knüpft daran eine kurze 
Betrachtung des Alkoholismus als Krankheit; er unterscheidet 
zwischen den rein conventioneilen Trinkern, bei denen es vorwiegend, 
wenn auch oft langsam, zu körperlichem Verfall und Organdegeneration 
kommt, und den eigentlichen sogenannten Alkoholisten, bei denen 
die Charakterdepravation im Vordergründe des Krankheitsbildes 
steht. 

Bei vielen der conventioneilen Trinker kommt es, und zwar 
stets auf Grund endogener Veranlagung zu den Symptomen der 
Alkoholintoleranz, als deren Hauptsymptom die Trunksucht anzu¬ 
sehen ist. Der endogene Charakter der Alkoholintoleranz tritt sehr 
klar bei Epileptikern zu Tage und gehören fast alle Formen von 
Alkoholismus bei Individuen zwischen 17 bis 25 Jahren zu den 
epileptoiden; Verfasser bemerkt nebenbei, dass all diese Formen 
auch ohne Alkoholgenuss durch intensive Gemüthsbewegungen — 
Eifersucht, gekränktes Selbstgefühl — exacerbiren und zu Anfällen 
führen können, in denen die Kranken die Herrschaft über sich 
selbst völlig verlieren und in schwere Wuthausbrüche gerathen 
können; er weist auch auf die forensische Wichtigkeit dieses Capitels 
wegen der in alkoholischen Dämmerzuständen unterlaufenden Ge¬ 
meingefährlichkeit hin, desgleichen auf die Beziehungen zwischen 
Alkoholgenuss und neuropsychopathischer Anlage überhaupt. Als rein 
alkohologen, reiht Verfasser das Delirium tremens dem hallucina- 
torischen Wahnsinn an, als deren Ausgang frühzeitiger Schwachsinn 
sich ergibt. 

Als secundären Alkoholismus zieht Smith in Betracht neben 
dem epileptogenen Alkoholismus (der echten Dipsomanie) den die 
Imbecilität begleitenden Alkoholismus, ferner den Alkoholismus bei 
periodischen und circulären Psychosen, besonders auch bei Paralyse; 
er erwähnt auch des möglichen Zusammenhanges des Alkoholismus 
mit Neurasthenie und Hysterie. 

Nachdem Verfasser auch die pathologische Anatomie des 
Alkoholismus in den wichtigsten Zügen gestreift, bringt er eine 
sehr interessante Abhandlung über Mortalität und Morbidität unter 
Berufung auf statistische Belege. 

Besonders eingehende Würdigung erfährt die Behandlung der 
bestehenden Alkoholvergiftung vom ärztlichen und juristischen Stand¬ 
punkte, sowie die Prophylaxis der Trunksucht. Diese kennzeichnet 
Smith lediglich als Symptom eines latenten Zustandes, das aus¬ 
schliesslich durch die geringste Alkoholzufuhr wachgerufen wird; 


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Referate. 


367 


er betont auch die Nothwendigkeit der Behandlung Trunksüchtiger' 
in Anstalten, weist auf die Bedenken hin, welche gegen die Heran¬ 
ziehung der Nerven-, beziehungsweise Irrenheilanstalten zu diesem 
Zwecke sprechen und plaidirt im Sinne Forel’s für die Errichtung 
von Trinkerasylen, verlangt aber freiwilligen Eintritt der Kranken. 
Nach seinen Erfahrungen sind die Alkoholiker vom Momente der 
Alkoholentziehung Beconvalescenten, die bereits in 1 bis 2 Wochen 
einsichtig geworden sind, und lässt sich in all jenen Fällen, wo 
dies nicht eintritt, schliessen, dass der Betreffende gar nicht reiner 
Alkoholiker war, sondern der Alkoholismus nur eine Theilersehei- 
nung oder Consequenz eines abnormen Geisteszustandes bei ihm 
ist; solche Fälle müssten als ungenügend für die Behandlung in 
einem Asyl wieder entfernt werden. 

Eine Entmündigung des Patienten sollte erst dann eintreten, 
wenn eventuell wiederholte Aufenthalte genügend langer Dauer 
daselbst resultatlos geblieben sind; für die circa 70 Procent heil¬ 
barer sogenannter Trunksüchtiger wäre eine solche auf der blossen 
Constatirung der Trunksucht fussende Massnahme nur von Uebel. 
Gesetzliche Bestimmungen, betreffend die Versorgung von Gewohn¬ 
heitstrinkern, erscheinen zur gedeihlichen Lösung all dieser Fragen 
unerlässlich. Was die Beurtheilung von in der Trunkenheit verübter 
Delicte anlangt, so erscheint der Nachweis von Wichtigkeit, ob es 
sich um ein rein unter Alkoholwirkung impulsiv begangenes Affect- 
verbrechen gehandelt hat, oder ob der Betreffende sich in Absicht 
eines Verbrechens Muth angetrunken; Smith verweist auf die seiner¬ 
zeit von Forel diesbezüglich aufgestellten Gesichtspunkte. 

Mit aller Energie spricht sich Verfasser für die absolute 
Alkoholabstinenz als die einzig wirksame Methode aus, den vielfachen 
und unberechenbaren Schäden dieser fortschreitenden Volksver- 
seuchung zu begegnen und perhorrescirt solche gesetzliche Be¬ 
stimmungen, welche nur halbe Massregeln bedeuten und nicht auf 
die definitive Beseitigung des Alkohols als Genussmittel abzielen. 

F. 

Ueber Reform der Irrenpflege. Von Dr. Friedrich Scholz. 

Leipzig 1896. Verlag von G. H. Mayer. 

Anknüpfend an die 1895 erschienene Broschüre des Professor 
v. Kirchenheim und des Rechtsanwaltes Reinartz „Zur Reform des 
Irrenrechtes”, deren Thesen Verfasser einer ebenso kurzen wie 
zutreffenden Kritik unterzieht, bringt derselbe jene Momente zur 
Erörterung, die thatsächlich geeignet erscheinen, berechtigten Grund 
zu Klagen zu geben. 

Während er in Strafsachen den Nachweis der Geisteskrankheit 
zur Zeit der That für genügend erachtet, weist er auf die Unzu¬ 
länglichkeit dieses Nachweises für Zwecke der Entmündigung hin, 
da hier jedesmal der specielle Nachweis erbracht werden muss, 
dass und inwiefern gerade durch die Krankheit und ihren Grad 


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368 


Referate. 


der Begutachtete seine Angelegenheiten selbst wahrzunehmen ausser 
Stande ist. Als besonderen Uebelstand kennzeichnet er auch die 
nicht selten zu Tage tretende Neigung, einzelne Abweichungen vom 
Normaltypus ohneweiters als etwas Pathologisches, in verbreche¬ 
rischen Anlagen unwiderstehliche Triebe, moral insanhy zu er¬ 
blicken, und warnt er insbesondere vor allzu grosser Sorglosigkeit 
gegenüber den Angaben der Angehörigen in solchen Fällen. 

Auf möglichste Erleichterung und Beschleunigung des Auf¬ 
nahmeverfahrens bei genauer Beachtung der betreffenden Bestim¬ 
mungen, andererseits auf Vermeidung unnöthiger Verzögerung der 
Entlassung, Wahl des richtigen Zeitpunktes desselben, Berücksichti¬ 
gung der Wünsche von ihres Selbstbestimmungsrechtes nicht völlig 
beraubten Kranken legt Verfasser Werth und er regt auch an, zur 
Unterbringung von zahlreichen Kranken der öffentlichen Anstalten, 
die ebenso gut anderwärts leben könnten, die sogenannten freien 
Verpflegungsformen anzustreben. Die bisher geübte staatliche Auf¬ 
sicht sollte nach Scholz am besten durch freigewählte Vertrauens¬ 
männer — aus Laienkreisen — ersetzt werden, da hiermit Ver¬ 
ständnis und Interesse für das Irrenwesen auch im Publicum er¬ 
weckt würden. 

Bezüglich bestimmter Reformvorschläge bemerkt Scholz, es 
wäre vor allem die Schaffung einer entsprechenden staatlichen 
Centralstelle für das Irrenwesen nothwendig, weiterhin Verbesserung 
der Stellung der Anstaltsärzte, Entlastung zu grosser Anstalten 
durch Decentralisation, Einrichtung von Irrencolonien, bessere Aus¬ 
bildung der Aerzte in der Psychiatrie. Für geisteskranke Verbrecher 
wünscht Scholz die Unterbringung in eigenen Adnexen der Straf¬ 
anstalten oder in grösseren Centralanstalten. Die Irrenanstalten, die 
nach Scholz besser Asyle genannt werden sollten, hätten ferner 
den Charakter des Gefängnissartigen abzustreifen, sollten Kranken¬ 
häusern ähnlich und möglichst im Pavillonstile gebaut und mit 
behaglichen Räumen versehen werden, und der Isolirzellen voll¬ 
ständig entrathen, was durch ausgiebige Anwendung der Bett¬ 
behandlung mit Wachtabtheilungen am besten angebahnt würde. 

Dass auch die Wärterfrage besondere Würdigung erfährt, ist 
selbstverständlich; Hebung des Pflegepersonales stellen nebst Ab¬ 
schaffung der Tobzelle die wichtigsten Desiderien dar, denen Ver¬ 
fasser noch grössere Freiheit in der Zulassung von Kranken¬ 
besuchen, sowie Abschaffung uniformirter Krankenkleidung anreiht. 

Hinsichtlich der Unterweisung des Wartepersonales in Pflege 
und Umgang mit den Kranken möge hier speciell auf die in zweiter 
Auflage bei Heinsius Nachfolger in Bremen erschienenen „Vorträge 
über Irrenpflege” desselben Verfassers aufmerksam gemacht 
werden, die eine sehr brauchbare Anleitung unter Zugrundelegung 
der nöthigsten theoretischen Vorbemerkungen geben, wobei aller¬ 
dings ein entsprechender, in Kreisen des Pflegepersonales nicht 
überall vorhandener Bildungsgrad vorausgesetzt wird. 


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Referate. 


369 


Obzwar einzelne der im Vorhergehenden nur skizzenhaft 
berührten Auseinandersetzungen des Verfassers nicht einwandfrei 
sind, wird jeder unbefangene Leser billigerweise zugeben müssen, 
dass Scholz in der That manche Mängel rückhaltlos besprochen 
hat, die dem Irrenwesen derzeit noch anhaften, und dass er nicht 
mit Unrecht die Aufmerksamkeit der betheiligten Kreise auf ver¬ 
einzelte wunde Punkte gelenkt hat, deren Remedur im Interesse 
der guten Sache, die Verfasser allein im Auge hat, nur dringend 
gewünscht werden kann. F: 

Seitenstrangerscheinungen bei acuten Psychosen. Von Dr. K. 
Bonhoeffer. Aus Wernicke: Psychiatrische Abhandlungen, 
2. Heft. Breslau 1896. Schletter’sche Buchhandlung. 1 M. 

An der Hand mehrerer klinisch beobachteter, vom Verdachte 
einer etwaigen Paralyse freier Fälle macht Verfasser aufmerksam 
auf das gelegentliche Vorkommen eines eigenthümlichen spastischen 
Symptomencomplexes mit den wesentlichen Merkmalen der Pyra- 
midenseitenstrangaffection im Verlaufsbilde acuter Psychosen. Das 
acute Auftreten dieser Symptome, die auffallenden Schwankungen 
in ihrer Intensität, vorübergehend selbst subnormale Beschaffenheit, 
schliesslich völliges Schwinden der Spasmen neben intensiver Re¬ 
flexsteigerung geben jenem Oomplexe ein besonderes Gepräge, da 
die Spasmen mit der bei acuten Psychosen häufig zu beobachtenden 
Negativität nichts zu thun haben. Mehrfache Erwägungen legen den 
Schluss nahe, dass die sogenannten Seitenstrangsymptome nicht 
einfache Folgen absteigender Pyramidendegeneration sind und dass 
bezüglich des Muskeltonus im Sinne der Bastian’schen Theorie Be¬ 
ziehungen zwischen Kleinhirn und Rinde der Centralwindung be¬ 
stehen. — In den betreffenden Fällen handelte es sich meist um 
schwere, mit Angst, Hallucinationen, hypochondrischen Elementen 
einhergehende Depressionszustände weiblicher Individuen in Kli¬ 
makterium, im Verlaufe deren während der Zeit der schwersten 
Acuität des Krankheitsprocesses im Anschlüsse an den rapiden Ab¬ 
fall des Körpergewichtes die spastischen Symptome auftraten. Regel¬ 
mässig konnte Verfasser in den betreffenden Fällen einen dem 
alkoholistischen ähnlichen Tremor, sowie eigenartige mimische 
Pseudospontanbewegungen in der Gesichtsmuskulatur, besonders im 
Mundgebiete, als wahrscheinlichen Ausdruck psychomotorischer Reiz¬ 
vorgänge constatiren, welche Symptome mit Rücksicht auf den 
Verlauf jener Fälle infauste Begleiterscheinungen schwerer, zu 
psychischem Defect führender acuter Psychosen darstellen. 

F. 

Periodische Depressionszustände und ihre Pathogenesis auf 
dem Boden der harnsauren Diathese. Von Prof. C. Lange 
in Kopenhagen. Autorisirte deutsche Ausgabe von Dr. Hans 


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370 


Referate. 


Kurella. Hamburg und Leipzig 1896. Verlag von Leopold 
Voss. Preis 1 M. 

Auf Grund vieljähriger Erfahrung gelangt Verfasser dazu, aus 
dem Kähmen der Neurasthenie, beziehungsweise Cerebrasthenie 
periodisch auftretende Zustände von Depression als ganz eigenartige 
Processe auszuscheiden. Es handelt sich dabei um Kranke, die 
während ihres Leidens über Müdigkeit und Schlaffheit, über das 
Gefühl einer Last klagen, die sich elend und unglücklich, zu jeder 
Beschäftigung unaufgelegt fühlen, Mangel an Lebensmuth, an Inter¬ 
esse und Theilnahme erkennen lassen, dabei der Motivlosigkeit ihres 
Unglücksgefühles vollbewusst sind, ebenso auch der Grundlosigkeit 
ihrer häufigen unbestimmten Angst. Daneben zeigen sie selten eine 
Neigung, ihr Gemüthsleiden einzugestehen, sie klagen mehr über 
Kopfschmerzen, Schwindel, Rückenschmerzen, erscheinen häufig ab¬ 
gemagert, zu Schweissparoxysmen geneigt, schlafen schlecht, haben 
geringen Appetit, oft Obstipation. Nie entwickelt sich die Depres¬ 
sion zu eigentlicher Melancholie und beschränkt sie sich lediglich 
auf die Stimmungsanomalie, bezüglich deren Unmotivirtheit durch 
äussere Verhältnisse die Kranken stets im Klaren sind. 

Es gehört nun zu den charakteristischen Merkmalen dieses 
Zustandes, dass er sich in Perioden von allerdings verschiedener 
Dauer, wenige Wochen bis mehrere Monate, mit meist etwas 
längeren Intervallen wiederholt, wobei — abgesehen von den ge¬ 
wöhnlichen Abendremissionen — ein mehr wellenförmiger Verlauf des 
Depressionsanfalles sich constatiren lässt; der Beginn des Leidens 
fällt meist zwischen das 25. bis 35. Jahr, wohl auch darunter. 

In ätiologischer Hinsicht verweist Lange auf die hervor¬ 
ragende Bedeutung der erblichen Disposition, wobei allerdings auch 
Gelegenheitsursachen mit von Einfluss sein können; was indes für 
die Pathogenese besonders wichtig erscheint, liegt in der Erfahrungs¬ 
tatsache, dass bei diesen Kranken durchwegs, sowohl während 
als auch ausserhalb der Anfälle eine Neigung zur Ausscheidung 
eines an Uraten und Harnsäure sehr reichen Urins angetroffen wird. 
Die Thatsache der Erblichkeit der harnsauren Diathese einerseits, 
der periodischen Depression andererseits neben theoretischen Er¬ 
wägungen lassen Lange annehmen, dass in all diesen Fällen zu¬ 
nächst die Diathese das Grundleiden darstelle, dessen Folgen je 
nach der Localisation bald als Depression, bald als Gicht, respec- 
tive Concrementbildung in Erscheinung treten kann. Durch ent¬ 
sprechende Bekämpfung der Diathese sei, wenn auch keine Heilung, 
so doch weitgehende Besserung möglich; Brompräparate und 
Opium seien als direct nachtheilig zu verwerfen. F. 


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Referate. 


371 


Betrachtungen über die Jungfrau von Orleans vom Stand¬ 
punkte der Irrenheilkunde. Von Dr. William Hirsch (New- 
York). Berlin W. 35, 1895. Verlag von Oskar Coblentz. 
Preis 75 Pf. 

In diesem interessanten Schriftchen unterzieht Verfasser an 
der Hand anerkannter historischer Quellen die Persönlichkeit der 
Johanna d’Arc vom psychiatrischen Standpunkte einer eindringlichen 
Kritik; anschliessend an die Anschauungen einzelner französischer 
Psychiater, welche auf die Thatsache der Sinnestäuschungen Jo¬ 
hannas hin dieselbe für geisteskrank erklärt haben, hebt er die 
wichtigen Unterschiede hervor, welche aus den von anderen Autoren 
— Hagen, Hecker — herangezogenen Vergleich der Sinnes¬ 
täuschungen Johannas mit denen hervorragender Männer gerade 
zu Gunsten der Annahme einer Geisteskrankheit sich ergeben. Er 
kennzeichnet dieselbe als einen typischen Fall von religiösem 
Grössenwahn, schildert, wie Johanna schon in frühester Jugend 
durch Hang zu Einsamkeit und religiösen Uebungen ganz abweichend 
sich entwickelte, wie zu den daraus hervorgegangenen religiösen 
Wahnideen mit Hereinbrechen der Pubertät die hallucinatorischen 
Elemente sich gesellten; er verweist auch noch auf ihren Hang zu 
männlichen Gewohnheiten, auf ihre Vorliebe für Männerkleider 
bei anscheinendem Mangel sexueller Triebe. 

Wenn nichtsdestoweniger ein neunzehnjähriges Bauernmädchen, 
das weder lesen noch schreiben konnte, im Stande war, auf die 
Geschicke zweier Völker entscheidenden Einfluss zu üben, so muss 
nach Ansicht des Verfassers die Ursache für diese historisch aller¬ 
dings ganz einzig dastehende Thatsache nicht in einer wunderbaren, 
mystischen, übernatürlichen Erscheinung, sondern vielmehr in der 
geistigen Versunkenheit jener Zeit, im Aberglauben und religiösen 
Fanatismus des Mittelalters gesucht werden. F. 

Ueber tabische Gelenkserkrankungen. Von Dr. Konrad Bü- 
dinger. Aus der II. chirurgischen Klinik. Prof. Gussenbauer 
in Wien. Wien 1896. Br au mü 11 er. 

In dieser sehr interessanten Broschüre gibt Verfasser auf Grund 
gewonnener Literaturstudien und auf Gruud eingehender klinischer 
und anatomischer Untersuchungen eine Uebersicht über die ob¬ 
erwähnte Frage und kommt zu folgenden Schlüssen: Die tabischen 
Gelenkserkrankungen sind in Bezug auf die Entstehung in der 
weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle analog mit der Arthritis 
deformans, diese ist aber eine Folge der Tabes; die traumatischen 
Formen sind ebenfalls durch den Grundprocess, erst in zweiter 
Linie durch dessen Folgen beeinflusst. Bei der Tabes sind poly- 
articuläre und schwache Gelenkserkrankungen sehr häufig, die 
Arthropathia tabica entwickelte sich unter bestimmten Bedingungen 
aus dieser Arthritis tabica. Der Beginn der Krankheit ist ein lang- 


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372 


Referate. 


samer, die acut auftretenden Oedeme sind meist Coincidentien, die 
weder die directe Ursache, noch die Folge der Gelenksaffectionen 
darstellen. Die benigne Form der tabischen Arthropathie ist über¬ 
haupt keine Krankheit der Gelenke sui generis, sondern nur eine 
Begleiterscheinung der Oedeme. Die abnorme Knochenbrüchigkeit 
kommt viel seltener als es scheint zur Geltung, und zwar ebenso 
gut bei atrophischen wie bei normalen und sogar hypertrophischen 
Knochen. F. H. 

Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Er¬ 
richtung von Nervenheilstätten. Von Möbius. Berlin 1896. 
Verlag von S. Karger. Preis 0.5 M. 

Es ist ein zweifellos sehr zeitgemässes Thema, welches Verfasser 
zum Gegenstände einer kleinen, aber inhaltreichen Abhandlung ge¬ 
macht hat. In einer auch dem Laien zugänglichen Art werden darin 
die therapeutischen Grundsätze für eine erfolgreiche Behandlung 
der Neurasthenie dargelegt; Verfasser würdigt die verschiedenen 
auf „Ruhe und Seelenfrieden” abzielenden Heilfactoren, den Ein¬ 
fluss von Religion, Kunst und Wissenschaften, der persönlichen 
Umgebung, die psychische Einwirkung des Arztes im Wege von 
Wach- oder Schlafsuggestion nach Bedeutung und Werth, um 
schliesslich als die Hauptsache in der Therapie die zweckmässig 
geleitete Thätigkeit in überzeugender Weise hinzustellen. 

Die Nothwendigkeit und Nützlichkeit der Nervenheilanstalten 
anerkennend, weist er zunächst darauf hin, dass die bestehenden 
Anstalten vor allem nicht dem allgemeinen Bedürfnisse entsprechen, 
dass für zahllose Minderbemittelte und Arme überhaupt keine der¬ 
artigen Anstalten existiren und plaidirt er für die Errichtung neuer 
Anstalten auf neuer Grundlage, wobei die Errichtung entweder 
durch Staat oder Gemeinde, oder durch öffentliche Mildthätigkeit, 
oder durch die verschiedenen Genossenschaften geschehen könnte. 

Durch wohlwollende Unternehmer, die für eine gemessene 
Zeit auf die Zinsen Verzicht leisten und auch später mit einem 
geringen Zinsbeträge und langsamer Tilgung der Schuld sich zu¬ 
frieden geben würden, bis die Anstalt sich selbst erhalten könnte, 
Hesse sich jener Zweck allmählich erreichen. Als anderen Ausweg 
schlägt Verfasser vor, dass schon bestehende Vereinigungen sich in 
ihrem eigenen Interesse der Sache annehmen, sei es dadurch, dass 
grössere Genossenschaften durch Beiträge der Mitglieder die 
nöthigen Mittel dazu aufbringen, oder dass alle Verbände sich 
betheiligen und nach Massgabe ihrer Antheilscheine am Benützungs- 
rechte der Anstalt participiren. Speciell für die Behandlung von 
Unfall-Nervenkranken wäre nach Verfasser es sehr wünschenswerth, 
w T enn die Genossenschaften durch Abgabe ihrer Kranken an die 
aus freier Theilnahme zu errichtenden Anstalten dieselben unter¬ 
stützen würden. In allgemeinen Umrissen kennzeichnet Verfasser diese 


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Referate. 


373 


Heilstätten als solche, die nach dem Muster landwirtschaftlicher 
Irrenanstalten einzurichten wären, zu Garten- und Handwerker¬ 
arbeiten und ähnlicher Beschäftigung ausreichend Gelegenheit geben, 
gesunde und ruhige Lage aufweisen müssten; er denkt sich eine 
Reihe einstöckiger, zum Theile durch Gänge verbundener Gebäude 
von einfacher, doch solider und bequemer Einrichtung, mit den 
nöthigen Gesellschaftsräumen, wohl auch mit einer Krankenstation 
versehen. Hinsichtlich der Verpflegung hält Verfasser neben ein¬ 
facher Kost vollen Ausschluss geistiger Getränke für eine der wichtig¬ 
sten Bedingungen; auch sollte je eine Anstalt nur für ein Geschlecht 
bestimmt sein. 

Zweifelsohne berührt Verfasser in dieser Schrift einen wunden 
Punkt in der Behandlung Nervenkranker; jedem auch nur einiger- 
massen beschäftigten Nervenärzte wird die vom Verfasser rückhaltlos 
geschilderte Lücke, der Mangel an Nervenheilstätten gerade für 
Minderbemittelte sich fühlbar gemacht haben; das weitgehende 
Interesse und die besondere Bedeutung der vom Verfasser gegebenen 
Anregung lässt es dringend wünschenswerth erscheinen, dass seine 
der Hauptsache nach zutreffenden Vorschläge auch allenthalben Ver¬ 
breitung und verdiente Würdigung erfahren. F. 

Nervöse Anlage und Neurasthenie. Von Dr. Otto Dornblüth 
Leipzig. H. Hartung u. Sohn. I. Theil der Klinik der Neu¬ 
rosen für den praktischen Arzt. Preis 2.50 M. 

In kuapper Anlage, doch dem praktischen Zwecke durchaus 
angepasst, bringt das vorliegende kleine Buch eine sehr brauchbare 
Darstellung des Wissenswerthen aus dem weiteren Gebiete der 
Neurasthenie. Verfasser beschäftigt sich im I. Theile zunächst mit 
den Symptomen der nervösen Anlage und deren Verlaufsverhält¬ 
nissen, weiterhin mit dem W’esen und den Ursachen, sowie endlich 
mit der Frage der Verhütung und Behandlung der nervösen Anlage. 
Im n. Abschuitte wird die Neurasthenie als solche nach analogen 
Gesichtspunkten abgehandelt. Bei aller Kürze, deren Verfasser in 
der Darstellung des Gegenstandes sich befleissigt, kann ihm das 
Zeugniss nicht versagt werden, dass er klar und erschöpfend die 
einschlägigen Materien behandelt, wobei das Capitel der Therapie 
durch eingehende Berücksichtigung sämmtlicher Heilfactoren ganz 
besonders hervorzuheben ist. Das sehr handliche, mit Inhaltsver- 
zeichniss und Register versehene Buch wird zweifellos von dem 
praktischen Arzte gern benützt werden. F. 


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XII. Internationaler Medicinischer Gongress Moskau. 

7. (19.) bis 15. (27.) August 1897. 

Sectiou für Neuropathologie und Psychiatrie. 

Programm-Themata: 

Für Neuropathologie: 

1. Pathologie der Nervenzelle (feinere Structur und deren 
pathologische Veränderung). 

2. Pathologische Anatomie und Pathogenese der Syringomyelie. 

3. Pathogenese und Behandlung der Tabes dorsualis. 

Für Psychiatrie: 

1. Semiologie der Zwangsvorstellungen. 

2. Die Pathogenese der progressiven Paralyse der Irren und 
die Abgrenzung dieser Krankheit von verwandten psychischen Er¬ 
krankungen. 

3. Hypnotismus und Suggestion in ihrer Anwendung bei 
Geisteskrankheiten und in ihrer Beziehung zur gerichtlichen Medicin. 

Es soll auch die Frage über die Chirurgie des Gehirns und 
Bückenmarks in einer vereinigten Sitzung mit der chirurgischen 
Section discutirt werden. Das Cornite der Section sorgt dafür, dass 
ein oder zwei einleitende Vorträge über jede der Programmfragen 
von competenten Gelehrten abgehalten werden. 

Mittheilungen über von den Referenten selbst ausgewählte 
andere Gegenstände aus dem Gebiete der Neuropathologie oder 
Psychiatrie sind nicht ausgeschlossen. 

Das Cornite, an dessen Spitze die Professoren A. Kojewnikow, 
S. Korssakow und W. Both stehen, ersucht die Theilnehmer um 
baldigste Mittheilung der Titel ihrer Vorträee, da laut § 16 des 
Reglements des XH. Internationalen Mediciük hen Congresses alle 
die Thätigkeit desselben betreffenden Vorscnläge im Organisations- 
comite des Congresses spätestens bis zum 13. Januar 1897 mitge- 
theilt sein müssen. 

Adresse: Moskau, Nervenklinik. 


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Vnrlarj von Franz TJenticke in YVitmijiiri Leipzig. 




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ahrbüchtr für Psychiatrie XV. lith-Anstv.TIiiamwarthXien. 

Verlag von FranzDeuticke inWiemmd Leipzig. 





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Jahrbücher für Psychiatrie XV. Lith.Anst.v. 

Verlag von Franz Deuticke iii YViemnid Leipzig. 





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Jahrbücher für Psychiatrie XV. 


TeiOag von Franz Detrücke inAYienuiifl Leipzig. 


lithAnst .v.TluB arawai 


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SCARPATETTI,Compression und Tuberkel im Rückenmark. 


Taf.V. 





ff CerricaL'Nerv. 


V. Cerrica I -ffenr. 



ff.Do rsal -Nerv. JI-VEDorsalrXerv-. 



5 . 


TR-JM. Dorsal rfferv: 



VM-]X.Dorsal~Ner\', 



9- SacraL - Mark, 


müderes ZeruLen-Jffarh muteres ZenderfJfarfc. 

Jahrbücher für Psychiatrie XV. liti.AnstylluBaiiiwarth^WieTi. 

Verlag von PranzDeirticke inWTemmd Leipzig. 


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